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WISSEN
LEBEN
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UND
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WISSENoUND
LEBEN
SCHWEIZERISCHE
HALBMONATSSCHRIFT S
XIII. BAND
1. OKT. 1913 - 15. MÄRZ 1914
RASCHER & Co.
: ZÜRICH
VERLEGER
Dr. G. GRÜNAU
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MAST El NCR.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
ANTONELLl, E. Aristide Briand 405
BLOCHER, ED. Von der französischen Fremdenlegion 327
Brief an meinen Landsmann William Martin 591
BLOESCH, H. Zur Feststellung 458
Heinrich Federer 746
BISE, P. Sur l'avenir de l'art 360
V. BODMAN, E. Die Seele des Künstlers 357
Künstler und Psychiater, Kunst und Bürgertum 555
BOVET, E. Die Wandmalereien der Universität 561
Ein schönes Buch 585
BOVET, R. La question de la reforme electorale 708
BROCKMANN-JEROSCH, H. Vergessene Nutzpflanzen .... 424, 489
BÜHRER, J. Robert und Hedwig Maria . 156, 228, 306
CHIESA, F. Die heilige Kailimazone 322
CIVIS. Deutsche Invasion 434
COMBE, E. Suffragettes et feminisme 613
DELHORBE, F.-M. Au pays romanche 272
DICK, E. Hermann Burte 682
EPUY, M. Menues reflexions ä propos du bicentenalre de Diderot . 110
ERNST, P. Mäcen und Künstlep?:?:xti^ kn^^ .... 656
V. ESCHER, N. Gedichte . ix A^^^v ' ' Mf ^^
FAESI, R. RichpTd Dehmel . . .^..J^f^S,. - y^ ^ 266
Großstadi \\ . . ^d^ 641
FALKE, K. Dfe Laute! fp/. . .|g./2 • • J • ' Ah '^ ' •••705
FICK, F. Die käste der Advokaten - ^ '//■ • -' -^H^- ... 66
FINK, P. Reiseerinnerungen . . -..^^^ • • •"'C^y -^ • 415, 465
FORRER, R. Jellinek und der Pf#ör2lr . . . '^'%' - • • • • 259
FREY, A. Konzert k >it-f^l-X' 2
FUETER, E. Die Türkei zur Zeit ihrer höchsten Machtentfaltung 661, 724
GAGLIARDI, E. Die Kämpfe um Novara 526, 598
GEILINGER, M. Gedichte aus dem Engadin 129
GUILLAND, A. Rousseau et les femmes 36
Philippe Monnier 672
GUTTER, A. Vom Sprechen 117
GYGAX, P. Tessiner Bankkrache 522
Waldeck-Rousseau 718
HALLER, L. Sein Bett 451
HESSE, H. Rat 65
Schlaflose Nacht 513
HINNERK, O. Guter Rat 449
JEGERLEHNER, J. Eine Manövernacht im Hochgebirge 514
JELMOLI, H. Giuseppe Verdi 25
Bach-Brevier 150
KÄGI, P. Elia und König Ahab . ! 240
KELLER, A. Eine Philosophie des Lebens 89, 174, 208, 292
KELLER, C. Veränderungen in der Wildfauna von Kreta 28
KESSER, H. Der Novellist Moritz Heimann 483
Drama und Bühnenbild 619
KORRODI, E. Die Zeitgenossen in der Literaturgeschichte .... 15
Homer und Gerhart Hauptmann 626
Seit«
LANG, R. j. Gedichte 217
Die Hochzeit des Leonz Wangeier 394
MARTIN, W. La langue des Suisses 459
MEYER, A. Richard Wagner und das Christentum 281, 345
MEYER B. Ein Brief über Gottfried Keller 387
MEYER, H. Zum Fermatproblem 556
MILLE, P. La Legion etrangere et l'Allemagne 131, 197
MOESCHLIN, F. Die Rache Gottes 4
NIEDERMANN, A. Doppelstern 385
PORT, F. Den unbekannten Freunden 326
de QUERVAIN, Th. Wissenschaft und Alpenschilderung 548
RABINDRANATH TAGORE. Gedicht (übersetzt von Max Geilinger) 321
REUTLINGER, E. Die schweizerische Totalauswanderung .... 236
RÖSSEL, V. Un polemiste 539
SCHMASSMANN, O. Jellinek und der Proporz 167
SCHMIDINGER, G. Kirchgang in Italien 749
SIEBEL, J. Du Licht gewordner Kindertraum 356
STEIGER, J. Zur Lage 577, 642
STEINMANN, A. Qualitätsarbeit und Arbeitslust 193
STRASSER, CH. Feuervogel 98
STREIFE, C W. Persephone 745
WALSER, E. Boccaccio 218
WEESE, A. Grundbegriffe der Wandmalerei 734
WETTSTEIN, O. Die Achtung vor dem geistigen Eigentum .... 5
WIEGAND, C F. Das Kirchenfenster 257
ZENDRINI, P. Die religiöse Frage in Italien 475
ZIEGLER, E. Auf Griechenspuren in Sizilien 143
THEATER UND KONZERT. Emile Augier, l'Aventuriere, S. 122. — Tris-
tan Bernard, Das kleine Cafe' S. 121. — Berliner Saisonbeginn S. 250.
— Georg Büchner, Dantons Tod S. 184. — Paul Claudel, U Annonce
Saite a Marie S. 699. — Gabriel Dregely, Der gutsitzende Frack
S. 248. — Gastspiel Tilla Durieux S. 436. — Robert Faesi, Odysseus
und Nausikaa S. 369. — Edmond Fleg, Le Trouble-Fele S. 249. —
John Galsworthy, Justiz S. 633. — Charles Grelinger, Die Hoff-
nung auf Segen S. 57. — Halperine-Kaminsky und Jules Lermina, Re-
surrectionS.Sl\. — Vincent d'Indy, L'Etranger S. 370. — Kinetophon
S. 698. — Maeterlinck, Marie Magdeleine S. 314. — Marionetten-
Theater Münchner Künstler S. 696. — Henri Nathansen, Hinter
Mauern S. 499. — Arthur Schnitzler, Professor Bernhardi S. 57. —
Bernhard Shaw, Pygmalion S. 313. — Strindberg, Frau Margit S. 315.
Adolf Vögtlin, Hans Waldmann S. 567, 698. — Wedekind, Simson
S. 758. — Carl Friedrich Wiegand, Marignano in Leipzig S. 439.
Giannotto Bastianelli und Piet Deutsch S. 59 — Bischoff, Sin-
fonie No. 1 S. 187. — Fritz Brun, zweite Sinfonie S. 436. — Bremer
Lehrergesangverein S. 187. — Gustave Doret, Die Sennen S. 761. —
Gluck, Iphigenie in Aulis S. 186. Hans Jelmoli und Frl. Amstad
S. 187. - Gustav Mahler, Achte Sinfonie S. 437 — Maria Philippi
S. 439. — Giuseppe Verdi, Falstaff S. 185.
BILDENDE KUNST.
Kunsthaus Zürich. Albert Welti, Lovis Corinth, Emil Weber-Feldbach,
Rudolf Low, Wilhelm Hummel, Hans v. Faber du Faur S. 125. —
Paul Osswald S. 191. — Fünfte Ausstellung der Gesellschaft Schwei-
zerischer Maler, Bildhauer und Architekten S. 254. — Cuno Amiet
S.505. Ferdinand Hodler, Ernst Kreidolf, Rudolf Hellwag, Franz
Hoch, Franz Elmiger S. 637.
Kunstgewerbemuseum. Raum und Bild S. 60.
Kunstsalon Neuppert. Augusto Giaconietti S. 191.
Kunstsalon Wolfsberg. Ausstellung des Londoner Senefelderclubs S.6Ü.
Emile Cardinaux S. 191.
Moderne Gallerte Tanner, Alexander Wolf S. 637.
Kunsthalle Winterthur. Ausstellung moderner Graphik S. 60.
RÜCKSCHAU, Christian Conradin, Karl Itschner S.445.
NEUE BÜCHER. Adrian Baumann, Der Planet Mars S.AAZ, — Gottlieb
Binder, Alte Nester S. 384. — Auguste Bippert, Prose, Preface de
Jules Carrara, Poesie, Preface de Philippe Godet S. 61. — Bongs
Schönbücherei S. 381. — Jakob Burckhardt, Briefwechsel mit Hein-
rich von Geymüller S. 376. — M. Butts, Au temps des Chevaliers
S. 569. -- Emil Ertl, D^r A^^üMu5^/Ao/ S. 571. — Ernst Eschmann,
De Sängertag S.445. - Konrad Falke, Wengen S. 190. — Adolf
Frey, Neue Gedichte S. 377. - Ernst Frey, Güg.s, S. 190 — Eduard
Fuchs und Alfred Kind, Die Weiberherrschaft in der Geschichte
der Menschheit, S. 504. — Simon Gfeller, Geschichten aus dem
Emmental S. 318. — Otto v. Greyerz, Von unsern Vätern S.382.
— Paul Haller, S'Juramareili S. 444. - Wilhelm G. Hertz, Ein
Wanderer in der Wüste S. 636. — Hermann Hesse, Morgen-
ländische Erzählungen S. 503. — Alfred Huggenberger, Dorf genos-
sen S. 383, Die Stille der Felder S. 634 — Paul Ilg, Das Mensch-
lein Matthias S. 373. — Klassikerausgaben S. 503. — R. Nimführ, Die
Luftfahrt S. 382. — Karl Scheffler, Italien. Tagebuch einer Reise
S. 317. — Dr. H. Schollenberger, Edmund Dorer; die Persönlichkeit und
sein Schaffen S. 568. — Wilhelm v. Scholz, Neue Gedichte S. 22. —
Johanna Siebel, Mutter und Kind S. 62. — Adolf Spanner, Texte aus
der deutschen Mystik des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts
S. 502. — G. Speck, Der Garten S. 188. - Max Stahel, Das Bau-
handwerkerpfandrecht nach dem schweizer. Zivilgesetzbuch S.573.
— Karl Stamm, Das Hohelied S. 570. — Margarete Susmann, Vom
Sinn der Liebe S. 63. — Dr. Vaerting-Berlin, Das günstigste elter-
liche Zeugungsalter für die geistigen Fähigkeiten der Nachkommen
S. 124. - Ruth Waldstetter, Das Haus „zum großen Kefig" S. 316.
— Gallus Walz, Der Kanari und andere kleine Sachen S. 61 —
Carl Friedrich Wiegand, Die Herrlichkeit des Cyriakus Kopp und
andere Erzählungen S. 316. — Eugen Wolff, Faust und Luther S. 500.
— Ernst Zahn, Der Apotheker von Klein-Weltwil S. 374. — Helene
Ziegler, Lieder S. 444.
TAGEBUCH. Bundesarchitektur S. 64. - Die Meuterei S. 126. — Hitzig!
Witzig! Temperamentvoll! S. 127 - Ein Genfer Dichter S. 191.
— Eine Ansprache Francesco Chiesas S. 255. — Verdeutschung, S. 320.
-— Von der Erziehung zur Sparsamkeit S. 508. — Herr Bleibtreu als
Beschützer der Schriftsteller S. 511. — Monismus und Christentum
S. 638. — Eine kurze Richtigstellung S. 640. — Ein Preisausschreiben
S.640.
MITTEILUNGEN des Schweiz. Schriftstellervereins (S. E. S.) S.44Ö, 506,
574, 702.
ILLUSTRATIONEN. Boccaccio S. 193. — Christian Conradin, Im Belvoir-
park S, 449. — Richard Dehmel S. 257. — Ferdinand Hodler, Skizzen
zu den Marignanofresken S. 129. — Barthelemy Menn, Selbstbildnis
S. 1, Zeichnung eines Schülers S. 49, Alter Bettler S. 65.
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BARTHELEMY MENN. SELBSTBILDNIS
ZUR EINFÜHRUNG
Wir beginnen heute den siebenten Jahrgang unserer Zeit-
schrift. Das Titelblatt kündigt die Erweiterung an, die wir bereits
vor vierzehn Tagen unseren Lesern mitteilten: wir haben uns
mit den Berner Alpen vereinigt, wodurch Herr Dr. H. Bloesch
als zweiter Redaktor und Herr Dr. G. Grünau als weiterer Ver-
leger, beide in Bern, für Wissen und Leben gewonnen wurden.
Mehr als je soll unsere Zeitschrift der schweizerischen Kultur
dienen. Jeder Gewinn soll für den herausgebenden Verein aus-
geschlossen sein; unser Ziel ist einzig die Förderung des natio-
nalen Lebens. Diesem Ziele haben wir seit sechs Jahren be-
deutende Opfer gebracht, die wir nicht bereuen, die wir nochmals
bringen würden, da wir den festen Glauben haben an die Lebens-
fähigkeit und an die Kulturaufgabe unseres Vaterlandes.
Die unglückliche Annahme des Gotthardvertrages einerseits,
der leidige Groll seiner Gegner anderseits, und drohende Gefahren
jeder Art haben diesen Glauben nicht geschwächt. Wir be-
fürchten bloß die Gleichgültigkeit, welche von Sonderinteressen
genährt wird.
Offene Aussprache, offener Kampf um Grundsätze und nicht
um Personen, das war und bleibt unser Programm. Jeder Leser
kann hier aktiv mitarbeiten, indem er uns neue Freunde wirbt.
GQD
KONZERT
Stahlblaue Nacht, den Goldstaub der Gestirne
Im dunklen Haare, drückt die blasse Stirne
Ans Fensterkreuz, den Festsaal zu beschauen,
Gefüllt mit Männern und geschmückten Frauen.
Auf einmal blassen ab die Leuchtergarben,
Es bleichen der Gewänder lichte Farben.
Zugleich, im Lichte halb und halb im Düster,
Verrieseln und versickern die Geflüster.
Austräumend, losgeknüpft aus Schlummerschlingen,
Beginnen Geigengeister aufzuspringen;
Ein irrend Waldhorn wirbt aus Buchengründen,
Die Flöte klagt Heimweh und holde Sünden;
Und alle suchen sich und fliehn und schlingen
Sich abermals in Eines und verklingen.
Und wieder aus den Leuchterkörben bricht
Mit überquollnen Strähnen grelles Licht.
Die Sängrin naht und neigt sich, weißgewandet,
Im Gürtel gelbe Rosen. Rauschend brandet
Das Händeklatschen. Lauschend, ihres Winks
Gewärtig, träumt des Flügels finstre Sphinx.
Nun rührt sie schütternd ihre Silberzungen.
Schon hat die Menschenstimme sich erschwungen,
Und jugendrote Lippen überschwillt
Gesang, der Sehnen weckt und Sehnen stillt:
In Reif und Morgengrau der Hahnenkraht,
Ein Horenläuten hinterm Tannengrat,
Herbstfeldereinwärts Wandern, Schweifen, Träumen,
Ein blauer Ferneblick an Wäldersäumen,
Ein Gruß talüber, selig Wiedersehn,
Aufschluchzend Fahrewohl und Tücherwehn,
Rotkehlchenzwitschern aus dem Abendschein,
Ein Harfenklang hoch vom zerfallnen Stein.
Sieh! an des Saales Stirnwand zuckt die Helle;
Es perlt und kräuselt eine Funkenwelle:
Erregte Schatten und behende Lichter
Gießen ein Bild kennst du den toten Dichter,
Dem Zaubrerin Sehnsucht das Lied getränkt
Und weichen Wohllaut in die Brust gesenkt?
So war er, als er noch auf Erden ging
Und an die Frauen seine Träume hing.
Den Liedern, die er einst gesungen, wob
Die Fee Musik ein klingend Kleid und hob
Aus trüben Kammern der Verschollenheit
Sie gütig an den Strahl der späten Zeit.
Sie brechen auf! Vor ihnen klingt die Luft!
Sie kränzen seine moosverwachsne Gruft.
Sie steigen auf die goldnen Sternenstufen,
Ihn in den Lichtersaal herabzurufen.
Ihm auferstehen Lied und Seligkeiten
Und Träume der zergangnen Erdenzeiten.
Sein Antlitz strahlt — aushallen seine Lieder —
Er lächelt und verblasst und scheidet wieder.
ADOLF FREY
D D a
Aus den Neuen Gedichten,
erschienen bei J. G. Cotta,
Stuttgart.
DDD
DIE RACHE GOTTES
Von FELIX MOESCHLIN
Die christlichen Männer-, Frauen-, Jüngh'ngs- und Jungfrauen-
vereine waren auf dem Moosboden eines Tannenwaldes zu einem
Frühlingsfeste versammelt.
Zwischen den hochragenden, mächtigen Stämmen, auf einem
kanzelbildenden Baumstumpf stand der Pfarrer und hielt eine Predigt.
Er pries den lieben Gott, der alles so herrlich eingerichtet
habe. Und er pries den Menschen als die Krone der Schöpfung,
erhaben über allen andern Kreaturen, über Pflanzen und Tieren,
Gewässern und Felsen.
Und er ermahnte die frommen Zuhörer, mit Gebeten und
guten Werken weiter zu schreiten auf dem Wege zur Vollkommen-
heit, auf dass sie sich würdig erwiesen, Gottes Ebenbilder zu sein.
Die versammelte Gemeinde hörte in selbstgefälliger Andacht
das Lob ihrer eigenen Herrlichkeit.
Da fuhr ein Sturm durch die Wipfel der Bäume, dass die
Zweige und Äste um sich schlugen und die Stämme sich bogen.
Und tiefer und tiefer fasste der Wirbelwind. Seine eisen-
klammerige Faust senkte sich auf die Ebenbilder Gottes und
fasste gierig nach Hüten und Kleidern.
Er öffnete die Röcke, die Westen und Hosen, die Jacken
und Blusen, die Hemden und Unterkleider.
Er zog und zerrte, zerriss und zerfetzte.
Und die Lumpen wirbelten in die Luft wie riesige Vögel,
immer dichtere Schwärme bildend, den Himmel verdunkelnd, bis
die Menschen dastanden, nackt, bleich, schlotternd, zu Tode er-
schrocken, von Scham überwältigt, in der brutalen Schande ihres
armseligen Fleisches.
Sieche Leiber, unförmliche Klumpen, Hühnerbrüste, Hänge-
bäuche, Korsetteinschnürungen, krumme Beine, verkrüppelte Füße,
unreine Haut, Ausschläge, Geschwülste, Geschwüre, Spuren ärzt-
licher Hülfeleistung, Offenbarungen heimlicher Laster . . .
Die Bäume konnten soviel Häßlichkeit nicht ertragen und
hielten sich die Augen zu.
Als es Nacht geworden war, finstere Nacht, trotteten die Män-
ner-, Frauen-, Jünglings- und Jungfrauenvereine scheu nach Hause.
In ihrer Mitte trugen sie den toten Pastor.
DDD
DIE ACHTUNG VOR DEM
GEISTIGEN EIGENTUM
Wenn man vom neunzehnten Jahrhundert rühmt, es habe uns als
höchste und schönste sittliche Leistung das Erwachen des sozialen
Gewissens gebracht, so darf man als einen nicht unwesentlichen
Teil dieses neuen Gewissens die Achtung vor dem geistigen Eigen-
tum und seinen gesetzlichen Schutz bezeichnen. Die französische Re-
volution brach auch hierin Bresche auf dem Kontinent; die Beschlüsse
des Konventes von 1791 und 1793 legten das Fundament, auf
dem sich in der folgenden Zeit der Schutz des geistigen Arbeiters
gegen seine Ausplünderung aufbaute. Ein Land nach dem andern
erließ im Laufe der Jahrzehnte Gesetze zum Schutze des gei-
stigen Eigentums, bis dann mit der Berner Konvention von 1886
die wichtigsten Schutzbestimmungen internationale Rechtskraft er-
hielten. Ihre Weiterbildung erfuhren sie in der seit dem 9. Sep-
tember 1910 in Kraft bestehenden neuen Berner Übereinkunft
zum Schütze von Werken der Literatur und Kunst.
Man sollte glauben, das Land, das die Ehre hatte, an diesem
großen Werk internationaler Verständigung Patenstelle zu ver-
sehen und Sitz des ständigen Amtes für geistiges Eigentum zu
werden, hätte allen andern auf diesem Gebiete vorbildlich vor-
angehen müssen. Die Schweiz hat auch wirklich ein einheit-
liches Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Lite-
ratur und Kunst erlassen ; doch geschah es reichlich spät. Frank-
reich besaß längst ein wohl ausgebildetes Urheberrecht, und das
deutsche Reich übernahm ohne weiteres das Schutzwerk, das
1870 der Norddeutsche Bund aufgerichtet hatte. Erst als sich
die Aussicht zeigte, dass Bern der Tagungsort der internationalen
Konferenz für die Ausarbeitung eines internationalen Überein-
kommens und Sitz des zu gründenden Amtes für geistiges Eigen-
tum werden könnte, fand man es in der Schweiz empfehlens-
wert, mit der bisherigen kantonalen Zersplitterung auf diesem
Rechtsgebiete und der damit verbundenen ausgedehnten Recht-
losigkeit aufzuräumen. Es ging doch nicht wohl an, dass das
Land, in dem der internationale Schutzbau sich erheben sollte,
ein abschreckendes Beispiel der Schutzlosigkeit bot.
So ward ziemlich eilig das Gesetz von 1883 ausgearbeitet.
Mag es auch in mancher Beziehung Gutes gewirkt haben; in der
Grundanlage war es verfehlt. Die Autoren behaupten, in der
Praxis habe es sich als ein Gesetz zum Schutze des Publikums
gegen das geistige Eigentum erwiesen, und das Publikum klagt
über die Plackereien, denen es die Aufführung dramatischer und
musikalischer Werke aussetze. Und im Grund haben beide Teile
recht. In dem löblichen Bestreben, möglichst feste Regeln auf-
zustellen, hat man dem Leben Gewalt angetan, hat den künstleri-
schen Verkehr in Schablonen pressen wollen, und damit nur er-
reicht, dass endlose Streitigkeiten entstanden und niemand sich
bei der Ordnung der Dinge wohl fühlte. Namentlich zeigte sich,
dass das System der gesetzlichen Tantieme vollständig verfehlt
war. Nach Art. 7 des Gesetzes von 1883 darf jedes veröffent-
lichte dramatische, musikalische oder dramatisch-musikalische
Werk aufgeführt werden, wenn der Aufführende 2 7o der Brutto-
einnahmen dem Autor sicher stellt. Das gleiche Gesetz, das den
Grundsatz aufstellt, dass der Schöpfer eines Kunstwerkes das
ausschließliche Recht nicht nur der Veröffentlichung sondern auch
der Aufführung habe, und das dazu noch im selben Artikel aus-
drücklich bestimmt, dass die Veräußerung des Veröffentlichungs-
rechtes nicht ohne weiteres auch den Verzicht auf das Auf-
führungsrecht bedeute, gewährt jedem das Recht, den Autor
gegen Bezahlung einer sehr bescheidenen und in manchen Fällen
höchst problematischen „Tantieme" seines Aufführungsrechtes zu
enteignen. Werden 2 7o der mutmaßlichen Einnahme sicher ge-
stellt, so verliert der Verfasser jedes Recht, sich gegen die Auf-
führung zu wehren; mag für ihn die Gefahr noch so groß sein,
dass die Aufführung künstlerisch mangelhaft werde, dass sie sei-
nem künstlerischen Ansehen schade; tut nichts, er muss mit ge-
bundenen Händen zusehen. Denn das Obligationenrecht, auf
das man ihn etwa zum Schutze seiner persönlichen Rechte ver-
weist, vermag ihm höchstens nach der Aufführung den magern
Trost zu bieten, dass er in einem langwierigen Zivilprozess ein
paar Franken herausschindet, wenn ihm nämlich der Nachweis
einer bewussten Schädigung gelingt; es wird kaum einen Dichter
oder Komponisten geben, der das Risiko eines solchen Prozesses
übernimmt. Und mit der Höhe der Tantieme ist es ebenfalls
eine eigene Sache. Der Schöpfer einer Symphonie, die zu-
sammen mit andern Wertcen in einem Konzert aufgeführt
wird, hat nicht etwa Anspruch auf den ganzen Betrag; er muss
unter Umständen erst vom Richter feststellen lassen, wie viel auf
seinen Anteil fällt. Die bundesgerichtliche Praxis scheidet —
ebenso einfach als ungerecht — gleiche Teile zu. Hat das Kon-
zert tausend Franken eingebracht, und sind fünf Musikwerke auf-
geführt worden, so darf er auf vier Franken „Tantieme" rechnen.
Außerdem hat natürlich dieses System die Folge gehabt, dass
niemand mehr als diesen gesetzlichen Betrag zahlt. Anderseits
ergab es sich von selbst, dass die Autoren immer nachdrücklicher
wenigstens diese Tantieme verlangten, woraus dann die Beschwer-
den über schikanöse Auslegung des Art. 7 entstanden.
Das Gesetz von 1883 ging aber in der Beschränkung der
Autorrechte noch weiter. Es strich in Art. 11 den Anspruch des
Autors ganz, wenn die Aufführung keinen Gewinn bezweckt,
wenn also ein Eintritt nur zur Kostendeckung oder für einen
wohltätigen Zweck erhoben wird, in Frankreich, England, Bel-
gien, Italien kennt man diese Einschränkung gar nicht, Deutsch-
land geht wenigstens nicht ebenso weit; es nimmt von der Zahlung
eines Anteils nur die wohltätigen Aufführungen oder solche ohne
Eintritt aus. in der Schweiz sind auch Freikonzerte zu Reklame-
zwecken in Hotels, Cafes, Restaurants, oder Aufführungen, für die eine
zahlungsfähige Gesellschaft beträchtliches „Entree" entrichtet,
wenn nur kein „Gewinn" beabsichtigt ist, abgabefrei. Der gut
gemeinte Zweck war, den Dilettantenvereinen (dramatischen, musi-
kalischen, Sänger- Vereinen) ihre Aufgaben volkstümlicher Kunst-
ausübung zu erleichtern. Dabei ist man weit über das Ziel hinaus-
geschossen und hat auch da die Autorrechte beschnitten, wo gar
kein Grund dazu vorlag. Man stelle sich nur etwa folgendes Bild
vor: eine reiche Gesellschaft lässt sich unter hohem Eintritt, doch
jedermann zugänglich, der die nötigen Mittel besitzt, von einem
exquisiten Orchester einige eben erschienene Kompositionen
junger, talentvoller Musiker vorspielen; ein Gewinn ist aber nicht
beabsichtigt. Auf der einen Seite eine Hörerschaft reicher Genießen-
der, die für das Recht der Aufführung keinen Rappen zahlen, auf
der andern aufstrebende, vielleicht hart um ihr Dasein ringende
Talente, die gesetzlich gezwungen sind, dieser Gesellschaft ihr
geistiges Eigentum zu schenken.
Kann man sich da wundern, dass die Autoren und ihre Ver-
leger sich zusammenschlössen und wenigstens die Rechte, die
ihnen das Gesetz gab, rücksichtslos geltend zu machen ver-
suchten? Mit Hülfe des im Gesetz und im internationalen
Übereinkommen zugelassenen Vorbehaltes des Aufführungs-
rechtes suchte man sich auch da die gesetzliche Tantieme zu
sichern, wo sie ohne diesen Vorbehalt wegfiel. Daraus ergaben
sich unzählige Streitigkeiten und eine Unsumme von Verstim-
mungen gegen die Autoren und ihre Verbände. Namentlich war
es die französische Gesellschaft der Autoren und Komponisten,
die ein rigoroses System der Eintreibung der Tantiemen durch-
führte. Sie ging sogar so weit, unsere schweizerischen Autoren,
die in Frankreich Werke aufführen ließen, den mangelhaften
gesetzlichen Schutz des geistigen Eigentums in unserem Lande
entgelten zu lassen. Man boykottierte diese Autoren förmlich,
reduzierte wenigstens ihren Anteil auf die 2 7o auch in Fällen,
wo sie Anspruch auf mehr gehabt hätten. Das hat nicht wenig
dazu beigetragen, die Unhaltbarkeit unserer Gesetzgebung zu er-
weisen.
Die Arbeiten für eine Umgestaltung sind nun schon seit
einigen Jahren im Flusse. Das Eidgenössische Justizdepartement
hat einen Vorentwurf aufgestellt, den es im Mai 1912 einer Ex-
pertenkommission unterbreitete; diese nahm einschneidende Ver-
änderungen daran vor. Auf Grund ihrer Beschlüsse legte das
Departement einen zweiten Vorentwurf vor, der nächstens in der
Bundesversammlung beraten werden soll. Die Grundsätze dieses
Entwurfes kamen am schweizerischen Juristentag in Glarus, am
2. September dieses Jahres, zur Sprache und führten zu Erörte-
rungen, die einige wichtige Beschlüsse hervorbrachten.
Im Mittelpunkte stand das so heiß umstrittene System der
gesetzlichen Tantieme. Der erste Vorentwurf hatte es trotz seiner
Mängel beibehalten wollen, immerhin mit einer Änderung, die
die Fälle berücksichtigte, in denen sich aus dem Roherträgnis
ein Urheberanteil nicht ermitteln lässt. Art. 10 des ersten Vor-
entwurfs lautete:
8
Die öffentliche Aufführung eines herausgegebenen Werkes ist gegen
Bezahlung des hiernach bestimmten Urheberanteiles an den Inhaber des
Aufführungsrechtes jederzeit zulässig.
Der Urheberanteil beträgt:
20/0 des Roherträgnisses der Aufführung, oder, falls diese Ermittlungsart
des Urheberanteils nicht anwendbar ist,
S^/o der Entlöhnung des bei der Aufführung tätigen Personals, einschließlich
des Wertes allfälliger Naturalentlöhnung.
Dass diese Regelung in keiner Weise befriedigen i<önne, setzte
am Juristentage der Genfer Rechtsanwalt Dunant überzeugend
auseinander. Die Gründe gegen die 27» Tantieme vom Roh-
erträgnis haben wir bereits erwähnt. Steht es besser mit den
87o der Entlöhnung des aufführenden Personals? Man stelle
sich die praktische Anwendung vor! Wer gehört zu diesem Per-
sonal? Nur diejenigen, die mitspielen, oder auch die Kassiere,
Kontrolleure, Saalordner, Garderobehalter usw.? Und was ist
„Naturalentlöhnung" ? Gehören auch Soupers, Logis, Kutschen
für die Solisten dazu? Welche Unsumme von Widerwärtigkeiten
und Streitigkeiten müsste sich aus diesen Bestimmungen ergeben,
ganz abgesehen von der Willkür, die in einer Ansetzung auf ge-
rade 87» liegt. Und wie steht es, wenn kein Eintritt erhoben
wird und die Musiker nicht vom Veranstalter entlöhnt werden,
sondern auf freiwillige Spenden angewiesen sind? Wer soll da
die Kontrolle ausüben? Oder wie soll die Berechnung erfolgen,
wenn, wie im Variete, dazwischen andere Programmnummern
erscheinen, Seiltänzer, Bauchredner und dergleichen? Dazu kommt
die unglaublich mechanische Regelung für den Fall, dass mehrere
Werke in derselben Darbietung aufgeführt werden. Da soll sich
der Anteil des tantiemeberechtigten Stückes nach der Länge sei-
ner Aufführung richten! Kann man sich etwas Unkünstlerischeres
vorstellen als diese Abmessung nach der Zeitelle, die nicht die
geringste Rücksicht auf den Innern Wert des schutzbedürftigen
geistigen Eigentums nimmt?
Der zweite Vorentwurf hat denn auch diese oberflächliche
Lösung fallen lassen. Er sagt in Art. 14:
Die öffentliche Aufführung eines herausgegebenen Werkes darf gegen
Bezahlung einer angemessenen Vergütung an den Inhaber des Aufführungs-
rechtes jederzeit veranstaltet werden.
Können sich die Parteien über die Vergütung nicht einigen, so wird
deren Höhe vom Richter bestimmt.
Diese Fassung, die aller Kasuistik aus dem Wege geht, ver-
folgt offensichtlich nicht etwa den Zweck, den Richter zur ent-
scheidenden Instanz für Kunstwerte zu machen, sondern sie weist
die Parteien auf den Weg der Verständigung; nur wo diese
fehlt, soll der Richter eingreifen; dass er in diesem Falle Sach-
verständige beizuziehen hätte, ist selbstverständlich. Dem Bericht-
erstatter auf dem schweizerischen Juristentage ging auch dieser
Artikel noch nicht weit genug; er wollte in seinen Thesen aus-
drücklich den Grundsatz der freien Vereinbarung zur gesetzlichen
Norm machen. Die Versammlung konnte sich dem nicht völlig
anschließen; in der richtigen Erwägung, dass schließlich doch
die richterliche Instanz entscheiden müsse, stimmte sie, unter
einmütiger Ablehnung des Systems der gesetzlichen Tantieme,
dem zweiten Vorentwurf in diesem Punkte zu. Damit ist grund-
sätzlich das erreicht, was die Wortführer der schweizerischen
Autoren seit Jahren verlangt haben. Sie forderten nie etwas
Unbilliges. Und dass der Weg der freien Vereinbarung sehr wohl
gangbar ist, hat sich in jüngster Zeit gezeigt. Zwischen der fran-
zösischen Societe des auteurs et compositeurs und dem Eidgenös-
sischen Sängerverein ist, nachdem man sich jahrelang arg in den
Haaren gelegen, ein Vertrag zustande gekommen, der die beid-
seitigen Ansprüche in befriedigender Weise regelt und allen Wider-
wärtigkeiten ein Ende macht. Nach diesem Vertrage bezahlt
jeder einzelne Verein von nun an jährlich einen bestimmten Be-
trag und erhält dadurch das Recht zur freien Aufführung einer
beliebigen Anzahl von Kompositionen der durch die „Societe"
vertretenen französischen, deutschen, italienischen und spanischen
Komponisten, und zwar in Konzerten sowohl als an Unterhaltungs-
abenden, Sängerfesten und überhaupt jeder Art Veranstaltungen
mit gesanglichen und musikalischen Darbietungen. Für dieses
Aufführungsrecht haben nach dem vorläufig auf die Dauer von
zwölf Jahren geschlossenen Vertrag jährlich zu bezahlen: die
Vereine der ersten Kategorie (kleine Vereine) 5 Franken, die der
zweiten (größere) 10 Franken, die der dritten 15, der vierten 20
und die einer allenfalls entstehenden fünften Kategorie (ganz
große Vereine) 25 Franken. Das sind Beträge, die auch Dilet-
tantenvereine, die nicht auf Gewinn ausgehen, sehr wohl auf-
bringen; sie ersparen ihnen so viel Unannehmlichkeiten, dass die
10
Summe dagegen gar nicht in Betracht kommt. War ein solcher
Vertrag mit einer der schärfsten Organisationen mögh"ch, so wird
eine Vereinbarung mit den einheimischen Schöpfern von Kunst-
werken noch viel leichter sein.
In Glarus hatte der Berichterstatter auch den Art. 19 des
zweiten Vorentwurfes, der mit Art. 17 des ersten übereinstimmt,
angefochten; dieser Artikel erklärt die Wiedergabe eines Werkes
ausschließlich zu eigenem Gebrauche für zulässig (Werke der Ar-
chitektur ausgenommen). Herr Dunant begründete seine These
mit dem Hinweis auf die Möglichkeit von Missbräuchen, ohne
aber das private Recht der Wiedergabe an sich anzugreifen; er
wollte es nur nicht ausdrücklich im Gesetze festgelegt sehen.
Dabei fügte er aber selbst hinzu, dass ihm von Konflikten aus
diesem Rechte nichts bekannt geworden sei. Dann darf man,
scheint uns, dieses Recht, an dem schwerlich ein Autor Anstoß
nimmt, unbedenklich in das Gesetz aufnehmen; tut man es nicht,
so ist nicht ausgeschlossen, dass der übereifrige Sekretär einer
Autorenvereinigung anfängt, in private Kreise hineinzuschnüffeln.
Das wäre sicher nicht im Interesse der Autoren.
Anders liegt die Sache bei den Einschränkungen, welche die
Art. 30 und 31 des zweiten Vorentwurfes dem Autor auferlegen;
sie weichen materiell wenig vom geltenden Recht ab. Art. 30
bestimmt: „Zulässig sind öffentliche Aufführungen herausgegebe-
ner Werke, welche von Liebhabergesellschaften ohne Zuziehung
fremder Kräfte vorgenommen werden, sofern außer dem Leiten-
den keiner der Mitwirkenden ein Entgelt bezieht". So sehr man
wünschen mag, dass unsern Gesang-, Musik- und dramatischen
Vereinen ihre Tätigkeit möglichst erleichtert werde, so wenig kann
man sich einigen Fragen entziehen, die dieser Artikel aufdrängt.
Wenn diese Vereine ein Werk aufführen, so tun sie es doch, um
sich und andern Freude zu machen; Spielende und Hörende ge-
nießen; sie lernen vielleicht auch noch etwas dabei. Mit welchem
Rechte verlangt man aber vom Schöpfer des aufgeführten Werkes,
dass er zugunsten dieses Genusses und geistigen Gewinnes auf
den Ertrag seiner Arbeit verzichte? Selbst wenn die Aufführung
nach ihrer Qualität — was ja nicht immer der Fall sein wird —
für den Autor eine Ehre ist, so folgt daraus noch nicht die
Pflicht, den materiellen Wert seines geistigen Eigentums zu
11
opfern. Er ist vielleicht ebenso sehr darauf angewiesen, wie der
Leiter der Aufführung, für den diese ja auch eine Ehre ist;
warum soll jener leer ausgehen, dieser seinen Lohn bekommen?
Und nun gar, wenn der Verein zugunsten irgend einer Vereins-
veranstaltung spielt, etwa für eine Reisekasse oder einen Fond —
fühlt man nicht, wie ungerecht es ist, ohne jede Einschränkung
den Autor, der den Verein vielleicht gar nicht kennt, gesetzlich
in Kontribution zu setzen? — Man dürfte auch hier das Prinzip
der freien Vereinbarung gelten lassen. Die Autoren werden sich
nicht unvernünftig zeigen, denn eine Zugeknöpftheit, die den Ver-
einen die Aufführungen erschweren würde, läge gar nicht in ihrem
Interesse. Aber wenn sie sich dagegen wehren, dass man ihnen
das Verfügungsrecht über ihre Schöpfungen, das man ihnen mit der
einen Hand gibt, mit der andern wieder nimmt, und dass man ihnen
zumutet, ihr Eigentum andern Leuten zur Verfügung zu stellen,
damit diese ihren Genuss haben, kann man ihnen das verübeln?
Warum mutet man nicht auch den Musikalienhändlern zu, den
Liebhabervereinen die Musikinstrumente gratis zu leihen oder den
Saalbesitzern, den Saal unentgeltlich herzugeben? Wir glauben
nicht, dass die Liebhabervereine schlechter fahren würden, wenn
man sie auf gütliche Verständigung mit den Urhebern verwiese;
der Vertrag mit der französischen Vereinigung beweist es. Dafür
wäre das Unrecht vermieden, dass man Dichtern und Kom-
ponisten gesetzliche Pflichten auferlegt, die mit der Anerkennung
des geistigen Eigentums schlechterdings nicht zu vereinigen sind.
Eine weitere Einschränkung des Urheberrechtes enthält
Art. 31 : „Zulässig ist der öffentliche Vortrag, sowie die öffentliche
Aufführung oder Vorführung eines herausgegebenen Werkes, wenn
ein Gewinn aus der Veranstaltung nicht beabsichtigt ist; ins-
besondere, wenn der Reinertrag der Veranstaltung ausschließlich
für einen wohltätigen Zweck bestimmt ist. Zum Fehlen der Ge-
winnabsicht gehört insbesondere, dass in keinem Fall einer der
Mitwirkenden ein Entgelt bezieht". Der erste Vorentwurf hatte
noch hinzugefügt: „wenn die Veranstaltung an einem eidgenös-
sischen, kantonalen oder Gemeindefest stattfindet, und Bestand-
teil des offiziellen Festprogrammes bildet". Wenn der zweite
Vorentwurf diese Bestimmung gestrichen hat, so mag ja ein ge-
wisses Schamgefühl dabei mitgewirkt haben — eine solche ge-
12
setzliche Unterstützung der helvetischen Festsucht auf Kosten der
Autoren sah doch gar zu bedenklich aus — ; die Streichung be-
deutet aber keineswegs den Wegfall des Inhaltes der Vorschrift,
denn sie liegt im wesentlichen schon im stehen gebliebenen
Teile des Artikels. Über einen Verzicht zu wohltätigen Zwecken
ließe sich allenfalls noch reden; unsere Autoren sind ja daran
gewöhnt, dass man ihnen bei solchen Gelegenheiten die Ehre
besonders einträglicher Mitwirkung erweist; nur ist auch hier
nicht recht einzusehen, weshalb nun gerade diese Klasse von
Bürgern gesetzlich zur Wohltätigkeit verpflichtet werden soll,
während es keinem Gesetzgeber einfallen würde, etwa den Besuch
von Wohltätigkeitskonzerten für Leute, die mehr als hundert-
tausend Franken besitzen, obligatorisch zu erklären. Dass man
aber ohne Einschränkung Veranstaltungen, die keine Gewinn-
absicht verfolgen, ermächtigt, über das geistige Eigentum hin-
wegzugehen, ohne auch nur den Autor zu fragen: das scheint uns
wiederum eine unstatthafte Verletzung des Grundsatzes zu sein,
den das Gesetz selber aufstellt. Womit will man es rechtfertigen,
dass der Schöpfer eines Werkes Festbummlern zuliebe, die unter-
halten sein wollen, auf seine Rechte verzichte? Man sollte auch
hier konsequent sein und die Regelung der freien Vereinbarung
überlassen. Dieser Ansicht war grundsätzlich auch der Glarner
Juristentag.
Die Vorentwürfe haben außer diesen anfechtbaren Bestim-
mungen noch einen Mangel, der für die Autoren sehr empfind-
lich werden kann und bisher schon, wie oben erwähnt, zu Rei-
bungen Anlass gegeben hat. Es fehlt eine Vorschrift, die dem
Schöpfer eines Werkes erlaubt, die Aufführung zu untersagen,
wenn diese den künstlerischen Anforderungen, die das Werk
stellt, voraussichtlich gar nicht gewachsen ist. Auch hier hat sich
der Juristentag für einen weiter gehenden Schutz des Autorrechtes
ausgesprochen; es sollte, fand die Mehrheit, im Gesetz ausdrück-
lich gesagt sein, dass in einem solchen Falle der Urheber eines
Werkes Einsprache erheben kann. Mit dem Hinweis auf das
Obligationenrecht ist ihm, wie schon angedeutet, nicht genügend
gedient; dieser moralische Schutz gehört in das Urheberrechts-
gesetz selber; hier ist er, in Form einer klaren, bestimmten Vor-
schrift, ungleich wirksamer als in der allgemeinen Fassung des
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Schutzes der persönlichen Rechte. Und es scheint uns ein Lob
für die schweizerischen Autoren zu sein, dass sie mit ebenso
großem Nachdrucke diese morah'sche Sicherung ihres künstle-
rischen Ansehens verlangen wie die Sicherstellung ihrer Geld-
ansprüche.
Manches wäre an den Vorentwürfen noch auszusetzen; es
kam uns aber hier nur darauf an, an einigen Hauptpunkten zu
zeigen, dass wir in der Schweiz noch immer nicht das Ziel er-
reicht haben, dem künstlerischen Schaffen das Recht werden zu
lassen, auf das es Anspruch machen darf. In der Hand der
Bundesversammlung liegt es nun, das neue Gesetz auf den rech-
ten Boden zu stellen; und dieser Boden heißt: Achtung vor dem
geistigen Eigentum.
ZÜRICH OSCAR WETTSTEIN
D D D
„Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdste,
Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in dem
eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte
ich nur einmal Humboldten erzählen hören."
„Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische Grab-
stätte, wo die verschiedenen Tier- und Pflanzengötzen balsamiert umher-
stehen. Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnis-
vollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen Unterricht sollte
dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und Würdi-
geres sich dadurch leicht verdrängt sieht."
„Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem
einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns
ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen
nach überiiefert: denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies
wissen können, dass das Menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten
das Gleichnis der Gottheit an sich trägt."
„Dem Einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was
ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das
eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch."
Aus den Wahlverwandtschaften. GOETHE
DDD
14
' DIE ZEITGENOSSEN IN DER
LITERATURGESCHICHTE
Die ganze Weltgeschichte sei ohne die Literaturgeschichte
einer Statue des Polyphem zu vergleichen, dem das eine Auge
fehle. So wäre denn, dieser ehrwürdigen Äußerung Bacons von
Verulam zufolge, die deutsche Literaturgeschichte das geistige Auge
unserer deutschen Vergangenheit. Sie ist es, wenn man diesem
Auge erst einmal den Star sticht; denn, die Wahrheit zu sagen,
die Literaturgeschichte leidet, sogar sehr, an der verantwortlichen
Last ihrer letzten Kapitel, in denen die Zeitgenossen des Ge-
schichtschreibers auf Dornen oder Lorbeeren dem letzten Tribunal
der Nachwelt entgegenschwitzen. Und die Remedur? Der Ge-
schichtschreiber entzieht sich selber das Wort an der Schwelle
der Gegenwart!
Wie einfach! „Parbleu! einfach unmöglich!" unterbricht
mich der Geschichtschreiber. „Wozu wäre alle die Erfahrung
eines tausendjährigen literarischen Strebens? Glauben Sie, man
kommt den Dichtern nicht hinter die Schliche, wenn man vom
Gotenbischof Ulfila bis zum Weltkind Frank Wedekind nicht nur
die Herzgrube aller Genies, sondern auch die der Vettern und
Basen des Genies durchschaut hat? Wer einmal wie wir im
goldensten Gold goldener Zeitalter zu Hause war, dann den
schmerzlichen Übergang zum „silbernen" Zeitalter mitangesehn und
die Augenbrauen hoch zog, wenn die „bleierne" Zeit klimperte,
der lässt sich keine immergrünen Lenze und fröstelnden Herbste
deutscher Literatur aufschwatzen. Er weiß, ob seine eigene Zeit
ein Stoppelfeld oder ein körn wogendes Meer ist. Er weiß es!"
Weil Sie der liebe Gott sind, verehrter Herr Geschichtschreiber?
Oder der Tod mit Stundenglas und Hippe, der den Legionen der
Mittelmäßigkeit zuröchelt: Die Toten reiten schnell! Aber die
Zeitgenossen sind keine Bleisoldaten, sie können reden und glauben
nicht, dass ihre Hand manus dextera Dei sei, die das Chaos
ordnen müsse. Der Geschichtschreiber flötet ein unwider-
stehliches Lessingzitat: „Der Name eines Geschichtschreibers
kommt nur dem zu, der die Geschichte seiner Zeiten und
seines Landes beschreibet." So muss denn der Geschicht-
15
Schreiber die Rangliste der Zeitgenossen bestimmen; denn jedes
ernsthafte Werk zieht im letzten Kapitel Schlüsse. Sollte nun der
Geschichtschreiber, der Leben und Meinungen aller Großväter
kennt, nicht auf die lebenden Väter und Söhne Schlüsse ziehen
•dürfen, die die Prämissen noch solider erscheinen lassen? Wird
man überhaupt eine Literaturgeschichte je anders als krebsartig
von der letzten nach der ersten Seite hin prüfen? Genug: das
Schlusskapitel ist die Prüfung der Zeitgenossen, aber auch des
Geschichtschreibers, der durch jeden Federstrich einem Talent
den Taufzettel oder die Grabschrift schreibt. Wie tröstlich zu
wissen, dass viele Zeitgenossen die Prüfung rite und sogar egregie
bestanden, dass aber die Geschichtschreiber durchfielen.
Ein leichter Beweis! Man denkt sich in das erste Jahrzehnt
des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Wilhelm Schlegel liest vor
«inem blasierten Berliner Publikum Vorlesungen in hohem Diskant
über Geschichte der Literatur. Trotzdem Goethe und Schiller seine
Zeitgenossen sind, scheint es ihm töricht, von einem „goldenen"
Zeitalter zu reden: „Was die Poesie betrifft, so habe ich schon
öfters geäußert, dass ich das meiste, was die Deutschen in der
letzten Periode verehrt haben, für durchaus null halte." Es ist
ja bekannt, dass der Sohn Wielands schon um 1810 herum seinen
Vater nicht mehr für einen Dichter hielt. Die Romantiker glaubten,
die Blütezeit liege nicht hinter, sondern vor ihnen. 1812 beginnt
im Tanzsaale des römischen Kaisers in Wien Friedrich Schlegel
seine Vorlesungen in Anwesenheit von neunundzwanzig Fürsten,
die über die Literatur der Gegenwart hören dürfen, dass „sie noch
alle die großen Erwartungen erfüllen werde, welche sie bisher
mehr nur lebhaft angeregt habe, als vollständig zu befriedigen
vermochte". Also, die Klassiker dürfen etwa in der Auffassung
Schlegels die Bruthennen der kommenden größern Talente sein.
Nichts mehr! Die Schlegel meistern die schöpferische Kritik, aber
die Literaturgeschichte „erfanden" sie nur, um ihren romantischen
Doktrinen eine vorteilhafte Basis zu geben. So gewiss der ro-
mantische Optimismus die Leistung der eigenen Zeit aufbauschte,
so gewiss hat der katzenjämmerliche Pessimismus der dreißiger
und vierziger Jahre sich unterschätzt. Gervinus hat seinem Meister-
werk, der Geschichte der poetischen Nationalliteratur einen
Schluss gegeben, der das ganze Werk desavouiert. Kaum schwebt
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uns am Ende des fünften Bandes das dankbare Wort Dantes
auf den Lippen: „Tu sei maestro e guida!" zieht man es
reuig zurück beim Urteil über die zeitgenössische Dichtung,
„die ganz auf dem Wege sei, auf dem in der Reformation die
Religion ins Wüste und Wilde geriet". Widerwillig legt er den
„ungesunden Literaturkörper" auf den Seziertisch und verordnet
ihm absolute Ruhe. Eine Schonzeit des poetischen Geistes —
lucida intervalla! Er verbietet seiner Zeit, sich um faustische
Probleme zu kümmern und gesteht großmütiger als Gottsched:
„Ich bin nicht so prosaisch, unserm Vaterlande eine zweite große
Dichtungsepoche zu missgönnen." Mit Recht hat später H. von
Treitschke diesen Mann ein wenig am Barte gezupft und ihm ge-
sagt, seine Kritik der Dichter bestünde darin, dass er immer vom
Feigenbaume Datteln fordere. Seine Literaturgeschichte hat wenig-
stens durch die Prophetie auf den kommenden Mann des deut-
schen Reiches, auf Bismarck, den griesgrämigen Schluss verschleiert.
Aber fast ein Jahrhundert vor ihm hat unser Jakob Bodmer seinen
unbeholfenen Versuch einer Literaturgeschichte in Alexandrinern
mit einem kühneren Katzensprung in die Zukunft beschlossen.
Er forderte von seiner Zeit das große epische Genie, das bereits
auf den Bänken Schulpfortas rutschte : Klopstock. Diese Prophetie
war entschieden wertvoller — für eine Literaturgeschichte.
Durch alle Auflagen von 1844 bis zum Jahre 1881 verab-
schiedet der konservative Vilmar sich mürrisch von der eigenen
Zeit, einer „Periode der Abnahme der poetischen Kräfte". „Dass
aber ein gänzlicher Verfall unserer Dichtkunst drohend bevorstehe,
. . . wage er nicht zu behaupten." Welch tröstliche Prognose für
die Zeit Mörikes, Kellers und Storms! Und diese Zeit war schon
da, als wieder ein Geschichtschreiber, Robert Prutz, 1859 seufzte:
„Wir ergeben uns darein . . . die Saat (der Literatur) ist längst
geschnitten." Heines Musterung der Zeitgenossen in der Roman-
tischen Schule ergab das verblüffende Resultat, dass eigentlich
nur — Heinrich Heine als Dichter übrig blieb.
Wenn die summarischen Urteile so in die irre gehen, wie
wird es erst um die Erkenntnis der Nuancen, also der einzelnen
Dichter stehen? Ohne in Beweisen wühlen zu wollen: es sollen
doch einmal Urteile geschichtlicher Würdigung der Zeitgenossen
an den Spieß!
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Ich beginne mit Wolfgang Menzel, der schon gegen Lessing,
dessen Nathan er einfach „skandalös" nennt, gepöbelt, sich um
Goethes willen heiser geschrien hat, sodass er, in seinen Urteilen
der neuesten Literatur kurzatmig genug, nur noch zu Zensuren
kommt. Zum Beispiel: „Sehr schön ist Kleists Prinz von Hom-
burg''. „Das Lustspiel Der zerbrochene Krug ist unbedeutend".
„Grillparzer wagte sich an antike Stoffe: Sappho, Medea, Hero
und Leander, aber ohne Geist mit sentimentaler Phraseologie, wie
auch seine Oper Melusine. Auch sein Ottokar ist nur eine
Ovation für die habsburgische Dynastie, sein Der Traum ein
Leben nur Nachahmung eines französischen Stückes."
Um bei Grillparzer zu bleiben: Gervinus verantwortet Grill-
parzer mit Werner und Houwald zusammen für den Verfall der
deutschen Bühne. Der „geistreiche" Vilmar hat für Grillparzer
nur eine tadelnde Zeile. Für Mörike nicht einmal eine: „Mayer,
Gustav Pfizer, Mörike und viele andere" heißt die bedeutungsvolle
Wendung Vilmars; so erscheint meist der wirkliche Dichter nur
als einer unter vielen Sternen in der Milchstraße ! Lyriker werden
fast immer nur in Massenquartieren untergebracht. Wer kennt
K. J. Schuler, Fr. W. Rogge, Georg Schirges, Rudolf Kulmann,
A. G. Lindenberg? Auf der selben Seite, auf der diese Mittel-
mäßigkeiten begönnert werden, erscheint der Satz: „Bilder
aus den Schweizergebirgen enthalten die Gedichte von Reithard
(1842) und von Gottfried Keller (1846), die letztern jedoch ge-
mischt mit politischen Exkursen." Arm in Arm marschieren in
der Literaturgeschichte wie zur Strafe alle jene, die sich im Leben
als feindliche Brüder begegnen. Und der selbe Menzel, der die
Gurgel des Kuckucks von der Kehle der Nachtigall nicht unter-
scheidet, wimmert über die poetische Superfötation seiner Gegen-
wart, hilft aber durch sein Lob der runden Nullen selber mit,
dass die Muse sich nicht zu malthusianischen Prinzipien entschließt.
Man vergleiche, wie zwei Zeitgenossen, von denen der eine ver-
gessen worden, in der Literaturgeschichte gewürdigt wurden.
Achtzehn Seiten widmet Robert Prutz Max Waldau, in dem „die
Zukunft den Vorläufer ihrer größten und edelsten Namen stets
mit Achtung und Teilnahme nennen wird". Was will da alles
Lob über G. Keller, von dessen Novellen man erstaunt erfährt:
es herrsche in den Drei gerechten Kammachern und in Spiegel
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dem Kätzchen ein erzwungener und unnatürlicher Humor, der
an das alte bekannte „kitzle mich, damit ich lache" erinnert.
Diesen selben Waldau himmelt R. Gottschall an:
Wenn Dichter von solcher Lebenskraft, solchem geistigen Reichtume,
solchem weltoffenen Sinne, Produktionsdrange und unverwüstlichem Humore
wie Waldau, in der Jugend sterben, so macht dies den untröstlichen Ein-
druck einer durch vulkanische Explosion verschütteten Gegend mit üppigen
Lenzhoffnungen und unvollendeten Prachtbauten.
Fünf Seiten über Waldau, nicht fünf Zeilen über G. Keller,
„der auch als harmloser Liederdichter viel Liebliches geschaffen
hat", in ein Massengrab wirft er den wertvollen Namen G. Kellers.
Soll ich Moral pauken und den verblichenen Schatten Gottschalls
nachrufen : „Wer andern eine Grube gräbt . . . etc." Das war
in den fünfziger Jahren — für Gottschall ein mildernder Umstand;
aber wenn im achten Jahrzehnt Heinrich Kurz in seiner wohl-
beleibten Literaturgeschichte von G. Keller behauptete, die Neigung,
sich in Phantasiegebilde zu verlieren, gereiche ihm zum Nachteil,
wenn Robert Koenig, der seine Literaturgeschichte neben der Haus-
bibel in jedem Bücherschrank wiederfinden möchte, G. Keller im
Jahre 1879 mit den Worten würdigt: „G. Keller, 1819 zu Zürich
geboren, wo er noch lebt", wenn dieser selbe „König" alle
schreibenden Gouvernanten und Komtessen „liebevoll" hätschelt,
wird man nicht mehr zweifeln können, dass die Literaturgeschichte
in der Sünden Maienblüte stand. Gottfried Keller hat Heinrich
Kurz, der über den unsittlicher als Boccaccio erscheinenden Ge-
dichten Mörikes die Augen gen Himmel schlug, mit dem Wort
„Literaturneger" erschöpfend gewürdigt.
Diese Literaturneger haben ein halbes Jahrhundert lang auf
Fr. Hebbel mit großmütiger Gebärde verzichtet. Zwischen W. Men-
zels Urteil über Maria Magdalena — „eine Kriminalgeschichte,
aber ohne Poesie" — und R. Koenigs Meinung: Hebbel hätte Maria
Magdalena ebenso gut ein „Schauerstück" nennen können, liegen
die ehrlichen Missverständnisse des geistreichsten Literaturgeschicht-
schreibers seines Zeitgenossen, Julian Schmidts. Entschuldbar
bleibt es, weil Hebbel nur von einem zweiten Dichter, von Hen-
rik Ibsen, so begriffen werden konnte. Aber dass sogar auf
durchsichtige Begabungen wie Gotthelf und Freytag die Literatur-
geschichte keinen Wert legte, zeigt ihr geradezu tragisches Be-
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streben, mit Ausschluss der wirklichen Talente die Geschichte der
Eintagsfliegen zu schreiben.
Robert Prutz schrieb über Gottheit ein so verranntes Urteil,
dass ich es ungern in der Studie G. Murets über Gotthelf und
Deutschland vermisse: „Als Dichter wird eine spätere, unbefan-
genere Zeit, die von der gegenwärtig grassierenden, einseitigen
Vergötterung der Dorfgeschichte geheilt ist, ihn nicht mehr ken-
nen." — Heinrich Kurz, der die Entwicklung des Kaufmanns-
romanes nicht erlebte, hat Freytag glatt abgelehnt: „Wenn sich
je ein bedeutendes Talent in seinen Stoffen vergriffen hat, so ist
es Gustav Freytag, denn die Philisterhaftigkeit kann doch höch-
stens den Stoff zu einem komischen Roman abgeben, und dies
soll doch weder Soll und Haben noch Die verlorene Handschrift
sein."
Die Geschichte ist wirklich die vorzügliche Lehrmeistet"in, die
leider nur keine Schüler hat; denn sonst würden unsere Literatur-
geschichten minder keck die Zeitgenossen stempeln, sondern eher
die wirklich entscheidenden Former und Ideenträger der Zeit er-
kennen wollen. Wem in dreißig Jahren R. Riemanns tüchtiges
Werk in die Hand fällt, wird keinen Carl Spitteler darin finden;
wer in zwanzig Jahren Eduard Engels Literaturgeschichte die
Versicherung glaubt: „Das Herz des Literaturgeschichtsschreibers
schlage allemal da höher, wo die Purpurstandarte der Jugend im
frischen Wind flattere," wird erstaunt sein von der damaligen
literarischen Jugend der Schweiz nur die Namen Walter Sieg-
fried und Gustav (!) Heer durch sie zu erfahren. Schlägt der
verblüffte Leser in der Not dann R. M. Meyers Deutsche Literatur
im neunzehnten Jahrhundert auf, so mag ihn das die Schweizer
in einen Satz verpackende Urteil: „Eine ganze Reihe junger Ta-
lente teilt mit Zahn mehr die gleiche Schule und Richtung als die
Anlage: Felix Moeschlin, Paul 11g, oder der bittere Menschen-
schilderer Hermann Kurz" bass verblüffen. Das Schicksal aber
bewahre ihn vor eines Herrn E. Howalds Werk, der an der
„hyperoriginellen Erscheinung Carl Spittelers von schwer bestimm-
barer Eigenart" vorüberschleicht, um sich bei Otto Sutermeister
behaglicher einzufühlen, und der G. Hauptmann einen „Zug nach
Höherem" zuerkennt und mit solcher Orakelei glaubt seiner Dar-
stellung „Relief gegeben zu haben". Wenn aber der späte Leser
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gar über den wackeren Schwaben Ludwig Finck als einzige Cha-
rakteristik erfährt: „Ludwig Finck schwimmt in Rosen", weil er
den Rosendoktor schrieb, so mag er diesen Witz einem Univer-
sitätsprofessor verzeihen, der ihn aber Blumenthal und Kadelburg
nie entschuldigt hätte.
In der Tat! Diese Würdigungen der Zeitgenossen sind nur
Verkittungen von Namen; Kürschnersche Literaturkalender, in
denen die Namen mit unverantwortlichen Epithetis behängt
werden. Ein Schläuling meint gar Geschichte geschrieben zu
haben, wenn er die Biographien seiner Mitlebenden klatscht, als
ob denn eine Summe von Biographien Historie wäre.
Wilhelm Scherer hat 1874 (Vorträge und Auf sätze) behauptet:
„In der Literaturgeschichte von 1920 wird man bequem die Namen
der Dichter, Philosophen, Historiker, Philologen aufschlagen, in
deren Händen um 1870 die Fortbildung der Poesie und Geistes-
wissenschaft ruhte. Wie wenig aber ist den Zeitgenossen darüber
zu wissen vergönnt."
Wollen wir dem Scharfsinn unserer Zeit ein Distanzurteil auf
zwanzig, dreißig Jahre wenigstens zutrauen, dann dürfte die
Literaturgeschichte mit den ziemlich bestimmten Profilen der acht-
ziger Jahre abschließen. Sie könnte wenigstens in dem beruhig-
ten Gefühle leben, die ins Kraut geschossene Literatur von den
wirklichen Persönlichkeiten geschieden zu haben. Um 1840 steht
erst für den Historiker Gervinus das zu würdigende Personal der
Romantik ganz fest. Um 1870 das des Jungen Deutschland.
Gewiss scheint uns die Periodisierung der zweiten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts in Empfindsamkeit, Sturm und Drang
und klassische Richtung heute sehr klar; ich zweifle aber, ob
Lamprecht diese triadische Gliederung schon den Zeitgenossen
Schillers zusprechen konnte. Wie schwer aber hält es, die leisen
und leisesten Schattierungen zu beachten, die wirklich nicht so
leicht zu schildern sind wie alle Übergänge von der Kerze bis zur
Glühbirne. Gälte es in der Würdigung der Gegenwart nur einen
Querschnitt durch eine Generation! Aber eben Anziehung und
Abstoßung verschiedener Generationen ergeben das literarische
Leben. Da der Geschichtschreiber fast immer der altern Gene-
ration angehört, erlebt er nur mit Reserve diejenige Generation,
die zum Umlernen zwingt. Wie hahnebüchen die Generations-
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lehre auf die Literaturgeschichte übertragen wird, sieht man aus
Werken, in denen das Geburtsjahr — zumBeispiel 1813: Hebbel, Lud-
wig, Wagner — für die Zugehörigkeit einer Generation entscheidet.
Wenn man das Problem der Generationen für die Literaturge-
schichte fruchtbar machen will, soll man zu Balzac, zu den Russen,
zu Thomas Mann in die Schule gehen, die den Typus der Ge-
schlechter und seiner kontinuierlichen Veränderung mit den fein-
sten und reinlichsten Instrumenten der Sprache erfasst haben, so
dass man beinahe versucht wäre, diese Dichtungen Wissenschaft
— und die Literaturgeschichte Dichtung, viel Irrtum und ein
Fünklein Wahrheit zu nennen.
ZÜRICH EDUARD KORRODl
□ □D
NEUE GEDICHTE VON WILHELM v. SCHOLZ
Das Bedeutsame und die Einheit dieses Buches ^) erstehen aus dem
Gefühl der Zeit, das im Dichter über alles andere mächtig ist. Der Glanz
der Dinge erstirbt vor dem Gedanken des unerbittlich Vergänglichen;
„dies Fließen, dies Verwandeln" hebt die Realität des Geschauten auf.
Einzig der Geist ist das Wirkliche, denn er durchglüht das Vielverworrene
und klärt das Jetzt zu zeitloser Gültigkeit. So fühlt er sich dem Außer-
Sinnlichen, dem All verbunden und gelangt über die schmerzlich deutliche
Erkenntnis, dass wir nur Bilder sehen, nur Schein und Schatten, ahnend
zum Ewigen,
Aus dieser Einstellung ergibt sich das merkwürdige Verhältnis von Ver-
stand und Gefühl: eine intellektuelle Mystik, eine reine, hohe Leidenschaft,
zum Letzten emporzudringen. Und das Reich der Scholzschen Lyrik ist
durchmessen, wenn gesagt wird, dass sich zur schwermütig erhabenen
Meditation über Leben und Welt, zum Kampf des Geistes mit dem Stoff
— derselben Sehnsucht nach dem Außerzeitlichen entspringend — die Har-
monie findet in der Poesie der Stille. Da verwirken sich der Unendlich-
keitsdrang und die Kunst des Schauens zum tiefen Stimmungsbild. Was
über diese beiden Pole hinausgeht, entbehrt einmal des Geistigen und da-
mit bei Scholz des Persönlichen („Bergjahr") und wird zur Deskription
(„Märztal") oder zur bloßen Dekoration („Rauch"), zum andernmal des
Gegenständlichen und wird abstrakt („Wandel und Wiederkehr").
Durch eine Reihe von Motiven erneut er das Schweigen der Natur
zum Wunder und macht das Unbegrenzte, Maßbefreite, Kosmische fühlbar
durch das Hereindämmern ferner Geräusche, durch magische Horizonte,
durch Dunkel, Schweben und alle Geheimnisse der Einsamkeit. Ein Phä-
1) München 1913, bei Georg Müller.
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nomen gibt er in fünf Zeilen, wo alles in poetischer Formulierung aufge-
gangen ist. „Sonnenfinsternis im Frühling".
Die Sonnensichel schwebt in grauem Raum.
Die Luft ist dämmerstill. Ein Tagermatten
senkt seine Schleier um den Himmelssaum.
Fahl, wie im Mondlicht, steht der Blütenbaum.
Halbsonnen schimmern in den Blätterschatten.
Seine Sinne lösen sich wie zum Jubel über irdische Seligkeit; „Wehen-
der Duft" heißt ein Frühlingsgedicht, „Erster Hauch" ein anderes: „Über
den Lichtern im Tal ist es wie Atem erwacht". Er bannt das Unbestimmte.
„Herbstabend".
Herbstlicher Dämmerungswald, der feuchtschwarz starrt.
Ein Weg voll A\oderlaub. Und ringsum Höhn,
die dunstverschwommen durch die Stämme sehn.
Raumrunde, die das Ohr mit Lauten narrt.
In das Erdgrauen, das des Schlummers harrt,
läuten die Täler Nacht. Die Schritte gehn
verschwundenen Weg. Kaum Wipfel sind zu sehn.
Still. Stille wird zu dunkler Gegenwart. —
Derart umflorte Bilder nehmen den Klang seines Wesens rein auf.
Helle Hintergründe nötigen zu andern Mitteln. In dem Gedicht „Über dem
Lande" — Blaues Bild ist alles Land — flutet das Weitegefühl in ruhigem
Strom, bis es sich plötzlich in dem Schlüsse zusammendrängt:
Wandrer! Erde ist dies Bild —
schreit hinein : und jäh enteilend,
sich in Raum und Abgrund teilend,
lockt dich fort, was nie dich stillt.
Farbe und Glanz lenken vom Innern ab. Auf einem „Maigang" be-
sinnt er sich zu „klarem Ruhn", und beglückend dehnt Vergangenheit die
Gegenwart. Das Grüblerische weist ihn in die Einsamkeit; das häufige
Motiv des Wanderns („Der Wandernde", am eindrücklichsten in dem Dialog
„Am Brunnen") erhält etwas Symbolhaftes.
Des Abends oft, wenn ich allein,
von meinem Willen still verlassen,
durch Felder wandre, um mein Sein
im Dämmerfrieden zu umfassen,
wird mir aus allen Zweifeln klar
mein Gehen auf der dunkelnden Erde,
mein Aufwärtsschaun, wie Tag und Jahr
und Leben sich gestalten werde.
Den Menschenstätten entrückt sieht er alles „fern, tief, lautlos, klein".
Allein empfindet er das Leben stärker. „Der einsame Zecher" trinkt „Erden-
freude im einsamen Wein" und kann, an sich selber,
wie Zeit, vorübergetrieben
Stunden der Nacht ein Ewiger sein.
Immer wieder schwindet wieder das Reale. Das Licht- und Lautlose
wächst zu suggestiver Macht. Es gestaltet sich das Urgeheimnis der Liebe,
wenn aus verfließenden Umrissen das „Paar im Dunkel" taucht. Charak-
teristisch ist die Vision der „Atmosphäre": ein Meer, in dessen Tiefe wir
schleichen „unter Gewächsen wie das Grundgetier"*. Das raumhaft Ge-
waltige wird oft durch graue Töne vermittelt: Nacht, Dunkel, Dämmer.
23
Daraus heben sich die Dinge schattenhaft, träum leicht, schwerelos. Das
treibt wiederum zu den mystisch verwebenden Schlüssen. Wie denn auch
das Schwebende, Schwankende im Rhythmus wiederholt ist, so dass zum
Beispiel die strengen Maße der Terzine, der Oktave, des Sonetts aufge-
lockert werden. — Aber bei dem rastlosen Flug ins Unbeschränkte versagt
das Auge, und die Poesie muss, wenn der Gedanke nicht an einem Motiv
dargestellt, wenn zur monologartigen Auseinandersetzung gegriffen wird,
in Gefahr kommen. Probleme treten in den Vordergrund, die über die
Lyrik hinaus zum Drama streben. Manche Gedichte bewegt die Dualität:
„Ich und Welt." „Wer bist du?" Das Ich ist sich selber und allem außer
ihm fremd. Die ewige Tragik der Liebe: „Du weißt nicht, wer ich bin",
schauert aus zwei Versen:
Als ich dich suchte, könnt ich dich nicht finden.
Dem Fremdgewordnen gibst du still dich hin.
Überall spürt er die irdischen Fesseln und so fordert er drei Saturnus-
jahre, drei Leben
statt dieser hastig schnellen Erdenjahre,
in denen Monde kurz wie Stunden schweben,
rasch wechselnd, wiederkehrend — statt dass wunderbare
Unendlichkeit die Jahreszeiten sind . . .
Unbegreiflich unaufhaltsam enteilt dieses Leben.
Als ob es sinke, wenn es halten bliebe,
wie Staub aus Wind, wandelt es, atemschnell
vorüberfließend, Glanz, Gestalt und Liebe.
Sind wir Getäuschte, die nie Leben hatten? fragt er in den „Lebens-
terzinen" und führt ineinandergleitende Bilder herauf, von den schmerzlichen
Akkorden durchzittert: „Kann dieses Träumen unser Leben sein?"
Greifst du's, wird es dir ewig Bilder zeigen,
denkst du es aus, ist es dir sprechend nah;
du aber zitterst: endlich wird es schweigen —
und sinnst versäumend: war es jemals da?
Ein einsamer Herbstgang, das Treiben der Stadt, das Theater, das
Liebesfest, der Tod lehren:
dein Herz trägt,
wo es noch eben Wirklichkeit genossen,
modernden Schein zur Gruft, so lang es schlägt.
So schreitet eine hochentwickelte Kunst die Grenzgebiete der Poesie
und des menschlichen Geistes überhaupt ab. Die Richtung auf die schwie-
rigsten Probleme, die nur ahnungsweise gelöst werden können, ergibt bis-
weilen eine Irrationalität des Gedanklichen, die auch eine scharfe Dialektik
nicht beseitigen kann. Der Gewinn aber aus diesem Ringen um die Un-
endlichkeit ist eine Weltandacht, die sich dem Leser mitteilt.
Jagst du dem Leben nach ?
Wirst deine heiße Gier nicht kühlen.
Wir gehn gemach
und lernen still: Welt um uns fühlen.
USTER JOSEF HALPERIN
D D a
24
GIUSEPPE VERDI
In der Casa di riposo in Mailand feiern sie das Verdi-Jalir.
Sie feiern es durch ein Konzert vor einer kleinen auserwählten Hörer-
schaft. Am Schlüsse aber vereinigen sich alle zum Vortrag einer
jener Chöre des Meisters, die seine Opern um die Welt getragen
haben.
Das ist nun ein gar ergreifendes Bild: mit trockenen, aus-
gesungenen Stimmen stehen die alten emeritierten Opernsänger
da, denen Verdis Liebe dies Heim erbaut; im Auge aber glüht
die Begeisterung für die Kunst und für ihn, und aus den Augen
quellen die Tränen der Dankbarkeit. Sie alle haben sich auf-
gebraucht in der harten Mühle, die für sie jene Welt des holden
Scheins war, tausende werden ihnen folgen, — unsterblich bleibt
nur das Meisterwerk und der es geschaffen.
■X-
„Gloria a lui, immortale, sereno e trionfante, come l'idea
della patria e dell'arte."
Diese Worte, die Carducci im Jahre 1889 schrieb, sie könn-
ten wie ein gewaltiger Portikus als Motto über dem Verdi-Jahr in
Italien stehen. Was hat nicht die Liebe seines Volkes alles aus-
gesonnen, um die hundertste Wiederkehr seines Geburtstags würdig
zu feiern, um sein Gedächtnis in aller Herzen zu festigen und
vor allem, um ihm zu danken für all das unaussprechlich Be-
geisternde, für die Flügel, die er seinem Volke im Freiheits-
kampfe schuf.
in Parma ward eine große Ausstellung eröffnet, in der nicht
nur Verdis Werke, sondern die ganze Geschichte der italienischen
Oper in äußerst anschaulicher und anregender Art vertreten ist.
Dazu gesellen sich Musteraufführungen seiner Opern, wobei man
zum ersten Male auch jenes erste Werk des Komponisten berück-
sichtigte, den Oberto cotite di San Bonlfazio (seine Premiere an
der Scala reicht in das Jahr 1839 zurück); und mit weich bei-
spielloser Andacht lauschte die Hörerschaft den ersten Klängen,
wie sehr sie auch noch im Konventionellen befangen schienen,
wie man wohl sinnend und ergriffen an der schmalen Quelle
eines Stromes steht, den tief drunten im Lande stolze Schiffe
befahren.
25
Eine der wertvollsten, nein, die wertvollste Frucht dieses
Jahres aber wird die Herausgabe seiner Briefe bedeuten. Sechs-
undfünfzig Jahre, zwei Menschenalter umfassen diese Schriften,
denen der Titel eines document humain im edelsten und stolze-
sten Sinne zukommt. Schon jetzt lassen die spärlichen Proben,
die daraus veröffentlicht wurden, erkennen, in welch vollendeter
Art sich uns das Bild dieses seltenen Meisters darstellen wird,
dessen Ethos — im Leben — sich auf der Höhe seines Pathos —
in der Kunst — hielt.
*
Wie sich die Produktion Verdis in seinem Oeuvre abrollt,
das wird stets eine der staunenswertesten Evolutionen des Genies,
und nicht etwa nur des musikalischen Genies, bleiben. Während
sich bei den andern Größen bestimmte Richtlinien zeigen, die von
den Anfangswerken durch allerlei Irrungen und Wirrungen zu dem
Ziele der Begabung, zur Erfüllung der Persönlichkeit führen,
gliedert sich Verdis Oeuvre in verschiedene Epochen, denen oft
durchaus entgegengesetzte Kunstgesetze und Kunsteinsichten inne-
wohnen. Ja, selbst wenn man den Größten zum Vergleich her-
beizieht: meinem Gefühl nach ist der Weg, der aus dem Kalei-
doskop liliputanischer Leidenschaften des Oberto zu den lichten
Höhen gütigster Heiterkeit im Falstaff führte ungleich weiter,
als die Pilgerbahn jenes Wähnens, das in den Feen dämmerte,
um endlich im Charfreitagszauber Frieden zu finden.
„Desideravo il risorgimento del nostro teatro" schreibt Verdi
1877 in einem Brief an Escudier: dies Ziel hat er in der ruhm-
vollsten Weise erreicht.
Von gewaltigem Umfang ist sein dramatisches Oeuvre. Zwei-
unddreißig Opern verdanken ihm ihre Entstehung. Wenn wir
berücksichtigen, dass sich darunter je zwei Bearbeitungen von
Macbeth und von Don Carlos befinden, dass ferner Die Lom-
barden mit Jerusalem, Süffelio mit Aroldo identisch sind, so
bleiben immerhin noch siebenundzwanzig Werke. Davon haben
sich etwa zehn die Unsterblichkeit errungen
„lo credo all' ispirazione" schreibt Verdi einmal. Das durfte
er, dessen melodische Erfindung wie ein unerschöpflicher Quell
bis ins höchste Alter seine nie versagende Frische bewahrt, die,
26
namentlich in der ersten Periode, imstande war, dürre Strecken
öder Reimereien mit einem Schlag in blühende, lachende Oasen
zu wandeln. Verdi der Melodiker. Hand in Hand mit ihm geht
Verdi der Patriot. Sein Lied hatte ihm gar bald die Herzen der
Massen gewonnen und er vermochte es nun, sie für die Ideale
der Freiheit und Unabhängigkeit zu begeistern. Er war der musi-
kalische Rhetor seines Volkes, und die Tiraden und Sentenzen
seiner Reden waren die Arien und Chöre seiner Opern. Man be-
greift wohl, dass er einst, als man ihn ersuchte, Italien eine Na-
tionalhymne zu geben, die Bitte abschlug mit dem Hinweis, wie
tief seine Melodien im Herzen des Volkes Wurzel gefasst und sich
dort mit patriotischen Gedanken verbunden hätten.
Doch höher als der Melodiker Verdi steht Verdi als Musik-
dramatiker. Zurzeit, da er seine ersten Opern schrieb, waren die
Gestalten der italienischen großen Opern leere Marionetten,
denen der Komponist durch das musikalische Kleid ein Schein-
leben verlieh. Verdi ist der Begründer des psychologischen Ele-
mentes in der italienischen großen Oper. Sein Verständnis und
seine Einsichten in das Drama hatte er an Shakespeare heran-
gebildet.
„Ah Shakespeare, Shakespeare! il gran maestro del cuore
umano", schreibt er einmal an seinen Verleger Ricordi. Und wie
hoch er den großen Briten verehrte, geht aus seinem Macbeth,
aus dem Othello, aus dem Falstaff leuchtend hervor.
So sah er denn seinen Gestalten ins innerste Herz und füllte
sie mit lebendigem Blute, so dass ihre Schmerzen unsere Schmerzen
wurden und ihre Lust unsere Lust. Wenn eine Violetta Valery
uns heute noch ergreift und wir keinen Moment die Koloraturen
der tragischen Gestalt als veraltet empfinden, wenn uns Rigolettos
Los heute noch zu rühren vermag, so liegt dies in der psycho-
logischen Wahrheit der Verdischen Helden begründet. Psycho-
logisches steht höher als Stilistisches. Auch wo der Stil veraltet,
bleibt das Kunstwerk lebendig, wenn die psychologischen Ver-
hältnisse richtig sind.
Denn das Köstlichste auf Erden, das wus^te Verdi, der Gütige
und Große, bleibt des Menschen Seele.
FLORENZ HANS JELMOLI
D □ D
27
VERÄNDERUNGEN IN DER
WILDFAUNA VON KRETA
WÄHREND DER HISTORISCHEN ZEIT
Überall, wo menschliche Kultur dauernd einsetzt, lassen sich
tiefeingreifende Veränderungen in den ursprünglich vorhandenen
Lebensgemeinschaften nachweisen — die menschliche Kultur ver-
drängt eine Anzahl von Lebensformen. Das letzte Jahrtausend
hat in unserer engeren Heimat Veränderungen und Verluste her-
vorgerufen, die wir zum Teil mit genaueren Daten belegen können ;
das Hinschwinden von originellen Lebensformen hat sich sozu-
sagen vor unsern Augen in Nordamerika, in Südafrika und in
Australien abgespielt. Schließlich erwachte das wissenschaftliche
und ästhetische Gewissen ; man suchte das Verhängnis aufzuhalten
und die Naturschutzbewegung ist in der ganzen Welt mit Enthu-
siasmus begrüßt worden.
Wenn ich gerade Kreta wähle, um diese Veränderungen zu
untersuchen, so leiten mich dabei kulturhistorische Gründe. Kreta
ist derjenige Fleck von Europa, wo die Kultur unseres Erdteils
am frühesten eingesetzt hat. Die spätere mykenische und helleni-
sche Kultur ist nicht mehr so autochthon, wie wir früher ange-
nommen hatten — beide sind ja nur Ableger der viel älteren
minoischen Kultur. Hinsichtlich der Verarmung der mittelmeeri-
schen Tierwelt waren wir bisher fast nur auf literarische Angaben
angewiesen, deren Kontrolle nicht immer leicht war. Erst in der
jüngsten Zeit kamen positivere Dokumente zum Vorschein, die
größtenteils auf kretischem Boden gewonnen wurden.
Wer heute die sagenumsponnene Minos- Insel besucht, wird
mit einiger Bewunderung zu den zähen menschlichen Bewohnern
aufschauen, die in ihrem harten Kampf mit einer verödeten Heimat
stets aufrecht blieben. Die blühenden Städte, von denen uns
Homer berichtet, sind meist zerfallen, ihre Ruinen durchsucht der
Archäologe. Die Hänge der Gebirge sind kahl, Wälder fehlen
überall, das Bild der Verkarstung ist ganz typisch. Es fehlt eben
das Wasser als belebendes Element — Seen sind gar nicht vor-
handen und die Flussläufe stehen im Sommer meist trocken; wo sie
28
in eine flache Küste ausmünden, i<önnen sicli allenfalls schatten-
spendende Platanen oder Bestände von Oleanderbüschen be-
haupten.
Eine Reihe von Gründen sprechen dafür, dass die heutigen
Verhältnisse sich erst in historischer Zeit herausgebildet haben.
Kreta hat die gleiche geologische Vergangenheit hinter sich,
wie die übrigen Inseln im östlichen Teile des Ägäischen Meeres.
Alle standen früher in landfester Verbindung mit Kleinasien und
für manche Tierformen lässt sich eine östliche Einwanderung
nachweisen. Kreta hat sich sicher erst in der Diluvialzeit von
Kleinasien losgelöst und das gleiche gilt wohl für die näheren
Inseln.
Vergleicht man nun Kreta mit Rhodos oder Samos, so sind
die Unterschiede im Vegetationscharakter auffallend. Auf Rhodos
ist noch ein Drittel der Insel mit Wald bedeckt. Auf Samos,
dessen Verhältnisse ich aus eigener Anschauung kenne, ist der
größere Teil im Westen noch mit üppiger Waldvegetation bedeckt;
an den Bergabhängen bilden Eichen, Zypressen und Aleppokiefern
ausgedehnte Bestände, einzig im östlichen Bezirk Vathy hat die
Verkarstung an vielen Stellen begonnen.
Logischerweise müssen wir daher annehmen, dass auch Kreta
ursprünglich gut bewaldet war. Kretische Sagen berichten denn
auch, dass die Urbewohner der Insel in den Höhlen der Berge
und in den Wäldern lebten, dort die Jagd betrieben und erst
später in die Ebenen herunterzogen, um sich mit Ackerbau und
Viehzucht zu befassen.
Sagen sind nun keine naturwissenschaftlichen Beweise, aber
sie dürften doch dem allgemeinen Gang der Entwicklung ent-
sprechen und wir sehen ja auf vielen andern Gebieten die gleichen
Vorgänge sich abspielen.
Indessen liegen literarische Zeugnisse vor, dass Kreta noch
in frühhistorischer Zeit ein ganz anderes Bild darbot als in der
Gegenwart. Strabo lobt die vielen ausgezeichneten Waldungen,
mit denen die Insel bedeckt war und nach Diodor gab es bei
Knossos Zypressenwälder, in deren Schatten einst Theseus und
Ariadne gewandelt haben mögen. Wer dort heute die Ruinen
des gewaltigen Minospalastes besucht, erblickt ringsum ein ödes
Plateau, umrahmt von kahlen Höhenzügen. Über die steinigen
29
Fluren fliegen die Scharen hungriger Nebelkrähen, auf den Feldern
weiden kleine, grobwollige Schafe die dürftige Vegetation ab.
Erinnern wir uns ferner, dass Altkreta schon in minoischer
Zeit eine bedeutende Seemacht war und mit den Schiffen einen
regen Verkehr mit Ägypten und Kleinasien unterhielt, so setzt
dies Voraus, dass ein bedeutender Holzreichtum vorhanden war,
um den Schiffbau zu ermöglichen. Später erfahren wir durch
Homer, dass die Kreter eine stattliche Flotte ausrüsteten, um am
trojanischen Kriege teilzunehmen.
Die Holzgewinnung für nautische Zwecke und für den Export
nach Griechenland mag frühzeitig zur Lichtung der Wälder bei-
getragen haben. Es entstanden größere Weideflächen, was die
Zunahme von Weidevieh begünstigte. Es lässt sich dies durch
positive Tatsachen sehr schön nachweisen. Ich erhielt unlängst
aus der Station Tylissos in der Nähe von Knossos eine große
Zahl von Haustierknochen, deren Alter verschieden ist. Einzelne
lagen in Kulturschichten aus altminoischer oder mittelminoischer
Zeit, andere gehören der spätminoischen Epoche an, noch andere
der Eisenzeit.
Es ist nun höchst beachtenswert, dass anfänglich die kleinen,
für den Nachwuchs im Walde verderblichen Weidetiere wie Ziege
und Schaf recht spärlich vertreten sind, gegen das Ende der
Bronzezeit dagegen erscheinen Schaf- und Ziegenreste in solcher
Menge, dass man einen starken Aufschwung der Kleinviehzucht
annehmen muss. Damit war nun ein Faktor geschaffen, der den
Wald sehr ungünstig beeinflussen musste. Rechnen wir noch hinzu
die Sorglosigkeit der Hirten, welche das trockene Gras anzu-
zünden pflegen und damit Waldbrände verursachen, so verstehen
wir vollkommen den Rückgang des Waldareals. Später kam noch
die Misswirtschaft der Türken hinzu, die ja nirgends ein Verständ-
nis für die Waldpflege bewiesen haben ; was noch übrig geblieben
war, wurde vollends zerstört.
Wer im Innern der Insel die großartige Gebirgswelt aufsucht,
wird höchstens in unzugänglichen Schluchten da und dort noch
einen dürftigen Fetzen Wald antreffen. Und doch müssen noch
vor einem halben Jahrtausend Zypressenhaine bestanden haben.
Eine Bemerkung des deutschen Reisenden F. W. Sieber, welcher
1817 Kreta besuchte, ist in dieser Hinsicht höchst bemerkenswert.
30
Er berichtet, dass in der Schneeregion bis zu den höchsten Lagen
abgestorbene Zypressenstämme sichtbar sind, aber ein Nachwuchs
ist nicht vorhanden. Ältere Reisende wollen die toten Zypressen-
wälder noch grün gesehen haben.
Der Rückgang und das schließliche Verschwinden der Wald-
vegetation hat naturgemäß tiefeingreifende Veränderungen in der
Zusammensetzung der Tierwelt hervorgerufen. Alle diejenigen
Arten, deren ganze Existenz vom Walde abhängig ist, also die
typische Waldfauna, wurden nach und nach ausgemerzt. Ander-
seits begann die Fauna des offenen Geländes zu überwuchern.
Am deutlichsten lässt sich dies bei den größeren Säugetieren ver-
folgen. Es sind jetzt in Kreta zahlreiche Knochenfunde gemacht
worden, deren Alter genau bestimmbar ist und die bis zum dritten
vorchristlichen Jahrtausend hinaufreichen. Wir sind daher in der
Lage, die Angaben alter Schriftsteller und einzelne sagenhafte
Überlieferungen ganz genau auf ihren tatsächlichen Hintergrund
prüfen zu können.
Nehmen wir als Beispiel die stolzeste Erscheinung aus der
europäischen Säugetierwelt vor — den Urochsen (Bos primigenius).
Wer hätte noch vor wenigen Jahren an die Möglichkeit geglaubt,
dass dieser gewaltige Wildochse in Kreta wirklich gelebt hat. Die
Tiergeographie bezweifelte dies und nur die Sage berichtet, dass
unter den Großtaten des Herkules das Einfangen des kretischen
Stieres eine der hervorragendsten Leistungen war. Aber niemals
gelang es, den geringsten zoologischen Beweis für die Existenz
eines kretischen Wildochsen beizubringen, und so betrachtete man
die Sache als ein müßiges Erzeugnis der Volksphantasie. Und
doch liegt hier wieder ein Beispiel vor, wie häufig Sagen einen
positiven Hintergrund haben. Es ist mir möglich geworden, osteo-
logische Beweise in Fülle für die einstige Existenz des Ur beizu-
bringen, die ich unlängst veröffentlicht habe, in Knossos kam
neben sechzehn Hornzapfen ein ziemlich gut erhaltener Hinter-
schädel zum Vorschein, Knochenreste haben auch die Stationen
Palaeokastro und Tylissos geliefert. Die altkretische Kunst hat
uns sogar mehrfach bildliche Darstellungen überliefert. Wir kennen
eine Darstellung eines Primigenius-Kopfes von einem älteren Tier
auf einem Tonbecher, der aus spätminoischer oder mykenischer
Zeit stammt und in den Höhlen von Dicte ausgegraben wurde.
31
Man muss den Urochsen zur Waldfauna rechnen, wenn er
auch mehr die Lichtungen bewohnt haben mag. Mit dem Schwin-
den der Wälder wurden seine Existenzbedingungen erschwert.
Mit dem Andringen der Hellenen zu Beginn der Eisenzeit (1200
bis 1000 V. Chr.) wurde allgemeiner die Jagd wieder zu Ehren
gebracht und dies dürfte zur Ausrottung der kretischen Ure ge-
führt haben. Seine letzten Spuren habe ich ums Jahr 1000 vor
Christus nachweisen können, indem ich aus der Eisenzeit in
Tylissos kürzlich einen Backenzahn mit anhängendem Oberkiefer-
stück erhielt.
Auch der europäische Wisent hat einst in Kreta gelebt, doch
scheint er ziemlich selten gewesen zu sein. Bisher ist ein einziger
Hornzapfen in Südkreta aufgefunden worden.
Streng ans Waldgebiet sind die Hirsche gebunden; ihr Vor-
kommen kann daher als sicheren Beweis für eine gutbewaldete
Gegend angesehen werden. Ich finde bei F. W. Sieber angegeben,
dass „Hirsche der Diana ehedem geheiligt, in der Nähe von Ky-
donia waren; jetzt iindet man sie hier gar nicht mehr."
Dies ist durchaus wahrscheinlich; denn die Wälder haben in
Westkreta, also auch in der Nähe von Kydonia, dem heutigen
Kanea, am längsten ausgehalten. Heute fehlt der Hirsch und
offenbar schon seit langer Zeit. Aber es sind kürzlich über-
raschend viel Hirschgeweihfragmente aus minoischer Zeit und
Eisenzeit in meine Hände gelangt. Sie gehören ausnahmslos
einer einzigen Art, dem Edelhirsch (Cervus elaphus) an. Es müssen
zum Teil recht stattliche Hirsche gewesen sein, und wenn sonst
insulare Formen kleiner und zierlicher zu werden pflegen, so
trifft das in diesem Falle nicht zu. Aus der Eisenzeit in Tylissos
kann ich eine prächtige Geweihstange mit Rose namhaft machen,
die an der Basis einen Umfang von zwanzig Zentimetern besitzt
und wohl einem Sechzehnender angehört hat. Die Häufigkeit
der Reste ums Jahr Tausend vor Christus lassen vermuten, dass
diese Hirschspezies damals noch in voller Lebensfülle vorhanden
war, auch später wird sie auf altkretischen Münzen abgebildet.
Es ist daher mehr als wahrscheinlich, dass noch im Beginn
unserer Zeitrechnung Edelhirsche in Kreta vorhanden waren.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wildschwein {Sus scrofa
ferus). Es ist auf Kreta längst erloschen und fehlt daher in den
32
zoologischen Listen, die seinerzeit V. Raulin veröffentlicht hat.
Auch Sieber hebt schon im Anfang des vorigen Jahrhunderts das
Fehlen von Wildschweinen hervor. Nicht einmal verwilderte
Schweine haben sich behaupten können.
Dagegen macht Plinius die Angabe, dass in der Umgebung
von Kydonia Eber vorkamen. Es ist dies durchaus glaubwürdig,
denn die neuesten Funde aus Tylissos beweisen, das Kreta in
frühhistorischer Zeit offenbar eine Menge von Wildschweinen
besaß, die sich in dem gutbewaldeten Westen wohl am längsten
behauptet haben. Die Altkreter galten als vorzügliche Jäger und
haben offenbar zu allen Zeiten dem Schwarzwild eifrig nach-
gestellt. Die minoischen Reste gehören meist jüngeren Individuen
an; diese waren eben am leichtesten zu erlegen, doch befindet
sich unter ihnen auch ein oberer Eckzahn von gewaltigen Di-
mensionen, der offenbar einem alten Eber angehörte. In den
jüngsten Kulturschichten, welche bereits der Eisenzeit angehören,
sind Wildschweinreste besonders zahlreich vorhanden, was darauf
hinweist, dass das Tier noch in seiner vollen Lebensfülle stand.
Das häufigste und vielleicht das geschätzteste Jagdwild der alt-
kretischen Epoche scheint die Wildziege gewesen zu sein. Man
bezeichnet sie wissenschaftlich als Capra aegagrus cretensis. Es
sind zum Teil geradezu kolossale Individuen zur Strecke gebracht
worden, wie aus den Dimensionen der aufgefundenen Hornzapfen
geschlossen werden muss. Die Reste erscheinen in altminoischer
Zeit wie in der Eisenzeit ungemein häufig und das benachbarte
Idagebirge beherbergte sicher starke Rudel von Wildziegen. Dort
leben heute noch einzelne Trupps; noch zahlreicher werden sie
in den sphakiotischen Bergen angetroffen. Es ist das einzige
größere Wild, das vor dem Aussterben bewahrt blieb. Die Ur-
sache ist darin zu suchen, dass diese Wildziege als echtes Gebirgs-
tier vom Walde unabhängig ist. Es ist kaum zu befürchten, dass
sie in Bälde verschwindet, denn die Kreter sind sehr stolz auf
diese Zierde ihrer Berge und schonen sie.
Einst sollen auch Wölfe und Bären vorhanden gewesen sein.
Diodor berichtet, dass es Herkules zu verdanken sei, dass sie
verschwanden; denn der Sage zufolge hatte er sie alle umgebracht
und wurde deswegen beim Abschied von der Insel mit den größ-
ten Ehren überhäuft. Das ist sicher poetische Erfindung und es
33
sind wohl die kretischen Jäger gewesen, welche diese Raubtiere
vernichtet haben. Die Ausgrabungen der Neuzeit haben ihr be-
sonderes Augenmerk auf allfällige Knochenreste von Bären und
Wölfen gerichtet, aber bisher sind solche nicht zum Vorschein
gekommen.
Die niedere Tierwelt hat in historischer Zeit wohl starke
Veränderungen erfahren, aber aus Mangel an genauen Beobach-
tungen sind wir zunächst auf Hypothesen angewiesen. Sollten
später Reste von Landschnecken in den minoischen Kulturschichten
aufgefunden werden — bisher ist ein einziges Exemplar in mei-
nen Besitz gelangt — so ergeben sich vielleicht bessere Anhalts-
punkte für einen Vergleich mit der modernen Molluskenfauna.
Über diese hat sich der Tiergeograph Kobelt genauer aus-
gesprochen. Er hebt die große Zahl von endemischen Arten
und das Fehlen weit verbreiteter Gattungen hervor; Cyclostoma
und Campylaea fehlt auf Kreta; von Schließmundschnecken ist nur
Albinaria vertreten und zwar in auffallend starker Entwicklung;
ungemein häufig ist Xerophlla, auf trockenen Grasplätzen er-
scheint sie millionenweise und in Gärten sah ich Xerophlla cre-
tensls an Stämmen und Zweigen der Feigenbäume zuweilen so
dicht beisammen, dass diese aus der Ferne gesehen weiß er-
schienen.
Aus diesen Tatsachen geologische Schlussfolgerungen zu
ziehen und auf eine frühzeitige Isolierung der Insel zu schließen,
ist gewagt. Klimaveränderungen in historischer Zeit mögen auch
faunistische Veränderungen unter den niederen Tieren begünstigt
haben. Jedenfalls wurde die Entwicklung xerothermer Arten seit
dem Schwinden der Wälder sehr begünstigt, feuchtigkeitsliebende
Schneckenarten dagegen ausgemerzt. Der starke Endemismus
kann eine einfache Folge des in historischer Zeit stets zunehmen-
den xerothermen Klimacharakters gewesen sein.
Wir wollen damit die hohe Bedeutung der Landmollusken-
Fauna für die Beurteilung tiergeographischer und geologischer
Fragen keineswegs herabsetzen. Aber wo es sich um Klimaver-
änderungen in geologisch junger oder gar historischer Zelt han-
delt, da müssen auch andere Faunenglieder herangezogen werden.
Nun begegnen wir auf dem Boden von Kreta Säugetieren, die
erst in der Diluvialzelt auf dem Landwege anlangen konnten und
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zwar von Osten her. Dahin gehören die Wildziegen, deren Haupt-
verbreitungsgebiet Westasien ist. Auch Ur und Bison, die freilich
wieder erloschen sind, dürften von Osten her bezogen worden
sein. Der Ur ist ja einst in Mesopotamien heimisch gewesen
und der Bison lebt heute noch im Gebiet des Kaukasus. Indirekt
wird damit bestätigt, dass die eigenartigen Züge der kretischen
Schneckenfauna weniger auf eine lange geologische Isolierung,
sondern auf andere Ursachen hinweisen.
ZÜRICH CONRAD KELLER
D D D
Es ist gesagt worden, aus Italien käme jeder anders zurück, als er hin-
geht. Das Leben vieler deutscher Romfahrer scheint diese Behauptung zu
bestätigen. Es liegt darum nahe, dass auch ich mich frage, ob die neuen Er
kenntnisse mich verändert haben. Wenn ich mich selbst beurteile, so ist
in mir allerdings etwas Wichtiges vorgegangen. Mit einer schmerzlichen
Gewaltsamkeit ist der Rest einer gewissen falschen Romantik vernichtet,
und es ist dafür das Gefühl für geschichtliche Notwendigkeit, für die Lebens-
realität überhaupt gestärkt worden. Ich bin in Italien nüchterner geworden,
härter und illusionsloser. Aber nicht ärmer, sondern reicher trotz alledem.
Es hat sich wieder gezeigt, dass das Leben niemals nimmt, ohne zugleich
auch wieder zu geben. Mit unnachsichtlicher Klarheit lehrt Italien, dass
die Vorstellung, als hätte es jemals in der Welt und in der Zeit ein voll-
kommenes Kulturideal gegeben, ein Traum ist. Ein deutscher Traum. Italien
lehrt, dass alles im Leben bedingt ist, und das Bedeutende am meisten,
dass hart neben jeder Freiheit die Notwendigkeit steht. Dieses empfindet
man zwischen den antiken Trümmern, im Milieu der Renaissance und in-
mitten des modernen Lebens, wenn einem dort, wo man auf Verklärung
gerechnet hatte, die Dinge mit unerwarteter Brutalität entgegenkommen.
Dennoch geht man bereichert aus der Lehre hervor, weil die unbarm-
herzige Wahrheit allemal tiefsinniger und größer ist als die edelste Illusion.
Die Welt erscheint einem klarer, wenn man die Welt Italiens verlässt.
Italien. Tagebuch einer Reise KARL SCHEFFLER
DDD
35
ROUSSEAU ET LES FEMMES
On a dit de Rousseau que ce qu'il y avait de plus interes-
sant en lui, ce n'est pas ses idees, ce n'est pas les verites qu'il
a cru trouver, ce n'est pas ce qu'il a pense du monde, mais
ce qu'il en a senti, En effet, ce qu'il y a d'unique et d'original
en lui, ce n'est pas son imagination, mais sa sensibilite. Et cette
sensibilite explique la prise enorme qu'il a eue sur les femmes,
sur les femmes de son temps d'abord, puis sur les femmes des
generations suivantes, particulierement sur les grands ecrivains
feminins de la fin du XVIII^ siecle et de la premiere moitie
du XIX^
Proudhon, le logicien et le rationaliste qui n'aimait pas
Rousseau, l'a denonce comme le grand coupable dans l'effemi-
nation des lettres fran^aises. „Le moment d'arret de la litterature
fran^aise commence ä Rousseau, dit-il; il est le premier de ces
femmelins de l'intelligence en qui, l'idee se troublant, la passion
ou affectivite l'emporte sur la raison^)."
Rousseau n'a jamais dissimule ses sentiments; onpeutmeme
trouver qu'il les etale avec exces dans son oeuvre. II confesse
qu'il etait extremement sensible au charme feminin et qu'il se
defendait mal contre ses attraits. Qu'on se rappelle la fameuse
apostrophe de Saint-Preux dans la Nouvelle Helo'ise: „Femmes,
femmes, objets chers et funestes que la nature orna pour notre
supplice, qui punissez quand on vous brave, qui poursuivez quand
on vous craint, dont la haine et l'amour sont egalement nuisibles
et qu'on ne peut ni rechercher ni fuir impunement! Beaute,
charme, attrait, Sympathie, etre ou chimere inconcevable, abime
de douleurs et de voluptes! beaute plus terrible aux mortels que
l'element oü l'on t'a fait nattre, malheureux qui se livre ä ton
charme trompeur! C'est lui qui produit les tempetes qui tour-
mentent le genre humain. O Julie! 6 Ciaire! . . . J'ai vecu
dans l'orage et c'est toujours vous qui l'avez excite."
Cette confession est un cri de l'äme de Rousseau qui, tombe
ä plus de cinquante ans amoureux de M"^^ d'Houdetot, exhalait
dans ces brülantes paroles le feu qui le devorait. Et il en avait
^) Influence de l'element feminin sur les mceurs ei la litterature fran-
faise (Paris, 1858).
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dejä ete ainsi depuis son enfance et les tristes annees de sa pu-
berte qu'il appelle lui-meme „le labyrinthe obscur et fangeux de
ses confessions." Amoureux precoce, ses sens s'eveillent ä
Bossey quand M"^ Lambercier lui administre une correction ou
lorsqu'il polissonne avec des amies plus ägees que lui, M"^^ Goton
et Vulson. Une fois sur les grands chemins de sa vie d'aventures,
ses experiences passionnelles se multiplient: il s'eprend tour ä
tour de M"^^ Basile, la jolie marchande de Turin, de M"^ de
Breil dans la famille de laquelle il est en condition, de M"" Gal-
ley et Graffenried, les heroines de la charmante idylle des cerises, de
M"^ Merceret, la femme de chambre de M"^^ de Warens, de M"^^ de
Larnage qu'il rencontre en diligence dans le Midi de la France
et surtout de M"^^ de Warens dont l'influence fut capitale sur
sa vie sentimentale.
Et quand il arrive ä Paris la serie s'allonge encore. Un pere
Jesuite lui donne le conseil de voir les femmes s'il veut reussir
dans le monde. Rousseau voit beaucoup de femmes et il reussit
dans le monde. il s'eprend, on peut dire, de presque toutes les
femmes dont il frequente les salons: M'"^ Dupin de Francueil,
M"^^ d'Epinay, M^"^ de Vercelles, M*^^ d'Houdetot, la princessse de
Rohan, la comtesse de Forcalquier, M"^^ de Mirepoix, M^"^ de
Brignolö, lady Hervey, d'autres encore.
Une chose qu'on n'a point mise assez en evidence dans la
biographie de Rousseau, c'est que, lorsqu'il rompt brusquement
avec le monde et qu'il choisit la pauvrete, l'independance et la
solitude pour pouvoir dire ce qu'il croit la verite, toutes les fem-
mes lui restent fideles. Les philosophes, ses confreres, le cons-
puent, en le traitant de renegat et de traitre: elles le soutiennent
et le reconfortent. On peut meme dire que c'est de ce temps
que datent ses meilleures amities feminines et les plus durables.
La plus exquise fut sans doute celle de M"^^ de Verdelin, cette deli-
cieuse creature, de sens juste, de coeur excellent, extremement
aimante, avisee, fine, caressante et consolatrice. M"^^ de Verdelin,
prend avec courage la defense de Rousseau aussi bien contre la
Clique encydopedique, que contre les pseudo-chretiens qui le
persecutent. „Si vous n'y etiez pas Interesse, lui dit-elle, nous
ririons de voir ces protecteurs de la religion et des moeurs s'ele-
ver contre le seul ecrivain de son siecle qui ait ecrit utilement
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en leur faveur, qui ait bien voulu s'elever contre le materialisme
que le bien seul de la societe devrait proscrire."
Et elles sont legion Celles qui ä ce moment pensent ainsi.
C'est la princesse de Conti, la marechale de Luxembourg, la
pieuse et devote marquise de Crequi, la comtesse de Bouf-
fiers, M"^^ de la Tour de Franqueville qui fidele jusqu'ä la de-
votion lui ecrivait: „Ah! s'il ne fallait que vous aimer pour vous
guerir!" Et n'est-il point surprenant que toutes ces grandes dames
que le cynisme voulu de ce plebeien aurait du eloigner d'elles,
l'entourent d'un large courant de Sympathie! Quand la societe
le desavoue, elles lui donnent raison et, les premieres, elles ont
le courage de proclamer son genie. Plus libres que les hommes
ä l'egard des prejuges courants, elles ne sont point choquees
par son individualisme outrancier et, sans en apercevoir les dan-
gers, elles l'encouragent dans son attitude.
C'est que Jean-Jacques avait precisement les qualites qui
attirent le plus les femmes. De quelques defauts ou tares qu'il
se prevalüt, tout mal eleve qu'il pretendit etre, il avait dans les
manieres, ä defaut de l'usage du monde, cette politesse instinctive
du geste, cette flatterie du regard, cette cälinerie de la conver-
sation oü les femmes reconnaissent ceux qui les aiment; mais
surtout il avait cette sensibilite profonde et par consequent ma-
ladive, que peut-etre elles apprecient par-dessus tout au monde,
parce qu'il n'est pas de disposition qui leur livre plus complete-
ment un homme, ni qui leur permette, aussi longtemps du moins
qu'elles savent le retenir et qu'il s'attache, d'etre plus souverai-
nement les inspiratrices de ses resolutions, les mattresses de ses
actes, et l'äme meme de toute sa conduite.
Et c'est sans doute la raison qui explique que Rousseau ait
eu une influence si puissante sur les ecrivains feminins qui sont
venus apres lui. L'histoire de cette filiation feminine serait bien cu-
rieuse ä ecrire. On y verrait comment les quatre femmes les plus
geniales de la litterature moderne, M"^^ Roland, M^"^ de Stael,
George Sand et George Eliot, ont ete, pour ainsi dire, composee
de la substance meme de Rousseau. Avec franchise elles ont tou-
tes quatre confesse qu'elles etaient les filles intellectuelles de sa
pensee et les filles de ses sentiments.
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Ecoutez, par exemple, M"^^ Roland raconter Teffet magique
que produisit sur eile la lecture du philosophe. Elle avait ä peine
vingt ans et venait de recevoir d'un ami de son pere, l'horloger
genevois More, un exemplaire de ses oeuvres. „Avoir tout Jean-
Jacques en sa possession, s'ecrie-t-elle, pouvoir le consulter sans
cesse, se consoler, s'eclairer et s'elever avec lui ä toutes les heu-
res de la vie, c'est un delice, une felicite qu'on ne peut bien
goüter qu'en l'adorant comme je fais. Dans le moment de l'en-
thousiasme, mes mains, prenant tous les volumes les uns apres
les autres, garderent je ne sais comment, un tome de Vfielo'ise:
avec ce precieux depot, je m'enfuis au coin de la cheminee, et
je m'y tapis en silence, dans le plus grand recueillement."
Ayant de bonne heure perdu la foi de ses peres, eile trouve
dans la Profession de foi du vicaire savoyard, la religion qui
parle ä son coeur, et d'enthousiasme, eile en adopte le credo.
„J'aime et je veux croire, dit-elle; ce n'est que dans la poussiere
du cabinet, en pälissant sur les livres, ou dans le tourbillon du
monde, en respirant la corruption des hommes, que le sentiment
se desseche et qu'une triste raison s'eleve avec les nuages du
doute ou les vapeurs destructives de l'incredulite. Comme on
aime Rousseau! comme on le trouve sage et vrai, quand on le
met en tiers seulement avec la nature et soi!"
Mariee, eile associe son mari ä son culte. „Mon ami, lui
ecrit-elle, je lirai cet auteur toute ma vie, et si jamais nous en
etions ä cet etat que nous nous sommes plu ä supposer, oü toi,
vieillard et aveugle, tu ferais des lacets tandis que je travaillerais
ä l'aiguille, il me suffirait de regarder les ouvrages de Jean-
Jacques, leur lecture nous ferait encore verser des larmes deli-
cieuses, et ranimerait les sentiments qui nous rendraient heureux
en depit du sort."
On sait qu'avant de monter ä l'echafaud, M'^^ Roland ecri-
vit ses Memoires dans la prison de la Conciergerie. Ici encore
c'est Rousseau qui la hante. Comme lui, eile a la manie de se
confesser des folies et des fautes qui pesent ä sa conscience ;
comme lui, eile evoque la Providence et prend ä temoin de
son innocence la posterite. Peu Importe de mourir, dit-elle, si
l'on meurt pour la justice et pour la verite! Et comme dans les
Confessions, au milieu de ces prosopopees declamatoires, eile
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parseme ces delicieux portraits, ces ravissantes descriptions de la
natureetces jolis tableaux d'interieur quiforment, apres les Con-
fessions, parmi les pages les plus vives, les plus alertes, les plus
colorees de la prose fran^aise du XVIil^ siecle.
Sur M""^ de Stael, si differente pourtant de Rousseau, l'in-
fluence de l'auteur du Contrat social est non moins forte. En
refutant les idees politiques de l'ecrivain, la fille de Necker adopte
sa forme passionnee de discussion, son style dense, Image et
vehement. Est-elle du reste si hostile que cela ä ses idees?
Dans son livre de debut, Lettres sur les ouvrages de J.-J. Rous-
seau, qui parait sans nom d'auteur ä la veille de la convocation
des Etats Generaux, eile reconnatt que, si les idees de Montes-
quieu sont utiles aux societes formees, Celles de Rousseau ou-
vrent des perspectives infinies aux societes de demain. Des 1788
eile annonce l'avenement de la democratie „Le projet de Rousseau
est Sans doute une chimere, dit-elle ; mais les alchimistes, en
cherchant la pierre philosophale, ont decouvert des verites utiles."
Des verites de cette sorte, eile confesse qu'elle en trouve ä
foison dans les ecrits de Rousseau, notamment dans Emile et la
Nouvelle Helo'ise. „Quel ouvrage que ce roman, dit-elle, et quel-
les idees sur tous les sujets sont eparses dans ce livre!" Quand
elle-meme ecrit ses romans Delphine et Corinne, eile s'inspire du
citoyen de Geneve et declare avec lui qu'un roman digne de ce
nom doit surtout viser ä ancrer des idees morales dans les es-
prits. "D'un hon roman, dit-elle, on peut extraire une morale
plus pure, plus relevee que d'un ouvrage didactique sur la vertu."
Oui sans doute, mais ä la condition que la vertu ne soit point
prechee. M^"^ de Stael n'etait point assez artiste pour echapper
ä ce travers, mais d'autres apres eile, surtout George Sand et
George Eliot, devaient montrer comment on y reussit.
George Sand, dans une page celebre, a reconnu que Rous-
seau fut le liberateur de sa pensee et l'inspirateur de son art. A
dix-sept ans, au sortir du couvent, apres une violente crise de
mysticisme, eile etait tombee dans le doute et, pour trouver la
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verite, lisait ä la file penseurs et poetes, Locke, Condillac, Mon-
tesquieu, Bacon, Aristote, Leibnitz, Montaigne, Virgiie, Dante et
Shakespeare. Mais aucun de ces hommes ne parvenait ä com-
bler le vide de son äme. „Comme devant, dit-elie, je restais
melancolique, sauvage, desemparee." Sur le conseil de son con-
fesseur eile lut le Genie du Chrlsüanisme et Vlmitation, mais la
foi ne lui revint pas davantage. „J'en etaislä, dit-elle, quand je rencon-
trai Rousseau. Sa langue eloquente et la force de ses deductions
s'emparerent de moi comme une musique süperbe eclairee d'un
grand soleil. Je le comparais ä Mozart; je comprenais tout!
Quelle jouissance pour un ecolier malhabile et tenace d'arriver
enfin ä ouvrir les yeux tout ä fait et ä ne plus trouver de nua-
ges devant lui! Je devins, en politique, le disciple ardent de ce
mattre, et je le fus bien longtemps sans restrictions. Quant ä la
religion, il me parut le plus chretien de tous les ecrivains de
son temps, et, faisant la part du siecle de croisade philosophique
oü il avait vecu, je lui pardonnai d'autant plus facilement d'avoir
abjure le catholicisme, „qu'on lui en avait octroye les sacrements
et le titre d'une maniere irreligieuse bien faite pour Ten degoüter.
Protestant ne, redevenu Protestant par le fait de circonstances
justifiables, peut-etre inevitables, sa nationalite dans l'heresie ne
me genait pas plus que n'avait fait celle de Leibnitz. II y a plus,
j'aimais fort les protestants et, dans le silence de mon coeur, je
voyais en eux des gens sinceres, qui ne differaient de moi que
par des formes sans importance absolue devant Dieu. Jean-
Jacques fut le point d'arret de mes travaux d'esprit."
II y avait evidemmeut Harmonie preetablie entre l'esprit de
Rousseau et celui de George Sand. La conformite des senti-
timents, des goüts et des idees etait parfaite. Quoi d'etonnant si
dans le developpement du talent, les sources d'inspiration sont
les memes. Chez George Sand, comme chez Rousseau, c'est
d'abord la passion puis l'amour de l'humanite, enfin l'amour de la
nature. Apres une vie ardente et orageuse eile trouve le calme
et la paix dans les grands horizons de verdure et la solitude des
champs. Ne croirait-on pas lire une page des River ies du pro-
meneur solitaire dans cet hymne au sentiment de la nature „le
seul qui ne trompe jamais?" „Les creations de Kart, dit-elle,
parlent ä l'esprit seul et le spectacle de la nature parle ä toutes
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nos facultes. II nous penetre par tous les pores comme par
toutes les idees. Au sentiment tout intellectuel de Tadmiration,
l'aspect des campagnes ajoute le plaisir sensuel. La fraicheur
des eaux, les parfums des plantes, les harmonies du vent circu-
lent dans le sang et les nerfs, en meme temps que l'eclat des
couleurs et la beaute des formes s'insinuent dans rimagination."
Nous retrouvons une confession semblable sous la plume
d'un autre grand ecrivain feminin de XIX^ siede, George Eliot
dont le developpement moral et intellectuel offre tant d'analogies
avec celui de George Sand. Comme l'auteur de Lelia, George
Eliot avait un coeur jaloux et orageux qui aimait violemment et
voulait etre uniquement aime. incomprise et isolee dans sa fa-
mille, un milieu rigide oü l'effusion etait bannie — c'est le milieu
des Dodson et des Tulliver qu'elle a peint de fa<;on si magistrale
dans son Moulin sur la Floss — eile se sentait profondement
malheureuse. Elle avait des goüts intellectuels tres vifs qu'elle
satisfaisait par la lecture. Comme George Sand, eile lut pele-mele
les philosophes, les historiens, les poetes — Shakespeare, Cooper,
Wordsworth, Milton — et s'occupait en outre de geometrie, d'en-
tomologie, de chimie, de metaphysique „le tout, disait-elle, com-
prime et comme etouffe par les menus incidents de la vie et
les soucis domestiques". Defiante d'elle meme, eile se developpait
lentement, n'ayant point conscience de son genie. La theologie
tenait une grande place dans ses preoccupations. Apres une en-
fance mystique, le doute avait envahi son äme. A Coventry oü
son pere s'etait etabli, eile avait fait la connaissance d'esprits
larges, les Hennell et les Bray, qui l'avaient liberee de toute foi
positive. C'est dans cet esprit qu'elle s'etait mise ä traduire la
Vie de Jesus de Strauss et le Tractaius theologico-poUücus
de Spinoza. Mais le calme n'etait point revenu en son coeur et eile
etait tres desemparee quand la lecture de Rousseau vint donner
un sens ä sa vie. Ecoutons-la elle-meme raconter cet episode
decisif: „Rousseau, dit-elle^), a lance ä travers mon etre intellectuel
et moral la Vibration electrique qui m'a eveillee ä des percep-
1) Lettre du 9 fevrier 1849.
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tions ignorees et qui a fait de rhomme et de la nature, pour
moi, un nouveau monde de pensee et de sentiment. Non pas
qu'il m'ait inculque aucune croyance nouvelle, mais simplement
parce que le souffle puissant de son Inspiration a avive mes fa-
cultes au point que j'ai pu donner une forme plus precise ä
des idees qui, jusque-iä, avaient tente mon äme ä l'etat de va-
gues pressentiments. Le feu de son genie a si bien fondu au
creuset mes vieilies idees et mes vieux prejuges que je suis de-
venue capable d'en faire sortir des combinaisons nouvelles."
Quand on rapprociie cette confession de celle que fit plus
tard un autre grand esprit du XIX^ siede, Tolstoi: „J'ai !u
Rousseau tout entier, j'ai lu ses vingt volumes, y compris le
dictionnaire de musique. Je l'admirais avec plus que de l'enthou-
siasme ; j'avais un culte pour lui. A quinze ans je portais ä mon
cou, au lieu de la croix habituelle, un medaillon avec son portrait.
I! y a des pages de lui qui me sont si familieres qu'il me sem-
ble les avoir ecrites." Quand on songe aussi ä l'influence pro-
digieuse que Rousseau a exercee sur quelques-uns des plus
grands genies de la fin du XVI 11^ siecle et du debut du
XIX^ siecle, Goethe, Schiller, Kant, Fichte, Schleiermacher, Byron
et Shelley, on ne peut faire moins que de voir en lui un de ces
reservoirs geants, si peu nombreux dans l'histoire intellectuelle
de l'humanite, oü des generations entieres vont puiser. Et si par-
mi ces ecrivains les femmes tiennent une place si considerable,
c'est que sans doute, mieux que les hommes, elles ont ete aptes
ä comprendre la nature de sensitive, toute de nerfs, de fai-
blesse, de douleurs, de passion et de reve, qu'etait celle de Jean-
Jacques.
ZÜRICH ANTOINE GUILLAND
D D n
Rejetez le noir et ce melange de blanc et de noir qu'on nomme le
gris. Rien n'est noir, rien n'est gris. Ce qui semble gris est un compose de
nuances claires qu'un oeil exerce devine. Qui peint n'a point pour täche, comme
le ma(;on, de bätir, le compas et l'equerre ä la main, une maison sur le
plan fourni par l'architecte. 11 est bon pour les jeunes gens d'avoir un mo-
dele, mais qu'ils tirent le rideau sur lui pendant qu'ils peignent. Mieux est
de peindre de memoire, ainsi votre oeuvre sera vötre; votre Sensation,
votre intelligence et votre äme survivront alors ä Toeil de l'amateur.
PAUL GAUGUIN
D D a
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barthElemy menn und
die schweizerische kunst
Immer wieder ist in den letzten Jahren auf die Bedeutung
Menns für die moderne Schweizer Kunst hingewiesen worden, zu-
letzt in dem Bericht von Albert Baur über die Zeichenklasse Martins
an der Genfer Kunstschule i). Martin ist es vor allem, der das
künstlerische Erbe Menns hütet, durch Eigenes bereichert, und
der von den Ideen, die bei Menn ins Unbegrenzte sich zu ver-
lieren drohten, einzelne herausgreift, mit tiefer Einsicht syste-
matisch ausbaut und für die Kunst fruchtbar macht.
Menns spekulativer Geist hatte Bausteine zusammengetragen,
aus denen nicht nur ein System der bildenden Kunst, sondern
ein System der allgemeinen Lebenskunst und Menschengestaltung
aufgebaut werden sollte. Sein Plan war ungeheuer, nicht fassbar
in seinem ganzen Umfang für einen einzelnen Geist, nicht realisier-
bar in einer einzigen Generation. Um eine neue Kunst aus der
Unkunst des modernen Lebens heraufzuführen wollte Menn die
Menschen selbst umgestalten und ihnen zu einer neuen Erbschaft
(„une heredite nouvelle") verhelfen. Er ging von der richtigen
Erkenntnis aus, dass von Kunstlheorien allein kein neuer Stil zu
erwarten sei. Woher sollte dieser kommen, wenn nicht aus den
Menschen und aus einer neuen Menschengemeinschaft? Ins Leben
selbst muss Stil kommen, wenn der Ausdruck des Lebens in der
Kunst das Gepräge des Stils tragen soll. Den Menschen muss
geholfen werden, zu einer bewussten Innern Einheit und zur
Herrschaft über sich selbst zu gelangen; dann erst können wir
erwarten, in ihren Werken wieder Einheit und Sieg der Form
über den Stoff anzutreffen. Dies war Menns erzieherischer Plan.
Zu einer solchen Fundierung der Kunst, die nicht nur dem Künstler,
sondern der Gesellschaft überhaupt unmittelbar zu gute kommen
sollte, hat er wertvolle Vorarbeit geleistet. Diese wurde durch
seinen Tod, im Jahre 1893, jäh unterbrochen. Fast zwei Jahr-
zehnte schien das angefangene Werk zu stocken. Wir haben je-
doch die Zuversicht, dass wenig oder nichts davon verloren ging
1) Zweite Julinummer 1913 von Wissen und Leben. (B. XII. S. 503).
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und dass einer seiner Schüler und Verehirer in absehbarer Zeit
der Öffentlichi<eit übergeben werde, was an Worten und Gedani<en
Menns unvergessiich gebh'eben ist und was an persönlichen Auf-
zeichnungen von ihm sich noch vorfindet.
Menn selbst hat eine Tatsache der Zukunft vorausgesehen,
als er kurz vor seinem Ende einer Freundin gegenüber äußerte:
„Was ich geleistet habe, ist eine Saat. Wenn ich tot sein werde,
wird es den Anschein haben, als wäre die getane Arbeit umsonst
gewesen. Aber die Saat wird aufgehen zu ihrer Zeit; dessen bin
ich gewiss."
Was wir im Folgenden darzustellen versuchen, ist nicht das
große, auf die Menschenerziehung gerichtete Wollen Menns, son-
dern seine Rolle als Künstler und Lehrer und seine Beziehungen
zur gegenwärtigen schweizerischen Malerei.
Die Voraussetzung zum Verständnis dieser Beziehungen
wäre freilich eine ausführliche Darstellung von Menns Kunst in
ihrem komplizierten Werdegang. Das würde uns jedoch vom
geraden Weg nach dem Ziele zu weit abführen. Es sollen daher
nur die Resultate dieses Werdeganges betrachtet und mit den
Tendenzen der modernen Kunst verglichen werden.
' ö"
1. STILPRINZIPIEN IN MENNS KUNST
Menn war ungemein vielseitig und wechselnd in seinem
Schaffen. Wer die posthume Ausstellung seiner Werke in Genf
besuchte, musste auf den ersten Blick glauben, dass er die Werke
verschiedener Hände und ganz verschiedener Epochen vor sich
habe. „Unpersönlich" nannten viele den Stil Menns. Etwas
Richtiges liegt wohl in der Bezeichnung. Menn hat in der Tat,
im Gegensatz zu der individualistischen Strömung des neunzehn-
ten Jahrhunderts, nicht nach einem persönlichen Stil gesucht, der
seine begrenzte menschliche Individualität zum Ausdruck bringen
sollte; sein Streben war vielmehr auf die allgemein giltigen Grund-
lagen eines Stiles gerichtet. Zu diesem Zwecke studierte er mit
Bleistift und Pinsel die Meisterwerke der Antike, der italienischen,
spanischen, niederländischen und französischen Kunst. Er kopierte
in summarischer Weise alte und neue Meister. Selbst die Kunst
Japans wurde auf die für uns brauchbaren Elemente hin geprüft.
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„Es gibt nur eine Kunst, aber ihre Erscheinungsformen sind ver-
schieden", lautet ein bekannter Ausspruch. Diese eine Kunst
wäre die Summe dessen, was an den Kunstwerken aller Länder
und Zeiten wesentlich ist. Den wesentlichen Kern aus der Schale
aller Zufälligkeiten herauszuheben war Menns unablässiges Be-
streben. Auf einen universellen Kunst-Stil scheinen solche Be-
strebungen gerichtet zu sein. Ein universeller Stil ist jedoch eine
Abstraktion und künstlerisch eine Unmöglichkeit, weil das wahre
Kunstwerk immer Auseinandersetzung eines Ich mit Welt und
Leben bedeutet. Das geniale Ich erweitert freilich die Schranken
des gewöhnlichen Ich, hat aber immerhin zeitliche, örtliche und
persönliche Grenzen, welche die absolute Universalität unmöglich
machen. Demnach wären Bestrebungen, wie sie Menn im Auge
hatte, höchstens für die Kunstwissenschaft, nicht aber für die
Kunst selbst fruchtbar; eine Ansicht, die unter Menns Gegnern
und auch unter seinen Schülern manchen Vertreter hatte. Diese
vergaßen, dass auch der individuelle Stil in reinster Form ein
Ding der Unmöglichkeit, eine Abstraktion ist. Denn Stil ist nicht
das Werk eines Einzelnen ; das lehrt uns zur Genüge die Be-
trachtung und die Geschichte der Kunst, wo immer wir sie anfassen.
Stil war und ist stets die Schöpfung einer Gemeinschaft,
und Stil-Elemente sind die in einer Gemeinschaft lebendig ge-
wordenen konventionellen Zeichen und Formen ^). Ist also ein rein
individueller Stil ebenso unmöglich, wie ein universeller Stil, so
muss es zwischen den beiden Extremen einen gangbaren Weg
geben, auf welchem allgemeine Gesetze und individuelle Freiheit
einander begegnen. Nach eben diesem Wege suchten große
Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, Gottfried Semper, Hans
von Marees, Adolf Hildebrand. In ihrer Reihe steht auch Menn.
Er legitimiert sich zwar durch kein schriftliches Werk; seine
Lehre blieb gesprochenes Wort. Nur hie und da notierte ein
Schüler sich Aussprüche, die einen Eindruck auf ihn gemacht
hatten. Wohl trug sich Menn mit dem Gedanken einer schrift-
lichen Fixierung seiner Lehre. Hätte er sich durch eine Bilder-
schrift, wie die alten Ägypter sie besaßen, verständlich machen
können, so wäre der Plan viel eher zur Ausführung gelangt. Des
^) In den Aufsätzen von Berlage, in Wissen und Leben, November,
Dezember 1912 (B. XI, S. 168, 232, 307, 360) ist der Gedanke weiter ausgeführt.
46
geschriebenen Wortes hingegen bediente er sich nur ungern und
hielt sich für ungeschici^t zur literarischen Formulierung seiner Ge-
danken. So müssen wir uns denn einstweilen mit dem begnügen,
was an gesprochenen Worten in seinem Kreise lebendig geblieben
ist. Diese fruchtbar gebliebenen Gedanken beweisen zur Genüge,
dass Menn, gleich den früher genannten Künstlern, an dem großen
Orientierungsplane mitgearbeitet hat, nach welchem die Kunst
unserer Zeit verlangt. Dieser Orientierungsarbeit gab er seine
beste Kraft, in ihr zeigt sich seine Genialität und seine Größe.
Von den Bildern, die er gemalt, gezeichnet, radiert und litho-
graphiert hat, zerstörte er selbst einen großen Teil, weil sie sei-
ner vorauseilenden Erkenntnis vom Wesen der Kunst nicht ent-
sprachen. Was uns von seinen Werken erhalten blieb, will nur
als Teilstück seiner Lebensarbeit aufgefasst und unter dem Ge-
sichtswinkel jener allgemeinen Orientierung betrachtet sein, die
ihm, dem Pfadfinder und Pfadweiser, am Herzen lag.
Bei Betrachtung seiner Lehre gehen wir wohl am besten von
deren sichtbaren Dokumenten von seinen Zeichnungen und Bildern
aus. Eine sorgfältige Vergleichung diser Werke lehrt uns
erkennen, was an ihnen wesentlich ist und was als wesentliches,
das heißt stilbildendes Element in einer Kunstlehre Aufnahme fin-
den konnte.
Stilelemente sind, wie schon angedeutet, konventionelle Zeichen
und Formen. Sie dienen dazu, das Naturvorbild, die Landschaft,
das Modell, was immer dem Künstler als Vorlage dient, aus dem
unpersönlichen, naturgesetzlichen Zusammenhang herauszuheben
und in einen geistesgesetzlichen Zusammenhang einzuführen ; sie
sind also Mittel, durch welche die äußere Natur in eine inner-
liche, rein menschliche übersetzt werden kann; sie sind, nach
Menns eigenem Ausdruck, „Elemente der Ordnung", durch die
wir alles beherrschen, was außer uns ist. Ein Kunstwerk ent-
hält gerade soviel Stil, als es naturbeherrschende, ordnende Form
besitzt.
2. DER LINEARE PARALLELISMUS
Eine Zeichnung aus der Menn-Schule veranschaulicht uns
eines dieser Stilelemente. Ein Schüler zeichnete die antike
Bü.ste mit weichen Linien und Schatten, die möglichst getreu
47
den Rundungen des Gipsmodells folgen. Auf diese Zeichnung
setzte der Lehrer ein Liniennetz ganz anderer Art, das nicht
aus dem Vorbild stammt. Vom Scheitel zur Stirne, von der
Stirne über die Qesichtsmitte hinunter bis zur Halsgrube sind
parallele Linien gezogen, die auf die Naturformen keine
Rücksicht nehmen, sondern Nasenflügel und Lippen überschneiden
und die Rundung des Schädels negieren. Diese Geraden sind eine
Dominante, die die ganze Zeichnung beherrscht. Sie verleihen
der Erscheinung eine innere Festigkeit, ein Gesetz, einen Willen,
eine Geschichte. Denken wir uns diese Linien hinweg, so blei-
ben bloß organische Formen zurück, die dem Modell abgeschrie-
ben sind; die Sprache dieser Formen muss sich alsdann jeder
selber deuten, muss sich ihre Proportionalität und ihre Dynamik
klar legen so gut er kann und die Inhalte zu erraten suchen,
welche, als die geistigen Motoren und eigentlichen Bildner, das
Relief dieser Formen herausgetrieben haben. Doch in der Deu-
tung der Form besteht ja gerade die künstlerische Arbeit, die der
geniale Blick für den ungenialen leistet und die ein Werk erst
zum Kunstwerk erhebt. Eine solche klärende und deutende
Funktion verrichten die Parallelen unserer Zeichnung. An ihnen
erfasst das Auge mit Leichtigkeit die Proportionen der niederen
Stirn, der kräftigen Nase, des Kinnes, dessen Muskel wie ein
Kraftstrang die Energien des Mundes zusammenhält. Erst durch
den Richtungswechsel dieser Linien empfinden wir die Bewegung
des Kopfes deutlich und erfassen mit der Funktion zugleich die
gehaltene Willensenergie, die ihr zugrunde liegt. — Es bedarf
keiner langen Übung, um jeden Strich herauszufinden, durch
welchen Menn der Zeichnung des Schülers ein besonderes Ge-
präge aufgedrückt hat. Er holt aus den organischen Formen die
Kraftlinien heraus und betont sie durch Wiederholung, Der Kopf
des Römers wird dadurch zum Kopf des Imperators. Nicht aus
der Porträtähnlichkeit schließen wir auf den Kaiser, sondern aus
dem Machtbewusstsein, das aus den Zügen spricht. Die porträt-
mäßige Wiedergabe des Modells ist hier als Nebensache behandelt.
Es soll ja kein Geschichtwerk illustriert, sondern ein Kunstwerk
geschaffen werden. Als Zweck des Kunstwerks aber gilt das Her-
ausholen des Wesentlichen aus der Erscheinung, oder, um mit
Fromentin zu sprechen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren.
48
•-¥
- V
^«fe^'SIfcÄ^'*^
ZEICHNUNG EINES SCHÜLERS MIT KORREKTUREN VON MENN
Das Mittel dazu ist hier der Paralielismus der Linien, den
wir als eines der wichtigsten Stilelemente bei Menn an den An-
fang der Reihe stellen.
Das Prinzip des Parallelismus lässt sich auch auf die Land-
schaft anwenden. In Parallelen staffelt sich die Ebene zum Hori-
zont und gewinnt Raumtiefe; in gleichtaktigen Bewegungen gleiten
die Wellen eines Flusses zwischen ihren Ufern; in gleichartigen
Gebilden schichten sich manchmal die Wolkenmassen und bauen
für das Auge das Gewölbe des Himmels auf. Und wenn die
Frühlingserde von der Sonne erwärmt wird, dann strahlt sie ihre
Säfte aus in parallelen und radialen Gebilden, die als Gräser und
Halme, als Stämme, Zweige und Blätterbüschel gruppenweise den
Weg zu Licht und Wärme suchen. Es gibt kleine Landschaften
und späte Studien von Menn, in welchen dieser Parallelismus
des Naturlebens zu einem Poem von unaussprechlicher Schlicht-
heit und Feinheit gestaltet ist.
Der Parallelismus ist Ausdruck einer Ordnung, einer Gesetz-
lichkeit. Er betont das stabile Element im flutenden Wechsel der
Erscheinungen. Jede Tagesstunde und jede Sonnenbewegung ver-
ändert Farbe und Form der Dinge für unser Auge. Diese Relati-
vität des Sichtbaren hat die impressionistische Malerei der letzten
Jahrzehnte mit leichten, kühnen Pinselstrichen erhascht und ge-
staltet. Mit gewollter Einseitigkeit gab sie von der Erscheinung
nur das, was vergeht. So weit ist Menn nicht gegangen. Sein
Auge ist zwar sensibel genug, um die Relationen der Erschei-
nungen zu erfassen. Auch freut er sich mit den Impressionisten
am schöpferischen Lichte, das jeden Augenblick alles neu gestaltet.
Aber es liegt nicht in seiner Art, sich dem Zauber des einzigen
Momentes rückhaltlos zu überlassen. Das Vorher und Nachher
ist auch da für ihn und schlingt um die Gegenwart den Knoten
der Notwendigkeit. Der Wechsel selbst ist determiniert durch
ein feinmaschiges, unzerreißbares Netz von Ursächlichkeiten. Dem
Fließenden stellt sich ein Beharrendes entgegen, dem Wechsel die
Ordnung, dem Leben das Gesetz.
Besonders klar und schön zeigt sich Menns Standpunkt in
seinem Selbstbildnis mit dem Hute. Er hat es mit treffendem
Ausdruck „seine Autobiographie" genannt. Wir wollen jedoch
die autobiographische Seite des Bildes dem Scharfblick des Be-
49
trachters überlassen und es in diesem Zusammenhang hauptsäch-
h'ch als {künstlerisches Selbstbei<enntnis zu begreifen suchen. Die
Farbengebung des Originals würde dabei besonders zu statten
kommen.
Der Künstler stellt sich im vollen Sonnenlichte dar. Ein
Strohhut beschattet die obere Gesichtshälfte. Aber auch in die
Schatten dringen die von der Umgebung reflektierten Sonnen-
strahlen und machen sie durchsichtig, kühl und klar wie blaue
Luft. Wo die Sonne direkt auffällt, hat der Pinsel locker die
rötlichen Farben aufgetragen und hat wahrnehmbar gemacht, wie
das erwärmte Blut die gesunde Haut durchströmt. Der blonde
Bart und Hut erhöhen die Farbigkeit des Gesichtes, die der graue
Hintergrund zusammenhält und konzentriert. Als farbige Erschei-
nung ist das Bild ein frisches Bekenntnis moderner Freilicht-
malerei. Ein impressionistisches Bild kann man es dennoch nicht
nennen. Der Impressionist gibt die farbige Oberfläche, die Hülle,
das, was leicht und zart vom Licht berührt und durchleuchtet
wird. Menn hingegen sucht das Schwebende des optischen Ein-
drucks zu festigen, indem er das Innere Kräftespiel, die struktive
Wahrheit der Erscheinung sichtbar macht. Das Mittel hierzu Ist
wieder der lineare Parallelismus, der die beschattete Gesichtspartie
beherrscht. Durch diese willkürlichen Geraden erhält der lebens-
warme Porträtkopf erst die Dominante: In Ihnen wird jene Innere
Festigkeit, jene widerstandskräftige Beharrlichkeit betont, die mit
dem Namen Menns verbunden bleiben wird im Gedächtnis aller,
die ihn gekannt haben.
Der Parallelismus Ist natürlich nicht eine Erfindung Menns.
Die byzantinische, romanische und gotische Kunst haben von
diesem Mittel des Stils reichlichen Gebrauch gemacht. Wir finden
es noch vielfach in den Zeichnungen von Leonardo da Vinci und
der Früh-Renaissance. Die realistischen und rein malerischen
Tendenzen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts ver-
drängen es; aber in Meisterzeichnungen des neunzehnten Jahr-
hunderts dringt es wieder durch. Puvis de Chavannes, Millet,
Segantini sind hier zu nennen. Gerade der Umstand, dass es sich
dabei nicht um willkürliche Erfindungen handelt, lässt uns dieses
Stilelement um so bedeutsamer erscheinen.
50
Die letzten zwei Jahrzehnte schweizerischer Kunstentwick-
lung haben bereits gezeigt, wie fruchtbar dieses Element ge-
worden ist.
3. DIE STRUKTIVEN AKZENTE.
Der Parallelismus ist ein ordnendes Prinzip und bringt Ein-
heit in das organisch Lebendige, welches natürlich vorhanden sein
muss, damit man es durch Ordnung beherrschen kann. Für die
byzantinische Kunst war es in der Antike vorhanden, die über-
wunden werden sollte, und so gründlich überwunden worden ist,
dass der schematische Parallelismus eine despotische Herrschaft
ausübte. In der romanischen Kunst herrschte ein ähnlicher Kon-
flikt, der ebenfalls zugunsten der Gesetzmäßigkeit gelöst wurde.
In den Meisterwerken der Gotik hingegen, etwa in den Skulpturen
von Chartres, ist das Gesetz in Freiheit umgewandelt. Das or-
ganische Element lebt sich hier in Rhythmen aus, die von einem
hohen, freudigen Willen diktiert werden. In der Renaissance und
den folgenden Jahrhunderten durchbricht das organische Element
wie in der Römerzeit wieder Schranke um Schranke und wird
erst heute allmählich von neuem eingefangen, nachdem ein wach-
sendes Bedürfnis nach Regel und Halt die jungen Zielstrebenden
ergriffen hat.
Was heute überwunden werden soll, das ist der Realismus
des neunzehnten Jahrhunderts; Menn war eine Zeitlang stark in
seinem Fahrwasser. Er studierte die Erscheinungen mit dem Auge
eines Naturforschers ; er analysierte und sezierte, damit der innere
Mechanismus der Dinge ihm vertraut werde; er modellierte wie
ein Plastiker, damit er vom Volumen der Dinge bestimmte Raum-
vorstellungen habe. Der Raumeindruck, den das Auge vermittelt,
genügte ihm nicht, er nahm den Tastsinn der Hand zu Hilfe. Um
eine Figur räumlich richtig auf der Leinwand entstehen zu lassen,
verschmähte er es nicht, zuerst, gleich dem Bildhauer, die Figur
als Drahtgerüst in den wirklichen Raum zu projizieren. Innen-
räume, Plätze, Straßen ließ er von seinen Schülern in Karton-
modellen räumlich ausführen, damit bei ihrer Reduktion auf die
Fläche die Richtigkeit des tatsächlichen Raumeindruckes wirk-
sam sei.
51
Eine Unklarheit war diesem bewussten, hellen Geiste zuwider
wie eine Unwahrheit. „Entrez hardiment dans le dedans des
choses", lautete eine Aufforderung an seine Schüler. Damit die
äußere Erscheinung der Dinge vollkommen sei, musste nach seiner
Ansicht ihr innerer Bau fühlbar und sichtbar sein.
Eine Zeichnung eines alten Bettlers wäre als ein Beispiel unter
vielen herauszugreifen. Es lässt sich von dieser Zeichnung sagen,
dass sie nur Hauptsachen gibt; kein Detail; wenig Oberfläche.
Das Volumen hirigegen ist mit Händen zu greifen; der Bau des
Kopfes, die Struktur und Zusammenhänge aller Teile sind so
anschaulich gemacht, dass der Blick, indem er das Ganze richtig
fasst, alles Nebensächliche unwillkürlich richtig ergänzt. Die
Fähigkeit, eine Erscheinung von innen heraus aufzubauen, zeigt
sich hier in aller Deutlichkeit. Aber auch in den Korrekturen
der Schülerzeichnung und im Selbstporträt gewahren wir beson-
ders um die Augen, auf den Backenknochen, um Mund und Nase,
jene knappen, scharfen Akzente, welche aus der Naturform das
Wesentliche herausholen.
Diese Akzente bedeuten für die Malerei ungefähr das selbe,
was der Lapidarstil für die Literatur bedeutet. Sie vereinfachen
das Wirklichkeitsbild; sie machen die Ordnung des natürlichen
Mechanismus wahrnehmbar und können somit ebenfalls zu den
Stilelementen gezählt werden. Sie sind in unserer Zeit noch nicht
eigentlich konventionelle Zeichen geworden, wie dies zum Beispiel
in der japanischen Kunst der Fall ist; aber sie sind zu allen Zeiten
die Grundbedingungen gewesen, aus welchen typische Stile ent-
stehen konnten.
Das Wirklichkeitsbedürfnis wirkte überall bestimmend in
Menns Kunst hinein und ist, wie später gezeigt werden soll, ein
charakteristischer Zug der jungen Schweizer Schule geblieben. Es
handelt sich hier um eine Formfrage, die ihre tieferen Wurzeln
nicht nur in Menns Individualität hat, sondern in der Rasse, im
Milieu, dem er angehörte. Das Besondere seiner Leistung besteht
darin, dass er für diesen schweizerischen Wirklichkeitssinn jene
künstlerische Formel, den bildnerischen Lapidarstil, gefunden hat,
den wir als die struktiven Akzente bezeichnen.
52
4. DIE ATMOSPHÄRISCHE VERSCHLEIERUNG
Parallelismus und struktive Akzente haben den Charakter von
Stilformeln. Ihre Wirkung hängt natürlich von der feinen Unter-
scheidungsgabe ab, die bei ihrer Anwendung die Wahl trifft. In
einer Gewitterlandschaft zum Beispiel wird der Künstler die Sta-
bilität und Gesetzmäßigkeit der Dinge nicht betonen, da sie durch
den Aufruhr der Elemente für unser Gefühl geradezu aufgehoben
werden. Wenn Menn ein Frauen- oder Kinderbildnis malte, so
hütete er sich, durch die parallelen Kraftlinien den Charakter der
Weichheit und Unbestimmtheit zu zerstören, der in diesem Falle^
den Gesichtszügen verbleiben muss, damit die Eindrücke und Ge-
fühle jedes Augenblicks mit zartem Finger auf dieser schmieg-
samen Klaviatur spielen können. Einige Frauenbildnisse von
Menn gehören in dieser Beziehung zu den Perlen seines Werkes.
Seine künstlerische Forderung lautete also, je nach den Umstän-
den: rabotez! hobelt, oder caressez! liebkost mit dem Pinsel. —
Heute fängt er die Erscheinung im ehernen Netz des Parallelismus,
morgen drängt er das Gesetz zurück, um dem Gefühlsausdruck
eine Sphäre relativer Freiheit zu schaffen. Er verhüllt also, wenn
es sein muss, die Form durch einen feinen Schleier von Licht
und Schatten. Dieses Kunstmittel, das sfumato Leonardos, ist
vom Impressionismus in farbiger Auflage erneuert worden. Es
soll nicht als ein Charakteristikum der Menn-Schule dargestellt
werden, sondern nur als eines jener Elemente, die nicht fehlen
durften, wo das Bestreben auf eine universelle Kunstsprache ge-
richtet war.
5. DER LINEARE RHYTHMUS
Eigenwüchsiger ist ein viertes Stilmittel bei Menn: die Sil-
houette, sowohl die begrenzende äußere, wie die trennende innere
Umrisslinie. „Jede Figur hat drei Profile", lehrte Menn, „nämlich
je eines rechts und links und ein drittes da, wo Licht und Schatten
sich treffen". Die Silhouette ist ihm von größter Wichtigkeit,
denn sie nimmt zuerst den Blick gefangen; sie vermittelt schlag-
wortartig das Wesentliche einer Erscheinung. Man kann wohl
sagen, dass sie die graphische Zusammenfassung und Synthese
eines Gegenstandes bedeutet. Aber sie ist noch in höherem Sinne
ein Element des Stils: sie erfasst nicht nur die äußere Erscheinung
53
und klärt sie für unser Auge: sie bemächtigt sich auch der geisti-
gen Inhalte und macht sie sichtbar durch das wunderbare Mittel
des linearen Rhythmus.
Es gibt große Kunstkreise, welche zeichnerisch fast ausschließ-
lich mit der umgrenzenden Linie arbeiten. Die ägyptische Kunst
tat es in .vollendetster Weise ; die griechische Malerei bis zur Blüte
bediente sich fast ausschließlich der formumgrenzenden, nicht der
schattierenden Linie. Die persische Kunst tut heute noch ein
Gleiches. Die japanische Graphik treibt mit der Silhouette ein
anmutiges Spiel, dessen Reize nur mit den Augen nachgefühlt,
nicht aber mit Worten ausgedrückt werden können. Im Abend-
land behauptete sich die Linie als wesentliches Element im Flächen-
schmuck des Mittelalters, wurde dann aber durch die illusionisti-
sche Renaissance-Kunst zurückgedrängt und verkümmerte infolge
der reinmalerischen Tendenzen der folgenden Jahrhunderte. Damit
ging eines der wichtigsten Elemente des Stils für die Kunst ver-
loren und musste im neunzehnten Jahrhundert unter mühsamem
Ringen erst wieder entdeckt werden.
Die Kunst des Empire hat zuerst wieder nach linearen Werten
gesucht. Ingres, der Lehrer Menns, bewegt sich in dieser Rich-
tung; aber dieser begeisterte Verehrer der Antike nimmt mit den
formalen Qualitäten zugleich Inhalte einer vergangenen Zeit in
seine Seele und in seine Kunst auf. Seine Manier konnte wohl
eine Zeit lang zum ästhetischen Ideal erhoben werden, aber Wurzel
fassen konnte sie nicht; wie denn überhaupt nie ein literarisches
Ideal oder ein historischer Stil das Erdenbürgerrecht erhält.
Auf Menn hat die elegante, synthetische Liniensprache Ingres'
einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Bis in die Landschaften
der fünfziger Jahre und einzelne Bildnisse sogar der sechziger
Jahre ist ein Nachklang jener wohllautenden Formel zu spüren.
Dann aber trat endgültig ein Bruch ein. Das historische Prinzip
war bei ihm überwunden. Was jetzt als Linie aus seinen Bildern
heraustritt, ist etwas durchaus Neues. Der Unterschied, den man
sich am besten durch Vergleichung der frühesten und der letzten
Bildnisse klar macht i), lässt sich folgendermaßen ausdrücken:
1) Im Kunstmuseum in Genf sind Bilder aus allen Epochen seines
Schaffens im Menn-Saale vereinigt.
54
Die älteren Bilder zeigen eine gewollte, die späteren eine ge-
wachsene Silhouette.
Menn hatte sich ein Studium daraus gemacht, die rhythmi-
schen Elemente nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch
in Musik und Poesie aufzusuchen und mit einander zu vergleichen.
Dabei wurde ihm klar, dass es auch in der bildenden Kunst
rhythmische Gesetze gebe, die etwa dem entsprechen würden,
was in den tönenden Künsten Takt und Metrum sind. Diesen
messbaren Zeiteinheiten hätte die Malerei Maßeinheiten gegenüber-
zu stellen, welche freilich, so lange noch keine oder wenige
mathematische Gesetze der Proportionalität gefunden worden, nur
annähernd und gefühlsmäßig zu bestimmen sind. Menn nannte
diese Einheiten die Länge und die Kürze und verstand es vor-
trefflich, etwa bei Besprechung eines griechischen Reliefs, zu zeigen,
wie hoch entwickelt bei den Griechen der Sinn für die Länge
und die Kürze gewesen ist.
Diese Erkenntnisse des Künstlers und Forschers haben in
seiner Umgebung so nachhaltig gewirkt, dass wir heute keine
schweizerische Kunstausstellung besuchen können, ohne gerade
bei ihren bedeutendsten Erscheinungen an Menn erinnert
zu werden. Doch ehe wir den Fäden nachgehen, die Menn mit
unserer Zeit verbinden, müssen wir auf ein letztes Mittel künst-
lerischen Ausdrucks hinweisen, das ebenfalls zu einem gefestigten
Besitz der jungen Schweizer-Schule geworden ist:
6. DIE DEKORATIVE BILDKOMPOSITION
Sie ist das vornehmste Mittel, durch welches die Natur im
Kunstwerk zu ihrer höheren Funktion erhoben wird. Das deko-
rative Prinzip bedeutet eine Entfernung vom Natureindruck, eine
Vereinfachung, Anpassung an das Material, ein Gestalten von
innen heraus. In der Bezeichnung selbst liegt aber auch der
Hinweis darauf, dass die dekorative Kunst an ihre ursprüngliche
Funktion, Flächenkunst zu sein, wieder anknüpft. Je mehr die
Malerei an die Fläche gebunden wird, desto mehr wird sie not-
wendigerweise zur Zweidimensionalität zurückgeführt. Diesen Weg
geht die Malerei heute. Menn hat diese Entwicklungsnotwendig-
keit vorausgesehen. Es ist dies um so erstaunlicher, als er, der
Raumgestalter und Körperbildner, damit sich selbst Opposition
55
machen musste. Dennoch wich er dem Problem der Flächen-
kunst nicht aus und kam gerade auf diesem Wege zu der Er-
kenntnis von der primordialen Bedeutung der Linie. „Une peinture
est decorative, quand eile charme par ses grandes lignes." Diese
großen Linien, von denen Menn spricht, sind nichts anderes als
die Silhouetten, die innere und äußere ; und das Mittel, wodurch sie
uns fesseln sollen, ist der Rhythmus der Längen und Kürzen.
Damit kommen wir auf schon gesagtes zurück. Es ist kaum
nötig, auf den Unterschied zwischen diesen Kompositionsmitteln
und denjenigen der sogenannten Historienmalerei hinzuweisen, mit
welcher Menn angefangen hatte. Sein Weg aber ging durch den
Realismus und darüber hinaus zu dem, was uns heute als Stil
vorschwebt. In seiner Isolierung hatte er in den siebziger und
achtziger Jahren eine Richtung angestrebt, die heute dominierend
geworden ist. Er selbst konnte seine Erkenntnisse nur in Skizzen
und Studien und in der Lehrtätigkeit verwerten, denn, wie Debrit
schrieb, gab es in seiner Vaterstadt nicht Wände, auf denen er
seine Kunst hätte entfalten können. Es kann hingegen nicht als
Zufälligkeit angesehen werden, dass derjenige Künstler, der auch
in Deutschland und Österreich als ein Pionier der neuen Richtung
angesehen wird, dass Ferdinand Hodler aus der Schule Menns
hervorgegangen ist.
Unter dem Druck von innen und außen hat Menn ein eigen-
artiges Lebenswerk geschaffen. Es gleicht einem groß angelegten
Bauplan, den der Meister mit unzähligen Skizzen und Dokumenten
ausgestattet, aber selbst nicht weit über die Fundamente hinaus-
geführt hat.
Was in der Folge aus diesem Bauplan geworden, wie die
jüngere Generation ihn nützte, ausbaute und neuen Zwecken
dienstbar machte, das soll uns im zweiten Teil dieser Orientierungs-
schau beschäftigen.
WIEN ANNA LANICCA
(Ein zweiter Teil folgt.)
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56
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THEATER UND KONZERT
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D D
ZÜRCHERTHEATER. DieSchau-
spielsaison des Stadttheaters brachte
gleich zu Beginn eine Premiere, die
sich des lebhaftesten Erfolges zu
erfreuen hatte: Arthur Schnitzlers
Komödie Professor Bernhardt wurde
auf der Schauspielbühne im Pfauen
zur Aufführung gebracht. Gegen Ende
des letzten Jahres war das Stück in
Berlin — bei Barnowsky im Kleinen
Theater — aus der Taufe gehoben
worden. Für Österreich hat die Zen-
sur dem Werk den Zutritt zur Bühne
versperrt. Ob sich Schnitzler im Ernst
über dieses Verbot verwundert hat?
Seine Komödie beleuchtet öster-
reichische Verhältnisse mit einer
solchen Schärfe, dass ein Zensor
schon ein sehr vorurteilsloser Mann
sein müsste, wenn er nur das Künst-
lerische des Stückes zur Richtschnur
seines Urteils gemacht und der Ko-
mödie seine Sanktion erteilt hätte.
Schnitzler war es in seinem Professor
Bernhardt nicht sowohl um eine Ver-
teidigung des Rechtes derWissenschaft
gegenüber den Forderungen der Re-
ligion, beziehungsweise der Kirche
zu tun, als darum, zu zeigen, wie
sich aus einem an sich recht belang-
losen Vorkommnis in einem Privat-
spital ein „Fall" entwickelt. Daraus,
dass Professor Bernhardi eine Ster-
bende, die über ihren Zustand sich
dem glücklichsten Optimismus hin-
gibt, in ihrem Wahnglauben belassen
und ihr die letzten Momente nicht
trüben lassen will durch das Er-
scheinen des Geistlichen mit seiner
Mahnung zur Regelung des sündig
beschwerten Seelenkontos mit dem
strafenden oder — im Bußfall — ver-
gebenden Gotte — daraus wird ihm
ein Strick gedreht von Solchen, die aus
allem und jedem nur Kapital schlagen
für ihre selbstischen Interessen, seien
es nun Interessen der persönlichen
Ambition oder der Partei oder der
Rasse. So gerät die Weigerung Bern-
hardts dem katholischenPfarrer gegen-
über sofort in den unreinen Dunst-
kreis persönlicher Streberei und
wüstester Parteipolitik. Alles was mit
dem Antisemitismus Geschäfte macht,
gerät in Aktion. Und so kommt es
schließlich zur Verurteilung Bernhar-
dis wegen Religionsstörung: der Pro-
fessor muss zwei Monate sitzen. Der
Umschlag tritt dann während seiner
Gefängnisstrafe ein, und der fünfte
Akt der Komödie entlässt uns mit
der Aussicht, dass nunmehr mit dem
Märtyrer Bernhardi der gleiche po-
litische Handel von selten der Frei-
gesinnten wird getrieben werden wie
vorher mit dem Freigeist und Juden
Bernhardi von selten der Reaktion.
Nur einer der Gegner Bernhardis
— und das ist die blutigste Satire
der ganzen Komödie — benimmt sich
anständig: der katholische Pfarrer.
Er hat es über sich gewonnen, vor
Gericht dem Professor das Zeugnis
zu geben, nach seiner, des Pfarrers
Überzeugung habe Bernhardi bei
seinem Verhalten im Spital keines-
wegs einen Akt der f^eindseligkeit
gegen die Kirche begehen wollen.
Ja, der Geistliche geht noch weiter:
er gibt dieser seiner Überzeugung
auch noch persönlichBernhardi gegen-
über bei einem Besuch nach des
Professors Verurteilung in dessen
Wohnung Ausdruck. Dieser Dialogder
beiden Männer hebt das Stück für
einen kurzen, aber bedeutungsvollen
Augenblick in eine reinere Atmo-
sphäre empor; hier stehen sich end-
lich zwei Weltanschauungen sauber
gegenüber, und weil Bernhardi und
der Geistliche homines bonae volun-
tatis sind, können sie sich zum
Schluss, der Kluft vergessend, welche
die beiden Ansichten einfürallemal
57
THEATER UND KONZERT
trennt, die Hand reichen. Hier weht
etwas von der Luft des Nathan-Dra-
mas. Und das tut in dem unsaubern
Getriebe, das Schnitzler in dieser Ko-
mödie schonungslos enthüllt — scho-
nungslos auch für gewisse Semiten,
wie er dies in seinem Roman Der
Weg ins Freie gewagt hat — das tut
unendlich wohl. In dem genannten,
in vieler Hinsicht ungemein wert-
vollen Roman fällt einmal das Wort
„Ja, es ist halt alles Politik", nämlich
in Österreich. Professor Bernhardi
ist die lebensvolle Illustration zu dem
Wort. Das macht das Beklemmende
dieser „Komödie" aus. Und das
Schlimmste ist, dass selbst ein Bern-
hardi zum Schluss ein lächelnder
Skeptiker wird. Auch der Edelste
nimmt in solchen Verhältnissen blei-
benden Schaden. Resignation heißt
das Ende vom Lied. h. trog
*
BERNER STADTTHEATER. Char-
les Grelinger, ein in La Chaux-de-
Fonds ansäßiger Meister, dessen vier-
aktiges Musikdrama in Bern zum
ersten Mal aufgeführt wurde, hielt
sich an das Rezept, das trotz der
fast ausnahmslos misslichen Erfolge
stets wieder zur Anwendung kommt:
Man nimmt ein erfolgreiches Schau-
spiel und streicht es zusammen,
dann nimmt man ein symphonisches
Orchesterstück und füllt damit ent-
weder die entstandenen Lücken aus
oder „vertieft" damit das gesprochene
Wort. Man hat dabei nur Sorge zu
tragen, dass die Aktschlüsse des
Schauspiels und die Einschnitte im
musikalischen Bandwurm ungefähr
zusammenfallen. Hat das Schauspiel
seinerzeit einen durchschlagenden
Erfolg gehabt, ist die Musik von
einem begabten und kenntnisreichen
Komponisten, so müsste es doch
sonderbar zugehen, wenn das ver-
einigte Musikdrama nicht die Bühnen
erobern sollte. Die Hoffnung auf
Segen wird schwerlich zu den sel-
tensten Fällen gehören, wo diese
Rechnung stimmt. Wenn uns gesagt
wird, dass das gleichnamige Schau-
spiel von Hermann Heyermans großes
Aufsehen erregte, so können wir das
glauben; es ist schlecht genug dazu.
Vielleicht war es auch vor der mu-
sikalischen Verfilmung besser. Jetzt
sind es einzelne zusammenhängende
Bilder fischerdörflichen Elends, deren
Rührseligkeit durch die Musik zur
Sentimentalität vertieft wird. Warum
diese Leute diese Sachen singen, ist
uns unerfindlich. Wenn uns schon
bei Charpentier, Grelingers Vorbild,
die gesungenen Banalitäten oft ein
Lächeln abzwingen — aber wie ist
der Text der Louise aus dem Geist
der Musik heraus geboren und da-
für zurechtgemacht ! Dass die Voraus-
setzungen für ein Schauspiel und
einen Operntext ganz verschieden
sind, davon scheint Grelinger keine
Ahnung zu haben und daran ist auch
sein Musikdrama gescheitert. Man
fühlte mitunter den Verdacht auf-
steigen, dass der Komponist eine
fertig vorliegende Symphonie wieder
lebensfähig machen wollte. Der mu-
sikalische Teil weist sicherlich manche
Schönheiten auf, die Behandlung des
Orchesters verrät ein tüchtiges Kön-
nen und auch in der Erfindung er-
freut mancher hübsche Gedanke,
aber ein Musikdrama ist das Ganze
nicht geworden.
Trotzdem sind wir der Theater-
leitung für die Tatsache, dass sie
einem in der Schweiz ansäßigen
Komponisten Gelegenheit gab zur
Überprüfung seines Werkes vor der
Öffentlichkeit, dankbar. Auch unser
Theater ist ein solches morsches
Schiff, eine „Hoffnung auf Segen",
und niemand weiß, ob und wann die
See ihr Opfer verschlingt. Um so
58
THEATER UND KONZERT
verdienstvoller ist der Wagemut, un-
gewisse aber ehrliche künstlerische
Arbeit zum Wort kommen zu lassen.
BLÖSCH
*
TONHALLE ZÜRICH. Giannotto
Bastianelli aus Florenz, der am 23.
September eigene Werke vortrug, er-
regt in seiner Vaterstadt Aufsehen
durch Veröffentlichungen in Worten
und Noten. Was er als Kritiker und
Musikästhet leistet, entzieht sich
unserer Beurteilung.
In seinem Konzert lernten wir
in ihm einen Musiker von großem
Wollen, beachtenswerter Gestaltungs-
kraft, mäßiger Erfindungsgabe und
ohne jegliche Wärme kennen. Kalt
und nüchtern wie sein äußeres Auf-
treten ist sein Spiel. Als Pianist ver-
fügt er nur über zwei Register: ein
schneidend hartes Fortissimo und
ein verschleiertes Pianissimo. In
seinen Kompositionen wirkt die stän-
dige, cariilonartige Triolenbegleitung
der linken Hand monoton, zumal
die fast stets einstimmige Melodie
der Rechten kaum ein tieferes Inter-
esse wachzuhalten vermag. Ein zu
häufig wiederkehrendes ostinato fin-
det man schließlich wirklich eigen-
sinnig. Dass bei ihm von einem Er-
wachen national-italienischen Emp-
findens etwas zu spüren sei, konnte
ich nicht herausfinden; mir schien
seine Musik ganz frei von der naVven,
sonnigen Breite und Sangbarkeit der
Italiener. Am besten gefiel mir die
Klaviersonate Nr. 4; die Violinsonate
(gespielt von Herrn Maglioni) ist für
Klavier gedacht und für Violine über-
tragen, aber im letzten Satz klang-
schön und groß. Das Klavier-Konzert,
um dessen Uraufführung sich neben
dem Komponisten Herr Hans Jelmoli
verdient gemacht hat, ist wohl kraft-
voll in der Erfindung — die Instru-
mente bekamen dies zu spüren —
aber zu bizarr und improvisierend
in der Gestaltung, als dass es nicht
der Läuterung bedürfte. Dies bleibt
auch das Urteil über den Gesamt-
eindruck des Abends.
Reife Kunst bot uns zwei Tage
später der Liederabend von Herrn Dr.
Piet Deutsch aus Berlin, der bei
bester Disposition eine Reihe Brahms-
und Schubertlieder sang. Die Stimme
des Sängers hat gegenüber früher
an Glanz der Tiefe gewonnen, und
besonders erfreulich war, wie er dies-
mal die dramatischen Akzente an-
fasste und herausmodellierte, so dass
die dramatischen Lieder wie zum
Beispiel der Schubertsche Sänger
geradezu am besten gelangen. Neu-
heiten waren für Zürich die Lieder
von Ulmer und Bohnenblust; diese
einfach und warm empfunden, während
Ulmer etwas äußerlich effektvolle,
aber durchaus musikalische und gut
charakterisierte Kompositionen schuf,
als ein Künstler, der seiner Mittel
sicher ist. Die beiden Lieder nach
Bodmanschen|Texten,D^r5^^//z/?aw^r
und Der Invalide, wirken geradezu
beängstigend durch ihren dramatisch
bewegten sozialen Hintergrund, wäh-
rend Ulmer im treuen Kameraden
schön den schlichten altdeutschen
Volksliedton traf. otto hug
D n D
59
D D
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BILDENDE KUNST
D D
D D
Im KUNSTGEWERBEMUSEUM
DER STADT ZÜRICH ist bis Ende
Oktober eine Ausstellung über Raum
und Bild zu sehen. Einige monu-
mentale Räume, darunter ein Fakul-
tätszimmer für die neue Zürcher
Universität von Carl Moser in schön-
ster Durchbildung, ein Vorzimmer für
die neue höhere Töchterschule in
Zürich von den Architekten Streiff und
Schindler, mit einem dekorativ gestal-
teten Familienbild von Ernst Würten-
berger, das etwas an dasjenige Hol-
beins erinnert, eine Vorhalle aus
Eternit der Architekten Pfleghard und
Häfeli mit dem farbig wundervoll
wirkenden Wandgemälde „Arbeit"
von Augusto Giacometti. Die Aus-
stellung informiert vortrefflich über
die moderne Glasmalerei. Die Schwei-
zer Meister Jäggli, Herion, Röttinger
befassen sich hauptsächlich mit Ko-
pien alter Wappenscheiben und ähn-
licher Kleinkunst ; die Leistungen
sind zum Teil vorzüglich, das Ziel
zu wenig hoch gesteckt. Den besten
Entwurf, ausgeführt von Gottfried
Heinersdorff in Berlin, hat Carl Rösch
in Diessenhofen geliefert ; die wohl-
überlegten Kompositionsgrundsätze
der Schweizer Schule bewähren sich
hier aufs beste. Von Künstlern des
Auslands zeigen M. Pechstein aus
Berlin, Prof. Thorn-Prikker aus Es-
sen, Remigius Geyling aus Wien und
Joseph GoIIer aus Dresden Vortreff-
liches.
Einige Räume enthalten Klein-
plastiken. Da ist als erfreuliches
Ereignis zu nennen, dass nun in
Brienz Hans Huggler dafür sorgt,
dass dort der langgepflegte Schnitze-
reischund gesundem Streben Platz
machen muss. Von urwüchsigem,
echtem Ausdruck und kecker Be-
handlung sind die aus Wurzelstöcken
geschnitzten Köpfe, die ein St. Gal-
1er Bauernbursche, Wilhelm Leh-
mann aus Kronbühl, schuf.
*
In der KUNSTHALLE WINTER-
THUR findet bis zum 12. Oktober
eine Ausstellung moderner Graphik
statt, die mit Frankreich, Deutsch-
land, der Schweiz, England und dem
Norden fast das ganze Schaffen Eu-
ropas umfasst. Von Franzosen sind
Pierre Bonnard, Cezanne, Toulouse-
Lautrec, Manet, Millet, Renoir, Val-
lotton und Vuillard vertreten, von
älteren Künstlern Daumier und De-
lacroix (unter anderm mit einem merk-
würdigen, fast unbekannten Goethe-
bildnis). Von Deutschen nenne ich
Fritz Bohle, Lovis Corinth, Kalck-
reuth, Käthe Kollwitz, Wilhelm Leibl,
Max Liebermann, den phantastischen
Hans Meid, Menzel, Schinnerer und
Slevogt. Dabei sind die Franzosen
durchweg billiger als die Deutschen
und bei ihren sichern Qualitäten die
bessern Anlagewerte. Von wunder-
voller Feinheit sind die englischen
Landschafter Pennell, Muirhead Bone,
Seymour Haden; wie ein Riese da-
neben Frank Brangwyn. Mit ihren
185 Nummern gibt die Ausstellung
eine so gut gewählte Übersicht über
die heutigen Graphiker, wie man sie
auch in einer großen Stadt nicht alle
Jahrzehnte erlebt.
*
Weitere erlesene Graphik bietet
im KUNSTSALON WOLFSBERG
in Zürich die Ausstellung des Lon-
doner Senefelderclubs. Was da mit
den Mitteln der einfarbigen Litho-
graphie erreicht wurde, grenzt ans
Fabelhafte. Joseph Penneil wirkt in
seinen Lithographien vom Panama-
kanal, wo man doch nur Gerüste,
Kranen und Geleise sieht, wie ein
gewaltiger Choral der Arbeit ; für ein
technisches Bureau wüsste ich mir
60
BILDENDE KUNST
keinen schöneren Schmuck. Ver-
gleicht man damit die Aquarelle und
Zeichnungen von Schiffswerften und
Werkplätzen, die der bekannte Ka-
rikaturenzeichner Heinrich Kley in
der GALLERIE TANNER ausstellt,
so muss man sagen, dass sie als
Schülerarbeiten hohes Lob verdien-
ten, als künstlerische Leistung aber
gänzlich belanglos sind.
Das Münchner Brüderpaar Eugen
und Alfred Feiks, das gleichfalls im
Wolfsberg sich vorstellt, lässt Strand-
bilder von warmer Sachlichkeit in
ernster reifer Technik sehen ; dazu
einige Damenporträts von durchaus
persönlicher Art und einem Reiz,
der an alte Pastells gemahnt, ob-
wohl sie persönlich und modern
empfunden sind. A. B.
DDD
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NEUE BÜCHER
D D
D D
GALLUS WALZ, Der Kanari und
andere kleine Sachen. Verlag Arnold
Bopp & Cie, Zürich.
Von einer zarten und beabsich-
tigt unbeholfenen Biedermeirigkeit
ist die Titelerzählung dieses sehr ge-
fällig ausgestatteten Büchleins, zu
dem Ernst Georg Rüegg einen bun-
ten Holzschnitt und einen Kupfer-
stich beigesteuert hat. Und von den
andern zahlreichen Momentaufnah-
men entbehrt wohl keine der un-
erwarteten und für des Verfassers
Ausdruckskunst ausgiebigen Situa-
tion, weder Der Fallite im Freien,
der im Augenblick seines Zusam-
menbruchs an Lenz und Blumen Trost
und Glück findet, noch Das Frücht-
chen, das sich von seinen Eltern weit
abgetrieben sieht, gerade da sie mei-
nen, Reuetränen hätten sein Herz zu
ihnen geschwemmt, noch Die Schwei-
zerknaben, die sich auf Bergeshöhen
treffen und gegenseitig Einsicht ern-
ten, da sie ihre Knabenbegeisterung
aneinander messen. Den letzten Satz
dieser Erzählung „man wird von die-
sen Knaben noch hören" gibt ihr
leider einen schulmeisterlichen Ab-
schluss, der in der klug verhaltenen
Stimmungskraft des ganzen Bänd-
chens wie ein grober Zeichnungs-
fehler wirkt. A. B.
*
AUGUSTE BIPPERT, Prose, Preface
de Jules Carrara. — AUGUSTE BIP-
PERT, Poesie, Preface de Philippe
Godet. Imprimeurs-Editeurs: les fils
de Mettler-Wyss, La Chaux-de-Fonds.
Wenige haben wohl bei uns ge-
wusst, dass wir einen so vortrefflichen
Zeitungsschreiber in der Schweiz be-
sessen haben wie Auguste Bippert,
nach dessen Tode nun zwei prachtvoll
gedruckte und ausgestattete Bände
ausgewählter Arbeiten und Gedichte
künden, was man zu seinen Lebzeiten
hätte wissen sollen. Die kleinen
Zeitungsaufsätze sind mit so selb-
ständigen Gedanken erfüllt und mit
einer so vollendeten Grazie des Stils
ausgestattet, dass es wirklich schade
wäre, müssten alle mit dem Holzpapier
gilben. Les propos d'un vieux Bouif
(was wohl etwa „alter Chnorzi" be-
deutet) über La volonte populaire und
De la corruption electorale müssen
auch in einer arglosen Seele die Über-
zeugung reifen lassen, dass und wie
sehr unsere Demokratie eine Fiktion
ist. Als eleganter Fechter geht er
den theoretischen Friedensfreunden,
61
NEUE BUCHER
C3 CD
den Napoleonsverächtern, den Aka-
demikern, allen Leuten, deren Ideen
sich in einem Mausloch verfangen
haben, zu Leibe. Man kommt von
diesen Streit- und Zeitfragen nicht
mehr weg, wenn man sich einmal
in das Buch verbissen hat. Hätten
wir nur drei solcher Journalisten in
der deutschen Schweiz, wir dürften
ruhig ein paar Milhonen an unsern
Schulen sparen. — Die Gedichte sind
in der Hauptsache flott gereimte
Geistreicheleien ä la Banville; es gibt
vielleicht Leute, die mehr Vergnügen
daran haben als ich. a. b.
*
JOHANNA SIEBEL. Mutter und
Kind, Gedichte und Parabeln. Huber
und Co. in Frauenfeld.
Ganz leise, wie ein Licht bei Nacht,
Ist nun dein Herz in mir erwacht
Und weiht dir mehr noch meinen Sinn
Zur Dienerin.
Ich flehe, dass mich keine Not
Und auch Itein Sturm zu hart bedroht.
Und lege Leib und Seele gut
Zu deiner Hut.
So baue du dein Häuschen weit
In wunderbarer Regsamkeit
Und mache meinen Mutterschoß
So heilig groß.
Fast hundert Gedichte und acht
Parabeln hat Johanna Siebel in einem
feinen Bändchen vereinigt.
Was an schöner, reifer Mensch-
lichkeit und tiefem Muttersinn im
Herzen dieser gütigen, tapferen und
sympathischen Frau lebt, tritt in
diesem Bande zutage, der, um mit
einem Worte Adolf Freys zu reden,
voll Wohlklang, Seele und Sonne ist.
Mir scheint, als habe der Dichte-
rin bislang das große Erlebnis ge-
fehlt, ohne das keine Lyrik werden
kann. In ihrer glücklichen Ehe, in
der Erwartung und Erfüllung wurde
ihr nun das Erlebnis geschenkt, das
in der Läuterung eines heiteren Tem-
peramentes ihr die reine Ader öff-
nete, aus der diese Liedchen und
Lieder, diese Stimmungsgedichte,
diese Kinder- und Mutterträume ge-
flossen sind, Gedichte beredter Ein-
fachheit, zarter Erwartung, starken
Mutterwillens, sonnigster Erfüllung,
übermütigen Mutterglücks. Johanna
Siebel schreibt mit einem leichten
Griffel, wirkt aber trotzdem eindrucks-
voll, besonders, wenn sie zu singen
beginnt, wenn der Gehalt die Form
durchstrahlt und durchbricht, unge-
fähr so, wie wenn abends in einem
festlichen Häuslein jedes Fenster
glänzt. Der Vorzug dieser Gedichte
ist die Leichtigkeit des Vortrages, ist
das Spiel der Seele, ist Tanz und
Humor, Wärme und Liebe des Ge-
haltes. Es bedeutet dieses geschmack-
volle Büchlein, nicht zuletzt wegen
seines einheitlichen Tones, einen
großen Fortsehnt, Wurf und Gewinn,
nach der Seite der Form und des
Inhaltes.
Kritisch wäre zu bemerken, dass
nicht alle Gedichte auf derselben
Höhe stehen (wie könnte es auch
anders sein 1), dass Wiederholungen
vorkommen, nicht neuartige Motive
auftauchen, dass manche Verse zu
leicht, manche Reime zu billig sind. Es
wäre festzustellen, dass hier und da
Anschauung und Gedanke in Kon-
kurrenz treten, oder dass der An-
schauung und dem Gesänge durch
einen angehängten Gedanken Ab-
bruch getan wird. Aber dies alles
wiegt leicht, wenn man das Ganze
im Auge behält.
Sieh, Kind, nun wacht in hellem Häuf
Wo blau die Nacht sich breitet,
Der Glanz der güldnen Sternlein auf,
Vom Monde sanft geleitet.
Nun regt es sich auf Füßchen klein
Und hebt sich auf die Zehen :
Das sind die jüngsten Sternelein,
Die lernen just das Gehen.
62
NEUE BUCHER
C3 C3
Ja, Kindchen, wer das einmal kann,
Der kann es dann für immer.
Komm, Kind, wir ziehn die Schühchen an
Und gehen durch das Zimmer . . .
Eltern, die grade so reich und
liebevoll sind wie diese Dichterin;
Mütter, denen mit jedem Kind das
eigene Kinderherz neu erwächst,
werden dieses Büchlein mit Genuss
lesen. carl Friedrich wiegand
MARGARETE SUSMAN, Vom Sinn
der Liebe. Eugen Diederichs, Jena.
„Liebe ist das unaufhörlich bren-
nende Gefühl des Eyisseins, das un-
aufhörlich zerschnitten und bedrängt
wird von dem grausamen Gefühl des
Andersseins alles Lebens außerhalb
meiner — und ihre ewige Forderung
ist, das Anderssein dem Einssein zu
versöhnen."
Diese Worte, die in dem eigen-
artigen und schweren Buche von
Margarete Susman stehen, geben die
Richtung an, in der das ganze Pro-
blem durchdacht wird.
Der große Eros Piatos, jener
machtvolle geistige Zeugungstrieb,
der uns dem Göttlichen selbst näher
zu bringen strebt, wird in seinen
vielfältigen Erscheinungsformen er-
hellt und ihr Wesentliches wird in
einer satten Sprache und in reichen
Symbolen zu verbildlichen versucht.
Immer wieder wird auf die Grund-
anschauung zurückgewiesen und von
ihr aus werden den Einzelerschei-
nungen jener großen kosmischen
Kraft neue Bedeutungen, ein neuer
Sinn abgewonnen, und die verschie-
denartigen Blüten dieses einen macht-
vollen Stammes leuchten in neuen,
dunkleren Farben auf.
Vor allem eines zeichnet dieses
Buch aus: die Feinheit, mit der die
Probleme dieser ewigen, drängenden,
quäl- und lustvollen Macht gegen-
einander gestellt werden, und dann
die wohltuende, ich möchte fast sagen :
gedankliche Keuschheit mit der sie
behandelt und gelöst werden; be-
sonders dort, wo die Fragen der Be-
ziehungen der Geschlechter unter-
einander beleuchtet werden, macht
sich diese Wesenheit geltend. — Wenn
auch gerade hier die Probleme keine
neue Gegenstellung und Lösung er-
halten, wenn auch hier auf den schon
so oft formulierten Gedanken zu-
rückgegangen wird, dass die Phan-
tasie der eigentliche Motor dieser
Liebe darstellt, so erhalten doch die
verbrauchten und nur zu geläufig ge-
wordenenAnschauungen neue Leucht-
kraft durch die schöne Art ihrer For-
mulierung, etwa wie: „Alle Liebe ist
Schaffen am Symbol des Geliebten."
Darin liegt, neben dem schon Er-
wähnten, ein großer Vorzug dieses
begrifflich unscharfen Werkes; es ist
ein schweres, symbolbuntes Lied, das
in keuschverhaltenen Worten von
jener uralten Kraft singt, die den
Mensch dem Menschen, die Welt dem
Einzelnen, den Einzelnen allen und
alle dem Gotte zu binden vermag.
Rein klingt dieses Frauenbuch
aus und die irrationale Philosophie,
die in ihm wirkt und die, wenn auch
nicht durch ihre Begriffe, so doch
durch ihre Beschreibungen und dich-
terischen Umschreibungen verwirrtes
zu entwirren und zu klären versteht,
klingt in einem hoffenden, innerlich-
pathetischen Mahnwort aus, das wohl
beachtende Würdigung verdient: Wir,
die wir allein unsere Liebe auf uns
genommen haben, sollten tiefer als
alle Menschen früherer Zeiten den
Ruf begreifen, uns nicht zu gewöhnen,
dem Leben treu zu bleiben bis ans
Ende, alles Erscheinende immer neu
zu durchfühlen, zu erleiden, zu be-
greifen, den Kräften des Lebens
trauernd alles Alte, Unfruchtbare mit
der zentralen Kraft des eigenen Le-
bens zu zersprengen. S.D. STEINBERG
O D D
63
a D
TAGEBUCH
D D
D D
BUNDESARCHITEKTUR. Nichts
war bis jetzt weniger erfolgreich bei
uns als der Kampf gegen die offi-
zielle Architektur, die große wie
auch kleine Städte und selbst Dörfer
in gleicher Weise verwüstet. Wenn
man sieht, wie sich die Privatbahnen
im Toggenburg, im Thurgau und im
Bündnerland redlich mühen, anstän-
dige Bahnhöfe zu erstellen und da-
bei Vorbildliches leisten, so muss
man die Faust ballen, wenn rnan
schaut, was die Bundesbahnen in Ör-
likon zusammenschustern. Da ist
weder Anklang an gute Bauart noch
strenge Sachlichkeit noch persön-
licher Kunstwillen; da ist nur jene
einfältige Drauf losdekoriererei, deren
Hohlheit jeder vernünftige Architekt
seit Jahren eingesehen hat. Gute
Kräfte stehen auf dem Pflaster und
solche Impotenz darf arbeiten und
die Schweizerische Eidgenossenschaft
gibt den Segen dazu.
Etwas besser, aber immerhin
noch herzlich schlecht ist das eine
Telephongebäude, das der Bund mit
Umgehung der guten Architekten in
Zürich erstellt. Das andere, das
kommen soll, hat durch ein paar
teure Vergesslichkeiten beim Boden-
kauf seinen Schatten vorausgeworfen
und bewiesen, dass eidgenössische
Behörden kaufmännisch nicht minder
hereinfallen können als künstlerisch.
Und nun ist bei der Konkurrenz für
ein Bundesgericht (leider konnte ich
die Entwürfe nicht sehen, aber so-
viel darf ich dem Geschmack der
Architekten vertrauen, die mir dar-
über berichteten) eines der schlech-
testen Projekte allen vorgezogen und
die Gelegenheit zu einer stolzen Tat
moderner Baukunst versäumt wor-
den. Nur weil man das Preisgericht
nach dem Willen jener Pompiers
zusammenstellte, die im Bund über
Gut und Böse entscheiden. Wie
seinerzeit beim Postgebäude Murten,
wo man die guten Architekten durch
die Wahl der Jury schon abschreckte.
Man möchte diese Herren, die mit
allen schaffenden Künstlern des Lan-
des im Widerspruch stehen, einmal
vor den prächtigen neuen badischen
Bahnhof in Basel führen: vielleicht
ist doch noch Hoffnung, dass sie
lernten, sich zu schämen.
Unter dem alten Bundesrat war
jeder Kampf gegen die Bundesarchi-
tektur aussichtslos. Aber vom er-
neuerten Rat und ganz besonders
von seinem jüngsten Mitglied erwar-
tet man bestimmt, es werde etwas
geschehen, damit die Schweiz nicht
ruhmlos dastehe mit dem, was sie
allen sichtbar und für lange Jahre
schafft. A. B.
D D D
Diesem Heft liegt ein Prospekt der MODERNEN GALLERIE von
Heinrich Thannhauser in München bei.
DDD
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
64
BARTHELEMY MENN: ALTER BETTLER
(Vergleiche S. 52 des letzten Heftes;
RAT
So lang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.
So lang du um Verlorenes klagst
Und Ziele suchst und rastlos bist,
Weißt du noch nicht, was Friede ist.
Erst wenn du jedem Wunsch entsagst.
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst.
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst.
Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.
HERMANN HESSE
DDD "^
65
DIE KASTE DER ADVOKATEN
EIN WORT PRO DOMO
Nachdem ich am letzten 15. Sept. in Wissen und Leben (Bd. XII,
Seite 721 — 731) Herrn Caspar Scheidts^) Kritik der Rechtspflege
einer Überkritik in uneigennütziger Weise unterzogen habe, werden
die Leser der Zeitschrift mir verzeihen, wenn ich heute die
Interessen meines Standes verteidige.
An nicht weniger als 13 Stellen — ich habe sorgfältig nach-
gezählt — erlaubt sich Herr Scheidt offen und halb offen Ausfälle
gegen den ganzen Stand der Rechtsanwälte, dem anzugehören ich
die Ehre habe. Ich darf mich nicht wundern, wenn Herr Scheidt
durch meine Ausführungen nicht überzeugt wird, denn seiner An-
sicht nach muss ich ja meine Interessen auch gegen meine innere
Überzeugung vertreten. An vier Stellen erhebt er nämlich mehr
oder weniger verblümt diesen Vorwurf gegen uns Anwälte. Je-
doch ich hoffe, dass unter Ihnen, meine verehrten Leser, noch
einige sind, die etwas besser von uns denken, so dass meine
Ausführungen wenigstens von Ihnen einer ernsten Prüfung unter-
zogen werden.
I.
„Was das Rechtspflegegesetz an wirklicher Freiheit gebracht
hatte, war die Freigebung der Advokatur. Aber gerade damit ist
man seither wieder abgefahren," ruft Herr Scheidt mit dem Brustton
der Überzeugung aus und behauptet im Anschluss daran, man
habe „eine förmliche Kaste" „aufgerichtet", eine „besondere Klasse
von Advokaten" geschaffen, den „Beruf zur Kaste abgeschlossen".
Stimmt das?
Sehen wir uns zuerst einmal den Zustand zu der so hoch
gerühmten Zeit der Freigebung der Advokatur an.
Damals waren natürlich — wie heute noch — unter den An-
wälten eine nicht unerhebliche Zahl tüchtiger Männer vorhanden.
Ein großer Teil der juristisch gebildeten Anwälte hatte sich, um
keine nach Bildung und Charakter ungeeignete Elemente aufkom-
^) Caspar Scheidt: Vereinfachung der Staatsverwaltung und Erleich-
terung der Staatslasten. Band XII, S. 321, 391, 462, 531, 613.
66
men zu lassen, zum Zürcherischen Advokatenverein zusammen-
geschlossen, der jeden Neuling auf seine Studien und auf Herz
und Nieren prüfte.
Die Prüfung war so streng, dass manche Neulinge — die
«inen, weil sie aus Stolz den Kollegen kein Prüfungsrecht zuge-
stehen mochten, die andern aus Angst, nicht vor den gestrengen
Kollegen zu bestehen — sich gar nicht zur Aufnahme in den Verein
meldeten, so dass neben dem wirklich fast kastenmäßig abge-
schlossenen Verein eine immer größer werdende Zahl ebenfalls
tüchtiger Berufsgenossen heranwuchs, die dem Verein — der
Kaste — nicht angehörten.
Hätte sich der Berufsstand der Anwälte nur aus diesen zwei
Gruppen zusammengesetzt, so wäre kein Grund zur Klage ge-
wesen.
Da aber bei der völlig freien Advokatur zur Ausübung des
Berufs kein anderes Erfordernis nötig war, als der Besitz des
schweizerischen Aktivbürgerrechts, so drängte sich zur berufs-
mäßigen Vertretung vor Gericht und zur Beratung in Rechts-
angelegenheiten auch eine dritte Gattung von Menschen zu, die
sich teils als Advokaten, teils als Rechtsagenten bezeichneten und
den ganzen Stand der Anwälte und der ehrlichen Rechtsagenten
zu schänden geeignet waren. Charakter besaßen sie gar keinen,
Bildung ebensowenig, und ihre juristischen Kenntnisse hatten sie,
so weit sie solche besaßen, wohl durch ihren Verkehr mit den
Untersuchungsbehörden und dem Strafrichter in eigener Sache
erworben. Als Musterbeispiel nenne ich den Mann, der einen
ehemaligen Oberrichter, als er ihn als „ein dutzendmal vorbestraftes
Individuum" bezeichnete, wegen Verleumdung einklagte und den
Gegenbeweis anerbot, dass er nur elfmal vorbestraft war.
Dass diese dritte Sorte von Vertretern des Rechts ihre Kun-
<ien schamlos ausbeutete, braucht nicht noch besonders hervor-
gehoben zu werden; dass sie namentlich als Anstifter und Ge-
hilfen ihrer Kundschaft tätig war, ebensowenig.
Um diese Eiterbeule am Volkswohl ausschneiden zu können
wurde die Freiheit der Advokatur eingeschränkt.
Heute ist — seit bald fünfzehn Jahren — zum Berufe zuge-
lassen nur, wer sich vor der aus Oberrichtern und Professoren
gebildeten Prüfungskommission über genügende Rechtskenntnisse
67
zur Ausübung des Berufes ausweist und auch nach Ansicht der
Disziph'narbehörde einen genügenden Leumund besitzt.
Dass die schwersten Krebsschäden des Zustandes der freien
Advol<atur dadurch beseitigt sind, soll zugegeben werden — und
trotzdem ist der neue Zustand auch nach Ansicht der Kasten-
genossen noch heute I<eineswegs einwandfrei.
Aber nicht, wie Herr Scheidt meint, deshalb, weil eine Kaste
geschaffen wurde, sondern umgekehrt, weil der Zutritt zur neu
geschaffenen, erweiterten „Kaste" immer noch allzu frei ist.
Es kam vor, dass zwei nicht mehr ganz junge Staatsbeamte,
die wegen Unbrauchbarkeit in ihrem Amte abgehen mussten, sich
zum Anwaltsexamen meldeten. Ihre juristischen Kenntnisse waren
auch im Examen selbst mehr als mäßige. Die unzureichende
moralische Qualifikation des einen davon war aus seiner früheren
Amtstätigkeit bekannt. Der andere zeigte sie dadurch, dass er
zum Probeprozess das erstemal morgens 8 Uhr in völlig betrun-
kenem Zustand erschien, das zweitemal in einem so schweren
Katzenjammer, dass er vor der Replik sich wegen Brechreizes aus
der Sitzung entfernen musste. Trotzdem erhielten beide — keines-
wegs zur Freude des gesamten Anwaltsstandes — das Anwaltspatent.
Beide blieben allerdings nicht lange in der Kaste. Dem einen
wurde das Patent wieder entzogen, der andere starb an den Fol-
gen seiner Trunksucht. Bei richtiger Würdigung ihrer Pflichten
hätte die Prüfungs- und die Aufsichtsbehörde, die aus Gutmütig-
keit schwach waren, diesen Skandal vermeiden können.
Es kam vor, dass ein älterer Anwalt in einem Prozesse ein
neues Aktenstück an Stelle eines beseitigten alten unterschob,
und in einem Gerichtsprotokoll eine Zahl (3000) durch Vorsetzung
einer „1" in eine andere Zahl (13 000) umfälschte. Das Bezirks-
gericht IV. Abteilung, das diese Aktenfälschung erkannte, erstattete
Anzeige beim Obergericht. Das Obergericht aber schritt nicht
gegen den Fehlbaren ein, weil es — übrigens glaube ich mit
Recht — annahm, er habe nur aus Dummheit, nicht aus böser
Absicht so gehandelt.
Bei richtiger Würdigung hätte auch diese vom Obergericht
festgestellte gemeingefährliche Dummheit die Aufsichtsbehörde
veranlassen sollen, das unschuldige Publikum vor einem derartigen
68
Rechtsbeistand zu bewahren. Im Anwaltsverein — in der Kaste —
hatte er nie Aufnahme gefunden.
Selbst dann, wenn strafbare Dehkte einwandfrei nachgewiesen
sind, schreitet die Aufsichtsbehörde nicht immer mit der erforder-
lichen Strenge ein. Ich könnte einen Fall benennen, in dem ein
Anwalt, der 7000 Franken unterschlagen hatte, nicht aus dem
Stande ausgestoßen, sondern aufgefordert wurde, auf sein Patent
zu verzichten. Als er zwei Jahre später sich wieder meldete, war
es nahe daran, dass die Aufsichtsbehörde ihn wieder zuließ. Seine
Neumeldung hätte Erfolg gehabt, wenn nicht zufällig eine neuere
geringfügigere Unterschlagung des Anwärters der Behörde noch
rechtzeitig zu Ohren gekommen wäre.
Auch dieser Mann war von der Kaste, dem Verein der An-
wälte, stets ausgeschlossen gewesen.
Doch das Publikum selbst wünscht nicht durchweg einwand-
freie Advokaten.
Ein Anwalt, der wegen eines schwerwiegenden Disziplinar-
fehlers — z. B. Verwendung unanständiger Mittel bei Vertretung
eines Klienten — von der Aufsichtsbehörde gemaßregelt wurde,
hat alle Aussicht, seine Praxis zu vermehren, da er bei einem
zahlreichen Teil des Publikums den Ruf erwirkt, ein ausgezeichneter
Anwalt zu sein, der die Interessen seiner Klienten bis aufs Äußerste
verficht.
So lange die Gutmütigkeit und Langmut der Aufsichtsbehörden
den Anwälten gestattet, nicht einwandfreie Mittel zu verwenden
bei Beratung und Vertretung der Klienten, und so lange es eine
Kundschaft gibt, die die Anwendung solcher Mittel wünscht, so
lange werden auch räudige Schafe eben Zutritt zum Anwaltsstand
finden, oder in ihm bleiben, die der „Kaste" zur Unehre gereichen.
Niemand bedauert das mehr als wir Anwälte.
So lange aber weder das Publikum noch die Aufsichtsbe-
hörden uns in unseren Bestrebungen zur Säuberung des Standes
wirksam unterstützen, können auch unsere darauf zielenden Be-
mühungen keinen vollen Erfolg haben.
Wenn Herr Scheidt also eine geringe Meinung über einzelne
Personen äußern würde, so sähe ich mich nicht zur Abwehr
veranlasst, denn unter allen Berufsständen — also auch unter den
Advokaten — gibt es Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte.
69
Dagegen aber, dass die Sünden einzelner verallgemeinert und
dem ganzen Stande als solchem in die Schuhe geschoben werden,
dagegen darf ich mich wohl im Interesse des Standes zur Wehr
setzen. Dass solche Verallgemeinerungen beim Publikum leicht
auf guten Boden fallen — weil der oder jener, sei es unter den
Auswüchsen der freien Advokatur, sei es in jüngerer Zeit unter
den Folgen der übermäßigen Gutmütigkeit der Aufsichtsbehörden
zu leiden hatte -^ macht sie noch gefährlicher, als sie es sonst
schon wären.
Wenn Herr Scheidt nicht blind wäre vor Advokatenhass, so
hätte er nicht Öffnung, sondern Schließung der Kaste zu einem
Verband mit Selbstkontrolle fordern müssen — ähnlich wie er es
bei den Notaren vorschlägt.
Wenn wir verantwortlich wären für die untauglichen und un-
saubern Elemente unter uns, wenn wir auch nur die Macht hätten,
sie auszuscheiden, dann wäre bald Abhilfe geschaffen.
Eine Advokatenkammer mit Disziplinarbefugnissen bis zum
Ausschließungsrecht — eine geschlossene Kaste der Advokaten —
wäre nicht so sentimental wie die jetzigen Prüfungs- und Aufsichts-
behörden. Sie würde im eigenen wohlverstandenen Interresse
ihren Stand, ihre Kaste mit eisernem Besen säubern.
H.
Herr Scheidt spricht von der Gefahr, dass die Advokaten
durch ihre „Unbefangenheit" und „Mundfertigkeit" die Räte be-
herrschen. Darin liegt zugleich ein Lob und ein Tadel.
Verdienen wir — in unserer Gesamtheit — beides?
Unbefangenheit ist eine Tugend — gemeint hat Herr Scheidt
aber wohl deren Übermaß — die Unverfrorenheit. Dass wir An-
wälte im steten Verkehr mit unsern Gegnern, -— wenn wir den
Beruf erfolgreich ausüben wollen — ein gewisses Maß von Keck-
heit besitzen und erwerben müssen, dass wir nicht als Veilchen
im Verborgnen blühen, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen
dürfen, soll zugegeben werden. Dass also ein gewisses Übermaß
an Selbstsicherheit eine Berufskrankheit werden kann, mag sein.
Darin liegt aber auch ein Vorzug, der eben das Volk ver-
anlasst — zum Ärger Herrn Scheidts — gerne gerade Advokaten
zu seinen Vertretern im Rate zu berufen, weil sie die Tugend des
70
sichern Auftretens haben. In diesem Puni<te verdienen wir also
Lob und Tadel.
Auch der Vorwurf der „Mundfertigkeit" mag vielfach zutreffen*
Leider aber ist die gute Seite der Mundfertigkeit — das Redner-
talent — keineswegs so weit verbreitet, dass wir als Stand dieses
Lob ohne Erröten in Empfang nehmen könnten, ihre schlechte
Seite dabei — die Suada ohne Gehalt — genügt wahrlich nicht,
um uns zu unserem Beruf und zum Parlamentarier tauglich zu
machen.
Wer nur „unbefangen" und „mundfertig" ist, wird in der
Konkurrenz elendiglich untergehen. Mit diesen beiden Eigenschaften
allein kann man nicht einmal einen noch so schlecht zusammen-
gesetzten Rat — und unserem Kantonsrat trauen wir doch etwas
besseres zu — beherrschen, geschweige denn einem Gericht ein
X für ein U vormachen. Höchstens vor Schwurgericht — wenn
zufällig lauter gänzlich unerfahrene Geschworene ausgelost werden
— lässt sich mit kecker Rede allein gelegentlich ein Erfolg er-
zielen.
Unter dem Publikum herrscht allerdings oft die irrtümliche
Meinung, das Verteidigen sei die einzige oder doch wenigstens
die hauptsächliche Tätigkeit des Anwalts. Ein schwerer Irrtum!
Gerade die beschäftigten Advokaten kommen verhältnismäßig selten
dazu. Die Zivilprozesse spielen im Anwaltsberuf eine weitaus
größere Rolle. Schon bei den Strafprozessen ist nicht die Rede
vor Gericht der wesentliche Teil der Anwaltsarbeit, sondern das
gewissenhafte Aktenstudium, das rasche und richtige Erfassen der
psychologischen Momente. Die Kenntnis der Psychologie des
Angeklagten sowohl als der Geschworenen, bringt den Erfolg.
Gelegentlich — wenn auch verhältnismäßig weniger häufig, als
der Fernstehende glaubt, ist es die gründliche Kenntnis der Ge-
setze, die den Ausschlag gibt.
Noch mehr aber im Zivilprozess, der meist einen weitaus
größeren Teil der Anwaltspraxis auszumachen pflegt, spielt die
stille Arbeit des Aktenstudiums, der Instruktionsaufnahme, und
hier auch in höherem Maße das Rechtsstudium die Hauptrolle,
und tritt die „Unbefangenheit" im Auftreten und die „Mund-
fertigkeit" gänzlich in den Hintergrund.
71
Ich behaupte, ohne diese vorbereitende Tätigkeit der Anwälte
wäre eine geordnete Rechtspflege überhaupt nicht möglich. Die
Herren Richter, (die von Herrn Scheidt verächtlich „Advokaten-
richter" benannt werden) die die stille advokatische Vorbereitungs-
tätigkeit zu schätzen wissen, sind sicher nicht die schlechtesten
und nicht die dümmsten. Sie wissen, dass es in verwickelten
Fällen dem Richter geradezu unmöglich, in einfacheren wenigstens
beschwerlich ist, den unvorbereiteten Prozeßstoff zu verarbeiten.
Gäbe es keine Advokaten, so müsste auch die vorbereitende
Arbeit von den Richtern selbst getan werden, und das wäre wohl
nur dann denkbar, wenn die Zahl der Richterstellen mindestens
um die halbe Zahl der vorhandenen Advokaten — also im Bezirk
Zürich allein ungefähr um 60 — vermehrt würde.
Ob aber der beamtete Richter-Advokat geeigneter wäre für
diese Tätigkeit als der freie Berufs-Advokat, das ist sehr zu be-
zweifeln. Herr Scheidt zieht doch anderorts auch die freie Berufs-
tätigkeit der „Bureaukratie" vor. Jedenfalls würde das recht-
suchende Publikum, wenn es unterlegen ist, nur noch auf Gericht
und Rechtspflege, auf den Staat und seine Beamten schimpfen
können, während es jetzt einen Teil seines Missvergnügens mit
Herrn Scheidt auf die Anwälte abladen kann.
Es mag sein, dass durch eine derartige Neuerung das recht
suchende Publikum eine gewisse Verbilligung der gesamten Pro-
zesskosten des Einzelfalls erzielen könnte, aber wohl kaum
ohne Abwälzung eines Teiles der Last auf die übrigen Steuer-
zahler, also durch eine Vermehrung der Staatslasten, ein Gedanke,
der ganz besonders Herrn Scheidt unsympathisch sein müsste.
III.
Dass neben der gerichtlichen Tätigkeit die Anwälte noch ein
sehr großes Arbeitsgebiet haben in der Beratung bei nicht strei-
tigen oder noch nicht streitigen Rechtssachen, ist allerdings einem
großen Teil des Publikums und ganz sicher Herrn Scheidt völlig
unbekannt.
Ich denke an die Rechtsgutachten, an die Aufsetzung und
Prüfung von Verträgen und Testamenten, die Ausarbeitung von
Satzungen für Vereine, Genossenschaften, Aktiengesellschaften, an
die Prüfung von Briefen in geschäftlichen Angelegenheiten oder
72
bei schwierigen Familienverhältnissen, die Rechtskonsulententätig-
keit in Industrie und Handel usw.
Ich möchte diese Tätigkeit an Umfang der Anwaltstätigkeit
vor Gericht gleich, an Wert weit höher einschätzen.
Wie der Arzt leichter eine Erkrankung durch zweckentsprechende
Maßnahmen verhindern als eine ausgebrochene Krankheit heilen
kann, ebenso ist es dem Anwalt leichter möglich, einem Streit
durch gute Verträge oder durch zweckentsprechenden Rat vorzu-
beugen als den ausgebrochenen Streit zu schlichten oder durch
Prozess für den Klienten zu einem günstigen Ende zu führen.
Wird rechtzeitig konsultiert, so gelingt es dem Anwalt mei-
stens, den Schaden für alle Interessenten abzuwenden.
In dieser prophylaktischen Tätigkeit des Anwalts liegt ihr
hauptsächlichster praktischer Wert.
Aber auch in der Tätigkeit vor Gericht haben wir Gelegen-
heit, wirkliche und ideale Werte zu schaffen, dann nämlich, wenn
wir die neuen Gedanken der Rechtsentwicklung zuerst als For-
derung hinstellen und auch durchsetzen, indem entweder der
Richter sich unsere Gedankengänge zu eigen macht, oder der
Gesetzgeber sich ihnen anschließt. Dann sind wir die Geburts-
helfer neuen Rechts.
Mit Rücksicht auf diese Tätigkeit sagt Benedikt^) vom An-
walte: „Dass er das werdende künftige, menschlichere Recht auch
gegen das gegenwärtige und deshalb fast immer veraltete, harte
Recht vertreten kann, erhebt seinen Beruf in dessen höchsten
Augenblicken über den des Richters."
Mit Rücksicht auf sie muss der Vorwurf, die Advokaten seien
„die unproduktivste und am Volk am meisten zehrende Klasse"
geradezu mit Entrüstung zurückgewiesen werden.
Den Beweis für seine kühne Behauptung bleibt Herr Scheidt
natürlich schuldig.
Warum sollen wir unproduktiver sein, als andere Berufs-
stände?!
Gewiss bauen wir kein Getreide und züchten wir kein Vieh.
1) Dr. Edmund Benedikt : Die Advokatur unserer Zeit. Demjenigen Leser,
der sich über die Lebensfragen des Anwaltsstandes näher unterrichten will,
sei das seit 1903 schon in vier Auflagen erschienene Büchlein bestens
empfohlen.
73
Aber das tut wohl auch Herr Scheidt nicht. Nach Form und In-
halt seines Artikels zu schließen dürfte auch er den akademi-
schen Ständen angehören. Die akademischen Stände aber, wenig-
stens die drei ersten Fakultäten und auch der überwiegende TeiJ
der vierten Fakultät (einzig die Chemiker vielleicht ausgenommen)
sind nicht Produzenten im engeren Sinne des Wortes.
Deswegen ist ihre Tätigkeit aber doch im gleichen Sinne
produktiv zu nennen, wie auch Herr Scheidt „die Armen- und
Schulausgaben, die Ausgaben für Straßen und Anstalten usw."
unter die produktiven Staatsausgaben rechnet.
So gut Wie der Arzt, der die Krankheiten des Körpers ver-
hütet und heilt, so weit seiner Kunst das möglich ist, so gut
dürfen auch wir Anwälte beanspruchen, als nützliche Glieder der
Menschheit eingeschätzt zu werden. Dürfen wir Anwälte doch
uns als Ärzte der sozialen Krankheiten fühlen. So wenig wie der
Arzt alle Krankheiten heilen oder verhüten kann, so wenig ge-
lingt uns das für alle soziale Schäden.
Wenn wir aber einen Kaufmann durch guten Rat vor dem
finanziellen Zusammenbruch retten, wenn wir dabei mithelfen»
den Mann einer verlassenen Frau, den Vater vernachlässigter
Kinder zur Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen, so leisten wir
eben so nützliche Arbeit wie der Arzt, der die Kranken heilt,
wie der Pfarrer, der die Trübseligen aufrichtet, wie der Lehrer,
der die Jugend fördert.
Wir brauchen also den Schimpf „unproduktivster" Arbeit im
Superlativ nicht auf uns sitzen zu lassen.
Wie aber will Herr Scheidt den Vorwurf begründen, dass wir
„am Volkswohl zehren"? Ich weiß wahrhaftig nicht, wodurch wir
ihn verdienen sollen.
Wir haben ja — im Gegensatz zu andern Staaten — keinen
Anwaltszwang. Zu uns kommt also nur, wer unsern Rat wirklich
braucht. Warum sollten wir ihn dem Heischenden vorenthalten?
Warum sollten wir nicht des Lohnes Wert sein, wie jeder andere
Arbeiter?
Ich glaube fast — Herr Scheidt — aus Ihnen spricht der
Neid! Sie glauben noch an das Märchen von den hohen Advo-
katenrechnungen und von den riesigen Einnahmen eines Rechts-
anwalts.
74
Ein Arzt, der mich in leidiger Sache konsultierte, und
den ich durch geduldige Unterhandlungen vor dem vollen Ruin
bewahren konnte, sagte mir einst, er begreife jetzt, warum die
Anwälte höhere Ansätze für die einzelnen Konsultationen haben
müssen als die Ärzte. Er könne in seiner Sprechstunde zehnmal
mehr Konsultationen erteilen und habe dann bei durchschnittlich
zwei Franken ungefähr zwanzig Franken verdient, die Konsul-
tationen bei mir hätten aber, obwohl er sich bemüht habe, sich
bei der Instruktion so kurz wie möglich zu fassen, meist eine
Stunde oder mehr Zeit beansprucht.
Er hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen.
Wenn wir nur nach unserer Taxordnung berechnen, und
wenn wir berücksichtigen, dass der Anwalt ein Bureau an guter
Lage mieten, dass er Hilfspersonal besolden, Literatur anschaffen
muss, Schreibmaterial, Schreibmaschine usw. usw. braucht, so
können wir sogar als voll und mehr als voll beschäftigte Advo-
katen lange nicht so viel verdienen wie einer der großen Ärzte,
wie ein Kaufmann in leitender Stelle.
Aus Oberrichterkreisen hörte ich kürzlich das Einkommen
eines beschäftigten Anwalts etwa dreimal so hoch einschätzen als
dasjenige eines Oberrichters. Ich glaube aber nicht zu übertreiben,
wenn ich behaupte, ein derartig hohes Einkommen kommt in
Zürcher Anwaltskreisen überhaupt nicht vor. Sollte es doch der
Fall sein, so verdient der betreffende Anwalt sein Einkommen
sicher nicht allein mit Anwaltstätigkeit, sondern etwa als Ver-
waltungsrat einer Großbank, eines Versicherungsunternehmens,
oder durch andere kaufmännische Betätigung.
Die eigentliche Anwaltstätigkeit — forensische und konsulta-
tive Praxis — ist bei dem niederen Anwaltstarif, den wir im
Kanton Zürich noch ;haben, sehr wenig lukrativ. Alle übrigen
größeren Schweizerstädte haben für den Anwalt weit günstigere
Ansätze, ganz zu schweigen von Plätzen wie Berlin oder gar
Paris und London.
Unter diesen Umständen ist es ein Unrecht, dem Anwaltstand,
der einen der aufregendsten und aufreibendsten Berufe ausübt —
wohl nur der chirurgische kann, was Nervenbeanspruchung anbetrifft
damit verglichen werden — vorzuwerfen, er zehre am Volkswohl.
75
IV.
Auch „zu wirklich fruchtbarer Arbeit für das Volle" soll der
Anwaltsstand „am wenigsten geeignet" sein.
Schon wenn man die Anwaltstätigkeit im engern Sinne be-
trachtet, so ist sie — als die ärztliche Tätigkeit bei Krankheiten
des sozialen Organismus, richtig ausgeübt natürlich — eine im
Interesse des Volkswohls äußerst segensreiche.
Das Verhüten von Streit — das Durchfechten des ausge-
sprochenen Streites bis zum Wiedereintritt des Friedens — ist
schon wirklich fruchtbare Arbeit für das Volk.
Niemand aber — als der Anwaltsstand — hat so tiefen Einblick
hinter die Kulissen des sozialen Lebens. Uns beichtet der Klient
reichlicher und aufrichtiger als dem Pfarrer.
Wir sehen die nackte Psyche des Kranken wie der Psychiater,
und des Gesunden mehr noch als er. Wir sind gezwungen, zu
raten und zu taten mit dem Techniker bei seinen Erfindungen,
mit dem Kaufmann und dem Industriellen bei seinen wichtigsten
Entschließungen.
Nichts, aber auch gar nichts Menschliches bleibt uns fremd.
Darum eignet sich auch kein Beruf so vorzüglich als Vor-
schule für das große Theater der Politik und der sozialen Kämpfe
wie der unsere.
Darum gehen so zahlreiche hervorragende Staatsmänner —
man denke an den derzeitigen Präsidenten der französischen
Republik, an den derzeitigen englischen Ministerpräsidenten —
aus dem Anwaltsstande hervor.
Nicht wegen ihrer „Unbefangenheit" und „Mundfertigkeit",
sondern wegen der vorzüglichen Schulung, die ihnen der Anwalts-
beruf gegeben hat, sind unsere sämtlichen sieben Bundesväter
ohne Ausnahme aus dem Anwaltsstande hervorgegangen.
Unsere Bundesversammlung scheint also die Ansicht Herrn
Scheidts, dass niemand so wenig wie die Advokaten zu wirk-
lich fruchtbarer Arbeit für das Volk tauge, nicht geteilt zu haben ;
sonst hätte sie wohl kaum nur solche an die hervorragendste
Stelle unseres Staatswesens gestellt.
Unser Zürcher Volk scheint in seiner Mehrheit sie nicht zu
teilen. Ich brauche nur an die jüngste Nationalratswahl zu er-
innern.
76
Natürlich : ein geborener Hohlkopf bleibt ein solcher,
auch wenn er den Anwaltsberuf ergreift und betreibt, und wird
im politischen Leben zum leeren Schwätzer.
Ein solcher wird aber auch in seinem Berufe keinen dauernden
Erfolg haben, und als Ratsmitglied nicht die Räte beherrschen,
sondern nur mehr schwatzen als die andern.
Ein solcher wird auch nicht fruchtbare Arbeit fürs Volk
leisten. Er versagt aber nicht deshalb — weil er — sondern
trotzdem er ein Anwalt ist.
Ist der Mann aus dem Holze, aus dem man Staatsmänner
schnitzt, dann wird ihm die Zugehörigkeit zur Kaste der Advo-
katen nur nützen können, denn nirgends kann er so gut lernen,
wie das Volk denkt, was es braucht, wo es der Schuh drückt.
Nirgends auch übt er die Eigenschaften, die der Staatsmann
braucht — rasches Erfassen — Schweigen am richtigen Ort —
Reden das richtige Wort — wie in der Schule der Anwaltspraxis.
KÜSNACHT Dr. FRITZ FICK
Rechtsanwalt
DDD
INDISCHE SPRÜCHE
Ist die falsche Meinung von der eigenen Person geschwunden und der
höchste Geist erkannt worden, so ist, wohin sich der Geist auch wendet,
die Andacht da.
»
Wer uns liebt, bleibt uns lieb, selbst wenn er uns Unliebes erweist — :
wer entzieht dem Feuer seine Achtung, wenn es ihm das Beste im Hause
verbrannt hat?
*
Gute Menschen gleichen heiligen Badeplätzen, da der Anblick, die Be-
rührung, die Erwähnung und das Gedenken jener wie dieser alles Unreine
entfernt.
Haben Menschen einen festen Entschluss gefasst, dann werden Götter
ihre Bundesgenossen.
Für die Familie opfere man einen, für ein Dorf opfere man die Familie,
für das Reich ein Dorf, für das eigene Selbst die ganze Erde.
Aus dem Insel-Almanach 1914. Übertragen von OTTO BÖHTLINGK
DDG
77
BARTHELEMY MENN UND
DIE SCHWEIZERISCHE KUNST
II.
Erst seit wenigen Jahren kann man wieder mit Berechtigung
von einer schweizerischen Kunst sprechen. In den Tagen der
Renaissance hat es eine solche gegeben, die sich von der Kunst
der Nachbarländer dadurch unterschied, dass in ihr das schwei-
zerische Volkstum mit seiner kriegerischen Wehrhaftigkeit und
seinem herb kräftigen Wirklichkeitssinn zu einem unverfälschten
Ausdruck gelangte. Trotzdem sich die Schweizer der in Italien
geschaffenen, intereuropäischen Formensprache der Renaissance
bedienten, hatten sie doch genug eigene Inhalte, um diese Formen
zu einer eigenen Sprache umzubilden. Seit jenen Tagen hat es
bei uns wohl namhafte Künstler, aber keine nationale Kunst mehr
gegeben. Was von einem Hoffmann, Liotard, Graff, Gleyre und
andern geschaffen wurde, gehört in die außerschweizerische Ent-
wicklungsgeschichte der Kunst.
Erst heute zeigt das Kunstschaffen unseres Landes wieder
Merkmale, die ihm ein eigenes Gepräge verleihen. Nach langer
Entfremdung ist endlich wieder der Zusammenhang mit dem Boden,
dem Volkstum, dem ererbten nationalen Kulturgrund gefunden
worden. Überraschend und erfreulich ist dabei die Wahrnehmung,
dass dieser Zusammenhang so tiefgreifend ist, dass die Verschie-
denheiten der Rasse und Tradition in den einzelnen Landesteilen
zurücktreten vor den gemeinsamen wichtigen Richtlinien dieser
Kunst.
Um diese Hauptlinien zu finden sind wir gezwungen, das
Kunstschaffen der jungen Schweizer Schule aus einer gewissen
Distanz zu betrachten, wobei Nebenerscheinungen und Detail-
schönheiten zugunsten des Gesamtbildes zurücktreten müssen.
Auch können bei einem solchen orientierenden Überblick die In-
dividualitäten nicht zur Geltung kommen, sondern nur die Ten-
denzen. Namen bedeuten hier nur Anhaltspunkte zur Verständi-
gung und die genannten sind Vertreter für Mitstrebende und
Ebenbürtige. Indem wir vom Objekt unserer Betrachtung Distanz
78
nehmen, schaffen wir uns die Mögh'chkeit, zugleich Grund und
Hintergrund wahrzunehmen, von dem unser Gegenstand sich
abhebt.
Wenn wir anfangen, die i^ünstierischen Erscheinungen des
neunzehnten Jahrhunderts, die der modernen Malerei vorange-
gangen sind, ihrer innern Zusammengehörigkeit nach zu ordnen,
so stellen sich unwillkürlich mehrere deutlich abzugrenzende
Gruppen ein.
Da ist zum Beispiel die stark verzweigte Familie der bürger-
lichen Genrebilder eines Toepffer, Girardet, Vautier, Anker, Grob
und anderer mehr. Diese Kunstgattung hat ihre Zentralen außer-
halb der Schweiz, besonders in Paris und Düsseldorf, und unsere
Genremaler verleugnen den Zusammenhang mit jenen Kunst-
schulen keineswegs. Jeder von ihnen hat sich zwar einen be-
sondern Stoffkreis ausgesucht; aber mit den lokalen und natio-
nalen Gegenständen ist noch keineswegs ein nationaler Stil ver-
knüpft. Von einem solchen kann bei dieser Gruppe nicht die
Rede sein.
Das selbe gilt von den schweizerischen Vertretern des Neu-
klassizismus. Dieser anti-nationale Stil ist vom „Empire" den
Akademien vermacht und durch diese eigentlich bis heute fortge-
führt worden. Es ist nicht nötig, hier Namen zu nennen, denn
in jeder Kunstsammlung begegnen wir wenigstens einem unter
diesen neunundneunzig Gerechten.
Einen Gegensatz zum Klassizismus, wenn auch keinen trium-
phierenden, bildet die kleine Gruppe von Künstlern, welche man
in Genf ,,notre ecole du paysage alpestre" genannt hat. Zu Diday
und Calame, den Herolden dieser Richtung, gesellen sich im Jura
Maximilien de Meuron, in der deutschen Schweiz der originelle
Vorläufer Huber, und nach ihm viele kleine Mitarbeiter auf dem
zur Mode und zur Industrie gewordenen neuen Stoffgebiete.
Sollten wir vielleicht in dieser Gruppe die Anfänge einer nationalen
Kunst erblicken?
Das Lob, die Kunst zur Heimat zurückgeführt zu haben, ist
diesen Malern öfters gespendet worden; aber es hat nicht Geltung
in dem besonderen Sinn, den wir heute dem Begriff einer natio-
nalen Kunst beilegen. Ohne ihre patriotischen Qualitäten schmälern
zu wollen muss doch gesagt werden, dass es jenen Malern durch-
79
gehends an der künstlerischen Schulung fehlte, fdie nötig ist, um
einen Stil zu begründen. Sie ersetzten die tiefere Einsicht durch
Geschicklichkeit, Manier, Routine. Den kurzen Ruhm, den sie
geerntet haben, verdanken sie ihrem Aufblick zu den Höhen,
ihren neuen, oft nicht ohne Mühsal zu erreichenden Motiven.
Sobald diese aufhörten, neu zu sein und zu interessieren, musste
auch ihre Kunst fallen; denn sie war nicht entwicklungsfähig.
Verheißungsvoller sind jene Erscheinungen in der Landschafts-
malerei, welche auf einen Zusammenhang mit der großartigen
Bewegung hinweisen, die in Frankreich, von Fontainebleau aus-
gehend, zu einer Erneuerung der Landschaftskunst geführt hat.
Wenig bekannte kleine Studien von M. de Meuron, Skizzen von
Leon Berthoud und P. de Salis, die Landschaften von Mann,
Fröhlicher, Buchser und mancher anderer zeigen das reizvolle
Schauspiel einer Neuorientierung der Kunst. Von akademischen
Traditionen sich lösend, tastet der Maler zur Natur zurück, und
indem er vom Kleinen zum Großen, vom Begrenzten zum Un-
begrenzten vordringt, tun sich immer neue Möglichkeiten des
Schauens vor ihm auf.
Dies sind ungefähr die Fäden, welche das Gewebe schwei-
zerischen Kunstschaffens bilden, bevor eine selbständige Richtung
einsetzt. Von einer Einheit der Bestrebungen kann natürlich
nicht die Rede sein, ebensowenig wie von einem einheitlichen
Resultat.
Im letzten Drittel des Jahrhunderts jedoch vollzog sich an
zwei Punkten eine zentralisierende Bewegung. Die Anziehungs-
kraft ging von zwei Persönlichkeiten aus, die verschiedener nicht
gedacht werden können. Die eine stammte aus der nordwest-
lichen, die andere aus der südwestlichen Grenzstadt der Schweiz.
Arnold Böcklin brachte Leben in die Kunst des nördlichen Landes-
teiles; Barthelemy Menn organisierte die strebenden Kräfte der
Westschweiz. Böcklin wirkte durch sein Beispiel, Menn durch
seine Lehre. Beide galten als Revolutionäre und hatten gegen
die Freunde der Tradition schwere Kämpfe auszufechten. Böcklin
setzte sich durch, dank seiner beschwingten Phantasie und robusten
Schöpferkraft. Menn, der bedachtsamere, überlegte, zog sich vom
Kampfplatz zurück und wirkte in der Stille in langjähriger Lehr-
tätigkeit.
80
Böcklin ist für die Kunstentwici<lung ein Ereignis geworden,
weil in seinen Bildern die Farbe wieder eine eigene Sprache redet,
weil dieses wesentliche Ausdrucksmittel der Malerei bei ihm wieder
die Geltung erlangte, die ihm gebührt und die es durch den
Akademismus eingebüßt hatte. — Wer hat Delacroix fortgesetzt?
Wer hat, wie jener Romantiker der Kunst, den Versuch gemacht,
das Leben der eigenen Seele unmittelbar durch den Stimmungs-
wert der Farben zum Ausdruck zu bringen? Keiner hat dieses
Programm mit so ausschlaggebender Kraft und Einseitigkeit durch-
geführt wie der Neuromantiker Böcklin. Für ihn wurde die
Farbe wichtiger als die Form. Farbenphantasien riefen in ihm
Gestalten wach, Fabelwesen, Elementargeister, Halbgötter, die nur
in der erhöhten Wirklichkeit seiner Landschaften ein natürliches
Dasein führen konnten. Um der Farben willen gleiten und zap-
peln beschuppte Najaden die Klippen auf und nieder und spiegeln
im glatten Fischleib den Farbensprühregen der zerstäubenden
Brandung. —
Die Farbe diente Arnold Böcklin in der Hauptsache seine
Gefühle, seine Stimmungen und seine Erlebnisse in Bilder zu
verwandeln. Die äußere Natur bot ihm nur Anregungen und
den Rohstoff, aus dem er seine eigene Welt formte und belebte.
Die Natur gab Meere, Inseln, blühende Frühlingswiesen; aber die
Insel der Toten und die Gefilde der Seligen fand er im eigenen
Gemüt. Bei Böcklin ist die Landschaft nicht ein Ausschnitt aus
der Natur, sondern die Heimat einer Seele, die Trägerin einer
Stimmung, also ein Ausschnitt aus der Welt des Gemüts.
In einer seiner Landschaften sehen wir zwischen den hoch-
getürmten Felsen einer düstern Schlucht eine Nymphe, die traum-
verloren ihre Finger über lange goldne Saiten gleiten lässt. Man
kann sagen, dass in jeder Böcklinschen Landschaft Saiten der
Seele gespannt sind, die unter unsichtbaren Händen aufrauschen
in klingenden, farbigen Akkorden. Nicht immer trifft die Harfnerin
den reinen Ton ; manchmal gleitet sie sorglos über eine Dissonanz
hinweg, oder sie lässt statt eines Mezzoforte ein Fortissimo er-
tönen. Aber ihr Lied klingt, man lauscht und kann es nicht
wieder vergessen.
Viele junge Künstler wurden durch Böcklin angeregt, aus dem
Geist der Farbe heraus zu gestalten und aus der sichtbaren Welt
81
eine Welt des Gemüts zu schaffen. Böcklin war ein Pfadweiser
für manchen, dem die Wirklichi<eitsmaierei die künstlerische
Schwungkraft zu lähmen drohte. Aber er bedeutete anderseits
eine Gefahr für die junge Generation. Noch 1896, bei Besprechung
einer Münchner Ausstellung, klagt K. Endeil über „Böckliniaden
schlimmster Sorte". Böcklins Phantasiekunst konnte verführen;
aber führen konnte sie nicht. Die Klugen unter seinen Verehrern
haben denn auch bald eingesehen, dass man sich keine Phantasie-
kraft ausleihen kann, und dass es zum Fliegen nach Böcklinscher
Weise eines tüchtigen Rüstzeuges bedarf; so sind denn auch die
meisten nach kurzem Farbenrausch zur gründlichen technischen
Vorarbeit und zur eigenen Fährte zurückgekehrt. Was aber die
deutsche Kunst durch die Berührung mit Böcklin gewonnen hat,
das kommt uns wohl zum Bewusstsein, wenn wir vor Werken
etwa von Stuck, Erler, Modersohn und mancher anderer uns dem
Farbenzauber überlassen, der von dieser Phantasie- und Märchen-
kunst ausgeht.
Die schweizerische Kunst verdankt Böcklin einerseits die An-
regung zur Stimmungslandschaft, die bis heute, besonders in der
Graphik, wirksam geblieben ist, und andernteils die Freude am
Farbigen, Leuchtenden, an der Märchenpracht. Mit Böcklins Hilfe,
aber aus eigenem Gemütsreichtum schöpfend, hat besonders Albert
Welti am farbigen Poem weitergedichtet und ihm ein paar Meister-
stücke hinzugefügt, die zum Wertvollsten gehören, was die schwei-
zerische Malerei hervorgebracht hat. Welti hat die Kunst um ein
wichtiges Moment bereichert, das Böcklin nicht kannte; das farben-
frohe Volkstum, die Heimatkunst, der Geist der Sage haben in
seinen Bildern und radierten Blättern eine selige Auferstehung
gefeiert. Welti, der sinnige alemannische Fabulierer, führt wie
Böcklin über die Wirklichkeit hinaus ins Land der Träume.
Dieser Kunst mit ihrem stark hervortretenden Gefühls- und
Phantasieeinschlag stellt die Westschweiz eine man könnte sagen
„positivistische" Malerei entgegen, die mit großer Konzentration
auf die optische Wirklichkeit eingestellt ist, diese in ihrer Ganz-
heit erfassen will, und die nur so weit über das zufällige Natur-
vorbild hinausgeht, wie nach menschlichem Wissen und Erfahrung
die Natur selbst gehen könnte. „Une oeuvre d'art est la nature
82
reussie," sagte Menn und umschrieb damit das Programm dieser
Kunst. Realistisch darf man sie trotz dieses Ausspruches nicht
nennen; denn es kommt dem Künstler nicht in erster Linie auf
die Illusion der Wirklichkeit an, und das Gegenständliche spielt
bei Ihm eine im Grunde recht geringe Rolle. Sein Ziel ist
vielmehr ein rein künstlerisches: er sucht die Zusammenhänge
der Erscheinungen, das was zwischen den Dingen ist, zu fas-
sen und den Beschauer an Hand des Sichtbaren in die Sphäre
der unendlichen Beziehungen einzuführen. Dies erreicht er auf
dem Wege einer intimen Beobachtung, einer weitgehenden Analyse
und Synthese des optischen Eindrucks. Das Ich wird nur Auge,
es geht auf im Schauen, es verliert sich im Objekt. Auch in
dieser Kunst dominiert die Landschaft, denn sie bietet die Mög-
lichkeit des weitesten Schauens. Hier dagegen denkt der Künstler
nicht daran, die Landschaft umzugestalten zu einer Behausung
und Heimat für seine Stimmungen; aber er macht aus ihr, dank
seinem klaren Schauen, einen tastbaren Weg, der in die unbe-
kannte Heimat weist. Das Ich will sich hier nicht selbst sehen
und genießen, wie in der nördlichen Stimmungskunst, sondern
es trachtet darnach, aufzugehen im Weltgefühl. Der germanische
Dualismus der nördlichen Gruppe, mit seinen Kontrasten und
seiner lebensteigernden Willkür, wandelt sich hier um in den aus-
geglichenen, Mensch und Welt versöhnenden Monismus.
Ein Unterschied besteht auch für die Farbe. In der Um-
gebung Böcklins hat die Farbe Selbstwert, „Eigenausdruck", wie
man es heute nennt. In der welschen Ecke dominiert die kühle,
abstrakte Linie; die Farbe hingegen hat hier nur so viel Aus-
druckswert als ihr in der Natur selbst zukommt. Eine Morgen-
landschaft flimmert in silbergrauen Tönen, nicht weil die Gemüts-
verfassung des Künstlers die farbenmatte Enthaltsamkeit verlangt,
sondern weil sie dem Morgen zukommt. Der französische Künstler
wird wunschlos der großen Natur gegenüber und verlangt nicht,
sie zum Spiegel seiner eigenen Seele zu machen. Natürlich wird
sie dessen ungeachtet doch zum Spiegel seines Ich, und die nach-
haltige Wirkung auch dieser Werke beruht auf den seelischen
Emotionen, die in die Arbeit des Pinsels eingeflossen sind. Auch
hier entstehen Kunstwerke nur dadurch, dass ein Geschautes zum
seelischen Erlebnis wird. Aber das Verhältnis zwischen Objekt
83
und Subjekt ist ein anderes als in der Böcklinkunst und in der
deutsciien Stimmungsmalerei.
Mit dieser Trennung der schweizerischen Kunst aus der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in zwei Gruppen,
die verschiedene Zentren haben und ihrem Wesen nach ausein-
anderstreben, soll bloß eine Orientierungslinie gezogen werden.
Diese hat natürlicherweise mehr oder weniger den Charakter
einer Abstraktion und beansprucht bloß schematische Richtigkeit.
Sobald wir den Einzelerscheinungen näher treten und sie in ihrer
Entwicklung verfolgen, sind wir genötigt, jede Stelle des Schemas
zu modifizieren, etwa wie der Zeichner bei einer bewegten Figur
anfänglich nur die Richtungsaxen angibt, um diese nachträglich
mit allen organischen Modifikationen zu umkleiden.
Unser Richtungsschema ergab bis dahin für die schweizerische
Kunst die folgenden Hauptlinien : zuerst zeigte sich ein Neben-
und Durcheinander der verschiedensten Strömungen — Pariser und
Düsseldorfer Genre, akademischer Klassizismus, heimische Alpen-
malerei und Vorboten der neuen in Frankreich erweckten Land-
schaftskunst — , im ganzen ein eher schwerfälliges und zusammen-
hangloses Sichbetätigen der künstlerischen Kräfte. Dann traten
zwei Revolutionäre auf, Böcklin und Menn, die Bewegung und
Selbstbesinnung brachten und schlummernde Kräfte weckten. Im
Laufe ihrer Tätigkeit kam Richtung in unser Kunstleben; der
Selbständigkeitstrieb erwachte; die Schweiz war nicht mehr, wie
am Anfang des Jahrhunderts, bloß ein Ziergärtlein ausländischer
Kunstableger.
Werfen wir nun einen Blick auf die Malerei der Gegenwart,
so treten die bisher geschilderten Situationen in den Hintergrund;
die Trennungslinie zwischen Norden und Süden verschwindet, die
Gegensätze erscheinen ausgeglichen. Statt zweier Richtungen
sehen wir nur noch eine Hauptrichtung, und an Stelle der alten
Führer ist eine neue führende Persönlichkeit aufgetreten: Ferdi-
nand Hodler.
Hodler ist seiner Herkunft nach Deutschschweizer; seine
künstlerische Wegleitung hingegen fand er in Genf. Schon diese
äußern Lebenstatsachen können als günstige Bedingung für seine
spätere vermittelnde Führerrolle angesehen werden. Hodler ver-
einigt in der Tat kraftvolle deutschschweizerische Eigenart mit
84
einem Formempfinden, das ohne Berührung mit romanischem
Wesen kaum eri^iärbar wäre. Was Hodler an Stilgrundlagen in
der Mennschule vorfand, dürfte aus dem ersten Teil dieser Arbeit
genugsam hervorgegangen sein. Es erübrigt jetzt noch, zu zeigen,
was er an Eigenem hinzugetan hat, wie er die vorhandenen Grund-
mauern ausgebaut und in die Höhe geführt hat.
Zwei Elemente sind es vor allem, die uns in Hodlers Kunst
als wesentlich auffallen, nämlich der Rhythmus in Linie und
Komposition und die dekorative Bedeutung der Fläche.
Der lineare Rhythmus spielte bereits in Menns Lehre eine
bedeutende Rolle; aber zur Tat geworden ist er erst durch Hodler.
in den Werken Hodlers wird das Handeln und Wandeln der
Menschen zu rhythmischen Bewegungen. Ihre Arbeit wird Takt-
maß, ihre Empfindung Einklang und Gleichklang. Selbst die
Landschaft verwandelt sich in einen Reigen verwandter Formen.
Durch den Rhythmus wird das innere Leben und Wachstum von
Menschen und Pflanzen, aber auch von Seen und Bergen in Form
verwandelt und sichtbar gemacht. Figuren, wie der Holzhauer,
mit seiner taktmäßigen, lebendigen Silhouette, lehren uns erst ver-
stehen, was Menn gemeint hat, als er vom Wechsel der Längen
und Kürzen sprach. — Der Rhythmus gibt Leben und zugleich
Ordnung; er hat die wunderbare Eigenschaft, eine Bewegung
permanent zu machen, indem er durch das eine Taktmaß die
Phantasie zu unendlicher Wiederholung anregt; er vermag also,
Stabilität durch Bewegung auszudrücken und in die vergängliche
Erscheinung eine unvergängliche Melodie einfließen zu lassen.
Die rhythmischen Elemente, die bei Hodler zur höchsten
Entfaltung gelangt sind, finden sich in verschiedenen Graden und
Arten in zahlreichen Werken der jungen Schweizer Schule. Ganz
eigenartig und hoch gesteigert sind sie in den letzten Bildern von
Hermenjat, dem „Mäher" zum Beispiel, dessen Silhouette sich
wunderbar in eine impressionistisch empfundene, lichtüberstrahlte
Landschaft einfügt. Durch diese Verbindung des linearen Ele-
mentes mit impressionistischer Lichtmalerei entsteht bei Hermenjat
eine neue Bildart, die von der Hodlerkunst innerlichst verschieden
ist, die aber wie jene das Gepräge des Stiles trägt.
Der rhythmische Gedanke hilft unsern La/z^scÄa/Z^r/z die schwei-
zerische Gebirgsnatur neu und endlich einmal künstlerisch gestalten.
85
Die Bildnis maierei erhält durch die Betonung der Silhouette
eine Konzentration und dekorative Wirkung, die sie seit Holbein
vermissen ließ.
Und wo Motive der Sittenschilderung aufgegriffen werden,
wie etwa in Würtenbergers Knechtekammer ^) oder in Bildern von
Boss und Buri, da werden sie durch die bedeutsame lineare und
farbige Darstellung des Gegenstandes weit über die gewöhnliche
Genremalerei emporgehoben und wirken nicht vorwiegend durch
das Motiv, sondern durch den Stil.
Als ein anderes wichtiges Formelement der Hodlerkunst
nannten wir die dekorative Wertung der Fläche. Durch die Be-
tonung der Fläche innerhalb der linearen Bildkomposition ist
Kodier von der raumbildenden Kunst Menns — die in seinen
frühen Landschaften noch stark anklingt — zu einer raumaus-
schaltenden monumentalen Flächenkunst gelangt. Er berührt sich
in dieser Tendenz mit einem Wollen, das sich auch außerhalb der
Schweiz in den wichtigsten Kunstzentren einen Ausdruck schafft,
und dem unter andern die Namen van Gogh, Cezanne, Matisse
zu Stützpunkten dienen. Bei uns hat diese Richtung auch in einer
abseitsstehenden Basler Gruppe und in dem farbenfreudigen Ex-
perimentator Cuno Amiet weitere Vertreter.
Dieses Intereuropäische Kunstwollen bedeutet eine wahre
Revolution In der Malerei. Die Eroberung der Fläche ist ihre
wichtigste Aufgabe. Sie bringt eine ideale Räumlichkeit an Stelle
der Raumillusion. Die Individuen und Sachen erscheinen, losge-
löst aus den Wirklichkeitszusammenhängen, in einer erhöhten
Bedeutsamkeit. Sie sind nicht mehr determiniert von allen Seiten,
sie ragen und streben ins Absolute. Das Bild wird inhaltlich und
formal zu einem ganz neuen Organismus.
Diese Evolution ist heute mitten im Werdeprozess. Wir stehen
an dem Punkte, wo die Fäden, die die Vergangenheit gezettelt,
noch nicht ganz vom neuen Einschlag überwoben sind. Nirgends
aber, so scheint mir, vollzieht sich der Übergang organischer
nach Gesetzen gesunden Wachstums, als gerade in der Schweiz.
1) Abbildung mehrerer hier in Betracht kommender Bilder in Schweizer
Maler, herausgegeben von Langewiesche. — A. Lanicca, Barthelemy Menn.
Eine Studie. Verlag Heitz, Straßburg i. E.
86
Ein Blick auf Frankreich zeigt deutlich den Unterschied und die
Eigenart unserer Entwicklung, in Paris, wo der Impressionismus
bis in seine äußerste Konsequenz durchgeführt wurde, musste er
zur Auflösung und Verflüchtigung aller Form und schließlich zur
Selbstzerstörung führen, die er im Neo-Impressionismus denn
auch tatsächlich erlebt hat. Der Selbsterhaltungstrieb der Malerei
griff deshalb nach einem Mittel, um die impressionistischen Farben-
und Lichtatome, um diese Punkte, Quadrate und Stäbchen, in
die sich alles Gegenständliche aufgelöst hatte, wieder zu körper-
lichen Gebilden zu sammeln. Die Malerei sollte wieder Linien-
und Flächenkunst werden. Da man aber um keinen Preis in
einen gegenständlichen Realismus zurückfallen wollte, griff man
zur Abstraktion geometrischer Gebilde. Der Kubismus braucht
freilich den Tadel banaler Realistik nicht zu fürchten, entbehrt
aber auch die Annehmlichkeit, verständlich zu sein. Es ist wirk-
lich ein interessantes Schauspiel, die neuesten artistischen Ten-
denzen zu verfolgen, die in knappen Zeiträumen einander drängen
und ablösen. Alle, wie sie immer heißen mögen — Kubismus,
Expressionismus, Futurismus — , sind kurzlebig; alle tasten in die
äußersten Grenzgebiete des Möglichen, und allen liegt das Be-
streben zu Grunde, durch Elemente einer höhern Ordnung über
den Stoff zu triumphieren. Der Umstand, dass die neuesten
Kunstmittel außerordentlich willkürlich und nicht tief im Wesen
der Malerei verankert sind, bedingt ihre kurze Dauer. Um in einer
traditionslosen Zeit, wie die unsrige in Bezug auf Kunst es ist,
einen Stil zu begründen, bedarf es langer Mühen und einer For-
scherarbeit, wie die Altmeister Alberti, Leonardo und Dürer sie
leisteten, die ebenfalls in ihrer Zeit eine neue Tradition schaffen
wollten und schufen. — Wo im neunzehnten Jahrhundert solche
orientierende Forscherarbeit geleistet worden ist, sei es im
Kreise von Marees und Hildebrand, von van Gogh, Cezanne
oder wo immer, da ist fester Grund gewonnen worden, auf
welchem stetig weitergebaut wird, unbeschadet aller wechselnden
Kunstmoden.
Auf einem solchen Grund steht auch die junge Schweizer
Schule; die Forscherarbeit aber, die der Begründung einer Schule
vorangehen musste, wurde in Genf von Barthelemy Menn ge-
leistet. Die Erkenntnisse dieses „Judicieux", wie George Sand
87
ihn nannte, haben unsere Kunst vor den Extremen des Impres-
sionismus wie vor den verwunderlichen Reaktionen gegen ihn
bewahrt und ihr ein normales Wachstum gesichert.
Mit diesen Tatsachen dürfte die historische Bedeutung Menns
und seine Stellung zur modernen Schweizerkunst in den Haupt-
zügen wenigstens zum Ausdruck gebracht worden sein.
WIEN ANNA LANICCA
□ DD
29. Mai 1886.
Dass Sie so verparisert sind, ist ein rechtes Glück für Sie, nur wäre
zu wünschen, dass nicht gar zu schlimme Hände das Schicksal der Stadt
und ganz Frankreichs in ihre Gewalt bekämen. Es kann eben auch in
Paris passabel unleidlich werden, wie freilich vielleicht auch hier in Basel.
Doch rechne ich für mich so: wenn es hier ganz schlecht würde, so würde
es auch in allen andern für mich und mein Greisenalter bewohnbaren Städten
kaum besser sein. Wenn aber nur von gewöhnlichen Zeiten die Rede sein
soll, so bin ich über die Illusion hinaus, als ob die Menschen hier besser
oder schlimmer wären als dort. NB. Vor wenigen Tagen habe ich mein
neunundsechzigstes Jahr angetreten.
Was die Salons betrifft, so kann man sich ja in den Feuilletons gegen-
wärtig kaum retten; wo Euer Pariser Salon aufhört, fängt die Berliner
Riesenausstellung an. Wie friedlich kann man leben, wenn man gar nichts
liest. Gerne hätte ich die Exposition Baudry gesehen, denn für diesen Maler
habe ich Sympathie, seit ich vor langen Jahren seine Venus mit Amor im
Luxembourg gesehen und später seine Malereien in der Oper und anders-
wo. Seine Weibsleute sind vornehm und doch sans pretention ; es ist der
Maler, der mich wirklich an Paolo Veronese erinnert, während so Unzäh-
lige gerne an ihn erinnern möchten und nicht können. Wenn doch nur ein
Pariser Verleger auf die Idee käme, eine wohlfeile Edition aller Komposi-
tionen Baudrys, in Kontur oder leicht schattiert, unter die Leute zu bringen.
Denn er hält den Kontur aus, und heute hat man ja ohnehin alle möglichen
Methoden, die Zeichnungen zu faksimilieren.
Herausgegeben von Hans Trog Jakob Burckhardt,
Verlag Georg Müller und Eugen Briefe an einen Architekten
Rentsch in München
ODD
88
EINE PHILOSOPHIE DES LEBENS
HENRI BERGSON
Vor allem Denken liegt das Leben. Keiner weiß, wie lange
sein schöpferischer Wellenschlag durch das All schlug, bevor ihm
an einem Punkte seines Werdeganges leuchtend der prome-
theische Funke des Denkens entsprang. Und so sehr dieses
seinen Eigenwert gewonnen und seine eigenen Gesetze sich ge-
schaffen hat, irgendwo hängt es doch mit dem Leben als seiner
Bedingung zusammen und zielt wieder darauf hin, um es zu er-
leuchten und zu leiten. Wo dieser Zusammenhang vergessen
wurde, da richtete eine abstrakte Scholastik ihr trostloses
Reich auf. Wo das Denken sich gebärdete, als ob es jenem
Nährboden für immer entwachsen wäre, da verfielen seine Ge-
bilde der Erstarrung oder entbehrten doch jener zeugenden Kraft,
die aus dem Schöße des Lebens wieder Neues hervorrief. Wo
das Denken nicht mehr weiter kam und sich an unlösbaren
Widersprüchen feststieß, half so oft das Leben selbst weiter, in-
dem es wie eine Flut sich höher hob und mit neuen Schöp-
fungen, Fragen und Problemstellungen das Schiff wieder flott
machte und neuen Zielen entgegen trug. Wer sich in den Eis-
wüsten einer lebensfremden Abstraktion verlor, wird immer wieder
die Berührung mit dem wirklichen Leben suchen müssen, wenn
er auf die Dauer nicht irre gehen will. Zurück zum Leben ! er-
tönt es dann immer wieder, wenn eine Fragestellung, ein Problem
zu Tode gehetzt worden ist und weitere Antworten verweigert.
Diesen Ruf erhebt in der heutigen Zeit kein Zweiter so ein-
dringlich und leidenschaftlich wie der Franzose Henri Bergson.
Diese Zeitschrift hat bereits einmal von ihm gesprochen und
seine Bedeutung für die sozialen Theorien hervorgehoben^). Hier
soll eine kurze Darstellung seiner Gesamtphilosophie versucht
werden. Es kann sich dabei nicht darum handeln, in einer Zeit-
schrift, die keinen philosophischen Fachinteressen dient, eine voll-
ständige systematische Darstellung zu geben. Wer eine solche
^) E. Antonelli : Bergson et le mouvement social contemporain. Bd. X
Seite 627, 809, 1. August und 15. September 1912.
89
sucht, findet sie leicht in der bereits stark angeschwollenen Li-
teratur über Bergson ^).
Es geht auch nicht an, eine historische Entwicklung seiner
Gedanken zu geben. Ich werde mich darauf beschränken, das
Wesentliche seiner Philosophie um ein paar Hauptgedanken zu
gruppieren, um in einem Schlussteil die Stellung dieser bedeu-
tenden philosophischen Leistung in der Geistesbewegung unserer
Zeit zu bestimmen und kritisch ihre Bedeutung für uns abzuwägen.
DAS UNMITTELBARE ERLEBNIS
Was Leben ist, wird am unmittelbarsten im eignen Ich be-
lauscht. Dort sind wir den Quellen des Lebens, soweit sie uns
überhaupt zugänglich sind, am nächsten. Aber wenn wir das
Leben wirklich in seiner Unmittelbarkeit erfassen wollen, müssen
wir hinter die Bearbeitung zurückgehen, die die Sprache, die Ge-
wohnheiten und die Wissenschaft an ihm ausgeübt haben. Die
räumliche Einordnung, die Fassung in Worte, die praktischen
Zwecke und gar die Begriffe, mit denen wir das Leben auszu-
drücken suchen, sind schon Kleider, die die nackte Ursprünglich-
keit des unmittelbaren Erlebnisses verhüllen. Vor diesem allem liegt
das Unmittelbare so wie es als neugeborne Quelle aus der Wirklichkeit
hervor quillt. Es in diesem Werdeaugenblick zu fassen, in dem
das Zucken des Lebens und der Blitz des Erkennens in einem
beschlossen sind, ist die erste Aufgabe. Sie gelingt nicht dem
nachhinkenden Denken und nicht der Wissenschaft, sondern nur
einer Art direkter und plötzlicher Vision, wie sie die Gnade des
Künstlers ist. Was fassen wir denn nun, wenn es uns gelingt,
alle die Gefässe, mit denen wir gewöhnlich das Erlebnis aufzu-
schöpfen suchen, bei Seite zu legen, und es gleichsam so auf-
zunehmen, wie der Hirtenknabe den Quell unmittelbar mit seinem
Munde trinkt?
Ein Beispiel wird die Frage deutlicher machen: Was ist
eigentlich das reine und unbearbeitete Erlebnis, wenn ich etwa
^) Ich nenne nur Le Roy, Une Philosophie nouvelle, dann die Dar-
stellungen seiner Philosophie durch Giliouin, Qrandjean und andere; im
Deutschen: Steenbergen, Bergsons intuitive Philosophie Goldstein in den
Wandlungen der Philosophie der Gegenwart, Kroner im Logos, Bornhausen
in der Zeitschrift für Theologie und Kirche und einschlägige Artikel in bei
nahe jeder philosophischen Zeitschrift.
90
träumend unter einem Baume liegend plötzlich durch einen kra-
chenden Blitzschlag aufgeschreckt werde? Nach dem allerersten
überwältigenden Augenblick fahre ich auf, um mich aus der Ge-
fahr des Baumes zu bringen. Das Erlebnis löst also sofort einen
motorischen Akt in mir aus und treibt mich zu einem Handeln.
Ich suche mich in dem verwirrenden Durcheinander von Zuständen
zu orientieren. Ich nenne das Erlebnis und füge es damit andern
ähnlichen frühern ein, die als Erinnerungen sofort wieder auf-
steigen, mich beruhigen und mir eine Herrschaft über das un-
erhörte Neue geben. Ich zerlege es unwillkürlich in ein
Innen und ein Außen, mache eine Ursache und eine Wirkung
daraus, versetze jene an den Himmel in die Gewitterwolke und
diese als ein Gefühl in meine Seele; ich weise ihm also seinen
Ort an. Rasch berechne ich vielleicht die Entfernung der Ursache
und die Heftigkeit der Wirkung und überliefere dann das Erleb-
nis weiterer Bearbeitung und Klassifizierung, indem ich vielleicht
an die Theorien über das Gewitter denke oder die allgemeine
ästhetische Stimmung erfasse, in die es eingebettet ist. Machen
wir uns nun klar, dass das alles erst nachträgliche Überarbei-
tungen des ursprünglichen Erlebnisses sind, das vor ihnen liegt!
Die motorische Wirkung, die Einordnung in das Sprach- und
Begriffsschema, die Verknüpfung mit frühern Erinnerungen, die
örtliche und zeitliche Datierung und zuletzt die wissenschaftliche
Prüfung und Begutachtung sind nicht das Ursprüngliche, sondern
das Spätere. Es sind dies künstlerische und technische Handgriffe,
Bearbeitungen, durch die wir das Erlebnis für die Mitteilung und
den Gebrauch zurecht machen. Im eigentlichen Erlebnisaugenblick,
so kurz er auch sei, weiß ich nichts von allen diesen Schemata,
in die sein Inhalt gleich nachher automatisch eingeordnet wird.
Es ist viel mehr eine einzige gewaltige Erschütterung, ununter-
schieden, ohne ein Drinnen und ein Draußen. Ich weiß nicht,
ob es in den Baum oder in den Körper eingeschlagen hat,
Lichterscheinungen und Gefühlszustände wirbeln toll durchein-
ander. Frühere ähnliche Erlebnisse sind im Nu herbeigerissen und
verschmelzen sich mit der gegenwärtigen Erschütterung zu einem
einzigen und unteilbaren Ganzen. Wahrnehmungen, Empfindungen,
Gefühle, Befürchtungen, Strebungen, Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft durchdringen sich gegenseitig unlösbar und bilden
91
gerade in ihrem zuckenden Durcheinander den Reiz und die
souveräne Macht des unmittelbaren Erlebnisses.
Was hier an einem Beispiel gezeigt worden ist, gilt für alles
Erleben, das ganz etwas anderes ist als seine begriffliche und
wissenschaftliche Erfassung und Ordnung. Es ist ein beständiger
Wechsel von Zuständen. Sie sind einer im andern enthalten und
lösen sich einer in den andern auf. Eine Luftwelle bringt einen
Blumenhauch daher und in ihm schwimmt die süßeste Erinne-
rung an vergangene Zeiten mit. Ein stilles, großes Leuchten trifft
mein Auge und verschmilzt mit der höchsten und edelsten Sehn-
sucht des Herzens. Die Erlebnisse treten nicht einzeln auf, son-
dern sie sind ein ununterbrochener Fluss des Geschehens; „es
ist eine Folge von Zuständen, von denen jeder anzeigt, was folgt,
deren jeder enthält, was ihm vorangeht. Tatsächlich bilden sie
erst verschiedene Zustände, wenn ich sie schon hinter mir habe
und wenn ich mich zurückwende, um ihre Spur zu beobachten.
Während ich sie empfand, waren sie von einem gemeinsamen
Leben so fest organisiert, so tief beseelt, dass ich nicht hätte
sagen können, wo der eine endet und der andere beginnt." Erst
unsere nachträgliche Betrachtung trennt sie und reiht sie als ein-
zelne an einander wie die Perlen auf einer Schnur. Aber auch
dieses Bild sagt schon wieder zuviel, als ob es sich im Erleben
um Quantitäten handelte. Alles Quantitative ist ausgeschlossen,
alles ist reine Qualität, Empfindungsänderung von wechselnder
Intensität und Dauer. Das Erlebnis, an der Quelle aufgefasst,
„ist das Reich der Dämmerung und des Traumes, aus dem der
Strahl hervorbricht, den wir Ich heißen, geheime und warme In-
nerlichkeit fruchtbarer Finsternisse, aus denen unser werdendes
Leben hervorrieselt. Die Unterschiede existieren noch nicht. Das
Wort gilt noch nicht. Man hört die Quellen des Bewusstseins
geheimnisvoll rauschen wie einen unsichtbar fließenden Bach in
den moosigen Schatten der Grotten". Im Augenblick des un-
mittelbaren Erlebens gibt es noch keine Dinge, die von außen
einen Eindruck auf uns machen, noch innere Zustände, die einen
Ausdruck suchen. Nur Erlebnisse, von denen man sich nicht
unterscheidet, die also der Scheidung in die Dualität eines Sub-
jekts und Objekts vorausgehen.
92
In diesem Grunderlebnis ist eine Brüci<e zwischen dem Ich
und dem Weltleben, der Wirklichkeit überhaupt geschlagen. Vivo,
ergo sum. Wirklichkeit und Bewusstsein sind noch nicht aus-
einander gelegt, sondern in einem, eben dem unmittelbaren Er-
lebnis, beschlossen. Nachher kann das ich nur durch einen Sprung
wieder zur Annahme einer Welt außer ihm gelangen. In diesem
Erlebnisaugenblick ist es noch warm in den Mutterschoß aller
Wirklichkeit und alles Lebens eingebettet. Wie kommen wir
nun vom Erlebnis zur Erkenntnis? Wie ist es möglich, jenes
Unmittelbare mit den Mitteln des menschlichen Geistes zu er-
fassen und daraus Erkenntnis und letzten Grundes eine Welt
und Lebensanschauung zu gewinnen? Denn das Erlebnis an sich
ist noch keine Erkenntnis. Das Tier erlebt auch. Der Mensch
gewinnt aber etwas aus dem Erlebnis, was ihn über das Tier
hinaushebt. Der menschliche Geist erhebt sich über die dumpfe,
Unmittelbarkeit, in der er mit der Wirklichkeit verschmolzen ist
und unterscheidet sich in der Erkenntnis von ihr. Es gibt nun
nach Bergson zwei Wege, die vom Erlebnis zurE rkenntnis führen:
VERSTAND UND INTUITION
Wir können versuchen, jenes Unmittelbare gleichsam von
außen zu sehen, es mit unsern Begriffen zu bearbeiten und es
mit andern ähnlichen Erfahrungen zu vergleichen, in dem wir
alles Einmalige und Unvergleichbare weglassen und nur das Ge-
meinsame hervorheben. Oder wir können versuchen, es gleich-
sam von innen zu schauen, uns in es hineinzufühlen und das so
Gewonnene in immer neuen Bildern und Vergleichen auszudrücken,
die gerade jenes Einmalige und Unwiederholbare zu erfassen
suchen.
Was wir da angedeutet haben, sind zwei prinzipiell von ein-
ander verschiedene Erkenntnismöglichkeiten, mit denen wir uns
zuerst als der methodischen Frage beschäftigen müssen. Es sind
die beiden Erkenntnismittel des Verstandes und der Intuition.
Was leistet zunächst der Verstand oder Intellekt für die mensch-
liche Erkenntnis? Welches ist seine Funktion und sein Wert?
Wir wollen uns zunächst einmal klar machen, wie er arbeitet
und das Erlebnis sich aneignet. Seine Arbeit besteht vor allem
darin, die Erlebnisse nach bestimmten Schemata zu ordnen.
93
Er tut das durch die Begriffe. Sie sind die Formen, in die
der verworrene und flüssige Rohstoff des Erlebens hineingegossen
wird. Durch sie versucht der Verstand eine Nachbildung der
Wirklichkeit zu geben, die die Bedeutung eines geistigen Äqui-
valentes haben soll. In dieser Nachbildung hebt aber der Intellekt
nur das hervor, was das Gemeinsame vieler gleichartiger Erleb-
nisse ist und lässt das Individuelle und Zufällige fallen. Er steigt
so zu einer immer höhern und umfassendem Gemeinsamkeit auf,
die ihre Spitze in den Allgemeinbegriffen, im Gesetz, erreicht.
Alle Wirklichkeit darauf zurückzuführen ist sein unablässiges Be-
mühen und seine ihm eigentümliche Tendenz. Aber diese Begriffe
sind ja nur Symbole der bearbeiteten Wirklichkeit, mit denen er
wie mit Spielmarken operiert, die ja nur eine konventionelle Be-
deutung haben. Sie sind nicht die Wirklichkeit selbst, sondern
der Versuch einer Übersetzung in eine ihr fremde Sprache. Diese
Übertragung ist an manchen Punkten schon deshalb unvollstän-
dig, weil der Verstand unfähig ist, die Wirklichkeit im Zustand
des Werdens zu erfassen. Er kann immer nur mit fertigen Ein-
drücken und Erinnerungen arbeiten. Sobald er einsetzt, ist das
Erlebnis selbst immer schon vorüber; es ist schon, wenn auch
ein kleines Stück Vergangenheit geworden, aus der er es mühsam
wieder hervorzieht. Aber, indem er das tut, reißt er es aus der
Einheit heraus, der es unlösbar angehört und zerstückelt es in
einzelne Teile, die allein für ihn fassbar sind. Er pulverisiert die flies-
sende ununterbrochene Wirklichkeit in kleinste Stücke und glaubt
aus ihnen durch Addition das Ganze wieder aufbauen zu können.
Am deutlichsten wird das Ungenügende dieses Versuches, wo der
Verstand das seelische Leben erfassen und mit seinen Begriffen
ausdrücken will. Diese Anstrengung ist so vergeblich und irre-
führend, dass man schon die Behauptung wagen durfte: die
Psychologie tötet die Seele. Der Intellekt, der ihr Leben fassen
will, schöpft aus dem fließenden Strome des Erlebnisses einzelne
Teile heraus, nennt sie Wahrnehmung oder Gefühl oder Strebung,
und isoliert sie damit von dem Strome, in dem sie eingebettet
mitflossen. Mit solchen Teilen versucht dann der Intellekt das
seelische Leben, die Seele als ein Ganzes zu rekonstruieren oder
zu erklären. Das versuchte z. B. eine Assoziationspsychologie, die
die Seele aus einer Mechanik der einzelnen Vorstellungen er-
^4
klären wollte. Wie die Teilstücke einer Kette aneinander hängen
und sich vorwärts reißen in der Bewegung, so sollten die see-
lischen Vorgänge ineinander greifen als einzelne, deutlich von-
einander zu unterscheidende Teile. Das entspricht aber nicht der
seelischen Wirklichkeit, wie wir sie unmittelbar empfinden, die ein
ununterbrochenes Fließen und Verändern von Zuständen ist. Was
wir Assoziation nennen, soll natürlich damit nicht geleugnet
werden. Nur spielt sie lediglich an der Oberfläche des seelischen
Stromes, auf der wie tote Blätter die einzelnen abgelösten Reste
und Abfälle des tiefern Lebens schwimmen. Der Dichter hat
das deutlich gefühlt und auf seine Weise ausgedrückt als er sagte:
Spricht die Seele, so spricht, ach ! schon die Seele nicht mehr.
Wir haben alle schon schmerzlich diese Schranken jeder Psycho-
logie gefühlt, die das Wesen und Leben der Seele in Begriffen
darzustellen unternimmt und somit auf einen wissenschaftlichen
Ausdruck zu bringen sucht. Diese Grenzen sind die des Intellekts
überhaupt, der überall da versagt und die Wirklichkeit vergewal-
tigt, wo es sich um das Leben, die Bewegung und das Werden
handelt.
Haben wir das soeben an seiner Darstellung des seelischen
Lebens gezeigt, so sei auch noch einen Augenblick auf seine Un-
fähigkeit, die Bewegung zu erfassen, eingegangen. Bergson hat
gerade diesem Nachweis besondere Anstrengungen gewidmet. Der
Verstand, den wir lieber Intellekt nennen wollen, um Verwechs-
lungen vorzubeugen, sucht immer wieder die Bewegung darzu-
stellen dadurch, dass er sie mit einer durchlaufenen Raumstrecke
identifiziert. Die Bewegung, die zum Beispiel eine abgeschossene
Kugel ausführt, wird durch den Intellekt zerlegt in ein Energie-
quantum und eine Bewegungsbahn, deren Form durch den Raum
bestimmt ist. Diese Bewegungsbahn wird durch ein Koordinaten-
system abgesteckt und gemessen durch Raumstrecken. Die leben-
dige Bewegung wird also durch Raumsymbole ausgedrückt. So
verfährt die Infinitesimalrechnung, praktisch von höchstem Wert,
indem sie kleinste Teilstrecken als Äquivalente für die Bewegung
gebraucht. Ja die gesamte moderne Mathematik versucht sowohl
die Linie aus der Bewegung als auch — und das ist hier wichtig —
die Bewegung durch die Linie auszudrücken. Aber die Bewegung
selbst ist damit nicht erfasst. In einer solchen linearen Dar-
95
Stellung der Bewegung fehlt gerade der unteilbare Schwung, der
in jeder Bewegung steckt. Dieser „Elan" kann nicht von der Be-
wegung losgelöst werden, etwa als ein energetisches Quantum.
Denn sie ist kein Ding, das man in Teile zerlegen kann. Sonst
bliebe von der Bewegung nur noch das Bewegte und die Strecke
übrig, und die Hauptsache fehlte, die Beweglichkeit, der lebendige
Schwung, der nicht Halt machen oder geteilt werden kann, bevor
er seine Kraft ausgegeben hat.
Bergson macht diese inadäquate Auffassung der Bewegung,,
wie sie dem Verstände eigen ist, an einem treffenden, dem Raum
entnommenen Bilde deutlich: Der Intellekt stellt gleichsam die
Bewegung dar, wie eine Treppe mit unendlich kleinen Stufen-
absätzen, während sie höchstens einer fortlaufenden schiefen Ebene
zu vergleichen wäre. Wenn wir die durchlaufene Bahn in noch
so kleine Teilstrecken zerlegen so sind das nicht Teile der Be-
wegung selbst, die unteilbar ist bis sie zur Ruhe kommt, sondern
nur Haltestellen für den Intellekt, von denen aus er gleichsam
eine Anzahl von Aufnahmen macht, um sie dann wieder zum
Ganzen zusammen zustellen.
Auf dieser Ersetzung des Werdenden durch das Fertige be-
ruhen eine ganze Reihe berühmter Trugschlüsse, die zum Teil
schon die alten Griechen beschäftigt haben. Vor allem die so-
genannten eleatischen, die von der Flugbahn zum Fluge, von der
unbeweglichen Lage zur Beweglichkeit auf dem Wege der Zu-
sammensetzung gelangen wollten. So jener Trugschluss, der be-
hauptete, dass Achilleus trotz seiner größern Geschwindigkeit;
doch nie die langsamere Schildkröte einholen könne, da sie in
der Zeit, da er seinen großen Schritt mache, doch immer wieder
einen kleinen weiter gemacht habe. Das ist ein Schluss, dessen
Trug daher kommt, dass die wirkliche Bewegung sowohl des
Achilleus als auch der Schildkröte in Teile zerlegt und wieder
zusammengesetzt wird während jeder Schritt des sich Bewegenden
ein unteilbarer Schwung ist.
Ebenso wenig wie die Bewegung kann das Werden vom In-
tellekt erfasst werden. Das ununterbrochene, schöpferische Her-
vorgehen von neuen, qualitativ verschiedenen Zuständen sucht er
aufzulösen in eine Reihe von Teilansichten, aus deren Zusam-
menstellung er dann das Ganze wieder zu gewinnen hofft. Sa
96
wie der Kinematograph ein Geschehen festhält in einzelnen ge-
trennten Aufnahmen, die er dann wieder zusammenstellt. Aber
ein Geschehen ist keine teilbare Sache, keine Addition von klei-
nen Teilresultaten, sondern ein Rhythmus von Phasen, die be-
ständig in einander übergehen und nicht getrennt werden können.
Sie wechseln in und mit der Zeit wie alles Geschehen. Aber der
Intellekt tut so, als ob sie im Räume lägen, denn er misst sie mit
einer Zeit, die ein Raummaß ist. ist doch die Uhr die Übertragung
der Zeit auf die Raumstrecke. Dieses Zeitmaß aber, die Zeit
als Länge, ist ein anderes als die Zeit, die ein Geschehen und
Werden ist. Die „temps-longueur" wird daher dem Werden nicht
gerecht. Davon noch später.
ZÜRICH ADOLF KELLER
(Fortsetzung folgt)
D D D
GEDICHTE VON NANNY VON ESCHER
PRIVILEGIUM
Erscheint der Abschied dir in diesen Tagen
Auch schwer, unsagbar schwer, verzweifle nicht !
Nie hat ein Dichter so viel Leid zu tragen,
Dass um den Dorn sich keine Rose flicht.
Wenn aus dem Lande seiner Jugendträume,
Der harten Wirklichkeit zulieb, er schied.
So überfliegt im Geist er Zeit und Räume
Und kehrt als Herrscher heim in seinem Lied.
NUR DU
Mich schläfert die Ruh ein um mich her.
Das Vogelgezwitscher weckt mich nicht.
Ja, hörte ich deiner Stimme Klang,
Und schaute ich deiner Augen Licht,
Gern wacht' ich lang!
Mir graut vor der Kälte um mich her,
So leer und so kalt wird's Grab einst sein !
Wohl funkelt der Sonne goldne Pracht,
Mir ist, ich liege im Totenschrein
In dunkler Nacht.
Und läge ich dort, und sagtest du:
„Nie wusst' ich zuvor, wie treu sie warl"
Dann dringt durch die Finsternis der Gruft
Ein Leuchten, und wie Glocken gar
Dein Wort mich ruft.
DDD
97
FEUERVOGEL
EIN MÄRCHEN VON CHARLOT STRASSER
Im dreimal neunten Land im dreimal zehnten Reich, mitten
im Walde, stand der Eichenbaum, welcher so alt wie das Leben
war. Da er genau in der Mitte stand, bedeutete er unter Bäumen,
was unter Menschen ein Zauberer.
Nun hatte das schwarze Eichhörnchen mit den vier weißen
Pfötchen und dem ebenso weißen Schwanzbusch im hohlen Ast
der Eiche Quartier genommen.
„Was gibst du mir Miete?" fragte der Eichenbaum.
„Ich stopfe die Risse deiner Rinde mit Moos, damit du nicht
frierest im Winter."
„Das ist noch wenig," brummte der Eichenbaum, der nicht
gern sprechen mochte, und gab sich zufrieden.
Eichhörnchen hatte Muße, die Risse zu stopfen, denn unter
Seinesgleichen galt es nichts, wie alle Propheten. Man ging nicht
in weißen Pfötchen I Man trug sich nicht mit einem ebenso
weißen Schwanzbusch! Man sprach von ihm als dem Weißpfotigen
und warf es mit Buchnüsschenschalen.
Dazu flog noch der Feuervogel auf den Eichenbaum. Der
einzige weit und breit. Die Jäger hatten ihn aus den Augen
verloren, weil sie nicht bis zur Mitte des Waldes eindringen konnten.
Was sie von ihm erzählten, klang wie ein Märchen.
„Was gibst du zurMiete ?" fragte der Eichenbaum den Feuervogel.
„Ich durchsuche deine Rinde nach Borkenkäfern," ant-
wortete er.
„Das ist noch wenig," brummte der Eichenbaum, der nicht
gern sprechen mochte, und gab sich zufrieden.
„Außerdem kann ich singen," wollte der Feuervogel noch
beifügen. Aber er behielt es für sich selbst.
„Den hat es nicht in Brehms Tierleben," stellte der Auerhahn,
der im Walde am seltensten gewesen war, fest und verbot dem
andern Gefieder den Verkehr mit dem Feuervogel.
So mussten er und das weißpfotige Eichhörnchen zusammen-
finden. Denn sie waren verschieden genug, um sich lieben zu
können.
98
Das Eichhörnchen fragte: „Feuervogel, Feuervogel, wie machst
du's nur, dass du fliegen kannst?"
„Eichhörnchen, Eichhörnchen, indem ich die Flügel schwinge,"
antwortete er.
Aber das half dem Eichhörnchen nichts. Es vermochte nur
bei nahestehenden Bäumen von Ast zu Ast zu springen. Waren
die Wipfel ferner, musste es doch stammab, stammauf. Nachts
dagegen träumte ihm, dass ihm Flügel gewachsen seien. Ja, es
kam so weit, dass es tat, als ob ihm Flügel geworden und diese
Meinung ebenso schnell büßte, wie es ins weiche Moos fiel. Es
liebte den Feuervogel, weil er fliegen konnte.
Feuervogel hinwieder saß auf des Eichenbaums Wipfel und
betrachtete Eichkätzchens weiße, zierliche Vorderpfötchen. Es
konnte damit greifen, halten und sich krauen.
„Eichhörnchen, Eichhörnchen, wie machst du's nur?" fragte
Feuervogel.
„So," sagte das Weißpfotige und knabberte an einer Haselnuss.
Da schaute Feuervogel an seinem krummen Schnabel entlang
nach seinen drei Krallen jeglichen Fußes und vergoss Tränen.
Als diese zur Erde fielen, teilte sich das Moos und rote Blumen
sprossten hervor. So viele, dass der Eichenbaum mitten in einem
Flammenteppiche stand. Das gefiel ihm und so gewann er den
Feuervogel lieb.
Wenn es des Nachts regnete und stürmte und Feuervogel
noch so sehr den Kopf unter die Flügel barg, es fror ihn gleich-
wohl. Dann träumte er „kletternde Eichhörnchen" und schlüpfte
in den hohlen Ast, den der Eichenbaum brummend, aber doch mit
seiner eigenen Wärme heizte.
Feuervogel zwängte sich in der nächsten Nacht wirklich durch
das Loch zum hohlen Ast. Mitten drin blieb er stecken und
konnte nicht vor- noch rückwärts.
„Wie ich mich freue, dir zu helfen!" rief das Eichkätzchen
und nagte so lange an seinem Haus, bis es Raum für beide bot.
Der Eichenbaum fühlte nichts anderes, als bohre man ihm
in einem abscheulichen hohlen Zahn. Aber er schwieg, weil er
zu alt war um viel zu reden und weil ihn doch weniger fror
und juckte, seit das Weißpfotige die Risse seiner Rinde mit Moos
verstopfte, Feuervogel die Borkenkäfer absuchte.
99
„Es wird noch lange wehtun und ich werde ihnen dran denken
müssen," fühlte der Eichenbaum im innersten Mark. Doch er
schwieg, weil er das Eichkätzchen heimlich liebte.
Jeden Morgen flog Feuervogel der Sonne entgegen. Dabei
sang er über die Maßen herrlich, dass selbst der Auerhahn Notiz
nehmen musste.
„Feuervogel, Feuervogel, was siehst du denn Schönes, dass
du so singen kannst?" fragte das Eichkätzchen.
„Setz dich zwischen meine Flügel, halte dich fest, sieh selber!"
Und jeden Morgen flogen sie zusammen der Sonne entgegen.
Zuerst fühlte das Eichkätzchen nur ein Brausen des Windes und
dachte, dass dies nun Feuervogels Gesang sei. Es gab sich
dem Brausen ganz hin. Dann sah es rotes Licht vor den ge-
schlossenen Lidern und dachte, dass die Farbe so wundervoll
singe. Dann endlich öffnete es die Augen, und als es die Wälder,
die Flüsse, die Bergspitzen tief unter sich sah, da wusste es, dass
die Seele so sang, die Seele des Feuervogels, und die eigene
Seele gab das Lied zurück, ohne sich selbst singen zu können,
ganz eins geworden mit der andern, und das gemeinsame Lied
klang immer stärker, gewaltiger, reiner.
So konnte der Auerhahn nicht singen, und auch die Elstern,
Drosseln, Käuzchen und Kuckucke nicht.
Die Elstern sagten: „Wir fingen drei Federn auf, wir haben
sie wohl versteckt. Sie fielen dem Feuervogel heraus, weil das
Weißpfotige sich so fest an ihn klammerte. Hätten die Federn
die Erde erreicht, drei Feuerlilien wären emporgewachsen, Feuer-
lilien, aus denen Irrlichter geboren werden, um uns nachts
Schrecken und Angst einzujagen. Auf Feuervogels Rücken saß
es, das Weißpfotige, wie eine Hexe, ja Hexe, Hexhexhexe!"
Die Drosseln flöteten: „Der liebe Gott schuf jedem Tierchen
sein Pläsierchen. Der liebe Gott im Himmel hat Freuden für
Alle geschaffen. Aber Eines dem Andern auf den Rücken zu sitzen
und zusammen hinflitzen, das verstößt gegen jede Moral, so etwas
denkt man nur, aber tut es nicht, tut es nicht, tuhut, tuhut, tuhut
es nicht!"
Die Käuzchen jammerten: „Uhu-uh! Uhu-uh! Wir kamen
fast bis an den hohlen Ast. In tiefer Nacht. Das Weißpfotige,
100
uhu-uh, das Weißpfotige lag unter den Flügeln des Feuervogels,
uhu-uh, und was wir noch sahen! Uhu-uh!"
Die Kuckucke sagten sagten: „Guk-guk! Guk mal! Das ist
ein Skandal! Ein Skandal! Wozu sind wir denn Familienväter?
Man muss Einzelheiten wissen, man muss hingucken gehn, gucken
gehn! Gu-kehn! Gu-guck! Kuckuck!"
Auerhahn wandte sich an Fuchs, den Polizeimeister. Dieser
wäre kein richtiger Fuchs gewesen, wenn er nicht bald heraus-
gebracht haben würde, welche Trauben auf dem Eichenbaum
wuchsen. Dann ging er zur Höhle des Bären, der König im
Walde war.
Unterwegs traf er auf ein Rudel Rehe.
„Fuchs, Fuchs, wohin gehst du?" fragten sie und brachen
einen Streit über die Berechtigung der Vielweiberei für die Hirsche
ohne weiteres ab, als sie die Geschichte vom Feuervogel und
Weißpfotigen hörten. Samt und sonders liefen sie zu König Bär.
Unterwegs trafen sie auf ein biederes Igelpaar.
„Fuchs, Fuchs, Rehe, Rehe, wohin geht ihr?" fragten die
Igel und rollten sich mit ihren sieben Kinderchen zu dornge-
spickten Kugeln zusammen.
„Schweinigel, Schweinigel!" riefen sie, als sie die Geschichte
hörten, und liefen mit zum König Bär.
Unterwegs trafen sie drei Hasen. Der eine kam von der
Witwe Langlöffels, der auf der Jagd erschossen worden war. Der
zweite hatte mit einem Kaninchen geflirtet, das am Waldrande
einen Stall besaß. Der dritte besuchte nur männliche Hasen.
Aber das hielt er geheim.
Sie hätten gerne mit den Igeln geschrien, wäre ihnen nicht
die Sprache abhanden gekommen, als sie die Geschichte hörten.
Dafür stieg ihnen die Schamröte in die Hasenscharten und so
liefen sie mit zum König Bär.
Unterwegs hatte sich ihnen die Sippe der Eichhörnchen zu-
gesellt. Das war ein braunes Gewusel und Gewimmel! Sie liefen
alle Stämme bis zu König Bars Höhle hinauf und wieder herab
und unterrichteten, außer Atem, wie sie waren, dennoch jegliches
Geflügel und Getier.
101
König Bär fraß zunächst eines der Eiciihörnchen ohne weiteres
auf. Die Rehe hätte er gerne näher besehen, aber das duldete
seine Königin nicht.
Der Fuchs sollte die Klage vorbringen. Ihr denkt nun, er
habe sich an den König gewandt. Im Gegenteil.
„Zierlichste der Frauen, schlankeste Königin!" begann er.
„Eure Tätzlein sind durchsichtiger und süßer als Bienenhonig.
Euer Stimmlein ist wohltönend wie Geigenstrich, der die zahmen
Bären zum Tanzen zwingt. Eure jungfräuliche Tugend," dabei
strich der Fuchs dicht an die schmunzelnde Königin, „ist über
allen Zweifel erhaben!"
„Fuchs, Fuchs," mahnte die Königin und wiegte sich in Wohl-
gefallen auf ihren Hinterbeinen.
„Eure königliche Gnade beschirmt, was keusch und was
sittenrein," verkündete der Fuchs und fügte leise hinzu, so dass
nur die Königin es hörte: „O begegnete ich Eurer Lieblichkeit
im Walde allein!"
Es lässt sich denken, dass es der Fuchs durchsetzen musste
und das Waldgericht einberufen wurde. Denn wenn es die Königin
wollte, bedurfte es keiner langen Beratung. Das Urteil lautete,
da es kein anderes gab, auf Tod.
In dichten Rotten zog das Getier zum Eichenbaum und be-
lagerte ihn. Das war ein Geschrei und Gezeter! Schonungslos
zertraten sie den Feuerblumenteppich. Luchs, Marder und Wild-
katze klommen den Stamm hinan. Die Eichhörnchen scharen-
weis hinterher.
Das Weißpfotige flüchtete auf den Wipfel zum Feuervogel
und setzte sich zwischen dessen Fittige. Auf flog er, — jedoch,—
in Wolken prasselte es von oben hernieder: Drosseln und Elstern,
Käuzchen und Bussarde, Amseln und Spechte, Sperber und Häher,
und allen voran der Auerhahn.
Während ihm Feuervogel den Kopf zerhieb, hackten die
andern auf das Weißpfotige zwischen seinen Flügeln ein; es waren
ihrer zu viele. Feuervogel flog zurück auf den Wipfel des Eichen-
baums. Im nach stießen von oben die feindlichen Wolken, dräng-
ten von unten Luchs, Marder und Wildkatze.
„Eichenbaum, Eichenbaum!" schrie das Weißpfotige in der
höchsten Not, „hilf du uns, mächtiger Zauberer!"
102
Da breitete der Eichenbaum die Äste aus, da weitete sich
sein Stamm, — nein, — nicht nur der seine, — alle andern Stämme
des Waldes wuchsen und bauten sich ineinander, verhakten und
verketteten sich — eine mächtige Stadt entstand solcherweise —
aus jedem Stamme ein Haus.
Waldburg hieß sie mit Namen.
Die Einwohner Waldburgs lebten in biederem Frieden. Keiner
tat dem andern gern weh. Jeder fürchtete, damit sich selber zu
kränken. Alle kannten einander. Alle hatten sie die nämlichen
Vollkommenheiten und Tugenden. Alle waren sie einer Meinung.
Aber Parteien gab es so viele wie Köpfe.
Über die Gründung Waldburgs ging eine dunkle Sage. Die
philosophische Fakultät der Hochschule befasste sich angelegent-
lich damit. Sicher war, dass die Stadt seit Menschengedenken
bestand. Jeder wusste das genau und keiner zweifelte an der
Geschichte seines eigenen Geschlechtes, auf die man viel gab.
Der Mehrheit und des Mittelmaßes goldene Regeln galten seit
ehedem als heiligste Gesetze.
Da störte eines Tages der Wohnungskommissarlus des inner-
sten Stadtkreises den so gut eingebahnten Frieden, meldend, in
das alte Haus an der Hörnchengasse sei die Verderbnis und leib-
haftige Fleischessünde in den Personen eines Liebespärchens ein-
gezogen und von der Nachbarschaft sozusagen dem Sittlichkeits-
vereine, was seit den ältesten Zeiten nicht mehr vorgekommen,
vermerkt worden.
„Hat Er sich auch wohl informieret, Herr Kommissarius?"
fragte der Regierungsstatthalter, der im Lesen der Neuesten Wald-
burger Nachrichten, zweites Morgenblatt, gestört worden war.
„Meine Wenigkeit, Euer Hochwohlgeboren, hat sich sozusagen
mit eigenen Augen persuadiert. Meiner Wenigkeit unmaßgeblicher
Meinung zufolge handelt es sich sozusagen um das Verbrechen
des unbefugten Zusammenlebens zweier nicht durch die heilige
Sanktion des Staates und der Kirche verbundener Subjekte, deren
Geisteszustand, nach meiner unmaßgeblichen Meinung, mit Recht
als ein krankhafter zu bezeichnen sein dürfte."
103
Der Regierungsstatthalter faltete die Waldburger Neuesten
Nachrichten sorgfältig zusammen und führte sie zur Tasche. Es
war eine halbe Stunde vor Mittagsschluss. Diese Frist benutzte
er meist, den Roman unter dem Strich in stiller Zurückgezogen-
heit sich eingehend zu Gemüte zu führen. Bei des Kommissarii
letzten Worten aber horchte er auf.
„Will Er dem Herrn Stadtphysikus in die Sportein einschnei-
den? Weiß Er doch, dass die Geisteszustände derer zu Waldburg
in der Herren Doktoren Ressort und gutachtlichen Einkommens-
bereich gehören. Mach Er seinen Rapport auf das eigene Konto!"
„Euer Hochwohlgeboren zu Diensten! — Meine Wenigkeit,
wenn ich so sagen darf, begaben sich in oben bezeichnete Be-
hausung. Wohlerzogen gewandt, ihres Amtes kundig, musste sie
— Euer Hochwohlgeboren möchten die Schilderung derartiger
sozusagen polizeiwidriger Einzelheiten nicht als unsittlich anrech-
nen, da es von Amtes wegen geschieht — musste sie konstatieren,
dass sich die beiden oben Designierten, männlichen und weib-
lichen Geschlechtes, als um Einlass geläutet wurde, verlustieret
hatten. Und zwar durch Küssen auf die beiderseitigen Hälse, was
aus dort sich befindlichen, allmählich verblassenden roten Flecken
zu schließen war."
Bei diesen Worten meckerte der Regierungsstatthalter laut
auf, alsogleich jedoch, erschreckt über sich selbst, sich aufrichtend
und räuspernd. Er war so merklich emotioniert, dass er die zu-
sammengefalteten Waldburger Neuesten wieder auf das Schreit)-
pult zurücklegte.
Der Wohnungskommissarius 'meckerte, ^erschrak und "räu-
sperte sich mit. Dann fuhr er fort:
^ „Oben bezeichnete Behausung war sozusagen sauber [und
ordentlich. Was jedoch durch seine Abwesenheit meiner Wenig-
keit sozusagen in die Augen fiel, war: das andere Bett. Mit ent-
sprechenden Worten: — Euer Hochwohlgeboren möchten be-
denken, dass von Amtes wegen berichtet wird — meine Wenigkeit
musste mit dem Ausdruck tiefster sittlicher Entrüstung konstatieren,
dass^nur|ein einziges Bett vorhanden|war. Daraufhin legitimierte
sich meine Wenigkeit als Kommissarius eines hochwohllöblichen
Magistrates der Stadt Waldburg. Wohlerzogen gewandt, ihres Amtes
kundig, erbat sie um Einsicht in der so sträflichst anbetroffenen,
104
Personen Papiere. „Ob wohl der alte Eichenbaum auch daran
gedacht hat?" fragte obig erwähnte Frauensperson unvermittelt,
die sozusagen, was meine Wenigkeit von Amtes wegen bemerkte,
ganz gegen die Kleidermandate eines hochwohllöblichen Magi-
strates angezogen ging."
„Ist sie denn hübsch?" unterbrach der Regierungsstatthalter.
„Wie dero hochwohlgeborene Augen zu sehen belieben.
Meiner Wenigkeit erschien sie als beiläufig magerer Statur, deren
Busen ..."
Bei diesen Worten meckerte der Regierungsstatthalter laut auf,
alsogleich jedoch, erschreckt über sich selbst, sich aufrichtend
und räuspernd. Der Kommissarius meckerte, erschrak und räu-
sperte mit. Dann fuhr er fort:
„Entgegen den weisen Verordnungen eines hochwohllöblichen
Magistrates, die den Gewändern der sittsamen Bürgersfrauen durch
Bändchen, Fältchen, Spitzlein und Perlchen das nötige Ansehen
verleihen, trug oben des öftern vorerwähntes Frauenzimmer ein
schwarzes, glattes, prallanliegendes Gewand, als wäre es — Euer
Hochwohlgeboren möchten bedenken, dass von Amtes wegen
berichtet wird — sozusagen splitternackt. Ganz abgesehen des
tiefausgeschnittenen Halses, der Schultern, des Busens . . ."
„Und ich hab' sie ja nur . . ." trällerte der Regierungsstatt-
halter, alsogleich jedoch, erschreckt über sich selbst, sich auf-
richtend und räuspernd. Der Kommissarius trällerte, erschrak
und räusperte sich mit. Dann fuhr er fort:
„An dem oben durch meine Wenigkeit beschriebenen Ge-
wändlein besagter Frauensperson fehlten die Ärmel sozusagen.
Was aber davon zu erblicken geblieben, war mit Hermelin — Euer
Hochwohlgeboren möchten bedenken, dass solches Wort bei so-
tanen teuren Zeiten ^'nur mit demokratischem Widerwillen und
weil von Amtes wegen auf die Zunge genommen werden mag —
mit Hermelin verbrämt! Die Schuhe obigen Frauenzimmers, was
sozusagen als den Gipfel der Frivolität meiner Wenigkeit zu bezeich-
nen erübrigt bleibt, bestanden gänzlich aus weißem Pelz, wie
solcher auch in einem üppigen Streifen mitten über das von
keinem wohlbestallten Schneidermeister unserer wohllöblichen
Stadt als Kleid, Rock oder Hemd näher zu charakterisierenden
Gewände herablief." Der Herr Kommissarius schnappte nach
105
Luft. Dann fuhr er fort: „Das als Mann zu bewertende Indivi-
duum trug sich mit einer nicht anders denn als Schlafrock zu
bezeichnenden Bekleidung — Euer Hochwohlgeboren belieben zu
beachten: vormittags um die elfte Stunde — im Schlafrock! —
und zu erwägen: dass von Amtes wegen berichtet wird — in
einem mit feuerroten Blumen bestickten, wattierten Schlafrock!
,Mir scheint, ich habe so etwas wie Papiere gesehen,' unterbrach
die Mannsperson meiner Wenigkeit soeben erwähnte Betrachtung.
.Suchen wir doch in der Schatulle nach.' Woraufhin er denn
meiner Wenigkeit folgende noch näher zu erörternden Dokumente
vorzuweisen sich unterstand:
Primo: Einen Heimatschein, solchermaßen selbige in Waldburg
gebräuchlich sind, auf den Namen, wie meine Wenig-
keit gewissenhaftigst ad notam genommen, lautend:
Feuervogel Felix, des Florian sei. und der Ignis,
ledige Phönix,
geb. 11. Mai 1884.
Unverehelicht.
Von Beruf: Aviatiker.
Secundo: Einen Auslandspass, ausgestellt von der angeblichen
Obrigkeit eines angeblichen Reiches Hypnopotamien.
Besagter Pass, mit Siegel und Stempel ausgiebig ver-
sehen, enthielt zweierlei Schrift, davon die eine meiner
Wenigkeit sozusagen wie böhmischer Wald erschien,
die andere dagegen ehrlich die gebräuchliche war,
auf den Namen lautend:
Eichbaum, Vera, des Serenus Quercus zu Recht
angetrautes Eheweib, ledige Squirrel, des Silen
und der Silva, ledige Bjelka.
geb. 15. Februar 1885.
Von Beruf: Privatgelehrte.
Nach solchermaßen zur Einsicht genommenen Papieren hub
meine Wenigkeit, wohlerzogen gewandt, der hohen Beamtung be-
wusst, aber doch nicht uneingedenk einer gesetzlich geregelten
Häuslichkeit, zu sprechen an, wie folgt: ,Er ist also nicht mit
nebenstehendem Frauenzimmer durch Gott und Obrigkeit legali-
sieret ?•
106
,Da hat uns der alte Eichbaum wirkh'ch einen schh'mmen
Streich gespielt,' unterbrach mehrfach besagte Frauensperson, an-
gebliche Eichbaum, meiner Wenigkeit schicklich eingefädeltes
Interrogarium. ,Das tat er, weil du den hohlen Ast annagtest,'
klagte die als Feuervogel sich ausgebende Mannsperson. Und
hätten der Herr Regierungsstatthalter nun die Blicke gesehen, mit
denen sich die also Betroffenen anzustarren bemüßigt sahen —
Euer Hochwohlgeboren verstünden meiner Wenigkeit unmaßgeb-
liche — durchaus ohne dem Herrn Stadtphysikus nahe treten zu
wollen — Mutmaßung betreffs eines nicht als wohlgeordnet zu
diagnostizierenden Geisteszustandes jener in so zweifelhaften Um-
ständen Überraschten, umsomehr in Beachtung der folgenden
Worte des angeblichen Feuervogel: ,Mein Wertester, es scheint
leider, dass wir nach unseren Papieren nicht als verheiratet ein-
getragen sind. Aber glauben Sie uns, dass wir aus ehrlichstem
Bewusstsein zusammengehören, dass wir uns treu und wahr mit
allen Fehlern und Tugenden lieben, uns jedwedes Opfer zu brin-
gen gedenken und uns lebenslängliche Treue aus innerer Not-
wendigkeit angelobt haben.* Daraufhin — auf dieses hin — wie
Euer Hochwohlgeboren begreifen werden, empfahl sich meine
Wenigkeit, der hohen Beamtung bewusst, wohlerzogen gewandt,
doch kühl, mit dem Brustton der in allen demokratischen Ge-
fühlen aufs Tiefste verletzten, bürgerlichen Tugenden. Es erübrigt
meiner Wenigkeit, beizufügen, dass weder ein Geschlecht Feuer-
vogel im Burgerrodel unserer altehrwürdigen Stadt bekannt, noch
ein Reich Hypnopotamien, selbst nicht im Brockhaus, verzeich-
net sind."
„In des Vaterlandes Namen danken wir Ihm," sagte der
Regierungsstatthalter und ging zum Mittagessen nach Hause.
Frau Regierungsstatthalter begab sich um vier Uhr zum
Kränzchen. Fünf Tassen Kaffee und sieben Erdbeertörtchen be-
wältigte sie, bis sie mit ihrem Bericht zu Ende kam.
Zuerst ergriff Frau Doktor Ergelster das Wort: „Der arme,
arme Herr Feuervogel! Der bedauernswerteste, junge Mann!
Zweifellos hat sie ihn eingezogen! Einen faszinierenden Eindruck
mache sie, sagte mein liebes Männchen. Brauchen wir auch nicht
für das Seelenheil unserer tugendhaftesten Ehegatten zu sorgen,
107
so gibt es doch auch heutzutage noch Hexen, ja Hexen, ja
Hexen!"
Dann flötete Frau Pfarrer Drosselbein: „Der liebe Gott, unser
guter Hirte in jeglicher Trübsal, schuf jedem Tierchen sein er-
laubtes Pläsierchen. Der liebe Gott im Himmel hat geziemliche
Freuden für alle geschaffen. Der liebe Gott hat die Welt mit
weisen, wohltuenden Pflichten erfüllt, hat die kirchliche Trauung
und die kirchlichen Abgaben geschaffen, so lasset uns denn beten
für jene bemitleidenswerten Geschöpfe, die ohne IHN sich an
den Freuden der Welt vergreifen und den sündigen Tieren ver-
gleichbar sind. Wohl denen, die im Schöße der Kirche ihre reinen
Kinderlein zeugen. Sie werden das Himmelreich ernten. Wehe
ihnen, die dergleichen Dinge um fleischlichen Genusses willen
verüben — und überhaupt — so etwas denkt man nur — man
tut, man tut, man tut es nicht. Amen."
Frau Privatdozent Eulenpeter erklärte: „Als Mitglied der aka-
demischen Kreise bekenne ich mich zu einer etwas freieren Auf-
fassung. Ich glaube, dass es sich nicht um ganz normal zu
bewertende Menschenkinder handelt. Sicher haben sie Freud
gelesen, und diese Überschätzung des Sexuellen — verzeihen Sie,
meine Damen, wenn ich das Wort hier ausspreche — ist von
den schlimmsten sozialen Folgen begleitet. Mein Mann ist ganz
der gleichen Meinung, ganz der gleichen Meinung."
Frau Stadtpräsident von Kuckucksheim hatte das letzte Wort:
„Aus unserer Wohnung sieht man leider gerade hinüber, wenn
man auf die Kommode steigt. Ich sage nur das — die Beiden
leben im Konkubinat, im Konkubinat! Wozu haben nun unsere
Männer die Familienväterinitiative angenommen? Wozu sind wir
so lange tugendhafte Mütter gewesen? Es ist ein Skandal, ein
Skandal, ein Skandal!"
Ganz Waldburg geriet in Aufruhr, nachdem eine Stimme aus
dem Publikum in den Neuesten über die Angelegenheit delikat,
doch ausführlich, zum Aufsehen gemahnt hatte und eine Anklage-
schrift, wie ein Verhaftbefehl ausgestellt worden waren. Drei Tage
später, in aller Frühe, zogen zwei Stadtpolizisten in Uniform zum
alten Haus an der Hörnchengasse und besetzten die Türe. Re-
gierungsstatthalter und Wohnungskommissarius läuteten vergeblich.
Das Nest war ausgeflogen.
108
Herr Feuervogel hatte nichts als eine Schrift hinterlassen, in
welcher die ganze, vorstehende Geschichte verzeichnet stand, so-
wie, dass er und seine Herzliebste, die in den Papieren Frau
Eichbaum geheißen wäre, noch einmal des alten Eichenbaums
Zauber angerufen hätten.
„Zauberer du, großer Geist, der du über unserem Hause
waltetest," riefen der junge Mann und die schöne Frau, „hilf uns!
Schütze das Werk!"
Und Eichenbaum, der Zauberer, trug keinen Groll mehr in
sich. Das war längst vorbei. So schützte er das Werk. Er half,
dass die Sonnenstrahlen erstarrten, und ein Gerader und Gestänge
erstand, leichter, als Abendwind, biegsamer und härter, denn Stahl.
Er half, dass die mächtigen Flügel erwuchsen, aus Himmelsblau
und Sonnengold gewoben, er half, dass das gewaltige Flugzeug
in bebender Erwartung harrte, als die Beiden es engverschlungen
bestiegen, Feuervogel und die weißhändige, schlanke Frau. Wunder-
vollen Ausflugs schwebten sie dem Morgenrot entgegen. Gesang
erscholl über Wäldern, Wassern und Bergspitzen, Gesang, wild-
brausender, farbenglutiger Gesang — und die Seele des Feuer-
vogels, die Seele der herrlichen Frau flammten ineinander, als sie
der Sonne nahe waren, vereinten sich mit ihr und lösten sich auf
in ungezählte Lichtfunken , die das All durchschweben, einen
ganz besonderen, wehmütig-wonnesamen Ton in die Harmonie
der Sphären hineintragend.
Telegramm der Waldburger Neuesten Nachrichten. Johannis-
tal, den 11. Mai 1913. Der Motor des Fliegers Feuervogel, der
mit seiner Braut als Passagier zum Höhenrekord gestartet war,
kollidierte mit der Sonne. Von den kühnen Fliegern und ihrem
Flugzeug fehlt bis zur Stunde jegliche Spur. (Anmerkung der
Redaktion: Der Flieger Feuervogel dürfte identisch sein mit dem
Individuum gleichen Namens, das von den hiesigen Behörden
unlängst ausgewiesen wurde.)
a o 0
109
MENUES RßFLEXlON A PROPOS
DU BICENTENAIRE DE DIDEROT
A propos du bicentenaire de Diderot, j'avais prepare un
grand article oü je montrais quel homme, quel ecrivain, quel
philosophe, quel artiste fut le grand encyclopediste ... Je fai-
sais entre Rousseau et lui un beau parallele . . . Enfin, je m'ef-
for^ais de ne negliger rien de tout ce qui peut contribuer ä l'in-
telligence d'une mentalite aussi brillante, d'un personnage aussi
important et de l'influence immense qu'il exer^a . . . Mais, ä
mesure que j'accumulais les fiches et les documents, une in-
quietude de plus en plus grande me saisissait; je ne pouvais
ni ne devais laisser dans l'ombre aucun trait important,
et pour utiliser bien tous mes materiaux, je me voyais conduit
d'avance ä ecrire un gros livre sur Diderot . . . Mon Dieu, un
livre sur Diderot, apres ceux de Collignon, de Ducros, de Rei-
nach, de Scherer, etait-ce,bien necessaire? A Torigine, je n'avais
songe qu'ä expliquer en un petit article pourquoi il fallait se
Souvenir de ce philosophe et de quoi il etait bon de lui etre
particulierement reconnaissant en cette annee commemorative . . .
Mais voilä, nous n'avons pas, de nos jours, des tetes encyclope-
diques, et Diderot porta de si vives lumieres sur tant de sujets
differents!
Je m'excuse donc et me retracte: Ne pouvant dire ici tout
ce que je voudrais sur Diderot, je me restreindrai et donnerai
simplement mes impressions personnelles sur un point assez
mal defini, je crois, des idees des Encyclopedistes, je veux dire
surtout de Diderot et de Rousseau.
On dit partout: „Ils preconiserent le retour ä la nature",
ou bien: „Rousseau fut l'ennemi de la societe." Parlant de Di-
derot, M. Lanson dit: „Jamais homme ne fut plus nature'' (c'est
lui qui souligne le dernier mot). M. Reinach s'ecrie: „Seul au
XVI 11^ siecle, Diderot a compris et senti la nature sous toutes
ses formes, la nature au sens large, infini du Cosmos." Et enfin
tout le monde ne s'accorde-t-il pas en affirmant que c'est Rous-
seau qui a renouvele le sentiment de la nature?
110
C'est ä n'y plus comprendre grand'chose. Je sais bien qu'il
y a nature et nature et que, dans les differentes assertions citees,
!e mot n'est pas pris dans le meme sens, mais enfin, il reste,
semble-t-il, dans cette question du retour ä la nature assez ä
eclaircir pour que je borne ä cela mes faibles essais d'aujour-
d'hui.
Distinguons d'abord entre la nature humaine et la nature
au sens large du Cosmos:
II est tres vrai que Diderot fut nature, c'est-ä-dire qu'il lächa
bride ä toutes les idees plus ou moins extravagantes qui lui pas-
saient par la tete. II ne connut guere la retenue des esprits froids
et des ämes chastes, il s'etala constamment, sans discretion et
Sans pudeur. II est bon evidemment de suivre ses impulsions
naturelles quand elles porlent ä la piete filiale et ä l'amour pa-
ternel, quand elles incitent ä etre franc, loyal, obligeant avec ses
amis, sincere dans ses ecrits. Mais le cynisme et la vulgarite?
Cela est moins bon et tout aussi nature. Diderot etait du peu-
ple et le resta. Cela, c'est evidemment une affaire de naissance,
et aussi d'education, de temperament, de caractere. Renan, issu
du peuple, eut des goüts aristocratiques; Rousseau, tout en te-
moignant d'autant de fougue que Diderot contre les riches, les
grands et les privilegies, eut plus de delicatesse d'äme.
Mais passons vite de l'homme ä ses theories: Pour Diderot
comme pour Rousseau, Tliomme est naturellement bon. Voilä
le fin fond de leur morale et meme de toutes leurs idees anti-
chretiennes. Mais pour Diderot, c'est la societe civile, une veri-
table „divinite sur la terre," qui donne la mesure de la moralite
en la faisant passer sous le gabarit de l'utilite commune. C'est
eile qui fait les hommes bons. II est naturel de vivre en societe,
et l'homme naturel etant bon, c'est Institution sociale qui con-
vient le mieux ä l'homme et assure le plus parfaitement son
bonheur.
On m'objectera tout de suite les peintures pessimistes de
Diderot, son portrait du Neveu de Rameau, par exemple: —
Oui, le personnage est terriblement immoral ä force d'etre amo-
ral, c'est un fauve, c'est une force de la nature lächee en pleine
societe . . . Mais, voilä justement le noeud de la theorie de Di-
derot, c'est que la societe actuelle obeit ä des regles antinaturelles,
111
qu'elle est mal et artificiellement constituee, que son code n'est
pas celui d'une libre association d'hommes libres. Elle respecte
des Privileges, eile se soumet ä des lois religieuses, eile est liee
sous le joug du despotisme, eile est pourrie d'abus, eile se
meurt sous l'arbitraire et le bon plaisir. Si tout cela disparais-
sait, la societe deviendrait bonne et ne formerait que des hom-
mes ä sa ressemblance.
Ce n'est pas un auteur immoral qui peut s'ecrier comme
Diderot, qu'il aimerait mieux avoir rehabilite Calas que d'avoir
compose le plus sublime chef-d'ceuvre du |monde. Mais il se
trompe, comme Rousseau, en croyant que c'est la societe qui
fait l'homme. — C'est l'homme qui fait la societe. 11s ne con-
naissent ni Tun ni l'autre l'origine humble et reelle et miserable
de la civilisation. 11s ne se representent pas comme nous l'homme
sauvage de l'epoque du mammouth; ils n'en soupcjonnent pas
la ferocite naturelle. L'antiquite ne leur leguait que les belies
images d'un Plutarque et ils ne pouvaient remonter plus haut.
Alors ils s'imaginaient tres candidement que la vie sauvage est
la meilleure et ils croyaient [que l'institution sociale doit etre
abolie (Rousseau ... et encore!) ou remaniee (Diderot). — No-
tons en passant que nous souffrons encore de ces theories erro-
nees porsque nos bons legislateurs esperent fermer les prisons
en ouvrant des ecoles ou en ameliorant les lois; car l'homme
naturel ne se servira de l'instruction ou de la bonne loi pour
le bien que dans la mesure oü il sera bon dejä, et le probleme
reste entier. En tout cas, personne n'a prouve que l'homme
naturel tut necessairement corrompu des sa naissance, et je croi-
rais plutöt le contraire, mais si haut qu'on remonte le cours des
äges, l'enfant se trouve en contact avec des hommes mauvais
qui ont fait une societe mauvaise.
Quoi qu'il en soit, cet homme naturel pourra avoir des pas-
sions plus fortes, des sensations plus vives, des amours ou des
haines plus violentes que le mannequin, l'esclave ou l'ascete des
societ^s chretiennes. Si ces passions etaient orientees vers un
but utile ou grand, il en r^sulterait pour la communaute de
tres precieux avantages. C'est ce que Diderot a fort bien vu, et
il faut aller jusqu'ä Zola pour retrouver pareil hosanna aux for-
ces naturelles liberees, ä la vie aimee, librement epanouie, de
112
plus en plus riche, feconde, souverainement bonne, ä la vie glo-
rifiee . . . „C'est le comble de la folie, s'ecrie Diderot, que de
se proposer la ruine des passions. Le beau projet que celui d'un
devot qui se tourmente comme un forcene pour ne rien desirer,
ne rien aimer, ne rien sentir, et qui finirait par devenir un vrai
monstre s'il reussissait! . . Le chemin du bonheur est le che-
min de la vertu. Le temoignage de soi, voilä la source des vrais
biens et des vrais maux. On a tort de s'en prendre aux passions
des crimes des hommes; c'est leurs faux jugements qu'il faut
accuser. 11 n'y a que les passions et les grandes passions qui
peuvent elever Käme aux grandes choses . . ."
Rousseau, que je sache, n'a pas ete aussi loin. Quoi qu'il en
soit, sa morale est restee plus chretienne que celle de Diderot,
et en ethique, ce n'est pas ie genevois qui a ete le precurseur
de Nietzsche, c'est le champenois.
En un autre sens et sur un autre point — mais qui se rap-
porte ä une conception meilleure de l'humanite naturelle — Di-
derot a eu des idees bien plus modernes que Rousseau. II a
rehabilite la femme. il faut comparer, comme je viens de le
faire, les pages sur Soy[7A/£ ä Celles sur la Dissertation de Thomas;
Diderot a dit: „La soummission ä un etre qui lui deplait est
pour eile un supplice." Et plus loin on croirait entendre Miche-
let parier de leternelle et delicate malade ou Maeterlinck dire
que les femmes sont plus proches parentes que nous de l'infini...
Pauvres femmes! comme il les comprend, comme il les plaint,
comme il a le sentiment des iniquites incalculables qui se sont
commises ä leur egard, comme il les suit avec Sympathie dans
leur existence close, miserable, servile! II s'ecrie: „Elles ont
ete traitees comme des enfants imbeciles!" Et il voudrait tremper
sa plume dans l'arc-en-ciel pour continuer ä en ecrire. „Fixez,
conjure-t-il les hommes, fixez avec plus de justesse et d'impar-
tialite les prerogatives de l'homme et de la femme!" Et il ter-
mine en affirmant que „quand elles ont du genie", il leur en
croit „I'empreinte plus originale qu'en nous."
En regard: pauvre petite Sophie et pauvre Rousseau! Com-
ment lui, l'homme de la nature, a-t-il pu preconiser le plus
etroit et cruel esclavage de la femme? Ce serait ä croire que,
comme l'avance cette mauvaise langue de Diderot, Jean-Jacques
113
a perdu bien du temps aux genoux des femmes, tandis que d'au-
tres ont bien mieux employe le leur dans leurs bras . . .
La femme, a-t-on dit, est une nature en petit, un veritable
microcosme, eile resume en eile toutes les merveilles de la nature
et en etant plus voisine, eile en a un sentiment plus vif que nous.
Des ecrivains candides ont ecrit de gros livres lä-dessus, moi le
tout avant-dernier, mais je n'y ai pas parle de Diderot, j'y ai parle
de Rousseau. Et voilä que j'entends partout crier que „Dide-
rot seul au XVIII^ siecle a senti la nature au sens infini du Cos-
mos", que „l'adoration de la nature est son genre de piete",
etc., etc. Je suis ahuri, je cherche dans ses oeuvres et voici ce
que je trouve: Une belle page dans son portrait de l'Enthousiaste:
„II aime, selon l'attrait de son coeur, ä meler ses pleurs au cris-
tal d'une fontaine . . ." etc., le morceau est suffisamment connu,
je crois; et il se termine ainsi: „O Nature, tout ce qui est bien,
est renferme dans ton sein ! Tu es la source feconde de toutes
les verites!" Et voilä! Dix-huit lignes. — 11 y a d'autres pages!
me dira-t-on ... — Oui, il y a, par exemple, celle oü il se
declare si content dans son lit pendant que l'orage gronde au-
dehors . . . le suave mari magno d'un bourgeois en bonnet de
coton. Mais enfin je cherche quelque chose d'analogue ä Vor des
genets et la pourpre des bruyeres, ä ce lac, et point un autre, ä
ces innombrables paysages enchantes de Jean-Jacques, et je ne
trouve rien.
Le Sentiment de la Nature? Diderot? Allons-donc! Otez-
vous cela de la tete, bons collegiens, car ce n'est pas vrai.
Et pourtant, ce meme homme, si sec et si froid devant les
splendeurs du monde, fut pantheiste et pantheiste-naturiste comme
les stoiciens, comme tous ceux qui ont senti palpiter dans les
veines de l'univers une Arne eparse, confuse et belle qu'ils ado-
raient instinctivement ä l'instar des premiers hommes.
Voilä qui est etrange. Mais ä coup sür, pas plus que de
voir Rousseau separer si nettement Dieu du monde. II y a lä
une double contradiction que je ne m'explique qu'ä demi, ä demi
en ce qui concerne Rousseau, et pas du tout en ce qui concerne
Diderot. Je crois bien, en effet, que c'est ä ses origines protes-
tantes que Rousseau a du d'echapper au pantheisme, car rien
n'egale l'horreur de la mentalite calviniste pour le pantheisme.
114
Le christianisme et le protestantisme en particulier qui a rendu
ses droits ä la raison, ont senti que le pantheisme etait leur seul,
leur grand ennemi, que l'esprit humain y arrive fatalement quand
11 a fait le tour des choses ...
Mais pour Diderot, je ne sais pas, je Favoue, pourquoi il fut
pantheiste puisqu'il ne fut pas impressionne directement par la
revelation de la Nature. D'abord, j'ai cru que c'etait une in-
vention des commentateurs, tout comme son sentiment de la
nature; car il dit lui-meme en note d'un de ses ouvrages: „Aie
toujours present ä l'esprit que la nature n'est pas Dieu", et, par
la suite, il parle en effet fort souvent de Dieu, comme d'un etre
personnel. Mais en d'autres ouvrages, et qui sont posterieurs
{\e Reve de d'Alembert, par exemple), oui, je dois bien l'avouer,
il se montre pantheiste. II n'y a qu'une substance douee de mou-
vement. — Cela lui suffit pour expliquer l'origine de tout. La
matiere unique, infiniment plastique et mobile, a pris toutes les
formes qui existent! c'est eile qui constitue le mineral, le vege-
tal, i'homme. (Ceci n'est que du materialisme, mais voici le pan-
theisme:) De ses formes organisees, la vie et la pensee sont
sorties, et il n'y a pas de Solution de continuite ä cet egard
dans toute la nature. La vie est en tout. En ce tout nos plus
heiles ou plus genereuses pensees elles-memes ont leur origine
et elles y puisent leur eclat fugitif et perissable. Rien ne demeure
pareil, rien ne se cree, rien ne se perd. Le prolongement de no-
tre plus infime velleite est eternel. II y a une force commune ä
toutes choses, une äme, une vie qui aime le grand corps protei-
forme et l'entraine par des modifications continuelles et des me-
tamorphoses de plus en plus excellentes vers le plus bei
avenir . . .
Diderot prevoit le darwinisme et prophetise les plus heiles de-
couvertes de l'anatomie en disant: „La fibre est un animal sim-
ple, I'homme un animal compose." Et de tout ce qu'il dit, ii
ressort qu'ä son avis, I'homme est un animal simple, une fibre
de l'animal compose qui est le Monde. Des innombrables essais
de la nature, les relativement bons, les viables seuls ont dure et
se sont perfectionnes. Voilä de l'evolutionnisme, du monisme,
du pantheisme, c'est clair. Mais c'est parti d'une physique. Dide-
rot n'est pas parti de l'emotion eprouvee au contact de la
115
beaute et de la vie partout repandues, il est parti ab abstracto,
d'une idee precon(;ue ^).
Ah! si les roles eussent ete renverses ! Si c'eüt ete Rousseau
qui eüt fait le tableau saisissant de rimmense monde considere
comme un seul etre organise, qui se füt eleve de la contem-
plation passionnee de ses beautes particulieres jusqu'ä la vision
et ä l'adoration de son Arne radioactive, source eternelle de
toute grandeur, de toute ardeur, de toute chaleur et de toute
vie! Si le melancolique et solitaire promeneur eüt pu pressentir
que tout est un et que l'unite est en tout, que l'ldeal, le Dieu,
I'Etre supreme ne sont que les images d'un meme ressort Inte-
rieur aux choses et aux etres . . . quelles splendides pensees
n'en eüt-il pas tirees! Ardent, tendre et reveur comme il fut, il
eüt trouve, pour celebrer la multiple beaute du monde et la ma-
jeste du Dieu cache, de tels accents qu'il aurait renouvele la so-
ciete, rajeuni le coeur de l'homme, cree une religion nouvelle
dont il serait encore le prophete parmi nous! Car enfin, voyez
ce que la decouverte de la verite fait dire ä Diderot meme, ä ce
sec et froid bonhomme, eile lui fait pousser le cri sublime:
Elargissez Dieu!
Qu'aurait donc pu dire Rousseau?
Disons le sans ambage: Le pantheisme, bien plus que le
deisme ou le theisme, est l'authentique religion naturelle. Si Ton
ne veut decidement plus de revelation divine speciale ou extra-
humaine ou reiteree ou non universelle, si Ton ne peut se re-
soudre au dualisme definitif, il faut arriver au pantheisme. La
tout s'accorde. Le pantheisme est la seule Philosophie qui soit
en meme temps une religion. II satisfait l'invincible besoin
d'unite de la raison. II retablit Dieu dans son plus Saint sanc-
tuaire, dans le coeur de l'homme. II laisse aux passions leur
force et leur grandeur, car, par la loi meme de l'indefini devenir,
en fin de compte toute force retrograde est aneantie, tandis que
^) C'est sans doute ä cause de ce pantheisme que Goethe l'a pu croire
allemand. On sait que Goethe, qui le premier fit imprimer le Neveu de Ra-
meau en sa traduction allemande, revendique Diderot pour FAllemagne.
Et par la suite quantite de Fran^ais ont bien voulu acquiescer. Mais pour-
quoi? Mais comment! Le bon citoyen de Langres, qui se comparait lui-
meme au coq gaulois n'a rien de germanique . . . ou je n'ai pas su le lire.
116
sont exaltees et centuplees ies energies naturelles qui sont vrai-
ment naturelles en ce sens qu'elles ont leurs racines profondes
dans l'idee fundamentale qui anime le coeur du monde. Le pan-
theisme prevolt et contient Ies plus modernes philosophies, comme
Celle de Bergson, car il donne ä l'instinct sa valeur divine puis-
que c'est par l'intuition seule que nous pouvons communiquer
avec l'Ame de tout, 11 identifie le vrai, le beau, le bien avec la
vie, non avec teile ou teile vie transitoire, mais avec la Vie qui
progresse et evolue de petites vies en petites vies. Avec lui, on
comprend l'evolution, la soif de perfection, la solidarite univer-
selle, l'elan de tous Ies etres vers le mieux et surtout cet elan
magnifique de l'äme vers l'infini de la beaute et de l'amour . . ,
Quel malheur donc que Diderot n'ait pas eu la sensibilite
d'un Rousseau ou d'un Saint Fran^ois d'Assise! Helas, comme
il le dit de son Thomas, „il a beaucoup pense, mais il n'a pas
assez senti. Sa tete s'est tourmentee, mais son coeur est de-
meure tranquille." Voilä pourquoi, malgre des scrupules, des
tätonnements, malgre un Systeme metaphysique boiteux et en-
core presque tout chretien, c'est Rousseau qui nous passionne
encore, car il a senti, lui, il a vibre et ä chaque instant il lais-
sait un peu de son grand coeur inquiet ä tout objet aimable ou
souriant, ä toute clarte epanouie dans Ies cieux ou sur la terre,
ä toute fleur, ä toute prunelle de femme . . .
11 n'a pas seulement eu le sentiment de la nature, il a eu
le sentiment de l'infini, et, en verite, il lui a manque bien peu
de choses pour etre Celui qui doit venir.
CHABEUIL MICHEL EPUY
D D a
VOM SPRECHEN
Um die Vorgänge beim Sprechen zu erforschen und dadurch
den Fehlern beim Sprechen abzuhelfen, haben die verschiedensten
Wissenschaften, jede von ihrem Standpunkt aus, zusammen ar-
beiten müssen, ohne dass das Fazit dieses vielseitigen Wirkens
heute schon gezogen wäre. Der Mediziner Hermann Qutzmann
in Berlin nennt eines seiner bedeutendsten Werke Physiologie
der Stimme und Sprache. Der Heidelberger Philologe Sütterlin
117
lässt seine vorzüglichen Vorträge unter dem Titel Lautbildung er-
scheinen. Sievers beweist in seinem Buche Grundzüge der Pho-
netik, dass die Lautangleichungen und die Sprachlaute der ver-
schiedenen Völker ethnologisch interessant sind. Der Wiener
Hofrat Kempelen baute vor mehr als hundert Jahren seine Sprech-
maschine und nannte sein Buch Mechanismus der menschlichen
Sprache. Und andere Werke wiederum behandeln das Sprechen
vom Standpunkt der musikalischen Akustik.
Trotzdem nun von allen Seiten her die lautliche Mitteilungs-
tätigkeit des Menschen erforscht worden ist, werden die Ergeb-
nisse in den Schulen nicht praktisch verwertet, wie es sein sollte.
Man glaubt eben, da jeder normale Mensch von seinem vierten
Lebensjahre an ohne weiteres spricht, dass eine eigentliche Schu-
lung nicht von nöten sei. Und doch wäre sie in Anbetracht der
vielen Berufe unerlässlich, ;die von ihren Vertretern anhaltendes
und weitvernehmliches Sprechen erfordern. Lehrer, Schauspieler,
Juristen, Prediger, Offiziere, ein Teil der Kaufleute, Politiker und
Beamten müssen oft den Mangel an richtiger Technik schmerzlich
empfinden, und mancher reife Mann holt nach, was die Schule
versäumte.
Das berufliche Sprechen stellt andere Anforderungen an den
Sprechorganismus als die ruhige Unterhaltung. Werden sie miss-
achtet, stellen sich fast unvermeidlich Stimmlosigkeit, Heiserkeit
und Ermattung ein. Auch beim Sprechen gilt es, das Prinzip des
kleinsten Kraftaufwands zu beobachten, die empfindlichen Organe
zu schonen und die schwere Arbeit den andern zu überlassen.
Mit dem Sprechzentrum im Gehirn, dem Sitz der Sprache,
kommt niemand zur Welt; es bildet sich erst in den ersten drei
Lebensjahren, und da ist leicht zu begreifen, dass gerade dann
die Umgebung für die Bildung der Sprache ausschlaggebend ist.
Deshalb haben auch die meisten Glieder einer Familie die gleichen
Sprechfehler. Das Kind ahmt ja gerade das Abnorme gern nach ;
ein schlecht sprechendes Kindermädchen kann großes Unheil an-
richten, besonders wenn das Kind für Mängel, die sich bei ihm
drollig ausnehmen, noch besonders gehätschelt wird. Kein Sprech-
fehler ist angeboren; nicht Zahnlücken, schief stehende Zähne,
oder eine dicke Zunge tragen die Schuld, sondern bloß üble
Gewohnheiten, die man bei zweckgemäßer Behandlung verlieren
118
kann. Selbst das Stottern kann durch Vernachlässigung oder
Nachahmung im frühesten Alter entstehen, wenn es nicht die
Begleiterscheinung einer Nervenkrankheit, etwa einer Angstneu-
rose, ist; von andern Fehlern, wie Überhasten, Lispeln, Zischen,
Näseln gar nicht zu reden.
Die Wirkung solcher Sprechmängel auf die Behafteten ist
tiefgehend. Ein Stotterer wagt kaum zu sprechen; er fürchtet
Überlegenheit oder Mitleid im Auge des andern zu lesen und
wird daher nicht selten menschenscheu und verbittert. Der lispelnde
junge Kaufmann kann nicht für sein Haus reisen; er ist zum
trockenen Kontorsitzer verdammt. Der Lehrer macht sich bei
seinen Schülern lächerlich, wenn er durch Sprachfehler Dichtwerke
um ihre Wirkung bringt. Die meisten Sprecher bei Festen und
Versammlungen erzeugen Kopfschütteln bei ihrer Hörerschaft,
wenn sie durch Wiederholung der Laute äh und hm, durch takt-
mäßiges Kopfdrehen auffallen, wenn sie den Wortakzent heraus-
schreien und die Endsilbe flüstern.
Der stimmgebende Apparat, der Kehlkopf, ist ein überaus
zartes und empfindliches Organ. Er enthält die beiden Stimm-
bänder, die durch den aus den Lungen gepressten Luftstrom zum
Schwingen gebracht werden. Die Lungen wirken dabei wie ein
Motor, der sicher und gleichmäßig arbeiten muss, soll nicht das
ganze Getriebe versagen. Erhöhte muskulöse Spannung der Stimm-
bänder lässt den Ton steigen, Lockerung lässt ihn sinken; die
Tonstärke aber ist vom Luftdruck aus der Lunge abhängig.
Die meisten schweren Sprechkrankheiten, Stimmschwäche oder
Stimmrauheit zum Beispiel, haben ihren Grund in einer Überanstren-
gung des Kehlkopfes. Der nicht geschulte Sprecher glaubt den Luft-
druck und die Stimmbandspannung erhöhen zu müssen. Der
stärkere Luftdruck löst aber einen Gegendruck der Muskeln aus,
die bei einem nicht Geübten rasch ermüden. Der Kehlkopf wird
blutüberfüllt, die Stimmbänder entzündet und geschwollen ; Räus-
pern, Hustenreiz und Heiserkeit sind die äußern Anzeichen eines
Ermüdungskatarrhs, der leicht chronisch wird. Zuerst will der
ermüdete Sprecher den Kehlkopf zu größerer Leistung zwingen
und erschwert dadurch beständig sein Übel. Viele Berufssprecher
119
und dilettantische Sänger werden dadurch heiser bis zum völligen
Verlust des Stimmklangs; gesunde Stimmen sind so selten, dass
sie als schöne Stimmen auffallen.
Auch Erregtheit und die Absicht, recht klangreich zu sprechen,
überanstrengen den Kehlkopf. Man hebt den Zungengrund und
presst den Kehlkopfdeckel nach unten ; so werden Luftstrom und Ton-
wellen am freien Herausströmen gehindert, und man versucht
wiederum durch vermehrte Kehlkopfarbeit den geschwächten Laut-
effekt wett zu machen. Ähnlich verhält es sich beim Näseln, wo
ein Teil der Luft zwecklos den Weg durch die Nase nimmt, und
auch für überstürztes, unregelmäßiges Sprechen muss der Kehl-
kopf büßen. Das Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes beim
Sprechen muss also darin gesucht werden, das man den Kehl-
kopf möglichst schont und dafür durch sorgfältige Schulung der
tonumformenden Organe des Mundes zu deutlicher, weit ver-
nehmbarer Aussprache gelangt; diese sind robuster Natur und
können viel Arbeit ertragen. Das ist aber schneller gesagt als
getan ; nur durch genaue Kenntnis der Vorgänge beim Sprechen
und durch eine scharfe Kontrolle über die eigenen Sprechorgane,
wie man sie nur durch Einsicht oder lange Übung erreicht, kann
man zu ökonomischen Sprechgewohnheiten gelangen. Ohne fach-
männische Einführung ist das aber natürlich ein Ding der Un-
möglicheit.
Es wäre daher sehr zu empfehlen, in den Schulen einen
systematischen Sprechunterricht durch besonders geschulte, gut
sprechende Lehrer erteilen zu lassen. Alles Phantastische, wie
es oft Gesangspädagogen zur Vermittlung des Lehrstoffes vor-
tragen, müsste aber dabei vermieden werden. Durch rhythmische
Übung der Atmung können die Schüler die Herrschaft über ihre
Lunge erreichen. Das alles sollte dann später durch besondere
Vortragsmeister an den Mittel- und Hochschulen weiter gefördert
werden ; einzelne Universitäten haben ja heute schon ihren Lektor
für Vortragskunst. Jedenfalls darf man nicht länger zusehen, wie
viele Leute durch einen Mangel an richtiger Gewöhnung in ihrer
Berufswahl und in ihrem Fortkommen schwer geschädigt werden
und wie ein wesentliches Mittel zum künstlerischen Ausdruck
unserer Seele immer mehr verkümmert.
ZÜRICH ALFRED üUTTER
aaa
120
° g THEATER UND KONZERT
a a
ZÜRCHER THEATER. Lohnt es
sich, über Tristan Bernards Komödie
„Das kleine Cafe" zu sprechen? Es
würde sich lohnen, wenn Fortgang
und Ausgang dem Eingang entsprä-
chen. Sie tun das nicht. Und so
wird aus einer Komödie, die drohend-
grausame Züge hätte annehmen, die
ins Tragikomische den Weg hätte
finden l<önnen, ein platter Schwank.
Ein Schurkenstreich soll an dem
Kellner Albert verübt werden. Sein
Brotherr, der von einem schmierigen
Winkelagenten auf dieses Geschäft
hingeführt worden und der Ver-
suchung zu raschem , mühelosem
Geldgewinn nicht widerstanden ist,
gibt sich zum Vollzieher hin. Näm-
lich: der Kellner hat eine mächtige
Erbschaft gemacht. Von dieser soll
ihm eine tüchtige Portion abgeknöpft
werden. Reich geworden, wird er
nicht mehr Kellner bleiben wollen.
Wie aber, wenn er von seinem Herrn
nicht loskommen könnte, ohne sich
mit einer gewaltigen Summe aus
seinem Dienstvertrag zu befreien?
Das ist die Schlinge, die ihm gelegt
wird. Noch weiß er nichts von sei-
nem Glück. Aber der Agent hat es
in Erfahrung gebracht, und nun souff-
liert er dem Cafehausbesitzer, er solle
noch rasch, bevor Albert von der
Sache erfahren, diesen durch einen
langjährigen Kontrakt an sein Ge-
schäft binden, indem er ihm ein ganz
bedeutendes Monatssalär aussetze;
sollte jedoch Albert oder sein Dienst-
herr vor Ablauf der langen Frist aus
diesem Vertrag austreten wollen, so
hat einer dem andern zweihundert-
tausend Franken zu zahlen. Wie ein
Ulk gibt sich diese Klausel der Kon-
ventionalstrafe; ungefähr wie das
Pfund Fleisch im Kaufmann von
Venedig. So siehts der Kellner auch
an, und er schlägt ein in den Pakt.
Da kommt der Postbote mit dem
eingeschriebenen Brief vom Gericht:
achthunderttausend Franken erbt der
Kellner Albert. Nun fragt sichs, ob
er einen Viertel des unverhofften
Goldsegens gleich opfern und sich
mit dem Rest auf die Rentier-Karriere
zurückziehen will. Da ist es nun ein
feiner Zug des Komödienschreibers,
dass gleich mit dem Geldbesitz der
Geizteufel in Albert erwacht; nein,
einen solchen Abzug will er sich
nicht gefallen lassen; lieber Kellner
bleiben, und die volle Summe be-
halten plus Monatslohn So ist der
Cafehausbesitzer der Geleimte. Frei-
lich auch der Kellner. Denn genießen
kann er auf diese Weise seinen Reich-
tum nur in den Nacht- und Früh-
morgenstunden, nach Ablauf seines
Berufs. So werden Beide Opfer des
Vertrags.
Das ist die Situation, wie sie sich
am Ende des ersten Aktes ergibt.
Aber sie wird im folgenden nur
juxhaft ausgebeutet. Wie die beiden
in dem Netz des Vertrags zappeln,
der dem einen, dem Arbeitgeber, das
Geld herauspresst, dass er sich kaum
rühren kann, dem andern, dem Ar-
beitnehmer, den Genuss seines Gel-
des (natürlich mit Weibern) auf alle
Weise erschwert und zu einer auf-
reibenden Strapaze macht — das ent-
wickelt Tristan Bernard nur nach der
Seite einer höchst billigen Schwank-
lustigkeit hin, so dass er schließlich
keinen andern Ausweg mehr findet,
als die Sache durch eine Verheiratung
des reichen Kellners mit dem Töchter-
lein des geprellten Cafehausbesitzers
ins philiströse Geleise zu bringen.
Ein scharfer, unbarmherziger Psycho-
loge wie Henry Becque hätte aus
dem selben Stoff eine echte Comedie
mit tragischen Untertönen, wenn nicht
gar mit einem tragischen Schluss
121
THEATER UND KONZERT
C3 C3
aufbauen können, indem der Eine an
dem Vertrag sich wirklich und wahr-
haftig verblutet, und der Andere an
seiner Doppelexistenz zugrunde geht.
Von dem furchtbaren Hass gar nicht
zu reden, der zwischen den Zweien
sich naturgemäß aufrichten würde,
die in dem kleinen Cafe tagtäglich
mit einander leben' müssen, während
einer dem andern das Lebensmark
aussaugt.
So spinnt man sich unwillkürlich
dieses ertragreiche Komödienmotiv
aus, das unter den Händen Tristan
Bernards mit ganz unbedenklichen
Schwankmitteln ins platt Amüsante
herabgezerrt worden ist. h. trog
LA COMßDlE FRAN^AISE A
GENEVE. Messieurs et Mesdames
les societaires du theätre national
de la Comedie fran^aise ont donne
ä Geneve, avec la distribution habi-
tuelle, une Serie de cinq represen-
tations de pieces du repertoire. Cela
a pris l'allure d'un evenement con-
siderable. Nos ediles, qui se piquent
volontiers de litterature et d'art, ont
offert ä ces celebrites de la scene
un dejeuner, au cours duquel on
n'entendit, parait-il, qu'un seul dis-
cours, ce qui est, en verite, chose
stupefiante. La chose, en effet, me-
ritait bien que l'on se derangeät.
Jamais Geneve n'avait abrite dans
ses murs un pareil ensemble de co-
mediens et de tragediens, jamais
notre public n'avait eu l'occasion de
voir, Sans se deranger, d'aussi par-
faites representations de Berenice,
de Polyeucte, du Jeu de l'amour et
du hasard, ou du Mariage de Fi-
garo.
La Comedie fran^aise jouit
d'une reputation mondiale. Personne
n'ignore ce qui se fait et ce qui se
dit dans la maison de Moliere. Ce
theätre d'Etat passe pour le Con-
servatoire du bon goüt, du style, de
l'elegance fran^aise, de la dignite.
Regi par le decret de Moscou, le
Theätre-franijais n'engage point d'ar-
tistes: il admet des societaires et
s'adjoint quelques pensionnaires, fu-
turs societaires eux aussi. 11 doit
donner au moins quatre represen-
tations hebdomadaires d'cEuvres clas-
siques, et ne peut representer plus
de deux fois en une semaine une
piece nouvelle, quel que soit son
succes. En outre une foule de pres-
criptions, de reglements, de coutu-
mes et de traditions donnent ä cette
Maison une place unique parmi les
autres theätres. Et puis Messieurs
les Comediens frangais ne sont point
de simples artistes : ils sont fonc-
tionnaires . . .
La Comedie fran^aise est consi-
deree comme le seul theätre capa-
ble de representer de fa^on parfaite
une tragedie de Racine ou une co-
medie de Moliere, gräce ä une ho-
mogeneite d'interpretation introu-
vable ailleurs; et comme la troupe
complete de la Comedie frangaise
se deplace ä peine deux fois par
siecle, on peut se rendre compte
du grand mouvement de curiosite
qui amena cinq soirs consecutifs la
foule au grand theätre de Geneve.
Puisque, aussi bien, nous avons
eu ce bonheur d'assister ä ces re-
presentations parfaites de quelques-
uns de nos chefs-d'oeuvres classiques,
qu'il nous soit permis de resumer
ici les impressions que nous avons
ressenties au cours de ces soirees
memorables, et aussi les observa-
tions que nous avons faites touchant
le choix des pieces et les details de
l'interpretation.
*
Le Premier soir VAventuriere
d'Emile Augier obtint ä peine un
122
THEATER UND KONZERT
succ^s d'estime. Les applaudisse-
ments allerent plus volontiers aux
interpretes qu'ä l'oeuvre elle-meme,
laquelle, il faut le dire, est prodi-
gieusement ennuyeuse. Le röle de
donna Clorinda met en valeur la
beaute et la prestigieuse science du
theätre de M^e Cecile Sorel, mais
ce n'est pas une raison süffisante.
De cette oeuvre vieillie, longue, lan-
guissante et terne, ecrite en mauvais
vers, il n'y a rien ä tirer, et Ton se
demande pourquoi la Comedie fran-
(;aise ne nous a pas donne ä la
place une comedie de Moliere, qui
ne fut represente, au cours de cette
Serie, par aucune de ses oeuvres.
Tout au plus, une scene assez vi-
goureusement menee, une Situation
assez forte font-elles pressentir
l'energique et puissant dramaturge
de Maitre Guerln. Gabrielle, L'Aven-
turiere, Philiberte sont bien la par-
tie morte de l'oeuvre d'Augier, et
tout le talent d'une incomparable
coquette n'arrive pas ä ranimer ces
melancoliques momies de l'Ecole du
Bon sens. Et quand on songe que
cette comedie fit en son temps Illu-
sion, que l'on se plut ä saluer en
eile une forme nouvelle de la piece
de niceurs, on eprouve quelque tris-
tesse. Que seront dans cinquante
ou soixante ans les pieces que vo-
lontiers nous saluons de chef-d'oeu-
vre ... La Comedie frangaise est
le Conservatoire frangais de I'art
dramatique, soit, eile n'est pas une
necropole . . .
Le second soir, par contre, la
Comedie fran(;aise prit une eclatante
revanche avec Berenice. Le röle de
la reine de Judee etait tenu par
Mme j. Bartet, celle que depuis quel-
ques annees dejä on nomme la Di-
vine. Elle y est sublime, il faut le
dire, et sublime sans cris, sans ex-
ces et sans contorsions. Une repre-
sentation de Berenice avec cette
grande artiste est peut-etre ce que
i'on peut voir de plus beau, de nos
jours, sur une scene franc^aise. M^e
Bartet est d'une incomparable sim-
plicite. Elle joue d'une fa(;:on si ex-
quisement naturelle et en meme
temps si noble et si majestueuse
que c'est une merveille. 11 n'y a riert
de particulier ä admirer; tout est
dans l'ensemble. On ne „tique" sur
rien. Le röle se deroule dans une
Progression continue, sans arret et
sans heurt, pour atteindre ä ce de-
chirant cinquieme acte qui provo-
qua des sanglots dans le public.
Pleurer ä une tragedie! Le grand
Conde ne pleurait-il pas ä Cinna?
Et puisque nous en sommes aux
spectacles de tragedie, parlons ra-
pidement de Polyeucte et de l'inter-
pretation qu'en donne M. Mounet-
Sully. On sait combien ce grand
tragedien est venere par tout ce qui
en France touche de pres ou de loin
au theätre. J'etais, je dois le dire, tres
curieux de le voir dans ce röle, oü l'on
se plaisaitä le trouver incomparable.
II faut avouer, sans rabaisser en rien
son talent, que les moyens, jadis
admirables, de M. Mounet-Sully com-
mencent ä lui faire defaut. Apparte-
nant ä une „ecole" theätrale dont il
est le dernier representant, M. Mou-
net-Sully aurait pu, cependant, tem-
perer les eclats de son organe for-
midable; le public n'eüt pas ete moins
emu. Et puis toute cette tragedie, si
belle, si grande et si noble soit-elle,
interesse mais n'emeut guere. Mf"«
Segond-Weber, cette actrice si peu
sensible et si intelligente, est evi-
demment l'interprete ideale de Pau-
line, comme M^e Bartet est l'inter-
prete ideale de Berenice. Elle est
cornelienne, c'est une qualite et, si
l'on veut, quelquefois un defaut.
Et maintenant, puisqu'il s'agit icr
123
THEATER UND KONZERT
d'esthetique theätrale et d'interpre-
tation, je voudrais risquer une re-
marque, qui fera bondir d'indignation
les fanatiques de la grande maison.
Les cadres de la troupe tragique
sont decidement un peu caducs. N'y
a-t-il pas, ä la Comedie frangaise, un
tragedien jeune et ardent pour jouer
le röle de Titus? M. Paul Mounet y
est tres beau de style et de no-
blesse, soit, mais en verite est-il bien
l'empereur Titus qui tant fit pleurer
la reine Berenice? Et d'une ia<;on
plus generale encore, pourquoi tous
ces heros de tragedie, rois ou guer-
riers, figures par des acteurs, qui,
quelque grand que soit leur talent,
ne fönt decidement plus Illusion?
„Cela fait bien vieux" disait un
spectateur, ä la sortie du theätre. Je
ne parle pas, bien entendu, des ca-
dres feminins qui sont incomparables.
Les spectacles de comädie furent
infiniment plus goütes, d'une fa^on
generale. Le gendre de M. Poirier
est Sans doute une comedie de se-
cond ordre, mais eile annonce, plus
encore que VAventuriere, la grande
comedie d'Augier. Mais ni le Mar-
quis de Freies, ni le bonhomme
Poirier ne sont de notre temps. Les
personnages ont vieilli, et si la co-
medie ne laisse pas de plaire encore,
c'est que malgre tout eile renferme
des observations fines et justes, et
un fond d'eternelle verite. M. de Fe-
raudy, lequel jouait le röle de Poi-
rier, est un des premiers comediens
de France, et probablement un des
Premiers comediens de ce temps. 11
donne au legendaire bonhomme un
relief prodigieux. C'est mieux que
nature. 11 Hausse le personnage, et
en fait un type universel. II trans-
pose: cela est le trait du grand
acteur. Quant au Jeu de l'amour
et du hasard et du Mariage de Fi-
garo, ce fut la perfection meme.
Mme Bartet etait Sylvia et Mme Le-
conte etait Lisette ; M. Georges Berr
etait Pasquin et Figaro; M^e Le-
conte etait Cherubin ; Mme Cecile
Sorel etait la Comtesse ; Mme Berthe
Cerny etait Suzanne et M. de Fe-
raudy etait Bridoison. L'auditoire
emerveille a vu l'interpretation la
plus belle que l'on puisse rever des
chefs-d'oeuvre de Marivaux et de
Baumarchais. Le prodigieux feu
d'artifice qu'est le Manage de Figaro
a pcrte comme il y a plus d'un siecle,
aux jours charmants et terribles des
dernieres annees du dix-huitieme . . .
GEORGES QOLAY
NEUE BÜCHER
D D
D D
Dr. VAERTING- BERLIN. Das
günstigste elterliche Zeugungsalter
für die geistigen Fähigkeiten der
Nachkommen. Würzburg, Curt Ka-
bitzsch 1913. — 63 Seiten.
Diese hochinteressante Unter-
suchung geht aus von einer Tabelle
der bedeutendsten Männer des vori-
gen Jahrhunderts, in der zugleich
der Stand ihrer Väter und das Le-
bensjahr, in dem sie den genialen
Sohn zeugten, angegeben ist. Der
Verfasser kommt zu dem Schluss,
D a
a a
dass die geistig leistungslosen Väter
die Fähigkeit, einen hervorragenden
Sohn zu zeugen, bis zum 43. Alters-
jahr besitzen, während bei Vätern,
die selber hervorragende geistige
Leistungen aufzuweisen haben, diese
Grenze um so tiefer sinkt, je be-
deutender diese Leistungen sind, und
zwar bis zum 30. Jahr herab: her-
vorragende Väter haben ihre be-
rühmten Söhne durchweg in jugend-
lichem Alter gezeugt! „Geistige Ar-
beit, besonders ihre höchste Form,
124
NEUE BÜCHER
die produktive und selbständige Tä-
tigkeit, nehmen das Gehirn stark in
Anspruch. Das Gehirn wird erstens
stark ausgearbeitet, die Anlagen blei-
ben nicht latent, sondern werden in
höchstmöglichem Maße realisiert, ak-
tuell; zweitens ist bei angestrengter
Geistesarbeit der Verbrauch an psy-
chischer Energie sehr stark. Durch
diese möglichst große Umsetzung
aller psychischen Kräfte in Leistun-
gen wird eine große Ansammlung
potentieller psychischer Energie ver-
hindert." Wenn also geniale Väter
so selten ebenbürtige Söhne haben,
so rührt dies, wie die wenigen Aus-
nahmefälle zeigen, nur daher, dass
sie, infolge unserer sozialen Ver-
hältnisse, zu spät zur Zeugung ge-
langten. — Was den Anteil der Frau
anbetrifft, so stellt Vaerting als untere
Grenze das23.Altersjahr fest; darunter-
liegende Fälle sind sehr selten und
rücken keinesfalls unter das 20. Al-
tersjahr (von Goethes Mutter, die
im 18. oder 19. Jahr geheiratet haben
soll, findet sich nur ein Taufzeugnis,
keine Geburtsurkunde vor!). Da die
Frau, je vielversprechender ihre psy-
chische Konstitution ist, einer um
so längeren Ausreife bedarf, so läge
die günstigste Kombination, innerhalb
der zwanziger Jahre, in der Zeugung
eines jüngeren Mannes mit einer
älteren Frau; was unsere Sitte als
Ausnahmefall und Nachteil für die
Beteiligten empfindet, wäre also ge-
rade ein Vorteil für die kommende
Generation. Dadurch erfährt die bei
geistig, namentlich künstlerisch Be-
gabten in jüngeren Jahren so häu-
fig nachgewiesene Liebe zu einer
reiferen Frau eine neue Beleuchtung
und tiefere Begründung! — Bei den
heutigen Verhältnissen, die die Frau
zu früh, den Mann zu spät in die
Ehe führen, greifen im Hinblick auf
den günstigsten Zeugungsmoment
die Geschlechter aneinander vorbei.
Vaerting sieht darin einen ungeheu-
ren Verlust für die Menschheit und
nennt als Ausweg: „Der junge Mann
könnte in den Jahren, in denen er
noch nicht über die notwendigen
Einkünfte verfügt, eine Ehe mit einer
berufstätigen Frau führen." Da auch
in der Tierzucht die besten Ergeb-
nisse bei einem ähnlichen Alters-
verhältnis erzielt wurden, so glaubt
der Verfasser ein allgemeines Le-
bensgesetz nachgewiesen zu haben;
er erwartet von der Einsicht in
seine Gültigkeit, dass sich das Ver-
antwortlichkeitsgefühl jedes Einzel-
nen in dieser wichtigsten Frage des
Daseins immer mehr steigern werde.
KONRAD FALKE
O
D
□
D
BILDENDE KUNST
D
D
D
D
Im ZÜRCHER KUNSTHAUS ist
gegenwärtig das vollständige gra-
phische Werk Albert Weltis ausge-
stellt, ohne Zweifel eine viel verdienst-
lichere Tat für sein Andenken als
die letztes Jahr veranstaltete Schau
über alles, was er seit Kindesbeinen
mit Pinsel und Farbe schuf. Wurde
man damals den Gedanken nicht
los, dass all das mit Ächzen und
Seufzen und Überwindung großer
Widerstände vollbracht worden sei,
so sieht man um so eher die Lust,
mit der Welti an seine graphischen
Arbeiten gegangen ist. Leicht und
frei, wie das Lied aus der Kehle des
Vogels quillt, trug er jedes Erlebnis,
Lust und Schmerz, auf die Metall-
platte. Die Radierung wurd ihm zum
Freundesbrief und zum Lied; in je-
dem Blatt fühlt der tastende Finger
eine einsame, einartige und auch
125
BILDENDE KUNST
dort, WO sie abwehrt, höchst gütige
Seele mit regem Pulsschlag und
warmen Blut. Den Katalog des gra-
phischen Werkes von Albert Welli,
von Dr. W. Wartmann bearbeitet und
von der Zürcher Kunstgesellschaft
in diesen Tagen herausgegeben,
überschaut man mit seinen ver-
kleinerten Wiedergaben fast aller
graphischer Arbeiten Weltis wie ein
Künstlerleben in Symbolen. Nament-
lich die beiden Blätter über Tod
und Bestattung von Weltis Frau wird
man nicht ohne Rührung betrachten
können.
Fünf Bilder von Lovis Corinth
sind eine besondere Anziehung für
diese Ausstellung. Das Bildnis Trüb-
ners, frisch wie wenn es noch nass
wäre, zeigt das wunderbare Können
dieses Gewaltmenschen von der
besten Seite. Ein dunkler Kuhstall
vom Jahr 1879 wird besonders jene
erfreuen, die an der Entwicklung
eines Künstlers mehr Genuss noch
finden als am einzelnen Werke.
Die Landschaften von Emil We-
ber in Feldbach sind zum Teil mit
gleichmäßigem weichem Licht erfüllt,
das die Farbe zusammenhält, ohne
dass große Kunstmittel zur Ver-
wendung gekommen wären. Andere
Bilder hingegen, besonders die größe-
ren Stücke, wirken wie Intarsien ;
hellgrüne Bäume neben ganz dun-
keln, ohne dass die Luft vermittelte,
ein Himmel mit rotvioletten Tönen,
der für die farbige Haltung des Ge-
ländes ganz ohne Bedeutung ist.
Und daneben wieder gutabgewogene,
ausdruckstarke Sachen wie die
Bauernschenke. Sicherer in ihrem
Können sind unbestreitbar Rudolf
Low und Wilhelm Hummel, dieser
mit zarten Darstellungen schweize-
rischer und französischer Landschaf-
ten bei vortrefflicher Auffassung von
Wolken und Beleuchtungseffekten,
jener diesmal mit der eigenartigen
Formen- und Farbenwelt Schwedens.
Eine besondere Note bringt der
durch 85 Bilder vertretene Münchner
Hans von Faber du Faur. Die älte-
ren Stücke sind noch ganz in der
alten Art mit brauner Untermalung
gehalten ; doch geben die Bildnisse
mit durchaus großen Mitteln Form
und Ausdruck wieder. Nachher sucht
Faber du Faur zur reinen Farbe zu
gelangen, und es ist überaus anre-
gend, bei allen Etappen dieses ehr-
lichen Strebens, das von billigen und
sichern Erfolgen wegführt, einen
Moment still zu stehen. Mag man
auch nicht mit allem einverstanden
sein: das vorläufige Endziel, die
Maskerade, ist ein Bild, das Kraft
mit Zartheit paart, das Mensch-
liches mit Delikatesse wiedergibt
und lauter leise Farben zu einem
runden Akkord vereinigt. Monu-
mentalität mit andern Mitteln als
bei Hodler, aber entschieden Monu-
mentalität. A. B.
D D
D a
TAGEBUCH
DIE MEUTEREI. Das erfreulich-
ste, was über die Ereignisse an der
Flüela gesagt werden kann: die In-
terpellation im Nationalrat bewies,
dass das Eidgenössische Militär-
departement nun in starken und ge-
wandten Händen ruht; die sicherste
Gewähr, dass ähnlichen Vorkomm-
nissen künftig ein Riegel geschoben
wird.
Und im Grunde nicht weniger er-
freulich : Wir Schweizer dürfens sagen,
frei und keck. Überall bei den Nach-
barn hätte in einem solchen Fall die
Vertuschungs- und Dementierma-
schine mit Volldampf gearbeitet; wir
126
TAGEBUCH
nennens beim Namen und streichen
am guten Ende noch schmunzelnd
den Trost und die Komphmenie aus-
ländischer Zeitungen ein. Und dass
der Mann, der es keck heraussagte,
durchbrannte, wenigstens in der
Form, wer will es ihm verargen?
Nur die Ackergäule blicken hoch-
mütig auf das Vollblutpferd, wenn
es durchbrennt. Denn bei ihnen
kommt so etwas nie vor. Grundsätz-
lich nicht.
Und erfreulich ist auch, dass wir
eine Truppe, die gegen die Manns-
zucht gefehlt hat, nicht weiter zu
strafen brauchen als durch vermin-
dertes soldatisches Ansehen. Gerade
weil wir wissen, wie zuverlässig sie
im Grund ist und wie sehr sie sich
anstrengen wird, ihren guten Ruf
zurückzuerlangen.
Das unerfreulichste, unerfreulicher
noch als das Versagen der Truppe,
ist das vollkommene Versagen der
Subaltern- und Unteroffiziere. Frei-
lich, wenn man ihnen keine Zeit zur
Einzelausbildung gibt, gibt man ihnen
keine Gelegenheit, zwischen sich
und der Mannschaft die zähen Drähte
der Mannszucht zu spannen. Und
dennoch hätten sie die Truppe
meistern sollen, und wenn es selbst
mit der Waffe in der Hand hätte
sein müssen. Wenn es allerdings bei
einer Truppe soweit kommt, dass
sie, wie man erzählt, ihr Missbe-
hagen durch Pfeifen zu äußern
pflegt, sollte man mit rückwirkender
Kraft alle Offiziere einsperren, die
sich das je haben gefallen lassen.
Bei der Disziplin kommt alles auf
die untern Chargen an. Da aber
in den meisten Bergkantonen, wo
alle sich kennen und duzen, der junge
Offizier oft auch gern Schulpfleger
und so weiter bis Nationalrat werden
möchte und sich im Verkehr mit der
Mannschaft darauf einrichtet, so
könnte man hier niemals genug durch
Abkommandierung junge Offiziere,
die von der Mannschaft in jeder Be-
ziehung unabhängig sind, neben die
allzu freundlichen Nachbarn des Ge-
birgssoldaten setzen. Dass viele
Kantonsregierungen darauf verses-
sen sind, die höhern Kommando-
stellen selbst zu besetzen, ist ein
Landesunglück ; muss aber wohl noch
lange geduldet werden. a. b.
„HITZIG! WITZIG! TEMPERA-
MENTVOLL!" So stehts auf dem
grasgrünen Reklamekreuzband. Her-
einspaziert, meine Herrschaften ! —
Bumbum, Trara! ., Vernichtend für
die Hodlerclique!'" Eintritt nur eine
Mark!
Hat da also über Die Schweizer
Abteilungauf der XI. Internationalen
Kunstausstellung in München ein
Ehrenmann, der sich Cato nennt,
ein Schriftchen geschrieben, dem er
vornehm den Untertitel Zur Steuer
der Wahrheit gibt (Verlag der Ver-
einigten Kunstanstalten A.-G. Mün-
chen). Er befasst sich darin fast
ausschließlich mit mir und meinem
Bericht über München, den ich am
letzten 15. Juni in dieser Zeitschrift
veröffentlicht habe {B. XII. S. 370),
und ich will ihm eine Antwort nicht
schuldig bleiben.
Es kann mir zwar nicht einfallen,
wenn einer Satz für Satz sich be-
müht, mich misszuverstehen, ihm zu
sagen, wie Satz für Satz gemeint sei.
Das verbietet mir schon die Achtung
vor dem Leser. Aber das darf ich
diesem Cato nicht verschweigen, dass
einer von vornherein ein übles Licht
auf seinen catonischen Charakter
und seinen Mannesmut wirft, wenn
er eine voll gezeichnete Kritik unter
Decknamen angreift.
127
TAGEBUCH
Die Schemenhaftigkeit hat zwar für
ihn den Vorteil, dass man nicht sicher
heraussagen darf, ob er Schweizer
oder Deutscher sei. Aber gleichviel:
für einen Deutschen wäre es nicht
gerade ein Beweis guter Erziehung,
wenn er wie Cato unsere Bundes-
versammlung ermahnte, Mitglieder
der Eidgenössischen Kunstkommis-
sion unfähig zu erklären, Ehrenstel-
len als Vertrauensmänner der schwei-
zerischen Eidgenossenschaft in Kunst-
angelegenheiten zu bekleiden. Die
häuslichen Angelegenheiten der Kunst
eines andern Landes sind jedem or-
dentlichen Kritiker tabu ; ihn be-
schäftigt nur die Kritik der Werke.
Wie hohl es aber tönt, wenn man
dieses Schriftchen auf kritische Werte
abklopft, kann niemand ein Geheim-
nis bleiben. Im Waschzettel ist zwar
zu lesen, es stehe auf dem Boden
des Schlagwortes „Der Wille zur
Form". O Inhalt, o Waschzettel!
Wenn aber ein Schweizer seine
Behörden durch eine im Ausland er-
schienene Schrift zu beeinflussen
sucht und vom Ausland her und aus
sicherm Versteck auf seine Lands-
leute schießt, so beweist er damit
eine Gesinnung, die ihn aus der
Gemeinschaft aller gesitteten Men-
schen ausschließt. Ich kenne nur
einen Menschen, dem ich das zutraue.
Es ist der selbe, der sich nicht
scheut, bei einem ausländischen Ge-
sandten gegen eine Kunstrichtung
seines Landes, die er nicht versteht,
Ränke zu schmieden. Und da Cato
über Einzelheiten des Wettbewerbs
für das Luzerner Kirchenbild, bei
dem P. T. Robert — offenbar zu
seinem großen Leidwesen — als Sie-
ger hervorging, vortrefflich unter-
richtet zu sein scheint, da ihm wei-
terhin auffällt, dass ich eine Statue
des Luzerners Siegwart zufällig nicht
erwähnt habe, und da schließlich eine
Kritik in einem Luzerner Blatt von ihm
als wichtige Angelegenheit behandelt
wird, muss ich aus allem schließen,
dass, wenn der Verfasser nicht in
Luzern zu suchen ist, er doch sicher-
lich von Luzern aus geheizt wurde.
Wie bei all den Schmähschriften, bei
denen das geschah, kommt ja in-
haltlich wieder die gleiche Leier
heraus, und auch die unverzüg-
liche Versendung an die Mitglieder
der Bundesversammlung ist das alte,
wohlbekannte Verfahren.
Von Cliquen spricht er immer,
der Herr Cato, von Cliquen ! a. b.
Q D D
BERICHTIGUNGEN
Die Neuen Gedichte von Adolf Frey sind nicht, wie unter dem Gedicht
Konzert stand, schon erschienen, werden aber in den nächsten Tagen im
Verlag J. G. Cotta herauskommen.
« »
*
In dem Aufsatz Neue Gedichte von Wilhelm v. Scholz hat sich auf
Seite 23 oben ein sinnstörender Druckfehler eingeschlichen. Es soll heißen :
Seine Sinne lösen sich nie zum Jubel . . . Ferner ist Seite 23 sechsletzte
Zeile zu lesen: Immer wieder schwindet das Reale.
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
128
Aus dem Schweizer. Jahrbuch
für Kunst und Handwerk m. G.
F. HODLER
Skizzen zu den Marignanofresken.
1H
GEDICHTE AUS DEM ENGADIN
Von MAX GEILINGER
*
HOCHTAL
Wie still die Berge um das Hochtal stehn . . .
Nur ihre Gletscher möchten überborden;
Sie aber sahn den Zug der Zeiten gehn,
Und sind vom Schauen stolz und still geworden,
Und stehn mit steilen Felsenohren dort;
Doch klingt fernhin das Summen früher Bienen . . .
Ja, sprecht ihr dann ein ernstes Frühlingswort,
Donnern Lawinen.
BERGKIRCHLEIN
Hellgrüne Lärchen. Und ein Kirchlein steht
Wie betend, weiß davor im Wiesenmeer.
Es lauscht dem Wind, der von den Höhen weht . . .
Er kommt von großen, stillen Gletschern her.
129
Die schweigend nach den stummen Matten schaun,
Den hellen Häusern mit den engen Zimmern, —
Von großen Gletschern, die im Abendgraun
Leuchten und flimmern.
WALDSEE
Es flutet der See, und hätt' gerne geschäumt.
Wie der Wind durch die Wälder zu schreien begann;
Doch wer lange, saftvolle Jahre verträumt,
Wird müd', und fängt niemehr zu brausen an.
EINNACHTEN
Wenn die letzten Schmetterlinge bebend
Gaukeln, matt von Liebesüberdrang,
Und die andern, kaum die Schwingen hebend,
Wunder träumen, was der Wind sich sang.
Und warum die weiten Gletscher leuchten;
Stehn wir beide, satt an Glück, und lauschen,
Sehn die Schmetterlinge liebesmatt vor feuchten
Felsen. Und die wachen weißen Wasser rauschen.
Berninahäuser
Sommer 1913
130
LA LfiQlON ETRANGERE
ET L'ALLEMAGNE
Depuis un certain nombre d'annees — et ces attaques se
sont multipliees au cours des derniers mois — une partie de la
presse allemande denonce presque quotidiennement les atrocites
dont auraient ete et seraient victimes des Allemands enroles ä la
Legion etrangere. Par dessus les cas particuliers c'est l'institution
meme que ces journaux incriminent. 11s la declarent immorale,
contraire au droit international, ä l'equite, ä l'humanite.
Je ne m'attacherai pas ä faire observer que c'est seulement
ä la Legion etrangere instituee par la France que s'en prend
cette campagne, ses promoteurs Ignorant ou feignant d'ignorer
que la Hollande pour ses colonies, l'Angleterre pour son armee
Interieure et indienne, les Etats-Unis pour sa flotte, recrutent
egalement des etrangers. Au nom de ces Etats on pourrait en
ajouter un autre: celui de TAllemagne elle-meme. Sa marine de
guerre, encore recente, manque de matelots exerces et de bons
pointeurs: eile ne dedaigne pas de les prendre partout oü eile
les peut trouver, c'est-ä-dire quelquefois chez nous, sur les navi-
res de notre flotte d'Etat. Qu'il y ait donc lä autre chose qu'une
question de fait et de droit, generalement et genereusement de-
battue: un signe, entre beaucoup d'autres, que les relations de
la France et de l'Allemagne ne sont pas aussi bonnes qu'on le
pourrait souhaiter, que l'opinion publique dans les deux pays
parfois — mais seulement du cöte de l'Allemagne dans le cas
qui nous occupe — se precipite toujours avec une inquietante
avidite sur les griefs qu'on lui presente; et que le gouvernement
allemand — on ne saurait faire, je pense, le meme reproche au
gouvernement fran^ais — laisse peut-etre assez volontiers ses
publicistes enregistrer et meme envenimer ces griefs: voilä ce
qu'il serait permis de soupgonner. Je prefere borner mes efforts
ä etudier cette question de la Legion etrangere le plus objective-
ment que je le pourrai. II y a en ce moment, dans notre Legion
etrangere, environ 600 Suisses sur un effectif de 14 000 hom-
mes. La Suisse elle-meme a donc un interet assez naturel ä
savoir dans quelle Situation materielle, morale et juridique se
131
trouvent ceux de ses enfants qui prennent du Service dans c«
Corps. Cest ce que je tächerai de garder en vue.
Historiquement, d'ailleurs, les Suisses peuvent etre conside-
res comme ayant constitue, jusqu'ä une epoque assez recente, le
fond meme de notre Legion etrangere. Louis XI, qui s'etait
dejä aper^u, comme dauphin, de leur valeur militaire, avait trouve
en eux des ailies solides contre Charles-Ie-Temeraire. Et ce fut
lui qui passa le premier avec divers cantons helvetiques des Ca-
pitulations^) qui, renouvelees plusieurs fois jusqu'en 1789, avaient
permis ä notre monarchie de posseder au moment de la Revo-
lution douze regiments et quelques compagnies privilegiees, for-
mees de Suisses et comptant comme notre legion, coincidence pu-
rement accidentelle mais curieuse, un peu plus de 14 000 hom-
mes. Apres le retour des Bourbons, ce furent encore les regiments
suisses qui seuls furent gardes des Clements non fran^ais que
Napoleon I^"" avait incorpores dans notre armee: on en fit le
regiment de Hohenlohe. Violemment attaquee par les liberaux ä
cause meme de sa fidelite au roi Charles X, cette troupe fut
dissoute en 1830. Mais presque aussitöt les necessites militaires
en Algerie obligeaient le Gouvernement ä recourir de nou-
veau au recrutement etranger: la Legion etrangere fut creee
(10 mars 1831). Beaucoup d'anciens soldats du regiment Hohen-
lohe: tous ceux, en fait, qui n'avaient voulu, ni retourner en
Suisse, ni renoncer ä la nationalite helvetique pour etre verses
dans un regiment frangals — l'esprit particulier du „legionnaire"
se montre dejä lä tout entier — s'enrolerent dans ce nouveau
corps que la Monarchie de Juillet eut l'infamie de vendre ä
l'Espagne en 1835, avec armes et bagages. Un grand nombre
de Legionnaires protesterent violemment, les officiers demission-
nerent en masse ... et quelques annees apres la Legion renais-
sait de ses cendres, constituee avec les memes elements, ou des
elements si pareils d'origine que deux decrets, le 17 janvier 1855
et le 16 avril 1856, deciderent que le l^"" et le 2"^^ regiments etran-
1) De ces capitulations, la France retirait un double avantage: eile se
procurait d'excellents soldats et eile empechait l'Autriche, son adversaire
d'alors, de les attirer ä eile.
132
gers devralent se composer uniquement de Suisses^). Ce ne fut
que quatre ans plus tard, en 1859, qu'il fut admis que des
etrangers appartenant ä d'autres nationalites pourraient entrer
dans ce corps. Les Suisses lui ont imprime leur marque, ils ont
contribue puissamment ä lui donner la physionomie qu'il a en-
core, et ces hommes, volontaires issus d'un pays libre, eussent
Supporte difficilement les brutalites et les humiliations. On ne
peut guere leur adresser qu'un reproche: c'est eux qui firent
connattre l'absinthe ä nos compatriotes. Encore n'eurent-ils que
d'excellentes intentions: ils avaient remarque que cette liqueur
ameliorait sensiblement le goüt des eaux seleniteuses des puits
algeriens, et de vieilles Instructions militaires, ä leur Sugges-
tion et ä leur exemple, enjoignent ä chaque compagnie d'en em-
pörter deux bouteilles. ils avaient prevu l'usage. Nous sommes
responsables de Tabus , . .
La guerre de 1870 changea totalement la composition de
la Legion etrangere. Les jeunes Alsaciens-Lorrains qui se refu-
saient ä servir sous le drapeau allemand et qui passaient en
France y contracterent des engagements. Le gouvernement fran-
^ais voyait lä, en effet, un moyen de ne pas perdre les Services
de recrues dont le patriotisme est ardent, tout en evitant ainsi
d'entrer en conflit juridique avec TAllemagne, qui leur impose
la nationalite germanique. On peut dire que c'est ä la suite de
ces Alsaciens-Lorrains que les AUemands se sont introduits dans
nos regiments etrangers en groupes plus importants que par le
passe. Revenus dans leur pays d'origine, y accomplissant des
periodes d'instruction militaire, ou simplement retrouvant chez
eux d'anciens camarades allemands, ces Alsaciens-Lorrains leur
ont vante la legion, ont etabli entre eile et le „Service" tel qu'il
est en Allemagne, des comparaisons qui n'etaient pas toutes ä
l'avantage de ce dernier. Et ainsi ils ont ete des recruteurs,
mais Sans le vouloir. Voilä comment la quantit^ des Allemands
passes ä la Legion etrangere, soit comme deserteurs, soit apres
avoir accompli leur temps de Service legal dans leur patrie, s'est
accrue pendant un certain temps dans des proportions assez
^) Ch. Poimiro, docteur en droit: La Legion etrangere et le Droit
International, p. 25. Berger-Levrault, Paris, 5 rue des Beaux-Arts.
133
considerables, pour osciller ensuite entre des chlffres qui ne va-
rient plus guere: par tous pays, il n'y a qu'un nombre determine
d'hommes ä qui convient le regime de la Legion. Nous verrons
tout ä l'heure pourquoi. Ce qu'il taut retenir des maintenant,
c'est que ces Allemands enröles ä la Legion ont recrute ä leur
tour pour eile, simplement par leur exemple et leurs recits. Et
la nature humaine est ainsi faite que la campagne dirigee en
Allemagne contre la Legion aura peut-etre pour resultat de sus-
citer dans ce pays une recrudescence d'engagements: les lecteurs
des journaux pangermanistes cherchent ä entrer en relations avec
d'anciens legionnaires, ils se renseignent: „Est-ce que ces
choses sont vraies?" On leur repond qu'elles ne le sont pas,
rien n'est moins douteux: car il y a en Allemagne plusieurs
associations formees par ces legionnaires et nulle d'entre elles
n'a Joint ses protestations ä Celles de la presse. L'imagination,
le desir de voir des pays neufs, d'echanger la discipline de
caserne contre une autre, en realite plus souple, celle de la
guerre, agissent alors ... et l'on quitte son regiment allemand
ou sa petite viile allemande pour aller se faire inscrire, de l'autre
cöte de la frontiere, sur les roles de ce corps tant decrie.
Les Allemands y deviennent les freres d'armes de soldats
venus de tous les coins du monde, meme et surtout de France,
car depuis 1870 l'administration militaire a voulu qu'ä la Legion
le groupe frangais egalät ä lui seul celui que forment en bloc
tous les etrangers. Au l^"" janvier 1913 le 2^^ regiment etranger
comprenait 2196 Frangais, 985 Allemands, 354 Alsaciens-Lor-
rains, 391 Beiges, 327 Suisses, 255 Italiens, 128 Espagnols,
87 Tunisiens, Algeriens, Marocains, 61 Russes et Polonais,
141 Luxembourgeois; et des Autrichiens, des Turcs, des Ame-
ricains, des Japonais, et jusqu'ä des Malais. Au l^"" Etranger les
proportions — on y veille soigneusement — sont les memes.
En janvier 1912 il contenait, pour 5300 hommes, 507» de Fran-
?ais, 18 7o d'Allemands, 77o d'Alsaciens-Lorrains, 77» de Beiges,
67« de Suisses, 37» d'Italiens. Ces contingents sont assures ä
l'aide d'environ 2000 enrolements volontaires chaque annee: 1704
en 1907; 2595 en 1908; 2397 en 1909; 2118 en 1910. En-
viron 280 legionnaires demandent annuellement la natura-
lisation ä laquelle ils ont droit au bout d'un an de sejour sous
134
les drapeaux dans une colonie fran^aise ^). Cela suffit ä prouver
qu'ils sont loin de garder rancune au pays dont ils portent l'uni-
forme. Cela n'est pas assez pour constituer un appauvrissement
de Population funeste ou meme perceptible aux Etats oü ils
sont nes.
Nous savons maintenant ä quellesnationalitesappartiennentles
engages ä la Legion. Mais cela n'est rien, ne prouve rien, n'ex-
plique rien. Quels motifs peuvent pousser un homme ä devenir
legionnaire, ä sacrifier cinq ans de sa vie au Service d'un pays
qui, dans la moitie des cas, n'est pas le sien? Au bureau de re-
crutement oü il s'est presente, il sait qu'on ne lui demandera
aucun papier, qu'il peut se faire inscrire sous un faux nom:
il n'ignore donc pas qu'il se trouvera en contact, dans le rang,
avec des hommes dont quelques-uns au moins ont quelque
chose ä cacher. On ne lui a pas dissimule non plus que le
prix que l'on consent ä lui payer sa vie — et il s'agit bien de
sa vie, en effet: en cinq ans, cinquante pour cent de l'effectif
disparait, fauche par les balles ou la maladie^) — on ne lui a
pas Cache que ce prix serait derisoire, huit Centimes par jour et
quelques boni sur l'ordinaire, en tout quarante sous par semaine;
qu'il n'avait droit ä aucune prime d'engagement, ni meme de re-
engagement^); et pourtant, bien souvent, il reengagera, dans le
meme corps, malgre les avantages qu'on lui fait ä l'infanterie
coloniale. 11 sait que pour les pensions et gratifications il est
place exactement dans les memes conditions que le soldat ou le
sous-officier frangais rengage, ni plus ni moins, et que, theorique-
ment, il ne peut concourir pour les emplois civils reserves aux
soldats et sous-officiers fran(;ais retraites (en fait, quand il est
naturalise, son cas est examine avec bienveillance). II sait encore
que, s'il devient officier, ce ne sera qu'au titre etranger, et qu'il
1) Ch. Poimiro. p. 177.
2) A la Legion etrangere, d'un auteur anonyme. Revue Blanche, 1895
) Chose inique, d'ailleurs, je n'hesite pas ä le reconnaire, et qui prive
la Legion de ses meilleurs Clements: une fois naturalise et ayant obtenu
un cenificat de bonne conduite, le Legionnaire a interet ä r^engager dans
rinfanterie coloniale oü on lui donne cette prime. 11 y a lä quelque chose
ä changer (Poimiro, ouvage cite, page 43).
135
en pourra, meme naturalise, reclamer son admission dans les ca-
dres franq:ais. Pratiquement, il ne saurait depasser le grade de ca-
pitaine. Quels sont donc les mobiles qui le poussent?
Ils sont tres differents suivant les cas, mais on peut toute-
fois distinguer assez nettement quelques categories generales«
En 1895 un jeune ecrivain fran^ais, dont il me serait tres facile de
reveler le nom, s'engagea, sous un nom suisse, ä la Legion
etrangere. II souffrait, comme beaucoup de jeunes hommes de
sa generation, du mal de vivre. Sa sensibilite etait ardente, son ar-
mature morale insuffisante. Issu d'une famille par tradition mo-
narchique, il traversait, comme la plupart de ses contemporains,
une crise d'anarchisme intellectuel. Enfin, il etait myope: nul
n'etait moins prepare ä la rüde vie qu'il avait voulu adopter;
sa mise en reforme, au bout de deux mois de Service, fut pour
lui et pour la Legion un bienfait incontestable! Mais c'est pour
nous un autre bienfait que les notes qu'il a prises, les jugements
qu'il a portes au cours de ces deux mois. II etait intelligent,
presque trop intelligent; son education, ses origines le devaient
faire souffrir plus qu'un autre des rigueurs de la discipline et du
regime de la Legion ; et enfin il ecrivait ä cette epoque, anterieure
ä I'affaire Dreyfus, oü les gens de lettres affectaient, ä l'egard
de la patrie et de l'armee, une independance d'esprit assez dedai-
gneuse. Nous avons lä un temoin aussi pres de l'impartialite
complete qu'il est possible. J'aurai souvent l'occasion de citer les
deux articles qu'il publia dans la Revue Blanche, en 1895.
Suivons-le. II voit arriver en meme temps que lui ä Sidi Bei-
Abbes, Tun des deux depots — l'autre est ä SaVda, egalement
en Algerie — un ancien matelot „sale comme un peigne" engage
par manque d'ouvrage, par misere, ayant servi dix ans dans la
flotte, et ä qui ce nouveau bail doit assurer une retraite et peut-
etre un emploi ; un ancien sous-officier de marsouins (Infanterie colo-
niale) courant apres ses galons et encourage, lui aussi, par l'es-
poir d'une retraite; un jeune Allemand, vigoureux et candide;
un Suisse „robuste et bon gar^on, mais magnifiquement ivrogne" ;
un souteneur, qui rengage pour retrouver son „amie", domiciliee
comme par hasard ä Bel-Abbes; un Russe au binocle d'or, au
linge eblouissant, qui se figure punir ainsi sa famille de lui avoir
inflige un conseil judiciaire: pauvre tete vide, debile mental qui
136
regretta aussitöt sa decision, et, ä la chambree, ne parlait que
„du Gotha" ; un jeune seigneur (on ne nous dit pas sa natio-
nalite) qui exhibe une ceinture bourree de louis d'or et en trois
jours depense plus de mille francs, aux applaudissements Inte-
resses des anciens et des grades ; puis des Beiges, des Alsaciens-
Lorrains, des Luxembourgeois, braves jeunes gens sans histoire.
Et tous ces bleus regardent avec admiration, avec Jalousie, avec
emulation, parfois — ceux qui sont incurablement avilis — avec
une basse haine, les vieux heros de l'arme, chevronnes, cou-
verts de medailles et de croix, entre autres le glorieux sergent
Minaert, „qui les a toutes" et n'attend plus que la Legion d'Hon-
neur. Mais il va la recevoir, venant, apres vingt hauts faits, de
risquer encore une fois sa vie en se jetant dans un rapide pour
sauver un camarade. L'anonyme de la Revue Blanche deplore
seulement de ne pas rencontrer „l'Eveque", le fameux eveque
legendaire au corps. II venait de prendre sa retraite, apres de
longs Services. C'est lui qui, simple legionnaire faisant partie
du piquet qui enterrait un camarade tue au feu, et entendant
l'officier murmurer: „C'est dur tout de meme d'enterrer un si
brave soldat, comme un chien, sans une priere" repondit en
sortant du rang: „Pardon, excuse, mon lieutenant . . . mais,
avant le casque et le fusil, j'ai un peu porte la mitre et la Crosse!"
Et ce mousquetaire contemporain, cette espece d'Aramis ivrogne,
recita le de profundis ! Le nouvel engage eüt pu aussi rencon-
trer ce prince de Hohenzollern dont un navire de guerre alle-
mand vint officiellement chercher le cadavre, ou ce professeur d'uni-
versite allemande condamne dans son pays pour crime de lese-
majeste. Mais negligeant l'anecdote il conclut, avec une exacti-
tude dont ma propre experience — car j'ai vecu moi-meme avec
les legionnaires — me permet de me porter garant:
„Pour les Clements constitutifs de la Legion, je les analyse-
rais ainsi: un premier lot comprend les etrangers, Alsaciens-
Lorrains, Beiges, Suisses, quelques tres rares Anglais (il faudrait
aujourd'hui ajouterä cette enumeration les Italiens et les Luxem-
bourgeois) qui par eux-memes ou par leur famille ont acquis en
France des interets qu'ils veulent preserver par la naturalisation.
Environ 307« des engagements sont determines par cet espoir.
11s constituent la bourgeoisie du corps ... De cette categorie
137
on tombe sans transition dans celle des contumaces. De temps
en temps les compagnies sont informees, par la voie du rapport,
qu'un tel, reclame par le ministre de la justice, attend en cellule
l'heure de son embarquement^). Le pire element, ce sont les „li-
beres" envoyes par des societes de patronage. Ma chambree en
possede un type accompli: V., ne en Arles, a fait un conge ä la
flotte. Reforme pour atrophie du bras gauche, il a vecu presque
exclusivement de vol. II l'avoue quand il a bu, c'est-ä-dire tous
les jours. Comment un tel individu a-t-il pu reprendre du Ser-
vice? Son infirmite, encore plus que son indignite, aurait du
Ten ecarter. II fait sonner tres haut la protection d'un conseiller
general. Le plus probable, c'est qu'il aura fait presenter, sous
son nom, au bureau de recrutement, un camarade dont il aura
pris la place. 11 va etre reforme, mais il aura tout de meme passe
la mauvaise saison sous le beau ciel algerien^).
„Si l'on defalque maintenant de l'effectif total les Clements
que je viens d'isoler, reste celui dont la Legion tire sa force, sa
renommee, son propre et inimitable caractere: gens de ccBur,
egares d'un moment en quete d'une rehabilitation sanglante,
victimes d'une de ces inexplicables folies dont l'acces dure une
minute et la peine une vie, joueurs ruines, amoureux desoles,
desesperes de l'existence, poursuivant une mort que l'anonymat
rend plus heroVque encore. C'est par eux, c'est par ces hommes
dont quelques-uns dissimulent une tache, mais une tache unique,
que depuis 1832 se sont effectues les exploits dont s'enorgueil-
lissent, ä juste titre, le 1^'' et le 2"^^ Etranger."
Le tableau me parait juste et complet. J'ajouterai pourtant
que deux autres especes d'hommes trouvent ä la Legion un abri
fait pour eux. De meme qu'il est des ämes qui ne peuvent, ne
veulent ni ne savent obeir, il en est d'autres, par contre, pour
^) L'engagement d'un contumace est chose faclle, puisqu'il peut s'en-
roler sous un faux nom. En regle generale, les parquets n'insistent que
si l'homme est un vrai criminel ou un recidiviste. Dans le cas contraire,
ils lui laissent la Chance du rachat qu'il a cherche. De son cöte l'admi-
nistration militaire a le droit de renvoyer les soldats indesirables. Ainsi le
Corps s'epure, dans la mesure du necessaire.
2) A remarquer que cet „indigne" n'aurait pas choisi le Depot du 2me
Etranger comme villegiature, s'il avait du y etre maltraite. Au point de vue
militaire, ajoutons que, s'il n'eüt pas ete reforme, il eüt ete expulse comme
mauvais soldat. Cette disposition du reglement est particuliere ä la Legion.
138
qui la liberte, rautonomie morale et physique, sont une insup-
portable souftrance. Quand on est atteint de cette maladie psychi-
que, si Ton est contemplatif, sobre et continent, il y a les mo-
nasteres. Si Ton ne possede ces vertus de renoncement, et si
par surcroit on a pour le mouvement, la manche, le grand air,
une passion qui va chez certains jusqu'ä l'automatisme ambu-
latoire, c'est seulement dans cette troupe etrange et farouche de
soldats de metier qu'on peut aller chercher un refuge. Et il est
encore d'autres humains qui ne peuvent en verite „vivre leur
vie" qu'ä la Legion : ceux pour qui la guerre est une vocation.
Ils ont besoin de risquer leur vie comme le joueur son argent.
Leur passion ne raisonne pas: eile les tient ä la gorge et les
pousse aux reins. Ils vont donc ä la Legion comme ä la seule
armee qui soit toujours sur le pied de guerre. Tout le monde
y est brave, et la lächete le seul crime impardonnable. Je me
souviens d'un legionnaire, dans l'une de nos colonies, que le
general commandant en chef avait prive, pour s'etre un jour
grise avec scandale, de l'honneur de porter le fusil pendant une
semaine. Le lendemain fut le jour d'un combat qui fut rüde
et sanglant. Desarme, comme une äme en peine, cet homme errait
au Premier rang, sous le feu de l'ennemi. „Animal, lui dit le
grand chef, qu'est-ce que tu fais lä. Tu n'as pas ton fusil, f . . .
le camp." Mais il repondait, dans un patois ä moitie germanique
que je ne chercherai pas ä imiter: „Je suis aussi cuisinier: je
viens pour faire le cafe!" Puis il ajoutait en pleurant comme un
gösse: „Mon fusil, mon general, rendez-moi mon fusil!" Et Ton ne
saurait non plus compter les fois oü un vieux legionnaire, voyant
un officier s'aventurer trop loin sur la ligne de feu, l'a empoigne
par le milieu du corps comme un enfant et l'a repose derriere
lui en disant: „^a, c'est la place des hommes. Pas celle des
chefs!" Ils savent ce que vaut la vie de celui qui sait Comman-
der. Ils veulent donc la preserver. Mais non pas la leur: tou-
jours dans l'interet commun. Apre et fiere le^on de solidarite.
Abordons maintenant la question qui semble agiter TAlle-
magne. Et que je le dise tout de suite, je comprends parfaitement
l'emotion des Allemands ou du moins de certains Allemands. Si
139
c'etait rAlIemagne, et non la France, qui possedät des regiments
etrangers, et que des Fran^ais y composassent 25 7» des effec-
tifs^), les nationalistes fran^ais accepteraient tres probablement
Sans hesiter comme verlte pure les contes les plus noirs sur les
traitements qu'on fait subir ä leurs compatriotes. Ils les accepte-
raient, j'en demeure persuade, pensant, en leur qualite de natio-
nalistes passionnes: „Ces Allemands sont capables de tout!" Les
nationalistes allemands ont la meme conviction ä notre egard.
II est, de plus, tout ä fait naturel de leur part qu'ils voient avec
peine plusieurs milliers de leurs freres aider de toute leur bra-
voure, de toutes leurs qualites militaires, la France ä se tailler
un empire colonial de premier ordre. Mais enfin il s'agit de sa-
voir si les faits existent ou s'ils n'existent pas. Nous devons donc
chercher ä connaitre: P si les legionnaires, allemands ou de
toute autre nationalite, sont mal nourris, ou maltraites systema-
matiquement par leurs camarades ou leurs chefs — je dis „syste-
matiquement" parce qu'un seul fait, encore qu'il n'en soit pas un
seul demontre — ne prouverait rien ; 2° si la France emploie, ä
l'etranger ou ailleurs, des recruteurs charges par son gouver-
nement de provoquer des engagements ä la Legion; 3° si eile
outrepasse son droit en faisant entrer ä son Service des etrangers.
Weisse Sklaven, „Esclaves blancs", tel est le titre d'un des
nombreux pamphlets que les ecrivains pangermanistes ont con-
sacres ä la Legion etrangere. Des placards de propagande, gene-
ralement illustres, representent des legionnaires allemands, de-
pouilles de leurs vetements, jetes brutalement sur le sol, assom-
mes ä coups de bäton, ligottes, suspendus par les pieds et les
mains ä des palmiers et devores par des loups (des loups en
Afrique? c'est une decouverte d'histoire naturelle!), attaches ä des
poteaux au milieu du desert, oü le flot montant des sables vien-
dra les enliser, fusilles enfin par un peloton de douze legionnai-
res feroces. Voici par surcroit l'affiche, reproduite ä des milliers
d'exemplaires, par laquelle un editeur germanique recommande un
roman dirige contre la Legion:
^) Dans notre Legion 18 7o d'Allemands, 7 7» d'Alsaciens-Lorrains con-
sideres comme Allemands par la loi de l'Empire.
140
Deutsche Mütter! Deutsche Schwestern!
Deutsche Bräute!
Lest diesen Roman und stimmt ein in den Entrüstungsschrei,
der jetzt ganz Deutschland durchbraust:
Krieg der Fremdenlegion!
Hinweg mit der Schmach des Jahrhunderts!
Verachtet und verflucht der Deutsche, der Frankreichs Fahnen dient !
Verbrechen, Leichtsinn und Abenteuerlust haben seit vielen Jahren zahllose
deutsche Jünglinge verführt, den französischen Werbeoffizieren ins Garn zu ge-
hen und jenen fluchwürdigen Vertrag zu unterschreiben, der diese Unglücklichen
auf viele Jahre in Sklavenketten der Fremdenlegion schlägt, der sie fast unrettbar
in die Hölle auf Erden stürzt! Denn darüber besteht kein Zweifel:
Die französische Fremdenlegion ist die Hölle auf Erden
besonders für einen Deutschen. Ihn erwartet auf dem glutdurchwehten Boden
Afrikas nichts als Entehrung— Foltern der Seele und des Körpers — der Tod!
Wer die Dienstzeit bei der Fremdenlegion übersteht, der kehrt in die Heimat
zurück als ein gebrochener Mensch, früh ergraut, verdorben für Freude und Arbeit.
Die meisten aber werden im Wüstensand verscharrt und der
französische Henkersknecht blickt höhnisch lachend auf ihr Grab.
200 000 Deutsche sind seit Bestehen der Fremden-
legion dieser reißenden Bestie zum Opfer gefallen!
Das muss ein Ende nehmen — wir Deutsche mQssten sonst erröten !
Und Gott sei Dank, überall regt sichs zum Kampfe gegen die Schmach des
Jahrhunderts, die Fremdenlegion. Österreich, Holland, Italien, Schweden, Spanien,
England, Amerika wollen sich in diesem Kampfe mit uns vereinigen, denn auch
sie sind es müde, ihre Söhne dem „Satan Fremdenlegion" zu opfern.
Unser Roman soll das Signal zum Angriff sein!
Denn in diesen Blättern wird Euch wahrheitsgetreu die erschütternde Geschichte
eines Mannes erzählt, der durch französische Arglist gezwungen der Fremdenlegion
dienen musste. Seine Leiden, seine Qualen waren unbeschreiblich, seine Kämpfe und
Abenteuer, seine Erlebnisse würden ans unglaubliche grenzen, wären sie nicht verbürgt!
Diesem Unglücklichen aber gab der Himmel einen Trost!
Die Geliebte seines Herzens, ein deutsches Mädchen
voll Kraft und Seelenstärke folgte dem heißgeliebten Men-
schen in sein furchtbares Exil, teilte mit ihm fünf Jahre
lang Liebe und Treue — Gefahr und Not, küsste ihm die
Tränen vom Antlitz, das Blut von den wunden zerschun-
denen Händen und Füßen, kämpfte an seiner Seite, war
sein guter Engel und wurde seine Retterin.
Hochspannend, sensationell, ergreifend und durch die naturgetreuen Schilde-
rungen fremder Länder, Völker und Sitten hochinteressant ist unser Ron^n
Wanda, die Geliebte des Fremdenlegionärs
oder 5 Jahre Liebe und Treue in der Hölle
auf Erden, der französischen Fremdenlegion.
141
La Rheinisch Westphälische Zeitung rapporte le fait suivant,
conte par un ex-legionnaire, Albert Moog, qui fait partie d'une
association creee pour combattre la Legion etrangere, et serait
parvenu ä faire deserter un jeune homme designe seuiement par
l'initiale P., originaire de Hefel, pres de Velbert:
Le 2 septembre Moog etait parti pour l'Afrique avec le pere du legion-
naire et arriva le 5 septembre ä Alger. La, raconte-t-il, ils eurent leur pre-
miere aventure. Un douanier arabe leur avait recommande un certain hötel
oü ils seraient Iog.es gratuitement et oü on leur procurerait aussi du tra-
vail. Ils accepterent l'offre: mais bientot, flairant le danger, ils quitte-
rent l'hotel le meme jour et echapperent ainsi ä l'incorporation dans la
legion, ä quoi ils auraient ete contraints le lendemain. Une lettre que le
fils avait envoyee dans son pays portait qu'il tenait garnison ä Saida.
Moog et le pere du jeune homme partirent la nuit du 5 au 6 pour Saida.
II s'agissait de trouver la compagnie dans laquelle servait P. Une lettre
dans laquelle on l'avait avise qu'il pourrait rencontrer des compatriotes
dans la ville, lui parvint trop tard. Mais Moog et le pere rencontrerent
par hasard un legionnaire allemand qui savait dans quelle compagnie ser-
vait P. et qui prevint ce dernier. Cest ainsi qu'ils reussirent ä s'aboucher
avec le legionnaire qu'il s'agissait de delivrer.
A la faveur de l'obscurite la fuite fut preparee. Le soir on entreprit
une promenade en dehors de Saida. Dans un buisson P. echangea son
uniforme contre les vetements qu'on avait apportes. Pendant la fuite, par
Darec ä Alger, le trio eut ä surmonter une serie de dangers afin de ne
pas etre decouvert.
Gräce ä sa connaissance de la langue fran^aise, Moog parvint ä trom-
per la vigilance des gendarmes ä la frontiere, des douaniers et des contro-
leurs de la navigation et ä leur faire accroire qu'il etait un voyageur d' Al-
ger et que le deserteur etait un nouvel employe. Quant au pere de P. il fai-
sait le sourd-muet. Les fonctionnaires du controle, si meticuleux d'ordi-
naire, les laisserent passer sans encombre ä l'embarquement ä Alger et au
debarquement ä Marseille et ils purent ainsi regagner l'Allemagne.
II n'est pas besoin d'insister sur les cötes romanesques et
invraisemblables de ce recit Jamais personne n'a pu etre con-
traint de se iaisser incorporer ä la Legion. 11 faut signer soi-meme le
contrat. De plus on n'engage aucune recrue ayant depasse qua-
rante ans. A quel äge le precoce pere de ce legionnaire avait-il
donc engendre son fils? Mais il est parfaitement possible que le
Moog en question ait debauche une recrue. Le cas se presente
assez souvent. On se souvient de l'affaire de Casablanca oü un
journaliste allemand, M. Sievers, avec la connivence de son consul,
tenta de faire deserter six legionnaires, dont deux Allemands et
un Alsacien-Lorrain naturalise fran9ais.
(La fin au prochain numero.)
PARIS PIERRE MILLE
142
AUF GRIECHENSPUREN IN SIZILIEN
Das Wort, dass in der Italia diis sacra kein Flecl< Erde sei,
der nicht landschaftlich, oder künstlerisch, oder historisch seine
Bedeutung oder wenigstens seinen Reiz habe, passt ganz beson-
ders auf Sizilien, denn hier ist mehr als Italien, hier kommen
der Orient und Hellas; und das Bewusstsein von diesem Reich-
tum der Ätnainsel wird den Leser davon abhalten, eine organi-
sche, erschöpfende Behandlung irgend eines sizilischen Punctum
saliens zu erwarten im Rahmen einer so begrenzten Unterhaltung.
Das wichtigste von allem, das uns vom Tukydides in der Schul-
stunde her vertraut ist, drängt sich an Ort und Stelle durch die
klare Sprache, welche Topographie und Trümmer reden, recht
eigentlich mit konzentrierter Gewalt zum Nacherleben auf, und es
hätte wohl am nächsten gelegen, mich an einen Versuch der
Schilderung dieser großen und tiefen Sensation zu wagen. Allein
das ewig fesselnde Epos von der Athener Not und Ende wird
unser Wandern in Zeit und Zeugen heitern Griechentums genug-
sam im Schatten halten.
Eine überaus suggestive Stunde im Kolleg von Professor
Rahn über die Mosaiken im Dom von Monreale hat mir meine
erste Sehnsucht nach Sizilien eingegeben, das dieser Meister der
Intuition, wie ich nachher zu meinem Staunen erfuhr, nie be-
treten hat.
Aber!
Trotz der berauschenden Romantik der arabisch-normanni-
schen Herrlichkeit, die uns in der Conca d'oro zu Palermo und
Monreale umfängt und in der Andacht am Sarkophag des rätsel-
haften Hohenstaufenkaisers im Dom den Höhepunkt ihres Zau-
bers hat, ist nun einmal mir die Königin der Inseln vor allem
als griechische Erde lieb.
Auf griechischer Erde zu wandeln war unser Gefühl bei
diesem Frühlingsausflug. Möchte es mir im folgenden gelingen,
durch das Verweilen bei einigen Haupteindrücken etwas von
diesem Gefühl zu vermitteln.
Mochte die Schönheit der Ausfahrt aus dem voller Lichter-
glanz Neapels zunächst die Frage wecken, ob es denn wirklich
etwas gebe, was sich nun noch sehen lassen könne, ob man nicht
143
besser hier geblieben wäre — die frische Nachtfahrt unter der
Sternenkuppel über das wohlig atmende Meer hätte um ihrer
selbst willen sich wohl gelohnt. Wie ein Held ging unser schönes
italienisches Schiff dahin. Und Perseo hieß es. Als ob es schon
im Namen griechische Verheißungen trüge, kam es uns vor.
Ich kann nicht malen. Der Vers des Homer hat allen,
Könnenden und Nichtkönnenden, die Mühe abgenommen, zu
sagen, wie die Sonne kommt. Eine rosafarbene Nadel stand zur
Linken im Süden, lang bevor der Glutschwall heraufkam hinter
den Inseln des Königs der Winde, Aeolus. Das war nun die
zweite Erinnerung an den göttlichen Dulder, dessen uns schon
das Vorgebirge der Circe gemahnt. Gerade hinter der Feuerinsel
Stromboli steigt nun das himmlische Feuer empor. Die rosa-
farbene Nadel tritt zurück und verschwindet, wie Trinakria aus
den Wogen taucht und die Muscheln ihrer Gebirge entfaltet. Es
war der Ätna.
Die Fahrt nach Palermo hat nicht den reinen Stil des Golfs
von Neapel oder der Meerenge von Messina. Dass das Bild
minder klassisch schön wäre, möchte ich nicht behaupten ; viele
ziehen es vor. Vielen ist es das liebste. Die goldene Muschel
heißen sie das Paradies von Palermo und Monreale; denn es ist
ein einziger Zitronen- und Orangenwald, wo Blüte und Frucht das
ganze Jahr nebeneinander prangen. Phantastisch, aber nicht wild,
in reicher Klarheit, eine unbeschreibliche Verschmelzung von Kraft
und Harmonie türmen sich die Berge um das Tal, selten bis ans
Meer tretend, die Hauptstadt und die Bucht schützend umfassend.
Wohl ist dies der suveräne Hafen der Nordküste, dem die alte
Hauptstadt Syrakus seit der Landung der Araber den Vorrang
hat lassen müssen. Da rechts der Berg, abgetrennt von der Masse
des Hintergrundes, muss der Monte Pelegrino sein, im Altertum
Eirkte genannt, wo der kühne „Blitz", Hamilkar Barkas, Kar-
thagos bester Held im ersten punischen Krieg, Hannibals Vater,
die Römer in Panormos jahrelang in Schach hielt, so lang, dass
er da droben das Land anbaute zur Verproviantierung und doch
schließlich seiner Vaterstadt die militärische Ehre gerettet hat.
Man kann sich recht gut denken, wie er ihnen von hier aus durch
Überfälle und Streifzüge in den Bergtälern und Schluchten herum
die Behauptung dieses Hauptplatzes, nach dessen Eroberung sie
144
sich schon fast Meister gefühlt in Sizilien, schwer und im Nutzen
fast illusorisch gemacht hat.
Die Insel hat sich seit dem Altertum etwas gehoben. Einen
großen Teil des alten Phönizierhafens finden wir im Giardino
Garibaldi, dessen grandioses Kautschukgehölz inmitten des gotisch
beherrschten Platzes uns doppelt fremdartig anmutet und uns
gleich bei den ersten Schritten auf der Insel den Begriff gab von
ihren exotischen Wundern und ihrer überraschenden Vereinigung
bisher getrennter Vorstellungswelten. So tief ins Land also ging
einst das Meer. Nicht umsonst hieß die Stadt Panormos. Sie
war ganz Hafen. Der Rest des alten Hafens heißt die Cala. Wir
kamen am ersten Vormittag nicht davon los, weil das Ufer von
emsigen Karren, diesen Volksbilderfibeln, nur so leuchtete und
läutete, welche uns beim Studium der entzückenden sizilianischen
Volkskunst, auch der luxuriösen Rüstung der Pferde und Esel und
der nicht weniger bunten Volkstypen, festhielten. Das Ziegenidyll
mag auch insofern ein Recht haben, in meinen bescheidenen
Notizen zu figurieren, als sie für das Haustier par excellence
unserer Insel gelten darf schon seit den Tagen, da Theokrit sie
poetisch geweiht hat. Ich erinnere mich einer Idylle, wo dem
Kundigen eines beliebten Liedes als Honorar für dessen Vortrag
das dreimalige Melken einer Ziege geboten wird.
So lässt mich selbst die Phönizier- und Karthagerstadt, die
Stadt der Araber, Normannen und Hohenstaufen, gleich zuerst
wieder an den Griechen denken.
Palermos schönstes Vermächtnis aus dem Altertum ist das
Poseidonmosaik, heute im Museum. Der Meerbeherrscher mit
dem Dreizack ist hier der echte und zugleich ebenbürtige und
mindere Bruder des Zeus, wie er im Homer mit Würde, Resig-
nation und nicht ohne das homerischen Göttern eigene Quint-
chen Rancune seinen Rang behauptet. Es ist nicht die reine
Himmelsstirne des Bruders von Otricoli. Aber des Meeres Wesen
aus Herrlichkeit und Unheimlichkeit fand wohl sein wahrstes Bild
in diesem Gottesantlitz schönster Hoheit mit Tiefen jähen Wetter-
leuchtens.
145
Ein früher Morgen — denn es gilt bei den Ferrovie sicule
den Tag gut ausnutzen — führte uns dem Meer entlang nach
Westen. Mächtige Geranien und die kakteenartigen indischen
Feigen säumen die Bahnlinie. Doch der wechselnde Reiz des
Gestades darf uns die Blicke landeinwärts nicht gänzlich ver-
säumen lassen. Unter den Städten der Küstenhöhe ist Carini,
das man auch nicht bloß im Vorbeifahren kultivieren sollte. Zwar
ist auch dieses noch keine Tochter der Hellenen. Das alte Hyk-
kara war eine Stadt der Sikaner, welche, italienischen Stammes,
die Insel noch vor den Sikulern eingenommen, und als ihnen jene
aus der alten Heimat nachrückten und nachdrückten , in den
westlichen Teil der Insel gedrängt wurden. Auch diesen noch
vorangehende Bewohner Siziliens hält man heute für Iberer, doch
nicht von Spanien hergelangt, sondern auf der Wanderung dieses
Volkes nach Westen. Wer da hinaufpilgern wollte, erführe von
den Einwohnern bald, auf was sie stolz sind. Dieses Hykkara
nahmen die Athener unter Nikias, und unter der in Sklaverei ge-
führten Einwohnerschaft befand sich ein Beutestück, das später
noch viel von sich reden machte, indem es seinerseits gar man-
chen Athener zum Sklaven machte. Es war dies ein zwölfjähriges
Mädchen, welches als Priesterin der Aphrodite den Namen Lais
unsterblich gemacht hat. Dass das just dem gediegenen und
pedantischen alten Nikias passieren musste, der mit seiner schwer-
fälligen Gewissenhaftigkeit die ganze athenische Expedition gegen
Syrakus kompromittierte! Besser hätte die Verantwortlichkeit zu
seinem Vetter Alkibiades gepasst. Aber der war ja bereits wieder
abberufen worden, heim nach Athen, um sich im Hermokopiden-
prozess und wegen der Verspottung der eleusinischen Mysterien
zu verantworten, gegangen — wenn auch nicht nach Athen.
Nikias aber musste eben Geld auftreiben, nachdem sich von dem
blauen Dunst, welchen die Segestaner den Athenern über ihre
Finanzen vorgemacht hatten, nicht viel mehr als ein Trinkgeld
niedergeschlagen hatte. Item: die Schönheit der Lais aus Hyk-
kara preist das ganze Altertum.
Doch vom Tempel der Aphrodite zum Tempel der Demeter
nach der Halbinsel von Hykkara das wundervolle Halbrund
146
des Golfes von Castellammare, dessen Stadt uns gegenüber zwischen
azurner Flut und dunkler, steiler Bergeshöhe hervorblitzt. Hier
ist die Hafenstadt, die Marina Segesta. Hier ist die Mündung des
Krimissos, dem wir schluchtaufwärts folgen in sein weites Tal.
Am Krimissos hat Timoleon 340 seinen glänzenden Sieg über
die Karthager erfochten, jener reine Held, der um die Zeit, da
Chäronea der politischen Geschichte von Alt-Hellas das Ende
bereitet, von Korinth der Tochterstadt Syrakus in höchster Not
zu Hilfe gesandt, sie von Tyrann und Karthager befreit, die Frei-
heit und das Griechentum wieder hergestellt hat; eine der Ideal-
gestalten des Altertums und wahrhaftig nicht bloß des Altertums.
Die Station Alcamo-Calatafimi bedient zwei berühmte Berg-
städte arabischer Herkunft, im Osten die Heimat des Giullo d'Al-
camo, des ersten Dichters in italienischer Sprache, Troubadour an
Kaiser Friedrichs Hof; im Westen die Stätte von Garibaldis Sieg
über den Bourbonen. Über Calatafimi ging man nach Segesta.
Jetzt hat es für einzelne Züge eine Haltestelle vorher. So reden
hier neben einander Neuzeit, Mittelalter und Altertum,
Und welches von den dreien hat uns? Schon vom Zug aus
sahen wir ihn einen Augenblick heruntergrüßen von grüner Alpe,
den Griechentempel. Nun hat unsere Straße die Höhe erreicht,
wo sie mit dem Skamandros aufwärts zieht. Wieder hat er ge-
grüßt. Dann auf Steinen über das Flüsschen um den Monte
Vartaro, den Stadtberg, herum, hinauf durch das Herdengeläut
und die erstaunten roten Sikulerrinder, vierfüßige Ureinwohner,
die uns vielmehr an unsere Heimat als an Italien erinnern, hinauf
zur Alphütte — da steht er noch vor uns, frei auf grüner Fels-
terrasse, gegen Tobel und Bergwand. Es ist seltsam, Mittelalter
und Neuzeit sollten uns hier gewiss mehr interessieren. Dort
drüben der Dichter der „Rosa aulentissima", die Wiege der itali-
enischen Dichtung; dort hinten der Sieg und der Nationalheld
des neuen Italiens — und hier der tote Tempel, der nie fertig
gestanden, nie geweiht, nie gedient, ohne Cella, der Tempel dieser
schlimmsten Griechenfeindin unter den Städten Siziliens, welche
zweimal das Verhängnis über die Insel gebracht haben. Der Tempel
dieser Asiaten. Denke sich diese Stimmung, wer kann. Sage sie,
wer kann, in Worten. Auf einsamer, weit- und menschenferner
grüner Alpe steht ein dorischer Tempel und herauf grüßt der an
147
jenem Tag unsagbar blaue Meerbusen. Wenn ich beim bösen
Namen Segesta nie so recht die Weihe begriffen habe, mit der man
mir von ihm sprach, jetzt siegte die Architektur über das Denl^en,
das Räsonnieren. Oben das Schweigen des bald zweieinhalb-
tausendjährigen Tempels — unten die Kuhglocken.
Dunkel herrscht über das Volk. Die Elymer werden nach
Elam zurückgeleitet und mit den Persern und Medern in Bezie-
hung gebracht. Segesta schrieb sich selbst in alten Sagen von
Troja her; seine zwei Flüsschen heißen dem entsprechend
Skamandros und Simoeis. Nie sind die drei Städte Segesta,
Ergse und Entilla dem Griechen freund gewesen. Diese Asiaten
haben sich lieber an die Phönizier und Karthager gehalten. Aber
wenn die schönen, den Griechen nachgebildeten Münzen dieser
Semiten von Siegen griechischer Bildung in den Hochburgen der
fremden Rasse zeugen, so erzählen Segestas Tempel und Theater
noch weit lauter von der Unterwerfung unter griechische Form,
griechischen Geist, griechiches Leben.
Ist nun dieser Tempel nicht fertig geworden, so trägt er doch
anderseits wieder keine Spuren der Zerstörung an sich. Die Stu-
fen und die Säulen liegen und stehen noch heute da, wie sie aus
dem Steinbruch gekommen sind. Die Stufen sollten die letzte
genaue Bearbeitung erst an Ort und Stelle erfahren, die Säulen
erst daselbst kanneliiert werden. Man sieht auch an denen der
Fassade eine Art Postament, die mit dem dorischen Stil nicht
übereinstimmt und an der Längsseite fehlt. Der Fuß der Säule
wurde eben für den Transport in dem Viereck gelassen, aus dem
sie herausgeschaffen wurde, um Beschädigungen der Kante zu ver-
meiden. Diese Tempel, die nicht fertig werden, besonders die Riesen-
unternehmungen von Selinunt und Girgenti, erinnern an die vielen
gotischen Kathedralen gleichen Schicksals, wie den Dom zu Siena.
Liegt es aber der Gotik sozusagen im Wesen, unvollendet zu
streben und die Arbeit von Geschlecht zu Geschlecht zu verer-
ben, so ist es hier die allgemeine Katastrophe des Griechentums
welche die große Bauzeit abgeschnitten hat. Die Egestäer haben
in der Bedrängnis unaufhörlichen Grenzmarkstreits mit der mäch-
tigen Nachbarin am afrikanischen Meer, Selinunt, die große athe-
nische Expedition veranlasst, nachdem sie eine zur Sondierung
des Terrains und der Finanzen erschienene athenische Kommis-
148
sion durch schwindelhaften Aufwand gröblich getäuscht. Die Ge-
sandten wurden aus Mengen von Silber- und Qoldgeschirr, die
aber jeder Gastgeber vorher zusammenpumpte, glänzend bewirtet,
und den Tempelschätzen hatte man damit aufgeholfen, dass man
vom Berge Ergse die Schätze des weltberühmten und weltbe-
schenkten Venusheiligtums — ebenfalls pumpte, sodass die Athe-
ner fabelhafte Begriffe von der Metallreserve der Bündniskan-
didaten heimbrachten. Als dann Sizilien den Riesenkampf glücklich
durchgefochten hatte und sich zu erholen begann und die mäch-
tigen Weststädte Akragas und Selinunt gewaltiger als je am Bauen
waren, da warf sich das abermals beengte Segesta Karthago in
die Arme, welches der hellenischen Herrlichkeit ein Ende machte.
Was sich rettet, tut es auf Kosten der Freiheit, rettet sich in die
Tyrannis. Die Regeneration durch Timoleon ist von kurzer Dauer.
Nach dem Tode des Protektors tritt der Bankerott der Demo-
kratie frisch zu Tage. Wieder kommen Tyrannen auf, natürlich
von stetig sinkender Qualität, und Söldnerherrschaft. Dann die
Römer. Kein Wunder, dass die Tempel der großen Zeit nicht
fertig wurden.
Der neue Tempel lag außer- und unterhalb der Stadt. Sie
selbst stand auf dem Monte Varvaro, fast ringsum von steilen
Abstürzen geschützt und wie so manche dieser hohen Bergstädte
des Innern nur durch Hunger, Durst, Verrat oder auch allzu-
große Sicherheit zu bezwingen. Trümmer und Mosaik finden sich
im Gestrüpp. In einer halben Stunde stehen wir vorn im Theater
mit überwältigendem Blick auf Meer und Land und Berg. Man
begreift, dass die feudalsten Plätze zu oberst waren. Die Akustik
ist auch darnach. Jetzt weidet in der Orchestra mit leisem Geläute
die Schafherde. Sonst sind wir allein mit Stille und Sonne.
LENZBURG EUGEN ZIEGLER
149
BACH -BREVIER
Über die Bedeutung der beiden Johann Sebastian Bachschen
Passionsmusiken, der Matthäus- und der Johannis-Passion (auf die
Autorschaft der Lukas-Passion darf der große Meister von Eisen-
ach mit gutem Grund und ohne Reu keinen Anspruch erheben),
ist heute wohl alles Wesentliche gesagt. Sie bilden einen inte-
grierenden Teil des Glaubensbekenntnisses nicht nur jedes Musi-
kers, nein, jedes musikfreundlichen Laien. Wie gewaltige Eck-
pfeiler stützen sie das Repertoire unsrer großen gemischten Chöre.
Sie sind, mit einem Worte sei's gesagt, populär geworden.
Wie anders steht es da um die Kenntnis und Wertschätzung
des mächtigsten Teiles seiner staunenswerten Produktion, der
geistlichen Kantaten. Man weiß, dass Bach ihrer über ein Viertel-
tausend geschrieben hat. Ein großer Teil dieser Kostbarkeiten
ist uns verloren gegangen; aber was davon übrig blieb, gibt uns
immerhin noch ein so überwältigendes Bild von der unendlich
mannigfaltigen, unerschöpflich reichen Phantasie, dass man sich
nur wundern muss, wie selten diese aufgespeicherten Kräfte nutz-
bar gemacht werden, wie unverhältnismäßig diese Höchstpotenz
musikalischer Vitalität durch stilgerechte Aufführungen zu tönen-
dem Sein erweckt wird.
Wenn sich die großen Passionsmusiken in ihrer strengen
Architektur, in der unendlich sinnreichen Ökonomie des musikali-
schen Aufbaus mit einem Riesendom vergleichen lassen, in dem
alles Leid und alles Hoffen gewissermaßen der ganzen Mensch-
heit seine Aussprache und seine Erlösung findet, so eignet den
Kantaten die Intimität verschwiegener Kapellen. Hier findet sich
nicht jener fast repräsentative Stil der Passion, wo das Leid des
Einzelnen vor den Leiden des Erlösers zurücktreten muss, um
mit „ängstlichem Vergnügen" das erhabene Schauspiel des Dulders
zu genießen. Nein, hier setzt sich die Seele selbst mit all ihren
oft so irdisch kleinen Anliegen mit den göttlichen Mächten aus-
einander. Die wundervolle Naivität — ich erinnere etwa an die
häufig wiederkehrenden Zwiegespräche der Seele und des himm-
lischen Bräutigams — , die echte Gotteskindschaft, wie sie Bach
in den Kantaten ausspricht, machen ihre Kenntnis und ihren Be-
sitz zu dem, was man etwa eine musikalische Bibel nennen könnte.
150
Hier werden wir nicht durch das epische Element abgelenkt,
dem in den Passionen begreiflicherweise ein so großer Raum
und eine so hohe Bedeutung gegeben wird. Hier herrscht der
Lyriker Bach mit einer Intimität, die wir in den großen Passionen
vergeblich suchen.
Der Aufbau der einzelnen Kantaten gewährleistet die höchste
Einheitlichkeit. Gewöhnlich liegt ein Choral, der im Eingangs-
chor kontrapunktisch reich verarbeitet wird, der Kantate zu Grunde
und gibt ihr den Namen. Doch stets finden sich späterhin Be-
ziehungen zu diesem Leitmotiv, so dass sich die einzelnen Stücke
wie Glieder einer Kette zusammenschließen.
Als besonders herrliches Beispiel möchte ich hier die Kantate
„Wachet auf, ruft uns die Stimme" anführen. Im Eingangschor,
einem Stück von unbeschreiblich festlicher Prägung, bringt der
Chorsopran die Melodie des Chorals als cantus firmus in takt-
füllenden Werten, während die übrigen Stimmen eine Achtelfigu-
ration ausführen. In der Mitte der Kantate überlässt Bach dem
Solotenor dieselbe Melodie zu einem figurierten Instrumental-
interludium, und am Schluss des Werkes erscheint der Choral
endlich harmonisiert im vierstimmigen Satz. Rein architektonisch
gesprochen ein Triptychon von vollendeter Eindringlichkeit, dem
sich die andern Stücke, wie wertvoll sie auch seien, nur als
räumliche Zwischenglieder einfügen.
Abgesehen von den Eingangschören, die jeweilen die „piece de
resistance" zu bilden pflegen, findet sich in den zahlreichen Arien
so unendlich viel Wertvolles und Ergreifendes, dass ich mir kaum
denken kann, weshalb ein Verleger wie Peters (der eine Auswahl
von hundert Kantaten in guten Klavierauszügen herausgegeben
hat) oder Breitkopf & Härtel (bei dem an die zweihundert Kan-
taten in brauchbarer Edition vorliegen) noch keine Anthologie
dieser Arien (zum Beispiel je 20 Arien für Sopran, Tenor und
Bass) veranstaltet hat. Eine solche Ausgabe hätte neben text-
kritischer Sorgfalt freilich auch das Erfordernis gewisser Modifi-
kationen der oft allzuschwierigen Koloraturen und einer sehr ge-
nauen Interpretation der Phrasierung. Für das musikalische Haus
aber würde sie einen Zuwachs edelsten musikalischen Besitzes
werden und zur Verbreitung jener echten Bachverehrung, die von
151
dem, leider auch bei Fachmusikern arg verbreiteten Lippendienst
weit entfernt ist, wesentlich beitragen.
Im folgenden ist der Versuch unternommen worden, eine
Reihe von Stücken, die dem Verfasser besonders wertvoll erschei-
nen, monographisch zu behandeln und in ihrer emotionellen
Eigenart durch das Wort zu deuten.
I.
Aus der Weihnachtskantate „Christen, ätzet diesen Tag".
Duett für Alt und Tenor.
Ruft und flehet den Himmel an,
Kommt, ihr Christen, kommt zum Reihen
Ihr sollt euch ob dem erfreuen,
Was Gott hat anheut getan.
Da uns seine Huld verpfleget
Und mit so viel Heil beleget,
Dass man nicht gnug danken kann.
Man möchte dieses Stück ein geistliches Tanzlied nennen.
Ort der Handlung: eine Himmelswiese in G-dur, auf der sich die
Christenlämmlein in munterm Dreiachteltakte bewegen. Die Drei-
klangharmonien — schon in den ersten Takten des Vorspiels —
sind von einer so durchsichtigen Klarheit, dass man an Segantinis
Luft erinnert wird. Die Stimmführung von den anmutigsten Ver-
schlingungen. Eine Heiterkeit sondergleichen, ein sonniger Glanz
liegt über diesem Stück gebreitet. Und die kanonische Führung
des Mittelsatzes bringt gerade nur so viel andächtige Sammlung
und kindliche Dankbarkeit zum Ausdruck, dass sie die Fröhlich-
keit des Hauptthemas bei seinem Wiedererscheinen um so heller
klingen lässt.
II.
Aus der Kantate „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes".
Arie für Tenor.
Christenkinder, freuet euch!
Wütet schon das Höllenreich,
Will euch Satans Grimm erschrecken,
Jesus, der erretten kann,
Nimmt sich seiner Küchlein an
Und will sie mit Flügeln decken.
152
Wie das vorige Stück aus einer Weihnachtskantate. Ein
Hymnus der Freude mit einer Ausdrucksfülle, die beinahe das
Können selbst des besten Tenoristen übersteigt. Die Koloratur
beherrscht alles. Denn was besagen Worte bei solcher Freude?
Das Thema ein zur Oktave aufsteigender F-dur Dreiklang, gleich
als wollte der Sänger die ganze Christenheit umfassen. In den
Abschlüssen nach den großen Koloraturen auf „freuet euch" eine
Innerlichkeit der Wortdeutung und eine Überraschung durch den
seelischen Affekt in der Deklamation, als deren Erfinder wir sonst
gerne Hugo Wolf nennen. Im Gegensatz zu den runden Sech-
zehntelreihen der Freude wird Satans Macht durch zackige Linien
von grotesker Zeichnung veranschaulicht.
III.
Aus der Kantate „Liebster Gott, wann werd' ich sterben?"
Arie für Bass.
Doch weichet ihr tollen, vergeblichen Sorgen,
Mich rufet mein Jesus: wer wollte nicht gehn?
Nichts, was mir gefällt, besitzet die Welt,
Erscheine mir seliger, fröhlicher Morgen
Verkläret und herrlich vor Jesus zu stehn.
(Kasper Neumann 1690)
Hier scheint eine Soloflöte in ihren bewegten Gängen all die
irdische Unruhe zu malen, welche der Sänger beschwört. Es ist
aber nicht eine Kampfarie, wie man aus den Versen entnehmen
möchte. Der Sänger hat bereits seine Straße gewählt und nur
aus der Ferne noch sieht er die zwecklosen Mühen der Endlich-
keit. Ungemein charakteristisch erscheint der tiefe Unmut bei
den Worten „Nichts, was mir gefällt", dreimal wiederholt er das
„nichts". Von feinstem psychologischem Reiz ist dann die Stelle
„wer wollte nicht gehn". Wie im Selbstgespräch wiederholt er
sie, in der hohen, in der tiefen Lage, gleich als wollte er alle
Schichten des Gewissens erforschen. Und hinreißend genial ist
der Terzschluss der Melodie, da es sich ja um eine Verheißung,
nicht um eine Erfüllung handelt.
153
IV.
Aus der Kantate „Gelobet seist du, Jesu Christ".
Arie für Tenor.
Gott, dem der Erdenkreis zu klein,
Den weder Welt noch Himmel fassen,
Will in der engen Krippe sein.
Erscheinet uns dies ew'ge Licht
So wird hinfüro Gott uns nicht
Als dieses Lichtes Kinder hassen.
Ein archaistisch wirkendes A-moll, dem drei Oboen einen
seltsamen stahlblauen Panzer wirken. Gepanzert auch der Rhyth-
mus : ein strenger Dreivierteltakt von durchweg punktiertem
Charakter. Das melodische Gefüge von weit ausgreifendem
Schritt und beherrschendem Charakter, bis es sich zu der „engen
Krippe" demütig neigt. Das „ew'ge Licht" in weitem Bogen
ausgespannt (der Sänger hält die Note nicht weniger als dreiein-
halb Takte aus), dafür trotz des beibehaltenen Rhythmus eine
starke Wärme bei der Wendung nach G-dur. Für mich der Typus
der „großen" Arie von Bach, deren Verbindung von äußerer
Herbheit und durchschimmernder Innerlichkeit jenen sensibelsten
Reiz seelischer Keuschheit vermittelt.
V.
Aus dem Oster-Oratorium.
Arie für Tenor.
Sanfte soll mein Todeskummer
Nur ein Schlummer,
Jesu, durch dein Schweißtuch sein.
Ja, das wird mich dort erfrischen
Und die Zähren meiner Pein
Von den Wangen tröstlich wischen.
Schon die Einleitung dieser Arie ist ungewöhnlich. Die Jünger
nahen sich dem Grabe. In raschem Rezitativ beginnt der Tenor:
„hier ist die Gruft". Der Bass antwortet „und hier der Stein,
der solche zugedeckt; wo aber wird mein Heiland sein?" Eine
Altstimme gibt ihm Bescheid: „er ist vom Tode auferweckt: wir
trafen einen Engel an, der hat uns solches kund getan". Nun
der Tenor: „Hier seh ich mit Vergnügen, das Schweißtuch ab-
gewickelt liegen".
154
Die Arie nun ist ein geistliches Schlummerlied von einer
solchen Poesie des Ausdrucks und einer solchen überquellenden
Zartheit der Empfindung, dass ich ihr selbst bei Bach nur ganz
weniges an die Seite zu stellen wüsste. Linde Sechzehntelfiguren
der Flöte umspielen den melodischen Kern des Stückes mit einem
Wohlklang von seltener Tröstlichkeit. Die tieferen^Lagen der Stimme
werden häufig bevorzugt, der „Schlummer" (in langausgehaltenen
Notenwerten) wirkt nur wie ein Hauch, ich kenne kaum eine
Arie von Bach, die zu ihrem Vortrag so jeglichen Verzichtes
vokaler Eitelkeit bedürfte. Eine vollendete Gleichmäßigkeit des
Vortrags, im Mittelsatz um ein weniges gehoben, ein Versinken
in völlige Wunschlosigkeit und die tiefinnerliche Gewissheit von
dem letzten Sinn des Lebens müssen sich hier zu einer der eigen-
artigsten, ergreifendsten Wirkungen Bachscher Kunst verbinden.
FLORENZ HANS JELMOLI
DDD
Und gäbe es Verzeihung für erlittene Beleidigungen ohne die Phantasie?
Nein. Der Mensch ist rachsüchtig, die Phantasie veredelt diesen Impuls.
Ein solcher Mensch ist nun nicht mehr lasterhaft. Man kann getrost sagen:
wer echte Phantasie besitzt, der ist tugendhaft. Wenn Sie nun der Sinnlich-
keit die Phantasie nehmen, was bleibt dann übrig? Wenn ich liebe, und
mein sinnliches Verlangen ist ohne Phantasie, so bin ich wie einer, der in
absoluter Finsternis gefangen ist, ja, es ist möglich, dass ich dadurch dem
Wahnsinn verfalle. Erst durch die Phantasie erhält meine Begierde die
Weihe, die Süßigkeit, die Schönheit, den Mondglanz der Bezauberung und
jenen Tropfen von Melancholie, ohne den eine Leidenschaft nicht beseelt
erscheint. Sinnlichkeit ohne Phantasie ist nichts als der traurige Zwei-
kampf zweier Wesen, die einander unbewusst zu vernichten trachten. Frei-
lich, es gibt im Leben nicht bloß das eine oder das andere; die Leiden und
Irrungen, die ein unvollkommener Zustand mit sich bringt, bleiben schließ-
lich wenigen erspart. Wie oh sieht man Eheleute oder Liebesleute im
Streit! Wie manche Ehe, die durch die Liebe getragen schien und nur
noch durch Gewohnheit und bürgerliche Rücksichten befestigt ist, schleppt
sich mühselig hin unter Hader, Zank und Missverständnissen! Männer,
sonst gerecht und vornehm, Frauen, sonst zärtlich und nachsichtig, ver-
gessen sich; sie werden zu Tieren, die auf einander Jagd machen, sich ein-
ander Wunden zufügen, harte Worte wählen, Worte wie geschliffene Messer,
mit übertriebenen Beschuldigungen die Achtung untergraben, die jeder vom
andern billig verlangen muss, und ohne die Haltung sind, die sie auch dem
Gleichgültigen gegenüber zu wahren wissen.
Faustina jakob Wassermann
Ein Gespräch über die Liebe
DDD
155
ROBERT UND HEDWIG MARIA
EINE DICHTUNG IN SECHS GESÄNGEN VON J. BÜHRER
♦
ERSTER GESANG
Mitten im breitausladenden Tale der reißenden Aare
Liegt ein Dörflein verträumt im Glaste der sengenden Sonne.
Über dem Grün fruchttragender Bäume dunkeln die Dächer
Wuchtiger Häuser. Nicht mindert der Schmalfront gewaltiger Bogen
Weder die Last noch die Wucht der ernsten stillen Behausung.
Grundfest, zeittrotzig, dem knorrigen Stockhorngebirge vergleichbar
— Wetterhart lugt es herüber durch Schleier von Sonnengeflimmer —
Steht das Haus des bernischen Bauern. Glühende Sommer,
Peitschende Stürme setzten viel Lichter und Schatten
Ernstgestimmt in das Holzwerk. Aber vom Brettlein am Fenster
Recken dickblumige Nelken, Geranien, Levkojen, Azinten
Leuchtende Blüten in blinkende Scheiben, in zierlichen Gärten
Heben magere Stämmchen aus peinlich geordneten Beeten
Riesige Trauben prahlender Rosen. Gemildert ist wieder
Männliche Herbe durch weibliche Güte, gemildert des Hauses
Wuchtiger Ernst durch Blumengezier und frauliche Tugend.
Einstmals stieg über die Giebel und Dächer der Bauerngehöfte
Weiß und stolz das Schloss, den Zehnten fordernd und — knechtend!
Heut auch steht auf der Höhe weiß und stolz ein Gebäude.
Wahrlich auch es fordert Zehnten, doch schenkt es die edelste Freiheit!
Jetzo wird sie geübt. — Das Kirchlein läutet nach Hause.
Eilig und sittsam, den Herrgott im Herzen, die Sorge um Bohnen,
Speck und Küchli im Kopf, im Auge der Nachbarin Umlauf,
Streben die Frauen und Töchter nun heimwärts; die Männer dagegen
Schreiten plaudernd, vereinzelt in Gruppen zu zweien und dreien
Aufwärts, zum weißen Gebäude. Dort jener, der alle die Andern,
Gleich wie einst König Saul, überragt um die Länge des Hauptes,
Hat vielleicht nicht auch er bei Marignano gewütet?
Könnte der, so wie er schreitet, nicht Helden zum Wahnsinn verleiten?
Aber die Zeiten sind andere. Es steckt in dem selben Gewände
Nichts als der Wirt des gastlichen Bären, der Christen Zbinden!
Zwar ist der Schein nicht so ohne, denn Zbinden ist heut noch im Landsturm
Gern und mit Lust Major der Artillerie und dazu noch
Präsident der Gemeinde, dann Züchter vortrefflicher Stiere,
Erntet ein Obst wie kein zweiter, versteht sich aufs Wetter, auf Weine
Diesem und jenem zum Trotz und verkennt dieser Würden nicht eine!
Neben dem wichtigen Manne ging klein und gebeugt der Drogiste
156
Freundlich lauschend der heftigen Rede des andern, der klagte:
„Ja, da gehn sie zur Wahl! Wie viele, was meinst du wohl, Nachbar,
Tragen die eigene Meinung zur Urne, wie viele wohl wählen
Zwischen Gut und Schlecht, wie am Viehmarkt so sorglich? Kaum einer!
Und wie bedarf doch der Prüfung des praktischen Bauernverstandes,
Was die Herren in Bern aus erdüftelten Büchern uns bieten !
Aber genau wie beim Kuhkauf die Händler mit Phrasen betören,
So die Gazetten mit ihrem Gefasel den gläubigen Bürger.
Offen und frei: Gazettenschreiber sind Israeliten,
Loben wie jene, was ihnen nicht löblich erscheint, wenn die Winde
Obrigkeitlicher Gnade die Fahne aufs Rühmen gerichtet!"
Ehrlich sein Urteil zu sagen ist unklug für Krämer und Werkleut;
Sieht doch der Kunde so gern seine Meinung geteilt und geachtet,
Weniger schmerzt ihn das Geld, dem Gesinnungsfreunde gespendet.
Also schwieg der Drogiste und hustete laut in sein Tüchlein.
Aber dem Zbinden brummte seit gestern ein Ärger im Schädel
Gleich einer Hummel am Fenster, die sich in die Stube verirrte.
„Lasest du gestern," so frug er, „den Leitartikel im Blättchen?
He, wann wurde denn so was erhört! Ein jugendlich Bürschlein,
Fern in der Ostschweiz geboren und kaum recht der Schule entlaufen
Will erfahrene Männer, uns Berner, an Pflichten erinnern,
Pflichten der Bauern dem Knecht gegenüber! Du heiliges Alphorn!
Aber dem leg ich das Handwerk, so sicher ich Christeli Zbinden!
Haltet das Zeug nicht für harmlos; der Geist der roten Reformer
Steckt in dem Burschen! Mit Absicht verhetzt er uns Knechte und Mägde,
Säet den Neid und trachtet darnach, die Löhne zu steigern.
Zwar, er gibt sich den Schein, als schriebe er just für die Bauern.
Aber den Henker versteht er davon! ,Wer ein Heim hat, ein liebes,
Sei er nun Knecht oder Meister, leicht wird ihm Arbeit zur Freude!'
Also fein schreibt dieser Herr. Dass die Elster ihm singe, jawohl — da!
Er just verleidet das Heim, dem Meister so gut wie dem Knechte."
Also entfuhr es dem zornigen Dorfpräsidenten. Die Beiden
Lenkten gleich andern Gruppen sonntäglicher Männer die Schritte
Hin auf die Türe des weißen, stolzen Gebäudes: der Schule!
Dort, wo errungen wurde das Recht sich selbst zu regieren,
Dort auch wird es geübt. Der stolzeste Name der Völker:
Schweizerische Eidgenossenschaft ist gegründet
Nur in der Schule, dem ersten Gebäude des hintersten Dörfchens!
Eben betraten die beiden die sorgsam gescheuerte Treppe,
Langten bedächtig, die Ehre erweisend, hinauf nach den Hüten,
Da entspringt der Türe, entsetzlich schreiend und kreischend,
Haltlos ein brennendes Weib; umzüngelt von flackernden Flammen.
Eiserstarrt steh'n die Männer. Doch einer entwindet sich ihnen.
Stürzt der Fliehenden nach, erreicht sie, zwingt sie zu Boden,
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Reibt mit Erde den brennenden Körper — die Flammen ersticken.
Stöhnend vor Qualen, mit zuckenden Gliedern, ein trauriges Häuflein
Schmerzen und Weh liegt Mathilde, des Lehrers Gattin, bewusstlos
Mitten im Kreise stummtrauernder Männer. Da wieder ein Klagen:
Schluchzende Kinder, der zitternde Gatte werden getröstet.
Sachte tragen zwei Männer das wimmernde VVeiblein ins Schulhaus,
Zbindens Befehle befolgend. Der Präsident der Gemeinde
Zeigte sich völlig gewachsen auch dieser schwierigen Lage.
Sorgenfalten im Antlitz hatte mit kreisenden Armen
Rasch das Karree er gestellt um das Häuflein wimmerndes Elend,
Hatte zum Doktor gesandt und gesorgt für Gatte und Kinder.
Bergschwer lag das Ereignis auf allen, so sprach denn der Präses:
„Wieder ein neues Opfer des amerikanischen Öles!
Massenmörder der Frauen, rächt es die kurzen Gedanken,
Leichtvergessene Vorsicht mit grausam schrecklichen Qualen.
Sei es uns Lehre!" Wie brechende Wolken im Juli den Talgrund
Lösen vom glühenden Alp der Sonne, so löste das Schlagwort
„Massenmörder der Frauen" den Bann des erschütternden Unglücks.
Und nun schwirrten die Worte, klagten und plätscherten nieder.
Eilige Bächlein, die von dem Felsen Ereignis sich stürzen.
Ruhig war indes der, der Mathildens Nöte gelindert
Über die Schwelle zur Urne gegangen und trat nun eben
Wieder hinaus auf die Treppe. Die Sonne fiel auf ein bleiches,
Junges Männergesicht, drin Spuren vergrübelter Nächte
Kämpften wider der Augen lachendes, kindliches Leuchten.
Aufrecht schritt er herab, eine wunde Hand an dem Hute.
Schweigend ließen die Männer ihn gehen. Im Schweigen lag Achtung,
Achtung dem Fremden, der heute sich also besonnen erwiesen.
Freilich ein Fremder wars, besaß nicht Haus und nicht Hofstatt.
Konnte nicht mähen, noch melken, ernährte sich nur so vom Schreiben,
Halt so ein Städter, der aß, was andre dem Boden abrangen!
Grüßend lief jener vorüber, da trat zu ihm der Drogiste.
„Habt Ihr Euch da nicht verletzt," so frug er, „ei, seht mir die Wunden!
Kommt, ich habe ein Sälblein zu Hause, das lindert die Schmerzen,"
Dankend nahm der andere an und so gingen die beiden,
Sprachen im Gehn von Mathildens Elend und wie's wohl gekommen.
Lange vor ihnen hatte die schaurige Kunde des Unglücks
Schon das letzte Hüttlein erreicht; und nun standen die Frauen,
Standen die Knechte und Mägde gründlich die Zeitung erwägend.
Und so eilig wie möglich stürmte das Kleinvolk zum Schulhaus.
Tüchtig ausschreitend gewannen die beiden Männer indessen
Bald das Ende des Bergwegs. Wo der die Straße erreichet.
Steht das Haus des Drogisten. Auf niederem Sandsteingemäuer
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Tragen fünf Balken der Schmalfront entlang eine fröhliche Laube,
Reich aus Schnitzwerk gefügt. Auf der langen Flucht der Gesimse
Blühten aus irdenen Töpfen des Sommers verwegenste Farben,
Während hochhängenden Lampen Gespinnste wie Seide entglitten.
Eine der Lampen — sie hing in der Ecke im sonnigsten Lichte —
Hielt eine Hand; der Arm verschwand hinter Blumen und Blättern.
Lässiger schritt jetzt der Jüngre, den Blick in der Laube verloren.
Aber es drängte das Männlein: „Vorwärts, was steht Ihr noch lange!"
„Vater Ramseyer," entgegnete jener, „was habt Ihr für Blumen!
Sicher hundertmal ging ich vorüber und sah nicht ..." Er stockte.
Über den Blumen der Laube erschien ein feinliniges Köpflein,
Weißrot wie Alpenschnee, wenn die Sonne zum Scheiden sich wendet.
Wurde wie Purpur gleich jenem, noch ehe es hastig verschwunden.
„Hedwig," rief der Drogiste, der just noch die Tochter erblickte,
„Hedwig, Du könntest mir helfen!" Ein fernes Stimmchen sang: „Ja doch!"
Schnell entklinkte der Alte die Türe unter der Laube,
Führte den Gast an Reihen blanker Töpfe und Flaschen,
Alle sorglich in zierlichen Zetteln lateinisch benamset.
Eilig trippelnd vorüber ins freundliche Zimmer daneben.
Rückte den alten Lehnstuhl hervor. „So, setzt Euch derweilen,"
Bog in den Laden, nahm eine Flasche vom oberen Fache,
Riss eine Tür auf, schrie „Hedwig Maria," putzte den Mörser,
Schüttelte Wurzeln darein und begann mit dem Stöpsel zu läuten.
Lächelnd verfolgt' ihn der Jüngere durch die geöffnete Türe.
Wie nur kam da auf einmal das Licht ins verdunkelte Lädchen?
Was da so blitzte, war das Gewand einer stattlichen Jungfrau.
Schwarzem Sammet, mit silbernen Blumen und Ketten behangen,
Schwellend in leichtem Bogen entstieg ein glitzerndes Linnen,
Arme und Brust mit gefälligen Flächen schützend und zierend.
„Endlich," knurrte der Alte und wischte sich hastig die Stirne,
„Endlich, ich warte auf dich, ein Unglück hat sich ereignet!"
Wieder griff er zur Arbeit und redete eifrig dazwischen.
Aber im Mörsergeläute ertrank für den andern die Rede,
Spähend saß er im Lehnstuhl, sah durch den offenen Türspalt
Scharf vom Halbdunkel umrissen des Mädchens schlanke Bewegung,
Sah den Graukopf des Alten über den Mörser gebogen.
Schöneres malt euch kein Maler. Da trat die Tochter ins Stübchen.
Grüßend stellte ein Becken sie nieder und frug wie verschüchtert:
„Sagt, Ihr habt Euch verletzt?" — „Ach was. Euer Vater . . ." entfuhr es
Zornig beinah dem Gefragten, so barsch wie er's selber kaum wünschte.
»Seht doch die Wunden und das da gibt Brand!" so machte sie schüchtern
Schob seine Ärmel zurück und taucht ihm die Hände ins Wasser.
Eilig lief jetzt der Alte herbei mit dem Töpflein voll Salbe,
Höchlich die Heilkraft ihr preisend, es sei seine eigne Erfindung!
Dachtraufen plaudern bei Tauwind nicht so, wie jetzo der Alte,
Galt es ihm doch das bisschen Schmerzen vergessen zu machen:
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Heiterer Sinn sei immer das Erste für jegliche Heilung.
„Kling-klang", rief draußen das Glöcklein den Herrn des Geschäfts auf den
Posten.
„Herr, jetzt wird es Euch weh tun," sagte zum Fremden das Mädchen.
Scharf ihm ins Auge sehend, damit es am Zucken der Wimper
Fühle den Grad seines Schmerzes, strich es behutsam das Sälblein
Über die Wunden. Er sah ihr schweigend und tief in die Augen.
Fältchen auf ihrer Stirne — nun flammendes Rot auf den Wangen —
Klirrend fiel da auf einmal das Salbetöpflein zu Boden ;
Beide bückten sich hastig, doch keines bekam es zu fassen.
Ritsch — da riss ihr eines der silbernen Kettlein am Göller,
Tückisch hatte es sich in des Mannes Brusttuch verfangen.
Hastig griff sie darnach und beugte, um es zu lösen,
Leicht das Köpflein herab, da küsst' er sie leis auf den Nacken.
Zitternd sah sie ihn an, und schweigend mit traurigen Augen.
Blitzgleich erlosch seines Blickes Glut, ein gescholtener Knabe
Stand er vor ihr. „Noch die Binde," sagte sie herb und entrollend
Flink mit kundigen Händen das leichte Gewebe umwand sie.
Kreuzweis es schlingend, ihm jegliche Hand. „Nun seid Ihr mir böse?"
Frug er halb flehend. Sie steckte schweigend die Sicherheitsnadel
In den Verband und mit zuckendem Mund und verhangenen Augen
Senkte sie leise die Stirne. Da trat der Drogist durch die Türe.
„Seht Ihr," so rief er voll Freude, „selbst der gelehrte Herr Doktor
Findet mein Sälblein vortrefflich, just ließ für Mathilden er's holen.
Freilich, was in der Praxis erobert, bewährt sich wohl besser
Als auf der Schulbank Ersessenes. Zeigt die Verbände! — Recht gut so!
Lasst das nun also bis abends, dann wechselt die Binde. Doch halt mal,
Wer, so sagt doch, wer soll Euch dann helfen? Da seht Ihr nun deutlich
Was ein Weiblein Euch Nutz war. Der Jungbursch sitzt in der Tinte,
Bald ihm ein Windlein verirrt. So kommt denn wieder am Abend.
Hedwig wird Euer warten. Nein, bleibt mir vom Hals mit dem Danke.
Wackeres habt Ihr getan, ich seh's meiner Lebtag wahrhaftig:
Brennend rennt da das Weib. Ihr drauf und zu Boden ist eines,
Blitzschnell deckt Ihr die Flammen und vergesst die eigne Gefährde!
Wenns nun, wie man mir sagt, Mathilden erträglich ergehen kann.
Dankt sie es Euch. Nein, nein, was recht ist, soll man schon loben.
Hedwig, schließe mal drüben die Tür! Ins geheim, Herr Redaktor,
Nehmt Euch vor Zbinden in acht, er will Euch nicht wohl, wie mir scheinet,
Mehr zu sagen vermag ich jetzt nicht. Lebt wohl nun bis abends."
Unter dem Flusse der Rede erreichten die beiden die Türe.
Robert wandte sich hier und frug zurück in den Laden:
„Darf ich dann kommen?" „Unsinn," fuhr polternd der Alte dazwischen,
„Niemand als ich befiehlt im Geschäft." „So Dank denn, auf abends!"
Rief der Redaktor und rannte eilig die Dorfgass hinunter.
Lächelnd verfolgt' ihn der Alte mit seltsam lustigen Äuglein.
Heiter trat er zurück in den Laden. Dort weilte sein Mädchen
160 -
Eigen verträumt, im Spiel mit dem Zünglein der blinkenden Wage.
Als nun der Vater mit leisem Gesumm einen bräunlichen Stumpen
Einem der Kästchen entnahm, ein Hölzchen anstrich und bedachtsam
Zog an dem flackernden Flämmlein, trug ihn das Mädchen errötend:
„Sag einmal, Vater, im Ernst, sag, war es denn wirklich so mutig.
Was an Mathilden er tat?" Der Alte hielt inne im Ziehen,
Fasste sein Mägdlein ins Auge, ließ wieder das Flämmlein erflattern
Warf aus der Türe den glimmenden Spahn und sagte halb lachend:
„Wo denn? Jeder hätt' es getan, er stand nur am nächsten."
ZWEITER GESANG
Hinter geschlossnen Gardinen saß im verdunkelten Zimmer
Lässig im Lehnstuhl gelehnt der junge Redaktor am Schreibtisch.
Bläulicher Rauch, einer Pfeife entstiegen, umwölkte die Wände,
Zog um langzeilige Büchergestelle verwellende Schleier,
Dämpfte die jauchzenden Farben der wenigen herrlichen Bilder,
Fernte von allem Lauten, den, der Besonnenheit suchte.
Robert war bald, nachdem er den kleinen Drogisten verlassen,
Einem der Pfädlein gefolgt, die talwärts führen zur Aare.
Mächtig rauschen an Reihen langästiger Tannen vorüber
Endlose Flächen in reißender Strömung, und weit in der Ferne
Steigt aus dem Fluss und dem Wald die Jungfrau blendend zum Himmel,
Stromwärts war Robert gegangen und dann mit dem breiteren Feldweg.
Blaustern, Klatschmohn und Krokus blühten unter den Halmen
Reifender, mannshoher Saat, darüber die Lerchen trillierten.
Aber der strahlende Tag besaß keine Wunder für Robert.
Eilig schritt er fürbaß und sah nur zwei flehende Augen.
„Eine, die nicht wie die andern, ein schlichtes Weib aus dem Volke,
Adel besitzt es, Keuschheit der Seele und reinliche Güte!"
Also frohlockend war er durch Felder und Wiesen gestrichen,
Heimgekehrt; aber dann war plötzlich der "Jubel erstorben.
„Dummkopf," so schalt er, „so mühsam hast du um Ruhe gerungen.
Fandest dich selbst und den Frieden als du allem entsagtest, ;
Als du am ärmsten geworden, warst du auf einmal am reichsten!"
Glücklich war da sein Blick über Bücher und Bilder gestrichen,
Hatte die Vase gegrüßt, und auch die kleinen Kameen.
Lächelnd hatte er dann die lange Pfeife entzündet,
Goethes Gedichte genommen und ruhig zu lesen begonnen.
Doch des Olympiers Weisheit ließ die Frage nicht ruhen :
Hedwig Maria, wahrhaftig ein wunderbar klangvoller Name!
Zwar, das feine Gesichtchen, des Halses zieres Gebilde
Glichen den Blumen an Schönheit, denen man Namen erfindet
Seltsam und klangvoll, so dass schon der Name Zauber und Duft ist.
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Zweimal war sie errötet! Warum nur schon auf der Laube?
Hatte der Kuss sie wirklich verletzt, oder war's nur Theater?
Zweifeln? Und wenn es auch ehrlich gewesen, was war's denn dann Gutes?
War das Vergangne nicht Lehre genug, um gern zu verzichten? —
Goldgelbe Anker auf blauumrändertem Kragen, ein Pfeiflein,
Glänzend wie Silber an schöner, die Brust überquerender Trottel,
Flatternde Bänder am Mützlein, war einst klein Robert vor Jahren
Stolz zu klein Trude gegangen. Wie hatte die ihn bewundert!
Willig Händchen um Händchen in all seine Taschen gestoßen,
Teuer und heilig versprochen, ihn und sonst keinen zu freien,
War er selbst Prinz von Cordoba, oder sogar — ein Konditor!
Aber als er tagsdrauf in alten Höslein erschienen
Machte sie schnippisch und altklug: „Ich hielt mich doch für gescheiter!"
Lichtdurchzitterte Sommernacht. Die Zinne der Veste
Wirbelt von tanzenden Paaren. Nun, da der Walzer verklungen,
Lösen sich los aus den Reihen der sommernachtfestlichen Leute
Robert, der junge Student, und Trude, der reizende Backfisch.
Kühlung suchen die beiden hinter dem Türmchen am Auslug.
Massig stieg unten das Städtchen ins Dunkel, krummlinige Dächer
Funkelten seltsam, Lichter verglommen, und fern unterm Hügel
Glitzerten breite Flächen, der ziehende Rhein unterm Mondlicht.
Stockend begann der Jüngling: „Gertrud, wie schön ist der Abend!"
Wärmer werdend entklinkte er zaghaft und leise das Törlein
Seines verschwiegenen Träumegartens und führte die Freundin
Schüchtern auf heimlichen Wegen an leuchtenden Beeten vorüber
Bis zu den protzigen Bauten. Er nannte ihr stolz ihre Namen,
Gabs doch Paläste der Hoffnung, des Glaubens, der Menschheitserlösung!
„Nett ist das," sagte sie seufzend, „doch gelt, jetzt wollen wir tanzen?"
Hui-da, wie klappte das Törlein ins Schloss! Kein Täktlein mehr fand er.
Heimlich entfloh er dem lärmenden Fest in die nächtliche Stille,
Schmerzlich stöhnte sein Weh, wie ein Kranker stöhnt, dessen Lager
Ärzte und Freunde umstehn und Rat nicht wissen noch Lindrung!
Briefe, verzweifelte Rufe nach Rettung! — Ihr letzter, brutaler.
Fegte sein zierlichstes Gartengebäude in hässliche Trümmer!
Bald darauf ging er daran, ein neues Haus zu errichten.
Weniger prunkhaft zwar, einen „schlichten Tempel der Wahrheit".
Baute und baute und kam nicht vom Fleck; denn, was sie ihm boten,
Stubengelehrte, zerbröckelte, fügte sich nicht ineinander.
Mutlos blieb er im Trümmergefilde. Da triebs ihn zu fliehen.
Staunend stand er im Weltstadtgetriebe. Hier gabs kein Begreifen!
Mensch? Was galt da ein Mensch? Im wurde bange und ängstlich.
Einmal nach Mitternacht schritt er durch schlafende Straßen.
162
„Hilfe! zu Hilfe!" so gellte mit eins eine weibliche Stimme.
Eilig entfloh einem Haustor ein Mann und verschwand um die Ecke,
Kurz darauf lief aus der nämlichen Türe ein zierliches Dämchen,
Rannte dem Jüngling entgegen und klagte, es hätte der Flüchtling
Roh sie missbrauchen gewollt, nun könne sie nicht auf ihr Zimmer.
Hauswirts duldetens nicht! — Da nahm er sie mit sich nach Hause.
Furchtsam blieb sie im Dunkel der Türe. Ein Tässlein mit Schwarztee
Nähme sie gerne. Er holte die Spritmaschine vom Schranke,
Stellte vom Birnenbrot auf, das die Mutter zum Abschied gebacken,
Rückte geschäftig ein Bänklein zum Tisch und hieß sie sich setzen.
Sträubend zog sie Jäckiein und Hut aus und hing sie an's Betthaupt.
Wartend saß er im Sopha, nun stand sie im Lichtkreis der Lampe.
Zweimal war auf dem Wege ein trauliches „du" ihr entglitten.
Diese Form wählend frug er die eine brennende Frage:
„Sag mir, wie alt du bist!" „Fünfzehn," entgegnet' sie hastig und leise.
„Fünfzehn . . .?" In brennender Scham verbarg er den Kopf in den Händen.
Zögernd nur frug er: „Und wie — wie ist das denn nur gekommen?
Doch sie verstand nicht. „Wie kamst du zu deinem — Gewerbe?" erklärt' er.
Jählings schluchzte sie auf. Er ließ sie traurig gewähren.
Summend begann das Wasser im Töpflein zu brodeln. Er setzte
Pulver dazu, und schenkte ihr ein, und zwang sie zu nehmen.
Zuckerumrührend und kuchenkauend begann sie erst stockend,
Manchmal durch Fragen gestützt, ihr vergangenes Leben zu schildern.
— Alte, jedem bekannte Geschichten. Nur für den Jüngling
Waren es keine Geschichten, war's schlimmes, tiefes Erlebnis!
Sattgeworden, war bald sie vergnügt wie ein schnurrendes Kätzchen.
Freundlich lud er sie ein, sein Bett zu benützen und folgsam
Zog sie sich aus und schlüpfte unter die Decke, und bald darauf
Schlief sie ganz still. — Da sank er am Fenster zusammen und weinte.
Weinte den Garten in Trümmer!
Dann kamen die traurigen Fahrten
Dunkle Gassen entlang, ins Hinterhaus, in die Spelunken,
Fand sich bald Abend um Abend im wachsenden Kreis der „Enterbten",
Lauschend den blutigen Reden verkümmerter, krankender Sehnsucht.
Hassen lernte er da, einen Hass, der das Edle vergiftet.
Hoffnung entspross seinem Hasse: Wenn die Enterbten nur wollten,
Gabs ein gerechteres Recht! Die Enttäuschung ließ nicht auf sich warten.
Mühsam gelangs, dem nächtlichen Gast eine Stelle zu schaffen.
Wochenlang später fand er sie in Soldatengesellschaft.
„Schatzi," schrie sie betrunken, „det Leben muss man jenießen!"
Kraftlos waren sie alle, missgünstig und neidisch dazu noch.
Jeder verlangte für sich nur; die's haben, die sollten nun darben.
Grausamkeit oben und unten. Es gab nur ein einziges: Sterben!
Also zerschunden entfloh er dem Winter der nördlichen Großstadt.
163
Lustig blies ihm am Gotthard, wo er dem Eilzug entstiegen
Pfeifend der Föhn um die Ohren. Junggrünen Matten entstürzten
Meere von Lichtern und Farben. Armselige Hütten am Wege
Waren voll Sonne und Glast. Und kam ein Weiblein gegangen,
Schlecht gekleidet und barfuß, den schweren Mistkorb am Rücken,
Kräftig war sie, gesund und voll heiterer Laune, nicht elend!
Dörferruinen durchschritt er, todmüde Gassen hinunter,
Kaum eine hässliche Katze lief manchmal verängstigt vorüber.
Irgendwo aber hing immer ein altes Heiligenbild da.
Irgendwo aber stieg immer ein Strich voll Seele ins Licht auf —
Sei's um ein Türmlein, ein Fensterkreuz, sei's um ein Gartenportälchen.
Wunder vollbrachten die Bilder und Formen: Inmitten dem Schutte
Blühte mit eins ein zarter Gedanke: Bezwinger der Nöte!
Heitrer betrat der Jüngling die Ebene. Silberne Wölklein,
Fernhinschiffend, belud er mit Wünschen klindlicher Sehnsucht.
Stolz durch Bolognas stolze Arkaden, wie Fürstinnen Perlen
Trug die Arme das Spitztuch, das Zeichen des niederen Standes.
Alles war anders hier: Armut nicht würdelos, Straße war Heimat!
Dann — kam das Glück! Auf dem Ponte vecchio stand sie versonnen.
Als er sie grüßte. Sie bot ihm zwei Finger der Hand voller Tulpen.
Flüchtig nur kannten sie sich vom Hörsal her in der Heimat.
Leicht macht die Fremde aus Landskindern Freunde. Plaudernd und scherzend
Gingen die beiden durch lärmende Straßen und kamen zum Pitti,
Traten dort ein, verließen sich, fanden sich wieder am Ausgang.
All das Geschaute verlangte nach Ausdruck, die rege Empfindung
Suchte begehrlich den Wiederklang eines fühlenden Herzens.
Wunderlich war es drum nicht, dass Robert die folgenden Tage
Gerne die Einsamkeit floh und mit der „Studienfreundin"
Doppelt genoss, was die Stadt an ewig Herrlichem bietet.
Abends des fünften schlenderten sie am Lungarno hinunter.
Hundert ermattete Lichter verzitterten kreisend im Wasser,
Schattenhaft wuchsen rings der Paläste riesige Mauern,
Schwüle Lüfte verschleppten die Töne heißblütiger Lieder.
Straßensänger, von Fremden umringt, mit der Laute begleitend
Sangen sie ab um kärglichen Lohn. Und wie eine Ahnung,
Wie so vollkommen und schön das Leben sich könnte gestalten,
Wie's aber nimmermehr wird, so lag's auf dem träumenden Paare.
Keines wagte ein Wörtlein; als schwebte ein schweres Geheimnis
Ihnen zu Häupten, entflohen sie bange in einsame Straßen.
Wortlos schob sie den Arm in den seinen. So gingen sie weiter,
Schweigend und lange; da litt sie's nicht länger und bot ihm den Mund dar.
Jetzo, geborsten die Kruste, entströmte wie glühende Lava
Alles Leid seinem Herzen ; er sagte ihr, was er gelitten.
Sagte, wie elend er sei, dass er Glaube und Hoffnung verloren,
164
Dass er im Leben nicht Zweci< mehr erkenne, und wie er verlassen !
Keiner verstehe ihn mehr, selbst der Mutter sei er ein Fremder!
Worte ließ sie; sie gab ihm des Leibes tröstende Nähe.
Lange saßen sie so, und fanden wie trunken nach Hause.
Als er am anderen Morgen sich meldete Via Onofri,
Kam sie die Treppe herauf. „Im Dom war ich," sagte sie ruhig,
, Weihrauch geht von dir aus," so sprach er, die Augen, die jauchzten:
„Schön bist du, schön, du lilienschlankes Weib!" Und gemessen,
Züchtigen Leutchen geziemend, entstiegen die beiden dem Hause,
Aber noch hatten sie, jenseits des Arno den Hügel erklimmend.
Nicht das letzte der Häuser verlassen, als Robert der Heimat
Lautester Jauchzer entfuhr. Wie Zymbeln durch Tempelruh' schmettern
Riss sich der Jubel die Bahn durch den feierlich lauteren Himmel.
„Herrisch und herbe," so sagte sie lächelnd, „klingt hier dein Lustruf.
Felsen und Berge, die rastlos schaffende Kräfte gestalten,
Selbstbewusst stehen wie kämpfende Helden, die tragen dein Jauchzen;
Aber der Fluss der schwellenden Hügel, der milde und leise
Sich in den Himmel verliert, wie im Traum du selbst dir entgleitest,
Freund, der verlangt gedämpftere Lust, vielleicht nur ein Klingen,
Wunschlos und ziellos und glücklich still zu verschweben im Räume!"
„So," entgegnete Robert, „empfinde ich auch diese Hügel;
Langsam entschwindet mir, was ich nicht fand und verstand und mich quälte.
Quälte wie lockendes Land in nebligen Fernen erkennbar,
Ruhlos Entdecker quält, einen Weg in das Heilland zu finden !
Leise entschläft hier der Ruf, wie betäubt von verträumten Gesängen."
Also in deutsamer Rede erreichten sie San Miniato.
Weiß zwischen schwärzlichen Pinien stieg in die gläserne Bläue
Feingegliedert die Marmorfassade empor, und im Dachfeld
Standen die Heiligen in leuchenden, steifen Gewändern und schauten
Stille herab auf das Paar, das plaudernd der Pforte zustrebte.
Feiernde Kühle erfüllte die Kirche, das Dunkel der Krypta
Stieg bedächtig und ernst in das Licht, das rötlich und milde
So wie die scheidende Sonne den Wolken entflutet, den Fenstern
Vorne im Chore entglitt. Verwundert standen die beiden.
„Marmor sind diese Scheiben," so brach er das Schweigen. Sie aber,
Neckischer Freude voll, stieg auf die Stufe vor einem der Fenster :
Hei, wie troff sie von Sonne! Hei, wie war sie so lieblich!
Lächelnd bog er sein Knie und „Madonna", flehte er leise,
„Donna mia, weißt Du nicht das Geheimnis, ich suche
Jahrelang, ein altes, verschollenes Wörtchen, das öffnet
Heimlich und leise des Lebens Heiligtum, die verschloss'nen
Pforten springen! Sie springen, dran tausend Hände verblutet!"
Lächelnd sprach da die Schöne: „Wohl weiß ich dies eine Geheimnis!"
„Sag' es mir!" bat er sie stammelnd. Da neigte sie leise ihr Köpfchen
Lachte und flüsterte heiß: „Verliere Dich selbst in der Liebe!"
165
„Komm!" entglitt es ihm mild, und riss sie an sich aus dem Lichtkranz,
Stürmten hinaus in die Sonne und fanden verschwiegene Wege.
Tage und Monde voll hoher Liebe und blendender Schönheit
Lebten sie sich und sonst niemand als sich, keinem Zweck, keiner Arbeit.
Dann — kam das Ende! Warum? Begriff er es damals? Sie schieden.
Nächtelang stumpf dem Auswurf der dunkeln Gassen gesellet.
Trank in verruchten Kneipen sein quälendes Hirn er zur Ruhe.
Mitten im Sumpfe erschien er sich selber beschmutzt, und sich selber
Widrig, begann er weg von sich selber zu sehn und erstaunte:
Mitten im Volke der Schaffenden saß er als Drohne und klagte.
Nichts war er, leistete nichts, und verlangte doch alles! Und fand ein
Ziel, und es fand sich ein Weg, und die Heimat ward ihm erschlossen.
Schaffender war er nun. Kämpfender auch dem Volke, nur wollt' er
Dienen. Sich selber nur Stille und Einsamkeit, Bücher und Bilder,
Lieder, versonnte Stunden ein Weglein entlang und sonst nichts mehr!
Anderhalb Jahre voll stillem Genügen und wachsender Ehrfurcht
Volk und Staat gegenüber vergangen. Tage voll Frieden!
Heute, dummdreiste Torheit, verfiel er darauf, des Drogisten
Hübsche Tochter zu küssen, und sie war so schlimm, ihn mit wehen
Augen anzusehn, und nun könnt' er den Blick nicht vergessen!
(Fortsetzung folgt.)
DDD
AUS OTTILIENS TAGEBUCHE
Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich
in ihr hin- und herbewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern Gunsten
heranleiten möchten.
Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken :
der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsere Freunde
herbeiführen.
Man mag noch so eingezogen leben, .so wird man, ehe man sich's
versieht, ein Schuldner oder ein Gläubiger.
Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns
ein. Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind,
ohne daran zu denken.
Die Wahlverwandtschaften GOETHE
DDD
166
JELLINEK UND DER PROPORZ
Die nachstehende Kritik sollte schon vor der letzten zürcherischen
Volksabstimmung über den Kantonsratsproporz in Wissen und Leben er-
scheinen, wurde aber etwas zu spät eingesandt. Nun der Proporz wieder
zur eidgenössischen und zürcherischen Tagesfrage geworden ist, wird es
auch heute noch gestattet sein, die „glänzendste und eindruckvollste Rede",
die nach dem Zeugnis der „Neuen Zürcher Zeitung" in der Nationalrats-
proporzdebatte gehalten worden ist, auf ihren Innern Gehalt zu prüfen.
*
Am 6. April 1910 hat Herr Dr. Forrer im Nationalrate seine
Rede gegen den Proporz geiialten. Am 19. Oktober des gleichen
Jahres erschien von einem mir unbekannten Verfasser in den
Neuen Zürcher Nachrichten unter dem Titel: Wissenschaft und
Proporz, eine offene Kritik an Herrn Nationalrat Dr. Forrer in
St. Gallen. Darin wurde gesagt, Herr Forrer habe erkannt, dass
mit den alten Mittelchen dem Proporz nicht beizukommen war,
und er habe deshalb versucht, die Bekämpfung „mit einem wissen-
schaftlichen Mäntelchen zu drapieren". Er fand zwei Autoritäten
und griff sie auf, nämlich „die sehr geistvolle Abhandlung von
Professor Bernatzik" und „den bedeutendsten Staatsrechtslehrer
Jellinek". Es heiße jedoch den Dingen Gewalt antun, wenn im
Kampf um die Sicherung des Wahlrechts der Minoritäten der
Staatsrechtslehrer Jellinek gerade gegen diese Bestrebungen aus-
gespielt werden wollte, gerade Jellinek rede dem Schutze der
Minoritäten das Wort. Herr Forrer zitiere jedoch die entschei-
denden Stellen nicht.
Es ist mir nicht bekannt, ob Herr Forrer auf diese „offene
Kritik" geantwortet hat, und als am 15. Januar 1911 aus Deutsch-
land die Kunde kam vom Tode des geheimen Hofrats Professor
Dr. Jellinek, ließ ich am 18. Januar, in der Absicht, ein Spießlein
in den St. Galler Proporzkampf zu tragen, im „St. Galler Stadt-
anzeiger" eine Korrespondenz erscheinen, die lediglich aus dem
Gedächtnis — der Artikel der Neuen Zürcher Nachrichten lag
mir nicht mehr vor — jene „offene Kritik" unter dem Titel:
„Dr. Forrers Kronzeuge" kurz zusammenfassend noch einmal
auffrischte. Meine Korrespondenz schloss: „Wie wärs, wenn die
St. Galler Proporzfreunde in der bereits begonnenen Kampagne
um den Großratsproporz . . . nunmehr den Geist Jellineks gegen
Herrn Nationalrat Dr. Forrer zitierten . . .?"
167
Tags darauf erschien Herr Dr. Forrer selber in den Spalten
des „St. Galles Tagblattes" und bezichtigte mich, den er mit dem
erwähnten Korrespondenten der Neuen Zürcher Nachrichten für
identisch hielt, „dreister Entstellung und Unterstellung". Es sei
rundweg erfunden, dass er Jellinek in der ihm unterschobenen
Weise jemals als „Kronzeugen gegen den Proporz" zitierte. Herr
Forrer versuchte einen Gegenbeweis und schloss: „Es ist uns
völlig gleichgültig, welche Geister der Korrespondent des Stadt-
anzeigers uns gegenüber in der Proporzkampagne zitieren will,
aber das möchten wir ihm empfehlen: bevor er uns eine unfeine
Zitiermethode vorwirft, möge er selbst erst lernen, ehrlicher und
gründlicher zu kritisieren."
Ehrlich verträgt hier keinen Komparativ. Ich komme daher
der Empfehlung des Herrn Forrer nur insoweit nach, als er
gründlicher kritisiert zu werden wünscht.
Herr Forrer führte im Nationalrate laut amtlichem Steno-
gramm unter anderm folgendes aus: „Ich glaube, es ist eine un-
richtige Auffassung, wenn man überhaupt den Proporz als ein
demokratisches Fortschrittsprinzip postuliert. Er ist das nicht,
sondern bleibt seinem Wesen nach ein durchaus konservatives
Prinzip. In dieser grundsätzlichen Auffassung liefert der Vortrag
Jellineks einen zu ernstem Nachdenken anregenden Kommentar."
Herr Forrer zitiert darauf Jellinek und schließt: „Gehen Sie auf
die Frage tiefer und näher ein, Sie werden mir recht geben
müssen, dass das Proporzionalwahlverfahren in seiner Wirkung
ein konservatives Prinzip ist. Wenn die Herren der Linken Jelli-
nek nicht glauben, so werden sie vielleicht eher den belgischen
Sozialistenführer Jules Destree anerkennen, der vom Proporz
gesagt hat: C'est un Instrument conservateur de premier ordre."
Zitiert Herr Forrer hier Jellinek für den Proporz? Doch
wohl gegen den Proporz. Und so klar es jedermann sein dürfte,
woher ich diese meine Behauptung habe, so unklar erscheint mir,
woher Herr Forrer die seinige hat, Jellineks Vortrag liefere für
seine (Dr. Forrers) Proporzauffassung einen zu ernstem Nach-
denken anregenden Kommentar. Es ist wahr, Jellinek spricht
einmal vom Proporz, und zwar in der Einleitung zu seinem
42 Druckseiten umfassenden Vortrage, woselbst er sein Thema,
168
„das Recht der Minoritäten", weil es von so großer Ausdehnung
sei, eng zu umgrenzen für nötig hält. Die Stelle lautet:
„Wenn ich nunmehr meine Aufgabe umgrenze, 50 schließe
ich von ihr alles aus, was sich auf die Stellung der Minoritäten
bei Wahlen bezieht, da dieses Thema bereits eingehend unter-
sucht wurde und noch immer an vielen Orten Gegenstand eifriger
politischer Diskussion ist. Die Frage nach der Minoritäten-
veriretung, die zahlreichen Theorien über die Proportionalwahlen
zu untersuchen, muss ich an dieser Stelle unterlassen, da solches
uns zu weit wegführte von den bisher wenig oder gar nicht er-
örterten Problemen, die das Recht der Minoritäten berühren. Es
genügt, darauf hinzuweisen, dass eine umfassende Darstellung
der politischen Stellung der Minoritäten auch mit jener Frage sich
eingehend zu beschäftigen hätte.''
Man sieht, Professor Jellinek sagt vom Proporz nur so viel,
dass er von ihm gar nicht reden will, und er umgrenzt seine
Aufgabe ausdrücklich und positiv folgendermaßen: „Das hier zu
untersuchende Problem ist einzig und allein das Recht der Minori-
täten bei Entscheidungen in gesetzgebenden Kollegien und bei
Volksabstimmungen.'' Er fragt also nicht, wie verschaffen wir
einer Minderheit die gebührende Vertretung, sondern wie schützen
wir eine bereits bestehende Minderheit im Parlament sowie bei
Volksabstimmungen vor der Willkür einer übermächtigen Mehrheit.
Und Jellineks Antwort zum Schlüsse seines Vortrages lautet:
„Das Veto ist unter allen Umständen die einzig starke Waffe, die
einer Minderheit in die Hand gedrückt werden kann."
Völlig unbeirrt von dieser Tatsache bringt Herr Forrer zur
Erhärtung seiner Pro;70/'z-Auffassung jenes längere Zitat aus Jelli-
nek, wonach sich die menschliche Gesellschaft in einem immer
weiter vorwärtsschreitenden Prozess der Demokratisierung be-
findet, und Herr Forrer schließt: „Gegenüber diesem Fortschreiten,
dieser Demokratisierung unserer staatlichen Einrichtungen ver-
langt Jellinek nun aus einem trotzigen konservativ-aristokratischen
Gefühl heraus den Schutz der Minoritäten. Gehen Sie auf die
Frage tiefer und näher ein, und Sie werden mir Recht geben
müssen, dass das Proportionalwahlverfahren in seiner Wirkung
ein konservatives Prinzip ist."
Die Aufforderung: „Gehen Sie auf die Frage näherund tiefer
169
ein", ist eine recht gewagte. Wer sie befolgt, kommt nicht in
die Lage, Herrn Forrer recht geben zu „müssen", sondern zur
Überzeugung, dass die Forrersche Auffassung Jellineics eine
gründlich verfehlte ist, dass Jellineks Vortrag „einen zu ernstem
Nachdenken anregenden Kommentar" wohl liefert, dass aber diese
vorzügliche Wirkung bei Herrn Nationalrat Dr. Forrer jedenfalls
nicht sonderlich typisch in die Erscheinung tritt.
Selbst wenn wir davon absehen, dass Jellinek überhaupt
nur vom Recht der Minoritäten bei Abstimmungen und nicht bei
Wahlen spricht, selbst wenn wir zugeben, dass er die speziell
erwähnte Stelle mit den Worten einleitet: „Noch viel bedeutsamer
als für die Gegenwart, und zwar nach allen Richtungen hin, nicht
etwa nur für gesetzgebende Versammlungen, wird die Frage nach
dem Rechte der Minoritäten einer fernen Zukunft erscheinen,"
selbst dann denkt Jellinek nicht im Traume daran, das Minori-
tätenrecht oder gar den Proporz, den er nicht berührt, als kon-
servatives Prinzip gegenüber dem „Fortschritt'' auszuspielen.
Wohl aber bezeichnet er umgekehrt die Anerkennung von
Rechten der Minoritäten als einzige Fortschrittsmöglichkeit gegen-
über der drohenden Erstarrung des Majoritätsprinzipes, gegenüber
dem drohenden „Fortschreiten" der Demokratisierung. Mithin ist
dieses „Fortschreiten" doch seiner Lebtage kein „Fortschritt", wie
es Herr Forrer verwendet, damit es ihm als Gegenstück diene
zu seinem „konservativen" Proporz. Gerade dieses „Fortschreiten"
ist im besten Falle konservativ, im schlimmsten Rückschritt, das
Gleiten auf einer schiefen Ebene, der Weg zum Abgrund. Jellineks
„fortschreitende Demokratisierung" ist nicht die naturgemäße Ent-
wicklung, sondern die Entartung der Demokratie, welche diesen
Namen nur mit jenem Rechte trägt, mit dem auch der Physiker
bei minus 60 Grad Kälte von einem Wärmegrad spricht.
Hören wir Jellinek selbst: „Je weiter aber die Demokratisie-
rung der Gesellschaft vorwärts schreitet, desto mehr dehnt sich
auch die Herrschaft des Majoritätsprinzips aus. Je mehr das
Individuum durch den Gedanken der menschlichen Solidarität
zurückgedrängt wird, desto weniger Schranken erkennt der herr-
schende Wille gegenüber dem Einzelnen an. Das eröffnet aber
die Aussicht in eine furchtbare Gefahr, die der gesamten Zivili-
sation droht. Nichts kann rücksichtsloser, grausamer, den primi-
170
tivsten Rechten des Individuums abholder, das Große und Wahre
mehr hassend und verachtend sein, als eine demokratische Mehr-
heit ... Ich bin allerdings lange nicht so pessimistisch wie jener
berühmte Wortführer des Liberalismus, der befürchtete, mit dem
definitiven Siege der Demokratie und der mit ihr zur unbeschränk-
ten Herrschaft gelangenden öffentlichen Meinung müsse ein Volk
chinesischer Erstarrung entgegengehen, weil jeder Fortschritt
schließlich von der Trägheit der Massen, durch den ungeheuren
Druck, den sie ausüben, werde niedergehalten werden. Aber die
Gefahr für die freie Entwicklung der Individualität ist dennoch
groß genug, wenn man bedenkt, dass aller Fortschritt in der
Geschichte seinem Ursprünge nach das Werk von Minoritäten
gewesen ist.
„Doch sind bereits Anzeichen vorhanden, dass in vielen
besseren Naturen, im Gegensatz zu den herrschenden Strömungen,
sich etwas regt, das ich als trotziges Minoritätsgefühl bezeichnen
möchte. Jene neuen Lehren vom Übermenschen und der Herren-
moral bis in die Verirrungen der anarchistischen Theorien hinein
sind nur aus einer Zeit heraus zu verstehen, die bestrebt ist, das
schonungslose Recht der Mehrheit zu proklamieren. In allen die-
sen Lehren ruht als Kern der wichtige Gedanke, dass Anerken-
nung einer Staats- und gesellschaftsfreien Sphäre des Individuums,
innerhalb deren es keinem Mehrheitswillen sich zu unterwerfen
hat, ein soziales Interesse ersten Ranges ist. Kollektivismus und
Individualismus sind keine ausschließenden Gegensätze, wenn
man erkannt hat, dass das Kollektivum durch völlig zwangsweise
Unterwerfung des Individuums unter die Gesamtheit in der
Erreichung höherer Ziele für immer gehemmt ist.
„Die schöpferischen sozialen Taten sind stets freie Taten
des Individuums gewesen, während der gesellschaftliche Zwang,
in welcher Form immer geübt, nur regulierend, niemals schaffend
wirken kann.
„Mit dieser Erkenntnis aber", so schließt Jellinek seinen
Vortrag, „ist der Zukunft eine gewaltige Aufgabe gestellt. Der
ewige Kampf zwischen Imperium und Libertas wird auch in der
demokratischen Gesellschaft der kommenden Jahrhunderte ge-
kämpft werden. Die Dämme, welche heute einem übermächtigen
Mehrheitswillen noch entgegenstehen, werden vielleicht nieder-
171
gerissen werden. Dann wird aber eine große Krise für die zivi-
lisierte Menschheit gel<ommen sein. Wie sie gelöst werden wird,
darüber kann, wie über alle Zukunft, kein Wissen, sondern nur
ein Glauben entscheiden. Hoffen und glauben wir, dass die Ge-
sellschaft schließlich das finden und verwirklichen werde, was
allein imstande ist, sie vor öder, geistiger und sittlicher Ver-
flachung und Versumpfung zu bewahren: Die Anerkennung von
Rechten der Minoritäten.''''
So weit Jellinek. Rechnen wir nun, obwohl Jellinek den
Proporz nicht ausdrücklich berührt, auch ihn zu jenen Mitteln,
welche die Einzelrechte gegenüber einem schonungslosen Mehr-
heitsrecht zu schützen berufen sind, so ist doch völlig klar, dass
nach dem wirklichen Jellinek der Proporz nur ein demokratisches
Fortschrittsprinzip und niemals, nach dem Forrerschen Jellinek,
ein konservatives Prinzip sein könnte. Auch Herr Professor Ber-
natzik, den Herr Forrer hier zu Hilfe ruft, erweist sich als total
unbrauchbarer Helfer. „In der modernen Demokratie", sage dieser
Gelehrte, „gilt der Mehrheitsbeschluss deshalb, weil man annimmt,
dass die Mehrheit das Bessere gewollt hat, und das führt wieder
zurück zur demokratischen Grundidee, der Idee der Gleichheit;
denn wenn alle gleich gescheidt und tüchtig sind, so bleibt in
der Tat kein anderer Maßstab für den Wert eines Beschlusses,
als die Zahl derjenigen, die ihm zustimmen."
Herr Forrer und Herr Bernatzik verwechseln miteinander die
Gleichheit der Rechte (kultureller und wirtschaftlicher Art), die
annähernd möglich ist, mit der Gleichheit der Intelligenz, die un-
möglich ist und daher mit der demokratischen Grundidee nicht
das geringste zu schaffen hat. Sie verwechseln zum zweiten den
Majoritätsöesc/j/w55, den jedermann (mit Einschränkung) anerkennt,
mit der Majoritätsw^aÄ/, die nur den Majorzfreunden genießbar
erscheint. Und endlich übersieht Herr Forrer, dass Jellinek an
der angeführten Stelle untersucht, welche Bedeutung die Frage
nach dem Rechte der Minoritäten „für eine ferne Zukunft" hat.
Er meint betrübt: „Wir können nicht mehr ^zurück zu dem
Standpunkt, den Herr Professor Jellinek vielleicht mit Recht
vertritt. Wir stehen in der schweizerischen Demokratie auf einem
andern Standpunkt. Wir haben bereits dafür optiert, dass bei uns
die Masse durch den Stimmzettel entscheidet."
172
„Vielleicht mit Recht", und „nicht mehr zurück", und zwei
Minuten später steht Herr Forrer auf dem Standpunkt JeUineks,
den dieser „vielleicht mit Recht vertritt" und zu dem wir angeblich
„nicht mehr zurück" können. Allerdings will Herr Forrer diesen
schönen Standpunkt nur für seine Partei einnehmen und er —
„will" es auch nur — der Geist ist willig — ; aber es bleibt bei dem
Versuch, oder sagen wir bei dem Wunsche, Jellineks ideal auch
zu vertreten: Herr Forrer gesteht dem Herrn Professor Speiser
zu, dass der Proporz neue Parteien nicht schaffe, aber er fördere
die Neubildung, die Zersplitterung, (eben war er noch ein kon-
servatives Prinzip) und diese Wirkung, sagt Herr Forrer, ist uns
deshalb so gefährlich, weil unsere Ideale so geartet sind, dass sie
dieser gefährlichen Wirkung des Proporzes ganz besonders ent-
gegenkommen. „Wir sind eine Partei des Individualismus, wir sind
eine Partei, die das Recht des Einzelnen, das Persönlichkeitsprinzip
in den Vordergrund stellt, und auf eine solche Partei ist die Wir-
kung des Proporzes eine doppelt gefährliche."
Warum denn Herr Forrer? Warum denn doppelt gefährlich?
Weil der Proporz Ihrem Partei-ideal sich assimiliert? Weil er,
wie dieses, das Recht des Einzelnen in den Vordergrund stellt
und sogar aller Einzelnen, nicht nur der Parteiangehörigen, son-
dern der Gesamtheit sich annimmt? Da würde ich ihn doch, der
mir mein Partei-ideal in so wohltätiger Weise verkörpert und
verwirklichen hilft, hochwillkommen heißen! Und Sie bezeichnen
diese Verwirklichung als eine Gefahr? Sogar als „doppelt ge-
fährlich"?
Das heißt doch kalt und ehrlich und deutsch : Wir sind eine
Partei des Individualismus, auch der Proporz fördert den Indivi-
dualismus, darum — lehnen wir ihn ab! Denn die Neubildung,
die Zersplitterung ist ja im Grunde nichts anderes als die Geltung,
das Leben, die Ausübung der Persönlichkeitsrechte, ist Fortschritt,
ist Verjüngung. Uns aber genügt es, das Recht der Persönlichkeit
wie einen Kettenhund zu besitzen. Wozu ihn losbinden? Wir
fürchten uns vor der Bestie! Vor diesem Recht der Persönlich-
keit. Es ist ein zu gewaltiges Recht, und der Majorzverteidiger
ist ein tapferer Mann.
WINTERTHUR OTTO SCHMASSMANN
DDD
173
EINE PHILOSOPHIE DES LEBENS
HENRI BERQSON
(Fortsetzung)
So werden am Leben, an der Bewegung, am Werden die
Grenzen des Intellekts offenbar.
Statt des Lebens erfasst er sein Substrat, statt der Bewegung
das Bewegte und die Bahn, statt des Werdens sein Resultat, das
Gewordene. Die Schranken des Intellekts sind aber auch die der
Wissenschaft. Sie reicht gerade soweit, als seine Begriffe sich
spannen. Das hat Kant philosophisch begründet und damit das
moderne Wissenschaftsideal aufgestellt. Es ist ein mathematisch lo-
gisches. Was die alten Pythagoräer über ihre Tempel schrieben :
Kein Ungeometrischer darf hinein! das steht auch über den
Pforten der modernen Wissenschaft. Kant sah deshalb in jeder
Disziplin gerade soviel Wissenschaft als Mathematik darin steckt.
Solange dieses mathematische Wissenschaftsideal dem Räume und
der Materie gegenüber Anwendung findet, ist es durchaus berech-
tigt. Eine Überspannung seiner Forderung tritt erst da ein, wo es
auch auf dem Gebiet des Werdens und des Geistes gelten will,
also in der Biologie, in der Psychologie, in der Geschichte und
Metaphysik. So zum Beispiel bei Spinoza, der die höchsten philo-
sophischen Fragen nach geometrischer Methode studieren wollte.
Auf diesen Gebieten versagt die mathematisch logische Methode,
und zwar genau aus den selben Gründen, die es dem Intellekt
unmöglich machten, in sie einzudringen.
Wenn Bergson so die Grenzen des Intellekts und damit der
Wissenschaft ziemlich eng steckt, kann man sich wirklich fragen,
wozu er denn gut ist, welche Rolle ihm denn zu spielen verstattet
werde und wo denn sein eigentlicher Wirkungsbereich sei. Darauf
gibt Bergson ungefähr folgende Antwort:
Der Intellekt ist vor allem eine praktische Fähigkeit. Wir
finden uns alle in eine Welt hineingestellt, in der wir handeln
müssen. Es umgibt uns eine Wirklichkeit, in die wir praktisch
eingreifen, die wir an diesem oder jenem Punkte verändern,
unsern Zwecken dienstbar und gefügig machen müssen. Dazu
dient uns der Intellekt. Er bereitet die motorische Funktion vor,
174
die ins Handeln ausmündet. Er ist die Umschaltestation zwischen
Wahrnehmung und Handeln. Er hat die zentripetale Richtung
der von außen kommenden Eindrücke in die zentrifugale der mo-
torischen Entladung zu verwandeln oder doch diese Verwandlung
vorzubereiten. Das intellektuelle, begriffliche Denken ist daher
kein absolutes, uninteressiertes, sondern ein gerichtetes Denken,
gerichtet auf die praktische Befriedigung unserer Bedürfnisse. „Wir
erkennen in den meisten Fällen nicht, um zu erkennen, sondern
um eine Partei zu ergreifen, um einen Vorteil zu gewinnen, um
zu handeln", um die Umwelt unsern Zwecken gemäß ordnen,
ihre Veränderungen voraus wissen, berechnen und damit beherr-
schen zu können. Der Intellekt hat zu diesem Zwecke die Wissen-
schaft und die Technik hervorgebracht. Wir stauen in der Wissen-
schaft eine ganze Menge von Erkenntnissen auf, von denen wir
hoffen, dass wir sie irgendwie einmal praktisch verwerten kön-
nen. Bei manchen dieser Erkenntnisse, bei denen wir das nicht
sofort sehen, entdecken wir oft sehr viel später ihre praktische
Verwendbarkeit. Die Begriffe, mit denen wir diese Erkenntnisse
ausdrücken, sind Versuche, in welcher Richtung wir etwas mit
einem Gegenstand anfangen können. „Einen Begriff auf einen
Gegenstand anwenden, heißt ihn befragen, was wir mit ihm machen
können, was er für uns tun kann; ein Objekt mit einem Begriffe
etiquettieren, heißt: in bestimmten Ausdrücken die Art der Hand-
lung oder Haltung festlegen, zu der das Objekt uns veranlassen
soll." Nun haben wir uns vor allem im Reich der Materie zu-
recht zu finden, sind beständig genötigt, in sie einzugreifen und
sie uns dienstbar zu machen. Deshalb hat sich der Intellekt in
seinen Funktionen ihr vor allem angepasst, weil sie in erster
Linie den Stoff abgibt für das Handeln, zu dem uns der In-
tellekt vorbereitet. Um ihr festes und beharrliches Wesen fassen
zu können, hat er deshalb seine festen und beharrlichen Begriffe
ausgebildet. Er ist daher besonders befähigt, die Materie und
ihre Verhältnisse zu erkennen und zu beherrschen. Zu diesem
Zwecke versucht er, sie ganz in berechenbare und messbare Ele-
mente aufzulösen und kommt eben damit zu dem bereits genann-
ten mathematischen Wissenschaftsideal, das, ganz der Materie an-
gepasst, auf ihre Beherrschung abzielt. Grundbedingung dafür ist
der homogene, gleichartige Raum, den wir beliebig zerschneiden,
175
wieder zusammensetzen und aller Materialität wie ein ungeheures
Netz überwerfen können.
Wenn Bergson das begriffliche Denken, den Intellekt, mit
dieser Anschauung nur als eine praktische Fähigkeit einschätzt, so
ist er damit auch zu einer pragmatischen Wertung des Denkens
und der Wissenschaft gelangt, wie James, den ich in einem früheren
Aufsatz besprach, oder etwa Mach, Vaihinger und andere. Aber
dieser Pragmatismus spielt doch im Ganzen seiner Philosophie
eine viel untergeordnetere Rolle. Bei den amerikanischen reinen
Pragmatisten ist der Pragmatismus der Weltweisheit letzter
Schluss. Alles Denken dient bei ihnen ausschließlich dem Han-
deln und hat nur in der Wirkung seinen Zweck und seinen Sinn.
Die praktische Wirkung allein entscheidet über den Wert und so-
gar die Wahrheit des Denkens. Wahr ist, was wirkt; eine Wahr-
heit ist nur dann wertvoll, wenn sie eine praktische Wirkung
ausübt. Bergson aber beschränkt diese pragmatische Wertung
ausschließlich auf das verstandesmäßige, begriffliche Denken, das
in der Wissenschaft und im praktischen Leben an der Tages-
ordnung ist.
Neben oder vielmehr über diese pragmatische Erkenntnisart
setzt er eine höhere, wertvollere, die von praktischen Zwecken
nicht mehr unterjocht oder gefärbt wird. Es ist die Erkenntnis,
die nicht der Intellekt, sondern die Intuition uns verschafft.
Wir treffen ihre Wurzeln in der biologischen Entwicklungs-
reihe schon frühe an, im Instinkt. In der biologischen Entwick-
lung des Erkenntnisvermögens sehen wir nämlich eine Gabelung
eintreten, die nach zwei verschiedenen Richtungen hinweist. Die
eine läuft aus in den Instinkt, der bei den Arthropoden seine
höchste Stufe erreicht, die andere in den Intellekt, der mit der
Ausbildung des Gehirns im Menschen seinen Höhepunkt erzielte.
Wer die Erkenntnis untersucht, darf ihre biologische Entwicklung
nicht außer acht lassen. Dass Kant es tat, der die Vernunft nur
als eine fertig gegebene und nur ihren Gültigkeitsanspruch unter-
suchte, macht ihm Bergson zum Vorwurf. Die beiden Erkenntnis-
vermögen des Intellekts und des Instinkts lassen sich nicht mit
einander vergleichen oder auf einander zurückführen. Der Instinkt
und die Intuition, die aus ihm hervorwuchs, ist nicht etwa nur
ein weniger ausgebildeter Intellekt, wie man anzunehmen liebt,
176
sondern ein prinzipiell und wesentlich verschiedenes Erkenntnis-
mittel. Wo der Intellekt auf einem mühsamen We^e durch Ver-
arbeitung der Wahrnehmungen, Begriffsbildung, Schlussurteil und
schließlich Erregung des motorischen Apparates zu seinem Ziele
kommt, trifft der Instinkt in wunderbarer divinatorischer Sicherheit
das Richtige. Woher weiß es eine bestimmte Wespenart, dass
sie die Raupe, in die sie ihre Eier legt, gerade an einer bestimm-
ten Stelle ihres Nervensystems stechen muss, um sie zu lähmen,
ohne sie zu töten? Welche wunderbaren Erkenntnisse, und nicht
durch irgend eine intellektuelle Betätigung gewonnen, treten uns
in einem Bienen- und Ameisenstaat entgegen! Eine Art Einssein
mit dem Leben selber, eine unmittelbare sympathische Verbunden-
heit und Einfühlung bringt dort eine viel tiefere und sicherere
Kenntnis und Beherrschung der Wirklichkeit zu stände, als sie
dem Intellekte mit seinen Begriffen möglich ist.
Treffen wir den Instinkt in höchster Ausbildung bei den In-
sekten, so ist er doch auch beim Menschen nicht ganz verkümmert,
obschon sich dieser hauptsächlich des Intellekts als Erkenntnis-
organs bedient. Der Intellekt bildet zwar beim Menschen gleich-
sam den hellen Kern seines Bewusstseins; aber ihn umgibt wie
ein leuchtender Nebel die Sphäre der Intuition, die als eine dem
Instinkt analoge Fähigkeit zu betrachten ist. Durch sie finden
wir ein unmittelbareres Verhältnis zum Leben als durch den In-
tellekt, dem nur eine mittelbare Erkenntnis möglich ist. Wir können
das an zwei Stellen deutlich machen: Einmal am Verhalten des
gesunden Menschenverstandes, der gewisse Einsichten besitzt, die
dem Intellekte unzugänglich sind. „Was kein Verstand der Ver-
ständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt." Jenes
oft zitierte Wort Pascals, dem Boutroux letzthin eine besondere
philosophische Untersuchung widmete: „Le coeur a ses raisons que
la raison ne connait pas", spricht die selbe Wahrheit aus. Dieser
gesunde Menschenverstand, den wir in diesem Falle einer Art
von ahnendem Gefühl gleichsetzen dürfen, rechnet und denkt
nicht in Begriffen, sondern fühlt sich in Menschen und Verhält-
nisse ein und erfasst sie von innen, wo der Verstand an der
Außenseite hängen bleibt. Leuchten nicht Sympathien und Anti-
pathien oft tiefer in die seelische Wirklichkeit eines andern hinein,
als alles psychologische Denken es vermag?
177
Eine andere Stelle, wo wir die Intuition am Werke sehen,
ist die künstlerische Inspiration. Sie gewinnt eine Tiefe der Ein-
sicht in die Weltwirklichkeit, wie sie der Verstand niemals er-
reichen wird. Die künstlerische Intuition erzielt ihre Anschau-
lichkeit und ihre Erkenntnisse nicht durch Analyse; sie löst einen
Gegenstand, den sie erfasst, nicht in die einzelnen Teile auf, um
sie dann wieder zu verbinden, wie der Verstand es tut, sondern
sie schaut die einzelnen Teile in ein Ganzes zusammen; sie er-
fasst die Wirklichkeit von innen. Sie versetzt sich ins Herz der
Dinge, fühlt dort ihren Puls und ihr Leben und gewinnt dadurch
den Antrieb zur Gestaltung. Gibt ein „Faust" nicht eine tiefere Er-
fassung des Lebens als alle Lehrbücher der Anthropologie, Psycho-
logie und Ethik zusammen? Ist in der Matthäuspassion von
J. S. Bach, in der Pietä von Michelangelo nicht ein unmittel-
bareres Verhältnis zum religiösen Leben gewonnen als in den
Begriffen der Dogmatik? Natürlich müssen diese auch sein, wie
die Lehrbücher der Psychologie; aber was diese uns geben, sind
mehr die Abfälle des Lebens, seine Erstarrungen, Überreste und
Gewesenheiten — die welkenden Blätter auf der Oberfläche eines
Teiches — und nicht mehr das quellende pulsierende Leben selbst.
Noch besser kann vielleicht an einer philosophischen Konzeption
das Walten der Intuition gezeigt werden. Denn so gut wie dem
Kunstwerk liegen auch den großen philosophischen Systemen
schöpferische Einfälle, glückliche Problemfunde und neue Frage-
stellungen zu Grunde. Nur dass sie auf's Ganze der Wirklichkeit
zielen und nicht auf das Einzelne wie das Kunstwerk. Diese
hellsichtigen Visionen und Problemstellungen, die eine neue
Seite des Weltproblems erschauen und erfühlen, diese Konzep-
tionen — eigentliche Empfängnisse — setzen erst nachträglich
die Verstandesarbeit in Betrieb und werden dadurch zu be-
grifflichen Systemen ausgearbeitet. Ihre Einzelresultate liegen
dann oft sehr weit ab von der glücklichen Grundanschauung, die
eine neue richtige Erkenntnis im Flug erhaschte. Diese Konzep-
tionen aber sind das eigentlich Schöpferische; Höhenvisionen,
zu denen wir immer wieder von den ausgearbeiteten Systemen
zurückkehren, weil die Intuition in ihnen tiefere Blicke in die
Weltwirklichkeit getan hat als der Verstand, der dann logische
Ordnung hineinbrachte. Von manchem Geisteswerk darf man
178
sagen: Es war eine Intuition; die fiel unter die Räuber der Be-
griffe und logischen Formeln. Die überfielen sie und ließen sie
liegen. Ich erinnere nur an den Gegensatz zwischen der genialen
Konzeption der Hegeischen Philosophie und ihrer Verzerrung
durch die begriffliche Arbeit.
Wir haben nun an einzelnen Beispielen eine Anschauung von
dem Walten der Intuition bekommen. Wir wollen noch kurz
versuchen, sie als Methode der Erkenntnis im Zusammenhang
zu betrachten und dem Intellekt gegenüberzustellen. Ihr Objekt
ist das Leben, das Organische. Der Verstand ist auf das Geo-
metrische und Materielle eingestellt, er hat es mit Raum und Zahl
zu tun ; ihm entwischt gerade das Wesentliche des Lebendigen.
Die Intuition aber ergreift es frischweg, in einer „unendlichen
Reihe von Akten, die jeder von besonderer Art sind und allen
Graden des Seins entsprechen". Die Analyse des Verstandes gibt
immer nur Relationen und kann nur in den Symbolen der Be-
griffe reden; die Intuition hebt den Schleier der Symbole und
schaut das Absolute. Anstatt die bewegliche Wirklichkeit in unbe-
wegliche, feste Begriffe zu füllen, lässt sich die Intuition in ihr
selbst nieder, schwimmt in ihr mit, folgt ihren unaufhörlich wech-
selnden Richtungen und ergreift sie so durch eine Art von
Mitleben, durch Einfühlung, durch Sympathie. Ihr Wert und ihr
Ziel besteht darin, das Unmittelbare zu erleben, „revivre l'imme-
diat"; der Verstand kann nur mittelbar, durch die Begriffe hin-
durch, zum Leben gelangen und auch dann erhält er eine ver-
zerrte Erkenntnis davon ; denn er geometrisiert alles. Sein Ideal
und unablässiges Bemühen ist, die Weltwirklichkeit in eine Formel
oder eine Zahl zu bannen, sie als Mechanismus zu deuten. Die
Intuition schaut sie als einen gewaltigen Organismus wie jenen
Weltenbaum Yggdrasil, in dem der Saft des Lebens aufsteigt und
rastlos neues hervortreibt. Die Intuition macht die großen glück-
lichen Funde; sie gräbt das Gold aus der Tiefe und reicht es dem
Verstände hinauf. Dieser münzt und verarbeitet es, verderbt
und fälscht es gelegentlich durch seine Beimischungen. Ihr Ausdruck
ist nicht der unbewegliche Begriff, sondern das lebendige Bild.
Während der starre Begriff das Unterscheidende und Individuelle
verwischt, wird gerade dieses von der Intuition mit ihren gleichsam
flüssigen und schmiegsamen Begriffen und Bildern erfasst, die
179
stets wieder neue, tiefere Seiten des Lebens darstellen. Während
der Verstand durch sein dialektisches Verfahren immer wieder in
letzte und unlösbare Widersprüche gerät, wie die Philosophien
Kants und Hegels zeigen, hebt die Intuition als eine Art Über-
bewusstsein, „supraconscience", die Gegensätze des Denkens auf
und deutet sie als die verschiedenen Seiten der einen und immer
wieder sich wandelnden Wirklichkeit. Aber um sich also mitten in
das pulsierend^ Leben selber hineinzuversetzen durch Intuition,
bedarf es einer schmerzhaften Anstrengung, die ebenso selten ist
wie die Freiheit. Wir sind alle zu sehr praktisch interessiert, um
uns zu einer uninteressierten Betrachtungsweise aufzuschwingen.
Auch erhält man von der Wirklichkeit keine Intuition, kein intellek-
tuelles Mitfühlen mit dem, was sie im Innersten besitzt, „wenn
man nicht ihr Zutrauen durch eine lange Kameradschaft mit ihren
nach außen gerichteten Offenbarungen gewonnen und dann diese
in ihrer Besonderung wieder zusammengeschmolzen hat. So nur
wird die rohe Stofflichkeit der Tatsachen, die wir erkannt haben,
aufgehoben". Der Intellekt führt zur positiven Wissenschaft; die
Intuition zur Metaphysik — und wir dürfen hinzufügen : zur Kunst
und zur Religion. Beide sind notwendig: die Wissenschaft und
die Metaphysik. Nur darf jene nicht den Anspruch erheben, das
Leben selbst und die Wirklichkeit in ihrem Innersten zu fassen,
sondern muss sich bewusst sein, dass sie eine Übersetzung
der Wirklichkeit in die Sprache der Symbole, der Begriffe ist.
Und die Metaphysik anderseits darf nicht nur eine Systematisierung
der einmal gewonnenen Erfahrung sein, oder etwa gar nur bloße
Spekulation, sondern muss die Fühlung mit dem lebendigen Wer-
den aller Wirklichkeit behalten und stets durch neue „Peilungen"
in der Erfahrung zu erweitern und zu berichtigen versuchen.
Sonst geschähe es, dass „die Metaphysik unter der Wirklichkeit
einen tiefen Tunnel graben würde, und dass die Wissenschaft eine
zierliche Brücke über sie schlüge, während der bewegliche Fluss
des Geschehens zwischen diesen beiden Kunstwerken hindurch-
strömt, ohne sie zu berühren".
Welches ist nun das Weltbild, das Bergson durch die Intuition
gewinnt? Abschließendes darüber lässt sich allerdings noch nicht
sagen, da sich Bergson über die letzten und höchsten Ziele, über Kunst,
Ethik und Religion, noch nicht zusammenhängend ausgesprochen hat.
180
DAS INTUITIVE WELTBILD
Die Intuition erfasst die gesamte Weltwirklichkeit als ein un-
endliches, schöpferisches Werden. Damit stellt sich die Intuitions-
philosophie Bergsons allen Philosophien des reinen, dauernden
Seins, von Parmenides und Plato bis zu Spinoza, schroff gegen-
über. Tief im Innersten verwandt fühlt er sich dem alten, dunkeln
Heraklit, dessen Grundsatz: alles fließt! der Tendenz von Berg-
sons Philosophie am nächsten steht; sie hat keinen andern Zweck,
als dieses Werden zu begreifen oder vielmehr mitzuerleben.
Die Welt ist nicht und war nicht und wird nicht sein, sondern
sie wird. Sie ist in ihrem tiefsten Wesen nicht Materie und Zahl,
sondern schöpferische Dauer, „duree creatrice", was allerdings
besser mit „schöpferisches Geschehen oder Werden" zu über-
setzen ist, da wir mit dem Begriff der Dauer allzu leicht den
Sinn des ruhenden Seins verbinden. Wo sich ein Starres, Ruhen-
des und sich Gleichbleibendes findet, da handelt es sich um eine
Erstarrung, um einen Abfall des Werdeprozesses, der auf dem
Wege der Entwicklung liegen geblieben ist. Duree creatrice ist
in Bergsons Philosophie ein Zentralbegriff, um den sich beinahe
alles gruppiert. Es ist der schöpferische Lauf des Lebens in seiner
Entwicklung. Die Welt wird also, ähnlich wie bei Rechner, vom
Leben aus zu verstehen gesucht, nicht von der toten Materie aus,
wie der Intellekt es will. Sie ist ein gigantischer Organismus,
überall vom Leben durchflössen, überall neues Leben schaffend,
und rastlos weiter wachsend. Mit dieser Auffassung wird Berg-
sons Philosophie zu einer Entwicklungslehre.
Aber wie haben wir uns nun diese Entwicklung zu denken?
Zwei Auffassungen stehen sich gegenüber: die mechanistische, die
nach dem Vorbilde Darwins versucht, die Entwicklung kausal zu
erklären, und die teleologische oder finale, wie sie etwa die Neola-
marckisten und Neovitalisten vertreten, die in der Entwicklungsreihe
nicht nur zurückliegende Ursachen, sondern erstrebte Zwecke und
Ziele als wirksam denken. Beide haben nach Bergson nur zum
Teil recht und damit im ganzen unrecht. Denn beide Auffassungen
bestimmen im Grunde die Entwicklung zum voraus, die mechani-
stische von rückwärts und die teleologische von vorwärts. Sie
verkennen damit ihr schöpferisches Wesen, das nicht in einen
181
solchen Rahmen hineingepresst werden kann. Beide Theorien
sind dem Verstände entflossen, der mit den Ursachen und Zwecken
sein Netz von Begriffen über die lebendige Wirklichkeit zu werfen
sucht. Die teleologische Auffassung, die oft der mechanistischen
als eine wertvollere und geistigere gegenübergestellt wird, ist nur
die Umkehrung der andern und vernachlässigt ebenso wie sie die
Duree creatrice, die wirklich Neues hervorbringt. Keine der be-
stehenden Entwicklungstheorien findet so Gnade vor Bergsons
Augen, weder der reine Darwinismus, noch die Mutationslehre
von De Vries, noch die Orthogenesis Eimers, noch der Neola-
marckismus; am ehesten noch der neovitalistische Standpunkt,
wie ihn die Philosophie des Organischen von Driesch vertritt,
obschon dessen Entelechiebegriff Bergson schwerlich genügen dürfte.
Er wirft im besondern der mechanistischen Theorie vor, dass sie
Ursachen mit auslösenden Bedingungen verwechselt. Er macht
das wie so oft an einem Bilde deutlich: Die Ursache eines los-
gehenden Schusses liegt nicht in dem Rucke des Drückers an der
Pistole, sondern in der aufgespeicherten explosiven Energie des
Pulvers. Der Drücker spielt nur die Rolle einer auslösenden
Ursache, also einer Bedingung, die erfüllt werden muss, wenn die
effektive Ursache wirksam werden soll. In der Evolution crea-
trice macht Bergson das Analoge dieses Vorgangs an der biolo-
gischen Entwicklung des Auges überzeugend klar.
Der teleologischen Entwicklungslehre hält Bergson im beson-
dern vor, dass sie apriorisch und unbelehrt durch die Erfahrung, der
Entwicklung einen vorausgesetzten Plan zuschreibt, dem die ver-
schiedenen Entwicklungsreihen entgegen konvergieren sollen.
Welchen Weg aber die Entwicklung geht, ist nicht zum voraus
apriorisch festzustellen, sondern erst durch das Werden. Auch
lehrt uns die Erfahrung, dass das Leben nicht konvergierend fort-
schreitet, sondern divergierend. Es faltet sich auseinander, es
differenziert sich in unendlichen Abstufungen. Es macht nirgends
einen Halt. Was so scheint, sind Sackgassen, die der eigentliche
Strom des Lebens weit hinter sich zurücklässt als unvorteilhafte
Versuche. Das Leben ist daher durchaus dynamischer Natur
und nirgends als etwas Statisches zu behandeln. Es ist beständig
nur „Modifikation, Störung, Veränderung der Spannung oder der
Energie" und nichts anderes. Was wir früher schon von der
182
Bewegung sagten, das selbe gilt von diesem lebendigen Werden.
So wie eine Bewegung nicht in Stationen verläuft, sondern in
einem einzigen Schwung, in einem Geschehen, so ist das Leben
kontinuierliche Schöpfung, die in zahllosen Erschütterungen ver-
laufend stets neuen und unvorhergesehenen Schöpfungen ent-
gegeneilt.
Alles Werden geschieht in der Zeit. Aber das ist nicht die
Zeit des Mathematikers. Diese wird gemessen mit dem Räume,
wie wir früher gesehen haben. Zeiterscheinungen werden von der
Wissenschaft als Raumstrecken darzustellen gesucht. Zeit ist für
sie Zahl und Länge. Eine Folge von qualitativ verschiedenen
Zuständen sucht sie als numerische Vielfältigkeit, als eine Suk-
zession von Räumen zu begreifen. Ebenso sucht der gewöhnliche
Verstand die Zeit so wie den Raum als etwas Leeres, als ein
homogenes Milieu zu denken. Wenn der Raum, bildlich gesprochen,
vorgestellt wird wie ein Zimmer, in das die Dinge wie Möbel hin-
eingestellt werden, so könnte die Zeit dem Verstände erscheinen
wie eine lange gleichartige Schnur, auf der die Perlen der Ereignisse
aufgereiht werden. Dieser Zeitbegriff ist außerordentlich praktisch,
wo es sich um materielle Verhältnisse handelt, denn man kann
damit, mit dieser „poussee d'immobilites", rechnen und handeln.
Aber diese Zeit dauert nicht. Sie ist eine andere, als die wir er-
leben, die nicht Länge, sondern Geschehen ist, ein ruheloses
Wachsen und Werden, das wir erleben, als eine Folge von quali-
tativ verschiedenen Zuständen, eine beständige Bereicherung, eine
wirkliche Bewegung, die wie ein Lichtstrahl durch ein Spektrum
läuft und sich in unmerklichen Übergängen mit seinen Nuancen
färbt. Diese wirkliche erlebte Zeit ist unvergleichbar mit dem
Räume. Auch nicht in der Weise, dass man sie, wie Kant es ver-
suchte, als die Anschauung des Innern Sinnes dem Räume als
Anschauung des äußern Sinnes gegenüberstellt. Wie unvergleich-
bar ist doch die durchlaufene Raumstrecke zweier Uhrzeiger, eine
bloße Länge, mit den seelischen Zuständen, die sich in ununter-
brochener Folge durchdringen, gegenseitig auf einander abfärben
und eine ganze Skala von Intensitäten durchlaufen! Die Unver-
gleichbarkeit mit dem Räume geht schon aus der Unumkehrbar-
keit der Zeit hervor. Bei einer Linie im Räume ist es gleich-
gültig, in welcher Richtung sie durchmessen wird. Bei der Zeit
183
verläuft das Geschehen in einer ganz bestimmten und unumkehr-
baren Richtung als eine Folge von Phasen, von rhythmisch be-
wegten Zuständen wie eine Melodie, die sich in einer Richtung
entfaltet, und umgekehrt allen Sinn verliert. Der Rhythmus dieses
Geschehens ist durchaus nicht gleichartig und unabänderlich (worauf
auch Einstein's Relativitätstheorie der Zeit, wenn auch von andern
Gesichtspunkten aus, hinweist), sondern wechselnd und verschieden
in verschiedenen Medien. Die Materie hat einen andern Rhythmus
als der Geist. In der geistigen Welt selber wieder sehen wir eine
unabsehbare Verschiedenheit von Rhythmen. Im Traum, in den
paar Sekunden eines Absturzes drängen sich Ereignisse zusammen,
die sonst Jahre beanspruchen. In Gegenwart eines lieben Menschen
hat die Zeit einen andern Schlag als zusammen mit einem
Langweiler.
Mit dieser Unterscheidung zwischen der Zeit als Länge, wie
sie der Verstand kennt, und der Zeit als schöpferisches Werden,
wie sie die Intuition erlebt, hat Bergson wohl eine seiner wich-
tigsten und einleuchtendsten Entdeckungen gemacht. Sie schien in
der Luft zu liegen; denn auch andere gegenwärtige Philosophen,
wie zum Beispiel Husserl, wiesen unlängst auf die Zeit hin, die
nicht mit dem Chronometer zu messen ist, sondern nur als
lebendiges Werden, als schöpferische Entwicklung zu erleben ist.
ZÜRICH ADOLF KELLER
/Schluss folgt)
g g THEATER UND KONZERT
D D
D D
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Pietät-
voll ehrte das Zürcher Theater den
hundertsten Geburtstag Georg Büch-
ners (17. Okt. 1813) mit einer Auf-
führung seines Revolutionsdramas
„Dantons Tod". 1835 war das Stück
entstanden, aus aufgeregter politi-
scher Zeitstimmung heraus, unter
dem Stachel der drohenden Verhaf-
tung und des fieberhaften Betreibens
der Flucht vor den Fangarmen der
erbarmungslosen Demagogenrieche-
rei. Im Februar 1837 beschloss Büch-
ner in Zürich, wo er ein Asyl ge-
funden und einen wissenschaftlichen
Wirkungskreis als Dozent sich auftun
sah, sein junges Leben. Der Typhus
hat ihn weggerafft. Ein Denicstein
auf dem Germaniahügel bezeichnet
seine Ruhestätte und ehrt sein Ge-
dächtnis.
Dem Drama des 23jährigen nach-
zurechnen, dass es kein vollendetes
Werk sei, können wir uns ersparen.
Misst man es an berühmten Jugend-
dramen der Literatur, so fällt wohl
auf, dass die dichterische Begabung
Büchners sich mehr im Episodischen
als im großen einheitlichen drama-
tischen Wurf offenbart. Die Figur
184
THEATER UND KONZERT
Dantons herrscht nicht entscheidend
in dem Stück. Die Kraft und den
Mut, mit freier dichterischer Macht-
vollkommenheit den historischen
Stoff tragisch zu organisieren, besaß
Büchner nicht. Ergibt nicht viel mehr
als Szenen, zum Teil freilich Szenen
von höchster Lebendigkeit und
sicherer, scharfer Charakteristik :
aber ein Schicksal, ein dichterisch
geschautes, seelisch einleuchtend
motiviertes Schicksal entwickelt sich
nicht vor uns. Ergreifende Wirkung
stellt sich nicht ein, weil wir eben
diesen Danton im Grunde psycho-
logisch gar nicht kennen lernen, sein
Ende mehr nur als ein historisches
Faktum registrieren, statt als eine
innerlich notwendige Tatsache er-
leben. Mit den paar Septembermord-
Visionen, die sich als Schuld, die
Sühne heischt, vor Danton aufrichten,
ist es nicht getan. Da und dort fühlt
man den heißen Atemzug der Re-
volution, und die Aufführung wusste
diese Momente szenisch gut auszu-
nutzen. Sehr unverdaulich sind die
rüden Klinikerwitze , die Büchner
über sein Stück ausgegossen hat,
ein fataler Tribut, den er seinen me-
dizinischen Studien schuldig zu sein
glaubte und der im Grunde zu seinem
Naturell gar nicht recht passen will.
Die Bühnenbekanntschaft mit dem
Drama gemacht zu haben, wird nie-
mand bereuen. In das Repertoire wird
das Stück nicht eingehen, weil seine
dramatische Eigenkraft nicht stark
genug ist. Die nachdenkliche Frage
steht auf: warum ist keine große
Dichtung von bleibendem Wert aus
der Revolutionszeit zu nennen? —
Der Dichter der merkwürdig zwie-
spältigen Belinde, Herbert Eulen-
berg stellte sich wns mW \'\&v „Ernsten
Schwänken", Einaktern vergnüglicher,
aber nicht sonderlich origineller Art
vor. Satirische Scherze sind es, in
denen der lächerliche Kultus berühm-
ter Namen {Die Welt will betrogen
werden: ein Galeriedirektor fliegt
mit einem falschen Rembrandt herein)
und der Reklameschwindel [Das Ge-
heimmitlei, das den flotten Tamtam-
Namen Pansanabum führt) verlacht
und eheliche und voreheliche Neben-
wege beleuchtet und belächelt werden
{Die Wunderkur und Die Ge-
schwister). Man unterhält sich einen
Abend lang bei dieser Einakter-Kost;
aber Lust zum Lesen stellt sich
nicht ein, so wenig wie das Begehren
nach einem wiederholten Sehen im
Theater. Der Humor ist nicht aus
erster Hand, und das Schwankhafte
hat einen Stich ins Forcierte. Es
sind Arbeiten eines Artisten.
H. TROG
OPER IN ZÜRICH. Zur Feier der
hundertsten Wiederkehr des Geburts-
tages von Giuseppe Verdi veranstal-
tete unser Stadttheater am 9. Okto-
ber eine sorgfältige Aufführung der
Oper Falstaff. Bei Verdi weist die
zünftige Musikgeschichte gern auf
den Wagnerschen Einschlag in seiner
Kunst hin, und doch beweist gerade
dieses Werk , welch fundamentaler
Unterschied die beiden trennt. Der
eine bis zur letzten Note pathetisch,
der andere so ganz frei von jedem
Pathos und, wenn er ihn anwendet,
nur mit dem überlegenen ironischen
Lächeln in den Mundwinkeln. Der
eine ganz aufgehend in einer welt-
fremden Götterwelt und einem spe-
kulativen System, das Denkarbeit
verlangt, der andere der Sänger des
sonnigen Tages, des Menschlichen
und Allzumenschlichen in poetischer
Verklärung. Welche Wohltat deshalb
für uns Menschen von heute, nach
Wagner und all dem künstlich ge-
steigerten Mittelaufwand der Moderne
185
THEATER UND KONZERT
C3 C3
wieder einmal ein Spiel vor Augen
zu haben, das wirklich Realität und
Geist besitzt und diesen überlegenen
Shakespearegeist nicht zudecken
muss durch unerhörte neue Instru-
mentationskünste. Wieder einmal
einen Menschen zu finden, der wahr
und aufrichtig ist und dies auch wahr
und aufrichtig ausdrücken kann.
Wer zu lesen versteht, wer hinter
den Tönen des Komponisten seine
Persönlichkeit zu erfassen vermag
— keiner macht es so leicht wie ge-
rade Verdi — der wird aus seinem
Falstaff alles mögliche herausfühlen
können von Verdischer Eigenart: den
schlichten Achtzigjährigen, der noch-
mals hinsitzt und komponiert mit
jugendlichem Humor und einer Men-
schenliebe, die alles Menschliche ver-
stehen und verzeihen gelernt hat in
seinem langen Leben; er wird den
überlegenen Esprit schätzen, dem
alles Hohle und Aufgebauschte un-
sympatisch geworden ist, der schlicht
und bescheiden sich mit einfachsten
Mitteln begnügt und mit ihnen eine
so klare Charakteristik schafft wie
nur irgend ein alter Meister. Vor
solcher durchsichtiger menschlicher
Größe muss jede Kritik schweigen.
Man wäre versucht, auch hier Ver-
gleiche anzustellen zwischen dem
Menschen Verdi und dem Menschen
Wagner — die Musikgeschichte ver-
sagt hier auch, denn ihre Schöpfer
haben gegenüber dem modernen
Musikempfinden nicht viel weniger
auf dem Gewissen als die Geschichts-
macher der Literatur unserm heutigen
literarischen Geschmack gegenüber,
wie Eduard Korrodi in der letzten
Nummer dieser Zeitschrift ausgeführt
hat — und würde dann aus dem
Vergleiche doppelt scharf die edle
Güte und phrasenlose Menschlichkeit
des Italieners erfassen.
Für mich gibt es kein Opernlust-
spiel, das mir größeres Wohlbehagen
und unbekümmertere Wonne auszu-
lösen vermöchte als gerade Falstaff.
Shakespearescher Geist und Verdi-
scher Wohllaut amalgamieren sich
hier zu einem kristallklaren Kunst-
werk. Die Aufführung war sorgfältig
und liebevoll vorbereitet; das Herren-
Solosextett war spielerisch und ge-
sanglich dem Damenquartett weit
überlegen , dank der charakteristi-
schen Darstellung des Falstaff durch
Herrn Janesch und des geschmack-
vollen Herrn Stier als Ford. Bei der
fast ungewohnt diskreten Begleitung
des zugedekten Orschesters sind die
Singstimmen außerordentlich expo-
niert, und es wäre bei den nächsten
Aufführungen sehr erfreulich, wenn
die Solisten etwas größere Sorgfalt
auf den Pianogesang legten. Stellen,
wie zum Beispiel der leicht be-
schwingte Sylphentanz , verloren
durch die vorlaute Sopranstimme
ihre ganze so diskret gehaltene
Stimmung. otto huq
TONHALLE ZÜRICH. Die Reihe
der Abonnementskonzerte eröffnete
heuer die Glucksche Ouvertüre zur
IphigenieinAulis. Ein ganz pracht-
voller Anfang, von einer edlen Mäßi-
gung der Linie und tiefer Empfindung,
eine wunderbare Verbindung griechi-
schen Formgefühls mit persönlichem
Geschmack. Hellas' blauer Himmel
über dem Wohllaut und der Weltferne
einer Racineschen Tragödie. Beet-
hovens Achte machte den freudigen
Beschluss und mutete mich beson-
ders neu an in der koloristischen
Ausarbeitung des letzten Satzes. Neu
war für Zürich das Konzert im alten
Stil von Regers opus 123, das ohne
viel neue Ziele zu stecken in Gren-
zen edler Form und Mäßigung bleibt
und dessen zweiter Satz jeden er-
186
THEATER UND KONZERT
griffen hat. Herr Casals spielte das
oft gehörte Haydn-Konzert und eine
Suite von Bach stilsicher und ge-
wandt, aber ohne diesmal viel mehr
zu geben als was eben die Noten
vorschrieben.
Das zweite Abonnementskonzert
hinterließ einen etwas kalten Ein-
druck. Es fehlte die piece de resis-
tance. Die Sinfonie Nr. 1 von Her-
mann Bischoff hat frische Themen
und erfreut durch ein frischfröhliches
Musizieren, doch hat sie auch ihre
Schattenseiten in der Langatmigkeit,
die bei dem Mangel an größerer Tiefe
oft zu Länge wird. Zumal bei so
rein programmatischen Vorwürfen
nur wenige hinter den eigentlichen
Inhalt des Stückes kommen, der doch
so leicht angedeutet werden könnte
im Programm oder nötigenfalls auch
in einer Vorbesprechung. Was nützt
es, wenn in einer nachfolgenden
Kritik der Schlüssel zum Verständnis
dem Publikum in die Hand gedrückt
wird, das während der Aufführung
statt vor einem Genuss vor emem
Buch mit sieben Siegeln sitzt? Herr
Dumesnil aus Paris spielte das Es-
dur-Konzert von Liszt, das man in
langen Intervallen immerwiedergerne
hört, mit Verve und glockenspiel-
artiger Klarheit. Von Solostücken
war eine großangelegte Klavierüber-
tragung eines Bachschen Orgelprä-
ludiums des Lausanners Moor be-
sonders bemerkenswert. Doch hätte
ich den bedeutenden Künstler gerne
in einem Stück gehört, wo er mehr
Wärme und Persönliches hätte geben
können, was bei der Wahl seiner
Stücke nicht möglich war. Mit der
wunderbaren Instrumentationskunst
der Tannhäuser-Ouvertüre brachte
Herr Andreae das Konzert zu klassi-
schem Beschluss.
Von Solisten-Abenden hörte ich
nur das Konzert von Herr Jelmoli
(Florenz) mit Fräulein Amstad (Lon-
don). Ein kleines Wunderwerk in
Kürze, Stimmung und Geschmack.
Die Dame hat ein sympathisches
Organ, dem die italienische Schule
zugute kommt, sodass es ein Genuss
war, diese biegsam, wohl durch ge-
bildetete Stimme zu hören. Würde
die Künstlerin so rein singen wie sie
schön singt, ich würde ihr Weltruhm
prophezeien. Hans Jelmoli war als
Pianist ausgezeichnet bei Stimmung
und wusste aus dem etwas spröden
Ibachfiügel warme Töne und diskrete
Stimmungsabstufungen hervorzubrin-
gen. Am meisten interessierten seine
neuesten Lieder, die wir hier noch
nie hörten. Sie sind wesentlich ein-
facher gedacht und empfunden als
die früheren, entsprechend den an-
spruchslosen Texten (2. T. von Lie-
nert, 2. T. italienische Kinderlieder),
und da ist es erquickend zu sehen
wie Jelmoli so frisch und natürlich
an all das herangeht, ohne die Qual
der Moderne, klar und fröhlich, plau-
dernd wie eine Kinderseele und lie-
benswürdig wie ihr Lachen.
Der Bremer Lehrergesangverein
gab in Zürich seine Visitkarte ab in
einem Konzert vom 29. September.
Eine wohldisziplinierte Sängerschar
und ein hellklingender Chorklang.
Sie woüten Zürichs Komponisten
ehren durch den Vortrag zweier He-
gar- Kompositionen, die, wenn auch
nicht restlos, doch schön und wirk-
sam zur Geltung kamen. Doch eines
vergaßen die Herren Lehrer aus
Bremen: dass außer Hegar auch ein
Attenhofer in Zürich lebt, dessen
Vale uns sehr viel besser gefällt
als das uns vorgetragene gleiche Lied
von Kann. Nicht gerade sehr zeit-
gemäß kam uns der Solist des Abends,
Herr Metz aus Bremen, in der Wahl
seiner Stücke vor, die er mit einer
von ungenügenden Mitteln zeugen-
den leeren Virtuosität vortrug.
OTTO HUG
187
a D
NEUE BÜCHER
D D
G. SPECK. Der Garten. U.R.
Sauerländer, Aarau, 1913.
Ein hübsches Novellenbuch von
einem jungen Zürcher Lehrer, der
uns schon früher mit beachtenswerten
Erzählungen erfreut hat. Es enthält
vier Novellen von ungleichem Werte.
Die erste Erzählung „Das verfehlte
Leben" führt uns in jene Gesell-
schaftskreise, in denen der echte
deutsche Unterhaltungsroman so
gerne zu spielen pflegt, zu einem
Gutsbesitzer. Der Held, ein äußerst
gewiegter Romanschriftsteller, findet
auf dem Herrengute seines vormali-
gen Jugendfreundes und nunmehrigen
Kraut- und Fabrikjunkers seine ver-
flossene Jugendliebste wieder. Sie
will sich ihm gleich an den Hals hän-
gen, denn sie hat mittlerweile seine
Romane gelesen. Er jedoch pfeift
so ziemlich auf die recht deutlichen
Winke dieser schönen Frau Potiphar,
ja, er weist sie gar schnöde und
widernatürlich zurück. Frau Mergen-
holz, die ein gar zu versiegeltes Herz
hat, denn wir vernehmen so viel wie
nichts von dem, was darin vorgeht,
wird nun von Verzweiflung erfasst.
Sie macht in ihrem Zimmer einen
Kohlendampf. Aber in der Nacht
kehrt ihr nichts ahnender Mann,
dessen Geschäftsfaktotum übrigens
dieser Literat geworden ist, in die
kohlenschwangere Kammer heim, und
am Morgen ist er statt ihrer tot.
Jetzt wäre die Geschichte für die
Hochzeit reif; der geschäftsführende
Schriftsteller könnte sich ins Volle
hineinsetzen. Aber nun will er wieder
nicht; er scheint nur noch kalt rau-
chen zu können. Zur ungeschickte-
sten Zeit (denn das hätte er lange
vorher tun sollen) verlässt er die
angeblich so begehrenswerte Frau,
die ihm sogar das Leben mehr als
einmal hinzugeben bereit war. — Diese
Novelle ist mir doch zu gemacht, sie
will mir nicht recht gefallen. Der
geschäftssichere, aber osterochsige
Gutsherr ist ja ganz richtig gezeich-
net, aber er ist eine Figur, die wir
in allen mehr oder weniger „Garten-
lauben" als ständigen Nischenfaun
vorfinden. Der schöngeistige Heros,
Namens Gabriel, ist doch mehr nur
Gedankenstrich als Gedankenstrick,
was man ihm eher nachsehen könnte.
Und die Dame, die da ein Sphinx-
chen vortäuscht, ist einfach ein Nebel-
streif. Kurzum, der junge Dichter
kennt jene Welt, in der er seine
Figuren spielen lässt, nur aus einer
gesunden Entfernung.
Die zweite Novelle, die dem Buch
den Titel gab, „Der Garten", führt
uns in eine Gegend, in der G. Speck
schon eher heimisch ist. Das liebe
Schätzchen, das in dieser Geschichte
vorkommt, steht denn auch, obwohl
es mit weniger Aufwand dargestellt
wird, sauber und lebendig vor uns.
Das Geschehen ist einfach, aber doch
nicht unbedenklich, trotzdem der
Dichter sich am Eingang der Ge-
schichte den Einwurf des Deus
ex machina vom Leibe halten möchte.
Man hat das Gefühl, dass hier eine
hübsche kleine Anekdote mit Wärme
und Geschick zu einer Novelle ver-
längert worden sei. Also: Beim Dorf
ein verlassenes Kloster mit verwun-
schenem Klostergarten, das heimliche
Jugendparadies eines jungen Lehrers.
Dort findet er bei seiner Heimkunft
das herzige Lenchen, des Dorfwirts
Töchterlein, das aber kein zu dorni-
ges Röschen ist. Wonnige Stelldich-
ein. Die zwei Nebenbuhler. Dar-
nach gemeinsames Antreten der drei
Freier beim Alten. Der gelüstige
Dorfwirt will seinen Rubin nur dem-
jenigen geben, der ihm fünfzig Fla-
schen Rheinwein, ganz alte Marke,
zu bringen vermag. Verzweiflung der
Liebenden, in dieser Not stellt sich
188
NEUE BUCHER
heraus, dass der junge Lehrer eigent-
lich nur Adoptivsohn und in Wahr-
heit aber der Sohn eines verschol-
lenen Adeligen ist, dem das alte
Klostergemäuer von rechtswegen ge-
hören würde. Aber der Staat wird
es demnächst veräußern, wenn der
wirkliche Eigentümer seine Ansprüche
nicht geltend macht. Trübselig
schleicht sich der unglücklich liebende
Lehrer eines Tages wieder ins Klo-
ster, wo er bis hinunter in den Keller
gerät. Dort entdeckt er, im Sand
vergraben, fünfundneunzig Flaschen
Schloss Johannisberger. Natürlich
muss jetzt der alte Weinblumen-
riecher von einem Wirt dem glück-
lichen Finder sein blauäugiges Len-
chen überlassen. Im letzten Augen-
blick erscheint gar noch der ver-
schollene adelige Vater.
Die dritte Novelle, „Die kleine
Stadt", ist das Alltagserlebnis eines
Geschäftsreisenden. Eine üppige
Ladenfrau spielt die Hauptrolle. G.
Speck macht aus der kleinen Atfaire
ein nettes Kleinstadt-Idyll, das man
mit Vergnügen liest.
Die beste der Novellen aber ist
die vierte und letzte, mit dem Namen
„Ruth", der gegenwärtig bei den
Obern Zehntausenden sehr beliebt
zu sein scheint. Es ist auch ein
schöner Name. Wie in der wunder-
hübschen biblischen Erzählung, geht
auch die Ruth unseres jungen Dich-
ters aufs Ährenlesen aus. Aber es
ist ein liebes Schweizermägdlein,
das auf dem Acker des Herrenberg-
müllers Ährenlese hält. Doch möchte
ich von dieser Novelle nicht zu viel
verraten. Man soll sie selber lesen,
sie verdient es. Wenn gegen den
Schluss hin auch gar alles wie am
Schnürchen verläuft, so vermag das
meine gute Meinung an der wohl-
geratenen Erzählung nicht zu ändern.
Hier ist der Dichter vollkommen zu
Hause; da gibt er's „wie's Gott und
d'Räbe gänd", und Erfindung und
Gestaltung der Novelle sind durchaus
erfreulich. Eine wahrhaft vortreffliche
Erzählung in jeder Hinsicht, denn
Ruth ist die Geschichte eines tapfern
Mädchens. Besonders reizvoll sind
die Jugenderlebnisse der kleinen
scheuen und doch so ernsthaften
Ruth berichtet. Über allem liegt der
feine Duft jenes Gärtleins, das in
dieser Geschichte so meisterlich ge-
schildert wird. Eine prächtige Novelle.
Ihretwegen möchten wir das Buch
vorab und wärmstens empfehlen,
obwohl es „nur" in einem schwei-
zerischen Verlag erscheint. Man kann
aber auch an den andern Novellen
manches Vergnügen empfinden. Die
Erzählung schleppt nirgends ; man
kommt immer munter vom Fleck.
Überhaupt : erzählen kann G.Speck.
Auch erfreut uns immer wieder ein
gutes Bild, ein trefflicher Vergleich.
Ich darf vielleicht einiges anführen.
„Hinter den grünen sanften Wellen
weiter Fruchtfelder tauchte traumhaft
eine Hecke auf, die schweigend irgend-
wo hinging." — „Dann kam eine
lange öde weiße Wand mit wenigen
kleinen Fenstern. Manchmal sprang
ein Winkel ein, der sich vor der
Sonne veibarg und so mit kleinen
hohen Fenstern, schweigsam, wunder-
lich und bis an das rote Dach hinauf,
an dem die heitere Sonne hing,
mit namenlosen Geschichten gefüllt
schien." — „Ein alter Star, der ganz
im Wipfel saß, pfiff wie ein Laus-
bub." — „Gabriel stürzte sich in die
Arbeit wie in ein reinigendes Bad."—
„In den Pausen sichelten immer noch
die Blitze wie fahlglänzende Klingen
in die dicke schwarze Luft hinein." —
„Einer schlich gebückt voraus, immer-
fort die Hände reibend und mit einem
Lächeln, bei dem Gabriel unwillkür-
lich an Schmierseife dachte."— „Hier
189
NEUE BUCHER
und da fiel schon ein Blatt, das laut
und schreiend am Wege lag, bis ein
Windstoß kam, der gleich eine ganze
Wolke neuer Blätter dazutrieb. Es
war etwas Elendes in den Bäumen,
denen die Blätter ausgingen wie alten
Leuten die Haare." — „Die Sinne
sangen und klangen mit. Man hob
die Nase in die Luft und schnupperte,
und das Herz benahm sich wie ein
Trunkenbold." — „Er hielt ein, und
das rosige Mädchen ließ ein Seufzer-
lein los, wie ein Lichtlein zart, erfüllt
von Winterglauben und Erwartung."
MEINRAD LIENERT
ERNST FREY. Güggs. Eine Ge-
schichte. Im Verl. v. B. Carlson, Lo-
carno, 1912. Br. Fr. 3.50, geb. Fr. 4.50.
Mit diesem Büchlein ist es mir
ganz eigen ergangen. Erst las ich
zwei Seiten. Dann warf ich's fort.
Dann nahm ich's wieder vor, weil
ich neugierig war, ob der Verfasser
eine Satire schreiben wollte. Dann
sah ich, dass es ihm bitter ernst
war, warf es wieder fort, weil ich
mich auf jeder Seite über die Un-
beholfenheit und Unzünftigkeit des
Autors ärgerte. Ohne jedes Können
tat sich da einer als Schriftsteller
auf. Aber dann musste ich es doch
wieder aus der Ecke hervorholen
und las mich hinein mit Widerstreben
und doch gefesselt, und las es durch
bis auf die letzte Zeile und hatte an
vielem meine helle Freude dran.
Man darf das Buch kaum mit gutem
Gewissen empfehlen, und doch weiß
man, dass jeder, dem es in die Hand
kommt und der sich von Äußerlich-
keiten nicht abschrecken lässt, seine
Freude dran haben wird. Und ist
das nicht schließlich die Hauptsache?
Und hat es nicht auch seinen Reiz,
in all den wohlgepflegten, sorgfältig
beschatteten Edelobstbäumen einmal
einen saftigen Holzapfelbaum zu
finden? bloesch
ROBERT FAESl. Gerhart Haupt-
manns Emanuel Quint. Verlag von
Schulthess & Cie., Zürich.
Den Emanuel Quint behandelte
Robert Faesi mit liebevoller Ver-
tiefung in seiner Züricher Antritts-
vorlesung. Es ist eine feinsinnige
Studie, nicht bloß eine Analyse des
Romans. Faesi sucht aus diesem
ersten Hauptmannschen Roman das
Wesen des ganzen Dichters zu er-
klären, den er hier auf der Höhe
seines Schaffens erblickt, und dessen
passiv weibliches Mitleidempfinden
hier am reinsten zum Ausdruck
kommt. Die kleine Schrift Faesis
wird allen Freunden Hauptmanns,
allen, die den Roman mit aufmerk-
samem Genuss gelesen haben, eine
willkommene Gabe sein, bloesch
KONRAD FALKE. Wengen. Ein
Landschaftsbild mit 16 Kunsttafeln.
1913. Rascher & Co. Zürich.
Konrad Falke hat seinerzeit ein
Prachtwerk über die Jungfrau er-
scheinen lassen, in dem sich der
Freund des Hochgebirges mit dem
Dichter in vorteilhafteste Weise ver-
band. Alles war durch das Tempe-
rament des Künstlers geschaut und
mit der plastischen Anschaulichkeit
eines Dichters geschildert. Die sel-
ben Vorzüge eignen auch diesem
kleinen Büchlein, das in gewissem
Sinne eine Ergänzung zum Jung-
fraubuche bildet und sich gleich von
dem ferne hält, was im allge-
meinen unter der Flut der Führer-
literatur erscheint. Falke nennt es
ein Landschaftsbild und deutet mit
dem Titel schon an, dass es ihm
mehr um eine innere Beseelung als
um eine Beschreibung der Gegend zu
tun ist. Er will den praktischen
Reiseführer nicht entbehrlich machen ;
dafür gibt er aber auch ein Buch,
das nicht mit dem nächsten Jahr
schon veraltet ist. bloesch
190
a
a
□
BILDENDE KUNST
D
D
D
D
Im ZÜRCHER KUNSTHAUS sind
neben den im letzten Heft bespro-
chenen Bildern zahlreiche Plastiken
von Paul Osswald zu sehen, in der
Hauptsache Arbeiten, die zum
Schmuck der neuen Zürcher Uni-
versität bestimmt sind. Die Form ist
aus dem Primitiven heraufgeholt,
von großer Reinheit und Klarheit,
die alles Pathetische meidet und nur
auf das Innerliche ausgeht. Der Geist
der ältesten griechischen Skulptur
und der Frührenaissance zeigt sich
überall im Schaffen Osswalds: ein
zartes Empfinden, dass immer davor
auf der Hut ist, mit zur Schau ge-
tragenem Können dem Beschauer
aufdringlich zu werden. Bisweilen
sprengt allerdings Osswald die archi-
tektonische Fessel, deren Last ge-
rade seine Kunst willig tragen sollte.
Wenn er zum Beispiel zwei vergol-
dete nackte Figuren halb sitzend an
ein Brunnenbecken lehnt und auf
den gleichen Boden stellt, auf den
lebende Menschen treten, so geht
die Kunst dabei entschieden ihrer
Würde verlustig. Eigenartig in ihrem
Stil, streng im Ausdruck bei aller
Innern Belebtheit ist der schön aus
dem Marmor gearbeitete Kopf der
Frau des Künstlers, die im Katalog
als seine Mitarbeiterin genannt ist.
Im KUNSTSALON WOLFSBERG
sind gegenwärtig landschaftliche und
figürliche Kompositionen von Emile
Cardinaux ausgestellt, lauter frische
Bilder von großer Leuchtkraft, die
ihn auf dem Weg zu einem per-
sönlicheren Stile zeigen als seine
früheren Werke. Daneben eine statt-
h'che Sammlung Graphik deutscher,
französischer und englischer Meister,
lauter auserwählte und seltene
Stücke, wie sie sich vorzüglich zum
Schmuck des bürgerlichen Hauses
eignen.
*
Im KUNSTSALON NEUPPERT
an der Bahnhofstraße zeigt Augusto
Giacometti eine stattliche Anzahl von
Werken; neu für Zürich sind einige
lebensvolle Bildnisse, einige bunte
Tropenvögel von freudiger und über-
aus harmonischer farbiger Erschei-
nung und zwei starke Kompositionen
in weiß, schwarz und gold, die den
Namen Dado di Paradiso führen.
Besonders überraschen einige Zeich-
nungen des Künstlers, die beweisen,
dass seine fabelhafte Geschicklich-
keit sich mit dem Stift nicht weniger
als mit dem Pinsel ausdrückt, eine
Geschicklichkeit, die glücklicherweise
durch ein starkes Stilgefühl vor Ex-
zessen bewahrt bleibt. a. b.
a D
D D
Im Anfang des ersten Bandes von
Bächtolds Gottfried Keller-Biographie
sind Stücke von Literarischen Briefen
aus der Schweiz abgedruckt, die im
Jahr 1847 zuerst in den Blättern für
literarische Unterhaltung, einer Zeit-
schrift des Verlags Brockhaus, er-
schienen. Die Stücke verraten aber
eine merkwürdige Reife des Urteils
für den damals 28-jährigen Dichter,
daneben zu wenig persönliche Ge-
staltung, als dass seine Autorschaft
TAGEBUCH
n a
D D
wahrscheinlich wäre. Nun weist Emil
Ermatinger im Literarischen Echo
vom L Nov. unwidersprechbar nach,
dass nicht Keller, sondern Wilhelm
Schulz ihr Verfasser ist. a. b.
EIN GENFER DICHTER. Im Mai
letzten Jahres wurde Edouard Tavan
siebzig Jahre alt. Durch zwei Lyrik-
bände Les Fleurs de Reve und La
Coupe d'Onyx hat er seinen Dichter-
ruf festgelegt. Das zweitgenannte
191
TAGEBUCH
C3 C3
vor allem, 1903 bei Payot erschienen,
ist auch in der deutschen Schweiz
da und dort Freunden der Poesie
lieb geworden. Ein feiner, edler,
dem profanum vulgus gründlich ab-
holder Mensch steht hinter diesen
Versen; und ein Künstler, dem es
mit der Form stets heiliger Ernst war.
Er sagt darüber in dem großen Ge-
dicht Le sentier du poete, der Arts
poetica Tavans, schöne Wahrheiten;
wozu auch die Forderung gehört,
dass man dem klaren, durchsichtigen,
fest dem Gedanken sich anschmie-
genden Stil die Mühe der Arbeit nicht
anmerken dürfe — par un labeur qu'il
faut inapergu. Im zitierten Gedicht
bringt Tavan in verehrender Dank-
barkeit einigen damals noch frischen
Poetengräbern seine trauernde Hul-
digung dar: denen Leconte de Lisles,
Paul Verlaines, des Belgiers George
Rodenbach. Von Verlaine heißt es
an dieser Stelle: Auch ihm leihe dein
Ohr, aber halt' dich nicht auf — mal-
gre tout l'imprevu de leur charme
inegal. Tavan hat immerhin — und
wahrlich mit Recht — genugsam der
musikalischen Lyrik Verlaines ge-
lauscht, um in einzelnen Gedichten
den direkten Zusammenhang mit ihr
zu offenbaren. Oder wie anders sollte
man etwa ein Gedicht wie Automne
erklären, dessen Schlusstrophen lau-
ten: „Au vent monotome — de mon
pale automne — je vois tristement, —
de brume envahie^ — dans l'isolement
— s'effeuiller ma vie." Im übrigen
rät Tavan : Vergebens würde ich dir
das Wesen der Schönheit auszu-
drücken suchen: Relis Hugo, Musset,
Lamartine, Et Vigny et tu La con-
naitras.
Das Sonett handhabt Tavan mei-
sterlich, die ganze zweite Le cycle
de l'eau betitelte Abteilung der Lyrica
in der Coupe d'Onyx besteht aus
Sonetten. Ein Gedicht „Die Schwäne"
ist da, voll von dem süßen, weichen
Reiz und Schimmer des Lac Leman.
Wunderschön, im ersten Teil der ge-
nannten Sammlung, unter den Herbst-
gedichten „Der Lotussee"; ein mäch-
tiger bronzener Buddha beherrscht
den blauen See im Wald; was er
wohl auf dem Grund der durchsich-
tigen Flut sinnend betrachtet? Der
Dichter antwortet : Das Lächeln einer
reinen Frau, die im nächtlichen Frie-
den ihres Zimmers ruht. Es ist das
vertrauensvolle Lächeln seiner Gattin,
die er, Sakyamunich, einst, ohne Ab-
schied zu nehmen, verlassen hat, um
seiner heiligen Mission zu folgen,
ohne Rücksicht auf alle irdische Liebe.
Dieses Bild der süßen Frau taucht
immer wieder auf aus den Fluten —
sous le reflet miraculeux des rouges
nelumbos et des nympheas bleus.
Warum wir just heute Tavans ge-
denken und den Freunden französi-
scher Lyrik diesen Dichter ins Ge-
dächtnis rufen? Erst jüngst haben
die literarischen Kreise Genfs eine
nachträgliche Feier des siebzigsten
Geburtstages des Poeten veranstaltet,
haben ihm eine von Karl Angst ge-
schaffene Münze überreicht, haben
ihm in Prosa und Versen geistvoll
und herzlich ihren Dank, ihre Ver-
ehrung bezeugt. Mit edlem Anstand
ging diese Dichterehrung vor sich.
Von ihr Notiz zu nehmen in dieser
Zeitschrift, die dem deutschen wie
dem romanischen Geiste in unserm
Lande dient, schien uns Pflicht.
H. TROG
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
192
Aus Jean-Jaques Boissard's Bildniswerk.
Frankfurt 1597.
I
i
QUALITÄTSARBEIT
UND ARBEITSLUST
EIN BEITRAG ZUR BERUFSWAHL
Bei den Erörterungen über Qualitätsarbeit und Arbeitslust,
zwischen denen eine unverkennbare Wechselwirkung besteht, hoffe
ich keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, dass ich die
Hauptbetonung auf die Arbeitslust lege. Denn dass der Mensch
seine tägliche Arbeit mit Lust und Freude verrichte und nicht als
eine jeden Morgen neu aufsteigende Sorge betrachte, scheint mir
eine Grundbedingung menschlicher Wohlfahrt und Glückseligkeit
zu sein.
*
Zur Erzielung von Qualitätsarbeit ist die planmäßige Erler-
nung eines Berufes, beziehentlich die Heranbildung von Qualitäts-
arbeitern unumgänglich. Es darf dabei jedoch nicht vergessen
werden, dass die Berufstüchtigkeit im besten Sinn niemals durch
bloße Aneignung und fleißige Übung der verschiedenen Hand-
griffe erreicht werden kann, sondern dass sie letzten Endes in
den Besonderheiten geistiger und körperlicher Anlagen wurzelt.
Auf die Eignung zum Berufe gründet sich berufliche Tüch-
tigkeit. Wer diese erreichen will, hat vorab nach der ersten zu
fragen, und zwar wenn immer möglich in jenem wichtigen Zeit-
punkt, wo sich der angehende Mann (oder die in das Erwerbs-
leben tretende Frau) zu entschließen hat, ob er Wissenschafter,
Künstler, Kaufmann, Handwerker, gelernter, angelernter oder un-
gelernter Arbeiter und Taglöhner werden will, kurz bei der Be-
rufswahl.
Heute entscheidet bei der Berufswahl nur zu oft Nach-
ahmung, passende Gelegenheit, Bequemlichkeit, Zufall, Laune oder
Hang zu raschem Gelderwerb. Die spezifischen Fähigkeiten
spielen eine oft sehr untergeordnete Rolle, sei es, dass sie dem
Inhaber selbst gar nicht bekannt sind, sei es, dass er oder die,
welche über ihn zu bestimmen haben, sie im entscheidenden
Augenblick zu wenig mitreden lassen. Der Missgriff wird dann
häufig spät, meistens zu spät wahrgenommen — wenn er über-
haupt je eingesehen wird.
193
Auf die Dauer stets sich erneuernde Freude an der Arbeit
hat nur der, welcher in sich besondere Befähigung für seine Auf-
gabe verspürt, dem es eine Lust ist zu zeigen, was alles er auf
seinem Gebiete zu leisten vermag. Dann geht er mit vergnügtem
Sinn an sein Tagewerk und kann es mit Befriedigung und inne-
rer Gehobenheit verlassen. Ihm wird die Arbeit zur Lust, nicht
zur Last, und darum ist das Geschaffene gute Arbeit in jeder
Richtung. Und aus seiner hohen Leistung oder, wenn man sie
so nennen will, aus seiner qualifizierten Arbeit zieht der Arbei-
tende mehr anhaltende Heiterkeit als selbst aus Spiel und Ge-
nuss. Dazu kommt dann die höhere Belohnung und Bedürfnis-
befriedigung. Man darf wohl, entgegen der von Marie Bernays
angenommenen Antinomie, von Arbeitsfreude und Erfolg im all-
gemeinen den Kettenschluss ziehen: bei einer den Fähigkeiten
angepassten Beschäftigung mehr Lust zur Arbeit; mehr Lust
mehr Leistung, mehr Leistung mehr Lohn, mehr Lohn mehr
Befriedigung.
Umgekehrt empfindet jeder, der den Beruf verfehlt hat, das
heißt durch Zufälligkeiten auf ein Arbeitsfeld gelockt wurde, welches
seinen Neigungen keine Nahrung, seinen Fähigkeiten keine Ge-
legenheit zu voller Entfaltung gibt, die Arbeit als Zwang und
als ein Übel, das man so früh als möglich beendigt und dem
man nach Möglichkeit aus dem Wege geht. Wohl findet er zu-
weilen durch rechtzeitigen Berufswechsel oder durch Tausch der
Maschine innerhalb des Fabrikbetriebes den rechten Platz; meist
aber bleibt er im falschen Fahrwasser, kommt nie auf grünes Land
und vermehrt die Schar der Erfolglosen und der durch Enttäu-
schungen Entmutigten und Verärgerten. Ohne Zweifel rührt manch
soziales Elend daher, dass Viele im Erwerbsleben nicht an einer
ihren Anlagen und Eignungen entsprechenden Stelle stehen. Und
mit seinen Leistungen, die halbwertig sind, weil weder Lust noch
Freude hineingearbeitet sind, verkürzt der Arbeiter nicht nur sich
und seinen Auftraggeber, sondern vor allem die Allgemeinheit, der
er als wirtschaftlicher Faktor vorenthält, was er im Grunde zu
leisten imstande wäre. Es ist deshalb die Forderung: „der rechte
Mann auf den rechten Platz" ein Satz volkswirtschaftlicher Öko-
nomie.
194
Die persönlichen Nachteile der verfehlten Berufswahl wer-
den also Nachteile für die Volkswirtschaft. Arbeitskräfte werden
in Massen verschleudert; es wird nicht überall und in jedem Fall
Qualitätsarbeit geleistet, weil nicht durchwegs die bestangepassten
Individuen für die verschiedenen Verrichtungen gewonnen sind.
Es erscheint als unzweifelhaft und unbestritten, dass die
Volkswirtschaft oder Volksarbeit wegen Vernachlässigung des
Problems der richtigen Berufswahl Schaden an Arbeitsfreude, Ar-
beitsgüte und Produktionsmenge erleidet. Wo sich der Staat des-
sen im ganzen Umfang bewusst wird, muss es ihm zur Pflicht
werden, neue Wege zu suchen und vor allem die Bedingungen
zu schaffen, die gestatten, den werdenden Berufsmenschen auf
seine Fähigkeiten zu prüfen. Damit steigert er nicht bloss die
individuelle Erfolgschance, sondern setzt sich durch eine getrof-
fene Auslese selbst instand, das unter den gegebenen Verhält-
nissen denkbar beste auf dem Weltmarkt zu leisten.
Möglicherweise zielt der Pariser Arbeitsminister mit der im
Jahr 1911 — 1912 durchgeführten Enquete über „die Weiterbildung
und Berufswahl der austretenden Primarschüler" außer auf eine
vorläufige Orientierung über die Materie noch auf spätere aktive
Mitwirkung bei der Berufswahl ab. Bestimmtere Absichten in die-
ser Richtung zeigt der Wiener Fortbildungsschulrat, der jüngst
einer „Lehrlingsfürsorgekommission" unter anderm die Aufgabe
Überbunden hat, die „Eltern bei der Berufswahl ihrer schulmün-
digen Kinder zu unterstützen und die Eignung der sich für eine
Lehre Meldenden festzustellen." Welcher Methode sie sich bedie-
nen soll, wurde leider nicht gesagt. Anderseits bestehen heute
Leitsätze des von dem Reichsverband der allgemeinen Arbeits-
vermittlungsanstalten Österreichs eingesetzten Komitees; die darin
ausgesprochenen Ideen gehen der Sache meines Erachtens nicht
genügend auf den Grund, um hier mit Nutzen behandelt zu
werden.
Es ist auch für uns in der Schweiz eine überaus bedeutsame
Aufgabe, so viel als möglich zu verhüten, dass die Berufswahl
weiterhin den ungeheuerlichsten Zufälligkeiten anheimgegeben bleibe.
Neigung und erwiesene Fähigkeiten sollten ausschlaggebend
werden. Da aber der Mensch seine seelischen Funktionen, auf
die es neben der körperlichen Entwicklung ankommt, wenig kennt
195
und an Selbstbeobachtung in seltenen Fällen gewöhnt ist, muss
an deren Stelle das Experiment des Laboratoriums treten. Wenn
man doch für alles denkbare, für das Rohmaterial, für Stoffe,
Werkzeuge und Fabrikate, Prüfungsanstalten unterhält, weshalb
nicht für die körperlichen und hauptsächlich seelischen Eigen-
heiten des Menschen, dessen Arbeitskraft im Haushalt der Na-
tion immer noch die wichtigste schaffende Kraft ist und bleiben
wird ?
Wir denken an nichts geringeres als an die Errichtung einer
psychotechnischen Untersuchungsanstalt, die sich, angegliedert
beispielsweise an die Eidgenössische Technische Hochschule, aus
bescheidenen Anfängen zu einem Institut für Berufsberatung
entwickeln könnte. Hier ließen sich der Schule entwachsene
junge Leute und allenfalls solche, die im Beruf sich vergriffen
und den Drang zur Umkehr haben, auf ihre geistigen und see-
lischen Eigenschaften im weitesten Sinn des Wortes (Gefühl und
Willen, Sinnesempfindung, Reaktions- und Denkvermögen, Sugge-
stibilität und Phantasie, Gedächtnis, Zeit- und Raumsinn usw.)
und auf die Verwertbarkeit dieser selbst für das eine oder andere
Fach experimentell untersuchen. Eigene Neigung, Erfahrung der
Eltern und Beobachtung der Lehrer würden zu den Ratschlägen
der Wissenschaft ergänzend hinzutreten, um die Wahl einer pas-
senden Beschäftigung zu erleichtern.
Eines darf heute schon als feststehend betrachtet werden:
dass nämlich auf diese Weise junge Leute vor gänzlich ungeeig-
neter und daher erfolgloser Beschäftigung abgehalten und über-
dies in vielen, um nicht zu sagen den meisten Fällen auf eine
ersprießliche Betätigung verwiesen werden könnten.
Ein ähnlicher Gedanke tauchte bereits in Amerika auf. Wenn
er hier in eigener Weise geäußert wird, soll er immerhin zu-
nächst nur eine Anregung sein. Zur Entwicklung und Ausführung
des Gedankens bedarf es noch mancher Studien und Vorarbei-
ten, des Interesses des Staates und einflussreicher Gönner, end-
lich des Vertrauens in die angewandte Psychologie und des guten
Willens aller Mitarbeiter.
ZÜRICH ARTHUR STEINMANN
OD D
196
LA LfiGION fiTRANGßRE
ET L'ALLEMAGNE
(Suite et fin)
II y a eu encore l'affaire Troemel. Troemel, bourgmestre
d'Usedom, engage ä la Legion, au mois d'avril dernier, aurait
ete une victime des „racoleurs". Troemel, ä qui ses amis d'Alle-
magne avaient ecrit, s'est contente de repondre:
„Entre dans la Legion etrangere ä SaVda, je dedare qu'il me
plait ici tres bien, et pour cela je ne veux pas retourner ä l'Alle-
magne. Je veux tout volontairement rester ä la Legion. Signe:
Troemel, alias Tanze, numero matricule 13 017"
Plus tard, il repeta ä M. Gross, redacteur ä VEcho d'Oran:
„Quoi qu'il advienne, je ne retournerai pas ä l'Allemagne {sie).
Si on me libere, j'irai vivre en France, oü je veux me faire na-
tu raliser^)" .
II y a eu l'affaire Max Simon. Le 17aoüt dernier, les jour-
naux allemands publiaient la lettre navrante que je reproduis ici:
„Chers parents, je vous demande mille pardons de ce que
j'ai fait. A quatre reprises differentes j'ai essaye de m'evader de
la Legion etrangere, oü je m'etais refugie sans que vous le sa-
chiez. Demain matin ä sept heures et demie, j'aurai ferme les
yeux pour toujours, car je suis condamne ä etre fusille par mes
propres compatriotes."
Cette derniere phrase m'avait inspire une mefiance que sans
doute le lecteur trouvera legitime. Pourquoi, quand on dispose
de Beiges, de Fran^ais, de Luxembourgeois, aller choisir, pour
un peloton d'execution, les propres compatriotes du condamne?
C'est jouer la difficulte, c'est rendre possible une rebellion ou
une evasion. L'officier coupable d'une teile imprudence pourrait
compter sur un bläme severe, il garderait ä son dossier une
note qui durant toute sa carriere nuirait ä son avancement. Mon
incredulite etait legitime: une enquete etablit en quelques minu-
tes que jamais Max Simon n'a tente de s'evader, et que Ja-
mals, par consequent, il n'avait ete question de le füsilier. Inter-
^) Enquete de M. Stephanne Lauzanne: le Maiin, octobre 1913.
197
roge par le chef de bataillon Thevenet sur les mobiles qui
l'avaient pousse ä ecrire cette lettre, Max Simon, tres etonne,
repondit: „Ich habe das nicht geschrieben! "
II est permis d'ailleurs de faire remarquer que, meme deser-
teur, Max Simon, ne se trouvant pas devant i'ennemi, n'eüt pas
ete fusille. Les reglements militaires de la Legion sont les me-
mes que ceux de toute l'armee franq:aise: la desertion en temps
de paix n'est punie que de deux ä cinq ans de travaux publics^).
Et meme, si Pabsence alors a dure moins de six jours, le cou-
pable n'est passible que de quelques semaines de prison.
11 y a eu un cas, cite par les journaux allemands, oü un
legionnaire, ayant en effet deserte devant I'ennemi, ä Oudja, a
ete en effet fusille. Et il s'agissait, d'apres ces journaux, d'un
enfant de dix-sept ans et demi, enröle comme Allemand, sous
le nom de Müller, et en realite Suisse, ne ä Zürich. Cet infor-
tune, ajoutait-on, avait ete execute malgre l'ordre de gräce en-
voye par le president de la Republique. M. Stephane Lauzanne,
dans son enquete du Matin a retabli la verite: — Hans Muller
— ce n'est pas lä encore son veritable nom — n'etait pas plus
Suisse qu'Allemand. II etait Frangais, et ses parents sont domi-
cilies ä Levallois-Perret, aux environs de Paris. II avait aban-
donne son poste en presence de I'ennemi. II n'avait meme pas
songe ä signer un recours en gräce. Et la veille du jour oü il
devait subir sa peine il avait ecrit ä sa famille: „Je sais que de-
main je vais etre fusille, et c'est justice. J'ai merite mon chäti-
timent. Je vous demande pardon. Oubliez-moi." L'original de
cette lettre a ete conserve par le colonel du l^"" Etranger, copie
en a ete envoyee aux parents et au ministre de la guerre. Je la
juge d'ailleurs romaine, et j'estime que son auteur, s'il eüt vecu,
eüt ete capable de reparer sa defaillance. Mais devant I'ennemi
le salut de tous exige de terribles et necessaires rigueurs. Ce
jeune homme, avec une abnegation magnifique, ne faisait qu'ex-
primer le sentiment de tous ses camarades et nous donne ainsi
un exemple illustre, triste et farouche, de „l'esprit" de la Legion.
11 y a plus encore. Le Wesiphälisches Volks blatt rend compte
d'une Conference faite ä Cologne, au mois d'aoüt dernier, par un
1) Art. 285 du Code militaire.
198
nomme Hasselmann: „L'orateur dit qu'il a ete sept ans ä la Le-
gion etrangere et qu'il s'est retire avec le grade de sergent-major.
Pendant sept ans il n'a pas mange de viande une seule fois ä
ses repas. La nourriture a toujours consiste en pain et en riz.
Pendant sept ans, ii n'a eu que quarante-sept fois le rare privi-
lege de dormir sur une paillasse. Les auditeurs ont ecoute avec
une emotion croissante la description que l'orateur a donnee
des peines que l'on subit ä la Legion etrangere. Dans plusieurs
cas cites par le Conferencier, les soldats punis ont eu les oreilles,
le nez ou quelques doigts coupes. II est meme arrive qu'ensuite
on a enseveli le condamne dans la terre jusqu'ä mi-corps et qu'on
pla^ät au-dessus de lui une sorte de cloche faite en fil de fer.
Dans la cloche on introduisait des rats qu'on avait laisses plu-
sieurs jours Sans nourriture. Ces rats se jetaient sur le condamne,
et le devoraient vivant.".
Je n'ai pas de renseignements sur le nomme Hasselmann et
j'ignore s'il a reellement „compte" ä la Legion. Je sais seule-
ment que ces Conferenciers sont payes vingt francs par jour et
que Tun d'eux, qui faisait recemment en Allemagne la peinture
emouvante des souffrances qu'il avait subies, fut reconnu par
un de mes confreres, pour un marchand de cacaouettes (arachi-
des grillees) bien connu des etudiants du quartier latin. Tuni-
sien d'emprunt, il avait fait son Service, non pas ä la Legion
mais aux bataillons d'Afrique. Je ne conseille ä personne de dire
ä un legionnaire qu'entre les bataillons d'Afrique et la Legion
il n'y a aucune difference. On le renseignerait avec une energie
redoutable: les bataillons d'Afrique ne re^oivent que les Franqiais
ayant ete condamnes, avant l'incorporation, ä une peine afflictive
et infamante.
La verite est que de tels sevices ne peuvent s'exercer ä la
Legion. Pour une raison de legalite d'abord: j'ai dit que les pei-
nes, et l'echelle des peines, y sont reglees par le meme code mili-
taire qui est applique ä nos troupes metropolitaines. Et pour
des raisons de fait, aussi, d'une irresistible puissance. La Legion
forme un corps de 14 000 hommes, dont la moitie sont Fran^ais.
11 est invraisemblable que ces quatorze mille hommes se laissent
affamer, molester, rosser, füsilier et manger par les rats sans se
plaindre. Ou il faudrait croire, alors, que ces sevices sont reser-
199
ves aux seuls Allemands. Pourquoi? Quel interet y aurions-nous?
II est egalement invraisemblable qu'une partie de ces 14 000
hommes — et c'est le cas — s'obstinent ä rengager au bout de
cinq ans de ces incroyables supplices. C'est la question qu'on
aurait du poser au nomme Hasselmann, qui pretend avoir servi
sept ans. II est invraisemblable enfin que, traites de la sorte, ces
hommes ne tirent pas ä la premiere occasion dans le dos
des chefs qui leur fönt subir ces supplices, quitte ä passer en-
suite ensuite en corps ä l'ennemi, qui est toujours tout pres, en
armes, et serait enchante de faire des avantages majeurs ä de si
precieuses recrues.
Mais n'y aurait-il pas des „brimades" imposees par les an-
ciens soldats ou les sous-officiers aux nouveaux venus? C'est le
cas assez frequemment, on le sait, dans l'armee allemande. A la
Legion, cela peut se produire, cela c'est produit. L'auteur ano-
nyme de la Revue Blanche cite un sous-officier qui s'etait fait
detester par ses brutalites. Mais, ajoute-t-il, c'etait un Allemand,
et il les reservait aux Fran^ais, qu'il ne pouvait souffrir. L'ano-
nyme ne s'en indigne pas, d'ailleurs. II Signale le fait comme
une preuve de la mentalite speciale aux Legionnaires, qui assez
souvent restent tres fiers de leur pays d'origine. C'est un motif
d'emulation: chacun veut prouver que sa race est plus capable
„d'etaler" que les autres. Un legionnaire beige plantant le drapeau
du regiment sur Lang-Son conquise, jeta ce cri caracteristique:
„Vive la Belgique! Vive la Legion!" Nulle mention de la France
et c'etait son droit. II y avait sur le drapeau: „Honneur et Dis-
cipline". Non pas: „Honneur et Patrie".
Cette discipline n'a rien de commun avec celle des casernes
de France et surtout d'Allemagne. Elle est celle d'une troupe
en temps de guerre : rigoureuse pour l'entretien des armes, pour
l'obeissance aux ordres donnes et pour leur intelligence; rigou-
reuse aussi contre le vol, et il le faut bien, car le legionnaire est
volontiers chapardeur. Mais ces fautes sont toujours punies de
prison, elles n'ont jamais pour sanction des voies de fait. Et la
jeune recrue est mieux protegee qu'en AUemagne contre les abus
de pouvoir des anciens. L'anonyme de la Revue Blanche note
qu'un jour un vieux soldat ayant, sous ses yeux, voulu prendre
son lit ä un jeune engage allemand, ses camarades protesterent
200
et que „!e butor fut puni". Beaucoup d'Allemands deserteurs se
felicitent d'une difference de traitement toute ä l'avantage de la
Legion. Ils s'etonnent de plus, comme l'ecrivain de la Revue
Blanche, de Tamenite, du manque de morgue des officiers. Les
legionnaires sont dispenses de saluer ceux-ci dans la rue. Ceci
du reste ne provient pas d'un philosophique souci d'egalite. II
ne m'en coüte nullement de reveler que, beaucoup de legionnaires
ayant pour les boissons spiritueuses un penchant excessif, 11 se-
rait imprudent d'exiger d'eux des manifestations de deference
auxquelles peut vouloir se refuser leur Imagination devenue fan-
taisiste. Mais le legionnaire est „propre" et s'en vante, se plai-
sant ä se comparer en cela avec les „marsouins" de l'infanterie
coloniale. II est toujours douche, lave, bien tenu dans ses
vetements, et confortablement nourri : „Sensation exquise des
ablutions reglementaires et d'une gamelle abondante et succulente
assez", ecrit l'anonyme de la Rerae Blanche, en un style qui se
ressent des affectations veriainiennes. Frequemment il revient sur
cette question de la gamelle: la viande parait aux repas deux
fois par jour: boeuf le matin, rata, c'est-ä-dire ragoüt de mou-
ton et de legumes, le soir, vin et cafe. Ce qui charme aussi le
legionnaire, ce qui bien souvent le pousse ä rengager, c'est le bon
marche incroyable de toutes choses ä Bel-Abbes et Saida: le
paquet de cigarettes ä quinze Centimes, l'absinthe et les autres
boissons alcooliques, ä dix Centimes, le reste — tout le reste, je
n'insiste pas — ä l'avenant.
En campagne, vie tres dure, tres perilleuse, mais glorieuse,
avec une solde alors elevee, et les campagnes sont frequentes;
existence assez confortable avec la possibilite d'assez grossiers
mais faciles plaisirs, en garnison; voilä ce qui explique l'attrait
de la Legion pour une certaine categorie d'hommes, qui se ren-
contrent dans toutes les parties du monde. Et il n'est pas besoin
pour le gouvernement iranqms de recourir, pour les appeler, ä
des racoleurs stipendies. C'est l'ancien legionnaire lui-meme qui
devient benevolement recruteur, une fois rentre dans sa patrie
d'origine. Comme les „grognards" de l'armee napoleonienne, il
vante ses exploits, il conte les frairies geantes par lesquelles il
s'est paye de la fatigue et du peril ; tout souvenir de jeunesse
parait ä l'homme un souvenir heureux; et un orgueil legitime le
201
pousse ä exagerer les joies de l'effort, ä dissimuler les moments
de rancoeur et de souffrance. II a survecu, il a vaincu, et il est
lä! Les jeunes gens l'ecoutent et Tadmirent, quelques-uns vont
l'imiter sans meme attendre d'avoir satisfait aux lois militaires
de leur patrie; d'autres apres avoir subi, dans leur armee na-
tionale, des injures et des traitements qu'ils ne peuvent suppor-
ter. Ce ne sera pas pire, en tous cas, songent-ils, ä la Legion,
on leur a meme dit que ce ne serait pas la meme chose; et du
moins on saura pourquoi on porte un fusil: pour s'en servir.
L'Etat fran^ais n'entretient pas de recruteurs ä l'etranger.
Les associations qui se sont fondees en Allemagne pour lutter
contre les engagements ä la Legion ont vainement essaye d'en
decouvrir un seul. Elles n'y sont point parvenues. Mais il ne
faut pas dissimuler que les commissaires de police speciaux, ä
la frontiere, interrogent les deserteurs, quand ceux-ci se presen-
tent ä eux, ou quand ils sont reconnus pour tels, c'est-ä-dire
en uniforme: „Avez-vous des moyens d'existence . . . une pro-
fession, un metier?" Si la reponse est negative, dans l'interet
meme de ces deserteurs, dans l'interet aussi de la communaute,
qui ne peut s'encombrer de „sans-travail" susceptibles de deve-
nir dangereux, le commissaire special leur fait connaitre l'exis-
tence de la Legion etrangere: et un tiers de ceux qui s'adressent
alors aux bureaux de recrutement sont encore refuses ä la suite
de l'examen medical. Teile est la verite exacte. M. Charles Poi-
miro a dit avec raison ä ce sujet: „Pourquoi empecher ces jeu-
nes gens (simples immigrants ou deserteurs) d'accepter la main
secourable que leur tend l'Etat Frangais, et de s'assurer, outre
le pain quotidien, une Situation qui ira de jour en jour en s'ame-
liorant? L'institution de la Legion etrangere, ä cöte de son uti-
lite militaire, a son utilite sociale, qui grandit chaque annee avec
le flot des immigrants." Rien de plus vrai, et Ton peut ajouter
que ce n'est pas seulement des pensions qui leur sont versees ä
titre militaire que beneficient les anciens soldats de la Legion:
de grandes administrations parisiennes, telles que la compagnie
des Omnibus, leur reservent une partie de leurs places de con-
ducteurs ou de mecaniciens. Reste, il faut le reconnaitre, un de-
chet assez considerable forme des epaves recueillies par la Legion,
de debiles mentaux, excellents tant que la discipline leur donnait,
202
si je puis dire, l'epine dorsale morale qui leur manquait, mais
incapables de tout effort une fois qu'ils sont livres ä eux-memes.
Ils ne peuvent pas „vouloir" travailler. Certains sont atteints
d'automatisme ambulatoire, ils errent perpetueliement sur les
grandes routes, s'enrolant quelques jours comme terrassiers, puis
repartant parce qu'ils ne peuvent rester en place. L'un de ceux-
lä, ä qui j'avais ä plusieurs reprises donne de petites sommes,
m'ecrivant qu'il venait de parcourir ä pied toute la France, ajou-
tait: „Vous voyez bien que je pourrais encore faire un bon le-
gionnaire!" La Legion lui semblait un paradis. Mais il avait cin-
quante ans ... De tels hommes sont presque impossibles ä
employer. Une societe charitable leur donne un abri ä Paris et
essaye de les placer comme porteurs de journaux, hommes-affi-
ches etc. C'est tout ce qu'on en peut faire: il faut qu'ils marchent!
Celui dont je viens de parier, avait abandonne sa femme, infir-
miere en Allemagne, et s'etait engage ä la Legion „pour marcher
la route". Libere, il continuait. II est mort ä l'höpital de Tou-
louse, d'oü il m'envoyait, quelques jours avant sa fin une lettre
oü il me parlait encore du temps qu'il avait passe ä la Legion,
le seul heureux de sa vie . . . Cette manie ambulatoire, assez
frequente, est pour quelque chose dans ce qu'on appelle le „ca-
fard" des legionnaires. II arrive qu'un excellent soldat, tres bien
note, abandonne sa garnison et vagabonde sans but dans le de-
sert. Circonstance aggravante, il vend alors parfois, pour boire,
ses effets militaires. J'en ai vu quatre, un jour, comme le paque-
bot qui les ramenait d'Indo-Chine en Algerie frolait, ä la tou-
cher, la cöte de Sumatra, piquer une tete et gagner la terre ä
la nage. Ils ont peut-etre ete devores par les tigres et les an-
thropophages; ils sont peut-etre parvenus ä s'engager dans la
Legion Hollandaise.
De plus, chez les recrues surtout, les desertions definitives
ne sont pas rares. On s'aper^oit qu'on s'est trompe, que la
Legion n'etait pas ce qu'il vous fallait, on s'en va . . . Les of-
ficiers ne se donnent pas trop de mal pour reirouver les fuyards:
le principe, en effet, est de former le corps avec des hommes qui
veulent en faire partie. Certains de ces deserteurs restent meme fort
tranquillement dans la colonie oü ils se trouvent. 11 en fut un,
d'origine sicilienne, qui naturalise fran(;ais sous son veritable nom,
203
dissimule par lui suivant l'usage lors de son passage ä la Le-
gion, etait devenu president du Conseil general d'un departement
algerien. Je pourrais nommer d'autres deserteurs de la Legion,
parvenus ä une Situation des plus confortables : mais ils vivent
encore et me reprocheraient mon indiscretion. Je prefere imiter
l'attitude de leurs anciens chefs, qui les connaissent parfaitement
et ne levent pas le petit doigt pour leur faire reintegrer le corps.
Troisieme question: La France outrepasse-t-elle ses droits
en prenant ä son Service des etrangers? C'est ici un probleme
de droit international et on le trouvera superieurement debattu
dans l'ouvrage de M. Charles Poimiro^). 11 s'est trouve egale-
ment pose devant des arbitres internationaux ä la suite de l'af-
faire de Casablanca. L'Allemagne soutint que les legionnaires
allemands, en s'engageant ä la Legion, avaient passe un contrat
de droit prive dont eile n'avait pas ä tenir compte, comme etant
contraire ä l'ordre public et aux bonnes mcEurs. Les arbitres se
refuserent ä aborder ce point de vue^), et donnerent raison ä la
France pour des motifs tires d'autres arguments: le droit d'un
Corps d'occupation d'exercer une juridiction absolue sur les per-
sonnes soumises ä son autorite. On peut regretter cette reserve.
Mais il apparait bien, d'une part, que l'engagement d'un etran-
ger, ä titre de soldat de la France constitue pour l'Etat fran^ais
un acte de puissance publique qu'il a parfaitement le droit d'ac-
complir: il en est le maitre, aussi bien que de contracter avec
des ouvriers etrangers pour un travail quelconque. Et des qu'il
est devenu leur chef miliitaire, nul n'a plus le droit d'intervenir
dans ses relations avec eux. C'est ce qu'a tres energiquement
affirme un juriste allemand, le professeur Kohler: „nulle part
au monde, ecrit-iP), on ne pourrait faire admettre qu'une puis-
sance militaire ne puisse elle-meme juger les delits et crimes com-
mis par les militaires de son armee ... II serait autrement im-
possible d'obtenir une discipline dans l'armee si pour quelque
^) Charles Poimiro: La Legion etrangere et le droit international.
Berger-Levrault, editeurs. Paris, rue des Beaux-Arts, 5.
2) . . . Considerant qu'il n'appartient pas ä ce Tribunal d'emettre une
opinion sur l'organisation de la Legion etrangere . . . {Revue de droit in-
ternational public, 1909, p. 36).
^) Professeur Dr. Kohler, de Berlin: Casablanca-Sache, dans la Zeit'
Schrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht, 1912, ler fascicule, p. 29 et 34.
204
legionnaire, ressortissant Allemand, Italien ou Espagnol, au sujet
de crime de desertion ou militaire, la question se posait de sa-
voir s'ils peuvent echapper aux juridictions fran^aises . . . Toute
immixtion directe dans la discipline ou dans le domaine des au-
torites militaires est absolument ä repousser. L'Allemagne, par
suite, commettait (dans l'affaire de Casablanca) un acte illegal en
s'en melant et en facilitant la fuite des deserteurs."
D'autre part, il est incontestable que c'est un droit naturel
pour l'individu, Allemand, Suisse, Beige, Fran(;ais ou autre, de
disposer de sa personne ä sa guise, pourvu qu'il ne blesse ni la
morale ni les bonnes moeurs. L'Etat Frangais a donc la faculte
d'engager un etranger comme soldat; l'etranger la faculte de s'en-
gager vis-ä-vis de l'Etat Fran^ais. La seule chose qu'il faille
exiger, ce n'est pas, comme le veulent quelques esprits genereux,
que l'engage puisse „s'en aller" quand le Service ne lui convient
plus. 11 n'y aurait plus de discipline possible, il n'y aurait plus
d'armee possible; et un contrat est un contrat, celui qui le signe
doit le tenir: mais on peut raisonnablement desirer que celui
qui l'a signe possede sa pleine capacite morale et juridique.
A cela une difficulte: c'est un principe et une necessite qu'il
ne soit demande ä celui qui contracte un engagement ä la Le-
gion aucun papier, aucun acte de naissance. On a le droit de
venir dans nos regiments etrangers pour refaire sa vie, pour se
constituer une nouvelle personnalite. Le caractere meme de la
Legion l'exige, et c'est pourquoi eile est, quoi qu'on puisse
dire, une Institution de relevement moral. Mais le gouvernement
fran^ais admet, depuis plusieurs annees, que tout legionnaire
peut apres son enrölement, montrer son veritable etat-civil et
solliciter la rescision de son engagement si cet acte prouve qu'il
avait moins de dix-huit ans au moment du contrat. Cet äge
est celui oü, d'apres la loi fran^aise, un jeune homme peut pren-
dre du Service dans l'armee sans l'autorisation de ses parents.
Mais je ne verrais nul inconvenient ä ce qu'on aille plus loin, et
qu'on accorde la meme faculte aux contractants etrangers n'ayant
pas atteint leur majorite absolue, c'est-ä-dire vingt-et-un ans. Le
recrutement est si facile que la Legion n'y perdra rien. II est
impossible ici de faire intervenir une loi — eile donnerait un
avantage ä l'etranger sur le fran(;ais — mais l'autorite militaire
205
peut, de sa propre impulsion, prendre une decision dans ce sens
toutes les fois qu'une reclamatlon aura lieu. Teile est la seule
reforme — reforme Interieure qui se ferait sans Intervention le-
gislative — que je croie veritablement utile ä introduire dans l'or-
ganisation de notre Legion etrangere. En conscience je demeure
persuade qu'aucune autre des critiques dirigees contre eile ne
porte.
Pourquoi donc alors sont-elles, en Allemagne, si vives et si
repetees? Le gouvernement allemand, il est vrai, n'y prend point
de part directe. A aucun moment il n'a fait au notre la moin-
dre representation sur les modalites du recrutement ä la Legion.
Mais d'autre part le concert des attaques est trop general pour
n'etre pas quelque peu suggere. On voit ces attaques cesser toutes ä la
fois, ou reprendre, selon l'etat plus ou moins tendu des relations
poiitiques entre les deux pays. Tout se passe comme s'il y avait
quelque part quelqu'un qui lache la meute, et puis la rappelle,
et puis la relance, quelqu'un qui laisse faire ä son peuple col-
lection de griefs, meme et surtout de griefs sentimentaux, ne re-
posant sur rien d'exact, parce que c'est avec ceux-lä qu'on gagne
l'opinion nationale, et que par contre, fort de son droit, et ne
pouvant chez lui froisserune opinion publique justement chatouil-
leuse dans le sens oppose, le gouvernement du pays auquel on
s'adresse ne peut pas ceder. Cela parait bien etre l'impression
d'un redacteur de la Correspondance Helvetlque, qui ecrit:
La plupart des Frangais, toujours un peu legers et insouciants, n'ac-
cordent pas ä la campagne antilegionnaire toute I'attention qu'elle merite.
Plus reflechis et plus attentifs que les Frangais, les Suisses, les Bei-
ges, les Hollandais et les Danois, qui redoutent aussi les monstrueux arme-
ments, les ambitions et les visees annexionnistes de l'Allemangne imperiale,
se demandent ä quoi pourra bien aboutir cette levee de boucliers panger-
manistes. Bon nombre d'eutre eux estiment que lorsque l'opinion publique
allemande sera formidablement excitee contre la Legion, le gouvernement
imperial pourra etre un peu deborde et que pour satisfaire cette opinion, ii
adressera ä ia France une sommation d'avoir ä licencier la legion.
A moins de descendre au rang de cinquieme puissance, la France re-
fusera. Alors se produira cette attaque brusquee, dont il a ete si souvent
question ces derniers temps.
Je ne vois pas toutefois les choses sous des couleurs si noi-
res. Je m'imagine seulement que l'etat d'esprit cause chez les
Allemands par les attaques contre notre Legion constitue pour
206
le gouvernement de TEmpire une arme qui pourra servir ou ne
servira pas, selon les circonstances. Je le deplore; je sais qu'en
plus — je crois Tavoir demontre — ces attaques sont injustes,
et, chez beaucoup, de mauvaise foi. La Legion etrangere est une
necessite, je ne dirai pas pour la France, qui pourrait s'en pas-
ser, mais pour le monde civilise. Elle absorbe et discipline des
elements qui laisses ä eux-memes seraient partout une cause de
trouble. Elle est, assez puissamment, moralisatrice et regenera-
trice. Et si notre gouvernement, ce qu'il ne fera certainement
pas, prenait le parti de dissoudre nos deux regiments etrangers,
ils iraient immediatement se reconstituer ailleurs, en Hollande,
en Angleterre, partout oü on enrole les gens sans leur deman-
der d'oü ils viennent. Je me permets d'affirmer que meme alors
l'AlIemagne ne retrouverait pas un seul des nationaux qu'en ce
moment nous lui prenons, que tous les ans eile en verrait partir
le meme nombre avec la meme Intention de servir hors de chez
eile pour voir du pays, pour guerroyer, pour „marcher la route".
A moins qu'elle ne creät une Legion chez eile. Et encore,
meme dans ce cas! Elle n'a pas assez de colonies, on ne s'y
bat pas assez, et ses methodes de discipline ne conviennent pas
generalement ä ceux qui viennent s'engager chez nous.
Et plus tard . . . supposons que le reve magnifique des
Etats-Unis d'Europe se realise un jour. Pour faire la police de
leurs domaines d'outre-mer, et les adapter ä la civilisation occi-
dentale, pour opposer ä des races mentalement encore tres dif-
ferentes une barriere de baionnettes demeuree indispensable,
cette grande communaute europeenne aura besoin d'une armee.
C'est une Legion qu'elle recrutera. Elle aura aboli „l'impöt du
sang". L'individu, plus libere encore que de nos jours, exigera de
ne porter les armes que de son plein consentement. Seuls des
volontaires de tous ses „Etats" repondront ä son appel: et la
France gardera l'honneur d'avoir cree le type de cette armee,
d'avoir ete, comme en bien d'autres domaines, la nation initiatrice.
PARIS PIERRE MILLE
D D D
207
EINE PHILOSOPHIE DES LEBENS
HENRI BERQSON
Wenn in der schöpferischen Zeit, im lebendigen Werden das
Wesen der Weit besteht, so taucht die Frage auf, wie das Dasein
der toten Materie inmitten einer lebendigen Welt zu erklären sei.
Für die mechanistisch gerichtete Wissenschaft lautet die Frage
gerade umgekehrt: wie ist das Leben aus der Materie zu erklären?
Die Mehrzahl der heutigen Biologen suchen eine Antwort darauf.
Aber diese Versuche, das Leben mechanistisch aus den Gesetzen
der Materie zu erklären, sind misslungen. Das Leben lässt sich
nicht auf Mechanik zurückführen. Deshalb taucht in stets neuen
Verwandlungen immer wieder der Vitalismus auf als ein Zeichen
der Notlage, in die die Biologie gerät, wenn ihr zugemutet wird,
das Leben aus der Materie abzuleiten. Bergson hat an diesen
Anstrengungen Jahre lang in eigener Arbeit teilgenommen, wandte
ihnen aber schließlich ganz den Rücken. Er vermag nicht mehr
im Starren und Toten, in der Materie das Verständliche zu sehen
und im Lebendigen das Unverständliche, das aus jenem erklärt
werden soll, sondern er nimmt nun seinen Standpunkt resolut im
Leben selbst, das wir am unmittelbarsten kennen.
Von da aus erscheint ihm die Materie nicht mehr als der
Nährboden, der Urgrund, aus dem das Leben eines Tages her-
vorwuchs, sondern als die Schlacken, die das Leben zurückge-
lassen hat, als ein Rückstand des Lebensprozesses (so schon
Schelling, mit dem er überhaupt große Ähnlichkeit aufweist).
Noch eher als Rückschlag, Rückwärtsbewegung, Regression;
denn die Materie ist immer da zu finden, wo die gewaltige Span-
nung des Lebensdranges erschlafft. Da stellt sich die Entspannung,
das Erstarren ein, das wir als Materie wahrnehmen. Der Gegen-
satz zwischen ihr und dem Leben ist daher ein funktioneller, kein
sachlicher Gegensatz der Spannung und vor allem der Bewegungs-
richtung. Während das Leben in seiner Bewegung dem Aufstieg
der explodierenden Feuergarbe eines Feuerwerks zu vergleichen
ist, gleicht die Materie dem Fall der erloschenen Funkenkörper,
deren Auftrieb erlahmt ist, ein Bild, dem das Entropiegesetz
.208
einen physikalischen Ausdruck gibt. Jedes Nachlassen der Span-
nung bringt das Leben sofort unter den Zwang der automatischen
Mechanismen der Materie. Umsonst stemmt es sich in der vege-
tabilischen und animalischen Welt dieser Umklammerung entgegen.
Erst im Menschen gelingt ihm der Vorstoß in die Sphäre der
Freiheit. Die Eigenschaften, die damit dem Leben zugeschrieben
werden, lassen es durchaus als etwas Metaphysisches erscheinen.
Es ist im Innersten seelischer Natur. Es strebt dem Geiste und
der Freiheit entgegen. „La vie est marche ä l'esprit." Schon
auf den untersten Stufen ist das Leben eine geistige Tätigkeit,
„une supraconscience extraspatiale" , die die Richtung auf Be-
seelung, Bewusstsein und Freiheit nimmt. Die Biologie wird da-
mit zu einer Psychobiologie, deren Notwendigkeit da und dort in
den heutigen biologischen Anstrengungen eingesehen wird, fühlte
sich doch sogar Häckel gedrungen, den Atomen Seelen einzu-
pflanzen, mit denen er dann freilich wenig genug anzufangen
wusste. Das Lebendige ist ein Geistiges, oder sagen wir vorerst
ein Seelisches, wovon wir uns in unserm persönlichen Dasein
am besten und sichersten überzeugen können. Es ist von vorne-
herein im Lebensprozess tätig. Ja, die Seele ist die eigentliche
„Lebensunruhe", die in allem Rhythmus des Werdens vorwärts
drängt. Ihre Verbindungen mit der Materie sind nur Wandlungen,
Materialisationen, Kampfplätze, Umklammerungen und Befreiungen
einer geistigen, metaphysischen Potenz, die von der Materie etwas
zu erlangen sucht, was diese ihr nicht geben will, noch kann.
Erst im freien und schöpferischen Menschen zerbricht dann das
Leben seine Ketten, kommt zu sich selbst und verwirklicht sein
Wesen.
Das klingt stark an die Entwicklungsphilosophie Hegels an.
Dort besteht der Weltprozess darin, dass der Geist sich selber
findet und seiner selbst bewusst wird. Aber der Entwicklungs-
gang erscheint dort als die Selbstbewegung des Begriffs. Die
Natur ist nur ein Durchgangsstadium der Idee und die Geschichte
eigentlich nur ein Denkprozess, durch den die Idee verwirklicht
wird. Bei Bergson liegt dieses Geistige, das sich im Weltprozess
entfaltet, nicht in der Idee, im Begriff, im Denken, sondern in
einem Streben und Wollen. Was in der gewaltigen Woge des
Lebens vorwärts drängt, ist nicht das Logische, das Rationale,
209
die Vernunft, die sich endlich im hellen Lichte des Bewusstseins
ganz enthüllt, sondern es ist ein Irrationales, Dynamisches, es ist
Drang und Wille, elan vitaL Bergson rückt damit weit ab vom
logischen Idealismus Hegels und stellt sich auf die Seite des
Volitionalismus, der das tiefste Wesen des Lebens im Willen oder
in etwas ihm Ähnlichem findet. Das Leben ein Seelisches, das
Seelische aber vor allem Wille.
Hier ist nun der Ort, wo von der Stellung des Menschen in
der Entwicklung zu reden ist. Wenn es dem Leben gelang, dem
Automatismus der Materie zu entrinnen, so dankt es dies vor
allem dem feinsten organischen Gebilde, das es geschaffen hat,
dem Gehirn. Hier baute es ein Instrument, das durch seinen
wundervollen Mechanismus den Geist derart entlastet, dass er
seinen eigenen Zwecken freier nachgehen und seine höchsten
Ziele verwirklichen kann. Es wird schon aus dem Vorhergegan-
genen klar geworden sein, dass Bergson das Gehirn unmöglich
als den Ursprung oder gar, wie die platteste Meinung will, den
Erzeuger des Geistes ansehen kann. Es ist vielmehr ein Instru-
ment des Geistes, eine Art Transformatorenstation, in der die
Bewegung des Geistes für die Einwirkung auf die materielle Welt
umgeschaltet, automatisiert und mechanisiert wird. Es ist eine
Art Zentraltelegraphenbureau, das die Verbindung zwischen dem
Geist und der Materie herstellt. Es ist nicht ein Organ des
Denkens oder Fühlens oder der Erkenntnis, sondern der Bewe-
gung, des Handelns. Insofern es diese vorzubereiten hat, ist es
ein Organ der Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit. Aber nicht
das ganze Leben des Geistes kann durch seine Funktionen zum
Ausdruck oder zur Wirkung gelangen. Es kann davon gerade
nur das ausdrücken und weiterleiten, was in Bewegung, Handlung
umgesetzt werden kann, was materialisierbar, mechanisierbar, „jou-
able" ist, also nur einen kleinen Teil seiner Fülle. Diese Funktion
vollzieht es, indem es Wahrnehmungen in Bewegungen verwandelt.
Bergsons Theorie der Wahrnehmung, der übrigens zwei deut-
sche Philosophen, Karl Heim und Frischeisen-Köhler, sehr nahe
stehen, kann hier nur kurz angedeutet werden, ebenso wie seine
Lehre vom Gedächtnis. Erinnern wir uns, dass im ursprünglichen
unmittelbaren Erlebnis noch keine gesonderten Wahrnehmungen
im eigentlichen Sinne unterschieden werden. Alles fließt noch
210
ungetrennt durcheinander: kein Innen und kein Außen, keine
Dualität von Objekt und Subjekt! Erst allmählich, wenn auch
sehr rasch, nimmt das unmittelbare Erlebnis den Körper zum
Mittelpunkt, orientiert sich von dort aus, spaltet sich an ihm in
ein Objekt und ein Subjekt und wird damit zerlegt in ein Ich
und seine Wahrnehmungen, die nun deutlich aus der verwirrenden
Fülle des unmittelbaren Erlebnisses hervortreten. Aber aus einem
starken und reichen Erlebnis treten doch immer nur relativ wenige
und einzelne Wahrnehmungen gesondert hervor: Welche? Die, die
wir auswählen. So sonderbar es klingt: Indem wir wahrnehmen,
treffen wir eine Wahl. Wir erleiden nicht etwas, sondern wir
verhalten uns aktiv, wählend und sichtend, worauf übrigens Kant
auch schon hingewiesen hat. Wir nehmen das wahr, woran wir
interessiert sind. Was fällt uns auf einer rasch durchflogenen
Seite als Wahrnehmung deutlich in die Augen? Das, was unser
Interesse irgendwie erregt; alles übrige bleibt unter der Schwelle,
wird nicht zur Wahrnehmung, obschon es unser Auge in gleicher
Weise getroffen hat. Was uns nicht interessiert, wird verdrängt,
zur Seite geschoben, geht unter in einem allgemeinen dumpfen
und nicht zum Bewusstsein kommenden Erlebnis. Unser Wahr-
nehmungsapparat ist also wohl eine Platte, auf die tausend Ein-
drücke fortwährend wirken, aber nur einige wenige unter ihnen
werden entwickelt zu Bildern, zu Wahrnehmungen. Diese bedeuten
also gegenüber dem unmittelbaren Erlebnis eine Verminderung,
eine Auswahl, diktiert vom volitionalen Element, dem Interesse,
das schon im ersten Beginn der Erkenntnis wirksam ist.
Da diese Auswahl lediglich vom Standpunkt des praktischen
Interesses aus zum Zwecke des Handelns geschieht, so führt die
Wahrnehmung und die daraus gewonnene Vorstellung nicht zu
einer reinen und zuverlässigen Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern
nur zur Einsicht, wie wir uns am besten in der äußern Welt zu-
rechtfinden und auf sie wirken können.
Ähnliche Gesichtspunkte kehren in Bergsons bedeutsamer
Lehre vom Gedächtnis wieder, die besonders für die Frage des
Verhältnisses von Leib und Seele wichtig ist.
Man denkt sich das Gedächtnis gewöhnlich auf's engste ans
Gehirn gebunden, als ob darin wie in einem Zettelkasten Wahr-
nehmungen und Erlebnisse aufgespeichert wären und nach Be-
211
lieben wieder hervorgeholt werden könnten. Bergson bei<ämpft
diese Theorie auf's nachdrückh'chste. Das eigenth'che Gedächtnis
hängt nach ihm nicht vom Gehirn ab. Nicht dieses bewahrt die
ganze Vergangenheit auf, sondern der Geist, der als reine Dauer
sich selbst in jedem Augenblick ganz besitzt, die Träume der
Kindheit ebenso wie die jüngsten Ereignisse. Von diesem unge-
heuren Besitz, von dem nichts verloren geht, ist nur ein kleiner
Teil bewusst oder erinnerlich. Der größte Teil liegt unbewusst
und unbenutzt in den verschiedenen Schichten unseres Bewusst-
seins „plans de conscience" bereit, um im gegebenen Augenblick
als Erinnerung aufzutauchen. Aber nur das kann aus dieser Ver-
senkung wieder aufsteigen, was sich aktuell mit unsern gegen-
wärtigen Wahrnehmungen und Erlebnissen verbinden, assoziieren
kann, was für unser gegenwärtiges Handeln praktisch wertvoll ist.
Und die Rolle des Gehirns ist nur, diese Erinnerungen zu aktu-
alisieren, sie in Tätigkeit zu verwandeln. Es macht diejenigen
Erinnerungen wieder lebendig, die unsern kommenden Entschei-
dungen vorleuchten können. Wir erinnern uns, was uns früher
schon hemmte oder förderte, um dadurch das Handeln der Gegen-
wart zu orientieren. Wir können daher von einem doppelten
Gedächtnis reden, von dem reinen Gedächtnis des Geistes und
vom motorischen des Körpers. „Die Vergangenheit speichert
sich allem Anschein nach in zwei extremen Formen auf: einer-
seits in den motorischen Mechanismen, durch welche sie nutzbar
gemacht wird, anderseits in den persönlichen Erinnerungsbildern."
Das Gedächtnis des Geistes bewahrt in verschiedenen Schichten
den rein geistigen Besitz alles Lebens auf, der jeden Augenblick
wieder in seiner ganzen verwirrenden Fülle als dejä vu, als Stim-
mung und Erlebnis, oder schon geordnet als Wahrnehmung,
Empfindung, Bild wieder aufsteigen kann. Erst ganz an der
Oberfläche liegt jenes mechanische Gedächtnis des Gehirns, das
die Erinnerungen ebenso wie die Wahrnehmungen in Bewegungs-
schemata umwandelt. Es erzeugt nicht, sondern es verdrängt in
jedem Augenblick den Teil der Vergangenheit, der für einen be-
stimmten Zweck der Gegenwart nicht brauchbar ist. Es ist also
eigentlich besser geeignet, uns das Vergessen zu erklären als das
Behalten. In diesem Gedächtnis wird die Vergangenheit wie auf
einem motorischen Apparat abgespielt, währenddem das geistige
212
Gedächtnis sie vorstellt und als Ganzes besitzt, im Traum hört
diese Verdrängung des wachen Gedächtnisses auf: „Da erheben
sich Tausende von Erinnerungen, schweben her und tanzen in
der Nacht des Unbewussten einen gewaltigen Totentanz. Und
alle zusammen fliegen zur Türe, die sich öffnet. Alle möchten
hindurchschlüpfen. Doch sie können nicht; es sind ihrer zu
viele . . . Welche werden aus der Menge der Gerufenen die Aus-
erwählten sein?"
Von dieser Theorie des Gedächtnisses fällt ein neues Licht
auf das Verhältnis von Seele und Leib überhaupt. Es ist ein
Verhältnis sui generis, das weder besteht in gegenseitiger Determi-
nation, noch in gegenseitiger Unabhängigkeit und prästabilierter
Harmonie, noch in einem Produktionsverhältnis, noch in einem
Parallelismus, sondern der Teil eines geistigen Zustandes, der
durch eine Bewegung des Körpers überhaupt ausgedrückt werden
kann, wird gleichsam vom motorischen Schema des körperlichen
Gehirns gespielt. Der Rest bleibt davon unabhängig und hat
keine Ausdrucksmöglichkeit durch das Gehirn. Eine Analogie
wird das klar machen. Auf dem Klavier kann von einer Oper
nur ein sehr beschränkter Teil gespielt werden, nämlich nur der
reduzierte musikalische Teil, der in das motorische Schema des
Klaviers eingeht, der ganze Rest der vorüberziehenden Bilder, des
Gesanges, der Bewegung, der Leidenschaften in den Gesichtern
und Seelen der Darsteller ist auf dem Klavier nicht darstellbar.
So kann durch das Gehirn nur jener kleine Teil unsers geistigen
Lebens ausgedrückt werden, der es mit der obersten Schicht
unserer motorischen und Denkgewohnheiten zu tun hat, der
handelnd in die Wirklichkeit eingreifen kann. Für seinen Aus-
druck ist das Gehirn die auslösende motorische Bedingung. Die
tiefern Schichten unseres Geistes, die nicht in diesen Bewegungs-
rahmen hineinpassen, bleiben unberührt von dieser Bedingung
und relativ frei.
Dort allein, in jenen tiefsten Schichten, ist daher die Freiheit
zu finden, die Bergson dem menschlichen Geist zuschreibt. Des-
halb ist sie auch eine seltene und große Sache; denn sie liegt
nicht an der Oberfläche unseres Lebens, die ganz in eine Kruste
von Gewohnheiten und Automatismen eingehüllt und ganz auf
das motorische Schema unseres praktischen Bedürfnisses einge-
213
stellt ist, sondern sie tritt hervor in jenen wenigen großen, schöpfe-
rischen Taten und Entscheidungen, die unserem Leben eine neue
Richtung geben, in jenen Taten, in denen unsere tiefste Persön-
lichkeit steckt. Wir sind nur in jenen seltenen Akten frei, die sich
aus unserm ganzen innersten und eigentlichen Wesen lösen wie
die reife Frucht vom Stamme, der sie trägt.
Aber das sind die seltenen glücklichen Taten, die wenigen
Menschen gelingen, die meisten vermögen nur schwer, ihr Tun
dem Determinismus zu entringen. Viele Menschen lernen diese
Freiheit nie in ihrem Leben kennen und sterben umklammert von
dem Automatismus und Mechanismus, in den sie die Materie
und die praktischen Bedürfnisse gezwungen haben. Es gibt also
Grade der Freiheit. Sie ist ein fernes Ziel und eine unaufhörliche
Lockung und Aufgabe, zu der uns das Leben selber, da wo es
am reichsten wirkt, treibt. Der dringt zu ihr vor, der durch ein
tiefes Nachdenken und sich Versenken in die schöpferische Natur
seines Wesens zur reinen Dauer hinabsteigt und aus jener frucht-
baren Tiefe heraus seine Handlungen gestaltet wie der Künstler
sein Werk.
Wir werden durch diese Ausführungen an die schönsten
Kapitel Kants und seine Unterscheidung eines empirischen und
intelligibeln Charakters erinnert. Jene Loslösung von dem Auto-
matismus gelingt zuerst dem Künstler, der sich in der schöpferi-
schen Tat befreit von den zwingenden praktischen Rücksichten.
Bergson sagt in seinem Werk über „das Lachen" darüber außer-
ordentlich feine Dinge, besonders über die dramatische Kunst.
Sie befreit den Menschen von dem Druck, den die gebundenen
Leidenschaften auf ihn ausüben. Wie das heiße Innere der Erde
unter einer erkalteten Kruste, so liegen sie unter den gesellschaft-
lichen Konventionen. Im Drama und vor allem in der Tragödie
zeigt uns der Dichter, welche Tiefen sich in uns finden. Wir sehen
da mit Schauer und Staunen, welche Möglichkeiten in unserem
Unbewussten verborgen sind, die sich zu unserem Glücke nicht
verwirklicht haben. Der Dichter stellt das dar, was auf dem
Grunde seiner eigenen Persönlichkeit ruht, und wovon er sich
durch die Darstellung befreit. Die Komödie hat einen ganz
andern Zweck; sie organisiert das Lachen, das eine Reaktion ist
auf alles Steife, Starre, Mechanische. Es ist die Reaktion des
214
Lebendigen, Schmiegsamen, Schöpferischen gegen das Starre, das
Automatische. Wo wir irgend einen Automatismus sehen, da wo
wir Leben und Freiheit erwarten, lachen wir. „Das Lachen ist wie
der Schaum auf den Wellen des Meeres. Wie der Schaum spru-
delt es von Lebenslust. Aber der Philosoph, der ein wenig
davon kostet, findet zuweilen darinnen einen starken Gehalt von
Bitterkeit."
Indem Bergson den Willen für frei erklärt, und den allein,
der schöpferisch aus unserm eigensten Wesen hervorbricht, ist er
der alten Fragestellung der Freiheit des Willens ausgewichen. Er
hält sie für falsch. Sie entsteht nur da, wo man die Freiheit in
den Zwang der logischen Begriffe einfangen, durch sie definieren,
also gerade durch ihr Gegenteil ausdrücken will. „Jede Definition
der Freiheit wird dem Determinismus recht geben." Der freie
Akt des Willens ist nicht als Möglichkeit vor der Entscheidung
schon da. Er bricht mit dieser im Augenblick des Werdens
durch, als eine Synthese von Gedanken und Gefühlen, als etwas
Neues, so wie die Frucht, die zwar auch schon in der Blüte
vorgebildet ist, aber doch als etwas Neues aus ihr hervorgeht.
„Die Freiheit ist nicht eine Wahl zwischen verschiedenen Motiven,
sondern ein schöpferisches Vermögen un pouvoir de creation."
Raum für diese Freiheit gibt es, weil mit dem schöpferischen
Leben ein weiter nicht durch Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit
zu erklärendes, einfach gegebenes Element gesetzt ist, die „contin-
gence", die Zufälligkeit des einmal Gegebenen — ein Gedanke,
den namentlich Boutroux und in Deutschland Tröltsch verfolgt haben.
Wo der Mensch in seinem schöpferischen Wesen, in der reinen
Dauer, die Freiheit gefunden hat, da steht ihm der Weg zu den
höchsten Zielen und Schöpfungen offen. Bergson hat sich
zwar über diese, wie schon gesagt, noch nicht eingehend ge-
äußert, und es ist mit Spannnung zu erwarten, wie er das Ge-
bäude seiner Philosophie zum Abschluss bringen wird, nament-
lich wie er auf diesen Freiheitsbegriff eine Ethik gründen kann.
Vorläufig sieht man nur, dass das ethische Handeln die Aufgabe
hat, den Automatismus des gewöhnlichen, vom praktischen Be-
dürfnis diktierten Handelns zu durchbrechen. Das Automatische
ist das Unfreie und damit das Unmoralische. Der moralische
Mensch handelt aus der Freiheit der Innern schöpferischen Dauer.
215
über Religion hat sich Bergson noch gar nicht ausgesprochen,
er scheint sogar das Wort mit einer gewissen Absichtlichi<eit zu
vermeiden. Aber es lässt sich unschwer einsehen, was für einen
Wert die Intuitionsphilosophie für das religiöse Denken haben
kann. Das soll hier nur angedeutet und vielleicht an einem
andern Orte näher ausgeführt werden. Der Intellekt zersetzt die
Religion, und wo er allein an das religiöse Phänomen herantritt,
muss er sie zerstören; denn er kann kein Unbedingtes und Ab-
solutes dulden; die Religion aber ist in diesem verankert.
Gegenüber den intellektualistischen, namentlich von Amerika
ausgehenden Versuchen, die religiöse Empfindung in ihre primi-
tivem Elemente zu zerlegen, äußert sich Bergson: „Das religiöse
Gefühl scheint mir nicht der Zersetzung und Auflösung anheim-
fallen zu können ; dies kann nur das Los des Zusammengesetzten
sein. Mag sich auch das religiöse Gefühl mit sehr komplizierten
Elementen verweben, es bleibt nichtsdestoweniger seinem tiefsten
Wesen nach etwas Einfaches und ganz Eigenartiges, das keiner
andern Seelenfunktion gleicht."
Wenn sich Bergson bisher über Ethik, Religion und Kunst
nur sehr zurückhaltend geäußert hat, so weist seine Philosophie
um so deutlicher auf eine neue Metaphysik hin. Er hat eine
kleine „Einführung in die Metaphysik" geschrieben, die heute nur
noch in deutscher Übersetzung zu bekommen ist, wohl ein Hin-
weis darauf, dass Bergson sie eines Tages durch ein größeres
Werk ersetzen wird.
In dieser kleinen, sehr lesenswerten Schrift kritisiert Bergson
jede Metaphysik, die aus Begriffen aufgebaut ist, so wie sie bis
zu Kant betrieben wurde. Er kritisiert aber auch die Ablehnung
aller Metaphysik durch Kant und findet seine Kritik nur am Platze
gegenüber einer Metaphysik, die ein einziges und fertig abge-
schlossenes Weltsystem konstruieren will, in dem das Werden
keinen Raum findet.
Für Bergson ist aber eine Metaphysik wohl berechtigt, ja
nötig, die gegenüber der Erfahrung sein will „eine stets erneute
Anstrengung unseres Geistes, über unsere gegenwärtigen Ideen
und vielleicht auch über unsere bloße Logik hinauszukommen".
Wir brauchen Metaphysik, weil die positive Wissenschaft uns
ihrer Natur nach immer nur über die Relationen der Dinge auf-
216
klärt, nie über ihr Wesen selbst, weil sie uns immer nur Relatives
gibt, nie aber das Absolute, weil sie sich immer wieder durch
ihre Analyse vom Leben entfernt, anstatt es unmittelbar zu er-
fassen. Das tut allein eine intuitive Methaphysik, die den not-
wendigen Abschluss unserer Welterkenntnis in jener absoluten
Wirklichkeit der duree creatrice findet. So lange sie in dieser
Berührung mit dem schöpferischen Werden selbst bleibt, geht sie
nicht irre, und verdient Vertrauen, auch wenn sie ihre Resultate
nicht in das Gewand logischer Sätze kleidet.
Eine solche schmiegsame Metaphysik, die einen Kontaktschluss
mit dem Leben herstellt, zerbricht das Gefängnis der Materie, in
das wir gesperrt sind, hebt die Beschränkung unseres Intellektes
auf und öffnet durch intensivste Anspannung der schöpferischen
Dauer eine Perspektive in die Ewigkeit. Ihr strebt alles wirkliche
schöpferische Leben entgegen und entrinnt immer wieder dem
Tode der Materie, der es ergreifen will und es doch nie erreicht.
ZÜRICH ADOLF KELLER
(Schluss folgt)
D D D
GEDICHTE VON ROBERT J. LANG
IN DER NACHT
In dunkler Bäume breiter Spur
Erblindet auf dem Hag der Tau;
Der Mond macht alles tief und blau
Und sonderbar. —
Ein Brunnen nur
Rauscht in der Schale kühlen Stein.
Des hellen Wassers Widerschein
Zuckt auf den Fliesen blank und schmal . . .
Die Häuser stehen fremd und kahl.
FRAGMENT
Sieh, wir wollen nicht darüber streiten,
Aber es gibt noch andere Seligkeiten
Als der Biss in eine rote Frucht :
Kennst du die Süße der Flucht,
Wenn die Nachen der Sehnsucht in die Weiten,
In denen der Anfang des Nichts liegt, hinübergleiten?
Hast du schon nach dieser Lösung gesucht?
Denn sieh, auch das ist eine von den Seligkeiten.
DDD
217
BOCCACCIO
Das Städtchen Certaldo feierte im verflossenen Sommer die
sechshundertste Wiederkehr der Geburt seines großen Sohnes:
Giovanni Boccaccio. So mögen auch wir in kurzen Zügen einige
der Hauptmomente dieses Dichterlebens festhalten und den Richt-
linien folgend, die seine Lebensbahn durchfurchen, einen Ein-
blick gewinnen in die vielverschlungenen Ziele und Hoffnungen
seiner Zeit.
Als Kind der freien Liebe erhielt Boccaccio im Jahre 1313
von einer unbekannten Französin zu Paris das Leben. Doch
schon bei der Geburt stand neben den gütigen Feen, die ihm die
herrlichen Gaben seines Geistes in die Wiege legten, die graue
Sorge. Auch sie spendete ihr Geschenk: es war in schneidendem
Widerspruch zu den künftigen glänzenden Schöpfungen seiner
Phantasie die Last eines kümmerlichen, bedrückten Daseins mit
wenig sonnigen Tagen und einem Ende in düsterer Schwermut.
Kaum einige Monate alt wurde Giovanni vom Vater, dem ehr-
samen, guelfisch gesinnten Kaufmann Boccaccio di Chellino aus
Certaldo, über die Berge nach dem heimatlichen Städtchen gebracht.
Dort wuchs der Knabe heran in einer kalten, freudlosen Jugend.
Gegen das Jahr 1330 sandte ihn der alte Boccaccio in die kauf-
männische Lehre nach Neapel. Denn er hatte beschlossen, sich
zu verheiraten und empfand dabei die Gegenwart des heran-
wachsenden Knaben als störend. Diese Übersiedelung nach dem
glanzvollen, in südlicher Farbenglut strahlenden Neapel wurde
entscheidend für die künftige Laufbahn unseres Dichters und lei-
tete ihn in einer ganz andern Richtung, als es der spießbürger-
liche Vater erhoffte.
Der Kaufmannsberuf widersprach dazu entschieden den Nei-
gungen des jungen Boccaccio. Sechs Jahre verbrachte er darin
ohne jeden Erfolg, dann willigte der Vater wenigstens darein,
dass sich sein Sprössling dem Studium des kanonischen Rechts
zuwende. Und wiederum gingen sechs Jahre ins Land und aber-
mals kam nichts heraus. Zornig ward der Sohn heimberufen.
So kam Giovanni nach zwölfjähriger Abwesenheit wieder in der
Heimat an : als ein verfehlter Kaufmann und ein entgleister Jurist.
Was hatte er in den langen Jahren seines neapolitanischen Auf-
218
enthalts getrieben? Wenige briefliche Nachrichten vermelden, dass
der Bibhothel^ar König Roberts von Neapel, Paolo Perugino, ihn
in die antike Mythologie einführte, die ihm zeitlebens als etwas
ungemein Kostbares erschien und ferner, wie der Genuese An-
dalone del Negro ihm einige astronomische Kenntnisse beibrachte.
Auch etwas Griechisch konnte er erringen: doch es blieben stets
bloß kümmerliche und verworrene Trümmer. Die wahre Vor-
bereitung für seinen künftigen Beruf: den nämlich, der größte
Novellist aller Völker zu werden, die fand er nicht in den Büchern
sondern in der bunten Gesellschaft Neapels. Die schöne und
leichtfertige Maria d'Aquino, die natürliche Tochter König Roberts,
wurde auf den geistvollen Jüngling aufmerksam, zog ihn in ihre
Gesellschaft und gestattete ihm sogar eine kurze Tour in der
raschen Folge ihrer Liebhaber. Auch andern Frauen gelten seine
aus dieser Zeit erhaltenen Liebeslieder, und wir erkennen dabei
unschwer, dass diese Beziehungen nicht bloß platonischer Natur
waren. Doch nicht nur die obersten Kreise, die hohen Damen
und Ritter lernte Boccaccio, wie seine Werke beweisen, aufs Ge-
naueste kennen, das ganze neapolitanische Leben der großen
und kleinen Bürger bis hinab in die Welt der Dirnen, Diebe und
Zuhälter umfasst und schildert unser Dichter mit solcher Natur-
wahrheit (bloss Giordano Bruno kommt ihm darin gleich), dass
wir dabei unleugbar an recht bedenkliche „Fachstudien" zu den-
ken haben.
Diese neapolitanischen Jahre waren die glücklichsten seines
Lebens. Als Boccaccio schon längst wieder in Florenz war, hing
sein Sinn noch immer an den farbenschillernden Erinnerungen:
mit den Gestalten seiner Maria und ihrer Damen belebte er fortan
die strahlende Welt seiner Dichtwerke.
Von der Rückkehr in die Heimat an lassen sich die äußern
Schicksale Boccaccios in wenig Worte dahin zusammenfassen,
dass er sich fortan standhaft demjenigen Berufe widmet, den er
als seine innerste Vokation erkannt hat: dem des freien Dichters.
Eine lange Reihe von Werken in Prosa und Poesie flössen nun
aus seiner Feder, darunter das unsterbliche Novellenbuch : der Deca-
meron. So wird er der Schöpfer der italienischen Kunstprosa. Ein
Ruhmestitel bleibt auch die Rettung des Tacitus aus der in Ver-
fall geratenen Bücherei von Montecassino.
219
Wohl unternahm er im Dienste der Stadt Florenz mehrere
diplomatische Missionen, deren liebste der Auftrag war, dem in
Padua weilenden Petrarca die Rückerstattung der einst von der
Republik konfiszierten väterlichen Güter zu melden. Eine feste
Stellung jedoch lehnte er ab, auch als ihm ein Lehrstuhl an der
florentinischen Hochschule, dem Studio, angeboten wurde.
Im Jahre 1361 vollzog sich eine tiefe Wandlung in seinem
Wesen. Er, der die Kniffe der Mönche so schonungslos verhöhnt
hatte, ließ sich durch die drohenden Worte eines Karthäuser-
mönchs, der ihm Tod und Hölle in nahe Aussicht stellte, derart
erschüttern, dass er seinen bisherigen profanen Studien und sei-
ner italienischen Schriftstellerei gänzlich entsagte und fortan bloß
mehr lateinische Kompendien über antike Geographie und der-
gleichen verfasste. Im letzten Lebensjahre ließ er sich auch be-
wegen, Dantes göttliche Komödie öffentlich zu erklären; doch
eine widrige Krankheit, die Krätze, zwang ihn bald, seine Vor-
lesungen abzubrechen. Am 21. Dezember 1375 starb Giovanni
Boccaccio.
Es gibt nicht leicht ein Zeitalter, das von so tiefen Gegen-
sätzen erfüllt wäre, wie das vierzehnte Jahrhundert. Im ersten
Viertel hatte Dante sein grandioses Gedicht geschaffen, worin die
ganze Wissenschaft des Mittelalters dargelegt wird, getragen vom
Flügelschlag eines mächtigen Genius. Im letzten Viertel sehen
wir die Schule der florentiner Humanisten auf Petrarcas und Boc-
caccios Spuren ausziehen, um die neue Welt des Altertums zu
heben und zu retten. Es scheint ein völlig jäher Bruch zwischen
zwei gänzlich verschiedenen Zeitaltern und Weltauffassungen vor-
zuliegen. Sieht man indessen näher zu, so gewahrt man, dass in
diesem Übergang vom Mittelalter zur Renaissance eine scharfe
Grenze nicht gezogen werden kann: dass vielmehr die alten Ge-
gensätze auch in der neuen Zeit weiter fortbestehen, bloß in
veränderter äußerer Form. Aus diesem großen Übergangsprozess,
in welchem man seit Jakob Burkhardt die Wurzeln unseres mo-
dernen Staates, wie unseres heutigen Denkens und Fühlens er-
kannt hat, mögen hier bloß drei Gesichtspunkte zur Sprache
kommen, in denen der Geist und die Stellung Boccaccios und in
220
seiner Person das Grundelement des Humanismus besonders
durchsichtig zu Tage tritt. Wir meinen die Ansichten unseres
Dichters über Politil<, Libertinismus und Altertum.
In all diesen Fragen tritt als tiefstes und eigentlichstes Ta-
lent Boccaccios seine unvergleichliche Beobachtungsgabe hervor;
er ist der gottbegnadete realistische Schriftsteller gegenüber den
Idealisten Dante und Petrarca.
Dante, den doch eine so heiße Liebe zur Heimatstadt durch-
lohte, ließ sich vom magischen Glänze der mittelalterlichen Welt-
monarchie blenden und sah das Heil Italiens im deutschen Kai-
ser Heinrich VII. — Petrarca, der Freund und Bewunderer des römi-
schen Republikaners Cola di Rienzo, ermahnte den Böhmen
Karl IV. in begeisterten Worten nach Italien herabzusteigen und
das alte deutsch-römische Reich wieder aufzurichten. — Auch Boc-
caccio vermochte sich in seinen ersten Schriften noch nicht von
den zwei Lichtern des Mittelalters: Papst und Kaiser, loszurin-
gen. Dann aber nach der Rückkehr in die Heimat ward er an-
derer Meinung: da inspirierte er sich an der wirklichen Politik
der Stadt Florenz, die seit einem Jahrhundert auf Freiheit und
Selbständigkeit von Kaiser und Papst hinzielte. So flucht Bocca-
ccio dem deutschen Imperator Karl IV. und verhöhnt grimmig
das deutsch-römische Reich als ein Schattenbild. Unter dem mo-
dischen Petrarca nachgebildeten Gewände eines lateinischen Schä-
fergedichtes behandelt unser Dichter die politischen Aspirationen
seiner Heimat in einer Weise, wie es kein anderer Autor seiner
Zeit tat und die bloß ein Gegenstück findet in dem männlichen
Auftreten der florentiner Gesandten vor dem Böhmen Karl IV.
Der Schäfer Daphnis (Karl IV.) und die Hirtin Florida (die Blu-
menstadt Florenz) führen im Gedichte Boccaccios das folgende
Gespräch :
„Warum verlassest du meine Hürden, o Florida?" „Well du,
o schmählicher Dieb, unsere Herden nicht beschützt, und weil
du die Lämmer auf den Weiden des Alpheus (eine Anspielung
auf die Pisaner, welche Karl entgegen seinen Schwüren sich unter-
worfen hatte) scheußlich misshandelt hast". — „Konnte ich denn
221
meine Herden nicht dahin führen, wohin es mir gefällt?" — Da
bekommt Daphnis die Antwort: „Was haben wir überhaupt mit
dir gemein? Die Alphaer stammen aus Griechenland, deine Wiege
stand in der trostlosen, rohen, ungebildeten Barbarei!" — „Die
Waldbewohner (die deutschen Fürsten) machten mich zum Herrn
über die Völker, die am Indus wohnen, und am sternentragen-
den Atlas, derer die der Ebro bespült und die der schwarze Ga-
ramantes mit seinem glühenden Sande bedroht. All diesen Hir-
ten gebiete ich; was wagst du allein, o unsinniges Weib, mich
zu höhnen?" Darauf gibt Florida unumwunden ihre Ansicht über
das Weltreich des Mittelalters kund: „Mit welchem Rechte be-
hauptest du den Völkern zu gebieten, welche das geblendete
Altertum an die Grenzen des Himmels verlegt oder unter die
Wellen des Meeres, du, dem nicht ein einziges Winkelchen ver-
bleibt, welchem du deine gebrechlichen Gesetzlein auflegen könn-
test? Die Mosel trennt deine „Inder", deine „Getuler*\/bespült
die Elbe, — geh o Zierde der Nordländer und täusche deine
zweizüngigen Teutonen; wohl kennen wir deine hohlen Titel und
deine trägen Pfeile. Lieber wollte ich sterben, als zu erleben, dass
du in Rom den Lorbeer aufs Haupt dir setztest ... Ich habe
dich stets nur gekannt, wie du trügerisch mit Netzen kämpfst, da
du mit den Waffen nichts zu Stande bringst. Einst habe ich dir
geglaubt, dir meine Herden anvertraut, meine Umarmung und
Kuss gewährt — doch die Zeiten sind vorüber und kehren nim-
mer zurück: es war, da Daphnis selbst noch große Pläne hegte.
Und wenn der höchste Apollo (der Papst) deine Schläfe mit dem
Lorbeer umwindet, so soll er es meinetwegen tun, jedem ver-
bleibe sein eigenes Gebiet. Ich bin ein freies Weib, bin keinem
Gatten verbunden, ich widersetze mich dem Ehelager und den
ehelichen Gesetzen, ich bin voll Kraft und bin voll Mut, Bogen
besitze ich und furchtbare Hüter meiner Schafe, die einst die
grimme Lycisca (die römische Wölfin?) gebar und eher werde
ich sterben als die florentinischen Lilien den nordischen Raben
hinzuwerfen."
So ist die friedliche Schäferdichtung zur äußern Hülle ge-
worden, unter der ein Dichter das Hohelied florentinischer Frei-
heit singt und worin ein Realpolitiker seine Heimat auf ihre ei-
genen Füße stellt. Die angestammt guelfische Gesinnung und der
222
Aufenthalt am reichsfeindlichen Hofe von Neapel spielen natür-
lich keine geringe Rolle in diesen kraftvollen Äußerungen. Boc-
caccio war aber so wenig blind für die eigennützige Politik der
florentiner Guelfen und tadelte sie so scharf in andern Gedich-
ten, dass er schließlich sogar in den Ruf eines Feindes der Re-
gierung kam, die man seit Dantes Zeiten mit dem Namen der
Ghibellinen belegte.
Die ganze mittelalterliche Gesellschaft spaltete sich in die
Kasten der Kleriker und Laien. Jene, die Geistlichen und Gelehr-
ten, bildeten die große Studienrepublik; sie verwalteten die Wissen-
schaft und blickten verächtlich auf die große Masse des Volkes:
die Laien herab. Ihre Sprache war das Latein. Die Bürger und
Bauern dagegen sprachen und schrieben italienisch und vergalten
die hochnäsige Überhebung der Kleriker durch beißende Witze
und Schnurren über den dummen Arzt, den bestechlichen Richter,
den unlautern Geistlichen.
Es war ein Bruch mit der ganzen Tradition, dass Dante
seine göttliche Komödie, in die er die gesamte Wissenschaft des
Mittelalters verwob, italienisch schrieb. Die Vorwürfe der Zeit-
genossen blieben ihm darob nicht erspart und eine ganze Anzahl
späterer Kommentatoren schrieben ihre Noten in der sich allein
für wissenschaftliche Zwecke schickenden lateinischen Sprache.
Es spricht daher keineswegs eine durch die frisch erweckten Alter-
tumsstudien neu erzeugte Verachtung des Italienischen, sondern
bloß das mittelalterliche Klerikervorurteil aus den Worten man-
cher Humanisten, die orakelten, es fehle Dantes Werk zur Voll-
kommenheit bloß das lateinische Gewand. Und wie tief und hart-
näckig diese Meinung eingefleischt war, zeigt der Umstand, dass
Boccaccio, nachdem er die italienische Muttersprache mit den
unsterblichsten Werken geschmückt, auch selber wieder dieser
törichten Ansicht verfiel und bloß mehr Lateinisch schrieb. Aus
derselben Wurzel entsprangen auch die schwermütigen Skrupeln
seiner letzten Tage: unser Dichter hielt wahrhaftig die Krätze für
eine direkte Strafe Gottes dafür, dass er dem Pöbel in öffent-
lichen Vorlesungen und in italienischer Sprache die göttlichen Ge-
heimnisse der Divina Commedia entschleiert habe!
223
Mit dieser Animosität zwischen Klerii<ern und Laien haben
es vorweg die Novellen des Decamerons zu tun. Boccaccio fühlte
sich nämlich in der besten Zeit seines Schaffens gründlich als
Laie, nicht als Gelehrter. Seine verschiedenartigen Werke geben
einen wahren Spiegel für das Leben seiner Zeit, besonders aber
dessen, woran die Laienwelt sich ergötzte: da finden wir rüh-
rende Liebesgeschichten und Abenteuerromane, ritterliche Kämpfe
und derbe Possen, in allererster Linie aber die mittelalterlichen
Schwanke vom Ehetölpel und der schlauen Gattin, von schlechten
Pfaffen und Mönchen, von dummen Richtern und Ärzten. Aus
der ungeheuren Masse der novellistischen Matiere roulante
stammten diese Geschichten und wurden zu allen Zeiten vor und
nach Boccaccio erzählt. Was ihn aber von seinen Vorgängern und
Nachfolgern unterschied, war nicht der Stoff, wohl aber die Be-
handlung. Er war der erste und größte wirkliche Künstler, der
die rohen mittelalterlichen Stoffe zu einem unsterblichen Bau zu-
sammenfügte, sie mit einer wunderbar feinen Menschenkenntnis
und Ironie durchsättigte: sie dadurch adelte.
Die schlechten Mönche waren zu allen Zeiten verlacht wor-
den, aber Boccaccios Frate Cipolla, der eine Papageienfeder vor-
zeigt und vorschwindelt, sie stamme vom Erzengel Gabriel, ist
unsterblich geworden.
Dies gilt auch in ganz besonderem Maße von Boccaccios
Weibernovellen. Die Frauen gaben unserem Dichter seiner Lebe-
tag viel zu schaffen. Die Dantebiographie ausgenommen schrieb
er kaum ein italienisches Werk, das nicht irgend eine Liebes-
geschichte enthielte, und sogar nach der Bekehrung zum streng-
sten Puritanismus vereinigte er in einem lateinischen Opus eine
Anzahl Biographien berühmter Frauen. Aus den vielen durch-
sichtigen Anspielungen der Romane können wir unschwer er-
kennen, dass er manche erzählte Liebesabenteuer selbst erlebte. Aber
schließlich ließ sich Meister Giovanni, der mit so überlegener
Ironie die gefoppten Liebhaber und Ehemänner und die tausend-
erlei Ränke und Schliche der Frauen beschreibt, in höchst eige-
ner Person von einer florentiner Witwe schmählich an der Nase
herumführen. Er überschüttete sie nämlich trotz seines bestan-
denen Alters mit glühenden Liebeserklärungen. Aber die Treulose
las seine zartesten Ergüsse lachend einem Andern, dem wahren
224
Liebhaber vor und klatschte des Dichters Herzensgeheimnis in
der ganzen Stadt herum. Da rächte sich Boccaccio durch eine
eigentliche Schmähschrift in Gestalt eines Traumbildes. Der ver-
storbene Gatte der hinterlistigen Witwe erscheint darin dem
schlummernden Dichter und schildert ausführlich alle Laster der
Frauen im allgemeinen und der seinigen im ganz besondern. Die
Beschreibung der Morgentoilette und die komplizierten Opera-
tionen des Schminkens sind dabei von großer komischer Kraft,
aber man fühlt allzu sehr die persönliche Rache, um das Werk-
chen {Corbaccio genannt) als makelloses Kunstwerk zu empfinden.
Dass Boccaccio aber ob all den galanten Abenteuern, die er
erlebte und beschrieb, keineswegs der tiefe Sinn für die Gefühle
der tüchtigen Frauen und Mädchen abging, zeigen manche Novel-
len voll des zartesten Verständnisses für die treue und ehrbare
Liebe. Wie sehr man endlich fehl gehen würde, in Boccaccio einen
Frauenrechtler zu sehen (wie behauptet worden), beweisen die
Worte, die er einer der Erzählerinnen des Decameron in den
Mund legt: „Buon cavallo e mal cavallo vuol sprone, E buona
femmina e mala femmina vuol bastone!" So darf man auch
seine Geschichten über die liederlichen Geistlichen nicht all zu
tragisch nehmen und daraus Unglauben folgern, gleich wie es
verfehlt wäre, aus der kräftigen Sinnlichkeit, mit der die Frauen
und Mädchen um so eingehender beschrieben sind, je weniger
Kleider ihre Schönheit verhüllen, auf einen bösartigen Epikuräer
zu schließen. Boccaccio zeichnete das Leben, wie er es vor sich
sah. Er war dabei vor seiner Bekehrung zwar sicherlich kein
bigotter Mensch, aber ebenso fern lag ihm eine prinzipielle Feind-
schaft gegen Religion, Kirche oder Moral.
Am lehrreichsten ist es, die Wirkung der Altertumsstudien
auf seine Werke zu verfolgen. Schon im ersten Prosawerk, dem
Filocolo, worin er den altfranzösischen Abenteuerroman von Floire
und Blanchefleur frei bearbeitet, lässt er die olympischen Götter
in einer Menge eingeflochtener Episoden als Retter der bedrohten
Helden auftreten. Venus erscheint, die holdseligen Glieder von
einem duftigen Schleier umhüllt, Mars zieht finster und furchtbar
in einer roten Feuerlohe daher. Und da die beiden Liebenden
225
sich endlich in einem Haremsturme finden, und in ihrer durch
tausend Gefahren und Versuchungen treu bewahrten Liebe vor
der Statue Amors die Ringe wechseln, da leuchtet das Götterbild
in überirdischer Schönheit, die Säulen klingen Musik, von un-
sichtbaren Händen werden die antiken Brautfackeln durch das
Gemach getragen. Schließlich erscheinen Venus und Amor in
eigener Person, um sich am Glück der treuen Liebe zu weiden,
und auch die jungfräuliche Diana schließt sich an, aus Freude
darüber, dass Florio und Biancafiore bis zu ihrer Vermählung
rein und keusch geblieben sind. — Daneben finden sich Ovid
nachgebildete Metamorphosen und antike Fabeln in der unförmlich
ausgedehnten und manchmal auch recht langweiligen Schilderung.
Schon in diesem frühesten Werke sehen wir in typischer
Weise den Einfluss der aus tausendjährigem Winterschlafe er-
wachten Altertumsstudien: das neu erweckte Kunstverständnis für
die Formschönheit der Antike. Es ist nicht nur die eigene Sinn-
lichkeit, welche Boccaccio antreibt, seinen Roman mit einer Schar
nackter Nymphen und Göttinen auszustatten, es ist viel mehr das
Entzücken des Künstlers an der Schönheit des Menschenkörpers.
Und wir erkennen ferner, dass das Altertum nicht als anti-
quarische Pedanterie in Boccaccios Werke einzieht, sondern dass
es die verwandten Kräfte in seiner Dichterseele auslöst, sie durch
das edle Vorbild erst zur Imitation, dann zur Schöpfung zwar
ähnlicher, doch frei und selbständig empfundener Kunstwerke
anspornt. Wenn in diesem frühesten Romane die Nach-
ahmung Ovids noch allzu schulmäßig erscheint, so zeigen die
wundervollen Schilderungen späterer Werke, wie des Ameto, dass
ihm die Farbenglut der antiken Dichter nunmehr aus dem eige-
nen Herzen quillt. Im Nlnfale Fiesolano endlich ist Boccaccio
zur vollen Entfaltung seiner künstlerischen Eigenart gelangt: mit
derselben Meisterschaft, wie ein alter Klassiker handhabt er die
Kunstform des Idylls und schafft in freier Erfindung ein Gedicht
voll von unvergänglichem Liebreiz.
Und dieser Werdegang unseres Dichters ist auch der Werde-
gang der ganzen Renaissancebewegung. Aus ästhetischer Freude
an den Kunstwerken der Antike studieren die Humanisten das
Altertum, flechten sie erst einzelne Bilder, Sentenzen und Rede-
wendungen in ihr mittelalterliches Latein, worin sie die Proble-
226
me des Trecento und Quattrocento behandeln. Manche bleiben
schon auf dieser Stufe stehen, die meisten dringen einen Schritt
weiter zur direkten Imitation der antii<en Schriftwerke vor. Viele,
die pedantischen Schulmeister voran, die kleinen und mittelmäßi-
gen Köpfe, blieben nunmehr in dieser Nachahmung stecken. Die
großen Geister und die wahren Künstler überwinden auch dieses
Stadium und gelangen, geläutert und gereift, ohne Schaden an
ihrer Originalität genommen zu haben, nachdem sie das Beste
der antiken Kunst in sich aufgenommen und verarbeitet, zur höch-
sten Entfaltung ihres Genius. So tat es die lange Reihe der
Großen von Boccaccio bis zu Ariosto und Macchiavelli.
Das Gemeinsame all dieser Männer war nicht die Weltan-
schauung oder Lebensauffassung, die politischen oder religiösen
Ansichten: all das ging so weit auseinander wie die geistigen
Anlagen des Einzelnen, sondern bloß die künstlerische Freude an
der Antike, das inbrünstige Streben, aus dem Schutt der Vorzeit
die Denkmäler des Altertums zu befreien und aus ihnen zu lernen.
Nach dem Grad des Eindringens in die Antike und der Assi-
milationsfähigkeit dagegen, nach Geschmack und Neigungen, po-
litischem und religiösem Glauben gingen sie — und das ist der
einzige Individualismus der Renaissance — weit auseinander.
*
Giovanni Boccaccio ist das Bild der merkwürdigsten Gegen-
sätze: frech und fromm, gerieben und naiv, melancholisch
und lebensfreudig, ein gottbegnadeter realistischer Künstler, der
sich stets zur idealistischen Schriftstellerei zwingen will. Diese
letzte Seite, die seiner tiefsten Naturanlage so sehr zu wieder-
sprechen scheint, ist eine Folge seiner rührenden Verehrung für
Dante und Petrarca, neben denen er sich zeitlebens — und zwar
völlig mit Unrecht — bloß als kleiner Stümper vorkam.
Neben einer beschränkten Anzahl anstößiger Novellen im
großartigen Werke des Decamerons enthält sein Lebenswerk so
viel Ernstes und Schönes, sein Charakter, neben menschlichen
Schwächen, so viel Starkes und Männliches, dass wir ihn an sei-
nem 600. Geburtstage nicht nur als den größten Novellisten aller
Zeiten, sondern auch als einen guten und großen Menschen ver-
ehren dürfen.
ZÜRICH E. WALSER
227
ROBERT UND HEDWIG MARIA
EINE DICHTUNG IN SECHS GESÄNGEN VON J. BÜHRER
«
DRITTER GESANG
Während also Vergangnes bedenkend und Kommendes fürchtend
Hinter geschlossnen Gardinen der junge Redaktor verweilte,
Saßen im traulichen Hinterstübchen des gastlichen „Bären"
Vorne am Ecktisch beim Fenster, das durch ein Laubengeranke
Nach der Landstraße hinsieht, vier ältere Männer beim Weine.
Auf dem geblümelten Tapis im weißgescheuerten Tischblatt
Lagen in Häuflein die Karten und vollgekreidet die Tafel.
Strählchen sonnigen Lichtes, dem Laubgeranke entgleitend,
Setzten Spieglein in Flasche und Gläser voll goldenen Sechsers,
Spieglein in's weißliche Linnen der Hemden zweier der Männer,
Saß doch da Christel! Zbinden, rocklos mit offener Weste,
Ebenso Glauser, der Bauer. Verwetterter Bronze vergleichbar
Trat dessen Kopf mit der machtvollen Stirne, den buschigen Brauen
Bartlos, von herben Linien durchfurcht, aus dem Eichengetäfel.
Viermal schon hatte die Volkswahl Glauser zum Ratsherrn berufen,
Auch als Schulpräsident und Viehprämierungsinspektor
Trug er Würden und Bürden; indess: sein schönstes Besitztum
Blieb der Sturbacherhof, das beste Gehöfte der Gegend.
Dritter im Bunde war Häflig, der reiche Verleger der Zeitung:
Mann der Reklame, hatte er sich mit emsigem Fleiße
Aufgeschwungen vom ärmlichen Setzer zum hablichen Bürger;
Stunden im Umkreis fand man sein Blättchen in jeglichem Hause.
Anfangs Redaktor, Setzer und Drucker und alles in allem.
Konnte er heute gar wohl die neusten Maschinen sich leisten,
Setzer und Drucker nach Noten und selbst 'nen studierten Redaktor.
Gerne erzählte er jedem im hohen Diskant und ausführlich
Wie so weit er's gebracht, und was ein „seif made man" brauche.
Endlich saß da Ramseyer, der freundliche kleine Drogiste.
Längst war das Spielchen zu Ende und mählich die Rede versandet,
Die das Ereignis am Schulhaus, den heutigen Wahltag umflossen.
Fliegen hörte man summen und Stimmengewirr durch die Wände,
Wartete jeder doch still, ob nicht bald der andre was sage.
Endlich tat denn auch Zbinden gar wichtig den Mund auf — da schnurrte
Unten ein Automobil und im Lärm erstickte die Rede.
Husch — da wars schon vorüber. Just wurde die Türe geöffnet
Und mit dem Zugwind drang auch ein weißlicher Staub in die Stube.
Fluchend fuhr Zbinden empor: „Verwünscht und verwettert, schon wieder
Solch ein vergifteter Lindwurm! Was macht man da nur?" — „Keinen
Zugwind !"
228
Sagte bedächtiglich Glauser, erhob sich und griff nach dem Flügel.
Rflckwärts schiebend den Vorhang, sah er hinaus auf die Straße.
„Ist das," so frug er sich wendend, „nicht deine Tochter, Drogiste?"
Eilig kam der herbei und nickte, auslugend, „ei, ja doch."
„Schöner noch ist sie geworden, seit sie zurück aus dem Welschiand,"
Sagte leiser der Bauer, „gar stattlich steht ihr die Tracht an!
Zwar, sie war immer ein pusberes Mädchen! Heut kann ich's ja sagen:
Uli hatte ein Auge auf sie ; mir ist's nicht entgangen.
Meinst du Ramseyer, hätt' ich wohl nein gesagt, hä? — Ah, solches
Sohnsweib, ich würd' wieder jung! Abei anders gehts, als man hoffet!
Mittwoch Werdens zwei Jahre, dass sie ihn brachten — erschlagen!
Nimmermehr durfte der Fuchs vor's Auge mir kommen. Ein lammfromm
Tier sonst! 's war schwül an dem Tag wie noch nie, das Geschmeiße
der Bremsen
Tat wie besessen und fraß die Pferde fast lebend. Geladen
War just ein Fuder, und Uli wollt' an die Wage den Zugstrick
Legen; da hieb der Fuchs hinten aus und traf ihn zur Schläfe.
Eben gedachte ich ihn mit dem Hof zu betrauen, — nun muss ich
Freudlos Fremden die trefflichen Felder und Ställe bestellen.
Mag doch der Doktor, der Franz, sich nicht mehr zum Bauern bequemen.
Sag du, schick mal dein Mädchen hinaus nach dem Sturbacherhofe.
Sicher, mein Weib wird gern mit dem Mädchen ein Stündlein verplaudern,
Das sie als Tochter so gerne begrüßt hätt', schick' sie noch heute!"
Freundlich sagte der Andre, er wolle den Wunsch ihr bestellen,
Redete weislich dann noch von der neidischen Tücke des Schicksals,
Dem zu entrinnen keiner vermöge, wie klug er's bedenke.
Während nun also die beiden am Fenster der Nachbarschaft pflogen,
Fällte Zbinden am Tische dem neuen Vehikel den Richtspruch:
Nimmermehr sei es zu dulden, dass in so rasendem Tempo
Gottvergessene Protzen, nur Schweife von Staub und Gestänken
Hinter sich lassend, den stillen Frieden der Dörfer verhunzen.
Schlimmer noch sei's als zu Zeiten der Vögte. Zu Gunsten der Herren
Werde gebogen das Recht der Straße, des Bauern Besitztum!
„Schreib doch," so schloss er dem Zeitungsverleger die heftige Rede,
„Schimpf doch mal tüchtig auf das Gesindel der Straße im Blättchen!" —
„Eben," lachte drauf jener im hohen Diskant durch die Nase,
„Dazu nun wären wir recht. An den Fehlern der andern soll man
Rühren, aber wenn ihr des nachts auf der Straße die Wagen
Ohne Lichter lasst stehn, einen Batzen an Öl zu ersparen.
Ja, da heißt es dann schweigen ! Übrigens schreibt der Redaktor
Jetzt meine Zeitung." — „So," schrie da Zbinden in grimmer Erregung,
„So, also der schreibt die Zeitung, und du hast nichts mehr zu sagen?
Weißt du auch, wie du dran bist mit dem? Was war das am Samstag?
Schreibt der Mensch 'nen Artikel: ,Die Klage des Knechtes'. Des Knechtes!
War er je Knecht? Hat der eine Ahnung, was heute das Bauern?
229
Spritzt von der Schule herein und will uns die Landwirtschaft lehren!
Wahrlich zum lachen !" Nun stieg auch dem andern die Galle ins Knopfloch.
„Sachte nur!" rief er, „ich habe schon Leute getroffen, die waren
Kahler am Schädel als er um den Mund ist und hatten kein Zehntel
Seiner Erfahrung. Dass euch der Artikel nicht liegt, das versteh ich,
Recht ist er doch. Er schrieb jüngst: Nichts empört so wie Wahrheit!"
Das so erregte Gerede hatte die beiden vom Fenster
Wieder zum Tische gerufen. Geziemende Hilfe erwartend
Wandte sich Zbinden nun also zum würdigen Freunde und sagte:
„Rede jetzt du einmal Glauser, mich dünkt schier, du seiest ein Bauer,
Wissest so etwas, Bescheid von der Lebensbedingung des Landwirts,
Freilich nicht ganz so vortrefflich, wie so ein studierter Redaktor!
Gleichwohl, wie stellst denn nun du dich zu dem so gerühmten Artikel?"
Glauser drehte bedenklich sein Glas in der Rechten, entfischte
Sacht mit der Spitze des mittleren Fingers ein Mücklein dem Glase
Schlenkerte heftig die Hand nach dem Boden und sagte bedächtig:
„Du — ich las ihn noch nicht." Potz Strahl, wie fuhr Zbinden vom Stuhl auf.
„Gritli!" schrie er fuchswütig, weil ihm der Zuzug entgangen,
„Gritli, bring mal das Volksblatt vom Samstag." Hinten am Buffert
Läutete Gritli mit Tellern und Gläsern. Als Zugwind entstanden
War es ins Stübchen getreten, dem es nun eilig enthuschte.
Glauser dagegen in un erschütterter Ruhe erhob sich.
Zog seine Sackuhr und meinte: „Wie habt ihr's? Ich hülfe nun gehen!"
„Geht meinetwegen!" schrie tobend der Präses, „ich weiß mir zu helfen!
Stöcklein werd' ich schon finden, dem Herrn auf die Finger zu klopfen!
Glaubt ihr, ich werde es dulden, dass man den Geist der Revolte
Selbst in das bernische Bauernhaus trage? Der schwächliche Jammer
Großer Fabrikherrn, die nicht mal im eigenen Hause mehr Meister,
Bleibe uns ferne! Dem Anfang gilt es zu wehren! Ich sehe
Klarer als ihr und weiß, was bei dem da die Glocke geschlagen!
Merkt! Heute Abend noch, in der Versammlung der Milchproduzenten, ,
Werd' ich mal reden, und hol' mich der Teufel, wenn ich's nicht durchsetz'
Dass wir, hör' Häflig, samt und sonders dein Blättlein abstellen!"
Sprachs und verschwand mit gewaltigen Schritten hinter der Türe.
„Aber auch Zbinden!" rief Glauser versöhnlich, „manch trefflicher Meister
Schnitt schon ins Guttuch, man hing ihn nicht gleich !" Er predigte Wänden.
VIERTER GESANG
Unter den kugligen Kronen zweier Akazienbäume
Barg sich im dämmernden Schatten das steinerne Trepplein des „Bären".
Nur auf der untersten Stufe lag grell und fast schmerzend die Sonne,
Mitten darauf vertat sich behaglich ein grünliches Echslein.
Husch — da glitt es davon. Die Fliesen erdröhnten von Schritten.
Ernst und gemessen entstiegen die drei aus dem Stübchen dem Hause,
230
Schritten in Schweigen versunken die Dorfgass hinunter, bis Häflig
Plötzlich erkannte, jetzt tue reden ihm not, und kräftig
Setzte er ein: Was das nun sei von dem Zbinden! Auf die Art
Sei ihm noch keiner gekommen, der solle nur drohen und krächzen!
Wohl, das war' ja noch schöner! So lang seine Zeitung sein eigen,
Werde die Weise gefiedelt, die ihm die richtige scheine.
Unbekümmert darum, ob's Hähern und Elstern so passe! —
„Weise gesprochen, Verleger!" meinte stillstehend der Bauer:
„Zeitungskönige sind ja wohl Herrscher im Reich der Gedanken;
Aber es scheint, dass Revolten selbst vor papierenen Kronen
Ehrfurcht nicht haben, noch Schrecken !" Doch, unterbrach er sich selber,
Beinah' hätt' er's vergessen, er sollte noch rasch beim Drogisten
Mittel erheben, der Bläss sei vom Kalbe gekommen und tuble.
Dienstig war der Drogiste bereit und so schieden die beiden
Grüßend von Häflig, der nickte ein paar mal und rannte dann eilig
Einzig die Dorfgass hinunter; doch nicht hundert Meter durchmessen
Eilends im Laufschritt, begann er sich hastig im Barte zu kratzen,
Weniger schleunig zu gehen und den steifgebügelten Hutrand
Bald in den Nacken, bald in die Stirne zu rücken. Da plötzlich
Zog er auf's neu' wieder aus, umschiffte mit schlenkernden Armen
Scharf einen Holzzaun, trat eine Tür auf, lief durch ein Gärtlein,
Schnellte die Stiege hinauf, die außen am Häuschen emporstieg,
Rannte die hölzerne Laube entlang und ohne zu pochen
Trat er in Roberts, seines Redaktors Stübchen. „Potz Wetter,
Räuchert Ihr Euch bei lebendigem Leibe?" entfuhr es da Häflig.
„Vielmehr, ich bau' mir den Himmel aus Wolken!" gab Robert, noch immer
Still in den Lehnstuhl gelehnt, dem Besucher zur Antwort. „Hier setzt Euch !
Seid nicht verlegen, Verleger, freuet Euch aber des Wunders:
Einmal fand einer von Euerer Gilde ein Plätzlein im Himmel!"
Häflig begriff nicht, er lachte der Spur nach. „Immer bei Laune,"
Macht' er, „Euch eignet ein glücklich Gemüt, Ihr seid zu beneiden."
„Glück und Gemüt — und glaubt Ihr, dass die je zusammen sich finden?"
Frug in versonnenem Ernst der junge Redaktor am Schreibtisch.
„Traun, je gemütsloser einer, so glücklicher, lehrt die Erfahrung;
Aber," so fügte er munterer bei, das Buch vor sich schließend,
„Sagt, was führt Euch zu mir?" — „Ich habe," nahm Häflig die Rede,
„Mehrfach vernommen, welch schöne Tat Ihr getan diesen Morgen,
Eurer nicht schontet, ja, wie ich sehe, Euch selber verletzt habt."
„Schlimm ist das nicht," entgegnete lächelnd der andre, „ich werde
Schere und Feder schon führen können am Montag; das bisschen
Stroh da (er wies auf die Stirne) hat auch nicht Feuer gefangen.
Also war' alles intakt, Ihr braucht Euch nicht weiter zu sorgen."
„Freut mich, freut mich für Euch," so schmunzelte Häflig und kraute
Eifrig im Bart. Er suchte ein Weglein, das heimlich verstohlen
Ihn zu dem Plätzlein geleite, das Fernsicht besaß, wie er wünschte.
231
Wie er auch suchte, das Pfädlein ließ sich nicht finden. Er platzte:
»Sagt, was Ursach gabt Ihr dem Zbinden, dass er Euch Feind ist?"
»Mir?" entgegnete stutzig der andre, „dass ich nicht wüsste!
Zweimal ist heute davon nun die Rede, so werdet doch deutlich 1"
„Eben komm' ich vom Bären, er schimpfte auf Euch und die Zeitung!"
„Schimpft er? Das wäre Gewinn," entgegnete ruhig der jüngre.
„Meint Ihr? Ihr könntet Euch irren!" gereizt gab es Häflig zur Antwort.
„Möglich, doch scheint mir, es ist schon Gewinn, einen Gegner zu haben.
Einen, der anspornt, schärfer zu denken und tiefer zu sehen."
„Lasst nun die Scherze!" rief da in wachsendem Zorn der Verleger.
„Merkt, die Sache ist ernst, es werden die Milchproduzenten
Abends im Bären sich treffen, und Zbinden, so droht er mir eben,
Will die versammelten Bauern gleich gegen die Zeitung verhetzen.
Wisst Ihr den Trumpf, den er ausspielt? Der verwünschte Knechteartikel.
Alle fallen herein, am Geldsack lässt keiner sich kitzeln!"
Robert hatte eine der Pfeifen ergriffen, sie stopfend
Sprach er: „Der Knechteartikel vertritt das Int'resse der Bauern.
Wie, war die Frage, begegnet der Landwirt dem Mangel an Knechten?
Dadurch zum Teil, dass er Billiges nicht verweigert, die Antwort."
„Ja," entgleiste nun Häflig die Stimme, „jedennoch, sie sagen,
Hetzen hätten wir wollen, hetzen, die Knechte aufhetzen!
Selbst der Glauser, der Großrat, scheint mir da mittun zu wollen.
Pah, ich merk' es ja wohl, was hinter dem allem verborgen.
Keiner mag es mir gönnen, dass ich mein Schäflein im Trocknen.
Einig sind sie wie Kletten, wenn's gilt, dem Handwerk zu schaden!"
„Ob es das gilt?" warf Robert, die Pfeife entzündend, dazwischen,
„Vielmehr, so scheint mir, ist wohl die Frage ..." — „Ach Frage, was
Frage?"
Brach ihm Häflig ins Wort, „die Frage ist einzig nur diese:
Ist der Protest zu vermeiden? Wenn nicht, so geht uns ein Haufen,
Sicher ein Schock Abonnenten zum Teufel. Ich rechne mit tausend!"
„Tausend sind viel, doch ließe sich das zur Not wohl ertragen,"
Meinte kalt der Redaktor im Lehnstuhl. „Ertragen, ertragen,"
Giftelte hoch im Diskant der empörte Verleger. „Ich pfeif drauf!
Tausend barzahlende Kunden für fünfzig verläpperte Zeilen?
Fällt mir nicht ein, im Schlaf nicht! Was kümmern denn mich Eure Knechte!"
„Freilich," entgegnete Robert, das tobende Männlein verfolgend,
„Freilich, auch so kann man's drehen: lässt Ihr Euch nicht kitzeln am
Geldsack,
Braucht's der Verleger auch nicht zu tun. Hübsch Gleichheit für alle."
„Richtig, da seht Ihr's!" rief Häflig entzückt die Hände sich reibend,
„Dacht' ich's ja doch, Ihr ließet gewiss mit Euch reden und sicher
Wisst Ihr jetzt einen Ausweg, auf dem wir der Patsche entrinnen?"
„Oh, nichts leichter als das," versetzte leichthin der andre,
„Harmlos erklären wir einfach, es hätte der Knechteartikel
232
Nur ironischen Sinn, wir schätzten uns überaus glücklich,
Heut aus berufener Feder den Nachweis erbringen zu können,
Dass auch kein Bröselein Ernst in dem Samstagartikel enthalten."
„Bravo! Bravo!" schrie Häflig. „Doch — die berufene Feder?"
„Könnte ja ich zur Not einmal führen, nicht wahr? Nur den Standpunkt
Braucht man zu ändern und Berge sind Hänge!" — „Verwünscht auch,
ein Feiner
Seid Ihr wahrhaftig. Und wollt Ihr das tun ?" frug Häflig ganz gierig.
„Bin ich ein Hundsfott?" schrie Robert und schnellte vom Sitz auf, ingrimmig
Lief er davon und setzte die Türe ins Schloss, dass es schallte.
FÜNFTER GESANG
Hinter dem Dörfchen den Hügel zur Linken krönt eine Linde.
Müd und erschöpft erreichte sie Robert. Da lag nun
Herrlich und friedlich die Welt ihm zu Füßen. Danieden das Dörflein
Traulich im Fruchtbaumwald, wie das Kind im Arme der Mutter
Lag das farbige Tal voll Spenden und Segen. Dahinten,
Schützend und groß, ein Denkmal der Gottesgedanken, die Berge.
Schön war die Welt, warum nur ließ sich so schwer darin leben?
Manchmal, wenn er da unten im Süden, die Freundin am Arme,
Funkelnde Nächte durchwandert und selig Genügen in füllte.
War ihm, als hätt' ihn ein Stimmlein gerufen aus Fernen, vertraulich.
Wurde bald lauter, dann laut, zerbrach ihm sein Glück und schwieg dann
nicht :
Schaffen und mittun und geben, geben so viel er vermochte!
Also mahnte das Stimmlein, und willenlos fast gab er Folge.
Aber wie war das so schwierig! Kleinlich erbärmlicher Alltag,
Nichtigkeit ohne Belang vernebelten jegliche Fernsicht.
Schwer ist's im Nebel zu fechten, jedwede Gestalt kann ein Feind sein!
Furchtbar ist so ein Krieg, drin der Freund den Freund nicht erkennet.
Grübelnd stand Robert am Baumstamm. Wie lieb in wenigen Monden
War ihm das Dörflein geworden, nun musste er wiederum wandern !
Horch — da summte ein Lied durch den Baum. Da oben die Straße,
Aufrecht und heiter schritt Hedwig Maria, den Hut an dem Arme.
Bis hinterm Hubel die flatternde Schürze verschwunden sah Robert
Hinter dem Baumstamm verborgen ihr nach. Dann lachte er bitter:
Haben sie dir schon wieder den Garten der Träume verwüstet?
Wirst du nie müde zu bauen? Nach all den stolzen Palästen
Ging auch das kleine, hölzerne Häuslein in Trümmer! Das Häuslein,
Still und bescheiden, eins unter vielen, vor das du dich setzen
Wolltest am Abend, dein Kind auf den Knien, und ihr wolltet ja reiten.
Du und dein Bub, nach dem Kleinkampf des Tags zurück in die Kindheit,
Weit in das Land der unendlichen Fernen ! Ja, du wirst reiten —
Da in dem Züglein da unten, wie jetzt wird es rauchen und pusten. —
233
Irgendwohin wird's dich tragen. Irgendwohin! Wen wird's kümmern?
Traurig verließ er die Baumbank. Als er die Straße erreichte
Traf er auf Glauser, den Bauern, der langsam den Hügel erstiegen.
„Grüß Euch! Spazieren?" frug dieser freundlich, „ein prächtiger Tag heut!
Kommt noch ein Stücklein mit mir! Wie gehts Euern Händen? Ramseyer
Hat mir erzählt. Das war wacker! — Was meint Ihr zum heutigen Wahltag?
Wird er das bringen, was wir erhoffen? Ihr zuckt nur die Achseln?
Recht so, mag wer da will prophezeien. Es ist kein Verlass mehr
Auf unser Volk, die Parteien verlieren an Kraft und Bedeutung.
Niemand hält mehr Parole. Heißt das, keiner der unsern!
Ja, die andern, die glauben, sie hätten nur zu gewinnen,
Halten stramm zu der Fahne, indessen wir uns verzetteln!"
Robert verbarg ein ironisches Lächeln. „Es ist, wie Ihr's darstellt."
Machte er kurz. Doch Glauser fuhr fort: „Und wisst Ihr warum das?
Darum, weil einfache Menschen einfach sehen, will sagen,
Dass, je beschränkter der Geist, so leichter die Autorität; und
Namentlich dann ist sie leicht, wenn sie Eigennutz predigt und Vorteil!
Anders, je mehr an eigenes Denken gewohnt ist ein Bürger,
Um so viel schwerer wird es, ihn der Partei zu erhalten.
Hält sich doch jeder für weise, die eigene Meinung für besser;
Eiferig sucht er nach Mängeln, und weder Zeitung noch Reden
Streiten ihm ab, dass er nicht viel besser das Volkswohl verstanden!"
„Volkswohl, Herr Großrat?" entgegnete Robert in Grübeln versunken,
„Weiß ich doch nicht, ob nicht zu hoch Ihr denkt von dem Bürger.
Fast will mir scheinen, auch der gebildete Mann, der vermöchte
Wohl die Strömung der Zeit auf all ihre Folgen zu prüfen.
Lasse gerne sich leiten durch Rücksicht auf eigenen Vorteil.
Weil nun just jeder in jedem nach kleinlichem Eigennutz jaget,
Drum ist gebrochen die Macht des großen Gedankens: das Volkswohl!"
„Hasst Ihr den Eigennutz so?" gab Glauser sinnend zur Antwort,
„Wisst, wir Bauern denken da anders; uns lernt man von früh auf
Alles und jedes zu nützen, und nur mit unendlicher Arbeit
Wird uns ein Nutzen, da lernt man den kleinsten Vorteil zu schätzen.
Und im Gewerbe, so glaub' ich, im Handel auch ist es nicht anders.
Darum, so scheint mir, kann man nicht Volkswohl vom Eigennutz trennen."
„Soll man auch nicht," rief Robert, „es war mir das tiefste Erlebnis,
Als ich, der nichts noch erfahren, als einzig die Güte der Mutter,
Voll Ideale in's wirkliche Leben trat und erkannte,
Dass nicht die Güte, einzig und immer der Eigennutz herrschte.
Aber der Herrscher war auch der Schöpfer von allem Erreichten.
Schöner als die erdichteten Sagen, drin Götter den Menschen
Almosen spenden und zarte Gefühle, erschien mir die Wahrheit:
Wie durch den Kampf um die Nahrung aus Wilden Menschen entstanden,
Wie der Drang nach Besitz das Gehirn zum Denken erzogen.
Wie mit dem schärferen Denken Gefühl und Empfindungen wuchsen,
234
Bis das Gefühl dann auch des Bekämpften Leiden empfunden.
Jetzt war ein neuer Herrscher geboren! Hoch im Gebirge
Zwangen verheerende Bäche und wilde Lawinen ein Völklein
Einig zu sein im Kampf gen die gastlose Erde. Da war schon
Ganz von selber der Staatszweck gegeben, und höchstes Gebot war:
Jeder bedenke den Vorteil des Ganzen, dies Denken sei Herrscher!
Aber die schöpfende Kraft des Besitzes verlangt einen Wächter,
Soll sie nicht selbst ihre eigene Schöpfung vernichten. Im Nahkampf
Blutiger Schlachten gebietet nichts als die Selbstsucht. ,Vernichte!'
Schreit sie, »sonst wirst du vernichtet.' Parteien und Zeitungen müssten
Wachen im Kampf um Gewinn, den Nahkampf verhüten, ermahnen:
Nicht vernichten! Erschaffen! Es leiste der Letzte sein Bestes!
Dann — dann ist auch der Letzte ein König im Volke der Schaffer 1"
„Kühn," lachte Glauser, „doch sagt mir, haltet Ihr nicht es für klüger,
„Euch in das Leben zu schicken, statt rufend am Ufer zu stehen.
Mitzuschwimmen im Strom und als Teil einer Strömung zu wirken?
Glaubet ihr, Euere Stimme durchdringe das Wogengebrause?
Aber als Teil einer Strömung bestimmt Ihr mit bei der Richtung! —
Doch, da bin ich zu Hause, ich rate, wir nehmen ein Fläschchen
Beaujolais, rauchen und plaudern noch eins in der Stube, so kommt doch!"
Gut einen Steinwurf zurück von der Straße stieg aus dem Baumgrün
Schwärzlich und massig ein Dach, von steigenden Pappeln behütet.
Weißliche Wolken und Blau und der summende Laut in der Ferne
Qlockender Kühe schwebte herüber. Dem Wege zum Hofe
Folgten die beiden. Das Dach stieg vom Boden und zwischen den Stämmen
Guckten Fenster und Pfosten, ein steinerner Brunnen herüber.
Glauser pfiff durch die Zähne, da stob mit federnder Rute
Binz, die Hündin, den Weg her, weit hinter ihr hinkend und belfernd
Folgte Barry, die Welpe, die linkisch den Meister begrüßte.
Tüchtig die Ohren ihm krauend, sprach da der schweigsame Bauer
Lang auf den Hund ein, und es lag ein Klang in der Stimme,
Kindlich und herzlich, den nie an vernünftige Wesen man waget.
Närrische Streiche des jungen Hundes erzählend erreichte
Glauser mit Robert die Hofstatt. Vom Dach und den Bäumen beschattet
Lag der peinlich gescheuerte Platz, von Tauben betrippelt.
Lag der gezöpfelte Miststock, voll Mücken und sonniger Flecken.
(Schluss folgt)
DDD
235
DIE SCHWEIZERISCHE
TOTALAUSWANDERUNG
Alle Jahre wandert, besonders aus den Landwirtschaft trei-
benden Kantonen, eine beträchth'che Zahl unserer jungen Bevölke-
rung aus. Ihr Ziel ist vorwiegend Nord- oder Südamerika. In
der Regel sind es unternehmensfrische, kräftige Naturen. Ja es
scheint, dass in manchen Gegenden der Kern der kommenden
Generation nur noch den einen Zug kennt, den nach dem fer-
nen Westen, in das Land des glänzenden Glückes und der ver-
meintlich besten Aussichten auf Erfolg. Diese immer mehr um
sich greifende Erscheinung sollte unser Volk, Bund, Kantone und
Gemeinwesen zu vermehrtem Aufsehen mahnen. Denn diese To-
talauswanderung ist für uns nicht nur von hoher wirtschaftlicher
Bedeutung, sondern ebensosehr eine nationalpolitische Frage.
Den vom schweizerischen Auswanderungsamt freundlich zur
Verfügung gestellten statistischen Aufzeichnungen entnehme ich,
zur direkten Veranschaulichung, folgende Angaben:
Aus der Schweiz überseeisch ausgewandert sind in den Jahren :
1912 1911 1910 1909 1908
Personen
5871
5512
5178
4915
3656
Im Jahre 1912 zeigen die Kantone folgende Ziffern:
Personen
Personen
Zürich
773
Schafthausen
54
Bern
1102
Appenzell A.-Rh.
55
Luzern
147
Appenzell I.-Rh.
5
Uri
28
St. Gallen
541
Schwyz
248
Graubünden
152
Obwalden
69
Aargau
204
Nidwaiden
16
Thurgau
162
Glarus
61
Tessin
696
Zug
67
Waadt
231
Freiburg
53
Wallis
166
Solothurn
99
Neuenburg
244
Basel-Stadt
347
Genf
233
Basel-Landschaft
118
Von den 5871 überseeischen Auswanderern des Jahres 1912
sind 4399 Schweizerbürger. Vom Rest 1472 Ausländer genossen
zum Großteil ihre Erziehung und Ausbildung in der Schweiz.
236
5601 Personen wählten als Ziel die beiden Amerika:
Vereinigte Staaten Kanada Brasilien Argentinien
4195 209 228 969 Personen
Nach Berufsklassen eingeteilt ergibt sich folgendes Bild:
A. Gewinnung von Naturerzeugnissen 1655
B. Veredlung von Naturerzeugnissen 1934
C. Handel 855
D. Verkehr 94
E. Allgemeine öffentliche Verwaltung, Rechtspflege,
Wissenschaft, Kunst 351
F. Persönliche Dienste (Dienstboten) und andere
nicht genau bestimmbare Berufstätigkeit 358
G. Studenten. Rentner, Private und andere Per-
sonen ohne Beruf 624
5871 Personen
Diese Zahlen beweisen, dass wir vor einer wichtigen und
ernsten Frage stehen. Hier nach Mitteln zu forschen, um eine
Besserung in diese Erscheinung zu bringen, ist ebenso notwendig
oder noch notwendiger als die Lösung der Ausländerfrage selbst.
Wir dürfen mit Bestimmtheit annehmen, dass namentlich die 3589
Auswanderer der beiden erstgenannten Berufsklassen bis auf
wenige 7o dem Heimatland für immer den Rücken kehren.
Suchen wir nach den Ursachen der großen Auswanderung,
so drängt sich uns zuerst die Frage auf: Finden die jungen Leute
in der Heimat ihr Auskommen nicht mehr? Wird ihnen ihr Fort-
kommen so erschwert, dass sie besser tun auszuwandern? Oder
folgen sie dem rein materiellen Triebe, im fremden Lande bald
reich zu werden?
Dazu wäre zu sagen, dass sich die Erwerbsverhältnisse gegen
früher doch gebessert haben, dass sie nicht mehr zur Auswande-
rung zwingen sollten. Man darf behaupten, die Nachfrage nach
gelernten Arbeitskräften sei in der Schweiz größer als in manchen
Nachbarländern, da viele Industrien und Gewerbe gezwungen
sind, geschultes Personal einzuführen. Und die Landwirtschaft
vieler Kantone, die eine starke Abwanderung aufweisen, jammert
ja stets über Mangel an brauchbaren Arbeitskräften.
Die Frage einer Erschwerung der Arbeitsgelegenheit ist schon
schwieriger zu beantworten. Es gibt Gegenden, die zu gewissen
Jahreszeiten Überschuss an Arbeitskräften haben, zum Beispiel
237
im Winter ländliche und Gebirgsgegenden mit starken Familien.
Im gesamten Arbeitsgebiet der Schweiz ist aber außer Krisenzeiten
selten Arbeitsmangel zu verzeichnen ; besonders nicht in den ge-
lernten Berufen. Es ist eben ein großer Fehler der Bauernbe-
völkerung, dass sie nicht mehr von ihren überschüssigen Arbeits-
kräften dem Gewerbe zuwendet. Das Zuströmen ausländischer
Arbeitskräfte aber bringt uns in eine gewisse Abhängigkeit vom Aus-
lande ; es zersetzt unser Volkstum und unsere Eigenart. Wo unsere
Bevölkerung selbst ein großes Gebiet beherrschen und bearbei-
ten könnte, lassen wir es den Fremden offen. Diese finden ihr
gutes Auskommen und beweisen damit, dass es nur an unserer
Einsicht fehlt, ein Gleiches zu tun. Wenn wir uns im Heimatlande
richtig und rührig wehren, brauchen wir nicht auszuwandern und
haben neben dem Erfolg, ein bequemeres und freundlicheres
Leben. Das haben mir schon viele Ausgewanderte bestätigt.
Nun die Aussicht auf rasches Reichwerden, der trügerische
Glaube, in wenigen Jahren als gemachte Leute heimkehren zu
können. Das sind ohne Zweifel trügerische Hoffnungen. Praktische
Erwägungen kommen daneben weit weniger in Betracht und be-
gründete Vorstellungen von den Schwierigkeiten, die den Aus-
wanderer im fremden Lande erwarten, findet man bei solchen
Leuten nicht.
Können und sollen wir tatenlos zu sehen, wenn uns soviel
gesunde Volkskraft verloren geht? Sollen wir ruhig bleiben,
wenn wir wissen, dass 90 7o der Ausgewanderten in ihren schö-
nen Hoffnungen getäuscht werden und ein beschwerliches, freu-
denloses Dasein fristen? Richtige Aufklärungsarbeit tut hier Not.
Mit dem gedankenlosen Gewährenlassen muss da entschieden ge-
brochen werden, wollen wir nicht unserem Volkstum schweren
Schaden zufügen. Die Nation hat das höchste Interesse, diese
unternehmensfreudigen Kräfte für uns zu erhalten: das wäre auch
ein gutes Stück Heimatschutz.
Kein Staat bringt größere Opfer für die Ausbildung des
Volkes wie wir. Und wenn wir die Jungmanschaft erzogen und
geschult haben, erntet die Früchte unserer Arbeit ein fremdes
Land, das sie mit offenen Armen aufnimmt und gut zu verwerten
weiß. Und ist dann oft noch gerne bereit, dafür die Ausfuhr unserer
Produkte durch hohe Zollschranken zu erschweren. Daneben
238
dürfen wir uns nicht verhehlen, dass ein starker Teil der Aus-
wanderer geistig verarmt; viele verlieren im harten Kampfe mit
der Natur und den Verhältnissen, was sie auf eine höhere Stufe
gehoben hatte. Sie verkümmern nur zu oft in einem freuden-
armen stumpfsinnigen Leben.
Was können wir dagegen tun? Vor allem ist eine bedeutende
Aufklärungsarbeit unerlässlich. Die weitverbreitete Meinung, über
dem Meere winke dem Auswanderer sonniger Erfolg, und das
Reichwerden sei dort eine leichte Sache, muss durch wahrheits-
getreue Erklärungen bekämpft und wiederlegt werden. Man muss
den Leuten die Verhältnisse, wie sie sind, vor Augen führen,
damit das Bild falscher Berichte und wirrer Phantasien zerstört
wird. Die Wirklichkeiten jener rücksichtslosen Welt und die ganze
Schwere jenes Kampfes ums Dasein sollen sich ihnen .so einprägen.
Erst wenn die Eigensuggestion aus dem Volke verschwindet, kön-
nen wir auf eine verminderte Auswanderung mit Erfolg hoffen.
Von den Amerikaschweizern müssen wir mehr Offenheit und
Wahrheitstreue fordern. Denn durch ihre oft den Tatsachen ent-
gegengesetzten Berichte werden viele Leute veranlasst, die heimat-
liche Scholle zu verlassen. Es ist menschlich begreiflich, dass die
Ausgewanderten nicht gerne von Mühsalen, harten Anforderungen
und Entbehrungen nach der Heimat berichten. Aber eines dürfen
wir von ihnen verlangen, dass sie denen rückhaltlos die Tatsachen
klarlegen, welche sie um getreue Darstellung der Verhältnisse
angehen.
Ein wachsames Auge sollte man auf die periodisch heim-
kehrenden Auswanderer haben, welche durch prahlerisches und
verschwenderisches Auftreten die jungen Leute im Wirtshaus oder
sonstwo zum auswandern reizen. Man kennt diese versteckten
Werber wohl, sie sind mit großer Schlauheit geeicht, findet aber
nicht den Mut, ihnen entschieden entgegen zu treten. Ich kannte
solche, die vor jungen Leuten Goldstücke und Banknoten auf den
Tisch warfen und sie ganze Abende und Sonntage frei hielten!
Werden so die Opfer nicht mit der Einbildung vergiftet, im fremden
Lande fließe ihnen das Geld in Strömen zu?
Vom Bund und den Kantonen dürfen wir verlangen, dass sie
der Auswanderungsfrage ihre volle Aufmerksamkeit schenken, in
der Verzögerung der Lösung liegt eine nationale Gefahr; der
239
Selbstschutz, die Erhaltung unserer Eigenart zwingt uns zum han-
deln. Darum sollten die Regierungen mehr noch als heute die
Presse bei der Lösung dieser Aufgabe unterstützen und die Auf-
klärungsarbeit durch Verbreitung geeigneter Schriften fördern.
Noch richtiger wäre die Gründung von Handwerksauskunftstellen,
damit man den werdenden Bürgern die Erlernung eines Hand-
werks erleichtern könnte. Wie es möglich wäre, durch Gesetz-
gebung, vielleicht durch Festsetzung einer Altersgrenze, auf die
Auswanderung einzuwirken, ist ein überaus schwieriges Problem,
auf das ich heute nicht einzutreten wage.
ZÜRICH EMIL REUTLINGER
DD D
ELIA UND KÖNIG AHAB
AUS EINER MODERNEN BIBELBEARBEITUNG
THRONWIRREN. Als Jerobeam starb, wurde Nadab König in
Israel, Jerobeams Sohn. Der wurde nach zwei Jahren ermordet
bei der Belagerung von Gibbeton. Sein Mörder Baesa kam auf
den Thron. Und tilgte Jerobeams ganzes Geschlecht.
Auch Baesa führte mit Juda Krieg. Er festigte Rama, nahe
der Grenze, und saß den Judäern im Genick. Dass in Jerusalem
niemand aus- und einging. Da nahm König Asa von Juda Silber
und Gold aus Palast und Tempel und sandte es nach Damaskus:
„O König Benhadad, rette mich von Baesa!" Da fielen die Ara-
mäer in Jsrael ein. Baesa musste Rama verlassen.
Und Asa von Juda kam und schleifte die Festung. Und
schaffte Balken und Steine fort, Jerusalems Vorstädte auszubauen.
Auch Baesas Sohn regierte zwei Jahre. Auch sein Heer be-
lagerte Gibbeton. Auch er starb gewaltsamen Todes. Bei einem
Gelage des Hofmeisters Arza drang Simri, der Reiteroberst herein
und erschlug den trunkenen König. Und rottete seine Nach-
kommen aus. Und setzte sich selber die Krone auf.
240
Simris Herrlichkeit dauerte eine Woche; als die Nachricht
ins Lager vor Qibbeton kam, rief das Heer den Omri zum König
aus. Der rückte nach Thirza, der Hauptstadt Simris. Als Simri
sich nicht hielt, ließ er Feuer legen. Und ging in Flammen unter
mit seinem Palast. Da wurde Omri König.
Er kaufte den Berg des Semer. Und baute die Stadt Samaria.
Noch viele Jahre nach seinem Tod hieß Israel „Omris Reich".
GÖTZENDIENST UND SEINE STRAFE. Im 38. Herrscherjahr
des Königs Asa von Juda ward Ahab König in Jsrael. Er war
Omris Sohn. Der hatte ihm Isebel vermählt, das phönizische
Königskind. Und Ahab diente mit ihr dem Baal und der Astarte.
Da trat Elia aus Thisbe, ein Gileaditer, vor den König: „so
spricht Jahwe, Israels Gott: zur Strafe fällt weder Tau noch
Regen, bis ich es sage! Zur Strafe für deinen Götzendienst!"
Elia musste sich aber bergen am Bache Krith, eine lange Zeit.
Raben brachten ihm Brot am Morgen und Fleisch am Abend.
Und aus dem Bache trank er.
Als aber der Bach vertrocknete, kam Jahwes Wort: „geh
nach Sarepta, welches bei Sidon liegt. Eine Witwe soll dich er-
nähren." Elia machte sich auf.
Nahe der Stadt begegnete ihm eine Frau, die Holz gelesen
hatte. „Hol mir Wasser," heischte Elia. Und als sie ging, da
rief er ihr nach: „bring auch noch Brot!" Sie wandte sich um:
„so wahr dein Gott lebt, ich habe nichts! Eine Handvoll Mehl
und ein wenig Öl. Das wollte ich noch bereiten. Und dann den
Tod erwarten mit meinem Sohn." „Geh," sagte Elia. „Bereite
es. Denn so spricht Jahwe, Israels Gott:
Topf bleibe voll!
Krug werde nicht leer —
bis ich regnen lasse
auf Erden!"
Da ging sie hin. Und hatten zu essen, er und sie und ihr
Sohn. Wie Elia gesagt, einen Tag um den andern.
♦ *
*
Da erkrankte der Witwe Sohn. Und die Krankheit ward hart
— so dass er starb. Die Mutter wandte sich an Elia: „o du
241
Mann Gottes! Hätt ich dich nie gesehen! Gott hätte meiner
nicht gedacht!" Da sagte Elia: „gib deinen Sohn!" Und trug
ihn ins Obergemach. Und legte ihn auf sein Bett. Und schrie
zu Jahwe: „Jahwe, mein Gott! Vergiltst du so? Lass wieder-
kehren des Knaben Seele!" Da kehrte die Seele zurück — der
Knabe wurde lebendig. Elia führte ihn zu der Mutter: „sieh da,
dein Sohn!" Da wurde ihr Haus voll Fröhlichkeit.
*
Nach drei Jahren erging Jahwes Wort: „Elia, zeig dich dem
König! ich werde nun regnen lassen!" Da machte Elia sich auf.
Als die Hungersnot groß geworden, hatte der König den
Obadja gerufen, seinen Hofmeister: „komm, suchen wir Quellen
und Bachläufe ab ! Ob nirgends Futter ist für unsere Tiere." Und
hatten Beide das Land durchstreift. Der König hierhin, Obadja
dorthin.
Plötzlich stand der Gottesmann vor Obadja. Obadja fiel
nieder: „bist du es wirklich — Elia?" Elia: „ich bins. Geh,
sags deinem Herrn. Aber Obadja begann zu reden: „so wahr
ich da bin! Es gibt kein Volk oder Königreich, da man dich
nicht gesucht. Wollte ich melden: ,Elia ist da!' — entraffte dich
Jahwe, weiß Gott wohin! Und ich musste büßen! Weißt du
nicht, dass ich dein Freund bin?" Doch Elia schwor: „ich stelle
mich Ahab" Da ging Obadja, den König zu suchen.
... Und Ahab kam: „so bist du da, du Volks-Verwirrer?"
Elia sagte: „nicht ich — sondern du wie dein Vater verwirrst das
Volk! Aber sammle Israel auf den Karmel. Auch die Baals-
Propheten von Isebels Tischen."
Der König berief das Volk. Und Elia trat auf: „wie lange
hinkt ihr auf beiden Seiten? Ist Jahwe Gott, so dienet Jahwe!
Ist Baal Gott, so dienet Baal!" Es herrschte Schweigen. Da
fuhr er fort: „ich bin allein als Jahwe-Prophet! Und 450 Baals-
Pfaffen! So bringet zwei Opferstiere! Sie mögen wählen und
Einen richten. Ich richte den Andern. Dann rufen wir Gott:
sie Baal, ich Jahwe. Der mit Feuer antwortet, ist wahrer Gott."
So geschah. Die Baals-Propheten wählten. Und richteten alles
zum Opfer. Dann hoben sie ihr Geschrei: „Baal, erhör uns!
Baal erhör uns!" Von Morgen bis Mittag. Mit Tanz und Lärm.
Doch da war keine Stimme noch Antwort.
242
Als die Sonne hoch kam, da höhnte Elia: „Lauter! Ruft!
Er muss doch hören! Er ist ja Gott! Vielleicht ist er in Gedan-
ken. Vielleicht eben ausgetreten. Oder schläft und ihr müsst ihn
wecken." Da riefen sie lauter. Und ritzten sich mit den Messern.
Bis aufs Blut. Als Mittag vorüber, wurde ihr Rufen zum Rasen.
Aber da war keine Stimme noch Antwort.
Da sagte Elia: „so ist es an mir!" Und baute den Altar.
Und richtete zu. Und betete: „Jahwe, mein Gott! Gib kund,
dass du Gott bist in Israel und ich dein Knecht! Hör mich,
Jahwe, der du allein Gott bist!" Da fiel Feuer vom Himmel und
fraß das Opfer. Und das Volk warf sich nieder, bekennend:
„Jahwe ist Gott! Und ist kein Gott außer ihm!" Elia ließ die
Baalspfaffen ergreifen. Und ließ sie zum Bache Kison führen.
Und schlachtete sie mit eigner Hand.
Dann sagte Elia zu König Ahab: „geh in dein Zelt und stärke
dich. Ich höre rauschen, als ob es regne." Er selber stieg auf
den höchsten Gipfel. Und barg sein Angesicht zwischen den
Knien. Und sandte den Knaben, nach Westen schauen. Der Knabe
sah nichts. Siebenmal musste er gehen. Endlich berichtete er:
„ein Wölklein steigt aus dem Meer — nicht größer als eines Man-
nes Hand." Da sagte Elia: „So lauf zum König: er möge an-
spannen. Dass ihn der Regen nicht überrasche."
Im Nu war der Himmel schwarz. Und Sturm erhob sich.
Und Regen fiel. Der König fuhr heim. Elia aber gürtete sich.
Und lief vor des Königs Wagen — durch Wetter und Sturm —
nach Jesreel. Denn der Geist Jahwes war auf ihn gekommen.
Als die Königin hörte, was Elia getan, da sandte sie hin:
„Wohl! Du bist Elia — Ich bin Isebeir" Da machte Elia sich
auf, sein Leben zu retten.
Er floh nach Süden. Und schritt in die Wüste — in Son-
nenglut. Bis er zusammenbrach. Bei einem Ginster liegend
wünschte er sich den Tod: „Es ist genug! Ich bin nicht besser
als meine Väter!" Vor Müdigkeit schlief er ein. Da rührte ein
Engel an ihn: „steh auf und iss!" Elia sah Wasser und Brot.
Aber Schlaf übernahm ihn, dass er von Neuem hinfiel. Da kam
wieder Jahwes Engel: „auf! iss und trink! Sonst wird dirs zu
243
viel!" Da stand er auf. Und aß und trank. Und wanderte kraft
dieser Speise vierzig Tage und vierzig Nächte. Bis zum Gottes-
berg Horeb.
Dort suchte er Zuflucht in einer Höhle. Denn es hoben
sich Sturm und Brausen, dass Berge fielen und Felsen stürzten.
Aber Jahwe war nicht im Sturm. Und nach dem Sturm erbebte
die Erde. Aber Jahwe war nicht im Beben. Und nach dem
Erdbeben loderte Feuer, die Klüfte hellend. Aber Jahwe war nicht
im Feuer. Und nach dem Feuer — ein tiefes, tiefes Schweigen.
Da verhüllte Elia sein Angesicht.
Und Gott stärkte ihn.
DER WEINBERG NABOTHS. Naboth, der in Jesreel wohnte,
besaß einen Weinberg, nahe beim Schloss von Samarien. Ahab
schlug vor: „überlass ihn mir. Erliegt mir bequem zum Gemüse-
garten. Ich gebe dir einen bessern — oder baar Geld, wie du
willst." Doch Naboth sagte: „mein Vätererbe wird nicht ver-
tan! Da sei Gott vor!" Und war nicht herumzubringen. Übel-
gelaunt ging Ahab heim. Legte sich auf sein Bett. Und schaute
finster.
Da fragte Isebel: „was ist mit dir? Warum issest du nicht?"
"Ach, dieser Naboth!" erwiderte Ahab. „Gibt seinen Weinberg
nicht!" Da höhnte Isebel: „und du bist König in Israel?" Dann
lachte sie: „iss du nur ruhig, /c/z will dir den Weinberg schaffen."
Sie schrieb einen Brief in Königs-Namen. Und siegelte ihn
mit dem Königs-Siegel. Und sandte ihn nach Jesreel an die Vor-
nehmen. Darinnen stand: „feiert ein Fasten. Und Naboth soll
die Versammlung leiten."
Am Fasttag traten zwei Fremdlinge auf. Und verklagten Na-
both: „dieser hat Gott und den König gelästert!" Da führte man
ihn vor die Stadt und steinigte ihn.
Isebel konnte dem Ahab melden: „Jetzt nimm ihn an dich,
den Weinberg Naboths. Naboth ist nicht mehr." Und der König
erging sich darinnen mit Freuden
Plötzlich war da Elia: „du hast gemordet! Und willst nun
rauben! Hör Jahwes Wort: Naboths Blut haben Hunde geleckt
— Hunde werden auch dein Blut lecken." Der König finster:
„hast du mich gefunden, mein Feind?" Elia: „ich finde dich immer!"
244
KRIEG MIT ARAM. — DES KÖNIGS TOD. Benhadad, König von
Aram, sammelte sein Heer und zog heran. Mit Königen, Rossen
und Wagen. Und schlug Israel. Und belagerte Samarien. Dem
Ahab ließ er bieten: „kaufe dich los. Dann ziehen wir ab."
Ahabs Antwort: „was mein ist, ist dein!"
Doch Benhadads Boten kamen wieder: „morgen durchsuch
ich die ganze Stadt zu nehmen, was mir gefällt." Da hielt Ahab
Rat: „erst fordert er Geld. Nun will er plündern!" Alles riet:
„weise ihn ab." König Ahab tat es.
Da drohte Benhadad: „der Schutt von Samarien reicht nictit
aus, meinen Kriegern die Hand zu füllen." Ahab: „er wird erst
den Bären haben müssen, eh er sich schmückt mit seinem Fell!"
Da lief Benhadad Sturm.
Er wurde abgeschlagen. Und die Belagerten fielen heraus.
Und Aram floh. König Benhadad wurde mit Mühe gerettet — er
hatte mit seinen Vasallen gezecht und war betrunken. Auf einem
Streitwagen ward er entführt.
*
Benhadads Höflinge gaben ihm ein: „ein Berg-Gott ist die-
ser Jahwe! Drum haben sie uns geschlagen. In der Ebene wären
wir ihnen über! Wir mit unsern Wagen!"
So sammelte Benhadad ein neues Heer. Und zog in die
Ebene Jesreel. Er wurde wieder geschlagen. Und suchte Zuflucht
in der Stadt Aphek. Todesfurcht trieb ihn von Haus zu Haus.
Da sagte Einer: „König Ahab soll gutmütig sein. Wir wollen
Bußkleider anziehen. Und einen Strick legen um unsern Hals —
vielleicht schenkt er uns das Leben."
So kamen sie zu Ahab: „dein Sklave Benhadad fleht um
sein Leben." „So lebt mein Herr Bruder noch?"
Das griffen sie auf: „gilt er dir als Bruder?"
„Er sei mir willkommen!"
Als Benhadad kam, lud Ahab ihn zu sich auf seinen Wagen
Und Benhadad schlug ihm vor: ich will dir die Städte wieder
abtreten, die mein Vater dem Deinen genommen hat. in Da-
maskus darfst du Kaufläden gründen, wie ich getan in Samarien.
Dafür lässt du mich frei." König Ahab ging darauf ein.
245
Drei Jahre lang ruhte der Krieg. Dann sagte der König von
Israel: „Sie haben uns Roma nicht abgetreten! Nehmen wir, was
uns gehört!" Und da ihn der König von Juda besuchte, fragte
Ahab: „ziehst du mit zu Feld?" „Meine Rosse sind deine Rosse.
Mein Volk ist dein Volk. Und ich bin wie du", war Josaphats
Antwort — er war sein Vasall.
„Frag noch das Orakel", riet Josaphat. Da fragte Ahab die
Jahwepropheten: „soll ich Rama erobern?" „Jahwe gibts in die
Hand des Königs", antworteten sie. Josaphat fragte: „Sind das
alle Propheten?" Ahab dawider: „noch Einer ist da — den frag
lieber nicht: Micha ben Jimla sieht immer schwarz!" Aber Josa-
phat bat. Und der König von Israel schickte hin.
Unterwegs sprach der Bote dem Micha zu: „der ganze Cho-
rus hat Glück verheißen — bring nicht einen Missklang drein!"
Micha fertigte ab: „ich rede, was Jahwe befiehlt!"
Im Thor von Samarien saßen die Fürsten, im Königsge-
wand, auf Königsstühlen. Vierhundert Propheten weissagten vor
ihnen. Zedekia hatte sich Hörner gemacht und stieß die Gefähr-
ten damit zu Boden: „so wird König Ahab die Syrer stoßen!"
Und alle wie er: „zieh aus nach Rama. Jahwe gibts in die
Hand des Königs."
Als Micha kam, da fragte ihn Ahab: „soll ich gen Rama
ziehen?" Micha: „du hörst ja: wenn Ahab auszieht, wird Rama
dem König gegeben! Das ist Jahwes Wort!" „Soll ich ziehen,
rätst du?" Micha sah in die Ferne: „ich sah im Geist dein Volk
zerstreut, wie Schafe, die keinen Hirten haben!" Da wandte sich
Ahab an Josaphat: „da haben wirs! Sagt ich es nicht?"
Aber Micha fuhr fort: „Und das habe ich gesehen: Jahwe
saß auf dem Himmelsthron. Und fragte sein Heer: ,wer will
mir den Ahab betören, dass er nach Rama zieht und fällt?' Einer
riet dies, der Andere das. Bis ein Geist hervortrat: ,ich will es
tun!'
,Wieso?'
,Ich drehe dein Wort zur Lüge im Mund der Propheten!'
,Gut!' sagte Jahwe. ,So muss es gelingen!'
Weil Jahwe Unheil beschloss wider Ahab, ist im Mund der
Propheten ein Lügengeist. ,Jahwe wird Rama dem König
geben' — dem König von Aram nämlich, ist Jahwes Wort!**
246
Da trat Zedekia herzu und schlug seine Faust in Michas
Gesicht: „ist Jahwes Geist wohl von uns gewichen, mit dir zu
schwätzen, das Lästermaul?" Und Ahab ließ Micha gefangen
setzen bei Wasser und Brot. Bis er wiederkäme. „Heil kommt
er nicht wieder", behauptete Micha. „Sonst ist mein Wort nicht
von Jahwe gewesen!"
♦
Ahab, der König von Israel, und Josaphat, König von Juda,
zogen gen Rama in Gilead. Es kam zur Schlacht. Und ein
Syrer spannte den Bogen — von ungefähr — und traf den König
von Israel. Zwischen Panzer und Gurt. König Ahab befahl
seinem Wagenlenker; „bring mich hinweg!" Doch als er sah,
wie heiß man kämpfte, da hielt er stand. Und blieb in der Linie,
aufrecht vor dem Feind, jenen ganzen Tag. Obgleich sein Blut
in den Wagen floss. Am Abend starb er. Bei Sonnen-Untergang
gings durch die Reihen: „der König ist tot! Der König!" Und
das Heer zerstreute sich
♦ *
*
AHABS SÖHNE. Ahasja, Ahabs Sohn, wurde König in Israel.
Und regierte zwei Jahre.
Denn er fiel aus dem Fenster seines Palastes. Und lag dar-
nieder. Da sandte er Boten: „fragt Baal-Sebub, den Gott von
Ekron, ob ich genese." Sie machten sich auf.
Als sie die Straße zogen, war da Elia: „wohin des Weges?"
Sie gaben Bescheid. Da zürnte Elia: „ist kein Gott in Israel,
dass ihr den Gott der Fremde fragt? Sagt eurem Gebieter: er
werde sterben!" Da kehrten sie um.
Ahasja fragte: „kommt ihr schon wieder? „Es ist uns Einer
entgegengetreten", berichteten sie.
„Wie sah er aus?"
„Ein Fell trug er umgebunden. Und einen Riemen um seine
Hüften."
Ahasja erschrak: „dann war es Elia!"
Und Ahasja starb, wie Elia gesagt. Und Joram, sein Bruder,
wurde König.
BASEL PAUL KÄGl
aaa
247
g g THEATER UND KONZERT
D □
n D
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Ein
Ungar, der uns bis dahin ein Unbe-
kannter geblieben war und v»n dem
wir vielleicht später auch nichts mehr
hören werden, hat uns mit einer
unterhaltsamen Komödie überrascht.
Gabriel Dregely (auf der ersten Silbe
zu betonen!) heißt der Autor, sein
Stück Der gutsitzende Frack. Um
den märchenhaften Aufstieg eines
Schneidergehilfen handelt es sich. Er
fühlt sich zu besserem berufen als
zum Fracknähen und Frackbügeln;
das Fracktragen scheint ihm durch
Schicksalsschluss beschieden zu sein.
Er fasst sein Lebensziel knapp in
den Satz zusammen: Ich will ein
Gentleman sein. Vom Arbeiten sagt
er nichts; das liegt ihm nicht son-
derlich. Das Vertrauen auf seine
Suada, seine unerschütterliche Drei-
stigkeit, vor allem aber auf seine
gute Figur und deren Hülle, den
gutsitzenden Frack — das kommt ihm
als genügendes Rüstzeug für den Flug
ins große Leben vor. Die Umstände
legen ihm einen solchen Frack auf
den Weg (er braucht ihn nur aus
dem Schneideratelier zu stehlen);
was der legitime Frackbesitzer mit
diesem Objekt bei dem Minister,
dem er eine verjährte Wohltat auf-
frischen will, ergattern möchte, das
jagt der Schneiderfrechling, der über
alle diese Ambitionen des reichen
Kunden auf dem Laufenden ist, in
seine Küche: er, im Frack des Bahn-
direktors, spielt sich als einstiger
Lebensretter des Ministers auf, kommt
ins Schwadronieren über soziale
Dinge (für die er sich einen Fonds
zusammengelesener Phrasen aus dem
noch nicht gedruckten Manuskript
eines mit der Schneidermeistertoch-
ter verlobten Nationalökonomen zu-
recht gelegt hat), macht Eindruck
und beschließt den Abend mit dem
Bewusstsein des kompletten Sieges.
Und das frevle Spiel geht weiter.
Der Minister lässt diese wertvolle
Bekanntschaft nicht so leicht fallen.
Der Schneider kommt in die Politik
hinein. Der Nationalökonom wird
sein gut bezahlter, verschwiegener
Sekretär, der das arbeitet und for-
muliert, was der Schneider mit dem
gutgeölten Mundstück von sich gibt.
Da droht ein Faux pas des Schnei-
ders das ganze Gebäude zum Ein-
sturz zu bringen. Der schneiderliche
Bei Ami hat sich mit der Gattin seines
Sekretärs (der Tochter seines ehe-
maligen Prinzipals, die schwärmerisch
zu diesem Mann der Energie aufblickt)
etwas sehr intim eingelassen. Was
schließlich der Mann doch bemerkt,
worauf er Lärm schlägt. Alle Schlin-
gen sind ausgeworfen, um den Glücks-
ritter vom gutsitzenden Frack zu
fangen und moralisch zu erdrosseln.
Da gelingt es ihm in letzter Stunde,
den Kopf frei zu bekommen. Noch-
mals hat der untadelige Frack seine
Pflicht getan: der Premierminister
unterliegt dem Charme, und der
Schneider wird Handelsminister. Ein-
mal so hoch gestiegen, zerreißt er
kühn und schlau alle Netze. Alles
wird ihm aufs neue untertänig. Sein
Sekretär bringt das Sacrificium seiner
Rache für die angetastete Ehre, in-
dem er als Hofrat sich dem Herrn
Minister zur Verfügung stellt. Und
eine reiche Industriellentochter be-
glückt des Ministers Hand.
Mit lustigem, lebhaftem Esprit ist
das gedrechselt, so dass das Interesse
bis zum Schluss wach bleibt. Zur
Komödie macht das Stück die sati-
rische Zutat, die darin besteht, dass
wir uns im Grunde in einer Welt von
Spitzbuben und Gesinnungslumpen
bewegen, die von einem Schneider
düpiert und dominiert zu werden
248
THEATER UND KONZERT
reichlich verdienen. Budapest gibt
der ungarische Verfasser freundlich
als Ort der Handlung an; als Zeit
die Gegenwart. Man muss sagen,
dass dieser Ungar seine Landsleute
nicht überschätzt. h. trog
*
LE TROUBLE-FETE Aü TH^A-
TRE DE LA COMEDIE DE GE-
NEVE.
M. Edmond Fleg est un ecrivain
genevois qui depuis de longues an-
nees dejä habite Paris, oü il pour-
suit une carriere qui n'est pas sans
lustre. 11 est Genevois, mais ne sem-
ble pas avoir garde une empreinte
tres forte du premier milieu qui fut
le sien. Est-ce ä dire qu'il se soit
completement parisiennise? Je ne
crois pas, et ensuite ce n'est point
ce dont il s'agit ici. M. Edmond Fleg
occupe une place fort honorable
parmi les dramaturges contempo-
rains, et comme il est de nationalite
suisse, il n'y a pas de raisons pour
ne pas etre heureux, et doublement
heureux du succes qui a accueilli le
Trouble-fete ä Paris d'abord et ä
Geneve ensuite. M. Fleg n'en est
pas ä son premier ouvrage, et pour
ne point insister sur sur ses pre-
mieres pieces La Cloison et Le
Message, il sied de mentionner ici
un drame etrange et fort inquietant.
La Bete, qui, represente sur la scene
du Theätre Antoine, ä Paris, ne laissa
pas de faire quelque bruit. Je ne
sais pas quels resultats donneront
les efforts tres litteraires de M. Four-
nier, directeur du Theätre de la Co-
medie, et de la „saison de Geneve" qui
veulent donner aux ecrivains dramati-
ques de talent de la Suisse romande
l'occasion d'etre joues et bien joues.
Jusqu'ä ce jour— j'excepte bien en-
tendu les oeuvres de M. Morax, le
plus puissant temperament d'homme
de theätre de notre pays, et les oeu-
vres de M. Mathias Morhardt, qui
sont de tres beaux morceaux de
Philosophie lyrique — nous n'avons
guere ä mentionner que des tenta-
tives d'amateurs, sans lendemain. La
comedie de M. Edmond Fleg est la
premiere comedie moderne düe ä
un ecrivain romand, et qui, ä cöte
de qualites specifiquement litteraires,
temoigne de qualites dramatiques
fort appreciables. Le Trouble-fete
,,tient la scene" et ne trahit aucune
de ces inexperiences, de ces naive-
tes, de ces enormes erreurs qui re-
velent sürement l'amateur. Tres bien
jouee par une troupe d'elite, tres
homogene et tressouple, la piece de
M. Edmond Fleg merite pleinement
le joli succes qu'elle a remporte.
*
Un jeune menage tres lance et
tres „parisien", l'avocat Louis Lorey
et sa femme, ontsur le mariage des
idees tres particulieres. 11s n'ont
point d'enfants, car selon eux le ma-
riage n'est point destine ä la repo-
pulation du pays — il s'agit bien en-
tendu de la France. Un enfant? Mais
ce serait un trouble-fete. Ce n'est
point l'avis de la bonne vieille grand-
mere qui n'eüt point tant de scru-
pules, puisque precisement eile est
grand'mere. Grand'mere est du vieux
Systeme, n'est-ce pas? Mais si
cela continuait ainsi il n'y aurait pas
de piece, et justement ä la fin de
l'acte nous apprenons que, malgre
leurs doctrines, les epoux sont sur
le point d'etre trois . . . Aussitot,
devant la douleur de sa femme qui
craint de perdre l'affection de son
mari, celui-ci „plaide" — il est avo-
cat — la cause du petit enfant qui
va naitre ... Le second acte,
quelque dix mois plus tard, nous
montre un menage bien different.
La jeune femme est toute ä son en-
fant. Elle delaisse le cabinet de con-
249
CD C3
THEATER UND KONZERT
sultatlons — eile servait de secre-
taire ä son mari — et ne prend
meme plus la peine de „s'habiller".
Et ce qui devait arriver arrive. Le
troisieme acte est une longue scene
ä deux personnages, Madame a ap-
pris que son mari voyait beaucoup
une jeune femme tresmondaine, tres
divorcee et qui fait des „romans".
Et Monsieur apresun eclat s'en va
en claquant les portes. II va chez
Francine de Prailles . . . Un epilogue
nous apprend qu'il a eu, si Ton peut
dife, Tesprit de l'ascenseur, Deux
annees se sont ecoulees: loin d'etre
un trouble-fete, le petit Roger a uni
les epoux dans une commune affec-
tion. Ils ne sont plus uniquement
amants; ilsont fonde un foyer; voici
que la comedie se termine sous la
lampe, au coin de la cheminee. Et
par une imagination charmante, c'est
le pere qui s'inquiete le plus de ce
que Roger, sorti tout ä l'heure avec
sa bonne, n'est point encore rentre.
L'amour paternel, pour etre ne plus
tard que l'amour maternel n'est, ni
moins vif ni moins profond. Tout cela
est d'une douce et jolie ironie.
Evidemment la comedie de M.
Edmond Fleg n'est point une grande
CBuvre. Elle n'a aucune pretention
d'ailleurs, ä la grande oeuvre. Mais
eile vaut par une justesse parfaite
de l'expression, par une mise en
oeuvre adequate au sujet et par
ce ton, qui reste perpetuellement le
ton de la comedie. Et puis M. Fleg
sait ecrire. Je ne dirais pas que M.
de Porto-Riche fut sur lui sans in-
fluence, mais il n'y parait point avec
exag^ration. Et non seulement il
sait ecrire, mais il sait ecrire pour
le theätre; sa langue, tres pure et
tres elegante, est expressive et sobre.
Le seul defaut de cette piece, c'est
son sujet qui est un peu mince.
Mais en avoir tire trois actes ex-
cuse de l'avoir choisi. Ce qui nous
Interesse c'est ie resultat: un auteur
est libre de prendre sa matiere oü il
lui platt. GEORGES GOLAY
BERLINER SAISONBEGINN.
Wenn jemals eine Saison mit Ver-
heißungen begonnen hat, so ist es
diese. Die neuen Theater fühlten
sich künstlerisch verpflichtet. Und
so begann ein Wettlaufen zwischen
dem Deutschen Künstlertheater, das
als Sozietät den größten Teil des
Brahmschen Ensembles in der frü-
heren Kurfürstenoper vereinigt, dem
Lessingtheater, das Viktor Barnowsky,
und dem Kleinen Theater, das Georg
Altman übernommen hat. Altman,
der vom Deutschen Theater in Han-
nover kam, blieb am weitesten zu-
rück. Sein Personal erwies sich bis
auf die Herren Bildt und Pick als
konventionell. Seine Regie ist ge-
bändigtes Stadttheater, sein Reper-
toire provinzielle Moderne. Es ist
auf Herbert Eulenberg eingestellt,
der ein Revolutionär für die diejeni-
gen ist, die einst zu Sudermanns
Fahne schworen. Das zu erkennen
war schon früher nicht schwer.
Empfindsame Einfälle konnten über
psychologische Verlogenheiten nicht
hinwegtäuschen. Wenn Vinzenz in
Alles um Geld stahl, so tat er es,
um das Andenken seiner Mutter zu
rächen. Diese unehrliche Bürger-
lichkeit ist in Belinde, die Altman
brachte, hüllenlos geworden. Senti-
mentales wird ranzig, Dramatisches
knallig. Und Menschen, die nach
Eulenberg frei sein sollen, drohen
moralisch entrüstet mit dem Staats-
anwalt.
Wer gegen Belinde noch Erbitte-
rung aufbringen konnte, bringt es
vor Zeitwende nur zu automatischer
Abwehr. Die Birch-Pfeifferei ist so
250
THEATER UND KONZERT
C3 C3
durchsichtig, dass man sich schämt,
sie besonders zu betonen. Die Ethii<
ist so verräterisch, dass nur der ein
Recht hat, sie aufzudecken, der ihr
auch in kaschierteren Werken schon
hinter die Maske gesehen hat. Ein
betrogener Ehemann will dem Hoch-
stappler, dem er die Hörner verdankt,
ins Gesicht spucken und mietet sich
vorher für tausend Mark einen Kell-
ner, der jenen, wenn er sich wehren
würde, festhalten soll. Der Kerl, der
dieser Erbärmlichkeit fähig ist, wird
als anständig hingestellt. Das genügt.
Mit dieser Premiere hatte das
neue Lessingtheater noch weniger
Glück als mit seiner Eröffnungsvor-
stellung. Denn auch der Peer-Gynt-
Einstudierung musste der letzte Er-
folg versagt bleiben. Barnowsky, an
die Maße des kleinen Theaters und
anderer Stücke gewöhnt, übernahm
sich mit diesem Riesenwerk. Vieles
wurde unruhig zersplittert, anderes
opernhaft banalisiert. So fehlte das
innere Vertrautsein mit der Phantasie-
welt Ibsens. Barnowsky stand zum
Werke nur in einer Willens- und
Arbeitsbeziehung. Und das genügte
um so weniger, als auch seine Helfer:
einige Hauptdarsteller und der Maler
Sven Gade zurückblieben. Beson-
ders der Maler hat sich, wie schon
früher oft, nicht bewährt. Er gilt in
Berlin als ein großer Dekorations-
künstler, in Wahrheit aber ist seine
Leistung Zusammentragung und
Mischung. Er beherrscht weder den
Raum, noch die Farben. Seine
Dekoration kann links Reinhardt,
rechts Königliches Schauspielhaus,
hinten Deutsches Opernhaus sein.
In Sven Gade bekämpfen sich alle
Stilprinzipien der Berliner Bühnen.
Trotzdem wird man das Lessing-
theater weiterhin für eine erste Bühne
halten müssen, weil literarischer Wille
und künstlerischer Ernst auch aus
dem Misslungenen spricht. Wenn
man das Achtunggebietende tadelt,
so legt man den strengsten Maßstab
an. Wodurch aber sind die Berliner
Theater anders groß geworden als
durch die höchsten Anforderungen,
die von außen an sie gestellt wurden?
Diesen Anforderungen genügt
schon heute das Deutsche Künstler-
theater. Gerhart Hauptmanns Tell-
Inszenierung ist eine künstlerische
Tat höchsten Ranges. Sie setzte Thea-
tralisches auf realistischen Grund und
führte Rhetorisches unerbittlich auf
psychologische Linien zurück. Es
gab keine allgemeine Sentenz mehr,
keine unmotivierte Tirade. Wenn bei
Schiller alles zu stark nach außen
getrieben wird, so wurde bei Haupt-
mann alles nach innen gedrückt. Er
schob vor den Ausdruck die Hem-
mung, die Scham. Schwerfälliges
Bauernvolk begrüßt sich mit breitem
Lachen, versteckt seine Empörung
hinter verlegenen Worten. Die Ge-
bärde macht Verse zaghaft, die sich
früher gewichtlos zum Himmel
schwangen. Schweigen lastet, wo
sonstChoristen unisono deklamierten.
„Wir wollen sein ein einzig Volk von
Brüdern . . ." beim drittenmal über-
mannt es die Landleute: sie ver-
stummen. Melchtal schluchzt auf
beim Dreimännerschwur. Und es zeigt
sich, dass die Dämpfung die drama-
tische Stoßkraft nur erhöht. Etwas
Drohendes, Schwellendes bleibt zu-
rück, das den Szenen eine innere
Energie gibt, die sie niemals hatten.
Nichts falscher, als zu behaupten,
dass dieser Realismus Schiller
schwunglos gemacht oder erst die
Schwächen des Dramas aufgedeckt
hätte. Dieser Realismus, der die ge-
heimen Triebkräfte enthüllte, führte
den jungen Schiller herauf, dessen
Bestes durch falsch verstandenen
klassizistischen Einfluss verschüttet
251
THEATER UND KONZERT
wurde. Seit Jahren habe ich Schiller
zum erstenmale wieder lieben können.
Dieser Realismus verzettelte sich
nicht, wie behauptet wurde, im Zu-
Ständlichen. Wenn er die Idylle des
Anfangs liebevoll ausarbeitete, so
gab er ihr nur den Kontrastakzent,
der ihr zukommt. Und wie wurde
das Lyrische in die dramatische Be-
wegung übergeleitet!
Es gab in dieser Vorstellung so
viel des Herrlichen, dass geringe
Übertreibungen des Prinzips, dass
technische Mängel, die die neue und
enge Bühne verschuldete, nicht da-
gegen aufkönnen. Durch die Um-
ständlichkeit der Verwandlungen mag
es gekommen sein, dass man den
großen Zug, den jede Szene hatte,
in der Steigerung des Ganzen, im
Anschwellen bis zum Ende vermisste.
Aber diese Aufführung hat uns ein
Stück zurückgegeben, das wir für
Männer verloren glaubten ! Sie hat
gleichzeitig erwiesen, dass das wahre
Realisieren auch das wahre Stilisieren
ist. Wie von selbst wuchs dieser
psychologische Realismys in Hodler-
sche Rhythmen hinein und forderte
Dekorationen heraus, die die einzel-
nen Landschaften zum Einmalig-
Wesentlichen der Schweiz steigerten.
Mit Absicht habe ich nicht von
den befehdeten Strichen Hauptmanns
gesprochen. Wer junge Schauspieler
an der Arbeit gesehen hat, weiß,
dass „O, eine edle Himmelsgabe..."
gerade vom innerlichen Künstler heute
nicht gesprochen werden kann. Mit
dem Tellmonolog steht es ebenso.
Und was einzig kalten Routiniers zu-
gänglich ist, das soll man ernsthaft
für die Bühne retten, nur weil es
literarisch geheiligt ist? Nicht wenn
Bekanntes wegfällt, sondern wenn
Psychologisches unterbrochen wird,
diskutiert man über Striche. Im
Zerbrochenen Krug, den Hauptmann
später inszenierte, ist er dramatur-
gisch tatsächlich nicht immer glück-
lich gewesen. Er hat dem Adam
manche Erfindung, der Marthe Rull
manche Redseligkeit genommen. Aber
wie farbig hat er als Regisseur ge-
schaffen! Welche Breite, welche
Behaglichkeit ! Welche pantomimische
Drastik ! Welche psychologische
Komik! Wie hatte er sich an den
Darstellern, wie sich die Darsteller
an ihm entzündet! Jacob Tiedtke
gab den Adam. Er ist einer der
wenigen Schauspieler, die mit der
äußersten Diskretion der Mittel die
drastischsten Gestalten schaffen.
Alles ist leise, menschlich. Eine Na-
tur scheint sich absichtlos auszuleben
und doch ist jeder Ton schattiert
und bewusst geformt. Dieser Adam
war ein fettes, schmunzelndes, trieb-
haft unschuldiges Tierchen. Ein
Gauner aus Gutmütigkeit. Ein Schuft
aus moralischer Trägheit. Mit dieser
Schöpfung, die nur darum komisch
war, weil sie im tiefsten Sinne humo-
ristisch blieb, ist Tiedtke neben
Sauers Attinghausen, neben Marrs
Teil und der Barbara Lina Lossens
(in Zeitwende) die schauspielerischste
Tat der ersten Saisonmonate ge-
lungen.
Hinter Teil und dem Krug blieb
alles andere zurück. Sogar der selben
Sozietäre Hanneles Himmelfahrt,
das Rudolf Rittner inszeniert hatte,
sogar Reinhardts Tusso. Reinhardt
hat überhaupt in dieser Spielzeit
noch kein Glück gehabt. Wie der
Tusso an den Schauspielern, am Maler
und vielleicht auch an Reinhardts
eigenen Intentionen scheiterte, so
waren andere Premieren literarische
Misserfolge. Wedekinds Franziska
brachte es zwar auf fünfundzwanzig
Aufführungen, aber der äußere Erfolg
kann dem, der Wedekind liebt, über
die peinliche Leere des Ganzen nicht
252
THEATER UND KONzERT
hinweghelfen. Zwischendurch auf-
flackernde Szenen können nicht be-
friedigen. Die goldenen Palmen, die
in Paris unter dem Titel L'habitvert
aufgeführte Akademie - Satire von
Flers und Caillavet, hatten nicht ein-
mal einen Augenblickserfolg. Mit
Recht. Die Aufführung war lahm, das
Stück leer. Nur die Darstellung der
geschickt berechneten Pantomime
von Vollmoellers Veneüanischem
Abenteuer eines jungen Mannes
glückte. Höchstens eine Szene, in
der sich Tote vervielfältigen, blieb
Variete. Sonst hatte Reinhardt einen
lyrischen Groteskstil gefunden, der
für eine Stunde entzücken konnte.
Hier war auch Ernst Stern, der in
letzter Zeit merkwürdig banal ge-
worden ist, als Maler auf seinem Ni-
veau. Technisch ist er noch immer
der Raumbeherrscher der Bühne.
Aber an farbiger Phantasie, Mannig-
faltigkeit der Nuancen, Willen zum
Neuen wird er heute von dem jungen
Maler der Sozietäre, Rochus Gliese,
übertroffen.
Das Königliche Schauspielhaus
machte einen schwachen Versuch,
aus seiner Lethargie zu erwachen.
Es führte — bis auf Helene Thiemig
konventionell — Strindbergs Märchen-
spiel Schwanenweiß auf, das mehr
als durch seinen eigenen Wert da-
durch ergreift, dass der von Dämo-
nen gehetzte Strindberg sich zu Stun-
den durchrang, in denen er den
Frieden zu diesem kindlich scheuen
Märchen hatte. Die Verlegenheit der
Harmlosigkeit erschüttert. Als zweite
Premiere brachte das Königliche
Schauspielhaus, damit niemand über-
mütig werden konnte, das fade Ko-
stümlustspiel: Die drei Brüder von
Damaskus, das dem Hamburger
Schriftsteller Alexander Zien seine
Entstehung verdankt.
Meinhard und Bernauer leben im
Berliner Theater von der neuen
Posse Wie einst im Mai, die aber
an Filmzauber nicht heranreicht,
gaben im Theater in der Königs-
grätzerstraße eine durchgearbeitete
Einstudierung von Anzengrubers
Viertem Gebot, im neu übernomme-
nen Komödienhaus Auernheimers
feuilletonistisches, aber unaufdring-
liches Lustspiel: Das Paar nach der
Mode und Nathansens mit Rasse-
problemen kokettierenden Reißer:
Hinter Mauern.
In einem Saal der Kunsthandlung
Keller und Reiner gastierte das Ma-
rionettentheater Münchener Künstler
mit einem alten Faustspiel, das dem
nahe kommt, welches Goethe auf
dem Kasperletheater sah. Dieses
Gastspiel gehört mit der Verdi-Feier
des Königlichen Opernhauses (Don
Carlos) zu den Ereignissen der Sai-
son. Paul Brann, der Leiter und In-
szenator, hat mit Hilfe Jakob Bradl's,
der die Figuren, und Paul Neu's, der
die Dekorationen schuf, eine Sug-
gestion der Unwirklichkeit erreicht,
die die Wirkung leibhaftiger Schau-
spieler fast übertrifft. Wie reizend,
wenn Faust mit steifen Händen sein
Buch umblättert, wie rührend, wenn
er ein Bein nach hinten, eins nach
vorne streckt und zum Gebet hin-
kniet. Das kann alles nicht anders
sein, und die Beweglichkeit der Glie-
der scheint auch das starre Gesicht
mimisch zu beleben. Welch eine
Ausdruckskraft des Phantastischen,
wenn die spukhaft derben Geister
erscheinen ! Welch eine Drastik des
Komischen, wenn Hans Wurst auf-
tritt! Welcher entzündende Gegen-
satz in den Bewegungen der volks-
tümlichen Gestalten und den aristo-
kratischen Gesten des Herzogs von
Parma! Früher störte bei den Ma-
rionettentheatern, dass die Organ-
stärke der sprechenden Schauspieler
253
THEATER UND KONZERT
in keine Übereinstimmung mit der
Unwirklichkeit der Figuren zu brin-
gen war. Diesmal waren auch hier
Abstufungen erreicht, so dass —
wenigstens von den hinteren Plätzen
aus — die Suggestion vollkommen
war. Das Marionettentheater Paul
Branns könnte das romantische
Drama schaffen. Hier möchte ich
Tieck und Brentano sehen.
HERBERT JHERING
BILDENDE KUNST
□ □
D D
KUNSTHAUS ZÜRICH. Die fünfte
Ausstellung der Gesellschaft Schwei-
zerischer Maler, Bildhauer und Ar-
chitekten, die blsEnde dieses Monats
geöffnet bleibt, bietet ein so schönes
und übersichtliches Bild unseres na-
tionalen Kunstschaffens, wie man es
sich nicht besser wünschen kann;
die staatlich geleiteten Ausstellungen
verfügen wohl über größere Mengen
aber nicht über höhern Innern Wert.
Ich will nicht viel Worte über die
Meister verlieren, deren Name satt-
sam bekannt ist. Von Hodler ist
der Orateur da, die durch konzen-
triertesten seelischen Ausdruck starke
Mittelfigur des Rathausbildes für Han-
nover; von Giovanni Giacometti ein
Triptychon von prächtigen rötlichen
Kinderakten auf gelbem Grunde, et-
was vom Besten, das er geschaffen
hat; die Mädchenakte von Amiet,
die daneben hangen, böten die beste
Gelegenheit, die Art dieser beiden
verwandten und doch wieder so ver-
schiedenen Maler zu vergleichen,
wozu es mir leider an Platz gebricht.
Das Verschneite Hochtal von Wil-
helm L. Lehmann zeigt den Maler
heute im Besitz viel besserer Mittel,
als da er zuerst versuchte, sein an
die Farbenwelt des Dachauer Moo-
ses gewöhntes Auge den Erschei-
nungen des Hochgebirges anzupassen.
Bei ruhigem Vorwärtsschreiten auf
dem von ihnen gewählten Pfad sieht
man Rene Auberjonois, Abel Her-
menjat, Alfred Blaile; mit ungestü-
merem Tempo Alexandre Blanchet
und Louis Moilliet — zwei ganz
D D
D a
prächtige Kerle — ; und wie vortreff-
lich sich P. T. Robert auf dem Weg
zu starkem Ausdruck durch das Mit-
tel der Form entwickelt, zeigen die
beiden Damenbildnisse, das eine von
1911, das andere von 1913. Ein liebe-
voller Kenner der Kinderseele und
dazu ein zarter Kolorist, der sich
mit jedem messen kann, ist Louis
de Meuron.
Nicht weniger als diese figür-
lichen Bilder, bieten die Landschaf-
ten; hier ist es besonders lohnend
zu beobachten, wie der junge Schwei-
zer Maler die Schönheiten seines
Landes zum Kunstwerk gestaltet.
Wieder möchte ich hier Arnold Fiech-
ter von Basel zuerst nennen, der mir
letztes Jahr in Neuenburg schon
ausnehmend gefiel; seine Flussland-
schaft ist mit der schönen flächigen
Teilung ein groß gesehenes, ein-
druckvolles Stück. Von nicht gerin-
gerer Bedeutung sind die mit süd-
licher Farbenglut erfüllten Land-
schaften von Paul Basilius Barth.
Der Genfer John Torcapel hat in
seinem Weinberg ein eigenartiges
Motiv kräftig, fast in der Art van
Goghs, durchgeführt. Als neuer
Mann, der Eigenes zu geben hat,
ist hier auch Joseph Hermann von
St. Gallen zu nennen; seine Land-
schaft Im Mai zeigt die merkwürdi-
gen hellen und dunkelsaftigen Grün,
die im Bergland unter dem schmelzen-
den Schnee erscheinen, der mit ei-
nem blendend kühnen Fetzen wie
ein Ornament das Bild beherrscht.
A. B.
254
D D
D D
TAGEBUCH
D □
D Q
EINE ANSPRACHE FRANCESCO
CHIESAS. Kunstfreunde werden eine
neue kleine tessinische Broschüre
willkommen heißen: die Ansprache
Francesco Chiesas zur Eröffnung der
ersten Ausstellung italienisch-schwei-
zerischer Kunst in Lugano i). Man
weiß, dass Chiesa aus einer Maler-
familie stammt, dass er sich einge-
hend mit Kunstgeschichte befasst
hat (er erteilt oder erteilte auch
Unterricht in Kunstgeschichte), und
dass sein Dichten in engem Zusam-
menhang steht mit aller bildenden
Kunst. Nicht umsonst entnahm er
der Architektur die Titel der drei
Gesänge seiner mächtigsten Dichtung
Calliope: die Kathedrale, die Für-
stenburg, die Stadt. Nicht umsonst
enthält seine Gedichtsammlung / Vi-
ali d'oro drei K^ßusgedichte. Nicht
umsonst verrät eine Erzählung seiner
Istorie e favole (La vergine macu-
lata) so genaue Kenntnis verschie-
dener künstlerischer Techniken, und
leiht er zwei marmornen Frauen-
gestalten bedeutsame Rollen in den
Erzählungen // barbaro und // su-
perstite. Dass die bildenden Künste
ihm nicht nur unlöschliche ..Ein-
drücke sondern wegweisende Über-
zeugungen und frohen fördernden
Glauben gegeben, das bezeugt sein
Gedicht La porta; während das Ge-
dicht L'uccello di paradiso seine
musikalische Genussfähigkeit ahnen
lässt. Wie zu vollendeter Freude es
der reichen Gaben aller Künste be-
darf, das erleben wir im hochzeit-
lichen neunzehnten Sonett der Für-
stenburg. Am eindringlichsten aber
1) La prima esposizione d'arte della Sviz-
zera italiana. Discorso d'apertura, 10 set-
tembre 1913. Tipografia luganese.
spricht Chiesas hohe Einschätzung
der bildenden Künste und zugleich
des geschichtlich Wesentlichen aus
dem Sonett vom blühenden Granat-
baum, der im öden Hofe der ver-
wüsteten Fürstenburg prangt, wie
ein lebendiges Banner des Sommers.
So flammenspendend, so wunderbar
ist er, weil tief im Boden seine Wur-
zeln die Trümmer glänzender Ge-
heimnisse umklammern: göttlichen
Marmor, Splitter von Schwertern
und Schilden. Aus diesen epischen
Schönheitsreliquien saugt der Baum
seine Pracht. Demnach — oh herr-
liche Kühnheit — nährt sich die Na-
tur aus den vergänglich-unvergäng-
lichen Werken des Menschen. Wer
solches ersonnen oder empfunden
hat, dem ist die Kunst in ihren be-
sten plastischen und farbigen Äuße-
rungen Lebenssehnsucht und Le-
bensbedingung. Kein Berufenerer
konnte den italienisch-schweizeri-
schen Künstlern ein Glückauf -^nn-
schen zu ihrer ersten Einigung. In
seiner Ansprache hebt Chiesa her-
vor, jedem Kulturvolk tue es not eine
Geschichte zu haben. Geschichte
bedeutet nicht nur Städte zerstören,
sondern auch Städte aufbauen. Das
Vaterland mit den Waffen verteidi-
gen, neue Länder gewinnen, Gesetze
auferlegen, kraftvolle Taten voll-
bringen : dies alles ist wohl Ge-
schichte. Aber Geschichte ist auch,
(obwohl weniger bekannt und Eili-
gen sowie Kindern weniger leicht
verständlich) die Geschichte der Kün-
ste. Seien wir getrost: ein ganzes
weites Kapitel der italienischen Kunst-
geschichte spricht von tessinischen
Künstlern und von tessinischen Wer-
ken. Chiesa nennt sie, die einst
weithin Tätigen und heute noch Be-
255
TAGEBUCH
C3 C3
wunderten. Er freut sich, dass diese
erste Ausstellung ein Zusammen-
halten der schweizerischen Künstler
italienischer Zunge veranlassen wird.
Zwar muss jeder Künstler nach sei-
ner eigenen Art glauben, lieben,
schaffen. Indes, die Natur und das
Leben bieten zuweilen äußere Um-
stände und Bedingungen, die in den
verschiedenartigsten Menschen ähn-
liche Wirkungen hervorrufen. Unbe-
wusst finden sich diese von der einen
Macht geeint, die alle beherrscht.
„Söhne derselben Erde sein, dieselben
Berge gesehen zu haben, im dun-
keln Unterbewusstsein gewisse glei-
che Eindrücke bewahren, das sind
starke Ursachen zu wahrhafter Ver-
wandtschaft auch zwischen verschie-
den geschulten Künstlern." Zum
Schluss heißt es: „Aus den rhäti-
schen Tälern und aus den tessini-
schen haben sich hier die verschie-
densten Künstler vereinigt, nicht um
auf das Wort Segantinis oder Hod-
lers oder Rodins zu schwören, oder
um für und wider den Kubismus zu
streiten: aus keinem anderen Grunde
als dem, sich alle aufrichtig als Ro-
manen zu fühlen. Dass ihr schönes
Unternehmen Beispiel und Sporn sei
auch den Nicht-Künstlern! Uns allen
wird es gelingen, in der Eidgenossen-
schaft die Hochschätzung und die
Sympathie zu erwerben, die uns zu-
kommen, und derer wir bedürfen,
wenn wir weder die gewohnten Kla-
gen wiederholen, noch uns eifriger
Kriecherei oder kindischen Trotzes
schuldig machen, sondern wenn wir
mit Werken mehr denn mit Worten
das Bewusstsein und Gepräge unse-
res Italienertums beweisen."
Auch aus dieser, wie aus andern
kürzlich gehaltenen Ansprachen
Francesco Chiesas ^), geht sein hoch-
gerichtetes Wesen hervor. Möge er
mit der lebendigen Rede den weiten
Massen ein Führer sein, die ihm als
Dichter nicht folgen können. Denn
gewiss sind ihm die tiefen Einsich-
ten eigen und die stolzen Flüge der
großen glaubensicheren Erzieher.
E. N. BARAGIOLA
1) Ich denke insbesondere an seine in
französischer Sprache gehaltene Genfer Rede:
Le sentiment national suisse, Geneve 1913.
Das Titelblatt schmückt ein stolzer hodler-
scher Eidgenosse.
Herr J. C. Kaufmann, Präsident der
schweizerischen Künstlervereinigung
(Sezession), in Luzern, schreibt uns,
er habe mit der Broschüre Cato, die
Herr Dr. Baur hier besprach, gar
nichts zu tun. Das Schriftchen sei für
ihn eine Überraschung gewesen. Wir
stellen das gerne fest.
Ferner macht Herr Kaufmann
unsere Redaktion auf einen Wider-
spruch aufmerksam und schreibt:
„Sie selbst loben das eine mal den
Kubismus und Exzessivismus und
lassen ein ander mal Anna Lanicca
sagen, dass derselbe von kurzer Dauer
sei, da er nicht begründet sei." Un-
sere Zeitschrift dient aber keiner
Koterie; sie bringt verschiedene
Meinungen zum Ausdruck. Auch das
lasse ich gerne durch Herrn Kauf-
mann feststellen.
Raum und Zeit fehlen mir heute,
um die eigene Meinung auszuspre-
chen. Es soll ein nächstes mal ge-
schehen. BOVET
Nachdruck der Artikel nur mit Erlaubnis der Redaktion gestattet.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
256
DAS KIRCHENFENSTER
Santa, ach, sie sagten immer,
Dass dein Auge niemals glüiie,
Dass es lichtlos in der Frühe
Und am Tage ohne Schimmer —
Keiner kennt uns, weit vom Strande!
Abseits vom Canale grande
Steht an einer Landungsstelle
Eine kleine Bußkapelle.
Diese ist es! Fährmann, lande —
Hier verlassen wir die Fluten!
Wenn mir alte Narben bluten.
Neue Qualen mich befallen,
Rett' ich mich in diese Hallen.
Schmerzen bleichen hier und Qluten,
Und verglüht steht die Kapelle,
Abends, wenn die Sonnenhelle
Sanft erwacht im Fensterrunde,
Quillt für eine einzige Stunde
Aus dem Glas, wie eine Quelle,
Glut und Farbe, Glanz und Leben !
257
Tags verhüllt durch Spinneweben,
Wird, in mattem Scheine blühend,
Nun das Bild im Fenster glühend —
Lasst die Blicke uns erheben !
Schaut, das Glas wird langsam bunter!
Aus dem Fenster blickt's herunter,
Um den Gläubigen zu künden:
Jesus Christus heilt den Blinden!
Und du fühlst das Schöpfungswunder,
Wie der Herr den Blinden heilte!
Wenn ich vor dem Fenster weilte
Und das Bild sah glüher werden.
Warf's mich brausend auf die Erden,
Weil mich Gottes Geist ereilte —
Still, da kommt die Lichterwelle!
Rühre dich nicht von der Stelle!
Lass uns tief im Dunklen bleiben!
Heilig wächst der Brand der Scheiben —
Knieend in der Bußkapelle,
Ruf ich in den Feuerflimmer:
Santa, ach, sie sagten immer,
Dass dein Auge niemals leuchte,
Dass kein Glanz des Glücks es feuchte,
Dass es ohne Glut und Schimmer —
Schönes Fenster! Heilige Quelle!
Schaut, im Tiefsten der Kapelle
Klingen zaubrisch die Kristalle,
Schüttet in die Pracht der Halle
Nur die Sonne eine Welle . . .
CARL FRIEDRICH WIEGAND
258
JELLINEK UND DER PROPORZ
So überschreibt Herr Otto Schmassmann im letzten Heft von
Wissen und Leben eine stark persönliche Polemik gegen den Unter-
zeichneten. Er setzt sich darin mit meiner am 6. April 1910 im
Nationalrat gehaltenen Rede gegen die Proporzinitiative auseinander,
um im Wesentlichen zu wiederholen, was er im Stadt- Anzeiger der
Stadt St. Gallen (No. 15 vom 18. Januar 1911) unter dem Titel:
Dr. Forrers Kronzeuge behauptete, nämlich dass ich Jellinek fälsch-
licherweise als Proporzgegner zitiert habe. Dem anonymen Artikler
des Stadt-Anzeigers habe ich in No. 16 des St. Galler Tagblatts
vom 19. Januar 1911 geantwortet und damals schon klar und
unzweideutig die völlige Unbegründetheit der mir gemachten Un-
terstellung nachgewiesen. Es mag mir gestattet sein, nunmehr
auch Herrn Otto Schmassmann an der gleichen Stelle gegenüber-
zutreten, an welcher er mit gelüftetem Visier seinen Angriff wiederholt.
in welchem Sinne ich Jellinek zitierte, ist aus dem Zusam-
menhang meiner damaligen Rede zu beurteilen. Ich setzte mich
unter anderm mit der Proporzrede von Herrn Prof. Speiser aus-
einander. Er erkannte in seinen Ausführungen willig an, dass
sich die freisinnige Partei um die Entwicklung der Wahlberechti-
gung und Stimmberechtigung außerordentliche Verdienste erwor-
ben habe ; sie sei die Führerin gewesen und habe die Rekurse
gegen die Wahlbeeinträchtigung im Sinne einer sehr schranken-
losen Wahlfreiheit entschieden. Wenn aber diese freisinnige Partei
sich heute weigere, mitzugehen in der Vervollkommnung des
Wahlrechtes durch Schaffung allgemeiner und gleicher Wahlkraft,
so bleibe sie stehen. Herr Speiser feierte also das proportionale
Wahlverfahren als ein im Wesen der Demokratie liegendes Fort-
schrittsprinzip, das in der Richtlinie der bisherigen Entwicklung
der freisinnig-demokratischen Parteiideale liege. Demgegenüber
führte ich nun wörtlich Folgendes aus:
Herr Prof. Speiser hat dann der freisinnig-demokratischen Partei ein
freundliches Kompliment gemacht, indem er ausführte, sie habe Verdienste
darum, das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht gesichert und ein weit-
herziges Rekursverfahren in dieser Richtung garantiert zu haben. Timeo
Danaos et dona ferentes. Ich glaube, dieses Kompliment ist nicht um des
Komplimentes willen gemacht worden, sondern deshalb, um desto greller
in die Erscheinung treten zu lassen, was man gleich nachher der freisinnig-
259
demokratischen Partei zum Vorwurf macht, den Vorwurf, dass die frei-
sinnig-demokratische Partei diesem neuen demokratischen Fortschritts-
prinzip gegenüber sich so aristokratisch-konservativ und so reserviert
verhalte.
Ich glaube, es ist eine unrichtige Auffassung, wenn man überhaupt den
Proporz als ein demokratisches Fortschrittsprinzip postuliert. Er ist das
nicht, sondern bleibt seinem Wesen nach ein durchaus konservatives
Prinzip. In dieser grundsätzlichen Auffassung liefert der Vortrag Jellineks
in der juristischen Gesellschaft in Wien Das Recht der Minoritäten einen
zu ernstem Nachdenken anregenden Kommentar. Er postuliert und ver-
teidigt das formelle und materielle Recht der Minoritäten, aber nicht aus
demokratischen Gesichtspunkten heraus, sondern als ein Palliativ gegen die
alles überflutende demokratische Tendenz des Majoritätsprinzips. Sein
Gedankengang ist der, dass er sagt : „Die Besten sind in der Minorität,
die demokratische Masse hat Unrecht, deshalb müssen wir diese aristo-
kratische Minorität schützen". Aber, meine Herren, wir stehen in der
schweizerischen Demokratie auf einem andern Standpunkte; wir haben be-
reits dafür optiert, dass bei uns die Masse durch den Stimmzettel ent-
scheidet. Wir können nicht mehr zurück zu dem Standpunkt, den Herr
Prof. Jellinek vielleicht mit Recht vertritt.
Es ist nun doch gewiss für jedermann klar, der verstehen
will, dass ich Jellinek nicht als Proporzgegner zitiere. Ich führe
ihn vielmehr als einen entschiedenen Gegner des demokra-
tischen Majoritätsprinzips an. Ich stelle ja unmissverständlich
fest, dass er das formelle und materielle Recht der Min-
derheiten fordert und verteidigt, nicht wie Herr Prof. Speiser
in der Meinung, es sei dies die logische, natürliche und des-
halb anzustrebende demokratische Fortentwicklung des allge-
meinen Wahlrechtes zur allgemeinen und gleichen Wahlkraft,
sondern vielmehr aus einer durchaus aristokratischen und
konservativen Anschauung heraus, nämlich um einen Damm zu
schaffen gegen die alles überflutende demokratische Tendenz des
Majoritätsprinzips. Wer meiner Rede mit Verständnis und ohne
Voreingenommenheit folgt, erkennt, dass ich den völlig verschie-
denen Ausgangspunkt und die prinzipiell grundverschiedene An-
schauung einander gegenüber stellte, aus der heraus zwei bedeu-
tende Rechtslehrer, wie Speiser und Jellinek, gegenüber dem Ma-
joritätsprinzip das Recht der Minoritäten fordern. Es liegt ein
tiefer Gegensatz zwischen der staatsrechtlichen Auffassung Spei-
sers, die einer ausdehnenden Entwicklung des allgemeinen und
gleichen Wahlrechtes und seiner gesetzlichen Festlegung im Pro-
porz als einem demokratischen Fortschrittsprinzip ruft und der
260
Theorie Jellineks, der die Macht und den Einfiuss der demo-
kratischen Mehrheit, der Massen überhaupt, zurückbinden will.
Man vergleiche die zitierte Schrift Jellineks Des Recht der Mi-
noritäten nur im Zusammenhang, und nicht bloß in dem von
Schmassmann gegebenen Auszuge; zum Beispiel auch die Sätze:
Nichts kann rücksichtsloser, grausamer, den primitiven Rechten des
Individuums abholder, das Große und Wahre mehr hassend und verachtend
sein, als eine demokratische Mehrheit Nur ein der Wirklichkeit
gänzlich abgewendeter Mensch kann heute noch den Traum von der Güte
und Wahrheitsliebe der Massen träumen.
Aus diesem antidemokratischen trotzigen Minoritätsgefühl her-
aus erfolgt der Ruf Jellineks nach dem Rechte der Minoritäten ;
die Forderung Speisers aber nach dem Proporz entspringt ganz
und gar einer demokratischen Grundanschauung, die ich freilich
nicht teile, dass der Proporz die staatsrechtlich begründete
Fortentwicklung und Sicherung des demokratischten aller Rechte,
des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts sei.
Herr Otto Schmassmann versucht nachzuweisen, dass Jellinek
in der genannten Schrift gar nicht vom proportionalen Wahl-
verfahren handle. Aber damit ist doch im entferntesten nicht
dargetan, dass ich irgendwie sinnwidrig Anschauungen Jellineks
zitiert hätte. Denn wenn, um mit Herrn Schmassmann zu reden,
Jellinek die bereits bestehenden Minderheiten im Parlament so-
wie bei Volksabstimmungen vor der Willkür einer übermächtigen
Mehrheit schützen will, dann muss er noch vielmehr a fortiore das
Recht der Minoritäten im Wahlverfahren vertreten und sichern
wollen, damit sie überhaupt im Parlamente entstehen und dort
einziehen können. Dass dies auch Jellineks Auffassung ist, er-
gibt sich übrigens unschwer aus seiner geschichtlichen und kri-
tischen Darstellung des Majoritätsprinzips in der Einleitung.
Zum Schlüsse legt mir Herr Schmassmann den Unsinn in
den Mund: „Wir sind eine Partei des Individualismus, darum —
lehnen wir ihn ab!" Auf diesen innern Widerspruch kondensiert
Herr Schmassmann den letzten Teil meiner Proporzrede. Um
jedem Leser die Möglichkeit zu verschaffen, der Gründlichkeit,
deren sich Herr Schmassmann rühmt, selbst das ihr zukommende
Zeugnis auszustellen, lasse ich den in Frage kommenden Teil
meiner Rede hier folgen. Ich sprach von der atomisierenden Ten-
261
denz des Proporzes besonders gegenüber den großen historischen
Parteien und sagte dann wörtlich:
Die Proporzgegner wissen gerade so gut wie die Freunde des Pro-
porzes, dass die Parteien lebendige Organismen sind, die entstehen und
vergehen. Was wir aber auch wissen, ist das, dass sich die Organismen
verschieden entwickeln, je nachdem Sie ihnen günstige oder ungünstige
Entvvicklungsbedingungen schaffen. Der Proporz schafft keine neuen Par-
teien, die wir nicht irgendwo vorher schon in ihren Ansätzen gehabt hät-
ten, aber er fördert die Neubildung von Parteien, weil er den zentrifugalen
Kräften, den separatistischen Tendenzen ein brauchbares Instrument leiht,
sich zu konstituieren. Es ist meine innerste Überzeugung, dass darin, in
dieser seiner gewissermaßen automatischen Funktion, die große Gefahr für
die Einheit und Kraft der Parteien liegt Herr Prof. Speiser hat
ausgeführt: „Die politische Gleichheit ist erreicht. An ihrer Seite ist nun-
mehr die wirtschaftliche Gleichheit zu sichern." Wir sind mit ihm voll-
ständig einig, das ist auch unser Ziel ; aber mit der Tatsache, dass heute
im wesentlichen wirtschaftliche Interessen im Vordergrunde stehen, ist
gerade die Gefahr der Atomisierung der historischen Parteien graduiert.
Das ist ja überhaupt ein Nachteil unseres politischen Lebens, dass die
großen politischen und kulturellen Fragen in engerem Sinne nicht mehr so
die Geister beherschen und im Vordergrunde stehen, wie sie im Interesse
einer gesunden Entwicklung der Demokratie im Vordergrunde stehen soll-
ten, sondern dass die kleinlichen und kleinsten wirtschaftlichen Fragen die
Geister beherrschen und dass wir schließlich keine kulturellen geistigen
Fragen mehr kennen, sondern nur noch Magenfragen.
In einer Zeit, wo eine solche Tendenz vorherrscht, ist die Einführung
des proportionalen Wahlverfahrens ganz besonders gefährlich. Man wird
sagen, die freisinnige Partei müsse diese Wirkung ertragen. Ich glaube, sie
wird sie eine Zeitlang ertragen können, denn diejenigen kommen nicht auf
ihre Rechnung, die glauben, dass unsere freisinnig-demokratische Partei
nicht eine lebensfähige Partei sei und dass sie keine Ideale habe, die sie
zusammenhalten können. Aber die Wirkung des Proporzes ist uns des-
wegen so gefährlich, weil unsere Ideale so geartet sind, dass sie dieser
gefährlichen Wirkung des Proporzes ganz besonders entgegenkommen.
Wir sind eine Partei des Individualismus, wir sind eine Partei, die das
Recht des Einzelnen, das Persönlichkeitsprinzip in den Vordergrund stellt,
und auf eine solche Partei ist die Wirkung des Proporzes eine doppelt
gefährliche. Die konservative Partei wird davon viel weniger betroffen, und
wenn sie so entschieden für den Proporz eintritt, — ich will niemanden zu
nahe treten — , so dürfte vielleicht doch auch bei dem einen oder andern die
Erwägung der besondern Gefährlichkeit des Proporzes für den alten histo-
rischen Gegner mit maßgebend sein und die damit verbundene Hoffnung,
dass er automatisch-mechanisch besorge, was der Ansturm der gegnerischen
Parteien bis jetzt vergeblich versuchte : Die Zertrümmerung der freisinnig-
demokratischen Mehrheitspartei. Die konservative Partei, die andere große
historische Partei, wird wenig von der zersetzenden Wirkung des Proporzes
betroffen werden, weil sie einigendes Ferment hat, das sie über alle wirt-
schaftlichen Gegensätze hinaus zusammenführt: das konfessionelle Be-
wusstsein. Das ist etwas Großes an der konservativen Partei, auch wenn
262
wir es von unserm Standpunkte aus nicht begrüßen und nie glauben kön-
nen, dass es gut sei, den konfessioneilen Gedanken im staatspolitischen
Leben so stark zu betonen.
Auch auf die sozialistische Partei wird der Proporz diese zersetzende
Wirkung nicht ausüben; denn sie hat, wie Herr Prof. Speiser mit Recht
ausgeführt hat, die große Einheit der Gedanken und Ziele und ein außer-
ordentlich straffes äußeres Parteiprinzip nach der Regel Bebeis: Wer sich
nicht fügt, der fliegt. Wir können und wollen eine solche absolutistische
Maxime in unserer Partei nicht zur Anwendung bringen, denn sie wäre un-
vereinbar mit ihren Grundlagen und ihrem Wesen.
Die sozialdemokratische Partei ist zusammengehalten durch das sie
voll und ganz erfüllende Klasseninteresse und Klassenbewusstsein. Unsere
Partei ist eine Partei der verschiedensten wirtschaftlichen Auffassungen :
der Bauer neben dem Handwerker, der bezahlte Lohnarbeiter und der
Mann der freien Wissenschaft finden darin Platz. Wir haben so einen klei-
nen Ausschnitt aus dem gesamten Volk und auf diese Partei wird der
Proporz eine zersetzende Wirkung haben. Sie können nicht einem Ange-
hörigen einer Partei, der aus der Tiefe seiner Überzeugung heraus den
Idealen seiner Partei folgt und an dieselben glaubt und der überzeugt ist,
dass die Verfolgung dieser Ideale im Interesse des gesamten Vaterlandes
liegt, zumuten, dass er einem Wahlverfahren zustimme, dass das Toten-
glöcklein für diese Partei läuten soll. Ich habe die Überzeugung, dass es
für unser schweizerisches Vaterland wichtig ist, wenn wir nicht ein Prin-
zip der Trennung, der Zersetzung der Gesellschaft und des Volksganzen
einführen. Denn unser Vaterland hat der Differenzierungen genug in bezug
auf Sprache, Sitte, Geschichte und Religion und dieses Vaterland hat ein
einigendes, zusammenfassendes Band nötig und nicht eine Wahlverfassung,
deren Zentrifugalkraft die geschlossene Kraft des Ganzen schwächen muss.
Wenn ich in meiner Rede die freisinnig-demokratische Partei
als eine solche des Individualismus bezeichnete, wenn ich an-
deutete, dass sie eine Partei sein wolle, die das ideal der freien
Persönlichkeit im Sinne der Heraus- und Emporhebung des
Einzelmenschen und des Volkes aus der politischen und geistigen
Gebundenheit zur Autonomie proklamierte, so habe ich freilich
das Wesen des modernen Liberalismus damit nicht erschöpfend
umschrieben. Das war aber auch für jeden gewiss selbstver-
ständlicherweise in meiner Rede im Vorübergehen weder gewollt
noch möglich. Es mag daher hier eine kleine Ergänzung einge-
schaltet werden. So sehr der Gedanke der politischen und geisti-
gen Freiheit, beides im Rahmen der Vernunft, das politische und
kulturelle Programm freisinniger Weltanschauung beherrscht, so
hat doch „die auf dem Boden einer veränderten Technik empor-
gewachsene Wirtschaftsordnung" es mit sich gebracht, dass dieses
politische und Kulturideal einen sozialen Einschlag erhielt.
263
An die Seite des politischen und geistigen Freiheitsgedankens
trat die Erkenntnis sozialer Gebundenheit mit ihrem weit- und
warmherzigen Verantwortlichkeitsgefühl für den wirtschaftlich
Schwachen, in diesem Sinne hat der einseitige Individualismus
des Liberalismus seine Korrektur und seine Ergänzung erfahren.
Die durch dieses immer noch stark individualistische politische
Glaubensbekenntnis zusammengehaltene Partei des Liberalismus
kann der äußern Organisation nicht entraten. Sie wird aber, und
zwar aus Gründen, die in ihrem Wesen selbst liegen, niemals der
straffen, lückenlosen Organisation und Zusammenfassung fähig
sein wie andere politische Parteien. War der Liberalismus groß
als Idee, so ist er als Organisation doch stets schwach gewesen.
Die Wahrheit dieses Naumannschen Wortes hat jeder täglich zu
erfahren Gelegenheit, der im aktiven politischen Leben steht.
Daher wird die Technik des Proporzes, deren einwandfreie Funk-
tion die vorbehaltloseste Parteigeschlossenheit und lückenlose
Organisation zur Voraussetzung hat, unserer Partei stets am
wenigsten zuträglich sein. Eine Partei, die historisch im Indivi-
dualismus wurzelt und wirtschaftlich weit mehr Gegensätze in sich
birgt, als dies bei den andern politischen Parteien der Fall ist,
bietet auf die Dauer der atomisierenden Tendenz des propor-
tionalen Wahlverfahrens eine um so breitere und geeignetere An-
griffsfläche, je mehr die wirtschaftlichen Probleme die großen
politischen und kulturellen Fragen eines Volkes in den Hinter-
grund drängen. Nun möchte ich gleich betonen, dass keine Partei,
auch nicht diejenige, die große Verdienste um den fortschrittlichen
Ausbau des Vaterlandes hatte, bloß aus parteipolitischem Egois-
mus heraus einem überlegenen Wahlverfahren entgegentreten darf.
Wohl sind, wie Laband ausführte, Fragen des Wahlverfahrens
immer Machtfragen, aber sie sollen und dürfen es meines Er-
achtens nicht ausschließlich sein. Von dem Momente an, wo ich
mich überzeugen kann und muss, dass die Einführung des pro-
portionalen Wahlverfahrens wirklich von den höhern Interessen
des Allgemeinwohls verlangt wird, dass es und nur es allen jenen
gesellschaftlichen Kräften den ihnen zukommenden Einfluss auf
das staatliche Leben sichert, von deren Anerkennung und Mit-
arbeit der Staat getragen sein muss, um seine großen Aufgaben
zu erfüllen, von diesem Momente an beuge ich mich dieser bessern
264
Erkenntnis. Dabei kommt aber nicht nur das proportionale Wahl-
verfahren für den Nationalrat, sondern die gesamte konstitutionelle
Struktur unseres Staatswesens, vor allem auch der Einfluss der
Minderheiten Im Zweikammersystem und derjenige des gesamten
Volkes mittels Initiative und Referendum In Betracht. Darüber
wird ja die neue Bewegung Abklärung schaffen.
Nun konstruiert Herr Otto Schmassmann einen Widerspruch
aus meiner Rede dadurch, dass er sagt: Eine Parteides Indivi-
dualismus muss gerade ein Wahlverfahren begrüßen, das in sich
selbst die Möglichkeit einer noch weiteren Individualisierung in
Gruppen bringt. Diese auf den ersten Blick nahe liegende Ein-
wendung bleibt aber an der Oberfläche haften. Sie übersieht, dass der
materielle Inhalt des Programms einer politischen Partei unab-
hängig ist von der äußern Organisationsform des Wahlverfahrens.
Die Praxis belegt dies dutzendfältig durch die ganz verschiedene
und gegensätzliche Stellung, die dieselben politischen Parteien in
verschiedenen Kantonen und Ländern zum proportionalen Wahl-
verfahren einnehmen. Jede politische Partei, die an sich glaubt,
muss Ihre Einheit und Größe wollen ; auch die individualistisch
durchwirkte freisinnige Partei. Deshalb muss und wird auch sie
jeder Einwirkung von außen entgegentreten, welche auflösend
und zersetzend auf sie wirken will und wird. Sie kommt dabei
mit dem Inhalt Ihres Parteiprogramms, so weit dieses individu-
alistisch ist, keineswegs in Widerspruch. Sie weiß ebensogut wie
jede andere politische Partei, dass sie den Inhalt ihres politischen
Programms wesentlich nur in dem Maße im staatlichen Leben
verwirklichen und durchsetzen kann, als sie hiezu in der Stärke
und Geschlossenheit der Parteiorganisation das äußere Mittel
hat. Wenn Herr Otto Schmassmann wirklich glaubt, dass darin
das Genügen liege, das Recht der Persönlichkeit nur wie einen
Kettenhund zu besitzen, wozu ihn losbinden?, so mag er in der
Geschichte des Liberalismus einmal blättern. Dann wird Ihm fast
auf jedem Blatte davon erzählt werden, dass der Liberalismus das
Recht der Persönlichkeit, wie es sich ausleben soll und will in
der Freiheit des Glaubens und Denkens, in der Lehr- und Lern-
freiheit, mit starkem Schwert aus einer Welt von Widerständen
herausgehauen hat. Und wer aus der Vergangenheit in die Ge-
genwart hineinblickt mit offenem, klarem Auge, wird vielleicht
265
doch noch erkennen, dass jene Partei, der das geschichth'che Ver-
dienst zukommt, dieses Recht der Persönlichkeit auf dem Boden
des Staates errungen zu haben, nicht zu Unrecht das Schwert in
starker Hand behalten will, um zu wahren, was im Kampfe
früherer Zeiten errungen wurde. Und wenn Herr Otto Schmass-
mann darüber hinaus noch näher prüfen und überlegen will, wie
das Recht der Persönlichkeit auf dem Boden des proportionalen
Wahlverfahrens sich auslebt, empfehle ich ihm die Lektüre der
Wahlliteratur und Wahlinstruktionen in den wochelangen Vorbe-
reitungen, die unsern nach proportionalem Wahlverfahren erfol-
genden Kantonsratswahlen vorausgehen. Vielleicht kommt ihm
dann sein Bild vom Kettenhund wieder auf die Lippen, aber in
anderem Sinne.
ST. GALLEN R. FORRER
RICHARD DEHMEL
ZUM FÜNFZIGSTEN GEBURTSTAG
Hauptmann und Schnitzler haben leztes Jahr den Lebenszenith
passiert, Dehmel folgt ihnen heuer. Man hat sie vielleicht noch
nie leibhaftig vor sich gesehen: sie sind doch liebe, alte Freunde
geworden, in die man sich eingelebt hat, in denen man sich aus-
zukennen meint, vielbewährte Freudenspender, von welchen noch
manche Bestätigung ihres Wertes, aber kein aufregender Salto
mortale mehr zu erwarten ist, während man sich schon mit den
Sprüngen und Tänzen einer nachdrängenden jungen Schar aus-
einandersetzen muss. Und wie verwirrt, ergriffen und fassungslos
man noch vor zehn Jahren diesen nun altgewohnten Größen
gegenüber stand, wenn man sich etwa als junger Student in der
Weltstadt mit einem Schlag vor die ungeahnten Wunder und
Phänomene der Moderne versetzt sah. Von was allem man sich
in seiner Überrumpelung imponieren ließ! Welche bengalischen
Feuer einen zu blenden vermochten! Wie viel blitzende Diamanten
unversehens ihren Glanz verloren hatten, wenn man sie später
wieder einmal in die Hand nahm! Wie ärgerlich die Erkenntnis,
Verehrung und Liebe an manchen Unwürdigen verschwendet zu
haben! Und es wäre sehr schmerzhaft gewesen, wenn man auch
266
jenes liebste kleine Gedichtbuch zu den falschen Götzen in den
Ofen hätte werfen müssen, das man sich so billig für eine Mark
erstand, das sich dann in der Rocktasche bleibend einnistete und
das man endlich auswendig und inwendig kannte, mit den Orna-
menten von Peter Behrens, dem kühnen Wikingerkopf Dehmels
und den in damaliger Mode nach der Vertikalachse geordneten Versen.
Nein, sie halten stand, diese Gedichte, und so oft man sie
an sich vorübergehen lässt, sind sie noch herrlich wie am ersten
Tag. Sie bewähren das Wunder der echten Kunst: je mehr man
sie ausbeutet, um so mehr geben sie her. Es besteht alle Voraus-
sicht, dass sie ihre Leuchtkraft nie verlieren werden, dass mehr
als einem jene vornehme Anonymität beschieden sein wird, unter
der die edelsten lyrischen Sprösslinge als sogenannte Volkslieder
durch das ganze Land wandern und bei jedem namenlos zu
Gaste sind.
Und doch ist Dehmel zugleich, ja vor allem der typische
moderne Lyriker, dessen Gedichte sich um die Mittelachse seiner
Persönlichkeit drehen und ordnen. Er ist nicht bloß um seiner
Verse willen da, hinter denen er nach der Art eines Eichendorff
bescheiden unscheinbar zurücktreten würde, vielmehr erhöht sich
das Interesse zu einem stolzen Schauspiel, dadurch, dass diese
Gedichte ein Lebenswerk, ein Manneswerk bezeugen. Dehmel
gehört zu dem goetheschen Dichtertypus: die Persönlichkeit ordnet
sich nicht dienend dem poetischen Talent unter, sondern macht
sich vielmehr daraus ein Mittel, ein Werkzeug. So wird ihre Pro-
duktion der Spiegel ihres äußern und mehr noch ihres Innern
Lebens, ihrer Seelenkämpfe und Wandlungen, ihrer Siege und
Niederlagen, ihres „stirb und werde!" Und da, wie Nietzsche sagt,
das Genie fortwährend produziert, Gutes, Mittelmäßiges und
Schlechtes, und selbst diesem letztern der stärkste persönliche
Stempel aufgedrückt sein kann, so ist in den 12 Bänden Dehmel-
scher Bekenntnis- und Gelegenheitsdichtung trotz aller Selbst-
kritik zwar manches Unfertige, Ungeratene, Geschmacklose,
manches Schiefe und Zufällig-subjektive mit untergelaufen, aber
kaum etwas, das nicht als Wesensäußerung, als Emanation der
Persönlichkeit einiges Interesse hätte. Indem jene geistigen Kämpfe
und Krämpfe den Dichter bis auf den Grund aufwühlen, geht es
ohne schrille und anhaltende Dissonanzen nicht ab und dürfen
267
wir keinen ungetrübten Genuss erwarten. Wir werden umherge-
worfen und verwirrt, angezogen und abgestoßen, beleidigt und
beseligt, aber doch immer in Bann gehalten von diesem elemen-
taren Kräftespiel, dieser ungestümen Dynamik, deren Wucht ich
in der deutschen Lyrik nichts an die Seite zu stellen wüsste. Man
hat Dehmel mit Recht unsern einzigen Dichter genannt, der noch
Chaos in sich habe, und dieser Eine tut uns not. Das Stöhnen
und Schreien ungebärdigen Trieblebens dringt in Augenblicken
mit der rohen. Kraft von Naturlauten, mit der ganzen Hässlich-
keit der heftigen Affekte herauf, und elementare Lüste und Wünsche,
die durch die Gesittung und den Zwang Jahrtausende alter Kultur
geschwächt und eingelullt sind, wollen wieder auferstehen und
sich befreien. Dehmel hat etwas von jenen wilden und kühnen
„Renaissancemenschen", jenen Prachtsexemplaren des mensch-
lichen Raubtiers, er hat eine außergewöhnliche Vitalität, deren
ungebrochene Instinkte und Leidenschaften auf die uneinge-
schränkte Herrschaft des Ichs auf die Befriedigung alier Lüste
gehen. Nicht bloß in der niedern sinnlichen Sphäre; wie es einen
Faust zum tollen Hexensabbat der Walpurgisnacht, in Auerbachs
Keller, zu Gretchen, Helena, aber nicht weniger ins Reich des
Erdgeists und der Mütter drängt, schlägt sich dieser Dichter mit
Inbrünsten jeder Art durch, zwischen Gott und Tier, und alle
Lust will er ergründen, so tief er dürsten kann. „Noch hat keiner
Gott erflogen, der vor Gottes Teufeln flüchtet!"
Aber dieser gesteigerte, nach allen Richtungen ausbrechende
Lebensdrang rundet sich und wird „Wille zur ganzen Welt".
Ich habe mit Inbrünsten jeder Art
Mich zwischen Gott und Tier herumgeschlagen —
Ich steh, und schmerzhaft rauf ich mir den Bart:
Nur Eine Inbrunst lässt sich treu ertragen:
Zur ganzen Welt.
Diese Lust, die Welt zu umarmen, sich auszuströmen in die
Welt, macht Dehmel zum dionysischen Dichter der Gegenwart,
und dieses bacchantische Fluidum, das in stärkern oder schwächern
Wellen sein ganzes Werk durchbrandet, stürmt am gewaltigsten in
jenen Rauschliedern, die er dem Chinesen Li-Tai-Po nachge-
ischaffen oder frei gedichtet, und gegen die gehalten unser ganzes
268
deutsches Trinkgesinge zu dürftiger Phiiisterhaftigkeit zusammen-
schrumpft.
Aber Dehmel weiß, dass das dionysische Ausschweifen einer
sammelnden Gegenkraft bedarf, wenn es nicht die Persönh'chkeit
auflösen soll, und das Chaos Kosmos werden muss, weil Kunst
Gestaltung ist. Die ganze Kunstgeschichte stellt sich ihm als ein
„fortwährend im Bau befindliches Befestigungswerk des Geistes
dar, das die Kultur gegen die Natur errichtet, gegen die Menschen-
natur wie die Weltnatur, um nicht in ihre bodenlosen Tiefen und
Weiten zu zerschwanken".
Den wilden Rossen seiner Triebe, die ihn hierhin und dort-
hin entführen möchten und in den Abgrund zu stürzen drohen,
setzt er die meisternde Faust des lenkenden Willens entgegen.
Im Leben wie in der Kunst. Und wenn es ihm, in dieser zum
mindesten, nicht ganz gelang, sein sehnsüchtig gesuchtes Ziel zu
erreichen, aus dem Trüben zur vollen Klarheit durchzudringen,
„aus Krampf Seligkeit zu gebären", und weniger gelingen konnte
als vielen andern, die schwächere Dämonen zu überwinden haben»
so ist doch diese Bändigung eine Existenzfrage und Notwendig-
keit für ihn, ein grandioses und rühmliches Ringen, und gibt
seiner vollblütigen Natur das Ethos, das zur ganzen Dichtergröße,
wenigstens bei den nördlichen Rassen, erforderlich ist.
Dieser ethische Läuterungsprozess dokumentiert sich am
deutlichsten in den beiden erotischen Gedichtzyklen, den Verwand-
lungen der Venus und den Zwei Menschen. Die erotischen Be-
ziehungen stehen im Brennpunkt von Dehmels Lebenswerk, denn
sie sind die ursprünglichsten und intensivsten Beziehungen zur
Welt, in den Verwandlungen stürzt er sich mit Entdeckerkühn-
heit in die entlegensten und entsetzlichsten Bezirke der Tier- und
Menschennatur; in wildem Zickzack geht es auf und ab. Die
Göttin — Venus — wandelt sich zum Wurme, doch selbst im
Wurme ist sie Göttin, und noch „jede Fratze zeugt von dem
Gott, den sie entstellt". Das ist Goethes Erkenntnis: „Auch das
Unnatürlichste ist Natur" ; die disparatesten Erscheinungen sind
bloß Metamorphosen der selben Kraft. Eine Kette der seltsam-
sten und buntesten Steine, die in allen Himmels- und Höllenfarben
blitzen, leuchten, schillern und phosphoreszieren, wird hier zum
Ring geschlossen, aber gemeinsam ist ihnen das Eine Licht, das
269
in allen Spektren hundertfach gebrochen schimmert: Venus, das
Liebesgefühl.
Sind die Verwandlungen, wenn auch im ernsten Sinn, ein
zuchtlos ausschweifendes Buch, so setzt ihnen der Dichter in den
Zwei Menschen ein sammelndes, konzentrierendes, aufstrebendes
entgegen. Dort explodiert die Liebeskraft nach allen Seiten, hier
strebt sie in Eine Form, dort sind alle Möglichkeiten visionär
erhascht, hier ist eine und die höchste Möglichkeit real gestaltet.
Dieses Seelenepos in Romanzen, gegossen in eine zugleich feste
und freie, höchst originelle Form, welche an die Divina Comedia
erinnert, und in einen realistischen Monumentalstil von unerhör-
ter Energie, der an Hodler denken lässt, gibt die äußere und
innere Entwicklung des Liebeslebens zweier Menschen. Aber
schwerer als die Kämpfe mit der Außenwelt sind die gegen sich
selbst, und nur durch Selbstzucht ist das höchste Glück, die
schwere Harmonie zu erringen, dass der Mensch sich eins fühlt
mit seinem Schicksal, eins mit dem geliebten Menschen und durch
diesen eins mit der ganzen Welt; denn durch die Liebe empfindet
der Mensch bei Dehmel den Zusammenhang mit dem Weltganzen.
Durch drei sich weitende „Umkreise" wird das Geschlechtliche
— hier ist das keine Phrase — hinaufgeläutert zum Religiösen.
Für jenes Einheitsgefühl findet der Dichter die geheimnisvoll tö-
nende Rune: „Wir Welt."
Von diesem Kernpunkt aus offenbaren sich die Zusammen-
hänge scheinbar isolierter, ja widersprechender Gedichte. Die
Geschlechterliebe ist Dehmels Hauptproblem, weil sich hier das
Zusammenspiel und Gegenspiel egoistischer und altruistischer
Triebe und Forderungen am gefährlichsten und fruchtbarsten, am
feinsten und schwersten gestaltet. Indem sich aber die große
Spannweite seiner Natur vom einen Pol zum andern erstreckt,
wird er zugleich der Dichter eines starken Individualismus und
eines ebenso starken sozialen Empfindens. Er setzt sich ein für
das Recht der freien Entfaltung ausgeprägter und großer Persön-
lichkeit, für ein unerbittliches, selbst brutales Wegräumen aller
Hindernisse.
Treue gegen sich selbst erscheint als das oberste Gebot, und
müsste sie, wie in den Drei Ringen durch Treubruch gegen andere
erkauft werden. Jeder soll das seiner Natur entsprechende Schick-
110
sal erleben, wofür Dehmel in der Lebensmesse das schöne Wort
gefunden hat: „dem Sckicksal gewachsen sein". Aber dieses „Werde,
was du bist", bedeutet nicht ein schrankenloses sich Entfalten,
sondern die Rettung nur der wesentlichen und besten Kräfte, die
wieder einer Lebensaufgabe im Dienste der menschlichen Gemein-
schaft zugute kommen sollen. Und wenn der Dichter mehrfach
den Konflikt von Eltern und Kind gestaltet, ja in dem Lied an
meinen Sohn gegen sich selbst als Vater im voraus Partei ergreift
— „Und wenn dir einst von Sohnespflicht, mein Sohn, dein alter
Vater spricht, gehorch ihm nicht, gehorch ihm nicht!" — so muss
der Eigenwille des Kindes doch aus einem weitern sozialen Pflicht-
bewusstsein gerechtfertigt sein.
Dies Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der menschlichen
Gemeinschaft ist das nötige Gegengewicht zu Dehmels Persönlich-
keitsdrang, und ist in ihm kaum minder stark als in den andern
großen Dichtern unseres sozialen Zeitalters, als in einem Ibsen,
Tolstoi oder Hauptmann. „Ja, ein Mensch geht barfuß im eignen
Blut durch Gottes Schnee, und wir gehn auf Blüten", dies und
manch weiteres Wort enthüllt die Erkenntnis, dass einer auf Kosten
des andern lebt. „Wer lebt, hilft töten, ob er will, ob nicht."
Aus diesem Wissen um die „Mitschuld" wächst das Gewissen
und seine Forderung, jene Schuld abzutragen. Wie hätte Dehmel
ohne diesen wachen und starken Altruismus die klassischen und
representativen sozialen Gedichte der modernen deutschen Lyrik
erschaffen können; etwa jenes Lied vom Arbeitsmann, den rein-
sten Ausdruck der Sehnsucht der untern Klassen nach Freiheit,
Schönheit und Menschenwürde!
Wo aber ist unter den Lebenden der deutsche Lyriker, der
so aus dem Wesentlichen schafft und doch wieder Breite und
Weite des menschlichen Begehrens, Tiefe und Höhe vom Tieri-
schen zum Göttlichen so kühn durchmisst, zugleich faunisch und
faustisch, voll Selbstsucht und Selbstzucht, und der für alle diese
großen Dinge in Sturm und Flüstern, in Jubeln und Stöhnen so
unmittelbare, so freiströmende, so lebenzitternde Rhythmen und
Worte findet?
ZÜRICH ROBERT FAESl
D D D
271
AU PAYS ROMANCHE
Le pays romanche sort de l'oubli et de sa torpeur. On peut
bien dire de l'oubli sans faire injure ä personne, car le nombre
des Confederes est considerable qui ne savent rien, ou peu s'en
laut, de la Suisse Orientale, et dont l'attention a ete attiree ces
derniers temps vers le plus grand et le plus impr^vu des can-
tons helvetiques. Pour ce qui est de la torpeur grisonne, par
oü Ton entend sa torpeur intellectuelle, eile fut longtemps si pro-
fonde, que le tardif reveil contemporain surprend et laisse au
spectateur des inquietudes sur son issue et des doutes sur son
efficacite.
Ce reveil d'un petit peuple s'est Signale au public ä diver-
ses reprises et de diverses manieres.
Suisse et montagneux, le canton des Grisons s'est transforme
en une immense villegiature d'ete et d'hiver. La medecine et la
mode ont recommande l'air, le soleil et les eaux du pays. Les
Hotels et les chemins de fer ont attire par milliers les malades
imaginaires et autres, les personnes qui sont de loisir quelques
jours ou quelques mois par an, et l'activite economique a fait
rendre au canton, de Coire ä Poschiavo, de Disentis ä Tarasp,
toujours plus de ces gros ecus sur lesquels roule la roulotte
humaine.
Mais la Suisse est habituee ä la metamorphose de ses mon-
tagnes; l'invasion etrangere dans les Grisons ne presenterait pas
un interet nouveau si un autre reveil ne l'avait accompagnee et
suivie.
Tandis que les etrangers de passage ignorent parfois j'usqu'ä
l'existence de la langue romanche, les savants de tous pays, sou-
vent sans avoir mis le pied sur terre grisonne, s'interessent tou-
jours plus nombreux ä cette humble soeur des langues romanes.
Depuis une trentaine d'annees, on a plus ecrit sur les dialectes
romanches qu'on n'a jamais ecrit en romanche.
Les etrangers et les savants ont fini par provoquer une es-
pece de reveil indigene.
L'Union des Gris s'est fondee (en 1905 sauf erreur) pour la
defense de la langue maternelle. C'est donc qu'on a fini par
272
comprendre qu'elle etait menacee. L'Union des Gris a celebre
Tan passe sa fete annuelle avec un eclat particulier. L'inaugura-
tion de la ligne Bevers-Schuls et la question du Splügen ont
donne un regain de vie ä ce reveil romanche et en precisent la
signification. La question qui se pose est celle-ci: quel est l'ave-
nir du romanche?
L'antique Rhetie a connu des siecles de lutte et de domi-
nation etrangere. Elle a vu passer les Etrusques, les legions ro-
maines, les rois barbares, Theodoric-le-Grand et les Francs.
Tantöt immense, eile s'est etendue jusqu'en Lombardie; eile a
envahi la Baviere et le Tyrol. Tantöt diminuee, eile s'est limitee
au diocese de Coire. L'Eglise et la noblesse, loin des cours, s'y
sont dispute le pouvoir. L'anarchie y a regne. Les Hongrois,
les Madgyars et les Sarrasins l'ont pillee et devastee. Les peu-
ples Tont pietinee, malgrö ses frontieres de montagnes, parce
que ses cols mettaient en relation Venise et la Lombardie avec
le Sud de l'Allemagne. Elle a combattu pour rAutriche, contre
les Confederes, puis eile a reve l'independance. Apres la guerre
de l'independance et la victoire de Calven, la guerre de religion,
l'arrivee des Francjais, des Espagnols, des Autrichiens, la riva-
lite des Salis et des Planta. Aujourd'hui la Rhetie, reduite au
canton des Grisons, semble epuisee. Et parce qu'elle semble
epuisee, parce qu'elle ne resista ä toutes les invasions que pour
ceder enfin devant la derniere Invasion, pacifique celle-lä et plus
redoutable que toutes les autres, le voyageur s'etonne et s'irrite.
Comme, malgre toutes les experiences, on est toujours tente
d'attendre quelque chose des hommes, surtout de ceux ä qui la
fortune a donne un climat sain et de beaux paysages, qui n'a
d'abord voulu crier aux echos de l'Engadine^): Vous etes les fils
ingrats d'une vallee fleurie, parfumee et sans egale! Cette invec-
tive serait legitime, ä peine exageree et pourtant injuste. Et les
Romanches pourraient se defendre aisement.
Pourquoi seraient-ils un peuple studieux? Pourquoi auraient-
ils en honneur les heiles lettres? L'abondance des idees les im-
portune, mais ils ont su se battre pour une idee ! Ils pourraient
nous conduire au pied du monument eleve ä la memoire de
*) U est question dans cet article du pays romanche en general et
plus specialement de l'Engadine — centre du pays romanche.
273
Fontana. II n'est pas beau, ce monument, mais il signifie quel-
que chose, et si le geste du heros est conventionnel dans le
marbre. qu'importe puisqu'il fut efficace dans la bataille. Fon-
tana, c'est l'epoque glorieuse, le jour des grandes actions! En-
suite ils nous montreraient, ces montagnards, leurs vallees deli-
vrees de renvahisseur et restees libres. Ils pourraient nous con-
duire ä travers leurs villages, qui nombreux payerent cherement
leur essor et leur prosperite, mais qui nous ont parfois garde
l'image fidele des vieux villages rheto-romanches du temps des
ligues grisonnes — Zuoz, par exemple, ä qui le Heimatschutz con-
sacra un numero l'an passe. Les maisons sont primitives comme
des mazots ou cossues, patriciennes, aux murs epais, ornees de
decorations en sgraffito, de portes ä caissons, d'armoiries sculp-
tees. Les chambres aux boiseries d'arole, les corridors vastes
comme des Halles, les greniers, les granges meme, tout est rem-
pli de vieux fauteuils, de bahuts, d'armoires en marqueterie, de
glaces antiques, de gravures jaunies — qui fönt pälir d'envie les
collectionneurs et les antiquaires. Toutes ces richesses ont ete
conservees par instinct conservateur et ä cause de cet amour du
montagnard pour le bien herite. Elles sont Tceuvre d'une vieille
et forte tradition.
Et c'est cette tradition dans la vallee austere, lumineuse et
sereine qui fit aux habitants leur äme fermee, tenace et prudente,
fiere, etroite et farouche. Ils eurent peu de besoins et surent
economiser. Les peuples passerent par I'Engadine sans s'y arre-
ter. S'ils voulurent la conquerir, c'est qu'elle etait un passage.
Malgre les allees et venues des peuples, I'Engadine au sein des
montagnes, loin du monde, a garde sa langue et s'est tenue ä
l'ecart. Quand ses fils emigrerent au loin, ils apprirent les lan-
gues etrangeres, mais ils n'oublierent pas le romanche; fortune
faite, on les vit revenir au pays. Au pays, c'est-ä-dire dans le
canton ou plutöt dans la vallee. Le Grison considere le roman-
che comme sa langue maternelle, quelques-uns disent nationale.
Bien que tr^s bon Suisse, le Grison est grison avant d'etre suisse. 11 ne
voit pas toujours la difference entre un Genevois et un Parisien.
Quand j'etudiais ä Göttingue nous n'etions pas cinq Suisses, nous
ötions trois Suisses et deux Grisons! Bien plus, un habitant de
Coire ou de Thusis est presque un etranger ä Samaden et ä
274
Sehuls. II n'est pas de la vallee! On ne saurait pousser plus
loin le particularisme regional.
L'isolement qui fit la force du pays romanche — fit aussi
sa faiblesse. C'est une bonne chose que de tenir ä sa langue,
mais si cette langue est pauvre? C'est une bonne chose que de
se defendre contre l'etranger et de tenir ä sa tradition, mais si
cette tradition ne se renouvelle pas?
Quand l'industrie höteliere est venue ajouter l'or des spe-
culations aux ecus de l'economie, les Romanches ont pense que
le jour des tresors etait arrive. Leurs legendes racontent que
les gnomes et les lutins ont depose des tresors immenses sous
les rochers et dans les forets. Longtemps on avait creuse le sol,
mais le sol n'avait livre qu'un peu de fer et de cuivre. Tenaces,
economes et toujours plus riches, les Romanches sont devenus
apres au gain sans elargir leur vie. Sur les bords de l'lnn il y
a beaucoup de millionnaires en vareuse. Qu'on se garde de
s'ecrier: o sancta simplicitas helvetica, mais qu'on se souvienne
plutöt de cette verite e'ementaire: il ne suffit pas d'avoir de
l'argent, il taut en avoir l'emploi: l'argent se trouve parfois au
bord de la route — ce n'est qu'ä la longue qu'on apprend ä
s'en servir!
il est loin le temps des guerres d'independance et de reli-
gion. Oü sont les vertus du passe? Oü sont les descendants de
Jürg Jenatsch? Virgile Rössel, oü avez-vous rencontre Anne Sen-
teri? Oü avez-vous observe ces passions sauvages, cette Vendetta
romantique, ces braconniers legendaires, toute cette humanite
primitive?
Samuel Cornut, avez-vous jamais sejourne au pays roman-
che, vous qui pütes ecrire: „Lä-bas, du moins, on vit par tou-
tes les forces et toute la ferveur de son äme; quand on aime,
c'est jusqu'ä la mort; quand on halt, c'est jusqu'au crime."?
L'isolement des Romanches, isolement ä la fois naturel et
volontaire, a empeche le developpement parallele de la pensee
et des affaires. Les Romanches ont jadis defendu leur liberte et
leur foi, mais une Invasion pacifique les a refoules peu ä peu;
ils ont du ceder des vallees et des vallees ä l'italien et ä l'alle-
mand. Dans leur prosperite grandissante une sauvegarde leur a
manque; cette sauvegarde, c'est la culture.
275
Les Romanches ont beau parier de leur langue maternelle,
nationale . . . leur langue, malgre les siecles, n'est pas arrivee
ä l'unite; eile n'a pas depasse l'etape des dialectes. Intellectuelle-
ment et pratiquement, les Romanches ont toujours ete les tri-
butaires de l'etranger, depuis le jour lointain oü leur tradition a
trouve son expression originale dans la maison rheto-romanche.
La litterature est un rempart contre l'etranger, un centre de ral-
liement. Sans eile, c'est le morcellement des patois ä rinfini;
c'est le commencement de la fin. Un peuple sans art est un
peuple condamne ä disparaitre.
Mais j'ai parle d'un reveil. Un reveil est-il possible? On re-
pond diversement ä cette question. Tandis que Tallemand pour-
suit son Oeuvre d'invasion par le commerce, l'administration et
Tecole, les Italiens signalent aux Ladins les dangers de la ger-
manisation.
Les Engadinois cultives vont etudier en pays allemand, d'au-
tre part il y a une forte emigration romanche en pays latin, Le
pangermaiiisme et l'irredentisme sont aux prises jusque sur les
bords de l'Inn. Et que disent les Romanches? Une serie d'ar-
ticles parus dans le Fögl cTEngiadina (des le l^"" fevrier de cette
annee) nous renseignent un peu sur les convictions et les es-
poirs ladins. Les articies sont intitules: Que sont et que veu-
lent les Romanches? Parlant au nom de ses compatriotes, l'au-
teur dit en resume: Nous avons commis des fautes; nous
n'avons pas su nous unir contre l'etranger; nous n'avons pas
SU defendre le romanche. Mais des le temps de la Reforme 11
ne put etre question pour nous d'etre ni Allemands ni Italiens.
La traduction de la Bible a donne naissance ä notre langue
ecrite, ä notre langue nationale. Si nous ne devons pas nous
exagerer la valeur de notre litterature, la vivacite de nos dialec-
tes, malgre des circonstances difficiles et defavorables, et le reveil
national d'aujourd'hui nous donnent confiance dans l'avenir.
Gardons-nous de la germanisation, craignons l'influence italienne
— et l'on verra que notre romanche n'est pas moribond.
Certes une ferme conviction stimule et la volonte de vivre
donne des forces. Mais pour se faire une Idee de l'avenir du
romanche, il n'est peut-etre pas de meilleur moyen que de jeter
276
un coup d'oeil sur son passe ^). Dis-moi ce que tu as fait et je
te dirai sinon ce que tu feras, du moins ce que tu ne feras pas
— Selon toutes probabilites!
En 1538, alors que toutes les langues romanes ont dejä un
long passe litteraire, G. Tschudi pense qu'on ne peut pas ecrire
k Romanche. Tschudi se trompe et pourtant son affirmation
semble contenir, jusqu'ä aujourd'hui, une part de verite. II reste
que le romanche se hausse tres tard au rang de langue ecrite.
On ne peut pas encore dire qu'il soit trop tard, mais des le sel-
zieme siede les Romanches, avec une insouciance sans pareille,
bravant les dangers et accumulant les obstacles sur leur route,
vont marcher isoles et divises.
Le romanche est devenu langue ecrite et litteraire d'abord
en Haute-Engadine. Est-ce vraiment par hasard, comme le dit
Gärtner — je ne sais. On met volontiers sur le compte du ha-
sard ce qu'on n'est pas encore arrive ä expliquer autrement. Le
fait est que par le poeme epique de Travers et par la traduction
de la Bible de Bifrunt, les Romanches ont en 1552 une langue
ecrite — et rien ä dire! Et quand dix ans plus tard U. Chiam-
pel veut donner un livre de chants ä l'eglise, il se sert du dia-
lecte qu'on parle ä partir du Punt Ota, au-dessous de Cinuskel,
„parce que, dit-il, les habitants de la Basse-Engadine se plai-
gnent de ce que rien n'a ete imprime dans leur dialecte, ce qui
serait pourtant plus agreable et plus facile ä comprendre et ä
lire — plü chioendsch e leivo dad imprender e da 1er." Deux
langues ecrites distinctes, c'est beaucoup pour un petit pays! Ce
n'est pas encore assez. Stephan Gabriel emploiera en 1612 le
dialecte de i'Oberland grison, „parce que, dit-il, rien n'a jamais
et^ ecrit dans cette langue — ca en quest languaig mai nan ei
esquits-chan nagutta". Mais S. Gabriel est Protestant et dans
I'Oberland grison la langue des catholiques differe de celle des
protestants. Les catholiques veulent avoir leur catechisme dans
leur langue. J. A. Calvenzano le leur donnera en 1615. Autant
de vallees, autant de langues qui aspirent ä l'autonomie. Et pour-
quoi y aspirent-elles? Pour traduire la Bible et ecrire des cate-
chismes. Le romanche n'a guere illustre que la litterature edi-
') Voir Gärtner. Rätoromanische Sprache und Literatur. Halle 1910
277
fiante! Dans le fertile Domleschg, Bonifaci cel&bre le Romaunsch,
langue naturelle de sa vallee natale et voici quelques-unes des
pensees qu'il apporte ä ses compatriotes:
„Quand tu te mets ä table, avant tout tu dois avoir les on-
gles propres et te laver les mains. Tiens-toi droit et ne te sers
pas le Premier. Sois modeste et fuis l'ivrognerie; bois et mange
avec mesure; trop manger rend malade . . ." Parfois la pensee
romanche s'eleve ä des considerations plus hautes. Voici une me-
ditation de Molitor (1652):
„Le temps s'ecoule imperceptiblement; une heure chasse
l'autre, le jour chasse le jour, l'annee chasse l'annee: la fin ap-
proche . . . Comment devons-nous employer notre existence
d'un instant? . . . Nous devons prendre la Bible, la parole du
Dieu Eternel ..."
Ces extraits dans leur brievete donnent assez bien le ton de
la litterature romanche. Or que nous dit-on aujourd'hui? L'au-
teur des articles signales sur les espoirs ladins nous dit que äe
manque de centre de culture, que le manque d'unite linguistique
et litteraire n'ont pas d'influence sur la production litteraire —
ainsi que le prouveraient le cas de la Provence et la Mireille de
Mistral — et qu'une langue litteraire viendra ä son heure, en
pays romanche . . . Nous osons repondre tres respectueuse-
ment et tres melancoliquement que l'Engadine attendra longtemps
son Mistral (et qu'il viendra trop tard), que le romanche moderne
est une langue „primitive", enfin, que le reveil d'aujourd'hui sans
etre inutile n'aura pas, selon toutes probabilites, le resultat qu'on
en attend. En effet, l'oeuvre d'un Mistral suppose un passe de
troubadours; c'est en vain qu'on chercherait aux Grisons l'ombre
ou le Souvenir d'un barde. Si le chef-d'oeuvre de Mireille n"a
pas pu creer une langue litteraire commune ä tout le sud de 3a
France, du moins il n'etait possible, ce chef-d'oeuvre, que sur
une terre qui avait une tradition poetique; c'est ce qui manque le
plus aux Grisons. Quatre siecles ont ete impuissants ä la creer.
Croyez-vous vraiment qu'elle va naitre d'une grammaire mo-
derne et d'une propagande savante?
11 faut laisser aux specialistes des langues romanes le soin de
juger la langue romanche. 11s nous renseigneront sur son degre
de developpement historique. On a dit: „Cette süperbe langue
278
romanche a la sonorite grave du bronze". De semblables juge-
ments ne sont pas rares. 11s relevent de la critique fantaisiste et
pittoresque. Le romanche, süperbe tant qu'on voudra, est une
langue primitive, c'est-ä-dire raboteuse, encore encombree de ces
lettres et de ces syllabes que l'usage litteraire attenue ou eli-
mine au cours des siecles. Tels furent jadis le vieux-fran(;ais et
l'anglo-saxon. Le romanche n'a pas ete poli par le gosier des
montagnards. Limoneux et rocailleux, il est comparable ä une
riviere qui est loin encore d'avoir atteint sa courbe.
D'ailleurs comment pourrait-il en etre autrement dans un
pays oü il y a peu d'hommes et pas de litterature? Quant au
fameux reveil, c'est le moment d'en preciser l'origine, la nature
et la valeur.
Le reveil romanche est peut-etre „national" — encore qu'on
ne puisse dire tres exactement ce que cela signifie — mais il est
surtout savant. La litterature romanche fut religieuse, edifiante et
didactique, exprimant ä l'origine les aspirations d'une äme fer-
vente et plus tard une pensee pauvre et cristallisee. Ce n'est pas
tout. Cette pauvrete intellectuelle et sentimentale est encore em-
pruntee. La litterature romanche est nee et s'est nourrie de
traductions; ä defaut de tradition poetique, les Romanches ont
une seculaire tradition d'imitation. S'imagine-t-on reellement que
cela va changer? En fait d'activite nationale et de reveil d'un peu-
ple, je ne vois guere paraitre que des dictionnaires, des disser-
tations et des chrestomathies.
L'an passe l'Union des Gris nous conviait ä sa fete an-
nuelle. Que nous offrit-on comme regal litteraire? Un poeme de
12 000 vers et une comedie. Les vers etaient parfaits ä dire
d'expert et la comedie fit beaucoup rire — mais le poeme etait
une traduction de Longfellow et la comedie, ou plutöt la farce,
etait empruntee au canton de Vaud (Les ambitions de Fanchette)
Quandle Fögl d'Engiadina veul un feuilleton, il traduit: Le pe-
tit Marquis de M"'^ de Pressense ou La Chevre de M. Seguin.
Quand un Romanche par aventure ecrit un poeme original, il se
sert de son dialecte communal. Les belles strophes de P. Lansel
en Thonneur de Segantini ne sont parfaitement comprehensibles,
ä ce qu'on m'assure, qu'aux villageois de Sent et aux erudits.
Enfin, quand les Romanches eprouvent le besoin d'une gram-
279
maire, il faut qu'un Allemand la leur ecrive. Les deux premiers
chapitres de cette grammaire romanche ont paru le mois passe
chez Orell et Füssli. L'auteur nous paraft avoir commis
une erreur grave en voulant faire en meme temps oeuvre de
science et de vulgarisation! Les notes historiques d'une erudition
minutieuse alternent avec les exercices enfantins pour classes pri-
maires . . . Mais ce qui est plus important, c'est qu'on compte
que cette grammaire fera disparattre les particularites locales. On
attend d'une gj-ammaire l'unite que les siecles n'ont pu realiser.
On attend d'un peuple de 40000 ämes, qui vecut quatre siecles
Sans litterature, un reveil glorieux!
En realite, le reveil romanche n'appartient pas aux Roman-
ches. II traduit des preoccupations europeennes, en offrant une
matiere ä l'enquete scientifique, ä l'histoire litteraire, au folklore
et ä la linguistique. Un peuple — jadis vaülant — qui se met
sur le tard ä apprendre l'orthographe et la syntaxe, n'est pas
un peuple qui se revtille, c'est un peuple qui essaye de durer
et de prolonger sa vie modeste. Les habitants de l'Engadine
seront de bons Suisses, des hommes de progres, mais leur lan-
gue est destinee ä se maintenir dans une phase intermediaire, et
ä reculer plutöt qu'ä avancer. Nous distinguions jusqu'ä aujour-
d'hui deux especes de langues: les Vivantes et les mortes (pour
ne rien dire des artificielles). Entre les langues reellement Vi-
vantes et les mortes — il y a le romanche.
ZUOZ FLORIAN-MARIE DELHORBE
DDO
Septembre est doux, septembre est tendre comme un coeur,
Comme un coeur qui vieillit et veut aimer encore;
Le bon soleil se meurt dans le ciel que decore
Dejä la lune pale et pleine de langueur.
Que l'etrange lueur est belle! Quel seigneur
Va venir, que ia terre attend, et qu'elle honore?
Quelle harpe a chante, dans ce grand ciel sonore,
Que les humains decourages croient au bonheur?
Qu'est-ce que c'est que ces parfums melancoliques
Qui sortent des jardins que l'automne a fröles?
O dites-moi, esprits qui sans doute volez
Par cet air calme. vous, purs gardiens de reliques,
C'est vous, qui les changeant en beaux plaisirs volles
O miracle! portez sur votre alle entr'ouverte
Ces Souvenirs de pleurs dont je pleurals la perte !
La Vie des Lettres, PIERRE MILLE
Paris, avnl 1913
280
RICHARD WAGNER UND DAS
CHRISTENTUM
Ist es erlaubt, einen Künstler wie Richard Wagner nach seiner
Religion, nach seiner Stellung zu einer bestimmten Religion zu
fragen, ihn auszuforschen, ob und wieweit er ein Christ ist? Ein
Künstler soll doch nach seinem Kunstwerk beurteilt werden.
Die Antwort darauf gibt Wagner uns selbst aufs deutlichste.
Sein Kunstwerk soll nicht nur tönen und scheinen, es soll etwas
darstellen, in uns erwecken und lebendig machen. Die Kunst —
und sie allein vermag den in der Welt versteckten, noch unsinn-
lichen Gedanken sinnlich zu machen — sie ist eine priesterliche
Vermittlerin zwischen unserm Lebenstrieb und den Tiefen der Welt.
Kunst und Kunstgenuss sind ihm daher nicht die Kräuselung des
Empfindungslebens durch den Wechsel von Tönen und Bildern,
sondern ein religiöser Akt. Während die Kirche, meint er, die
ewigen Wahrheiten in Vorstellungen und Lehren kleide, die für
wahr gehalten werden wollen, ist ihm der Künstler ein Priester,
der ehrlich nur den edlen Schein bieten, darin aber das vollkommene
Symbol der letzten Geheimnisse zur Anschauung und Empfindung
bringen will. „Das Kunstwerk ist die lebendig dargestellte
Religion" (Bd. lii, S. 77) und nur, wenn sie durch ideale Dar-
stellung zum innern Kern ihrer Bilder, zur unaussprechlichen
Wahrheit hinleitet, erfüllt die Kunst ihre wahre Aufgabe (Bd. X,
275 — Chamberlain, R. W., S. 168).
Damit soll sie das „edelste Erbe des christlichen Gedankens"
rein erhalten und mithelfen, die „neue aus der christlichen Offen-
barung zu entblühende Religion" herbeizuführen (X, 288). Wagner
glaubt also an des Christentums edlen Gehalt, bekämpft aber
immer wieder seine unzureichende und unwürdige Gestalt. Man
kann also wohl sagen, dass er das Thema: sein Verhältnis zum
Christentum in markanten Äußerungen selbst als das Thema seines
künstlerischen Schaffens hingestellt hat. Zugleich ist durch solche
Hinweise auf seine eigenen Äußerungen schon daran erinnert,
dass der Dichter auch Schriftsteller und Denker war, und seine
literarischen und ästhetischen Kämpfe ringen beständig auch um
Bedeutung und Stellung des Christentums. Wie aber all seine
281
Schriften und Schöpfungen Ausdruck seines äußern und innern
Erlebens sind, so kann man auch im Verlauf seines Lebens dies
Thema immer wieder auftauchen und wichtig werden sehen, und
so mag es uns, die wir hier durch die vielbesuchten und vielbe-
sprochenen Parsifal-Aufführungen besonders darauf hingewiesen
und eingestellt sind, zur Vertiefung dieses Eindruckes und zum
volleren Verständnis des Kunstwerkes wie des Künstlers einmal
näher beschäftigen.
1.
Den sechsjährigen Knaben Richard Wagner oder Richard
Geyer, wie er damals hieß, brachte sein Stiefvater zu einem Land-
pfarrer Wetzel in Possendorf bei Dresden; der las seinen Zög-
lingen abends den Robinson vor und unterhielt sich mit ihnen
darüber, nach damaliger Erziehungsmethode religiöse, sittliche
und praktische Belehrung einstreuend; man las auch eine Bio-
graphie Mozarts und besprach den damaligen Freiheitskampf der
Griechen. Am Abend nach dem Tode des Stiefvaters wanderte
der Knabe in Begleitung des Pfarrers nach Possendorf zurück
und erhielt von ihm den ersten verständigen Aufschluss über die
Sterne. Es war also eine „vernünftige Gottesverehrung", wie sie
jene Zeit liebte, in der Wagner als Kind aufwuchs. In Eisleben
fesselte ihn Luthers Wohnhaus; Luthers Gestalt ist auch dem
Manne allzeit wert geblieben. Als angehender Gymnasiast stand
er daheim unter dem Einfluss der Mutter, die nicht nur von Kunst
gerne schwärmte und deklamierte, sondern auch über Gott und
Göttliches im Menschen zu predigen liebte und regelmäßig Mor-
genandacht aus dem Gesangbuch hielt, allzugroßer Rührung dann
wieder nüchtern oder humorvoll wehrend. Solche weiche, warme
und poetische Frömmigkeit ging auch von Text und Melodie des
Freischütz aus, der jahrelang den Knaben, ja eigentlich auch den
Meister als poetisch-musikalisches Lieblingswerk umsummt hat.
Die Rührung steigerte sich zur Ekstase, wenn er zum Altarbild
der Kreuzkirche aufschaute, so dass er sich an Stelle des ge-
kreuzigten Erlösers wünschte.
Von seiner nach Prag verzogenen Familie In Dresden zurück-
gelassen, verfiel er ziemlicher Verwilderung. Die herannahende
Konfirmation verbesserte daran nichts, mit andern Burschen
282
gleichen Geistes verspottete er den Pfarrer und vernaschte er die
Beichtgroschen. Bei der Konfirmation i<am dann freilich der
mystische Schauer, dem der spätere Künstler in der Gralszene so
feierhch Ausdruck gegeben hat, mächtig über ihn ; fortan empfand
er eine geheime Furcht, dies Mysterium irgendwie zu entweihen ;
darum sei er nie mehr zum Abendmahl gegangen. Man sieht,
wie die von Scham und Scheu verdrängte Vorstellung sich unbe-
wusst nicht nur erhalten hat, sondern nur um so gesteigerter später
in den Mittelpunkt der Gefühlswelt wieder eingedrungen ist.
in dem unartigen, ungeordneten, leichtsinnigen und wüsten
Treiben der nun folgenden Jahre scheinen ernstere Strebungen
und Klänge mehr und mehr unterzugehen, zu Zeiten auch die
künstlerischen Ideale.
In Riga, wo der Ernst des Lebens und der Ehe über ihn
kommt, regt sich auch im Künstler das größere Wollen und
Können; mit seinem Rienzi schuf er mitten im herben Kampf ums
Dasein zu Riga und Paris nicht nur die umfangreichste der Opern,
sondern auch ein innerlich gehaltvolles Werk, und es klingt wie
ein Weihgebet über seine Kunst, wenn der Tribun Gott bittet:
Allmächtiger Vater, blick' herab,
Hör' mich im Staube zu dir flehn,
Die Macht, die mir dein Wunder gab,
Lass jetzt noch nicht zu Grunde gehn.
O Gott, vernichte nicht das Werk,
Das dir zum Preis errichtet steht !
Ach, löse, Herr, die tiefe Nacht,
Die noch der Menschen Seelen deckt,
Schenk uns den Abglanz deiner Macht,
Die sich in Ewigkeit erstreckt.
Diese Verbindung von emporstrebendem künstlerischemWollen,
wachsendem Bildungsdrang, dem Bedürfnis, Licht und Leben um
sich auszubreiten, und religiösem Verlangen und Vertrauen, wie es
von der Kindheit her in ihm, wenn auch arg verschüttet, gewohnt
hatte, zeigt sich von nun an in all seinem Schaffen. Überall
verrät sich seine Eigenart, die den Mann durchs Leben begleiten
wird, auch in religiöser Hinsicht, aber zunächst nur in der Richtung
einer Vertiefung und Belebung eines ungebrochenen Gottesglaubens,
zum Beweis, dass lebendige Anteilnahme, oft auch eigenste Em-
pfindung zum Ausdruck kommt — also der wirkliche Wagner,
283
der ein wirklicher Gottgläubiger, wenn auch kein kirchlicher Christ
sein will. Sein Gottesglauben gehört zu seiner Kunst. Der ster-
bende Musiker In seiner Novelle: Eine Pilgerfahrt zu Beethoven
bekennt: „Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven. Ich glaube
an den heiligen Geist und an die Wahrheit der einen unteilbaren
Kunst, ich glaube, dass die Kunst von Gott ausgeht und in den
Herzen aller erleuchteten Menschen lebt. Ich glaube, dass alle
durch diese Kunst selig werden." Der Revolutionär erklärt im
Vaterlandsverein, dass Gott den Menschen die Menschenrechte
verleiht, die Fürsten erkürt und verwirft. Und der Recht suchende
König im Lohengrin fleht:
So hilf uns Gott zu dieser Frist,
Weil unsre Weisheit Einfalt ist!
Im Tannhäuser spürt das heiße Blut des Künstlers die Macht
der Sinnenlust, im fliegenden Holländer bedrückt ihn, wie sein
ganzes Leben, die Last des Leben- und Umherschweifenmüssens;
beidemal ist schon die rettende Macht das heilige Mitleid, das in
den Tod geht, diesmal in Frauengestalt: es hilft da, wo kein
anderer Zauber, auch die Gnade der Kirche nicht zu helfen ver-
mag: in Elsa erscheint dabei doch die erlösende Sünderliebe in
durchaus christlichem Gewand:
Um deiner Gnaden reinste Huld
Nun anzuflehn für seine Schuld.
Den fliegenden Holländer und Senta freilich führt der gemein-
same Tod zur ewigen Vernichtung: hier wird aus Not und Todes-
sehnsucht die Stimmung vorbereitet, der später Schopenhauers
Philosophie zu Klarheit und Läuterung verhalf. Im Lohengrin
taucht in der Ferne schon der heilige Gral auf, die Heimat des
echten Künstlers, der, vom Geheimnis umgeben, zu der unter
Ungerechtigkeit leidenden Menschenseele kommt, aber diesmal
vor der Falschheit und dem Unverstand der Menschenkinder,
auch diese durch Frauen vertreten, sich in seine Innenwelt zu-
rückziehen muss; dabei ist die düstere Ortrud heidnisch gedacht,
während der Erlöser der Sendbote göttlicher Gerechtigkeit und
christlicher Reinheit ist. Natürlich darf man nicht jede christliche
Wendung, jedes Gebet als des Dichters Glaubensbekenntnis an-
sehn — er muss an vertraute Vorstellungen und Klänge anknüpfen;
aber er lebt doch mit Liebe in dieser Welt, und oft genug tritt das
284
persönliche Sehnen und Glauben hervor. Aber auch die Ablehnung
kirchlicher Dogmen durch Wagner ist nicht erst Feuerbach oder
Schopenhauer zuzuschreiben; im Vaterlandsverein zu Dresden
erhofft er 1848 von der kommenden Zeit „die hinter prunkenden
-Dogmen verborgene Erfüllung der reinen Christuslehre", und der
Tannhäuser ruft laut genug: „Schweig mir von Rom!" Ebenso
deutlich ist aber auch der Glaube an Gottes Huld und Vergebung
in Elsa und der Glaube an die reine Christuslehre, der die Zu-
kunft gehören soll.
!!.
Aber ein ganz anderer Geist weht uns entgegen, wenn nun
Wagner bald darauf versucht, diese uns noch verborgene Christus-
lehre intuitiv zurück- und vorschauend wieder zu gewinnen, in
seinem dramatischen Entwurf von 1848: Jesus von Nazareth, der
erst nach Wagners Tod, vierzig Jahre später veröffentlicht worden
ist. Es ist richtig die C\\f\si\isLehre\ denn eine lebendige Jesus-
gestalt vor uns wandeln und handeln zu lassen ist ihm nicht
gelungen; dieser Jesus ist beständig am Dozieren; aber was er
sagt, ist des Anhörens wohl wert; es ist freilich eine gar seltsame
Lehre. Während Jesus bei Matthäus sagt: ich bin nicht gekom-
men, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, sagt dieser Jesus
ähnlich wie Paulus: „Das Gesetz bringt Ärgernis, und von ihm
erlöst nur das Gebot Gottes: ihr sollt euch lieben, alles andere
Gebot ist eitel und verdammlich." Mit dieser Auflösung der Ge-
bote durch die Liebe wird nun strenger Ernst gemacht. Ein Ge-
setz ist die Ehe: „Das Gebot sagt: du sollst nicht ehebrechen,
ich aber sage euch, ihr sollt nicht freien ohne Liebe. Eine Ehe
ohne Liebe ist gebrochen, ehe sie geschlossen war, und wer freit
ohne Liebe, der brach die Ehe." Ein Gesetz ist der Staat und
die bürgerliche Rechtsordnung: „Das Gesetz, das gebrochen war,
als es gegeben ward, das haltet ihr für unerlässlich, das Gebot
des Lebens, das von Anfang war und ewig sein wird, das Gebot
der Liebe, das haltet ihr für unmöglich hier auf Erden, da ihr
doch einzig darin lebt", in dem, was auf Erden von Liebe, Ver-
trauen und Brudersinn vorhanden ist. Der Staat ist geschaffen,
das Eigentum zu schützen, aber ein Gesetz ist auch das Eigentum:
„Wo ihr gegen die Menschenliebe Schätze sammelt, da sammelt
385
ihr auch die Diebe; so macht das Gesetz Sünder, und der Mam-
mon macht die Diebe." Das ist kein Kommunismus; solchen
Soziahsmus hat Wagner stets abgelehnt als fruchtlose Systemati-
sierung. „Gott schuf die Welt zu eurer Ehre und zu eurem Reich-
tum; was sie enthält, ist zu eurem Genuss, einem jeden nach seinem
Bedürfnis" — nur soll man dem Nächsten nicht nehmen, was er
bedarf. Es gehört ein kühner Glaube dazu, Staat und Gesellschaft
nur auf die Liebe gründen zu wollen ; aber dieser Glaube, obwohl
er der Glaube Jesu sein soll, ist doch nicht Glaube an den
persönlichen Gott der Liebe und Gerechtigkeit: Gott ist hier für
Wagner die Einheit der Welt und der Menschheit, alle Menschen
sind seine Glieder; ihn erkennen heißt diese Einheit erkennen,
und daraus leben heißt lieben. Unsterblich sein, heißt leben in
der Liebe und in der Dankbarkeit und dem Glück der Geliebten;
solch Leben ist immer auch ein Sterben, sich in den Tod Geben,
bis zum Aufgehen in die Allgemeinheit.
Wie die Lehre Christi einst zu den Germanen kam und die
heidnische Götterwelt entthronte, so wagt es auch Wagner, die
Götter der Edda zu entthronen durch seine Christuslehre, doch
jetzt ohne den Namen Christi. Aber es sind die selben Gebote
und Gewalten, wie im Jesusdrama, die im Nibelungenring in ihrer
Verkehrtheit und Schwäche dargetan werden — was mächtiger
ist als sie alle, ist die Liebe! Wotan ist der Vertreter von Ge-
setz und Recht, aber er selbst wird viel stärker bestimmt durch
die Liebe zu Brunhild ; seine Gemahlin Fricka will das Recht der
Ehe wahren ; aber ihr Tun erscheint kleinlich gegenüber der Liebe
Gewalt. Siegfried, schon der reine Tor, aber auch der siegfreu-
dige Optimismus in Kunst und Revolution, geht zu Grunde über
dem Gesetz des Eides, welches Hagen, die Arglist der Welt, schlau
ersinnt und zu benutzen weiß. Aber die den Irrenden hebt und belebt
und versteht, ist die Liebe. Alle Götter und Menschen jedoch werden
versehrt und verheert durch die Macht des gleißenden Goldes; es
wird kein Friede, bis es dem Rheine wiedergegeben ist. Viel
deutlicher als im Jesusdrama wird nun hier Götterwelt und ge-
setzliche Ordnung in eins gesetzt; der Gottesglaube erscheint als
Ausfluss und Schutz von Geld, heuchlerischer Gerechtigkeit,
schlauer Abmachung, beengender Rechtssatzung, die das freie,
gesunde Leben und Lieben unterdrückt und tötet. Redet Jesus
286
von Nazareth noch von Gott und vom himmlischen Vater, heißt
es im ersten Entwurf des Nibeiungenmythus noch: „Nur einer
herrsche, Allvater, herrlicher du", so fasst nun Brunhilde, die alles
bezwingende, alles glaubende und verstehende Liebe das Ziel der
Menschheitsgeschichte, eine Menschheit ohne Götter, Gesetze und
Geldbegehr, nur durch die Liebe bestimmt, also zusammen :
Verging wie ein Hauch der Götter Geschlecht,
Lass ohne Walter die Welt ich zurück.
Meines heiligsten Wissens Hort weih ich der Welt nun zu:
Nicht Gut, noch Gold, noch göttliche Pracht,
Nicht Haus, noch Hof, noch herrischer Prunk,
Nicht trüber Verträge trügender Bund,
Nicht heuchelnder Sitte hartes Gesetz,
Selig in Lust und Leid lässt die Liebe nur sein.
Die hier ausgesprochene Lehre ist die Lehre Feuerbachs, der
in den fünfziger Jahren die Zeitmeinung, namentlich die Revo-
lutionäre wie Bakunin und auch Wagner stark bestimmte. Wagner
hat sein damaliges künstlerisches Glaubensbekenntnis: Das Kunst-
werk der Zukunft 1850 Feuerbach gewidmet, nachdem er dessen
dritten Band mit den Gedanken über Tod und Unsterblichkeit
gelesen hatte; er wollte also seine Kunst unter diese Fahne stellen;
auch später hat er sich um seine Schriften bemüht. Feuerbach,
ursprünglich Theologe und Schüler Hegels, wollte Gott und Hegel-
sche Philosophie zugleich entthronen: statt über sich hinaus, ins
Metaphysische zu träumen und zu philosophieren, soll die Mensch-
heit zu sich selbst zurückkehren. Gott ist nur das an den Him-
mel projizierte Bild des Menschen, der Himmel und die Unsterb-
lichkeit sind nur die über Erde und Leben hinaus verlängerten
Wünsche der menschlichen Selbstsucht. Das Gute, das wir in
Gott suchten, steckt in der Menschheit Brust; was sie besitzt, hat
sie selbst mit Naturnotwendigkeit hervorgebracht, als Höchstes
die Liebe, und mit Naturnotwendigkeit wird sie sich weiter ver-
vollkommnen. Darum soll die Religion Religion der reinen
Menschlichkeit und Zukunftsglaube sein; aus Christen und Kan-
didaten des Jenseits sollen wir Studenten des Diesseits und —
Menschen werden.
Was Wagner hierbei anzog, war erstens die Befreiung des
Individuums von herrschenden Autoritäten ; dann die Befreiung
von der Verpflichtung, Philosophie zu studieren; sein Schluss
287
war, sagt Wagner (Mein Leben, I, 508), dass die beste Philosophie
sei, keine Philosophie zu haben, womit ihm das bisher ab-
schreckende Studium derselben ungemein erleichtert wurde; weiter
die Erlaubnis, dem Menschlichen in sich selbst trauen zu dürfen;
echte Natur, reine Menschlichkeit sind ja seine hebsten Leitsterne;
endlich und vor allem befriedigt den Künstler die Verlegung der
geistigen Güter in die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit; denn
anschauen will der Künstler, und nur durch Veranschaulichung,
durch Versinnli,chung kann er wirken. — Lebt die ganze Religion
im Menschheitsgeschick, offenbart sich die Wahrheit nirgends als
in Menschenfreude und Menschenklage, so kann die Kunst, die
das in wahrheitsgleicher Erfindung vor Augen zu führen vermag,
so kann das Musikdrama und eigentlich nur es wahre Religion
verkündigen und verbreiten — so soll das Kunstwerk der Zukunft
werden und wirken!
Feuerbach freute sich, „einen ganzen Kerl" gefunden zu haben;
dieser Kerl war aber ein gar eigener Kerl und vor allem war
er — Künstler! Wie Feuerbach eröffnete auch Wagner den An-
griff gegen das Christentum; aber wie man gleich spürt, redet
auch hier der Künstler: Der griechische Geist, so lautet Wagners
Geschichtstheorie, stellte an die Spitze seines religiösen Bewusst-
seins den schönen und starken freien Menschen, dessen entspre-
chendster Ausdruck Apollo ist. Die brutalen Römer machten den
freien Menschen zum Sklaven; der Zustand am Ende der römi-
schen Weltherrschaft musste daher Selbstverachtung sein, Ekel
vor dem Dasein, Grauen vor der Allgemeinheit. Der Ausdruck
dieses Zustandes konnte nicht die Kunst sein, sondern das
Christentum; der redliche Künstler, der sich nicht den Einzelheiten
der Forschung über Jesus und Paulus hingeben kann, erkennt
auf den ersten Blick, dass das Christentum weder Kunst war,
noch wirkliche lebendige Kunst hervorbringen konnte. Der Künst-
ler miiss an der sinnlichen Welt die höchste Freude haben: dem
Christen aber ist die Welt des Teufels. Der Grieche erbaute sich
in wenigen Stunden im Theater, der Christ schließt sich lebens-
lang ins Kloster ein; dort richtete die Volksversammlung, Ä/^r die
Inquisition, dort entwickelte sich der Staat zu einer aufrichtigen
Demokratie, hier zu einem heuchlerischen ^Absolutismus, und
Heuchelei ist überhaupt der hervorstechendste Zug der ganzen
288
christlichen Jahrhunderte bis auf unsere Tage, und dies Laster
tritt um so unverschämter hervor, so oft die Menschheit auf dem
Wege der Natur aus sich selbst neues gebären will. Christliche
Kunst, wie die ritterliche Poesie des Mittelalters, der Wagner einst
so freudig in Tannhäuserund Lohengrin seine Gestalten entlehnte,
kann mit ihrer Verhimmelung — so heißt es jetzt — nur die Lüge
dieses Kompromisses dartun. Erst als der Fanatismus des Christen-
tums ausgebrannt war, konnte sich die Renaissance erheben, aber
die Kirche war dreist genug, sich auch mit diesen fremden Federn
zu schmücken: das bezieht sich also etwa auf Raphael und Michel-
angelo. Die katholische Kirchenmusik auf ihrem brünstigsten Höhe-
punkt sei nur noch Ächzen und Seufzen der Seele; man denkt
unwillkürlich an die Seelenseufzer in Wagners späterem ParsifaL
Ebenso — hier redet wieder der Sozialreformer, nicht minder
aber auch das ästhetische Empfinden — hat heute das Christentum
einen Pakt eingegangen mit der Industrie und der Börse, mit
Luxus und Besitz, mit Staat und herrschender Gesellschaft. Es
hat die Bestimmung des Menschen so sehr ins Jenseits gesetzt,
dass er auf Erden nur noch die Bestimmung hat, sein Leben
notdürftig zu fristen: darum ist in einer Baumwollenfabrik der
Geist des Christentums aufrichtig verkörpert. Dies Christentum
gilt aber nur dem Arbeiter, den man gnadenvoll in eine bessere
Welt entlässt. Unser Gott ist das Geld, unsere Religion der
Gelderwerb. Was sollen wir nun tun? Freilich können wir nicht
wieder Griechen werden ; die griechische Kultur war nur möglich
bei der Sklaverei, daran ist sie zu Grunde gegangen; wir müssen
alle Menschen lieben, um uns selbst wieder zu lieben, um wieder
Freude an uns selbst zu gewinnen.
Von dieser Liebe versichert Wagner ausdrücklich, sie solle
nicht die christliche Liebe sein. Wie man an Brunhilde, Wotan
und Siegfried sieht, ist echte Liebe zunächst Geschlechtsliebe, sie
ist der eigentliche Zweck des Lebens; da kommt das Verhältnis
vom Ich zum Du am naturgemäßesten zum Ausdruck. Aber sie
erweitert sich zur allgemeinen Menschenliebe, die eben auch ein
Naturdrang ist, jedoch auch die Forderung, sich für den andern zu
opfern. Diese Menschenliebe wie auch die echte Geschlechtsliebe
hat Jesus verkündigt, und darum schließt Kunst und Revolution
mit der Aufforderung: „So lasst uns denn den Altar der Zukunft
289
im Leben wie in der lebendigen Kunst den zwei erhabensten
Lehrern der Menschheit errichten: Jesus, der für die Menschheit
htt, und Apollon, der sie zu ihrer freudvollen Würde erhob."
HL
Bei allem Abscheu des Künstlers vor dem Christentum ist
also die Verehrung für Christus die gleiche, ebenso der Glaube
an die Zukunft der Menschheit. „Ich glaube an die Zukunft der
Menschheit einfach aus meinem Empfinden heraus,^' schrieb er 1853.
Als ihn später Malvida von Meysenburg begeistert vom „Kunst-
werk der Zukunft" besuchte, musste sie die peinliche Erfahrung
machen, dass Wagner von seinen Hoffnungen und Plänen nichts
mehr wissen wollte; trübe Erfahrungen hatten ihn an der Zukunft
irre gemacht; namentlich hatte ihn der Staatsstreich Napoleons
vom 2. Dezember erschüttert: während es ihm war, als müsse die
Welt nun untergehen, ging alles seinen Gang weiter, als wäre
nichts geschehen. Dazu kamen persönliche Misserfolge und Ver-
stimmungen, in dieser Verfassung erhielt er im Oktober 1854
durch Herwegh Schopenhauers Buch Die Welt als Wille und
Vorstellung, das schon vor dreißig Jahren erschienen, aber ziem-
lich unbeachtet geblieben war. Dies Schicksal des Buches zog
ihn an: was der Philosoph von der vorherrschenden Bedeutung
des Willens, von der Unfähigkeit des Verstandes, die Welt zu er-
kennen, sagte, entsprach ganz seinem Empfinden; geradezu be-
geistern musste ihn Schopenhauers Hochschätzung der Kunst:
der Heilige allein vermag das Weltleid durch Askese zu über-
winden, der Künstler weiß es zu verstehen, zu deuten und zu
versöhnen! Aber trotz seiner pessimistischen Stimmung erschrak
er vor der Forderung, den Willen zum Leben durchaus zu ver-
neinen; noch meinte er, dem Kunstwerk der Zukunft treu bleiben
zu sollen.
Aber Herwegh verwies ihn auf den tiefsten Sinn aller Tra-
gödie. Auf einmal wurde ihm selbst erst sein Wotan klar, klar
auch, dass er längst zwar den Optimismus gepredigt, aber pessi-
mistisch empfunden, nach Erlösung vom Leben sich gesehnt hatte
und alle seine Gestalten mit ihm ! Aber Erlösung kann nicht dem
Einzelnen widerfahren; der ganze Weltwille muss zur Einsicht
und Umkehr, zum Nichtmehrwollen bekehrt werden. Fortan er-
290
schien es ihm als einzige Aufgabe, diese Philosophie zu durchdringen
und ins Leben zu übertragen, sie zum Gesetz für unser Denken
und Erkennen zu machen; vor allem durfte sein Kunstwerk hin-
fort nur dieser Aufgabe gewidmet sein, durch Wort, Ton und
Darstellung das Mitleid mit dem überall ausgegossenen Weltleid
zu erweisen und den Willen zur Heimkehr, zum ewigen Frieden
einzuladen. Da er seinen Nibelungenring erst jetzt recht ver-
standen, den Ring der unlöslichen Not, so lang noch ein Wille
begehrt nach Sonderlust und Eigenglück, sei es auch in der Liebe,
so muss nun Brunhilde den Göttern ein anderes Grablied singen:
Führ' ich nun nicht mehr nach Walhalls Feste —
Wisst ihr, wohin ich fahre?
Aus Wunschheim zieh' ich fort, Wahnheim flieh' ich auf immer.
Des ewigen Werdens offne Tore schließ ich hinter mir zu.
Nach dem wünsch- und wahnlos heiligsten Wahlland,
Der Weltwanderung Ziel, von Wiedergeburt erlöst,
Zieht nun die Wissende hin.
Alles Ewigen seliges Ende — wisst ihr, wie ich es gewann?
Trauernder Liebe tiefstes Leiden
Schloss die Augen mir auf. Enden sah ich die Welt.
Alle Liebe kann hier nur trauern, nicht helfen; trauernde
Liebe wandelt sich in Mitleid, das Mitleid kann nur des Werdens
Strom hemmen, und das Ende des Weltleids mit dem Ende der
Welt herbeiführen wollen — diesem Glauben ist Wagner bis an
5ein Ende treu geblieben.
ZÜRICH A. MEYER
(Schluss folgt.)
DDO
DER BECHER
Es stand ein schlanker Becher zwischen ihr
Und mir, mit schmalen Schilden ausgebuckelt.
Sie hob mir Dürstendem das Goldgeschirr
Mit ihren weißen Händen an den Mund.
ich trank, bis in die Glut der tiefsten Ader
Erschauernd und erfrischt, ich blickte über
Den blanken Becherrand, indes ich schlürfte,
In ihre Augen, die begehrlich brannten.
Absetzend bot ich ihr den Becher dar.
Den noch des Trunkes andre Hälfte füllte.
Sie schüttelte das schöne Haupt und wandte
Sich schmerzlich ab. Da ward das Herz mir schwer,
Und herb und bitter würgte mich der Trank.
Aus Neue Gedichte von ADOLF FREY,
erschienen bei J. Q. Cotta.
291
EINE PHILOSOPHIE DES LEBENS
HENRI BERGSON
BERGSONS STELLUNG IM HEUTIGEN GEISTESLEBEN.
KRITIK UND WÜRDIGUNG.
Bergsons Einfluss ist zunächst in Frankreich nicht leicht zu
hoch einzuschätzen. Seine Hauptwerke^) gehören heute zum
geistigen Sauerteig, der vor allem in der Jugend Frankreichs
wirkt. Seine Ideen und Forderungen sind unbedingt eine der
Kräfte, die im heutigen jungen Frankreich jene erstaunliche
Wandlung schaffen helfen, die sich vor unsern Augen vollzieht.
Die junge Generation beginnt wieder an Ziele, Werte und Ideale
zu glauben, sie durch Anstrengungen und Opfer zu erstreben
und reißt sich mächtig aus jener unfruchtbaren Reflexion und
lähmenden Resignation heraus, die das vergangene Geschlecht
kennzeichnete. Der schwunglose, gemütsarme Positivismus und
Skeptizismus, dessen Wortführer Taine und Renan gewesen sind,
und man darf auch sagen, der genussüchtige Individualismus,
„le mal romantique", wird von der Elite der gegenwärtigen
Jugend Frankreichs begraben. Sie erlebt in träumerischen, mystisch
sich versenkenden oder dann wieder tatenfroh vorwärts drängen-
den Herzen eine Wiedergeburt des Idealismus, in dem der Glaube
und die Tat den ersten Rang einnehmen — der Glaube auch an
das kommende, bessere Frankreich, das neue Kulturwerte schafft
Diesen Glauben hat Bergson mit andern erwecken helfen durch
seine optimistische Intuitionsphilosophie, die im Leben wieder
Tiefe, schöpferische Kraft und neue Verheißungen sieht.
Bergsons Philosophie ist also in ihrer Wirkung durchaus
nicht nur auf die Fachkreise beschränkt geblieben. Ihre Gedanken
dringen in die soziale, politische, theologische Literatur ein und
') Essais sur les donnees imme'diates de la conscience, 1888, ins
Deutsche übersetzt als Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die un-
mittelbaren Bewusstseinstatsachen; Matiere et memoire, 1896, übersetzt:
Materie und Gedächtnis; Essay zur Beziehung zwischen Körper und Geist;
Le Rire, 1901, erscheint jetzt in deutscher Übersetzung; Einführung in die
Metaphysik (französisch vergriffen); Evolution creatrice, 1907, deutsch als
Schöpferische Entwicklung. Sämtliche deutsche Übersetzungen bei Diede-
richs, Jena.
292
befruchten die Kunst. Diese besonders fühlt sich einer Philo-
sophie unendlich zu Dank verpflichtet, die „le magnifique courage
de la Vision" hat und es wagt, statt des räsonierenden, allmäch-
tigen und im Grunde kunstfeindlichen Verstandes, die Intuition zu
inthronisieren, „une vue du coeur dans les tenebres, le luminaire
de la profondeur, la conscience amoureuse de ce qui est, le lien
de toutes les intelligences", wie Suares sie in einem tiefgrabenden
Essay über Dostojewsky preist. Mit seinem Antiintellektualismus,
der den Verstand „nur als Pflug, und weder als Saat noch Ernte"
ansieht, nimmt auch die religiös interessierte Welt freundliche
Fühlung und zwar sowohl die protestantische als die katho-
lische. Diese ist jüngst allerdings in ihren Hoffnungen bitter
enttäuscht worden, seitdem der Papst den Angriff von Mgr. Farges
auf Bergsons Philosophie mit seinem Segen gedeckt und er-
muntert hat. Ein glänzender Stil, reich an wundervollen Bildern
und überraschenden Visionen, erleichtert ihr den Weg in die ge-
samte Kulturwelt, die sie als ein Werk begrüßt, an dem die Kunst,
das Gemüt und der soziale Wille ebenso viel Teil haben als das
reine Denken, die Philosophie im engern Sinn. Aber auch die philo-
sophischen Fachkreise haben Bergson einen Empfang bereitet, wie
er seit langem keinem Philosophen beschieden war. Der Philosoph
und Mathematiker Le Roy sieht in ihr eine Gesamterneuerung der
Philosophie. Peguy rechnet ihn zu den fünf oder sechs ganz
großen Philosophen, die die Geschichte des Denkens hervorge-
bracht hat, Sorel sieht in ihm den, der seine Zeitgenossen lehrte,
ihre Ideen in Ordnung bringen, Chaumeix vergleicht seine philo-
sophische Leistung jener von Kants Kritik der reinen Vernunft,
Gillouin nennt seine Philosophie die bedeutendste seit Descartes
und die größte seit Kant (vergl. Benda, Le Bergsonlsme). Es tut
der Wirkung dieser Philosophie wenig Eintrag, dass ihr auch
leidenschaftliche Gegner, vor allem in den Reihen positivistischer
Naturphilosophen und idealistischer Intellektualisten erstanden sind,
die seine Abwendung vom Rationalismus als einen eigentlichen
Verrat am Geist der französischen Philosophie brandmarken und
seine bilderreiche Ausdrucksweise als „Quincaiilerie" dem kri-
stallklaren Edelguss des echten französischen Stils gegenüberstellen.
So Fouillee, Couturat, und vor allem Benda in einer die schwa-
chen Punkte allerdings geschickt bloßlegenden Kritik. Dieser geht
293
mit einer ganz unfranzösisch groben Berserkerwut auf den „presti-
digitateur" Bergson los und trägt den Kampf sogar in das Gebiet
des Romans hinüber (L'ordinaüon, wo er tendenziös das Behar-
rende der moralischen Idee der Treulosigkeit und Unmoral eines
nur instinktiven Verhaltens gegenüberstellt); ja, er verschmäht es
nicht, ihn gleichsam als einen Dreyfous der Philosophie zu de-
nunzieren, indem er auf seine Rassenherkunft hinweist.
Bergson hat aber auch außerhalb von Frankreich eine ganz
hervorragende Würdigung gefunden, so besonders in England, das
durch den Empirismus, der seine Philosophie auszeichnet, und
vor allem durch W. James gut auf ihn vorbereitet war. Viele eng-
lische Philosophen, wie Balfour, Sidney Waterlow, Lindsay, Solo-
mons, Stewart Kelly und andere haben zu ihm Stellung ge-
nommen und ihm Eingang und Gehör verschafft. Eine weit kriti-
schere Aufnahme fand er in Deutschland. Der deutsche philo-
sophische Geist leistet dem Eindringen einer Philosophie, die das
Leben als philosophisches Prinzip an die Stelle der Vernunft
setzen möchte, starken oder doch vorsichtigen Widerstand. So
kann es zum Beispiel der Marburger Kreis, Bornhausen, Herrmann
Natrop nicht dulden, dass eine Lebenstheorie die Erkenntnistheorie
verdränge und sieht durch die Preisgabe der Position des Kritizis-
mus, durch das Verlassen der Wege Kants, die Würde und Frei-
heit des Geistes bedroht. Herrmann vermag deshalb in ihm nur
einen „verwilderten Katholizismus" zu entdecken. Die Philo-
sophen um den „Logos", Rickert, Kroner sehen ebenfalls durch
seine Betonung des Lebens als höchsten metaphysischen Wertes
die eigentlichen Kulturwerte gefährdet, die über dem Leben stehen.
Aber alle sind gezwungen, dem philosophischen Genius in Bergsons
Leistung Achtung zu zollen. Daneben gibt es andere, die ihn
als ErÖffner neuer philosophischer Bahnen begrüßen, wie Gold-
stein, Steenbergen, Windelband. Ja, Graf Keyserling anerkennt
seine Philosophie als die originellste Leistung seit den Tagen
Immanuel Kants.
Es ist nicht ganz leicht, die Stelle zu finden, an der Bergson
in die gegenwärtige geschichtliche Entwicklung unseres Geistes-
lebens einzureihen ist; denn in seinem Werke kreuzen sich viele
Linien, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein führen
und prägen sich die verschiedensten Tendenzen der heutigen Zeit
294
in neuer und eigenartiger Weise aus. Wir wollen versuchen, einige
dieser Linien zu ziehen und die verschiedenen Brennpunkte seiner
Philosophie zu bestimmen.
Da ist einmal der Evolutionismus seiner Philosophie des
Werdens. Darin findet ein Hauptzug des gegenwärtigen Denkens
einen neuen Ausdruck. Die logische Entwicklungslehre Hegels
opferte dem starren Begriff und seiner Bewegung den Reichtum
und die Flüssigkeit des konkreten Lebens, in der biologischen
Spencers war das Geistige in einem Naturprozess untergegangen,
in der dynamischen Entwicklungslehre Bergsons ist dem Geistigen
die Fülle und Mannigfaltigkeit des Lebens zurückgegeben, und doch
gleichzeitig die geistige Natur des Lebensprozesses behauptet.
Da ist zweitens Bergsons Biologismus, zu dem er durch das
gründliche Studium der modernen Naturwissenschaft gekommen
ist. Er sucht nicht hinter oder über der Welt und dem Leben ein
abstraktes, höheres Prinzip; sondern das Leben selbst steht im
Mittelpunkt seiner Weltbetrachtung, es ist als schöpferische Dauer
selbst das Ding an sich, das Absolute, das Weltprinzip. Vom
Leben aus ist die Welt zu verstehen; sowohl Natur als Geist
werden vom unmittelbarsten Lebensgefühl aus gedeutet. Die all-
gemeinen biologischen Vorgänge, wie die geistigen Tätigkeiten
des Denkens und Handelns sind verschiedene Wirkungsweisen
des Lebensdranges. Ziel und Sinn alles Geschehens ist höchste
Lebenssteigerung. Dieser ungeheuer elastische Biologismus steht
auf der einen Seite ebensosehr den heutigen naturalistischen
Versuchen nahe, von der Biologie zu einer Naturphilosophie auf-
zusteigen , wie jener neuidealistischen Lehre Euckens, der vom
allgemeinen Geistesleben den Ausgang nimmt.
Drittens ist seine Philosophie charakterisiert durch den bereits
genannten Volitionalismus. Damit stellt sich Bergson in die Nähe
aller derer, die das Wesen des Lebens und des Geistes im Willen
oder in etwas ihm Ähnlichem sehen. Man denkt dabei vorläufig
allerdings weniger an den sittlichen Willen wie bei Fichte, sondern
eher an Schopenhauers Lehre vom Urwillen. So sehr dessen
Pessimismus vergangen ist, so lebens- und entwicklungsfähig hat
sich seine Willenslehre erwiesen, die wohl von jenem zu lösen
ist. Das zeigen Weiterbildungen, wie etwa die Lehre vom Drang
bei Heinrich von Stein, die Bedeutung des Willens bei Wundt.
295
oder, um einen modernen Versuch zu nennen, die ganz volitiona!
gerichtete Libidotheorie der psychanalytischen Zürcher Schule und
andere Neuere, die in irgend einer Form den Primat des Willens
über das Denken vertreten.
Damit sind wir auch schon ganz in die Nähe des Vierten ge-
kommen, zu Bergsons Irrationalismus, mit dem die scharfe Kritik
des Intellektualismus und die Zurückweisung jener „foi naive ä la
science" (Barres) gegeben ist. Auf diesem Boden begegnen sich
Gedanken von ganz verschiedener Herkunft, die uns aus der Ver-
gangenheit und in der Gegenwart wohlvertraut sind. Denn im
Irrationalismus verbinden sich freundschaftlich alle Bestrebungen,
die im Rationalismus und Intellektualismus ihren gemeinschaft-
lichen Feind haben: die Mystik, der metaphysische Individualis-
mus eines Leibniz und Schleiermacher, die Gefühlsphilosophie
eines Hamann und Jakobi, ebenso wie in der Gegenwart die
Bekämpfung des Intellektualismus bei Bonus und Heim, die Sehn-
sucht nach dem Unmittelbaren bei Kutter und Ragaz und die
moderne Romantik mit heidnischem oder christlichem Anstrich.
In diesen Eigentümlichkeiten der Philosophie Bergsons sehen
wir sich kreuzende Strömungen, die in irgend einer Form in
unserer Zeit lebendig sind. Das erklärt einen Teil ihrer außer-
ordentlichen Wirkung. Die Meisten, ohne sich ihr ganz zu ver-
schreiben, finden durch einen dieser Hauptgedanken einen Zugang
zu ihrem Verständnis. Der Erfahrungsphilosoph begrüßt in Berg-
sons Philosophie die empirische Methode und die Aufnahme
jenes psychologischen Elementes, das vom Idealismus und Kri-
tizismus vernachlässigt, ja verachtet worden war. Andere, die den
Weg Kants nicht gehen können und doch in einem Anschluss an
die große Zeit des deutschen Idealismus das Heil suchen, sehen
in ihr Gedanken von Herder, Jakobi, Schelling und Fichte in einer
neuen Synthese wieder lebendig werden. Es ist der Primat des
Lebens, der sie gewinnt. Die Erkenntnistheorie, von der seit Kant
das Hauptinteresse angezogen wurde, erscheint ihnen wie ein be-
ständiges „vorläufiges Messerschleifen" und sie bewillkommnen da-
her eine endlich mutig zupackende Theorie des Lebens. Die So-
ziologen heften sich an ihren optimistischen Evolutionismus und
ihren tatfrohen Geist. Sie sehen in ihr so etwas wie eine Aus-
führung jener Weltanschauung, die in dem kurzen, weithinleuch-
296
lenden Worte von Marx skizziert ist: die Welt eri^iären ist nichts,
sie verwandeln alles! Der künstlerische und der religiöse Mensch
danken ihr für den Schutz des unmittelbaren und subjektiven
Erlebnisses gegenüber der Macht der Abstraktion, für die Rettung
des Individuums und seines Inhaltes aus der Umklammerung des
Allgemeinen und Gesetzmäßigen. Die reinen Pragmatisten be-
decken ihre philosophische Blöße mit Bergsons Autorität und der
Fülle dessen, was er über seinem Pragmatismus auferbaut hat.
So spiegelt sich in Bergsons Philosophie der Zwiespalt, die
Sehnsucht, die widerstreitenden Strebungen einer zerrissenen und
gährenden Zeit, die sich selbst zu begreifen sucht, überall ein Echo
ihrer Not und ihres Dranges findet und sich zu einer Einheit zu-
sammenzuschmieden trachtet.
Ablehnend und kritisch verhalten sich dagegen die reinen
Intellektualisten und Rationalisten und in einer gewissen Bezie-
hung alles, was durch Kants Schule hindurch gegangen ist oder
durch sie den Blick für neue Problemstellungen verloren hat.
Und zwar wird diese Kritik geübt sowohl von den reinen Idea-
listen und Erkenntnistheoretikern, die das biologische, empirische
Element in seiner Philosophie nicht vertragen können, wie von
jenem Intellektualismus, der heute die Form des Materialismus
oder Positivismus annimmt: diesem ist das Metaphysische in
Bergson zuwider.
Die Kritik, die der Intellekt als kritisches Organ an dieser
Philosophie üben wird, springt jedem ohne weiteres in die
Augen, auch wenn man gewillt ist, sie vor nahe liegenden
Missverständnissen zu schützen. Auch wer der pragmatischen
Wertung des Intellekts zuzustimmen vermag, wer ihn als Be-
schränkung ansieht, wird nicht so weit gehen wollen, ihn, wie
Bergson es tut, in die Nähe der Materie zu setzen, in ihm ein
Erkenntnisorgan zu erblicken, das vor allem auf die Materialität
abgestimmt und dem die Erfassung freierer geistiger Zusammen-
hänge versagt ist. Soll wirklich die Starrheit seiner Formen und
die Beharrlichkeit der Materie mit einander verglichen werden
können? Soll der Intellekt von einer lebendigen Beziehung zwi-
schen Geist und Welt ausgeschlossen sein? Soll in der Festigkeit
seiner Begriffe wirklich nur derselbe Automatismus erscheinen,
wie wir ihn in der Materie bemerken, eine Erschlaffung des
297
Lebensschwunges, Lots Weib, das sich zurückwendet und erstarrt?
Noch ein anderes ist einzuwenden : es gibt Anzeichen genug,
dass auch in diesem schöpferischen und irrationalen Lauf des
Lebens ein Rationales verborgen eingebettet liegt, ein Logos, eine
Vernunft uns entgegenleuchtet, die dem Leben eingeboren ist und
sich bald schwächer, bald stärker regt und der die Vernunft des
Menschen antwortet. Wir können kein vernünftiges Weltbild ge-
stalten, wenn Vernunft nicht doch schon irgendwie in der Welt
enthalten wäre. An dieser Vernunft aber will der Intellekt Teil
haben, denn er schöpft sie aus dem wirren Weltlauf heraus und
bildet daraus allgemeingültige Wahrheit. Der menschliche Geist
kann nur dann darauf verzichten, wenn er sich nicht vor dem
fließenden Weltleben unterscheiden und einfach in ihm mitschwim-
men will. Wenn die Intuition dem Intellekt als höheres Er-
kenntnisorgan gegenübergestellt wird, so sieht man wohl ihre Un-
mittelbarkeit und ihr tief schöpfendes Wesen, aber man sieht
auch, was sie nicht vermag: Sichere, allgemein gültige Wahrheit
zu erzeugen. Sie mag wunderbare Visionen, mystische Schau-
ungen ermöglichen, aber Wahrheit im Sinne einer allgemeinen
und notwendigen Gültigkeit schafft sie nicht. Sie hat den Zauber
des mystischen Erlebnisses an sich, die Innigkeit und Tiefe der
religiösen Empfindung, die Hellsichtigkeit der künstlerischen Vi-
sion, aber nicht die Unwiderstehlichkeit und Durchschlagskraft
der nüchternen Wahrheit, die mitteilbar ist und eine zwingende
Gemeinschaft erzeugt. Denn die Intuition, die eine Art Sympathie,
ein Mitleben, ein intellektueller Instinkt ist, kann so lange nicht
reden und durch die Rede Gewissheit schaffen, als sie nicht als
allgemeine und gleichwertige menschliche Anlage erwiesen wird.
Sobald sie nicht nur mitlebt, mitfühlt, schaut, sondern redet und
also auch denkt, verlässt sie ihr eigentliches und unangreifbares
Reich der Subjektivität und ist aller Kritik preisgegeben. Der Mystiker,
der sich am „Fünklein" des Weltgrundes entzündet hat, kann
zwar erleben, schauen, fühlen, aber sein Leiden ist, dass er die
ganze Fülle der Gesichte nicht sagen kann. Und sobald er es
versucht, klagt er, dass schon die Quelle versiege und sich nicht
in das Bett mitteilbarer Rede leiten lasse. Wohl stellt sich das
Bild, das Gleichnis ein — bei Bergson, wie man gesehen hat, in
einer verschwenderischen Fülle ausgestreut— in dem er für einen
298
Augenblick das Leben aufzufangen glaubt. Aber es brauchte, pa-
rallel den unendlichen Schöpfungen des Lebens, eine unendliche
Reihe von Bildern ; denn das einzelne Bild ist für jeden Augen-
blick wie der Begriff auch nur eine Station, ein wenn auch
kürzeres Stehenbleiben bei einer einzigen Lebensansicht, von
wo der rasche Lauf des Lebens den Blick gleich wieder fort-
reißt. Es ist ein alter Traum der Menschheit, über die Schran-
ken des Verstandes hinwegzusteigen und das Weltleben unmittel-
bar zu schauen in der Intuition. Die theoria Piatons, die Schau-
ungen Plotins sind nichts anderes, und derselbe Versuch kehrt
wieder in Schellings intellektueller Anschauung. Ja, Kant selber
träumte von einer Erkenntnismöglichkeit, in der Sinnlichkeit und
Verstand zu einer einzigen Fähigkeit verbunden wären, sodass
wir eine Art anschauenden Verstandes uns denken könnten. Aber
er gab diesem Traum den Abschied, als er feststellte, dass An-
schauungen ohne Begriffe blind, und Begriffe ohne Anschauungen
leer seien.
Noch eines ist kurz anzudeuten: Das Leben, die Welt ist
nach Bergson rastlose Schöpfung: vivre, c'est creer du nou-
veau. Die Welt ist Werden. Also auch ein beständiges Ver-
gehen. Woran soll sich nun der Mensch in diesem Flusse
orientieren, wenn er sich nicht einfach vom elan vital treiben
lassen will? Es gibt keinen Ruhe- oder Zielpunkt, also kein Be-
harrendes; es müsste denn sein, dass der Geist in seinem Besitz
der ganzen Vergangenheit, also im Charakter, doch auch ein
Seiendes und Beharrendes hat gegenüber dem Neuen, in das er
Stetsfort stürzt. Und damit wäre der Gegensatz zwischen Sein
und Werden, den Bergson im Weltprozess leugnet, einfach zu einem
innerpsychischen geworden und erwiesen, dass Sein und Werden
Korrelatbegriffe sind und nur als ein Proportionsverhältnis zu
verstehen sind. Damit wäre noch nicht beantwortet, wie aus der
Duree creatrice, aus dem elan vital Normen und Werte zu ge-
winnen sind, die allein es uns ermöglichen, die Fülle des Lebens
zu beurteilen. Bergson sagt, das Leben ist Schaffen. Es schafft
aber ein wahlloses Allerlei, es bringt beides hervor, Heilige und
Verbrecher, Gutes und Böses, Schönes und Hässliches. Nach
welchem Maßstab wählen wir nun die Werte aus, die die Konti-
nuität der Kultur bedeuten? Oder wo liegt im Leben selbst die
299
geheime Weisheit, die diese Werte erzeugt? Denn etwas bloß
Lebendiges ist an sich noch kein Wert; das Leben ist der Güter
Höchstes nicht. Erklärt schon jene Freiheit, die nichts anderes
ist als das Einssein mit dem tiefsten Lebensgrunde, das Hervor-
treten jener Werte, die wir erstreben und nach denen wir uns
richten? Und gibt es nicht Werte, die ganz unmittelbar zusam-
menhängen mit jener verfehmten Tendenz zur Beharrung? Werte
und geistige Schöpfungen, Gesetze und Wahrheiten, die dem Werden
und Vergehen .entrückt sind ? Man sieht, es bleiben für Bergsons
weitere Arbeit noch genug Fragen zur Beantwortung übrig, die
durch seine bisherigen Werke nicht zum Schweigen gebracht
wurden.
Das sind einige von vielen Fragen und Einwänden, die die
Vernunft nicht übersehen kann, will sie nicht ihre Bedeutung als
Gesamtsinn und Einheit des Menschengeschlechtes preisgeben. Der
Intellekt, der sich nicht in die Rolle fügt, die Bergson ihm zuweist,
muss so urteilen. Allerdings muss man nun zugeben, dass die Intui-
tionsphilosophie einer bloßen Kritik des Intellekts ausliefern, heißen
würde: sie vor einen Richter stellen, der in dieser Sache befangen
und unzuständig ist — erscheint er doch in Bergsons Philosophie
geradezu als Angeklagter. Er müsste sie notwendigerweise
verurteilen, sie als Glaubenssatz und persönliche Meinung ab-
lehnen, wenn die Philosophie nur ein logisches System, nur eine
Bearbeitung der Begriffe zu sein hätte. Dann wäre für die Intui-
tionsphilosophie keine Berufung auf einen höheren Richter mög-
lich und sie bliebe ein schöner Privatbesitz eines einzelnen genialen
Menschen. Nun lernen wir aber immer besser einsehen, dass der
Wert eines philosophischen Systems nicht allein in seinen begriff-
lichen Denkresultaten liegt. Und zwar sind es nicht nur Lebens-
künstler und Glaubensmenschen, die das einsehen, sondern Philo-
sophen, wie zum Beispiel Simmel, Husserl, die betonen, dass der
logische Gehalt eines Werkes nicht der einzige Maßstab und die
logische Methode nicht der einzige Weg zu neuen Erkenntnissen
sei. Wir finden zum Beispiel bei Husserl, wohl gemerkt einem
Logiker, folgendes bedeutsame Eingeständnis: „Wir sind zu sehr
geneigt, indirekte Methoden zu überschätzen und den Wert direkter
Erfassung zu missachten. Es liegt aber gerade im Wesen der
Philosophie, sofern sie auf die letzten Ursprünge zurückgeht, dass
300
ihre wissenschaftliche Arbeit sich in Sphären direkter Intuition
bewegt, und es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen
hat, zu erkennen, dass mit der philosophischen Intuition ein end-
loses Arbeitsfeld sich auftut, und eine Wissenschaft, die ohne alle
indirekt symbolisierende und mathematisierende Methoden, ohne
den Apparat der Schlüsse und Beweise doch eine Fülle strengster
und entscheidender Erkenntnisse gewinnt." Und weiter an einem
andern Orte: „in schauender Haltung Erfasstes kann nur in
schauender Haltung erfasst werden." Auf der Höhe dieser Ein-
sicht gewinnen wir für die Beurteilung von Bergson einen neuen
und höhern Standpunkt als den eben vertretenen intellektuellen.
Eine solche „schauende Haltung" hat die Philosophie Bergsons
eingenommen. Sie will als Anschauung gewertet sein, nicht als
begriffliches Denken. Sie kann daher verlangen, dass man ihr
in ihre Einstellung folge.
Schauen ist das Ursprüngliche, Begreifen das Abgeleitete,
Schauen ist Reichtum und Fülle, Begreifen ist Beschränkung und
Armut. Im Schauen liegt das Aristokratische und Künstlerische,
im Begreifen herrscht die Demokratie der Vernunft. Schauen ist
das Vorrecht des Einzelnen, Begreifen das Verständigungsmittel der
Allgemeinheit. Aber das, was der Einzelne, der Künstler, der
Prophet, der Mystiker, der Metaphysiker schaut, ist nicht wertlos
für die Allgemeinheit. Ja, es fragt sich, ob diese nicht den größ-
ten Teil ihrer Werte auf diese Weise gefunden hat. Es ist der Weg
ihrer Genesis, wenn auch nicht der Grund ihrer Gültigkeit. Zu
mancher Tiefe findet die Allgemeinheit keinen andern Weg, als
dass der Einzelne ihr sein Auge leiht und sie schauen lehrt. Die
Frage heißt somit, ob wir dem Verhältnis des Einzelnen zur
Welt, soweit wir es miterleben können, Raum und Wert für unsere
Weltanschauung zugestehen wollen. Wer das bejaht, findet trotz
der kritischen Aussetzung ein positives Verhältnis zur Intuitions-
philosophie, auch wenn er sie nicht als eine wissenschaftliche im
strengen Sinne anerkennt. Er gibt damit zu, dass neue Erkennt-
nisse nicht allein auf dem Wege der logisch mathematischen,
sondern auch der psychologisch geschichtlichen Methode uns ver-
mittelt werden können. So bringt die Geschichte ihre Wahrheiten
nicht in der Form der Allgemeingesetzlichkeit des Naturerkennens,
sondern im Gewand der Eigengesetzlichkeit der einmaligen großen
301
Seele. Dabei sind wir aber gewillt, in diesen individuellen Offen-
barungen doch auch Spiegelungen und Äußerungen einer höhern
Gesamtvernunft zu entdecken, wie in den allgemein gültigen Er-
kenntnissen der Naturwissenschaft. In der Geschichte ist es
mit Händen zu greifen, dass es noch andere Wahrheiten gibt
als die logisch mathematischen der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis. Dort bekommt das Individuelle und Einmalige eine
Wahrheit und einen Wert für die Menschheit, den es sonst im
ganzen Bereich des Naturerkennens nicht hat. So können wir
nun die Intuitionsphilosophie zwar als individuelle Anschauung
eines Einzelnen werten, die nicht den allgemein gültigen Zwang
einer logischen Wahrheit ausübt, die aber doch Wahrheitswert
für alle die besitzt, die sich in die gleiche Einstellung und An-
schauung begeben können. Die Wahrheit der Metaphysik stellt
sich damit neben die künstlerischen, sittlichen, religiösen, seeli-
schen Wahrheiten, die auch nicht logischen Charakter haben
und denen man Wahrheitswert doch nicht absprechen wird.
In Deutschland vertreten Eucken, Rickert und Windelband das
Recht dieses Standpunktes, von dem aus die geschichtliche und
die naturwissenschaftliche Erkenntnis jede in ihrem besondern und
unabhängigen Recht erscheinen. Aber während diese dazu kom-
men von der Geschichte und von erkenntniskritischen Erwägungen
her, erreicht Bergson diese Stellung, indem er ausgeht von dem,
was die Geschichte erst ermöglicht: vom schöpferischen Leben
der Duree creatrice, die der Allgemeingesetzlichkeit immer wieder
entrinnt und in der Einzelerscheinung der neuen Schöpfung, ihre
Fülle, ihr Streben und ihre Freiheit erweistoder doch danach trachtet.
Bergsons Philosophie gehört also zu jenen geschichtlichen
Schöpfungen, die man nicht nach ihrem streng logischen Wahr-
heitsgehalt fragt, weil „Wahrheit überhaupt nicht der ganz an-
gemessene Begriff ist, um den Wert einer Philosophie auszu-
drücken" (vergl. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie). Ihre
neue Problemstellung, ihre persönliche Einstellung auf die Welt
ist das Fruchtbare, das Anregende und Wertvolle für uns und
vielleicht auch der Weg zu neuen Erkenntnissen. Das Einzel-
verhältnis eines genialen, weitschauenden und tieffühlenden Men-
schen zu Welt und Leben ist für die Menschheit immer wieder
der Weg zu neuen Wahrheiten geworden.
302
Dieses Einzelverhältnis Bergsons zur Welt ist uns, ganz all-
gemein gesprochen, durch zwei Besonderheiten wichtig und
und aller Beachtung wert.
Einmal durch den Mut der Seele als eines Ganzen, sich
Führerrecht und Wegkenntnis auch im Streben nach Weltan-
schauung und Lebenserkenntnis zuzutrauen, nachdem sie das bis-
her allzu willig dem beschränkenden Intellekt überlassen hatte.
Damit beseelt sie die Welt und füllt sie mit dem ihr eigenen Le-
ben. Dieser Mut wächst aus der wohlbegründeten Einsicht, dass
die Bedingung aller wesentlichen Erkenntnis in der Fähigkeit
liegt, tief, ja leidenschaftlich von einer Sache bewegt zu werden.
Man muss etwas erleben, um es zu erkennen. Auch da gilt
Fausts Wort: Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.
Die Kraft und Glut dieses Erlebnisses geht dem logisch geord-
neten Erkennen voraus. Eine Art tiefgreifender, weil tief ergriffener
Divination, die mit der künstlerischen Hingabe und noch mehr
mit der ahnenden und alles verstehenden Liebe verwandt ist,
der Eros, steht an der Pforte aller Erkenntnisse. Damit hat
Bergson wie übrigens Dilthey die philosophische und metaphy-
sische Bedeutung des Erlebnisses für die Erkenntnis in das hellste
Licht gerückt.
Das Zweite, was uns an Bergsons Verhältnis zur Welt wich-
tig ist, ist seine kräftige Reaktion gegen die Ansprüche eines über-
triebenen Intellektualismus und abstrakten Rationalismus. Wohl-
gemerkt nicht gegen den Intellekt richtet sich diese Kritik, der
einen höchst notwendigen Teil unserer Erkenntnis besorgt, son-
dern gegen jene Überspannung und Grenzerweiterung, den Intel-
lektualismus, der die Welt nur auf ihren logischen Gehalt prüft,
sie nur mit rein logischen Kategorien zu erfassen sucht und ver-
gisst, dass daneben noch eine große und reiche Wirklichkeit blüht,
die nicht in das Schema des Intellekts oder der Wissenschaft ein-
geht. So hat eine Psychologie das seelische Leben vergewaltigt,
die den ganzen reichen und tiefen Fluss der Seele glaubte in die
flachen Gefäße logischer Kategorien schöpfen zu können, Wer-
den, Sehnen und Jauchzen der Seele glaubt fassen zu können
mit den armseligen Begriffen einer Assoziations- und Experi-
mentalpsychologie. In gleicher Weise hat der Intellektualismus in
der Soziologie das gesellschaftliche und geschichtliche Leben ge-
303
fälscht, indem er in ihm nur noch die Wirkungen von weiß Gott
was für unentrinnbaren und ehernen Gesetzen sah und mit der
schöpferischen weitverwandelnden Kraft des Genius und des gu-
ten Willens nicht rechnete. Wir leben heute, unter dem Eindruck
der großen Erfolge der naturwissenschaftlichen Methode, in einem
Rausche rein intellektueller Erkenntnis. Das zarteste wie das ge-
waltigste und unaussprechliche Leben wird in Wissen verwandelt
und grinst uns dann in den Masken von Begriffen und Formeln
entgegen. Mit einigen wenigen der Naturwissenschaft entlehn-
ten Begriffen werden Geist und Geschichte gemeistert, Formeln
der Mechanik werden als Schlüssel zum seelischen Leben benützt.
Was einer ganzen Menschheitsperiode Tiefsinn, Heiligtum und
Mysterium war, wird zur Flachheit, zur Illusion oder zum Anhängsel
irgend eines Mechanismus. Diese ganze Weltanschauung geißelt
Bergson als Grenzüberschreitung und Lebensfrevel und zerschlägt
ihre intellektuellen Idole mit kräftiger Faust. Das haben Künstler
und Propheten, Schwärmer und Pfaffen schon oft versucht; hier
aber tut es ein Philosoph, nicht im Namen eines naturwissen-
schaftlichen oder künstlerischen oder gar religiösen Dogmas,
nicht unter jener Verachtung von Vernunft und Wissenschaft, mit
der sich Dunkelmänner so leicht drapieren, sondern kraft einer
engern Fühlung mit dem Leben selbst, kraft einer kühlen Unter-
suchung der Tragweite intellektueller Erkenntnis, kraft einer vor-
sichtigen Grenzregulierung zwischen Wissen und Wirklichkeit,
Wissen und Leben.
In Bergsons Philosophie spricht eine Müdigkeit des heutigen
Menschen, sein Überdruss am bloß intellektuellen Wissen. Es ist
heute zu erstaunlichem Reichtum aufgehäuft; der Einzelne ertrinkt
schließlich darin und fühlt sich durch ihn je länger je mehr in
seinem ganzen, umfassenden und warmen Menschentum bedroht.
Aber diese Philosophie entringt sich jener Müdigkeit und wird zu
einer Sehnsucht nach Ganzheit und Unmittelbarkeit, zu einem
Aufschwung aus den Maulwurfsgängen des Spezialistentums zur
überragenden Höhe einer Gesamtweltbetrachtung, zu reinen ho-
hen Gipfeln, die nicht der sichere, schwerschreitende Fuß, son-
dern nur der Flug des Adlers erreicht. Mitten in einer Welt
hoher materieller und intellektueller Kultur ist sie ein Schrei
nach Seele und Innerlichkeit.
304
Ein starker Zug nach vorwärts, ein kraftvolles und mutiges
Vertrauen zum Leben pulsiert in ihr. Darum ist sie auch eine
Philosophie der Jugend, deren Vorrecht die Begeisterung und
die Hoffnung ist. Vielleicht ist sie deshalb bestimmt, einmal an
die Stelle Nietzsches zu treten. Denn was dieser Positives und
Wertvolles besitzt, hat sie auch und noch einiges dazu. Sie hat
seinen Optimismus dem Leben gegenüber ohne seinen Pessi-
mismus der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie hat seinen
biologischen Dynamismus, ohne damit der Unmoral und der
Ruchlosigkeit des Willens zur Macht zu verfallen. Sie ist anti-
intellektualistisch und sieht wie Nietzsche im Verstand nur eine
kleine Vernunft; aber sie sieht die große nicht im Leibe wie
Nietzsche, sondern im Leben, das Geist werden will. Sie traut
dem Instinkt als einer sicherern Führung, aber er führt sie nicht
zum Egoismus der flachen Bestie, sondern aus der lastenden
Schwere der persönlichen Bedürfnisse heraus. Sie gibt dem
Einzelnen und besonders dem aristokratischen hochwertigen Indi-
viduum sein Recht, ohne dadurch wie Nietzsche zum Hochmut
des Übermenschen zu gelangen, der die Massen dem Teufel und
der Statistik überliefert. Sie lehrt ein ewiges Werden, ohne da-
mit der Welt den Sinn und den absoluten Gehalt zu rauben. Sie
ist künstlerisch und verfällt doch nicht einem genussüchtigen
Ästhetizismus sondern fordert Anstrengung, Taten und zeigt dem
Willen das ferne und schwere Ziel der F.reiheit und des Guten.
Eine Philosophie des Lebens darf Bergsons Werk genannt
werden, denn aus dem Leben ist sie hervorgewachsen, ein grüner
Ast voll Blüten an seinem goldnen Baume, und für das Leben
will sie fruchtbar sein. Eine Philosophie des Lebens darf sie vor
allem heißen, weil sie das Leben da aufsucht und darstellt, wo es
seine größte Gewalt, seine wunderbare Majestät und seine reichste
Fülle entfaltet: in seinem schöpferischen Drang, in seiner Forde-
rung an den Menschen, im tiefsten, freiesten Sinne lebendig zu
werden, und in seiner zukunftsfrohen Verheißung eines Größern,
dem es entgegen eilt.
ZÜRICH ADOLF KELLER
DDD
305
ROBERT UND HEDWIG MARIA
EINE DICHTUNG IN SECHS GESÄNGEN VON J. BÜHRER
(Schluss)
Unter dem ragenden Dache erhob sich der hölzerne Staübau
Freundlich, aus massigen Steinen gefügt, daneben das Wohnhaus.
Über mit Blumen umstellten Stufen verschwanden die Männer
Plaudernd im Hause. Da heulten die Hunde und gibst nichts so gilts nicht
Stoben sie über den Feldweg. Wo dieser im Himmel verschwindet.
Standen zwei Frauen, die eine trug einen Hut an dem Arme.
Wartend saß Robert im Stübchen, darein ihn der Bauer geleitet.
Seltsam ! Vom weißlichen Ofen, bemalt mit den bläulichen Schnörkeln,
Rings von dem ruhigen Nussbaummaser der Wände, der Decke,
Auch vom behäbigen Glasschrank voll bunter Töpfe und Teller,
Ja, von dem leinenen Tischtuch mit bräunlichem Kreuzstich ummustert,
Nicht zuletzt vom Spinett auch, darauf eine Nelke erglühte.
Kurz, von dem ganzen Hausrat des Stübchens gings aus wie ein Duften,
Besser vielleicht als ein Stimmlein, das bettelt: „Du hastiger Zeitlauf,
Weile ein Weilchen 1" Und gleich wie ein Kind, das Unmögliches fordert.
Dennoch es manchmal erreicht, so gelingt's wohl dem herzigen Stimmlein
Manchmal die Zeit zu betören, so dass die Minuten sie gütig
Dehnet zu herrlichen Stunden, die schwerer wiegen als Jahre.
„Alles auf Reisen!" polterte Glauser herein, ein gewaltig
Tablar auf Händen und Bäuchlein schleppend. „Kommt, seid mir behilflich,
Nehmet vorlieb! ich nahm, was ich fand in der Eile," versetzt' er,
Tischte ein bräunliches Brot auf und schwärzliche Würste und schenkte
Sacht mit sorgsam gezogenem Strahl aus der staubigen Flasche
Perlenden Wein. „Gesundheit!" stießen die Gläser zusammen.
Gut einen Halbkreis durchlief der Zeiger der stattlichen Wanduhr,
Während die Männer in leichtem Geplauder saßen und schmausten.
Endlich als eben ein silbernes Glöcklein die Stunde ansagte.
Wendete Glauser die Rede: „Ihr maltet mir vorhin," begann er,
„Groß Euer Weltbild, Ihr glühtet in Zorn, Euer Bestes, so war mir.
Wurde verletzt: Die Liebe zum Volke, die Euch den Beruf gab!
Dennoch — als einmal mein Uli — er liegt nun begraben — vom Doktor
Tränklein erhielt, da hatte die Mutter die bittersten Stunden:
Uli versagte den Schluck. Da tat sie ihm Tröpflein um Tröpflein
Heimlich, verstohlen in's Süppchen, ahnungslos trank er's — genas auch !
Wahrheit ist immer ein bitteres Tränklein, das jeder verweigert.
Heißt es drum nicht in der Schrift: Seid klug wie die Schlangen! Redaktor?
Glaubt Ihr, die Saat, die jählings ins Kraut schießt, könne viel taugen? —
Seht," unterbrach er, und wies durch das Fenster, „kommt da nicht Häflig?
Dacht ich's mir doch, der Wind würde wenden! Geduldet ein Weilchen!"
306
Schritte verhallten im Flur, der Redaktor rückte ans Fenster,
Sah in die Linde empor und behutsam den spitzen Gedanken
Glausers erwägend, gestand er sich leise, es möchte was dran sein,
Trotz seiner Jahre sei er noch immer zu jung und verlange
Ungestüm wie die Jugend, es sollten sich Wunder ereignen.
Knirschender Kies unterbrach ihn, da unten ging jemand im Garten,
Stühle wurden gerückt, eine weibliche Stimme sprach: „Hedwig,
Ja — so ist nun der Mensch ! Jetzt sitze ich manchmal schon wieder
An dem Spinett und damals — da welkten doch Farben und Klänge.
Aber, wenn Stille und Abend kommen, dann zwingt's mich zu singen,
.Mte, verschollene Kirchengesänge voll Weihrauch und Moder,
Aber nicht lange, so poltert's zur Türe herein und Bübchen
Steht auf den Zehen bei mir und flüstert: Oh Muetti, nicht das da,
Sing doch : ,Du schwarz-braunes Meiteü', sing doch : ,My gscheggeti Chue'I
Betteln, das kann er; ich singe ihm alles, auch ,Tschingderadeija'!
Manchmal dann wieder schleicht er ganz leise herein und mit einmal
Zittert im matten Klang des Spinetts seiner Geige Geläute,
Wächst und führt mich : ,Spirito santo', , Salve Maria',
Lieder voll Sehnsucht und jungem Begehren. Und manchmal auch wieder
Sitze ich lange allein, da endlich — Sporrengeklirre —
Mädchenlachen. Das Schnäuzchen gedreht, die silbernen Schnüre
Erstmals am Ärmel, tritt der Dragonerwachtmeister zum Spieltisch,
Neben ihm lehnet sein Mädchen, er nickt, ich greif in die Tasten:
,0 mein Heimatland!' tönt es im Dreiklang. — Was hast du, Maria?
Tat ich dir weh? Das wollt ich nicht. Sieh, ich wollte dir sagen.
Als ich den Uli verlor, da starb ich mir selber. Der Letzte
Ging. Den Doktor, den Franz, entfremdete früh mir sein Weibchen,—
Mütter verlieren immer, wenn ihre Kinder sich trauen,
Lebende langsam verlieren ist herber, als Tote beklagen! —
Starb ich mir selber, so sagt' ich, ich hatte ja nichts mehr zu sorgen. —
Aber es gab ein Erwachen: alles, was mich durchschauert:
Mutterglück, kleinliche Sorgen und Ängste, schnellfüßige Freuden,
Alles das, als es war, mir ein Nichts erschien und vergänglich,
Wurde nun wach; ich erlebt' es noch einmal mit wacheren Sinnen!
Was für ein Leben, wie reich eine Mutter! Da lernte ich lächeln.
Still und verzeihend: So schön ist der Alltag, wir sind nur nicht weise!" —
Still ward's da unten. Robert stand, ein gespanntester Lauscher.
Sicher, er sollte sich rühren und kund tun, es höre noch einer.
Aber er bracht' es nicht fertig. Da hörte er Hedwig Maria:
„Mutter Glauser," sprach sie, „nicht weil Euer Mann mich gebeten.
Kam ich zu Euch, mich trieb's fast, Ihr glaubt nicht, was ich erduldet.
Ihr allein wusstet, was wir uns waren, ich und der Uli,
Scheue verbergen musst ich die Tränen und dürft' es nicht sagen,
Dass ich das Liebste verloren. Sie merkten's ja wohl und sie schwiegen,
Ließen mich fort, denn sie glaubten, die Fremde, die Zeit würde heilen.
307
Heilen I ja kann das denn heilen? Gewiss, die Wunden vernarben.
Aber verloren ging es drum doch. Aber was nur? Ich weiß nicht.
Seht, noch als Ulis Braut und seit meiner frühesten Jugend
Sprachen die Dinge zu mir. Öie Wiese sagte: der tausend.
Bin ich ein Weber, ist das nun aber schmuck! Rief der Waldsaum:
Still! da hinten schläft ein Geheimnis. Jauchzte der Himmel:
Schau' ich doch alles! Ich freu' mich der Schöne! — Nun schweigen die
Stimmen.
Lieben musst ich ein Ding oder fürchten, nun geh' ich vorüber
Ohne Empfindung., Mich machte das Unglück alt und verzichtend!"
»Kamst du, um das mir zu sagen ?" frug lächelnd die andere Stimme.
„Nein," erklang es fast herb, „ich werde nicht klug aus mir selber.
Setzet den Fall, man würbe um mich, was sollte ich sagen?
Denkt, es war' einer, der Achtung mir abzwingt, vielleicht sogar Liebe.
Liebe?! Das war der Föhn, der am Jochhorn die Zöpfe mir löste,
Liebe: der Glanz der silbernen Gletscher, die wir bezwangen,
Liebe: das Sternbild, das wir beglückt durch das Hüttendach grüßten,
Liebe: der Rausch, der uns zwang uns selber als Höchstes zu setzen.
AU das verflog wie Wolken am tagenden Himmel, und nüchtern
Seh' ich die Welt, wie die Berge, die schroff und den lauernden Schrecken
Hoch auf den Zinken in's Morgenlicht steigen, hart und gefühllos.
Aber das Frühiicht webt lautlos Schleier aus Taldunst und Sonne,
Legt sie um alles, das schroff ist und nimmt ihm den Schrecken, ich meine
Leise Neigung zu spüren, es sei eine Kraft in dem Weibe,
Lautlos die Güte in's Leben zu tragen und Schroffes zu mildern.
Seht, so zieht eine leise Neigung, nicht Liebe, die toll macht.
Jetzt zu dem Mann mich, von dem ich vermute, er schätze sich selber
Nur als ein Werkzeug des Lebens, er kämpft für sich nicht, für alle!
Mit ihm zu gehen als Freundin den Weg, den er muss, ihn ermuntern,
Schätze von Güte zu häufen in Kindern, das scheint mir Erfüllung
Meiner Berufung! Ihr lächelt?" — Sagte die andere Stimme:
„Schwärmerin, nüchtern siehst du das Leben? Was ist dir dann Dichtung?
Was du in kluge Worte gekleidet, ist ja der Brautlust
Richtiger Sinn, und wenn's uns nicht klar war im Maimond der Liebe,
Inne werden wir's balde, erst schmerzlich: das Beste am Manne,
Unser gehöre es nicht, der Zukunft nur sei es gewidmet.
Aber dann bricht in der Nacht ein goldenes Mondlicht: Wir merken
Alles, das reinliche Linnen, das Lachen des Kindes, — die Heimat,
Die wir mit tausend Sorgen erbauen, sie sei ja die Quelle
All seiner Kraft und sei seiner Mühe einziger Lohn nur.
Setzest du Blumen, führst du die Nadel, so füllt dich ein Ahnen,
Da, dem kleinlichen Werke des Alltags sei Wunderkraft eigen,
Schaffe zufriedenen Sinn, und wirke so fort durch die Zeiten.
Seite an Seite ihr beide, lebendige Kräfte des Werdens!" —
Robert stand wie versteinert, im Auge blitzendes Leuchten.
308
Plötzlich fuhr er zusammen. Schritte nahten der Türe.
Lärmend trat Glauser mit Häflig herein und mit kräftigen Scherzen
Half er den beiden die Fahne des Waffenfriedens zu hissen.
Funkelnde Gläser vereinte die drei um den Tisch, und der Großrat
Führte die Rede: Das Plänlein des Zbinden und Roberts Artikel
Seien gleich hitziger Art; er stehe dafür, dass der Zbinden
Nimmer sein Endziel erreiche; dagegen müss' er verlangen,
Dass man inskünftig solche Schärfen vermeide. Verkennen
Wolle er Roberts Edelsinn nicht, doch es sei zu beachten,
Dass es ein and'res in Büchern und Schulen den Fortschritt zu lehren,
Wieder ein anderes, ihn in das Leben zu tragen; hier müsse
Immer Bestehendes fallen, vielleicht, noch eh' es veraltet,
Leiden erzeuge das auch, oft mehr als das Neue an Heilung.
Darum erschein' es geboten, nur Schrittlein um Schrittlein zu wagen.
Nicht ein Hand breit wolle sich Robert vom Ziele abwenden.
Aber vergessen auch nicht, dass in dem scheinbar Geringen
Oft eine Wunderkraft wohne, die, ohne den Frieden zu stören,
Werke und wirke und Großes vollbringe. — Zerstreut und versonnen
Hatte Robert gelauscht, nun das Wort von der Kraft im Geringen
Fiel, da horchte er auf und als jener geendet, da reckte
Rasch er die Hand nach dem Bauer und sagte: „Glauser, ich dank' Euch!"
Schweigend sah da der stämmige Alte dem Jungen in's Auge.
Husch — ging ein Schatten durch's Zimmer, zwei Frauen standen im
Türschnitt.
SECHSTER GESANG
Lohende Wolken im Westen: ein Kampfspiel voll Lust und Vernichtung.—
Näher und höher ziellose Schifflein voll tauiger Rosen —
Ferne im Osten in nüchterner Klarheit die steigenden Berge.
Talwärts, vorüber an dunkelfarbigen Wiesen, schritt Robert,
Neben ihm Hedwig Maria, den Blick in's Gebirge gerichtet.
Schneller und lauter enteilten Glauser und Häflig dem Hügel.
Oben am Zweigweg zum Sturbacherhof, eines winselnden Hundes
Kopf überstreichelnd, stand eine Frau, die lächelte leise.
Ehe noch Hedwig den Wegrank erreichte, wandte sie sich und
Grüßte zurück nach der Freundin, sie stand vor dem lohenden Himmel.
Da, als wisse er's selber kaum, nahm Robert des Mädchens
Rechte. So standen sie lange und grüßten und dankten zurücke.
Dankten, wofür? Vielleicht, dass die Freundin geschickt die Verwirrung
Bei der Begegnung der beiden den Männern genüber verdeckte,
Oder vielleicht, dass sie selber so tat, als ahne sie niemals
Dass durch die scherzenden Reden der beiden verborgene Stimmlein
Zwitscherten, so, wie durch's Rauschen des Waldbachs zwei Vöglein sich
locken.
309
Dankten ihr wohl auch ihr freundliches Drängen, endlich ihr Zwingen,
Teil zu nehmen am Mahl nach dem fröhlichen Gang durch die Felder.
War doch am Tisch auch die Rede auf Kari, den Trinker, gekommen.
Staunend hatte da Robert vernommen, dass Häflig zwei Kinder,
Arme, verschüpfte Geschöpfe des Trinkers, sorglich verpflege.
Wohl auch schien er vertraut mit der Not in den ärmlichen Hütten;
Sicher, zum offenen Auge gesellten sich offene Hände.
Also war der Verleger, den Robert heut' so verachtet.
Zwar ein verwünschter Geschäftsmann, doch nicht ohne jegliche Tugend,
Aber der Wille zum Guten, der keinem völlig versagt ist.
Gab ja dem Streben allein die Hoffnung auf endliche Siege.
Dankbar für vieles grüßte so Robert zurück, und als endlich
Dunkelbeschattete Wiesen die Aussicht zum Hügel verdeckten,
Waren die Männer schon längst um die tiefere Böschung verschwunden.
Einsam schritt nun das Paar und wieder suchten die Augen
Über dem Schatten der Täler die nüchterne Klarheit der Berge.
Aber die ragenden Wände trugen nun rötlichen Schimmer,
Gleichsam als glühe im Innern ein heiliges, ruhiges Feuer.
, Hedwig," sagte er lautlos — ihr schoss das Blut in die Wangen —
„Hedwig, ich werbe um dich! — Ich stand am Fenster und lauschte . . ."
Flammende Röte im Antlitz stand Hedwig und schaute zu Boden.
Schmeichelnder fuhr er da fort: „Du littest, drum wurdest du gütig,
Reif und reich für das Leben." Da gab sie ihm hastig die Hände. —
Weniges später hüpfte ihr Lachen, ein närrischer Kobold,
Ihnen voraus auf der Straße und sagte es jeglichem Glöcklein,
Das von ferne und nah durch den sinkenden Abend verhallte:
Zweie seien sich einig, bald wussten es Himmel und Erde!
Mächtig viel hatte ein jedes zu fragen, und Robert vor allem
Brannte, zu wissen, seit wann sie ihn kenne. „Aus drohender Nähe,
Mündlich," so drohte sie lachend, „erst seit dem heutigen Morgen."
Aber, so fügte sie stiller hinzu, „schon im Welschland, an müden,
Einsamen Abenden, sei sie gar manchmal über dem Blättchen,
Das ihr die Eltern gesandt, versonnen gesessen und oftmals
Sei ihr beim Lesen ein selt'ner Gedanke ins Auge gefallen.
Den sie schon selber empfunden, doch niemals in Worte noch fasste.
Einmal auch habe sie Robexts , Fahrten im Süden' gelesen,
Drin er erzählte, wie ihn ein Bild mit Sehnsucht erfüllte,
Sehnsucht nach schöpfendem Leben, drin Wünsche der Selbstsucht nicht
galten.
Wie ein im Bergschnee verirrter Wanderer menschliche Rufe
Jubeln vernimmt, so vernahm sie die Botschaft und fand auch ein Weglein
Rückwärts ins Leben. So plauderten sie und wurden wie Kinder.—
Plötzlich erschollen Stimmen verwirrt durcheinander, es lachte,
Gröhlte und schrie hinterm Wegrank. „Ei, seht doch den Christeli Zbinden "
Stieg da ein Ruf aus dem Lärm, da drängte Robert zur Eile.
310
Eben noch kamen sie recht, um zu sehn, wie das Haupt der Gemeinde
Stolz einem Automobil entstieg unter tosendem Jubel.
Standen doch rings um den Wagen ein Dutzend Männer und Kinder.
„Donner auch," trat ihm da Glauser entgegen, „jetzt sag' einmal ehrlich.
Wie denn gerietest jetzt du in den Rachen des stinkenden Lindwurms?"
„Wundert dich das?" lachte Zbinden in grimmiger Laune, „so hör' nur,
Saß ich da ruhig hinten im Garten und rauchte mein Pfeiflein,
Knarrte auf einmal die Türe, wer steht da? Der Gusti Wendriner,
Straf mich das Wetter, der Gusti Wendriner, und Kleinhans, der Oberst.
Sacre papier, sag' ich, heut steig ich mal selber in Keller,
Sollt mal erfahren, wie alte Kriegskameraden man feiert!
D'Accord! schreien die beiden, doch vorerst noch müss' ich mit ihnen
Schnell mal vor's Haus, sie hätten mir da etwas neues zu zeigen.
Gehen wir, sag' ich und bin schon ganz lüstern, das neue Gefährte,
Sonderlich aber des Obersten Pferde zu sehn ; und nun, hör' nur.
Wie wir der Treppe entsteigen, so fährt da ganz langsam mit offnem
Schlag dieser Kasten daher, ich hab' schon 'nen Fluch auf der Zunge,
Aber auf einmal hebt man mich links und rechts hoch und wirft mich.
Just so, als war' ich ein Fruchtsack, mit kräftigem Schwung in die Polster.
Wütend raff ich mich auf, doch wie der leibhaftige Satan
Hastet der Kasten davon und neben mir bersten die Kerle.
Haltet, beim Henker! so schrei' ich und will dem Chauffeur an Kragen.
Aber am Frackschoß erwischen sie mich und ich muss mich ergeben.
Stumm, mit geschlossenen Augen, erwart' ich ein Strafgericht Gottes.
War mir doch just, als hätt' einen heiligen Schwur ich gebrochen,
Nie einen Fuß in solch satanischen Karren zu setzen.
Aber, ich weiß nicht, wie's kam, bald hatt' ich die Augen geöffnet,
Sah, wie die Bäume wegrannten, die Wiesen sich drehten und langsam
Hügel und Berge fern sich verschoben. Doch unter mir stampfte
Stetig die Kraft der Maschine, und kam eine Steigung, man fühlte,
Wahr und wahrhaftig man fühlte, wie sie sich schuftete, mühte,
Mühte, das Letzte zu geben, und einmal auf ebener Straße
Schrie ich alter Dragoner dem Chauffeur zu: Schneller doch, schneller!
Bloß weil mir schien, der Motor vergeh' vor verhalt'nem Verlangen.
Seht, so ist mir's geschehn, mir selber scheint es kaum glaublich."
Schadenfroh mäckerte Häfligs Diskant durch das Lachen der Männer.
„Zbinden," so schrie er vergnügt, „dich bring' ich wahrhaftig in's Blättchen."
„Möchf ich dir raten," rief drohend der Präses, doch schnell trat jetzt
Glauser
Zwischen die beiden: „Und wieder ward Saulus zum Paulus," so lacht' er,
„Schimpftest noch heut wie ein Rhynbub auf Auto und Fahrer, und jetzo.
Sieh' dich mal an, wie ein Chütchnab strahlst du vor Lust und Vergnügen !"
„Recht hast, ich werde nicht klug aus mir selber," entglitt es da Zbinden,
„War' nicht der Reif hier geborsten, mich hätten nicht siebzig Pferde
Da aus den Polstern gebracht!« — „Da siehst du nun," lachte der Großrat,
311
„Wie man der eigenen Meinung verteufelt wenig darf trauen,
Wollte man jeden, wie du's einem andern heute gedroht hast,
Haftbar erklären für einmal vertretene Ansicht, ich weiß nicht.
Ob's eine Wahrheit noch gäbe ; will mir doch scheinen, die Wahrheit
Sei nur die Jagd nach neueren, besseren Gründen." — „Ich merk' schon,
Wo du hinaus willst," entgegnete sinnend der Präses, „wohlan denn,
Mag ich doch heut, da ich selber ein Rätsel mir bin und kein kleines,
Nicht in's Gericht gehn mit Meinungen anderer. — Aber nun sieh mal . . ."
Hastig nahm er den Großrat am Ärmel und führte ihn eifrig
Rings um den Wagen, als Fachmann erklärend. An einem der Räder
Schafften drei Männer, und jeglichen Handgriff sahen zwei Dutzend
Spähender Augen den Bastelnden ab. indes schritt das Pärlein
Robert und Hedwig Maria den Seitenpfad nieder zum Dörflein.
Dunkel, in traulicher Nähe, ragte nun Giebel an Giebel.
Feiernde Stille darüber und grau und erloschen der Himmel,
Aber weit hinten und hoch das silberne Blinken der Berge.
Robert beschaute die dunkelnden Dächer: Nun war es beschlossen,
Hier, an den engsten der Kreise, schloss er sich an, und mit Willen
Brachte er alle die weltfremden Wünsche und Träume zum Opfer.
Dennoch, dies war der Pfad zu dem weißen Berg in der Ferne,
Tief im Innern des Berges erglühten Erlösergedanken,
Reiner als jeglich Begehr, das die nördliche Großstadt erweckte.
Glühte die Schönheit: die sonnigsten Träume des Südens verblasstenl
Hand in Hand mit Maria gings sicher dem Gipfel entgegen.
Kamen sie selbst nicht zum Ziele, ein Wegstück schafften sie sicher!
Horch, da schmetterte Trommeigewirbel vom Dörflein herüber.
Als unser Pärlein den Dorfplatz erreichte, marschierte ein Trüpplein
Turner im weißen Gewände daher, und männiglich liefen
Leute zusammen. „Was gibt's denn!" frug Robert ein älteres Männlein.
„Festen tun sie," machte der kurz und meinte dann listig:
„Euch zu Ehren geschieht's, weil Ihr schriebt, man müsse die Knechte
Weidlicher mästen." „Oh nein," schrie ein Junge dazwischen, „wir haben,
Wisst Ihr's noch nicht, das heut'ge Gesetz angenommen 1" Er jauchzte.
„Wirklich?- frug Robert verdutzt. „Hei ja doch!" nickte das Knechtlein.
Robert wandte sich ab. „Sag', hast du's nicht also erwartet?"
Forschte da Hedwig Maria. Mit seltsam ergriffener Stimme
Sagte er: „Denk', das ist ein Gesetz, das unendliche Opfer
Fordert von jeglichem Bürger, beschwerliche Pflichten ihm auflegt.
Angenommen! Solch eine Volkes zu sein ist ein Glück! —
Einfach ein Glück." Er vermochte nicht weiter zu sprechen. — Die Turner
Hatten sich aufgestellt vor dem Brunnen. Vier Pfeiffer, zwei Trommler
Setzten ein kräftiges Spiel ein, die Turner wanden die Stäbe.
Jemand berührte Robert am Ärmel. Es frug der Drogiste:
„Sagt, wie geht's Euern Wunden?" — „Geheilt!" lachte Robert, „fragt
Hedwig!"
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312
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THEATER UND KONZERT
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a n
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Burne-
Jones hat die Erzählung von Pyg-
malion, der sich in die von ihm ge-
schaffene weibliche Statue sterblich
verliebt, worauf die liebenswürdige
Aphrodite sie belebt und ihn glück-
lich macht — Burne-Jones hat sie
in vier linienschönen, kühl-vornehmen
und, natürlich, sehr unsinnlichen
Kompositionen dargestellt. Bernard
Shaw hat sich von ihnen nicht
inspirieren lassen, als er seinen
Pygmalion schrieb. Die Antike lieh
ihm nur den Namen; von antikem
Geist hat er niemals viel verspürt;
er übertrug das Motiv ins Moderne
und formte eine Londoner Komödie
daraus. Aber in Einem trifft er mit
Burne-Jones zusammen: er hält sich
durchaus in den Grenzen der Wohl-
anständigkeit. Er macht uns mit
einem jungen, hübschen Londoner
Blumenmädchen bekannt, das, aus
dunkelsten Verhältnissen auf die
Straße zu selbständigem Lebens-
unterhalt geworfen, seine Reinheit
sich wahrt, keinen Strich vom Wege
der Tugend abweicht. Ihr Vater, ein
Lump von ächtester Währung, würde
in dieser Hinsicht weniger Skrupel
haben. Als er in Erfahrung gebracht
hat, dass sein Töchterlein Liza auf
einmal im Hause des Professors
Higgins ist, macht er sofort Besuch
dort, beileibe nicht etwa, um mora-
lisch zum Rechten zu sehen, sondern
um den Herrn anzupumpen ; denn
im Grunde ist es ihm verzweifelt
gleichgültig, ob seine Liza in Ehren
oder Unehren unter dem Dach des
reichen Junggesellen lebt. Shaw legt
ihm über diese Angelegenheit einige
seiner allerliebsten Teufeleien in den
Mund. Auf die Frage: „Mensch,
haben Sie kein moralisches Empfin-
den?" erwidert er — Doolittle ist
sein Name — sachlich, pathoslos:
„Ich kann mir keines leisten, gnädi-
ger Herr. Sie hätten auch keines,
wenn Sie so arm wären wie ich."
Und er macht nachher die nicht un-
richtige Bemerkung, dass man die
Not in ganz gleicher Weise spüre,
ob man ein würdiger oder ein un-
würdiger Armer sei: „Ich brauche
nicht weniger als ein würdiger Mann,
ich brauche mehr. Ich esse nicht
weniger als er und ich trinke sehr
viel mehr." Das sind Sätze des
echten Shaw, des Shaw der Frau
Warren.
Doch wir haben den Pygmalion
aus den Augen verloren, welcher bei
Shaw Professor Higgins heißt, Lin-
guistik treibt und diese Wissenschaft
praktisch verwertet zur Verbesserung
schlechter englischer Aussprache und
damit zur Verbesserung der gesell-
schaftlichen Stellung solcher mit ihrer
Muttersprache auf gespanntem (und
verräterischem) Fuße stehenden Men-
schen. An Liza Doolittle will er nun
das selbe Experiment machen : sie
soll bei ihm so korrekt sich aus-
drücken lernen, dass sie keinem Sa-
lon zur Unehre gereichen wird. Es
gelingt ihm, wenn auch Rückfällig-
keiten der jungen Sprachketzerin
nicht ausgeschlossen sind. Nur macht
er selber dabei auch eine Erfahrung:
dieses Straßenmädel will nicht einfach
als Maschine behandelt sein, der
man eine bessere Sprachvorrichtung
einsetzt; sie hat ein Herz in der
Brust (die belebte Statue!) und die-
ses Herz hat für den Professor zu
schlagen begonnen. Das macht sie
ihm mit blanken Worten und hand-
festen Gebärden (die vor einem
Pantoffelwurf an des Professors Kopf
nicht zurückschrecken) klar. Und
der in Worten grobianische, in der
Seele aber herzensgute Linguist macht
bei diesem Anlass die weitere Ent-
313
THEATER UND KONZERT
KMO
deckung, dass er selbst seines Jung-
gesellenherzens nicht mehr sicher ist ;
dass er seelisch doch weit mehr sich
bei seiner Sprachverbesserungskur
engagiert hat, als er dies Wort haben
möchte. Eine Verlobung zeigt sich
am Himmel. Shaw ist geschmack-
voll genug, sie uns nicht mehr als
fait accompli vorzuführen. Es ge-
nügt auch so zu einer Komödie.
Tief schürft das Stück nicht; aber
es unterhält artig. Das Zusammen-
stoßen von weit auseinanderliegen-
den sozialen Schichten, wobei der
Witz dann darin besteht, dass die
untere Schicht auf die obere abfärbt,
ja sogar für diese eine vorbildliche
Kraft erhält — dieses Motiv ist hier
nicht zum erstenmal verwertet. Es
tut immer seine Wirkung; das s'en-
canailler hat seinen besondern Zau-
ber. Übrigens, wie gesagt: es geht
durchweg anständig zu. Wohl flucht
Professor Higgins sehr unkomment-
mäßig und seine Manieren sind die
denkbaraufgeknöpftesten ; abereinem
unbeweibten Gelehrten sieht man der-
gleichen nach. Und mit seiner Ansicht,
dass die Menschen im großen Ganzen
eine bessere Behandlung nicht ver-
dienen, wird er ja dann oft noch
gründlich abgeführt, eben durch das
keusche Blumenmädchen aus Lon-
dons Straßen, die er sprechen und
die ihn Anstand und Liebe gelehrt
hat. Unzufrieden mit der moralischen
Temperatur bleibt einzig Mr. Doo-
little, den ein unbedachtes Legat
komödienhaft plötzlich wohlhabend
gemacht hat und der nun seinen
geordneten Vermögensverhältnissen
entsprechend sich anständig führen
und sogar seine illegitime Lebens-
gefährtin ehelichen muss. Was ihm
furchtbar schmerzlich ist. h. trog
BERNER THEATER. Innerhalb
acht Tagen zwei interessante und
gut gespielte Novitäten bildeten ei-
nen vielversprechenden Anfang der
Schauspielsaison. Maeterlincks neues
Drama Marie Magdeleine in der vor-
züglichen Wiedergabe durch die be-
rufenste Interpretin M^e Leblanc-
Maeterlinck und ihre Truppe gab Ge-
legenheit, das Werk, das durch seine
Kollision mit dem gleichnamigen
Stück Paul Heyses zur Sensation
wurde, kennen zu lernen. Der lite-
rarische Streit, den das Zusammen-
treffen hervorrief, wurde durch die
Kenntnis des Maeterlinckschen Wer-
kes endgültig erledigt und zwar wohl
zugunsten des Franzosen. Von An-
leihen kann keine Rede sein, jeden-
falls sind sie nicht bei Heyse ge-
macht. In straffer, kraftvoller Ge-
schlossenheit baut sich das Drama
auf, die innere Struktur ist von einer
zwingenden Logik, die jeden Gedan-
ken an fremdes Gut von vornherein
ausschließt. Dazu kommen noch die
Werte, die Maeterlinck in seinem
ganzen Schaffen eignen : eine seltene
geistige Verinnerlichung und Vertie-
fung des äußeren Geschehens, eine
Formulierung der Probleme, die im-
mer ans tiefste Menschentum rührt
und eine Glut und Schönheit der
Sprache, die bei dieser Aufführung
sich wieder recht eindringlich als ein
Wesentliches zu erkennen gab. Es war
nicht nur ein Triumph des Dichters,
sondern ebensosehr der französi-
schen Schauspielkunst. Es ist schade,
dass unser deutsches Schauspiel aus
der schönen Gelegenheit der regel-
mäßigen französischen Vorstellungen
keinen Nutzen sucht. Die Darsteller
könnten dabei zur Erkenntnis kom-
men, dass Pathos nicht Schreien
heißt und Leidenschaft nicht wildes
Herumwerfen der Arme bedingt. In
der Frau des Dichters sah man auch
die berufenste Vertreterin der Haupt-
rolle vor sich, eine Künstlerin, die
über außergewöhnlich zwingende
314
ro«o
THEATER UND KONZERT
K>K>
Mittel verfügt, die bei aller Steige-
rung ins Typische von geradezu
wundervoller Natürlichkeit bleibt,
von einer Menschlichkeit, die jede
Gebärde, jede Regung und jedes Wort
aus der erlebten Einheitlichkeit einer
warmblütigen Persönlichkeit aus-
strahlen lässt. Ihre Darstellung war
für Auge und Ohr ein seltener Ge-
nuss, der um so mehr zur Geltung
kam, als sie sich Partner mitgebracht
hatte, die ihr ebenbürtig waren.
Diese französische Vorstellung
hinterließ unstreitig einen beglücken-
deren Eindruck als Wedekinds König
Niccolo oder So ist das Leben, das
kurz darauf über die Bühne ging.
Vor einem Jahr interpretierte der
Autor mit seiner Frau hier den Erd-
geist, diesmal waren es unsere eige-
nen Kräfte, und Wedekinds Werke,
die lauter Spiegelungen seiner hoch-
interessanten Persönlichkeit sind,
kennt man eigentlich nur ganz, wenn
man ihn selbst spielen sah. Immer-
hin vermochten auch unsere Schau-
spieler die unbestreitbaren Werte
dieser Komödie zum Bewusstsein zu
bringen. König Niccolo ist vielleicht
das am tiefsten angelegte Werk Wede-
kinds. Er schlägt hier mehr allge-
mein menschliche Saiten an als ge-
wöhnlich, wo er im Aufwerfen eines
fesselnden Problems stecken bleibt.
Wedekind verkörpert in dem König
nicht nur wie in den andern führen-
den Rollen seiner geistreichen Stücke
eine zufällige Seite seiner schillern-
den, schwer fassbaren Persönlichkeit,
sondern das Problem, das seine Per-
sönlichkeit in der modernen Literatur
darstellt. Es ist der beste Schlüssel
zu dieser rätselvollen Spukkammer,
wenn er uns als echter Wedekind
nicht auch mit diesem Einblick in
sein Inneres mystifiziert. Das An-
schlagen tragischer Noten berechtigt
eher zu der gegenteiligen Annahme.
Unser Theater veranstaltet literari-
sche Abende, an denen wertvolle
Schauspiele einmalig zur Aufführung
gebracht werden. Die Idee ist an sich
sehr erfreulich; zu bedauern ist nur,,
dass dadurch die besten Sachen
außer Abonnement einigen verlorenen
Theaterbesuchern vorgespielt werden.
Vor allem für Strindbergs Frau Mar-
git tat es uns leid ; das Stück wurde
sehr verständig gegeben und hätte
Wiederholungen verdient. Man hat
gerügt, dass es mit dem Vorspiel
gespielt wurde. Wir waren im Gegen-
teil dankbar, dass abweichend von
der üblichen Gepflogenheit die Szene
im Kloster, die die psychologischen
Voraussetzungen gibt zum Verständ-
nis der Frau Margit, vorausging. Wohl
hat sie zum Theaterstück keine Be-
ziehung; aber sie ist für das Kunstwerk
von großer Bedeutung, da Strindberg
hierdurch den Frauentypus sich prä-
pariert, dessen er bedarf, um in alle
die geheimnisvollsten Tiefen und Un-
tiefen der Frauenseele hinabzuleuch-
ten. Eine unheimliche Seelenanalyse,
nicht aus der kühlen Verstandesschärfe
Ibsens, sondern aus der aufgewühlten
Leidenschaft Strindbergs, die uns aus
jedem seiner Werke glühend ent-
gegenhaucht. Frau Margit ist ein
durchaus modernes Gesellschafts-
drama und bisweilen will uns das
mittelalterliche Gewand fast störend
anmuten, bis man sich klar ist, dass
der Dichter nur durch solche zeit-
liche Entfernung das Menschliche so
absolut rein und bis zum äußersten
potenziert herausschälen und auf der
Bühne vor uns hinstellen konnte.
Er erreicht dadurch ein Gemälde
von so ungebrochenen Farben, wie
es im modernen Gewände nicht mög-
lich wäre, und von so packender
Wirkung, wie sie nur diesem gewalti-
gen Nordländer möglich ist. h. B1.
315
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NEUE BUCHER
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CARL FRIEDRICH WIEGAND.
Die Herrlichkeit des Cyriakus Kopp
und andere Erzählungen. Deutsche
Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin
1913.
Der erste Band Erzählungen, die
uns der Dramatiker und Lyriker
Wiegand schenkt. Und es zeigt sich
gleich, wie das dramatische Schaffen
für den Epiker eine gute Schule war;
Wiegand verliert sich nie in jenem
plätschernden Draufloserzählen, das
nicht weiß, wo es hinaus will; die
Komposition ist von vollendeter
Ökonomie, jedes Wort gewollt und
berechnet.
Eine einzige Stelle ist vielleicht im
ganzen Buch, wo Wiegand die dra-
matische Art des Erzählens, das Zu-
rechthauen seiner Figuren mit Axt-
hieben aufgibt und sie schalkhaft
und anmutig mit dem Schnitzmesser
rundet. Es ist die Episode mit den
Pfarrerstöchtern in derTitelerzählung,
die eine nach der andern den ver-
letzten Leutnant im Oberstübchen
besuchen und eine nach der andern
unter den Blicken der ahnenden
Ältesten mit verwirrtem Haar und
holdem Erröten zum Abendtisch zu-
rückkehren. Das ist mit so leichtem
Fluss und feinem Humor geschildert,
dass man hier eine Goldader im Ta-
lent Wicgands vermuten muss, die
uns köstliche Gaben verspricht und
an der er noch nie geschürft hat.
Voller rasch sich folgender, un-
erwarteter Geschehnisse ist die Er-
zählung von der Herrlichkeit des
Cyriakus Kopp, eines Halunken, dem
unvermutet zugefallener Reichtum
und sonderbare Lebenslagen die Ge-
legenheit geben, vor sich selbst und
vielen seiner Nachbarn die Rolle des
Ehrenmanns und Helden zu spielen.
Das Dorf Leuba in der Nähe von
Leipzig wurde nämlich im Jahr 1812
von Kriegssteuern und Einquartierung
verschont, weil es nicht auf den Land-
karten verzeichnet war, und was dem
Pfarrer als besonderer Schutz der
Hand Gottes erschien, nutzte Kopp
frech zu seinen Zwecken. Das Wider-
spiel der weltgeschichtlichen Ereig-
nisse, die der Schlacht von Leipzig
vorausgehen, im engen Spiegel eines
abseits der Heerstraße liegenden
Dorfes mit den Konflikten, die sich
im Herzen der einzelnen Bewohner
abspielen, ist ein vorzüglicher Hinter-
grund für die Kämpfe eines Mannes,
der aus seiner Niedrigkeit und Ge-
meinheit heraus möchte und sich
nur immer tiefer in seinem Lügen-
gewebe verstrickt, bis er, äußerlich
auf der Höhe seiner Entwicklung, an
seinem eigenen Tun zugrunde geht.
Von den kleineren Erzählungen
— die erste ist ein Stück von 220
Seiten — sei noch besonders Der
alte Schaben genannt, die knorrige
Figur eines Maschinenfabrikanten,
der sich vom einfachen Schlosser
heraufgearbeitet hat und nun bei einer
Krise seines Betriebs sich von der
ganzen Welt verlassen fühlt, auch
von dem einzigen Sohn, der auf dem
Totbett liegt und dem sich nun heiß
seine ganze Liebe zuwendet. Wie
dieser Mann, über dem alles zu-
sammenstürzt, wieder an den harten
Forderungen seines Berufs innerlich
gesundet, hat Wiegand mit großer
Wärme und großem erzählerischem
Geschick dargestellt. a. b.
RUTH WALDSTETTER. Das
Haus „Zum großen Kefig" Gebrü-
der Paetel, Berlin, 1913.
Die junge Schweizerin, die mit
dem Namen Ruth Waldstetter zeich-
net, nennt ihr neuestes Werk eine
Erzählung. Wer nun deshalb erwar-
tet, er werde darin einen Stil finden.
316
NEUE BÜCHER
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der den Stoff adelt, der jede Bana-
lität, namentlich die banale Unter-
redung meidet, ein geschlossenes
Werk, von dem sich nichts weg-
nehmen und zu dem sich nichts hin-
zutun lässt, der wird sich bald ent-
täuscht fühlen.
Und wer im Waschzettel die ge-
sperrt gedruckten Worte gelesen hat,
es handle sich in dem Buch um den
Kampf zwischen dem Warenhaus
und dem Spezialgeschäft, ist nicht
weniger enttäuscht, wenn er über die-
ses Thema nur auf Seite 14 bis 16
einige Expektorationen im Traktät-
leinstil, auf Seite 44 die kurze Be-
hauptung, dass durch die Waren-
häuser der Geschmack unsolid ge-
worden sei, ferner ein dutzend be-
langlose Zeilen auf Seite 52 findet;
dann wird noch auf Seite 145 bis
148 der nicht etwa durch die Waren-
häuser sondern durch dumme Spe-
kulationen ruinierte Jakob Wohltraut
von einem Warenhaus mit dem Ti-
tel Direktor angestellt und ärgert
sich auf Seite 164 darüber, dass das
den Kunden durch Zirkular mitgeteilt
wird. Das ist alles, wirklich alles.
Und doch wäre die Geburt und Aus-
bildung einer neuen wirtschaftlichen
Form, die schwer in menschliche
Schicksale eingreift, eine ausgezeich-
nete Grundlage für ein noch zu schrei-
bendes, lebensstarkes Buch.
Am meisten erstaunt ist aber,
wer aus den früheren Werken von
Ruth Waldstetter ihren guten Blick
für das psychologisch Belangreiche
kennt und nun bloß flau gezeichnete
Charaktere vorfindet, die sich in
dem locker gebauten Buch wie ein
Planetensystem ohne Sonne aus-
nehmen. A. B.
KARL SCHEFFLER. Italien. Tage-
buch einer Reise. Mit 118 Vollbil-
dern. Inselverlag 1913. Halbpergament
12 Mk.
Viel Überflüssiges ist über Italien^
geschrieben worden: aus dem Geist
der Willkür oder der Konvention.
Dies Buch gehört zum Notwendigen,
ein Tagebuch, dem eine Allgemein-
gühigkeit zukommt, das bestimmt
erscheint, einst als das Urteil unsrer
gegenwärtigen Epoche zu erscheinen.
Scheffler ist mehr als einer unsrer
einsichtsvollsten Kunstschriftsteller ;
er ist ein vielseitiger und gründlicher
Durchforscher der Grundstruktur
unsrer Zeit und sein innerstes Be-
streben ist, auf ihr organisch eine
wahrhaftige künstlerische Kultur auf-
bauen zu helfen.
Wenn er, mit 42 Jahren zum
erstenmal, die Alpen übersteigt, so
ist es also nicht um der Vergangen-
heit sondern um der Zukunft willen,
nicht um Italien handelt es sich ihm,
sondern, was wichtiger ist, um uns,
um „neue Lebensmögiichkeiten, Wil-
lensmöglichkeiten." Als wirkende
Persönlichkeit muss er am höchsten
werten, was bereichert, wirkt (eine
höhere historische Wahrheit gibt es.
für ihn nicht). Auch Goethe hat es
so gemacht. Nun wäre es seltsam,
wenn noch die selben Kräfte von
Italien belebend ausgingen wie zu
seiner Zeit oder der J. Burckhardts.
Mancher Leser wird, was er, einer
großen Tradition des Urteils zum
Trotz, vor Bildern und Bauten emp-
fand, hier rückhaltslos ausgesprochen
finden, eine lang vorbereitete Neu-
wertung ist energisch vollzogen.
Scheffler zerstört die Reste einer
romantisch idealen Auffassung Ita-
liens und seh wankenden Vorherrschaft
der Renaissancekunst. Seine Kritik
macht vor ihrer Hochburg: St. Peter
in Rom, nicht Halt; in der Malerei
besteht nur Leonardo und Michel-
angelo, vor Raffael aber ruft er: „Ich
317
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NEUE BÜCHER
foto
glaube dir nicht!" Er vermisst in der
Harmonieseligkeit der Renaissance
die tiefe Notwendigkeit des Schöpfe-
rischen, den unbedingt wahren Aus-
druck Geheimnis und Unendlichkeit.
Aber das unerschöpfliche Italien
gibt ihm all das in seiner frühern,
mit gotischem Wesen und nordi-
schem Geist verwandten Kunst zu-
rück. Wenn er sich in Venedig in-
nerlich kalt und enttäuscht von den
herrlichen Kulissen der Prokurazien
abwendet, so leuchtet ihm dafür aus
der goldenen Dämmerpracht von San
Marco eine Schönheit entgegen, die
fruchtbar zu werden verspricht;
Giotto gewinnt, was Raffael verliert,
und eine Brücke führt von der un-
geheuren Sachlichkeit, der schlichten
wuchtigen Selbstverständlichkeit der
Nutzbauten der römischen Weltherr-
schaft zu den großen Aufgaben der
heutigen Architektur.
Nicht um eine naseweise und
wohlfeile Umkrempelung der Urteile
handelt er sich in diesem Tagebuch;
wir sind Zeugen eines redlichen und
heißen Ringens um Wahrhaftigkeit
und Selbständigkeit, und mit drama-
tisch wachsender Spannung folgt
man diesem innern Prozess von den
ersten instinktiven Regungen bis zur
wuchtigen und reifen Aussprache neu
gewonnener Anschauung, r. faesi
*
SIMON GFELLER, Geschichten
aus demEmmental. Bern, A.Francke,
1914.
Simon Gfeller hat mit seinem
ersten Buch Heimisbach seinen
Namen rasch überall bekannt ge-
macht, wo Sinn und Freude zu echter
Heimatkunst zu finden ist. Die an
losen Fäden aufgereihten Dialekt-
plaudereien, die lustigen Anekdoten
und warmherzigen Geschichten, in
einem reichgeblümten Dialektkleid,
mussten ihm allerorts Freunde wer-
ben. Es waren sprachliche Schmuck-
stückchen, aus emmentalischem Geist
und emmentalischer Sprache heraus-
geboren. So sehr, dass man mitunter
die Sprache und die Freude am Aus-
druck als das Primäre empfand. Um
so größer musste die Spannung sein,
als Gfeller ein hochdeutsches Buch
ankündigte, mit Huggenberger auf
den Schwingplatz trat. Die Geschich-
ten aus dem. Emmental die nun in
einem vornehmen Bande bei Francke
in Bern erschienen sind, entstammen
dem selben warmen Herzen, dem
selben humorvollen Gemüte, die uns
den Heimisbach geschenkt haben.
Simon Gfellers freundliche Augen
lächeln uns auf jeder Seite entgegen,
wir lauschen dem vergnüglichen Er-
zähler, der so farbig und plastisch
den Reichtum des bodenständigen
Sprachschatzes zu verwerten weiß,
mit Freude, dem scharfen Beobachter,
der in den zugeknöpften Herzen seiner
Nachbarn zu lesen vermag. Was
schon in seinen Dialektgeschichten
so schön zur Geltung kam, die Gabe,
über das armseligste Elend die wär-
mende Sonne versöhnlichen Humors
leuchten zu lassen, das finden wir
auch hier wieder. Ob er uns den ver-
achteten Vagabunden Zwölfischlegel
oder den vom Schicksal stiefmütter-
lich bedachten Suppentöter Fritz zu
Wegbegleitern gibt, wir freuen uns
der armen Teufel, die uns mit ihrer
liebenswürdigen Menschlichkeit die
Strecken kürzen, und wenn wir bei
der ersten Begegnung auch die Nase
rümpfen möchten, wir scheiden von
ihnen mit einem brüderlichen Hände-
druck. Die tapferen Taunersfraueli
Christine Brand und Das Rötelein
zwingen uns Hochachtung ab, und
mit dem alten Pfarrer bewundern
wir den wackern Hansueli, der seine
„Bürden" mit solch vorbildlicher Kraft
318
*o«o
NEUE BÜCHER
t^ya
trägt.— Und wir müssen uns fragen,
woran es liegt, dass der Eindruck
dieses Buches nicht so stark und
unvermittelt ist wie beim Heimisbach.
Liegt es daran, dass die beiden Bücher
aus dem selben Geiste heraus ge-
boren sind, dass aber ein Dialekt-
buch und ein Buch in der Schrift-
sprache einen anders gearteten Nähr-
boden verlangen? Dass vor allem
der Dialekt in der Wahl des Stoffes
unbekümmerter sein darf, die künst-
lerische Gestaltung erst in zweiter
Linie kommt und die sprachliche
Einkleidung ein Mantel ist, unter dem
manches in den scharfen Bysluft der
öffentlichen Beurteilung sich stellen
darf, das ohne dieses Gewand an
Ohren und Nase Frostbeulen davon-
trägt? Vor allem ist es ein gewisser
Einschlag von Sentimentalität, der
den Geschichten aus dem Emmental
eignet, und der uns aus dem Nähr-
boden der Dialekterzählung zu ent-
stammen scheint. Es ist der Ton,
der aus unsern Volksliedern und aus
den Handörgeli uns entgegentönt,
den wir aber wohl unter der Dorf-
linde und an der Sichlete mit Freude
hören, nicht aber im Konzertsaal.
In der Dialekterzählung vertragen
wir viel mehr Gefühlsmomente, weil
das sprachliche Element, vor allem
das Berndeutsche, durch seine nüch-
terne Schlagkraft und seine robuste
Bildkräftigkeit von selber das natür-
liche Gegengewicht bildet. Es mag
auch oft Gfeller leid getan haben,
seine drolligen aus dem Dialekt und
dem angestammten Wortwitz stam-
menden Einfälle ins Schriftdeutsche
übersetzen zu müssen. In der Dia-
lekterzählung nehmen wir auch gern
ein loses Aneinanderfügen der Hand-
lung hin, ein ungekünstelt natürliches
Erzählen, während wir in der Schrift-
sprache die künstlerische Bewälti-
gung des Rohstoffes als einen wesent-
lichsten Bestandteil der Erzählung
zu betrachten gewohnt sind. Hierin
ist von den größeren Geschichten
das Rötelein entschieden voranzu-
stellen. Ein anderes Moment, das
der Dialekterzählung vor allem an-
gehört, ist die liebevolle, ins kleinste
gehende Detailmalerei. Da darf der
Erzähler auf jede Äußerlichkeit, jede
Kleinigkeit eingehen, da er hier seine
besten Farben holt, weil die Mund-
art dem kleinsten Ding Leben ver-
leiht. Dass dem in der Schriftsprache
nicht so ist, dass hier eben eigent-
lich andere Voraussetzungen zugrunde
liegen, hat wohl Simon Gfeller auch
empfunden , daher der überreiche
Gebrauch eingeschmuggelter Dialekt-
ausdrücke. Sie sind es, die seiner
Sprache die erwünschte Bildlichkeit
und Farbigkeit verleihen. Sie heben
die Geschichten sämtlich auf eine
unverkennbare Höhe, die ihrem
künstlerischen Gehalt nach ihnen
nicht zukäme. Hier zeigt sich der
Meister des sprachlichen Ausdrucks,
auf jeder Seite freut man sich wieder
an einem kernigen Wort, das einem
entgegenspringt, an einer verblüffen-
den Wendung, die plötzlich aufleuch-
tet. Aber diese alle sind Anleihen
bei seiner Mundart. Und so kommt
man am Ende dieser famosen und
durchwegs liebenswerten Geschichten
zu dem Schluss, dass auch in diesen
schriftdeutschen Geschichten Gfellers
das Echte und Eigene, das Boden-
ständige nicht aus der Art, die Men-
schen und Dinge zu schauen und zu
empfinden, stammt, sondern aus der
Art, ihnen Worte zu leihen, das heißt
aus dem Geiste der Mundart stammt.
Dies ist kein Vorwurf — nichts liegt
uns ferner—, sondern ein Fingerzeig.
Es ist auch keine Kritik, sondern
der Versuch, ein bei der Lektüre auf-
getauchtes Problem zu erörtern.
H. Bl.
319
a D
D D
VERDEUTSCHUNG. Mit klugen
und beredten Worten wendet sich
das Journal de Geneve vom 20. No-
vember gegen jene deutschen Blätter,
die beständig über eine Verweischung
der Schweiz jammern, und mehr noch
gegen jene französischen Zeitungen,
die stets die Pflicht in sich fühlen,
uns vor Verdeutschung warnen zu
müssen. Meist, handelt es sich dabei
um eine jener lächerlichen Kleinig-
keitskrämereien, deren Geschichte
in der Bibliographie linguistique de
la Suisse romande von Gauchat und
Jeanjaquet erschöpfend zusammen-
gestellt ist, etwa darum, dass ein
ungeschickter Malergeselle in einem
welschen Bahnhof das deutsche Wort
Wartsaal an die Scheiben gemalt hat.
Das Woit Verdeutschung kann
zweierlei bedeuten: den Einfluss
Deutschlands auf die ganze Schweiz
und den Einfluss der deutschen
Schweiz auf die welsche. Es kann
natürlich nicht geleugnet werden,
dass der wirtschaftliche Einfluss
Deutschlands zunimmt; das gilt aber
für alle seine Nachbarländer, für
Belgien, Nordfrankreich, Österreich
und Russland genau wie für uns. Und
da hier nicht bloß Arbeiter und kleine
Angestellte bei uns einwandern, son-
dern namentlich Kapital und Finanz-
leute, ist diese Wandlung der Dinge
nicht ohne Gefahr für unser kleines
Land.
Es ist auch nicht abzustreiten,
dass viele unserer Beamten eine
merkwürdige Verehrung für deutsche
Einrichtungen haben ; jeden Augen-
blick werden uns deutsche Gesetze
und Gebräuche zur Nachahmung
empfohlen. Wenn aber auch hier der
Bureaukrat für den Bureaukraten ein-
tritt, das Volk der deutschen Schweiz
geht nicht mit ihm zusammen; es
hält zäh an seiner Sprache, seinen
TAGEBUCH
D D
Q D
überlieferten Sitten und Anschauun-
gen fest und wird sich darin niemals
unterkriegen lassen. Und was oft als
Versuch gewaltsamer Verdeutschung
gedeutet wird, den Bundesbehörden
an welschen Schweizern vornehmen
sollen, ist im Grund meist nur eine
ungeschickte Gleichmacherei. Mit
andern Worten, es handelt sich nicht
um Sprachstreit, sondern um Zentra-
lismus, der, solange es eine Schweiz
gibt, sich mit dem Föderalismus in
den Haaren liegt, und zwar in der
welschen Schweiz nicht weniger als
in der deutschen.
Wenn die ganze Schweiz die
Sprache eines der großen Nachbar-
völker sprechen würde, müsste sie
unter dessen alleinigen Einfluss ge-
raten und so Eigenart und Freiheit
verlieren. Darum soll sich ein jeder
bewusst sein, dass nichts wie die
Dreisprachigkeit eine Gewähr für
unsere Unabhängigkeit bietet. Nie-
mals haben die Deutschschweizer
einen Versuch unternommen , die
Welschen zu verdeutschen, und wenn
man sie je von der andern Seite des
Rheins dazu ermuntern wollte, waren
es gerade Deutschschweizer wie
Morf und Oechsli, die den Alldeut-
schen die deutlichste Antwort er-
teilten.
Es ist daher unsere Pflicht, die
Übertreibungen und Verhetzungen,
die in letzter Zeit wieder mächtig
werden, in ihre Dämme zurückzu-
weisen. Sprachen- und Rassenge-
zänk schadet wie nichts dem geisti-
gen Leben einer Nation ; es führt
zum Massenhass, der so bald in der
Menge aufgestachelt ist und so bald
die Tatkraft eines Volkes gelähmt
hat. Dem Ausland gegenüber darf
es aber nur die eine Schweiz geben;
nicht eine deutsche und eine welsche
Schweiz. a. b.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
32C
EIN GEDICHT VON RABINDRANATH TAGORE
In dem Weltensaal, der vor Urzeit gemacht,
Sitzen Grashalm und Eppich
Auf dem selben Teppich
Wie der Mondstrahl und die Sterne der Nacht.
So teilt mein Lied, meiner Laute Klang
Die selben Sitze im Herzen der Welt
Mit der Wolken und Wälder Gesang.
Doch du, der nichts als Reichtum gedacht,
Der Gold zur Wonne sich statt Flügel nahm:
Fremd stehst du vor dem reifen Mond der Nacht,
Der Sonne, die voll Glanz vom Hügel kam.
Und des Himmels Gezelt segnet nie deinen Raub,
Und besäßest du alles, was du gewollt:
Wenn Tod herannaht, dann entfärbt dein Gold
Missfarben, und verkrümelt sich zu Staub.
Übersetzt von MAX GEILINGER
Dieses Gedicht entstammt der Sammlung The Gardener, die der
Dichter selber in englische Prosa übertrug.
DDO
321
DIE HEILIGE KALLIMAZONE
EINE LEGENDE VON FRANCESCO CHIESA
Die heilige Kallimazone, oder mit richtigem Namen Artemisia
— denn so hieß sie, bevor das götth'che Kind sie besehgte — ,
hatte, wie dies noch andern heih'gen Frauen ergangen ist, eine
sehr bewegte Jugend hinter sich. In Athen war sie Flötenspielerin
gewesen, in Damaskus Gauklerin, an der Donau hatte sie die
Legionen begleitet und in Alexandrien in Matrosenkneipen getanzt
und sich vielen hingegeben.
Ein römischer Steuereintreiber, der ein harter, roher Mensch
war, griff sie auf, als ihre Schönheit schon zu welken begann,
und machte sie zur Sklavin seiner wilden Lust.
Da geschah es, dass sie nach etlichen Jahren sich gesegneten
Leibes fühlte und einem Knaben das Leben schenkte. Doch ach,
diese Geburt zerstörte in dem rauhen Römer jede Sehnsucht nach
der Liebe des armen Weibes und erweckte dafür in seiner Brust
ein eifersüchtiges Vatergefühl. Der erste Schrei des neugebornen
Kindes hatte genügt, um aus dem ungeschlachten Liebhaber einen
strengen, mürrischen pater familias werden zu lassen, der mit der
einen Hand von dem Knaben Besitz ergriff, mit der andern aber
der Mutter kalt bedeutete, dass sie nun gehen könne. Denn es
steigt und fällt der Mensch nach seinem Geschick, und auch ohne
dass wir auf die alten Römer zurückzugreifen brauchen, kommt es
bisweilen vor, dass mancher sich der Frau, die ihm als gewäh-
rende Freundin willkommen war, als Mutter seines Kindes mehr
oder weniger schämt; insbesondere wenn die Mutterschaft die
Reize der Geliebten beeinträchtigt oder gar zerstört hat.
So ging die arme Artemisia ins Elend, allein, in Tränen auf-
gelöst, die Brust bis zum Schmerz überschwellend von mütter-
lichem Segen. Wie sie eines Tages müden Fußes durch die Wüste
wanderte, begegnete sie der heiligen Familie, die zu jener Stunde
nach Ägypten floh, um sich der Verfolgung durch den König
Herodes zu entziehen.
Als der gute alte Joseph sie anrief, der von ihr zu erfahren
hoffte, wie weit noch der Weg sei, näherte sich Artemisia der
Gruppe; doch vergaß sie, dem Alten Bescheid zu geben, so sehr
322
ergriff sie ein heißes Sehnen beim kläglichen Weinen des kleinen
Jesusknaben, den die göttliche Mutter, die auf dem Rücken des
Eseleins saß, vergebens zu trösten suchte.
„Warum weint er denn so?" fragte Artemisia scheu.
„Ihn hungert," seufzte Maria, „und irh kann ihm nichts mehr
geben, denn meine Brust ist leer!"
Da erstrahlten die Züge der Sünderin in unendlicher Freude,
sie riss ohne Zögern ihr Gewand auf und reichte dem Erlöser
der Welt die übervolle Brust. Das Eselein benutzte die kleine
Rast, um an den kargen Disteln, die am Wege wuchsen, zu
schnuppern ; der heilige Joseph bückte sich, um einen Dorn, der
ihn schmerzte, aus seinem Fuße zu entfernen; Maria ließ ihr
himmlisches Lächeln über dem neuerquickten Kinde und über der
armen Landläuferin leuchten. Dann frug sie:
„Wer seid Ihr, liebe Frau?"
„Ich bin Artemisia," antwortete diese demütig, „Artemisia,
eine Buhlerin."
Da sprach Maria: „Er, dem du Nahrung gereicht, wird dich
erlösen!"
Mit diesem Segensworte endet die Geschichte der heiligen
Artemisia und wird nun als Legende der heiligen Kailimazone,
das ist die Schönbrüstige, weiter erzählt, wie sie die kunstreich-
sten unter den seligen Legendenschreibern berichten; ein alter tos-
kanischer Maler hat sie an die Wände einer Kirche hoch in der
Bergwüste in köstlichen Bildern gemalt, die heute unter der
Mörtelschicht, die sie lange bedeckte, wieder ans Licht treten.
Denn siehe, eine neue, segensreiche Schönheit breitete sich
von nun an über Artemisias mütterliche Brust, als Preis für ihre
liebevolle Hingabe. Zwei Engel stiegen vom Himmel nieder und
berührten und belebten mit zarten Wunderhänden den müden,
welk gewordenen Leib des armen Weibes, so dass sie lürder
ohne Hochmut den Namen Kallimazone tragen durfte. Unsicht-
bar blieben die Engel und ihre Hände, aber die Nähe der Himm-
lischen empfand Kailimazone immerfort; denn sie fühlte sich
wunderbar leicht, wie körperlich beschwingt, und eine sanfte
Frische durchrieselte sie bei der lieblich heilsamen Berührung.
Und so, in schnellem Schritt, wie eine Selige schwebend —
denn das Wehen der Engelsflügel um sie her besaß die Kraft,
Z22,
sie zu stützen und zu tragen, beinahe ohne dass ihre Füße den
Boden berührten — wanderte Kalh'mazone von Stadt zu Stadt, von
Land zu Land. Dabei erfüllte sie das ihr von Gott auferlegte
Werk: sie spendete jene süße wundersame Kost, die nährt und
tröstet, allüberall, wo arme, der Mutter beraubte Kindlein wim-
merten, wo klagende Mütter, deren Nährquell erschöpft war,
Tränen vergossen. Sie irrte, des Nachts besonders, durch die
trostlosesten Gassen der Städte, horchte an den Türen, betrat die
Wohnungen und reichte mütterlich die stets geschwellte Brust
allen Kleinen, die da hungerten.
Jahre um Jahre tat sie solches, bis sie sich eines Tages in
einen verzauberten Hain verirrte, wo sie Blumen sah, die sie nie
zuvor geschaut hatte, wo Duftwolken sie umschmeichelten und
geheimnisvolle Stimmen lockten. Da sah sie sich plötzlich vor
dem Spiegel des Narzissus, jenem Brunnen, in dem der unselige
Jüngling sich einst allzu selbstgefällig betrachtet hatte. Kailima-
zone kniete nieder, um zu trinken; da erblickte sie sich vorbeu-
gend im Spiegel der verräterischen Wellen die eigene, wunderbar
geheiligte Schönheit, den Zauber ihres neuerblühten Leibes, der
schon den himmlischen Gärten anzugehören schien. Und sie er-
kannte beseligt die durch Engelshände zu unvergleichlicher Anmut
geformten Linien ihrer Gestalt.
Da schoss ihr ein eitler und sündhaft heidnischer Gedanke
in die überirdisch sanften Augen: Nach Alexandrien wollte sie
zurückkehren, für einen Augenblick nur, um dem rohen Menschen,
der sie verstieß, die Augen zu blenden durch den Anblick ihrer
neuerstandenen Schönheit. Dann wollte sie fliehen für immer
und den Bösen mit so üblem Zorn und so tollem Sehnen zu-
rücklassen, als er es verdiente.
Und entschlossen wandte sie sich nach Ägypten, der Mühen
der Engel, die sie zurückhalten wollten, nicht achtend, obwohl
sie ihr Mahnen deutlich spürte. Die Unselige suchte sich selbst
und die Engel damit zu täuschen, dass sie sich immerzu wieder-
holte: „Und mein Knabe? Muss es nicht einer Mutter vergönnt
sein, nach so langer Zeit ihr Kind wieder zu sehen?"
Doch das Kind kümmerte sie wenig; nicht über seine Wiege
sank sie nieder, als sie das wohlbekannte Haus betreten hatte:
nein über das Lager des verhassten Römers beugte sie sich, der im
324
VON DER FRANZÖSISCHEN
FREMDENLEGION
^La Suisse a un interet assez natural ä
savoir dans quelle Situation materielle,
morale et juridique se trouvent ceux de
ses enfants qui prennent du Service
dans ce corps.' pierre mille
Es muss sich einer schon über seine Berechtigung ausweisen,
wenn er in einer so viel behandelten Sache, wie es die Fremden-
legion ist, das Wort ergreift. Ich kann das aber in diesem Falle
nicht tun ohne mit einer Mitteilung über meine Person zu be-
ginnen: ich bin bei der Stammgarnison des ersten französischen
Fremdenregimentes als Geistlicher tätig gewesen und habe in
jenen Jahren täglich mit Offizieren und Soldaten der Legion amt-
lich und außeramtlich zu tun gehabt. Man wird mich deshalb
für sachkundig halten. Ich darf auch sagen, dass ich, wo nicht
über die eigentlich militärischen Dinge, so doch über Herkunft,
Schicksal, Vor- und Nachgeschichte und Gesinnung der Fremden-
legionäre Auskunft geben kann, das heißt gerade über das, wo-
rauf es für die Beurteilung der ganzen Angelegenheit wenigstens
uns Nichtfranzosen allein ankommt. In meiner Stube haben im
Lauf jener Jahre hunderte von Soldaten gemütliche Abende ver-
lebt, wahre und unwahre Geschichten erzählt, Lieder gesungen,
sich, wie mehr als einer bekannt hat, wieder einmal als Menschen
gefühlt, das heißt sich ausnahmsweise nicht von Verachtung,
Misstrauen und Gemeinheit umgeben gesehen. Hier redeten die
reichsdeutschen und schweizerischen Legionäre ihre Muttersprache,
hier gingen sie aus sich heraus, hier bekannten sie begangene
Fehler, brachten sie ihre persönlichen Anliegen vor, erzählten
sie von ihrer Heimat, erbaten sie Rat wegen ihrer Zukunft. Was
die Offiziere nie erfahren, die ja für den Soldaten strenge Vorge-
setzte und für die große Zahl der Legionäre zudem Fremde mit
fremder Sprache sind, nämlich wie diese Legionäre innerlich zur
Legion, zu ihrem Dienste, zu ihren Vorgesetzten, zu Frankreich
und seinem Heer stehen, das war dort zu erfahren. Wenn es
dabei nicht an Heucheleien, Unwahrheiten und allerlei Schwindel
327
gefehlt hat, so ist dafür durch die große Masse der Mitteilungen
doch ein richtiges Bild entstanden, wie es deutlicher und wahrer
niemand hat erhalten können. Vielleicht lassen sich die Leser
dieser Zeitschrift ganz gern einmal auch dieses Bild zeigen.
Es ist nicht meine Schuld, wenn es etwas anders aussieht als
das Bild, das den beachtenswerten Ausführungen des Herrn Pierre
Mille in Heft 3 und 4 dieses Bandes von Wissen und Leben
zugrunde liegt. Es ist gewiß auch nicht die Schuld des genann-
ten Herrn. Er. hat so ehrlich berichtet und so gut geurteilt, wie er
als Franzose nur konnte, und es ist ganz aufrichtig gemeint und
wörtlich zu nehmen, wenn ich sage, dass ich noch von keinem
Franzosen eine so ruhige und gerechte Verteidigung der viel
umstrittenen Fremdenlegion gelesen habe wie die des Herrn Mille.
Aber es ist eben eine Verteidigung. Für Herrn Mille ist die
Legion eine vaterländische Einrichtung, die er zu verteidigen hat.
Für mich ist sie das nicht. Ich bin Schweizer und das Wohl
meiner bei der Legion dienenden Landsleute ist mir wichtiger als
der Ruhm Frankreichs und seines Heeres. Ich halte es denn auch
für meine Pflicht, bei einer solchen sich bietenden Gelegenheit die
Dinge so darzustellen, wie es das Interesse meiner Landsleute
erfordert, das heißt so wie ich sie gesehen habe.
Die erste Frage, die man mir zu stellen pflegt, wenn die
Rede auf die Legion kommt, ist die nach den Zuständen in der
Legion, nach dem Leben der Soldaten und nach der ihnen zu-
teil werdenden Behandlung. Werden die Legionäre misshandelt?
Sind die Schauergeschichten wahr, die man darüber liest? Ich
kann diese Fragen weder mit Ja noch mit Nein beantworten,
sondern nur mit der Darlegung der Tatsachen.
Für die zwei französischen Fremdenregimenter gelten das-
selbe Militärstrafgesetz und dieselben Disziplinvorschriften, wie für
das gesamte französische Heer, und die Offiziere der Legion
gehen aus den selben Anstalten hervor und entstammen den selben
Kreisen wie alle andern französischen Offiziere, mit dem Unter-
schiede vielleicht, dass begabte und strebsame junge Offiziere
besonders gern in der Legion dienen, bei der eben mehr „los
ist" als bei gewöhnlichen Linienregimentern im Innern Frankreichs.
Also Gesetze, Vorschriften und Offiziere sind die eines gesitteten
europäischen Volkes. Von einer gewollten und allgemeinen plan-
328
schweren Schlaf der ersten Nachtstunden befangen lag; sie beugte
sich tief zu ihm herab und suchte ihn mit einem Zipfel ihres
Qffenen Gewandes leis vom Schlummer zu wecken . . .
Der rohe Mensch wachte auf, und wie er sie in ihrer Schön-
heit erblickte, war er hurtiger im Aufspringen und Zugreifen als
sie im Entfliehen. Dann drehte er sich satt und gleichgültig der
Wand zu und versank von neuem in bleischweren Schlaf.
Und die Ärmste wandte sich ab; Tränen der Scham und
unstillbarer Reue netzten ihr die Wangen.
Doch die Tränen wandelten sich in lautes Weinen und Jam-
mern, als sie an einem merkwürdigen Gefühl eigener Schwere
und Vereinsamung erkannte, dass die Engel ihr nicht mehr nahe
waren und ihre Schritte nicht mehr lenkten. Und alle, die ihr
Schreien vernahmen und ihre verzweifelten Gebärden sahen, jagten
sie von sich als eine lästige Närrin.
Bis ihr, die weinend in die Ferne floh, ein Gedanke blitz-
schnell durch das einfältige Hirn fuhr: In die Wüste zurückkehren,
im Sande die Spuren der Eselshufe suchen, noch einmal dem
göttlichen Kinde die mütterliche Nahrung reichen und als Preis
dafür von neuem das Geleite der Engel erringen . . .
Über ein Jahr schon wanderte Kallimazone durch die grau-
sige Sandhölle, als sie eines Abends in weiter Ferne eine Gruppe
dunkler Gestalten bemerkte, die sich von der Scheibe des auf-
gehenden Mondes abhob und langsam herannahte.
Trunken vor Freude eilte Kailimazone der heiligen Familie
entgegen und riss sich schon während des Laufens das Gewand
über der Brust auf, um ja gleich bereit zu sein. Aber wie sie die
Gruppe erreicht hatte und nur wenige Schritte sie noch vom Ziel
ihrer Sehnsucht trennten, blieb sie von Grauen gelähmt stehen:
ein aussätziges Weib saß auf einem mit Aussatz behafteten Esel;
es hielt ein aussätziges Kind im Arm und ein aussätziger Greis
führte das Tier am Zügel.
Entsetzt wich die Heilige zurück; doch kaum eine Minute
währte ihr Zaudern. Sie hatte die schwärenbedeckten Leiber mit
dem Aussatz ihrer eigenen Seele verglichen, und da fiel aller Ekel
von ihr.
Entschlossen näherte sie sich wieder den Siechen und reichte
dem Kind die Brust. Da verwandelte sich plötzlich das traurige
325
Gesicht in ein beseligendes: ein Glanz ohne Gleichen strahlte
nieder, lichter als der des Mondes und milder zugleich, während
Frühlingsodem verheißend in den Lüften zu weben schien. Von
neuem schwebten die Engel herab, und die Schwären der Aus-
sätzigen schwanden dahin wie weggeweht von den Flügeln der
Himmelsboten.
Sie wurden zu flimmerndem Goldstaub, der sich auf das
schneeige Weiß der Engelsschwingen legte, und der das verirrte
Weib mit einem Glorienschein umwob wie mit einer Wolke von
güldenen Blütensternen aus den Gärten des Paradieses.
Die Istorie e Favole von Francesco Chiesa erscheinen in deutscher
Übersetzung von Frau E. Mewes-Beha nach Neujahr unter dem Titel
Historien und Lebenden. Der Verlag des Art. Inst. Orell Füßli in Zürich
hat uns den Abdruck dieser Legende liebenswürdig gestattet.
Doa
DEN UNBEKANNTEN FREUNDEN
Frieda Port hat für ihr Buch Hermann Lingg, eine Lebensgeschichte,
Verlag Beck in München, von unbekannter Hand aus Zürich eine große
Ehrengabe erhalten. Sie vermutet, dass der Geber zu den Lesern dieser
Zeitschrift gehöre und bittet uns, ihm zum Danke das folgende Gedicht
abzudrucken.
Im fernen Land ein heimatlich Versteh n —
Was kann sich einem Fremdling Lieb'res zeigen ?
Und was kann Bess'res deinem Buch geschehn.
Als wenn sich plötzlich, freundlich, aus dem Schweigen
Ein Ton erhebt, im Singen wiederklingt,
Und du dir sagen darfst, dass, was dein eigen,
Dir heilig ist, in andre Herzen dringt
Und einer Sache, der du gern dich weihtest,
Den frohen Sieg der Auferstehung bringt!
Dass Glück empfangend Freude du bereitest!
Ein froher Gruß — wohin? ich weiß es nicht —
Mein Dank — ich weiß es nicht, wohin du gleitest —
Zu großen Herzen und zum Firnenlicht.
MÜNCHEN FRIEDA PORT
O DO
326
Kein Zweifel, zahlreiche Leute finden das Leben bei der Le-
gion erträglich, drücken sich durch, so gut wie es geht, und
sagen nachher, die Sache sei nicht so schlimm; denn viele haben
schlechte Zeiten und magere Jahre durchgemacht, ehe sie bei
der Legion landeten.
Dennoch bleibt es wahr, dass die Kasernen der Fremdenlegion
Stätten unendlichen seelischen und körperlichen Leidens sind und
das Leben in der Legion — ich kann das Wort nicht unaus-
gesprochen lassen — ein Hundeleben.
Im Heeresdienst aller Länder geht es etwas rauh zu, überall
gibt es Ungerechtigkeiten und Härten zu ertragen, überall finden
sich unter den Unteroffizieren urtd gelegentlich auch höher hin-
auf unfeine, grobe oder rohe Menschen, und überall haben
solche die Gelegenheit, ihre üblen Launen, ihre alkoholische Ge-
reiztheit, ihre Rachsucht und Ränkesucht an den Untergebenen
In tausend kleinen und großen Plackereien auszulassen. Ein ge-
recht fühlender und auf seine Würde haltender Mensch gewöhnt
sich nur langsam und aus Not an den da herrschenden rück-
sichtslosen Ton und an die Unterordnung unter Menschen, die
er verachtet. All das ist aber bei der Fremdenlegion in gesteiger-
tem Maße vorhanden. Der Ton ist schärfer, die Achtung vor
der Persönlichkeit dieser Soldaten geringer, des Federlesens
weniger als bei anderen Truppen. Das ist eine Quelle unsäg-
lichen Leidens für jeden halbwegs anständigen Menschen. Und
es ist um so schwerer zu ertragen, wenn man, von Heimweh
geplagt, die Ungerechtigkeiten und Roheiten von Menschen eines
fremden Volkes und im Dienste eines fremden Landes annehmen
muss, zu dem man kein inneres Verhältnis, für das man keine
Liebe hat. Daher die verbissene Wut so vieler deutscher Frem-
denlegionäre. Ich habe unter ihnen viele und nicht zum wenig-
sten Elsäßer gefunden, bei denen die Legion den deutschen Pa-
triotismus geweckt und Franzosenhass erzeugt hat.
Zu den seelischen Leiden der besseren Legionäre gehört auch
das Zusammenleben mit so vielen verworfenen Menschen, der
völlige Mangel an Vertrauen bei den Vorgesetzten und bei der
Zivilbevölkerung, die jedem Fremdenlegionär jede Schandtat zu-
trauen. Ich erinnere mich eines jungen Elsäßers aus Straßburg,
der längere Zeit an einer Wunde krankte. Er war ein recht an-
331
ständiger Mensch und aus guter Familie. Sein Leutnant ver-
dächtigte ihn, ganz ohne Grund, nur weil er eben ein Legionär
war, er verhindere gewaltsam die Heilung, um keinen Dienst tun
zu müssen. Der Mann war sehr gekränkt durch dieses .Misstrauen
und durch die daraus entstehende Behandlung. In Bel-Abbes,
der eigentlichen Legionsstadt Algeriens, die vor 60 Jahren von
den Legionären gegründet worden ist, hat kein Mensch begriffen,
dass ich Legionäre in meine Wohnung kommen ließ und sie wie
andere Menschen behandelte, kein Mensch mir glauben wollen,
dass mir nicht alle meine silbernen Löffel gestohlen worden sind,
(ich habe sie doch alle heil wieder nach Europa gebracht.) Eine völlig
herunterkommene Familie, die um einen Paten für ihr Kind in
Verlegenheit war, sah es als eine Beleidigung an, als ich ihr einen
kreuzbraven Soldaten der Legion vorschlug. Der Präsident des
Konsistoriums stellte mir gleich bei der Ankunft meine Gemeinde
mit den ermutigenden Worten vor: „Ihre Gemeinde besteht aus
Lumpenpack" (vos paroissiens c'est de la crapuie)." Ein Polizei-
beamter verlangte, ich solle keine Legionäre in mein Haus lassen,
das werde übel gedeutet. Diese Verachtung und verächtliche Be-
handlung ist für die Soldaten sehr schwer zu ertragen.
Es bedarf keiner eigentlichen Grausamkeiten, um einen
Menschen zu quälen. Der Legionär hat unaufhörlich das Da-
moklesschwert der Strafen über sich, und die Strafgewalt liegt
in den Händen roher Unteroffiziere. Strafen, die im deutschen
Heere nur durch den Hauptmann verhängt werden können, stehen
in Frankreich schon dem Korporal zur Verfügung. Ist das schon
schlimm in der Stammgarnison, so noch viel mehr in den Kolo-
nien, auf abgelegenen Außenposten, wo keine höheren Offiziere,
vielleicht gar keine Offiziere bei der Abteilung zugegen sind. Da
können die kleinen Tyrannen ihre Leute aufs Blut quälen, und
sie tun es oft genug.
Besonders ärgerlich und für viele Soldaten geradezu zum
Verzweifeln ist es, dass die Ärzte, weil sie oft von Faulenzern
und Heuchlern belogen werden, jede Meldung wegen Krankheit
abweisen, wenn sie nicht objektiv wahrnehmbare Krankheits-
zeichen feststellen können, wofür dann der Abgewiesene, bei
dem vielleicht eine schwere innere Krankheit im Anzug ist, wegen
Erheuchelung von Krankheit acht Tage Gefängnis bekommt.
332
mäßigen Misshandlung kann deswegen nicht die Rede sein. Der
Legionär steht unter den selben Gesetzen wie Frankreichs eigne
Söhne. Freih'ch ist das französische Militärgesetz streng, und
Herr Mille spricht nicht ganz mit Recht von einer discipline plus
souple im Vergleich zum deutschen Heer. Um nur ein Beispiel
anzuführen: Herr Pierre Mille sagt uns, die Fahnenflucht werde
im Frieden „nur" mit zwei bis fünf Jahren öffentlicher Arbeit
bestraft. Nun, im deutschen Heere wird Fahnenflucht im Frieden
mit sechs Monaten Festungshaft bis zu zwei Jahren Gefängnis
bestraft — also ungleich milder als in Frankreich, und das gilt für
eine ganze Reihe von Vergehen. Freilich hat der französische
Soldat, auch der Legionär, vor dem des deutschen Heeres das
voraus, dass ein wohlwollender Vorgesetzter ihn vor der An-
wendung des Gesetzes schützen kann; man drückt eher ein
Auge zu, während im deutschen Heere ohne Ansehen der Person
nach Gesetz verfahren wird. In diesem Sinne trifft der Ausdruck
discipline plus souple zu. Für einen Vorzug halte ich dieses un-
gleichmäßige Verfahren freilich nicht. Wie man diese Dinge aber
beurteilen wolle: der Legionär wird behandelt wie ein gewöhn-
licher französischer Soldat.
Die Behandlung durch die Offiziere ist recht verschieden.
Die französischen Offiziere sind Menschen; es gibt unter ihnen
gute und schlechte. Die Soldatenschinderei ist in Frankreich nicht
unbekannt, ich will dafür einen Fall anführen, der nicht die Le-
gion betrifft. Der Oberst eines französischen Kavallerieregimentes,
ein Mann, der mir persön'ich bekannt ist, hat durch eine rohe
Disziplinmaßregel einen seiner Soldaten zu Tode schinden lassen.
Die Gassenbuben riefen „assassin" hinter ihm her, „er wendete
sich nicht", ließ sich aber einige Zeit nachher in den Ruhestand
versetzen; weiter ist ihm nichts geschehen, auch hat kein Lieb-
knecht den Fall vor die Kammer gebracht. Der Soldat war kein
Fremdenlegionär, sondern ein Franzose. Wenn solche Dinge in
andern Regimenten möglich sind, weshalb sollten keine Miss-
handlungen von Legionären vorkommen, von Legionären, für die
sich niemand wehrt, und die recht eigentlich deswegen ange-
worben sind, weil man sie nicht zu schonen braucht?
Unwahr sind selbstverständlich die Schaudergeschichten von
regelmäßigen und vorsätzlichen Grausamkeiten. Unwahr wenig-
329
stens für die jetzige Zeit; in früheren Jahrzehnten, unter- dem
Kaiserreich, bei der bekannthch sehr herben Eroberung Algeriens
müssen furchtbare Dinge vorgekommen sein. Pankraz des
Schmollers Geschichte ist nicht ganz Erfindung.
in einem Stücke mögen die früheren deutschen Soldaten in
der Legion „sich glücklich schätzen bei einer Behandlung, bei
der der Vergleich entschieden zugunsten der Legion ausfällt",
wie Herr Mille sich ausdrückt, nämlich in bezug auf den eigent-
lichen Dienst. Übermäßig angestrengt werden die Soldaten meist
nur in den Herbstmanövern. Sonst ist der Dienst nicht gar zu
ungemütlich. Im Sommer vollständige Ruhe von 10 bis 2 Uhr
mittags, das ganze Jahr völlige Dienstfreiheit während des Sonn-
tags, für die meisten Leute von 5 Uhr an kaum noch dienstliche
Verrichtungen. So ist es wenigstens bei der Stammgarnison, also
jedenfalls im ersten halben Jahr für jeden Rekruten. So gemütlich
geht es freilich in keiner schweizerischen Kaserne zu.
Von der Verpflegung ist zu sagen, dass der Legionär acht Rap-
pen Löhnung erhält und von diesem Gelde Seife und Putzzeug
kaufen muss '). Über die Nahrung beklagten sich die meisten der
mir bekannten Leute. Bei ihren Besuchen trafen sie mich nicht
selten im Hofe meiner Wohnung am Abendessen. Ich forderte
dann die Besucher etwa auf, sich mit hinzusetzen, und obgleich
die Leute gerade von der Abendsuppe kamen, hat nie ein Sol-
dat verschmäht, die Einladung anzunehmen. Wenn Herr Pierre
Mille die Legionäre „reichlich (confortablement) genährt" nennt,
so wird er die Summen im Auge haben, die der Staat für den
Zweck ausgibt; die sind sicherlich genügend, aber sie kommen
selten ganz zur Verwendung, weil die Lieferanten und andere
Leute (ich begnüge mich mit dieser Andeutung) auch etwas haben
wollen. Kommt dann einmal ein tüchtiger Oberst oder General
unvermutet zur Kostprobe in eine Kompagnieküche, so bessern
sich die Verhältnisse für einige Zeit, bis der alte Schlendrian
wieder einreißt. Immerhin, die Leute bekommen zu essen und
zwar so, dass sie dabei viel leisten.
*) ich kann nicht sagen, ob die Angabe richtig ist, dass der Sold jetzt
nur noch 5 Rappen beträgt; ich halte mich an die aus meiner Zeit stam-
menden Erinnerungen, und damals betrug die Löhnung 8 Rappen, das heißt
alle fünf Tage wurden 40 Rappen verabfolgt.
330
Das führt uns hinüber zu den körperlichen Leiden des Legio-
närs. Das schh"mmste sind die Arrestlokale. Diese ungesunden
Kellerlöcher sind voll Ungeziefers, werden niemals desinfiziert
und sind meistens überfüllt. Zu meiner Zeit wurden sie vor der
Inspektion durch den General stets bis auf die vorschriftsgemäße
Zahl entleert und nachher wieder angefüllt — dasselbe Ver-
tuschungsverfahren wie bei der Kompagnieküche. Zu Dutzenden
erkranken die Gefangenen am Typhus. Dann bringt man sie
ins Spital. Hier genießen sie eine höchst unvollkommene Pflege.
Ich habe gesehen, wie Typhuskranke aufstanden und selbst hin-
austrugen, was bei dieser Krankheit allerdings besonders sorg-
fältig entfernt v/erden muss. Der Oberarzt des Militärspitals sagte
mir von den Militärkrankenwärtern: „Es sind durch die Bank
weg rohe Kerle (des brutes)."
Freilich könnte man mir amtlich nachweisen, dass zu meiner
Zeit im Belabbeser Militärspital Typhusfälle überhaupt nur ganz
selten vorkamen. Das ging so zu: ein Kriegsminister hatte zur
Verhinderung der Typhusepidemien Wasserfilter in den algerischen
Kasernen anbringen lassen. Als die Krankheit trotzdem nicht ver-
schwand, verlangte er Rechenschaft darüber. Von der Zeit an
wurden die Typhusfälle sehr selten; während im mündlichen Ver-
kehr Pfarrer, Ärzte, Wärter und Soldaten unbefangen von Typhus
sprachen, trugen in den Fiebersälen des Spitals die Krankentafeln
reihenlang die Diagnose „Unterleibsbeschwerden mit Fieber
(embarras gastrique febrile)". So verminderte sich amtlich die Zahl
der Typhusfälle im Heer. Ich verbürge die Richtigkeit dieser Mittei-
lung; ich habe sie deshalb gemacht, weil sie zeigt, wie wenig sicher
die amtlichen Angaben über die Zustände in der Fremdenlegion sind^).
Furchtbar sind die vielen Fußkrankheiten der Legionäre.
Da sie keine Strümpfe bekommen, so gehen die meisten in
bloßen Schuhen und laufen sich die Füße wund. Sie bettelten
denn auch bei mir fortwährend um Lappen für ihre Füße.
Was bekommt der Fremdenlegionär dafür, dass er sich mit
Ehre, Leib und Leben auf fünf Jahre der französischen Republik
verkauft? Das bei den frühern Söldnertruppen und heute noch
1) Sie findet ihre Bestätigung aus der Feder des französischen Offiziers
und Militärschriftstellers Abel Veuglaire (Emile Mayer) in der Bibliotheque
Universelle, Jahrgang 104, Bd. 13, S. 235, wo auch noch anderes über das
Vertuschungsverfahren im Heerwesen zu finden ist.
333
bei der holländischen Fremdentruppe übliche Handgeld besteht
bei der französischen Legion nicht. Die Löhnung von 8 Rappen
vom Tage des Eintritts bis zu dem der Entlassung, nach der
Entlassung die freie Reise bis zu einer von dem Entlassenen
gewählten französischen Eisenbahnstation und auf die Reise da-
hin 1 Fr. 25 Verpflegungsgeld für den Tag, das ist alles, was es
in bar gibt. Bei der Entlassung wird außerdem dafür gesorgt,
dass nicht etwa zu schöne Kleidungsstücke für den Staat verloren
gehen. Hat zum Beispiel einer kurz zuvor neue Schuhe gefasst,
so werden sie ihm bei der Entlassung wieder abgenommen, und er
muss alte dafür anziehen. Kurz, schofler kann man die Menschen
nicht behandeln, als der französische Staat diese Leute behandelt, die
ihm jahrelang gedient und sehr oft ihre Gesundheit geopfert haben.
Nun kann der Soldat freilich befördert werden. Gesetzlich
steht seiner Beförderung zum General nichts im Wege; in Wirk-
lichkeit freilich, sagt uns Herr Pierre Mille, kann er nicht über
den Hauptmannsgrad hinaus kommen. Für neun Zehnteile aller
Legionäre ist aber der soldat de premiere classe, das heißt nicht
ganz so viel wie der Gefreite im deutschen Heer, die höchste
erreichbare Stufe; denn schon um Korporal zu werden müsste er
französisch lesen und schreiben können, was natürlich für die
Mehrzahl der Ausländer nicht zutrifft. Es gibt eine Anzahl
deutscher Korporale; sie sind schon für die Belehrung der Re-
kruten unentbehrlich. Hier und da bringt es ein Ausländer zum
Sergeanten, das sind aber schon Fälle von denen man spricht,
und alle 5 oder 10 Jahre mag es vorkommen, dass ein alter Le-
gionär Leutnant wird; zwei habe ich gekannt, einen Genfer
(vermutlich von französischer Familie) und einen Rheinländer. Man
sieht also: die Aussicht auf Beförderung ist für den Legionär
praktisch fast gar nicht vorhanden. Das bleibt wahr trotz den
nicht seltenen deutschen Großhansen, die sich für ehemalige
Offiziere der Fremdenlegion ausgeben.
Die Pension des Fremdenlegionärs beträgt 600 Franken und
schließt die Anwartschaft auf eine bescheidene Zivilanstellung in
sich. Die Pension muss in Frankreich verzehrt werden und wird
nicht ins Ausland nachgeschickt. Sie wird ausgerichtet nach fünf-
zehnjährigem Dienst, und damit fällt auch diese so gerühmte Aus-
sicht für neun Zehnteile aller Legionäre außer Betracht. Denn
334
dass einer fünfzehn Jahre lang den ungesunden Kolonialdienst in
der Legion aushält, das ist eine große Seltenheit; wird doch die
größere Hälfte der Legionäre vor Ablauf von fünf Jahren, das
heißt ehe ihre erste Verpflichtung ganz abgelaufen ist, wegen
chronischer Krankheiten entlassen. Fast nur diejenigen, die nicht
die Stammgarnison verlassen, das heißt die nie nach Tonking,
Slam, Madagaskar kommen, bleiben fünf Jahre.
Die Beförderung und die Pensionierung spielen bei der An-
werbung der Legionäre eine verhängnisvolle Rolle. Durch diese
Trugbilder lassen sich viele zur Anwerbung verlocken, und erst
wenn es zu spät ist, sehen sie ein, wie schwer man sie damit ge-
täuscht hat. Es wäre viel besser, wenn es für die Ausländer
keine Beförderungsmöglichkeit und keine Pension gäbe, denn
beides wirkt doch nur als Köder zur Anwerbung.
Am besten werden die Zustände in der Legion beleuchtet
durch die vielen Fluchtversuche der Soldaten. Es vergeht kaum
ein Tag, ohne dass mehrere Mann ausreißen. Die große Zahl
dieser Ausreißer benutzt die Landstraße und wird von Gendar-
men, Bannwarten, Dorfpolizisten aufgefangen. Wer Geld hat,
kauft sich einen Zivilanzug und reist unbehelligt nach Hause,
wenn er sich nicht vor der Abfahrt des Schiffes in der Hafen-
stadt betrinkt und durch dummes Reden auf deutsch oder in
schlechtem Französisch Verdacht erregt. Es ist unglaublich, was
der Legionär alles ersinnt, um zu entrinnen. Wie viele sind über
die marokkanische Grenze gegangen und dort dem Hunger und
Durste oder den Eingebornen zum Opfer gefallen ! Wie oft ist
der tolle Versuch gemacht worden, in einem Kahn nach Spanien
hinüber zu rudern! Trotz allen Wachen und andern Maßregeln
gelingt es immer wieder Einzelnen, im Suezkanal über Bord zu
springen und ans Land zu schwimmen, oder sich auf der Fahrt
nach Ostasien in Singapore durch Kulis in leeren Kohlenkörben
ans Land tragen zu lassen. Auch die erlaubten Mittel zur Ab-
kürzung der Dienstzeit werden viel gebraucht. Man meldet sich
freiwillig für die fernen Kolonien, weil man Aussicht hat, bald
wegen Krankheit zurückgeschickt und vorzeitig — der schweize-
rische Legionär nennt das: „uf d'lsebassion", das heißt par anti-
cipation — entlassen zu werden. Besonders aber dient zur Ver-
kürzung die Naturalisation, — „sich Franzos mache". Wer fran-
335
zösischer Bürger wird, wird nach dreijährigem Dienst entlassen, er
hat dann seiner Heerespfiicht im neuen Vaterlande genügt. Da
für Schweizer das heimatliche Bürgerrecht dadurch nicht verloren
geht und das Deutsche Reich eine Staatsangehörigkeit, die durch
Wehrdienst im Ausland erworben ist, nicht anerkennt, so benützt
der Legionär die Naturalisation gern zur Verkürzung der Dienst-
zeit und vernichtet nach seiner Rückkehr in die Heimat seinen neuen
Bürgerbrief als ein bedeutungslos gewordenes Papier. Somit irrt
sich Herr Pierre Mille, wenn er sagt, die Naturalisationen „be-
wiesen, dass die Legionäre nicht im entferntesten dem Lande,
dessen Uniform sie tragen, gram sind". Sie beweisen nur, dass die
Legionäre jedes Mittel ergreifen, um jenes Land bald zu verlassen.
Denn, alles in allem genommen, bleibt es eben wahr, dass
die Fremdenlegion ein Ort der Pein ist, und dass von den Aus-
ländern, die dort dienen, mehr als die Hälfte den Tag kaum er-
warten kann, der die Erlösung bringt, ja dass man Siechtum und
Tropenkrankheiten herbeisehnt, die das Kommen dieses Tages
beschleunigen.
Was wird nun aus den alten Soldaten? Eine kleine Zahl
hält die fünfzehn Jahre aus und läßt sich dann in Frankreich
anstellen. Eine noch kleinere geht nach fünf Jahren zur Marine-
infanterie über und dient dort die zur Pensionierung nötigen
weitern zehn Jahre ab; das sind die Mustersoldaten, die mit der
Legion „Karriere machen". Einige wissen sich durch frühere
Kameraden in Frankreich oder durch Verbindungen mit der Qar-
nisonsstadt in Algerien eine Stelle zu sichern, als Knecht oder
Arbeiter, und dann mögen sie es etwa bis zu einem eigenen Ge-
schäft bringen. Die große Mehrzahl aber gibt bei der Entlassung
als Ziel eine Eisenbahnstation an der Grenze an, Bellegarde,
Pontarlier, Avricourt, Petit-Croix und geht beschämt und still
auf dem nächsten Weg in die alte Heimat zurück, auch wenn
hier Festungsstrafe und versäumter Militärdienst ihrer wartet oder
gar das Zuchthaus. Nur zurück nach Deutschland, heißt es da»
nur weg von den Franzosen! Denn deren viele gute Eigenschaften
lernt der Fremdenlegionär nicht kennen; für ihn sind sie ein
Volk von Leuteschindern, Schnauzern und Aussaugern.
Ist für den Entlassenen die erste schwierige Zeit vorüber und
der Mann versorgt, dann beginnt sich die Sache zu ändern. Jetzt
336
wäre es doch recht bitter, von der eigenen Vergangenheit mit Beschä-
mung reden zu müssen und sich auslachen zu lassen. Jetzt merkt man,
dass man sich als ehemaliger Söldner in fremden Weltteilen inter-
essant machen kann. Man verschweigt, dass man hineingefallen
ist, man tut groß mit der Legion, erzählt Geschichten von erleg-
ten Löwen, Tigern und Seeräubern, rühmt, was diese Franzosen
für eine großartige Armee hätten und befördert sich vielleicht
zum französischen Leutnant außer Dienst. Um keinen Preis aber
gibt man zu, dass man ganz einfach im Rausch etwas unter-
schrieben hat, was man nicht lesen konnte, und einige Jahre
lief unglücklich gewesen ist. Sehr richtig sagt von diesen „Alten"
Herr Pierre Mille: „Sie verbergen die Augenblicke des Grolls und
des Leidens"; es wäre nur genauer, statt Augenblicke Jahre
zu schreiben. Das sind die Renommierlegionäre, die sich zu
Vereinen zusammenschließen, sich von einem Berichterstatter der
llLustratton abknipsen lassen und so den Franzosen dazu verhelfen,
in ihrer gewollten Selbsttäuschung über die Legion zu verharren.
Ein Wort noch über die erzieherischen Ergebnisse des Dien-
stes in der Legion. Herr Mille schätzt sie sehr hoch und spricht
sogar von einer „Institution puissamment moralisatrice et rege-
neratrice", ja „de relevement moral". Es ist richtig, dass ganz
tolle Burschen bei der Legion sich fügen lernen und dass junge
Verschwender bei 8 Rappen Löhnung an Einfachheit gewöhnt
werden. Als der verlorene Sohn auf der Stufe des Sauhirten
angelangt war, kamen ihm die Reue und der Verstand. Aber
die Legionäre sind nicht alle von dieser Art. Viele sind etwas
leichtfertige oder auch bloß unerfahrene Jungen, viele sind grund-
brave Menschen und durch ein Unglück oder durch Überlistung
in die Legion geraten. Und diese verderben dort meistens. Sie
verlieren in der Fremde und in der schlechten Umgebung jeden
Halt, geben sich selbst auf, geraten in Laster und werden nach-
her nicht selten zu Landstreichern und Spitzbuben. Unsre schwei-
zerischen Gefängnisdirektoren und Irrenärzte halten sehr wenig
von der „Institution moralisatrice et regeneratrice" der Legion.
Soviel über die Zustände in der Legion. Nun die wichtige
Frage ihrer Rekrutierung. Wie ist es möglich, dass immer wie-
der Rekruten in so großer Zahl kommen?
337
Da ist vor allem nicht zu vergessen, dass das Söldnerwesen
und Reislaufen bei den deutschen Völkern an zweitausend Jahre
alt ist. Deutsche haben zu Tausenden in den römischen Legionen
gedient, schweizerische und andre deutsche Söldner massenhaft
in aller Herren Dienst gestanden, noch vor hundert Jahren ganze
Scharen Deutscher im Dienste des Korsen gegen ihre eigenen
Volksgenossen gekämpft. Dazu kommt, dass in dem gegenwär-
tigen übervölkerten Deutschland der Kampf ums Dasein nicht
leicht ist, dass da jeder aus der ganz geraden Bahn herausge-
tretene in Schv/ierigkeiten kommt und sein Heil im Ausland sucht.
Dazu kommt ferner, dass die französischen Rekrutierungsämter
der einzige Ort in Europa sind, wo jeder, der nicht Krüppel ist,
Unterkunft und Verwendung findet, ohne dass man von ihm ver-
langt, dass er Papiere besitze. Diese ganz allgemeine Betrach-
tung erklärt schon zum guten Teil die Rekrutierung der Legion.
Dahin kommen schwere Verbrecher, untreue Knechte, ungeratene
Söhne, lose Buben. Dahin kommen Fahnenflüchtige der Nach-
barländer. Dazu allerlei Menschen, die Pech gehabt haben, denen
eine Liebschaft übel ausgegangen ist, die es in einer Lehre nicht
ausgehalten haben. Endlich sehr viele Arbeitslose oder auch
einfach Neugierige, von echt- und urgermanischer Wanderlust über
die Grenze getrieben, zum Teil recht unerfahrene Bürschlein.
Bei den Schweizern wirken natürlich sehr stark mit unsre
uralten Söldnerüberlieferungen, die trotz allen Warnungen den
fremden Kriegsdienst noch heute mit einem gewissen romanti-
schen Schimmer umgeben. Bei den sehr zahlreich über die Grenze
entweichenden belgischen Fahnenflüchtigen müssen mangelhafte
Einrichtungen des belgischen Heeres bestimmend mitwirken, viel-
leicht auch die große Schwäche des belgischen Patriotismus.
Wie man Legionär wird, die Geschichte kann ich erzählen;
sie wiederholt sich täglich seit vielen Jahrzehnten, in Dünkirchen,
in Lille, in Givet, in Longwy, in Nanzig, in Beifort, in Pontarlier, in
Lyon, in Nizza, in Paris. Die wenigsten der Angeworbenen waren
von zu Hause weggegangen mit der Absicht, in Frankreich Soldat
zu werden. Aus Deutschland zumal geht kaum jemand mit dieser
Absicht weg; bis vor kurzem wusste man im Reiche (mit Aus-
nahme des Elsaßes) von dem Bestehen der Legion sozusagen
nichts. Kommt nun aber ein unerfahrener junger Mann über die
338
Grenze, so dauert es gewöhnlich nicht lang, bis er von jemand
auf die Legion aufmerksam gemacht und zur Anwerbung er-
muntert wird. Wahrheitsgetreu zeigt uns Herr Pierre Mille den
Polizeikommissär, der — von seinem Standpunkt aus ganz mit
Recht und pflichtgemäß — dem fahnenflüchtigen Deutschen den
Weg zur Legion weist. Aber der Polizeikommissär ist nicht der
einzige, der sich darauf versteht, und der Fahnenflüchtige nicht der
einzige, dem dieser Liebesdienst erwiesen wird. Längs der ganzen
Grenze von Dünkirchen bis Nizza und bis tief ins Land hinein,
besonders in den Städten, ist sozusagen die ganze Bevölkerung
bereit jeden Fremden aufs Rekrutierungsamt zu weisen, in der
Herberge, wo er nach Arbeit fragt, im Wirtshause, am Zollamt,
auf dem Landjägerposten, überall spricht man ihm von der Le-
gion als von einer für ihn passenden Einrichtung. Wirte, Sol-
daten, Unteroffiziere, Ausgediente, besonders aber Polizeibeamte
und Gendarmen erklären sich bereit, den jungen Ausländer in
die Kaserne zu bringen, nachdem sie ihm die Umschau nach
Arbeit als aussichtslos hingestellt, mit Heimschub und Auswei-
sung gedroht, über die Verhältnisse in der Legion unverbind-
liche Schilderungen und über die Dauer der Verpflichtung und
den Sold falsche Angaben gemacht, von Beförderung und Pen-
sionierung, von einem nach der Entlassung in Aussicht stehenden
Stück Siedelungsland und dergleichen allerlei erzählt haben. Be-
sonders gefährlich sind für den Schweizer und den Deutschen die
zahlreichen in Frankreich ansäßigen Elsäßer, weil sie sich auf
deutsch mit ihm anbiedern, und gefährlich ist natürlich auch der
französische Wein. Alle diese Leute meinen es gut, — nämlich
mit ihrem Vaterland; besser ein arbeitsloser Ausländer weniger
auf der Straße und ein Mann mehr in unserm ruhmreichen
Heere, sagen sie sich. Der Ausländer aber ist der Geprellte. Auf
dem Rekrutierungsamt bekommt er nun über die ihn erwartende
Zukunft amtlich Auskunft, nämlich einen großen engbedruckten
Bogen, den der nicht französisch verstehende Ausländer ja über-
haupt nicht lesen kann. Neben ihm steht ein Beamter und hält ihm
die Feder zur Unterschrift hin, im Kopf hat er den Wein und
das vorangegangene Gerede. Ein Federzug — und die Sache ist
gemacht. Die Enttäuschung kommt alsbald, wenn er merkt, mit
welcher Verachtung er angewiesen wird, den Kasernenhof zu keh-
339
ren, noch sicherer, wenn ein „Alter", der zum zweiten Mal an-
geworben ist, ihm ein Licht aufsteckt. Mehr als einer besinnt
sich bald anders und brennt auf der Reise durch.
Die gegebene Schilderung beweist, dass Herr Mille ganz
mit Recht sagt: „Die französische Regierung braucht, um Sol-
daten zu bekommen, nicht zu bezahlten Werbern zu greifen."
Das wäre eine törichte Verschwendung; die Beamten besorgen
die Werbung umsonst, und Tausende von patriotischen Kneip-
wirten helfen mit. In Deutschland wird jetzt alle Augenblicke von
den Zeitungen von Werbern gesprochen, die man auf deutschem
Boden erwischt haben will, ich glaube hieran nicht, ehe ein deut-
sches Gericht einen solchen Werber überführt und verurteilt hat.
Aber wahr bleibt es trotzdem, dass in Frankreich ein unwürdiger
Menschenfang für die Legion getrieben wird. Ich weiß bestimmt,
dass nicht wenige Legionäre über die Dauer der Verpflichtung
bei ihrer Anwerbung getäuscht worden sind ; sie glaubten für zwei
Jahre zu unterschreiben, während sie sich auf fünf verpflichtetem
Eine eigene Sache ist es mit den Elsäßern und Lothringern.
In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Kriege kamen sie
scharenweise zur Legion, angeblich alle aus Liebe zu Frankreich,
in Wirklichkeit aus Abneigung vor dem deutschen Heeresdienst.
Je mehr diese Scheu schwand, desto weniger zeichneten sich die
immer noch zahlreichen elsäßischen Legionäre vor den andern
aus, und je mehr es im Elsaß nachgerade in jedem Dorfe be-
kannt wurde, wie es in der Legion hergeht, desto weniger Lust
zeigten die jungen Leute, ihr Glück dort zu versuchen. Was in
den französischen und elsäßischen Zeitungen über die Tausende
von Elsäßern gesagt ist, die alljährlich unter Frankreichs Fahne
zu dienen begehren, ist eitel Flunkerei. Das beweist uns auch
die Angabe des Herrn Mille, dass am \. Januar 1913 im zweiten
Regiment 354 Elsaß-Lothringer gedient hätten, macht also, da das
erste Regiment meist etwas größer ist, im ganzen vielleicht 1000
Mann, sicher nicht mehr. Tatsächlich nimmt die Zahl der jähr-
lich Angeworbenen ab. Nach amtlichen Angaben stammten im
Jahre 1880 noch 50 von 100 Legionären aus dem Reichsland,
im Jahr 1909 bloß noch 11 vom Hundert nach meiner Quelle,
und heute sogar bloß sieben vom Hundert nach Mille. In den
neunziger Jahren kamen regelmäßig 600 bis 700 Elsaß-Lothringer
340
zur Legion, 1896 waren es sogar 773, 1897 waren es 631, dann
schwankte die Zahl mehrfach, sank aber doch sichtbar, und 1909
stellten sich nur 215 Elsaß-Lothringer. Es steht denn auch bei
den Offizieren der Legion längst fest, dass die elsäßischen Sol-
daten sich nicht mehr durch ein besseres Benehmen vor den
andern auszeichnen, dass auch aus dem Reichsland nachgerade
in derselben Verhältniszahl unglückliche oder entgleiste Leute
(mauvaises tetes) zur Legion kommen, wie aus dem übrigen Reich.
Dieses langsame Versiegen der lautersten Quelle ist natürlich für
die Franzosen eine besonders schmerzliche Tatsache; bedeutet es
doch nicht nur eine Schwächung ihrer beiden Fremdenregimenter,
sondern zugleich eine Abnahme des Vertrauens bei einer einst
gut französisch gesinnten Bevölkerung.
Will man sich ein Gesamturteil über die Legion bilden, so
muss man vor allem die Quellen kritisch sichten. Von vornherein
unbrauchbar sind natürlich jene schauerlichen deutschen Zeitungs-
mären, wie Herr Pierre Mille ihrer einige anführt und mit Recht
an den Pranger stellt. Was alte Legionäre oder angebliche alte
Legionäre berichten, das muss sorgfältig geprüft werden, und nur
wer die Legion aus der Nähe kennt, wird sagen können, ob und
wie weit die erzählten Geschichten wahr sind oder nicht. Und
auch dann geben die Erfahrungen eines Mannes noch kein allge-
mein richtiges Bild. Die Masse und die Vergleichung der Einzel-
bilder ermöglicht erst den richtigen Einblick. Unter jenen Schwind-
lern und Großhansen aber, die ihre „Erlebnisse" zum besten
geben, gibt es zwei Sorten: die einen suchen auf ihre Rechnung
zu kommen, indem sie Günstiges berichten, die andern, indem
sie die Bewegung gegen die Legion unterstützen. Die Angaben
der einen sind so viel wert wie die der andern.
Ausscheiden muss man als Quelle die französische Presse,
nicht nur die großen Schreier wie das fcAoc/e Perm und den Matin,
denen es ja auch sonst gar keine Mühe macht, lange Spalten
mit erfundenen Geschichten zu füllen, sondern auch den obrigkeit-
lich beeinflussten Temps, auch die verbreitete und beliebte aber
stark nationalistische Illustration. Wo der Patriotismus in Frage
kommt, da tritt für die französische Presse jede andere Rücksicht
zurück. Welches Blatt würde es wagen, in einer so heiklen Frage
die Partei der verhassten Deutschen gegen eine staatliche Ein-
341
richtung, gegen das französische Heer zu ergreifen? Herr Mille
bemüht sich, vorsichtig und kritisch zu verfahren. Aber ich muss
sagen, ein anonymer Mitarbeiter der Revue Blanche ist für mich
i<ein maßgebender Gewährsmann. Und die berühmten, in der
französischen Presse so oft auftauchenden und auch von Herrn
Mille wieder heraufbeschworenen Gestalten des Eveque (man liest
wohl am besten: seminariste) und des Prince de Hohenzollern —
sollen wir das alles für bare Münze nehmen? Wahr ist, dass
einmal die Leiche eines deutschen Fremdenlegionärs ausgeliefert
worden ist, und dass man von dem seltenen Fall viel gesprochen
hat. Da er Friedrich Albrecht hieß, ein Name, der wohl an
brandenburgische Kurfürsten erinnert, so mag daraus das lächerliche
Gerücht entstanden sein, er sei ein preußischer Prinz gewesen^).
Ein Wort hier über die deutsche Bewegung gegen die Frem-
denlegion und über die Berechtigung Frankreichs, Fremde anzu-
werben. Herr Mille ist der Meinung, die Bewegung in Deutsch-
land sei begreiflich, und dann meint er doch wieder, es müsse
jemand dahinter stecken. Es ist unbedingt Frankreichs Recht,
auf seinem Boden Fremde anzuwerben und sie nach Gutdünken
und eignen Gesetzen zu verwenden. Aber ebenso richtig und in
Ordnung ist es, wenn die Deutschen auf ihrem Boden alles tun,
um die Reisläuferei zu verhindern. Dass die Entrüstung in
Deutschland jedesmal dann besonders hervorbricht, wenn das
Verhältnis zu Frankreich gespannt ist, das ist doch ein ganz
natürlicher Vorgang, der sich ohne geheimnisvolle Mächte erklärt.
Nicht zur Bewegung gegen die Legion gehören jene von
Herrn Mille herangezogenen Schundromane und die Reklame, die
drum und dran hängt. Das ist eine Schundliteratur wie jede
andere, und jeder anständige Deutsche verurteilt sie. Dass auch
sonst über die Legion in Deutschland gelogen wird, bedaure ich
um so mehr, als der Kampf auf Grund der Tatsachen wirksam
genug geführt werden könnte. Aber ich habe bereits gezeigt, dass
die patriotische Lüge (le faux patriotique) in Frankreich auch
blüht, und jeder Kenner der deutschen und der französischen
Presse weiß, dass trotz allem, was die deutschen Blätter von
der Legion berichten, jeden Tag in Frankreich mehr kränkende
') Er starb am 10. November 1897 in Geryville.
342
Unwahrheiten über Deutschland gedruckt werden als in einem
Jahr in Deutschland über Frankreich.
Die in der Bekämpfung der Legion begangenen Missgriffe
rühren daher, dass man in Deutschland offenbar noch nicht recht
weiß, wie man die Sache angreifen soll. Ein erster zur „Be-
kämpfung der Sklaverei Deutscher in der Fremdenlegion" in Dres-
den gegründeter Verein hat sich bald wieder aufgelöst, und das
ist gut so; denn sein Plan, vor den französischen Gerichten die
Anwerbungsverträge anzufechten, war geradezu kindisch. Seither
ist in München ein neuer Verein entstanden, der die Sache etwas
verständiger anfasst. Aber er hat ebenfalls gezeigt, dass er nicht
mit den richtigen Mitteln arbeitet; denn er fing gleich damit an,
den französischen Konsul in München der Werberei zu beschul-
digen, ohne es beweisen zu können.
Seit mehreren Jahren ist da und dort vorgeschrieben, dass in
den Schulen vor der Anwerbung gewarnt wird ; zum Beispiel muss
das jedes Jahr in allen Schulen Württembergs geschehen. Ob der
Deutsche Turnerbund seinen Plan ausgeführt hat, der französi-
schen Grenze entlang Warnungstafeln aufzustellen, weiß ich nicht.
Den Rekruten werden vorschriftsgemäß Vorträge über die Legion
gehalten. Dies ist der richtige Weg: Aufklärung ist das einzige, was
einen rechten Sinn hat. Sie ist freilich ein zweischneidiges Schwert;
denn wenn sie von der Legion abschreckt, so lenkt sie auch die
Aufmerksamkeit darauf und weist jungen Leuten, die den Kopf
verloren haben, den Weg, den sie sonst nicht gefunden hätten.
Jetzt freilich, wo man damit begonnen hat, wird man fortfahren
und die Aufklärung immer planmäßiger und vollständiger durch-
führen müssen, und je mehr man sich dabei von Übertreibungen
fernhält, desto besser wird man den gewollten Zweck erreichen.
Frankreich darf sich darüber nicht beschweren, auch dann nicht,
wenn in der Schweiz einmal eine derartige Bewegung entstehen sollte.
Die französische Legion ist eine in Europa einzig dastehende
Einrichtung. Ins englische Söldnerheer haben nur ausnahmsweise
Ausländer Zutritt. Die holländische Legion auf Java ist mit
der französischen nicht zu vergleichen; die Pensions- und Be-
förderungsverhältnisse sind weitaus günstiger, bei der Anwerbung
wird ein Handgeld gezahlt, es werden Papiere gefordert, und die
erste Ausbildung findet in Europa statt. Die Holländer sehen
343
sich ihre Leute erst an, ehe sie sie über See schicken. Und wäre
das alles anders, so würde man einem kleinen und friedlichen
Volke immer noch mit Recht durchgehen lassen, was bei einer
mit dem und jenem Nachbarvolk auf gespanntem Fuße stehenden
alten Großmacht aufreizend wirkt.
„Die Legion ist eine Notwendigkeit, ich sage nicht für Frank-
reich, das sie entbehren könnte, aber für die zivilisierte Welt,"
meint Herr Mille. Vielleicht, ja vielleicht, ist es nicht übel, dass
es einen Ort ^uf Erden gibt, wo ganz unbrauchbare Leute ver-
braucht werden können. Aber wird außerhalb Frankreichs ein
einziger Mensch glauben, dass Frankreich ganz „ohne Notwendig-
keit", nur aus Rücksicht auf die „zivilisierte Welt" auf seine Kosten
14000 Mann unterhält? Wer lässt sich so etwas weis machen?
Am Schluss sieht Herr Mille in der Legion ein Vorbild für
das Heer der künftigen Vereinigten Staaten von Europa. Das ist
ein hübscher Schlußsatz, aber er enthält einen geschichtlichen
Irrtum. Die Legion ist ein Rest aus frühern Jahrhunderten, wo
man von dem, was mit der Ehre einer Nation vereinbar ist,
andere Begriffe hatte. Im achtzehnten Jahrhundert war das
Söldnerwesen nichts Anstößiges und ein Staat, der mit fremdem
Blut Eroberungen machte, keine Seltenheit; Frankreich zumal hat
Jahrhunderte lang auf alle seine Schlachtfelder die Kinder seiner
germanischen Nachbarvölker geschickt, besonders Schweizer. Heute
denkt man darüber anders. Wir Nichtfranzosen sehen in der
Legion etwas Unsittliches, einen europäischen Skandal. Für jeden
anständig denkenden Franzosen muss es doch peinlich sein, dass
wir Schweizer unsrer Jugend sagen müssen — und diese Pflicht
erfüllt zum Beispiel ein großer Teil unsrer Zürcher Lehrerschaft, —
dicht hinter den französischen Grenzpfählen sei eine Art Mause-
falle bedenklichster Art aufgestellt, vor der nicht genug gewarnt
werden könne.
Wenn die Franzosen einmal aus ihren gefährlichen Selbst-
täuschungen erwachen, so werden sie bei dem ihnen sonst inne-
wohnenden klaren Verstand ohne Zweifel die Überlegung machen,
dass der gute Ruf eines Landes mehr wert ist als zwei Infanterie-
regimenter.
ZÜRICH EDUARD BLOCHER
D ö O
344
RICHARD WAGNER UND DAS
CHRISTENTUM
(Schluss)
Dennoch durchbricht Wagners Eigenart, der lebens- und
schaffensfreudige Künstler, diesen pessimistischen Todesbann an
allen Enden ; im Denken, Dichten und Streben. Vor allem ist
es merkwürdig, dass jetzt mit der Einsicht von der verkehrten
Entwicklung des Willens zum leidvollen Dasein neue künstlerische
Schöpfungslust ihn ergreift: die Musik zur Walküre, die Idee zu
Tristan, die Gestalt Parsifals gewinnen Leben (Chamberlain, S. 138,
u. ö). Denn eine neue Kraft und Siegesgewissheit ist über ihn
gekommen; jetzt ist ja das Übel erkannt, nun steht der Weg zur
Heilung offen, der Wille ist sich seines Irrtums, aber auch seiner
Kraft zur Umkehr bewusst geworden ; nun gibts was zu singen
und sagen — eine Regeneration kann einsetzen und herstellen,
was verfallen ist. Das heißt mit andern Worten: Wagner glaubt
im Grunde nicht daran, dass alles Dasein heillos dem Leide
unterworfen ist und seinem Wesen nach Leid sein muss. Es
hätte auch anders kommen können, und es kann auch jetzt noch
vieles besser werden, wenn wir wieder zum Echtnatürlichen, Rein-
menschlichen zurückkehren. Wagner kennt ganz bestimmte Ur-
sachen des Verfalls und schlägt positive Reformen vor, allerdings
sehr eigenartige: unnatürlich und unmenschlich ist Fleischgenuss,
wozu die Tierwelt gemordet werden muss — wenn in unserem
Klima Fleischnahrung notwendig ist, so sollte man eben in ein
südliches Klima auswandern. Ein Verderbnis sei auch die Ver-
mischung der weißen Rasse mit den niedern, der germanischen
mit dem Judentum — vor allem verderblich sei das Judentum
in der Musik. Dass in der Kunst und durch die Kunst in Deutsch-
land noch großes geschaffen werden kann, in alter und neuer Weise,
lehren Hans Sachs und der junge Walter von Stolzing in den
Meistersingern von Nürnberg. Die liebliche Eva Pogner, die beide
Sänger, den alten wie den jungen, zu morgenfrischem Singen und
Hoffen begeistert, zeigt, wie viel positives Heil Wagner noch von
Frauenlieb und -leben erwartet; nicht umsonst nennt er sie Eva
im Paradiese, von der doch die Kirche allen Verfall herleitet.
345
Und wie niedrig hatte auch Schopenhauer die Frauen eingeschätzt!
Wagner hat erst im schmerzh'chen Entsagen, dann im verständnis-
vollen Herzensbunde andere Erfahrungen gemacht. In Tristan
und Isolde, wo er seiner Liebe Leid beklagt, preist doch auch
der Doppelpsalm der beiden Liebenden die Wonne der Seele, die
ungeahnte, nie gekannte, überschwänglich hocherhabene mit
Freudenjauchzen und Lustentzücken, — und das alles schon in
irdischer Liebesnacht. Und dies Mein und Dein soll nimmer auf-
hören. Wenn ihre Liebe auch Tristan und Isolde heißt, und diese
Namen nun verklingen, sie sind ja eben aus der Zweiheit in
die Einheit eingezogen, und wenn sie sterben, so heißt das nur
„in des Weltatems wehendes All" versinken. Noch immer ist also
für Wagner Geschlechtsliebe der edelste Weg zur Alleinheit, und
das Nirwana, das Unbewusste, ist hier doch nicht inhaltloses Sein,
sondern höchste Lust.
Diese Erlösungslehre und -weise ist doch nicht die Schopen-
hauers, und sie ist gewiss auch nicht die christliche.
IV.
Gerade jetzt rüstet sich Wagner zu einem hohen Lied von
dem christlichen Erlösungsglauben. In Tristan und Isolde sollte
ursprünglich Parsifal auftreten als der Bote einer andern, über-
sinnlichen Liebe — die Gestalt und der Gedanke wuchsen sich
dann zu einem ganzen Drama aus, dem Schlußstein seines künst-
lerischen Lebenswerkes. Und dies Werk sollte recht eigentlich
eine Versöhnung mit dem Christentum, nicht nur mit Christus,
den er nie befehdet, sondern mit dem Christusglauben, mit der
christlichen Weltbefehdung und Weltentsagung werden, die er einst
so grimmig bekämpft hatte. Hier zu Zürich, am Charfreitag 1857
war es, wo Wagner, da er zum erstenmal von seinem „Asyl" in
den vollen Frühlingssonnenschein hineinsah, der Gedanke über-
kam : „es ist ja Charfreitag heute, da gilt es nicht, Waffen zu tra-
gen," wie es in Wolframs Parsifal heißt. Von diesem Gedanken
aus entwarf er schnell das Drama und skizzierte es sofort mit
wenigen Zügen.
Das Verständnis für den christlichen Erlösungsgedanken, das
mitleidvolle Sterben des reinen Gottessohnes für die Sünde und
das Leid einer ganzen Welt, hatte ihm kein anderer als Schopen-
346
hauen erschlossen — ihm war ja die ganze Welt ein einzig großer
Sündenfall des Weltwillens, und je tiefer, je umfassender ein Geist
dies Leid im heiligen Mitleid fühlt, um so schmerzlicher muss er
leiden — ; aber nur solches Mitleid bringt die zerstreuten Seelen
zur Erkenntnis ihrer Zusammengehörigkeit, ihres gemeinsamen
Leids und zwingt sie zur Einkehr, Umkehr und Heimkehr ins
Nichtmehrseinwollen. Im heiligen Abendmahl ist das Aufnehmen
dieses Todeswillens in den eigenen Willen symbolisch und er-
greifend dargestellt. Wagner hat diese Deutungen des Opfertodes
und Opfermahles Christi aus seinem eignen dann noch in son-
derlicher Weise ausgebaut, zunächst von seinem Rassestandpunkt
aus: bei der weißen Rasse hat der Weltwille in seinem Erlösungs-
drang einen letzten und endgültigen schöpferischen Vorstoß unter-
nommen und damit ein neues, edelstes Rassenblut geschaffen,
nämlich das Blut Christi. Fand Wagner dem Blute der weißen
Rasse die Fähigkeit des bewussten Leidens in besonderem Grade
eigen, so will er jetzt im Blute des Heilandes den Inbegriff des
bewusst wollenden Leidens selbst erkennen, das als göttliches
Mitleiden durch die ganze menschliche Gattung fließt — mit andern
Worten: dies „Blut Christi" ist eine physische Fähigkeit und Trieb-
kraft, die sich überall da zeigt, wo heiliges Mitleid in der Mensch-
heit sich regt.
Weniger tiefsinnig ist dann die Auffassung, dass Christus im
Abendmahl Brot und Wein als die normale Nahrung an Stelle
der Fleischnahrung eingeführt habe; wichtiger wieder die Hoch-
schätzung der Askese überhaupt und der Heiligen als der wahren
Helden, die nicht ihr Leben durchzusetzen, sondern durch Fasten
und Kasteien den Lebenstrieb zu vernichten streben.
Alle diese Anschauungen sind in den Prosaschriften von 1880
und 1881 niedergelegt: Religion und Kunst, — Was nützt diese
Erkenntnis? (nämlich die Erkenntnis vom Verfall) — Erkenne dich
selbst, — Heldentum und Christentum; wir haben damit eine authen-
tische Erklärung des 1877 im Text, 1882 in der Partitur vollen-
deten Parsifal. Es muss freilich gesagt werden, dass ein solches
Mysterium durch sich selbst wirken soll und wirkt, dass der Ein-
druck mehr besagen und bewirken soll und kann, als die Worte
und die Deutung ausdrücken — aber wir wollen ja nicht ein
Kunstwerk in die Sprache eines Vortrags übersetzen, sondern
347
Waaners Gedanken wiederfinden, dieerbewusst in den Parsifalhathln-
einlegen wollen. Der Gral mit seiner Gralschüssel, die einst Christi
Abendmahl und dann sein Blut aufnahm, und mit der Abendmahls-
feier, die sich dort noch immer vollzieht, ist das Christentum, die
Menschheit und Menschenseele im Besitz der Erlösung durch
Christus. Aber trotz dieses Besitzes ist sie totkrank und schmerz-
zerrissen; Amfortas, der König des Grals mit seiner Wunde stellt
das ergreifend dar. Dies Siechtum stammt aus dem vergifteten
Blut, das so vergiftet ward durch die Verführerin Kundry. Kundry,
die packendste Gestalt dieses Dramas, ist nicht etwa die böse
Lust; denn sie hat auch ihre guten Stunden, wo sie dienen und
helfen, abbüßen und gutmachen will, was sie angerichtet hat;
nachdem sie getauft und gereinigt ist, darf sie ja auch mit Parsifal
in den Gral einziehen. Sie ist auch nicht etwa das Weib erst
als Verführerin und dann als Gehilfin des Gatten; sonst dürfte sie
nicht bei der Erlösungsfeier sterben. Vielmehr ist sie ganz deut-
lich die Sinnlichkeit im umfassenden Sinn, der Lebenstrieb über-
haupt, der nach Sinnenfälligkeit und vielseitiger Betätigung drängt.^
Wenn Klingsor, der Zauberer, die fühllose, unerbittliche, grausame,
raffiniert schlaue, alleswissende und benutzende Naturnotwendig-
keit und Naturgesetzlichkeit, sie zwingt, muss sie verführen ; sonst
jagt sie Arabien ab nach Heilmitteln und dient, wo sie kann, ein
Bild der rastlosen Wohltätigkeit und sozialen Fürsorge unserer
Zeit; freilich weiß sie ganz genau, helfen tut alles nicht: „ich helfe
nie!"; all ihr Tun ist verkehrt und macht verkehrt. — Das ist
genau Schopenhauers irregegangener Wille. Darum möchte sie
schlummern und einschlafen für ewig! Aber dazu lässt sie Klingsor
nicht kommen, ihre Schuld war, dass sie lachte über des Er-
lösers Leiden ; und lachen muss sie auch über alle, die durch sie
leiden — der Lebenstrieb spottet der Weltnot wie der helfenden
Liebe. — Helfen kann ihr wie dem Kranken im Gral nur ein
reines Mitleid. An sich sollte ja das Blut des Erlösers alle heilen,
die an die Macht der Liebe glauben, auch Amfortas; aber die
Sinnlichkeit hat die Menschheit unfähig gemacht, das heilige Gut
recht zu verwalten. Da naht der reine Tor, der geniale Mensch,
vor allem der Künstler, und das intuitive, echte, reine und tiefe
Empfinden in jedem Menschenherzen, zunächst mit unbestimmtem
Tatendrang; es ahnt nicht, wie es mit seinem unbändigen Sichaus-
348
leben Mutterliebe und Mutterherz, sowie harmloses animalisches
Leben niedertritt; solche genialische Unbefangenheit hat auch kein
Verständnis für das Leid, das in der Schuld, ja im Lebenstrieb
überhaupt beschlossen ist. Man denkt an Wagners revolutionäre
Jugendzeit, an seinen Optimism.us, der kein Verständnis hatte für
die Leidenslehre des Christentums. Gemeiner Versuchung ist der
reine Mensch unzugänglich, nicht aus Gesetz oder Tugend, es
widerspricht einfach seiner Natur; darum naht sich ihm die Ver-
führung in einer scheinbar weihevollen Form. Aber wo den
adligen Menschen und den edlen Sinn im Menschen das dämo-
nisch Schmerzliche, das in der Sinnlichkeit steckt, auch nur mit
den Lippen berührt, da spürt er, was dem andern fehlt; er wird
Wissender und Helfer in der Not. So kann er jetzt den Lebens-
trfeb zur Erkenntnis und zur Einkehr bestimmen, ihn taufen, so
dass er nur noch seiner Erlösung und Auflösung zustrebt. Der
Lebenstrieb stirbt nicht alsbald. Wagner gibt auf die Frage: was
nützt diese Erkenntnis? die Antwort: „Wir glauben an eine Re-
generation (der historischen Menschheit) und widmen uns ihrer
Durchführung in jedem Sinne." Es kann eine beglücktere Mensch-
heit der Zukunft auch auf dieser Erde geben. Diese hat das
Empfinden der Erlösungsbedürftigkeit und in geweihten Stunden,
namentlich wenn ein wahres Kunstwerk ihr die Erlösung an-
schaulich vor Augen stellt, glaubt sie dieser Erlösung schon teil-
haftig zu sein, „uns beängstigt dann nicht mehr die Vorstellung
jenes gähnenden Abgrundes, all der süchtigen Ausgeburten des sich
selbst zerfleischenden Willens, rein und friedesehnsüchtig ertönt
uns dann nur die Klage der Natur, furchtlos, hoffnungsvoll, all-
beschwichtigend, welterlösend." (R. und K. 249.) Aber das ist
doch nur ein vorläufiger Zustand; das furchtbare Weltelend bleibt
uns doch immer gegenwärtig. Wenn aber das Wunder der er-
barmenden Liebe von reinen, edlen Händen verwaltet wird, dann
stirbt Kundry, der Lebenstrieb, ganz und, dann geschieht des höch-
sten Heiles Wunder: Erlösung dem Erlöser! Das Mitleid selbst
wird von seinem Mit-Leiden erlöst, weil kein Leid mehr da ist.
Diese wahre Erlösung führt dahin, wo es keinen Raum und keine
Zeit mehr gibt, wo des Weltatems wehendes All die durch Liebe
geeinte Menschheit umfängt. Das Ende auf Erden ist nicht abzu-
sehen und auch nicht wichtig. „Es ist einerlei, wie die Mensch-
349
heit zu Grunde geht, wenn sie nur göttlich zu Grunde geht," das
heißt: so, dass die morah'sche Weltordnung an ihr erfüllt ist:
Irrtum, Schuld, Erkenntnis, Bekenntnis, Leid, Mitleid und Erlösung;
„keinesfalls kann der Sinn des ungeheuren Lebensdramas paradie-
sisches Behagen sein".
Diese Auffassung von der Bedeutung der Welt ist nach Wag-
ner das wahre Christentum: „Nur die dem Mitleiden entkeimte
und die im Mitleiden bis zur vollen Brechung des Eigenwillens
sich betätigende Liebe ist die erlösende christliche Liebe, in die
Glaube und Hoffnung von selbst eingeschlossen sind." In diesem
Sinne hat Wagner Christ sein wollen; der Kirche hat er niemals
solches Christentum zugetraut und noch wenige Tage vor seinem
Tode sie als abschreckendes, warnendes Beispiel der Heuchelei
hingestellt. In welchem Sinne, das erklärte er drei Jahre vorher:
„Dass wir Kirche, Priestertum, ja die ganze Erscheinung des
Christentums schonungslos dran geben, dies geschieht um jenes
Christus willen, den wir uns in seiner Reinheit erhalten wollen."
(Chamberlain, S. 121.)
V.
So äußert sich Wagner über das Christentum ; was hat dazu
das Christentum zusagen? Hier muss nun mit aller Bestimmtheit
festgestellt werden, dass Wagner den Sinn des Christentums nie-
mals ganz verstanden hat, wenn er auch echt christliche Gedanken
tiefer erfasst hat als viele, ja als die offizielle Kirche; wo er aber
glaubt, das Christentum im Innersten zu verstehen, da fühlt und
predigt er — den Buddhismus.
Als Feuerbach und der revolutionäre Optimismus das Christen-
tum bekämpften, da war es ihnen eine Freude, darzutun, dass es
von Haus aus grundsätzlich weltverneinend, kulturfeindlich, leben-
tötend und also in einer lebensfreudigen Menschheit nicht zu
brauchen sei. In diesem Sinne hat, wie wir hörten, der Künstler
sich einst am Kampfe beteiligt. Dann hat Schopenhauer, mit
Berufung auf Feuerbach, gerade diese weltverneinende Tendenz
des Christentums als sein Wesen, aber auch als die innerste Wahr-
heit des Weltsinnes erkannt und verkündet, und mit ihm hat
Wagner die Kreuz- und Leidenslehre als das Mysterium seiner
Kunst aufgenommen und gepflegt. Um eben dieser Weltverneinung
willen hat bekanntlich Nietzsche das Christentum durch sein kräf-
350
-tiges, herrisches Ja zum Leben überwinden wollen und Wagners
Bekehrung als einen Komödiantenfall behandelt.
Hier wirkt also Gunst und Mass der Parteien und Personen.
Eine ruhige geschichtliche Betrachtung aber zeigt, dass das Christen-
tum von Haus aus in seinen großen Vertretern und seinem Wesen
nach nicht asketisch und lebensfeindlich ist.
Jesus erwartete das nahe Weltende, das kommende Reich
Gottes. Aber das Reich Gottes ist ja das ewige Leben, das Jesus
gar auf der Erde erwartete. Über das Aussehen dieses Reiches
hat er sich keine Gedanken gemacht; er teilte da die Vorstellun-
gen seines Volkes. Zum Eingang in dieses Reich ist gar nichts
anderes nötig als völlige Hingabe des Herzens an Gott als die
heilige Liebe und liebevolle Hingabe an die Brüder, und das Reich
ist gar nichts anderes als das sieghafte Hervortreten dieser Gottes-
und Liebesgemeinschaft auf der Erde. Wenn es gilt, diese Hin-
gabe und die Botschaft vom kommenden Reiche zu vertreten, da
soll man freilich hinzugeben bereit sein Geld, Recht, Weib und
Kind, auch sein Leben, wie er selbst um deswillen auch das Kreuz
auf sich genommen hat. Die bestehende Rechtsordnung, die
jüdische Kirche, das Römerreich, Eigentum und Ehe hat er nicht
verworfen ; diese Dinge hat er einfach bestehen lassen, bis Gottes
Ordnung kommt. Sein Wort über die Ehe will keine Rechts-
ordnung schaffen, allerdings auch nicht Ehe und Geschlechtstrieb
verwerfen, sondern die Frau vor der Willkür der Ehescheidung
schützen, im Reich Gottes hört freilich der Geschlechtstrieb
auf, nicht aus Lebensverneinung, sondern einfach, weil keine Fort-
pflanzung mehr nötig ist. Im übrigen war Jesus kein Asket wie
der Täufer, sondern gerne da, wo die Menschen fröhlich waren;
einen Fresser und Weinsäufer hat man ihn deshalb gescholten.
Die Brüder Jesu und die Apostel, auch Petrus, sind noch als christ-
liche Missionare verheiratet gewesen und haben ihre Frauen nicht
verlassen, sondern mit sich genommen (L Korinther 9,5). Eine
positive Wertung der Kulturgüter war allerdings weder bei Jesus
noch bei der Urgemeinde möglich; man wartete eben der zukünf-
tigen Welt; auch trat der römische Staat ihnen bald feindlich
genug gegenüber, und die damalige Kultur und Kunst war mit
Götterkult und Lüsternheit vielfältig durchsetzt; Verfolgungen ver-
langten immer wieder Hingabe aller Lebensgüter, doch wurde
351
niemals das Martyrium an sich als gottgewollt hingestellt; der
Glaube an die Auferstehung des Fleisches zeigt, dass man auch
im Gottesreich ein ganz reales Leben erhoffte.
Eine eigentliche asketische Moral, eine Verurteilung des Erden-
lebens als solchen, eine niedrige Einschätzung, ja Verwerfung des
Geschlechtslebens kam nicht vom Christentum her, sondern von
der damaligen Philosophie, vom Neuplatonismus und Neupytha-
goraismus, von jener Gesamtweltanschauung, die die Materie als
das Gott- und Seelenfeindliche, den Leib als Kerker der Seele
betrachtete, auch schon durch Enthaltung von Wein- und Fleisch-
genuss sich der Sinnlichkeit möglichst zu entziehen trachtete, wie
etv/a Seneca. Diese Anschauung ist dann auch ins Christentum
eingezogen, schon bei Paulus, der die Ehe sichtlich unterschätzt
wie so viele christliche Heilige nachher. Aber die herrschende
Lehre der Kirche hat niemals anerkannt, dass Materie, Kultur,
Staat, Ehe und Eigentum etwas Gottwidriges sei; auch im Berufs-
und häuslichen Leben lässt sich selbst nach katholischer Lehre
Vollkommenheit erwerben. Kultur und Luxus sind so weit be-
rechtigt, als sie zur Hebung der Würde des Menschen gepflegt
werden — das ist der Grundsatz des heiligen Thomas von Aquino
in diesen Dingen i). Der Weg durch Askese, Ehelosigkeit und
Kloster ist nur der heroische, .weil in ihm die Herrschaft des
Geistes über die Materie unmittelbar zum Ausdruck kommt. Doch
lässt sich hier eine Unterschätzung der Sinnenwelt nicht leugnen.
Der Protestantismus aber hat mit Bewusstsein den bürgerlichen
Beruf geheiligt und erklärt, dass die treue Pflichterfüllung des
Fürsten wie der Stallmagd ein Gottesdienst sei, Gott wohlgefälliger
als selbsterwählte Geistigkeit. Die Erdengüter soll man dankbar
als Gaben Gottes genießen und als Vorgeschmack dessen, was
Gott uns noch schenken will. Bleibenden Wert haben nur die
geistigen Güter, Friede und Freude in Gott, Treue, Wahrhaftigkeit,
Geduld und vor allem die Liebe, das Band der Vollkommenheit
mit Gott und den Menschen. Diese Güter sind freilich wertvoller
als alle Kultur; um ihretwillen muss man auch auf die Kultur
verzichten oder die Kultur reformieren. Dieser Güter kann man
hier schon froh werden, aber wir leben hier im Stande der
^) Vergleiche M. Orlich, L'uso dei beni nella morale di S. Tommaso.
Preiburger Dissert. 1913.
352
Unvollkommenheit, des Kampfes und des Ausharrens, des Leidens
und Verlierens und warten darum auf einen ewigen Besitz. Aber
nicht die Welt, das Leben und die Wirkhchkeit soll man fliehen,
sondern die Sünde, das heißt die Übermacht des Sinnlichen über
den Geist, die Unlauterkeit, Untreue und Selbstsucht.
Aufs ganze gesehen ist das Christentum Lebensbejahung,
denn es will das ewige Leben, das hier schon anbricht und nie
vergeht. Vor allem glaubt es an einen lebendigen Gott, den Hort
und Quell alles physischen wie geistigen Lebens. Das Dasein ist
kein Abfall, sondern eine Schöpfung Gottes, die durch Unvoll-
kommenheit und Kampf zur Gottesgemeinschaft führen soll.
Hingegen ist freilich Lebensverneinung der Sinn des Buddhis-
mus. Schopenhauer und auch Wagner haben bewusst an ihn
angeknüpft — im Parslfal hat Wagner Züge der buddhistischen
Legende verwertet, die er eigentlich in einem ganz buddhistisch
gemeinten Drama Die Sieger verwenden wollte. Allerdings ist
nun Parsifal entschieden christlich gehalten. Man könnte also
dies Werk als einen Versuch betrachten, Christliches und Bud-
dhistisches zu vermählen, um die „einst der christlichen Offen-
barung zu erblühende neue Religion" zu schaffen. Doch hat sich
Wagner in Religion und Kunst deutlich genug über die beiden
Religionen und ihr Verhältnis ausgesprochen ; da hören wir denn,
dass beide Religionen inhaltlich gleich seien:
Die tiefste Grundlage jeder wahren Religion sehen wir in der Er-
kenntnis der Hinfälligkeit der Welt und in der hieraus entnommenen An-
weisung zur Befreiung derselben ausgesprochen.
Das Wesen der Religion wird hier also lediglich in seiner
Negation des Wirklichen gesucht, und dies ist eben der Grundzug
des Buddhismus, während das Christentum positive Güter kennt:
Gott und das ewige Leben. Den Unterschied zwischen Christen-
tum und Buddhismus sieht nun Wagner lediglich darin, dass
Buddha es nicht verliehen war, seine Lehre in einfacherer Form
ans Volk zu bringen, während Christus es den Armen und den
geistig Armen zum Verständnis brachte und zwar durch sein Kreuz.
„Christus war nicht weise, sondern göttlich, seine Lehre war die
Tat seines freiwilligen Leidens." Wäre das Christentum bei den
Armen geblieben, es wäre wohl rein geblieben ; die Reichen haben
es künstlich und dogmatisch gemacht. Und darum soll eben die
353
Kunst, die ja ehrlich nur Schein, Veranschauh'chung sein will, das
Christentum wieder ehrlich und einfach machen.
In Wirklichkeit muss man sagen, dass eine Aufführung des
Parsifal gewiss nichts einfaches, sondern ein raffiniertes Kultur-
werk ist. Für das Volk wäre das Werk auch nicht verständlich,
wenn es auch allen zugänglich gemacht würde. Für das Volk
wird die Anschauungslehre Christi, seine Gleichnisse und sein
Kreuz doch immer der beste Weg zu tieferer Erkenntnis bleiben.
Aufs Volk kann Wagner immer nur indirekt durch die Verinner-
lichung der obcrn Schichten wirken, deren Art sich dann auch
weiter verbreiten würde.
Aber dem, der Wagner in sich aufzunehmen versteht, ge-
danklich und künstlerisch, dem hat er viel zu sagen, auch dem
Christentum!
Zunächst hat das Christentum in seinem ernsten Werben um
die Seele der Menschheit in Wagner einen kräftigen Bundesge-
nossen: erstlich in dem Ernst, mit dem er das religiöse Problem
umfasst: „Wir Deutsche nehmen es mit der Religion ernst!" dann
in dem absoluten Wert, den er der Religion zuschreibt: Menschen-
würde beruht ihm durchaus auf der Religion, und „der Antrieb
und die Kraft zur Regeneration kann nur aus dem Boden wahr-
hafter Religion erwachsen". Zu dieser Religion gehört ihm wesent-
lich die absolute Forderung einer moralischen Weltordnung:
Schuld, Leiden, Mitleid und opferfreudige Liebe, ohne die es keine
Erlösung gibt: „Die Anerkennung einer moralischen Bedeutung
der Welt ist die Krone aller Erkenntnis." Aller Kulturseligkeit
gegenüber ruft er das tiefe Leiden in der Welt eindringlich in die
Seele und weckt die Sehnsucht nicht nur nach dieser und jener
Verbesserung, sondern nach weltumfassender Erlösung. Von der
Künstlichkeit ruft er zu einfacher naturgemäßer Lebensführung;
immer wieder fragt er, ob denn die Menschheit nur durch Gesetz,
Verbot, Gewalt, Eigennutz und nicht durch Liebe und gemein-
same Not zusammengehalten werden könne? Wir sollen das Un-
zureichende der bloßen Rechts- und Eigentumsordnung fühlen.
Er weckt warmherziges Mitgefühl mit allen, die da leiden, nament-
lich auch mit denen, die unter der Übermacht des Sinnenlebens
und der Sinnlichkeit leiden. Die Ehe lehrt er verstehen als das
heiligste Band zwischen Menschen, wo es auf Wahrheit, auf Liebe
354
gegründet ist, und eben diese Wahrheit will er mit heraufführen
helfen. Bei allem Pessimismus lehrt er hoffen und siegesfreudig
im Vertrauen auf die Macht eines heih'gen Willens Hand anlegen
zur Regeneration der Menschheit. Die Kunst hat er mit in diese
Aufgabe gestellt und ihr damit einen wertvollsten Inhalt gegeben,
ohne ihre Eigenart zu verkehren. Dem Christentum hat er eine
tiefsinnige Deutung verliehen und die Symbolik seiner Lehre und
Bräuche, wie er sie empfand, zum edelsten Ausdruck gebracht.
In der Tat kann und soll das Christentum vieles von ihm
lernen. Wo es sich zu eng verbindet mit herrschenden Staats-,
Gesellschafts- und Erwerbsformen, wo es zu behaglich im Welt-
strom dahinschwimmt, wo seine Liebesforderung zur Phrase wird,
wo es keine Opfer mehr fordern und bringen will, wo es an die
Wahrheit und Verwirklichung seiner Ideale selbst nicht mehr glaubt,
wo es nur flache Moral oder bloße Existenzverbesserung verlangt,
da kann es Wagner in die Tiefe und zu neuem Heroismus rufen.
Wo es Kunst und Schönheit verachtet, wo es Geschlechtsverkehr
und Sinnentrieb, körperliche Werte und Gesundheit bei Seite liegen
jässt und sich um deren Wertung nicht kümmert, da zwingt es
Wagner, auch diese Dinge unter religiösen Gesichtspunkt zu stellen
und ihre Bedeutung ernstlich anzuerkennen.
Überhaupt will mir scheinen, oder ich möchte hoffen, dass
Wagner recht hat, wenn er die Menge den Meister Hans Sachs
mit seinem Liede begrüßen lässt:
Wohlauf, es nahet gen den Tag!
Männer wie Feuerbach, Schopenhauer, Nietzsche, Häckel,
Drews und der Monismus, und wieder Jatho und Traub haben
das religiöse Problem so aufgerüttelt, dass es nicht zur Ruhe
kommen kann. Draußen und daheim ringt das Christentum mit
Buddhismus und Pantheismus; die Menschheit ruft nach Religion,
wenn es sein muss, nach einer neuen Religion: das Christentum
muss sich jetzt vertiefen nach innen und neuen großen Geist be-
währen nach außen. Es muss lernen von Feind und Freund,
vor allem aber seine besten eigenen Kräfte erwecken, den Glauben
an die ewige Liebe und das ewige Leben. Und die Kulturvvelt
sieht mehr und mehr ein, dass irgend eine Hilfe von innen her-
aus kommen muss. Herrscht trotz alledem in und außer der
355
Kirche eine erschreci<ende Gleichgültigkeit, so muss ein Wagner
der Kirche und der Gesellschaft zurufen:
He ho, Waldhüter ihr,
Schlafhüter mitsammen.
So wacht doch mindest am Morgen!
ZÜRICH A. MEYER
LITERATUR: Außer R. Wagners Schriften, Dramen und Briefen sind
aus der reichen .Wagner-Literatur besonders hervorzuheben : Abbe Marcel
Hebert, deutsch von A. Brunnemann : Das religiöse Gefühl im Werk Richard
Wagners. 1895. — H. Dinger, Richard Wagners geistige Entwicklung. 1892. —
H. Lichtenberger, Richard Wagner, der Dichter und Denker, aus dem
Französischen. 1899. — R. Louis, Die Weltanschauung Richard Wagners.
1898. — O. Hartwich, Richard Wagner und das Christentum. 1903. —
W. Vollert, Richard Wagners Stellung zur christlichen Religion. 1906. —
H. Weinel, Jesus im neunzehnten Jahrhundert. 2. Auflage. 1907. — Otto
Schmiedel, Richard Wagners religiöse Weltanschauung (Religionsgeschicht-
liche Volksbücher). 1907. - H. St. Chamberlain, Richard Wagner. 1896.
Für mich sind außer Wagners eigenen Schriften namentlich die drei letzt-
genannten bestimmend gewesen.
DDO
DU LICHT GEWORDNER KINDERTRAUM . . .
Du Licht gewordner Kindertraum,
Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,
Nun strahlst aufs neu mit deinen Kerzen
Du hell in alle Menschenherzen,
Und willst aufs neu mit goldnem Scheinen
Glückselig alle Menschen einen.
Du Licht gewordner Kindertraum,
Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,
Beim Klange deiner trauten Lieder
Erglänzen ferne Zeiten wieder.
Und aus der Stunden wildem Reigen
Lässt du der Liebe Wunder steigen.
Du Licht gewordner Kindertraum,
Nun leuchte weithin in den Raum
Und lass im tiefen Kampfgetriebe
Jedweden fühlen, dass die Liebe
Aus deinem strahlenden Qeäste
Die Menschheit ruft zum schönsten Feste.
JOHANNA SIEBEL
ODD
356
DIE SEELE DES KÜNSTLERS
Der Quell des künstlerischen Schaffens ist unergründlich wie
die lebendige Kraft, die Seele, die in uns lebt und aus uns wirkt.
Die mehr oder minder individuelle Färbung, die sie annimmt,
so lange sie mit dem Individuum verbunden ist, wird auch nie
ganz ableitbar sein ; ein ungelöster Rest bleibt in der Rechnung
bestehen.
Immerhin ist es für das Urteil über die Bedeutung eines
Künstlers von Wert, nachzuforschen, woran es liegt, dass das
Werk des einen auserlesene Volks- und Zeitgenossen mehr be-
glückt als das eines andern. Zu diesem Zweck wird die Auf-
stellung einer Grundfrage eine gute Handhabe bilden: drückt sich
im Lebenswerk eines Künstlers sowohl seine Stammseele, als auch
die Zeitseele, die auf ihr zu einem neuen und förderlichen Ver-
hältnis Schichten ansetzte, in hervorragender Weise aus?
Vollkünstler sind gleichzeitig — abgesehen davon, dass sie
in hochgestimmten Zeiten zu zeitlosen Kündern und Deutern
werden — verdichtetes Volkstum und verdichtete Zeit. Es gibt
ziemlich viel Künstler, die ersteres in einem schönen und starken
Sinne sind, denen aber das andere abgeht. Ihre Schriften und
Bilder lösen wohl Glück in uns aus, indem sie uns die Kraft und
Schönheit unseres völkischen Wurzelbodens froh ins Bewusstsein
rufen und uns an die gemeinsame Stammesart erinnern. Hierzu
gehört auch die gute Heimatkunst. Obwohl nun manche ihrer
Werke in einer gewissen Hinsicht Dauerwert haben und immer
wieder körnigen Samen fliegen lassen, befriedigen sie unser
höchst gespanntes Kunstverlangen nicht vollauf. Der Geist, der
sie beherrscht, ist zumeist einer, der sich bescheidet; auch wenn
er unbescheiden auftritt! Wir können solche Werke schätzen,
ja lieb haben; überwältigt oder durchschauert sind wir nicht
von ihnen.
Andere wieder sind ganz Zeitseele mit all ihren Gesten und
Nuancen, die sie sich rasch angeeignet haben. Sie fröhnen dem
augenblicklichen Kunstgeschmack, aber ihre Werke, die mit klei-
nen und kümmerlichen Wurzeln den Zeitboden weit und breit
bedecken, dass er nach etwas aussieht, werden mit der nächsten
357
Zeitschicht, die sich auf die ihrige legt, rettungslos begraben. Sie
nennen sich jeweils die Modernen und meinen, vor den früheren,
selbst den größern Meistern, schon deshalb die Zukunft voraus
zu haben, weil sie nach ihnen auf die Welt kamen. Als ob
das Neue an sich immer besser wäre, als Älteres! Das hat seiner-
zeit Shakespeare erfahren müssen, von Geringeren, die ihm auf
dem Fuße folgten. Diese Art von Künstlern mit ihrem Anhang
besitzt oft nichts, als den Zeitgeist. Sie ahnen es vielleicht und
betonen drum' nachdrücklich die seligmachende Art ihrer Gene-
ration, nach der sie alles Frühere und Gegenwärtige messen.
Hierzu gehören unter andern diejenigen unter den Impressionisten,
die in nichts einen eigenen Ton und mit ihren Meistern nur das
gemeinsam hatten, dass sie an das rein Malerische glaubten, so
wie es unter den Literaten Leute gibt, die beständig das rein
Dramatische, rein Lyrische oder rein Epische im Munde führen,
als ob sie das Schema für diese Formen in Händen hätten.
Es gehört zur Aufgabe des Künstlers, die Ideen und das sich
dunkel Gestaltende seiner Zeit zu formen. Zur klaren und in
spätere Zeiten hinüberwirkenden Form wird nur der kommen,
der sie gründlich und intensiv in sich erlebt. Und so geht eine
vollere und tiefere Beglückung nur von den Werken solcher
Künstler aus, deren Seele auf dem triebkräftigen Boden alten,
bewährten Volkstums die neuen Schichten der werdenden Zeit
treu verarbeitet, in vergangenen Kulturen unbewusst wurzelnd
wachsen sie langsam und sicher in die Licht- und Schattenwelt
der Gegenwart hinein und erheben sich zu einem Wipfel, der voll-
lebendig und fruchtschwer in die ferne Zukunft hineinragt. Und
wenn Zeiten kommen, die sich von ihnen nicht mehr befruchtet
fühlen — eine neue Welle hebt sie wieder so mächtig in den
Vordergrund, als ob sie vom Tage wären. Auch das Verständnis
eines Kunstwerkes ist vor allem dadurch bedingt, dass der Ge-
nießer gleichzeitig mit dem Künstler aus dem selben Volk stammt
und eine ähnliche Zeitseele ansetzte. Dass man aus dem gleichen
Volke sei, ist wichtiger, als man gemeinhin annimmt. So wird
die Kunst der Alemannen, um ein Beispiel zu bringen, die eine
Hauptwurzel in der Phantasie hat, vielen städtischen Norddeut-
schen nur vermittels des Intellektes verständlich, weil sie mehr
auf Beobachtung und Stimmung abgestimmt sind. Hier, im rein
358
Geistigen, ist das Band, das entgegengesetzte Völker und Stämme
zu einer Einheit zu binden vermag. Die Scholle des anderen
wird als gegeben betrachtet; was auf ihr wächst, ist Gemeingut
der Zeit. Tritt zu diesetn geistigen Verständnis das gemütliche
und völkische hinzu, erwächst ein volles, was immerhin zu den
Glücksfällen gehört. So ist es mit unserem Lied, das seine Höhe
erreicht, wenn uralte Klänge sich mit einem neuen Rhythmus,
einer neuen Färbung harmonisch verbinden. Nur die deutsch
gefärbte Einfalt kann jenen unmittelbar Gehör geben, und nur wenn
sie gleichzeitig voll der Gegenwart zugewandt ist, sich von diesen
durchschauern lassen. Aber vermöge seines Rhythmus macht
unser Lied auch auf andere Völker und andere Zeiten Eindruck.
In aller wirklichen Kunst, aus dem Boden der Heimat in die Luft
der Welt gewachsen, zittert ein Etwas, das zu allen spricht, denn
bei aller Verschiedenheit ist in der Struktur des Innenlebens und
Außenlebens der Menschen ein Gemeinsames.
ZÜRICH E. von BODMAN
KUNST EIN WEG
Du hast um deine stolze Kunst gerungen
Wie Jakob an der Furt mit Gottes Engel !
Du bebtest auch, wenn immer gleiche Mängel
Dich, Wölfen gleich, im Rücken angesprungen.
Was eine Glocke ohne Stuhl und Schwengel
Sind Gaben ohne Willen, ungeschwungen
Bleibt ihr Metall, ihr Lied, ach, ungesungen:
In Dornenhecken dorren Palmenstengel.
Die Kunst ist Arbeit, Arbeit. Nie gelingt
Ein Werk im Schwung, im Schwall, im Lotterglücke:
Genie ist Fleiß, der in die Tiefe dringt.
Kein Dichter sang je wie der Vogel singt.
Erst wer bezwang der Gegenstände Tücke
In Lust bewusst ist Meister unbedingt.
HERMANN BURTE
Aus dem Bande vortrefflicher Sonette Die Flügelspielerin, der vor kurzem im Verlag
Gideon Karl Sarasin in Leipzig erschienen ist.
O □ □
359
SUR L'AVENIR DE L'ART
L'Art, dans son sens le plus eleve, est une superieure puis-
sance d'aimer et de connaTtre, par l'amour, la mysterieuse beaute
des choses. 11 est aussi la faculte tres noble de refaire en esprit,
meme sous l'apparence des formes passageres, l'oeuvre de la
nature. 11 est encore, dans un sens beaucoup plus etroit, la
faculte de transformer la matiere au gre de cet esprit, le
don, mis aux mains du tenace ouvrier, de traduire en formes
pures les sensations et les reves de l'artiste. 11 ne faut ä aucun
prix dissocier ces deux sens de l'Art, ces deux forces, sous peine
d'immobilite intellectuelle et, par consequent, de neant. L'emotion
est independante de l'effort et anterieure ä l'effort; mais en de-
hors de cette culture obstinee qui est le travail, eile est infor-
mulee et morte. En revanche, oü l'emotion manque, oü l'idee
est absente, le plus beau metier du monde ne saurait galvaniser
ce cadavre, l'oeuvre sans foi.
L'Art est donc bien, ä l'origine et avant tout, une emotion,
mais une emotion qui prend conscience d'elle-meme. C'est en-
core, si l'on veut, de l'instinct en action, mais un instinct que
tout notre effort comme toute notre noblesse consiste ä elever
Sans cesse. Les arts divers ne sont que les resultats apparents
et differents de cet effort, l'ensemble des formes exterieures
qu'anime l'interieure flamme de certaines ämes privilegiees. Pour
celles-lä, c'est intellectuellement l'intense besoin de dire tout haut
ce qui murmure en elles; c'est moralement la superieure neces-
site de s'elever au dessus des necessites et la mission d'en arra-
cher les autres. L'Art, en ce sens, n'est qu'une ascension con-
tinuelle. Et les arts plastiques, poesie et musique, pour distincts
qu'ils soient dans leurs applications, ne sont que les manifesta-
tions diverses d'un sentiment unique, d'une verite pour ainsi dire
centrale, parce que sans cesse ils tendent, par des moyens dis-
semblables, ä une supreme unite d'ideal qui est l'expression de
la vie. En ce sens, on peut bien dire que les arts ne sont que
des formes plus rares de sentir et de veritables „recreations" de
vie en formes, en couleurs, en sons, en idees.
Mais il ne faut pas se meprendre sur le sens profond de ce
mot d' ideal: l'ideal n'exprime que le droit, et partant, le devoir,
360
pour tout penseur, pour tout artiste, d'ajouter ä un acte d'humi-
lite, qui est la soumission premiere devant la nature, un acte de
volonte, qui est le jugement reflechi. Et me voilä revenu ä
mon affirmation premiere, ä savoir: que, pas plus qu'il n'y a de
pensee superieure sans un ideal, ou, en morale, de vertu sans
une genereuse action, il ne saurait y avoir, en art, d'oeuvre du-
rable sans un beau metier. Dans aucun temps, sous aucune
forme, une expression d'art ne s'est degagee entierement, defi-
nitivement, sans une science acquise la developpant du fond
obscur de l'incommunicable instinct; sans une volonte patiente
et reflechie qui puisse l'analyser; par consequent, sans un tra-
vail materiellement beau qui puisse la formuler. Et un beau tra-
vail, en precisant encore, est un travail parfaitement approprie
au resultat voulu par l'artiste et aux conditions memes de son
ouvrage, et non une formule uniforme imposee ä tous les talents
divers; et puisque les artistes ne peuvent, dans l'infirmite de leurs
moyens, que traduire par des formes passageres et des moyens
contingents i'imponderabie force qui leur fait voir, entendre et
penser, ils sont reduits, pour faire oeuvre vivante, ä essayer de
rendre du moins la plus pure possible et la plus perfectionnee,
l'enveloppe materielle qui servira d'intermediaire ä ces idees. Je
crois que les grands artistes sont ceux qui ont accepte sans peur
ce combat de la forme et de l'idee et qui se sont attaches de
bonne heure ä vaincre l'obscure resistance des choses, ä faire
tour ä tour de la matiere une esclave, une complice, une amie.
Le passe tout entier, d'ailleurs, temoigne de la verite de cette
affirmation: que rien ne s'est fait de durable en art, sans l'enve-
loppe et pour ainsi dire la protection d'une forme belle; et si
les luttes et jusqu'aux defaillances modernes ne suffisaient ä en
demontrer la necessite, c'est que l'art, par son ideale essence,
serait destine ä perir un jour de la victoire du reel ou plutöt,
se spiritualisant de plus en plus au milieu d'un univers fa(;onne
par une science de plus en plus positive, devrait finir et dispa-
raitre, faute de pouvoir trouver une forme qui le contienne et
un labeur qui le formule. Et ce n'est lä pas une illusion, car, ä
regarder l'histoire sous cet angle particulier, de l'epoque la plus
lointaine jusqu'ä nos jours, toute la genealogie des idees appa-
rait parfaitement claire, de l'art le plus simple au plus complique,
361
du plus reel au plus spiritualise, du plus materiel au plus psy-
chique, et j'entends de l'architecture, le premier-ne des arts, qui
peut et qui doit les contenir tous, au dernier venu, la musique,
qui est comme Tefflorescence de tous les autres. Tous varies,
tous semblables, ils obeissent ä la meme loi; ils s'enchainent
dans l'histoire; ils se lient et se suivent dans une sorte de pro-
gression en esprit, qui n'est sans doute qu'une Hierarchie en
ideal. Ainsi le roman de l'art apparait comme un tres beau
livre et si bier; conduit qu'on pourrait conclure, tant la deduction
en semble logique et inevitable du commencement ä la fin du
volume, du passe de l'art ä son avenir.
Oui, l'avenir de TArt, ce grand inconnu en face de cet autre
inconnu qui menace d'enflammer le monde, l'avenir de la science!
Si ce dernier aujourd'hui, apres un subit progres moderne, pa-
ratt plus assure ä beaucoup, l'autre demeure encore une myste-
rieuse enigme oü se cache le probleme le plus haut peut-etre,
puisque sa Solution entrainerait en un sens celle du probleme
de l'äme! Quel sera ce demain de l'esprit, auquel travailient les
penseurs et les artistes? 11 n'y a, aujourdh'ui plus qu'autrefois, de
reponse absolue et definitive ä cette question. Chacun y repon-
dra Selon sa nature, toujours avec son sentiment personnel, mais
plus qu'autrefois peut-etre avec cette vague Intuition qui ressemble
ä i'instinct de l'oiseau pressentant l'orage. C'est en cela surtout
quela parole de Pascal est si vraie: „Le coeur a ses raisons que
la raison ne connait pas". J'ai grand'peur que l'art ne vieillisse
avec la joie, avec l'amour, avec la foi. Ce n'est pas, sans doute,
pour l'heure prochaine. Mais on sent venir le soir. La lumiere
vainement plus douce, plus doree, s'eteindra; et les fleurs d'äme
se fermeront dans la nuit.
Les groupes d'idees qui fönt les civilisations, les religions,
les philosophies, et, partant, les arts, doivent avoir, comme les
groupements d'hommes qui fönt les nations, une vie propre, sou-
mise ä la loi de toute existence particuliere, qui les fait ressem-
bler ä l'individu isole, et comme lui, naitre, crottre et decroitre,
et mourir. L'humanite, dans son ensemble, aura, en fin de
compte, ressemble au prototype, ä l'homme lorsque, apres etre
nee ä une vie collective, comme il est ne ä une vie personnelle,
eile aura grandi, progresse, puis vieilli, et s'eteindra, apres avoir
362
epuise sa raison d'etre. Je crois que le monde des idees est
regi par la meme force, et subit la meme destinee. Je crois que,
dans l'ordre de croissance de l'esprit, l'etat de conscience succe-
dera ä l'etat de croyance, c'est ä dire le savoir ä l'instinct. Et je
crois, par consequent, que, sous toutes ses formes, l'art, qui
n'est qu'un acte de joie perpetuel, sera remplace un jour par la
science qui, sous tous les aspects qu'on puisse supposer, ne sau-
rait etre qu'un acte de raison progressif. Encore est-ce s'exprimer
avec une incertaine impropriete de termes que de dire que l'art
sera remplace par une autre forme de l'esprit humain ; il en sera
suivi, comme l'aurore est suivie du jour. La virilite d'un homme
ne supprime pas son enfance; eile en est l'eclosion, l'aboutisse-
ment logique. 11 se peut que l'art, cette parure d'un monde en-
core jeune, cette joie d'une humanite — enfant, ait contente
pendant des siecles et charme encore un temps cette pauvre
humanite qui devient adulte, mais qui veut encore, avant les
heures crueües, plus de parfums que de pensees, plus d'amour
que de preuves. L'äme aura ete la fleur du monde ä qui le fruit
de l'äme symbolique est promis. Le monde, au jour final, le
monde arrive ä sa conclusion gardera t-il trace des promesses
parfumees de l'origine?
En tous cas l'art est encore trop intimement lie ä la vie
sociale des peuples pour qu'une revolution scientifique, meme
tres violente, Ten deracine si vite. La chose arrivera, c'est infi-
niment probable; mais ce sera long: le Beau resistera tres long-
temps. Des Ideals, ce sera sans doute le dernier vaincu. Et, en
attendant, nos societes vieillissantes s'y rattachent, avec une exa-
geree passion, comme ferait une mere pour un enfant delicat,
dejä malade. Le chätiment certain, fatal de cette affection oulree,
c'est la decadence. D'aiüeurs le temps marche, et l'homme est
invinciblement pousse vers la verite prouvee, vers la science posi-
tive, dont la verite sensible, c'est-ä-dire l'art, n'aura ete qu'une
preface, une sorte de longue et merveilleuse enfance. On pourrait
dire que, pour l'homme de l'avenir, la Beaute n'aura ete que la
promesse de la Verite future. En attendant, notre civilisation
si belle est trop agitee, inquiete et maladive, ce qui est un signe
de vieillesse. Une societe trop affinee, trop sensible est müre
pour la decadence. 11 en est des races comme des individus; la
363
plus grande activite cerebrale n'est obtenue qu'aux depens de la
moelle. Le monde est, dans la passion de l'art qui Tanime, toute
cerebrale et si peu emue, plus curieux de ses manifestations
bruyantes et amuse de ses bizarreries, qu'epris de sa grandeur
veritable et de son but moral.
Quoi qu'il en soit, il semble qu'il ne faudrait pas negliger
cette renaissance momentanee du goüt pour les choses intellec-
tuelies, et belies, et delicates. C'est au moins un arret dans la
descente ä l'universelle mediocrite que nous prepare la demo-
cratie — pour le plus grand bien-etre des hommes, sans doute,
mais combien peu pour la beaute de l'etre! — La necessite
de l'avenir, est-ce donc la tristesse dans l'uniformite — ce qui
est bien le vrai sens de la satisfaction dans l'egalite? Ce serait
ä desirer les barbares, en verite! mais ils viendront sans qu'on
les appelle, seulement sous une tout autre forme. Les barbares
d'autrefois seraient encore trop beaux pour nous. C'etaient les
Huns aux longs cheveux, les Goths puissants, les Celtes robustes,
au poil blond, brisant les cheres images avec une süperbe igno-
rance, heroiquement brutes et triomphalement enfants! 11s infu-
saient aux peuples las de servitude heureuse un beau sang jeune
et sain. 11s apportaient quelque chose du vent vivifiant des forets
primitives. Les nouveaux barbares, les nötres, seront les epuises
de la civilisation, les infirmes du progres, les desherites de l'intel-
ligence, toute cette maree montante des ouvriers, exploites par
l'egoisme, meurtris par la vie, uses par la machine; tous les
souffrants sans Illusion, tous les pauvres sans foi, päles et
tristes. Legitimement impitoyables pour l'inutile reveur, logi-
quement las des superiorites, ils elimineront avec tranquillite toute
exception, penseur ou artiste. Soupgonneux de l'esprit, jaloux
de la joie, inquiets de la beaute comme d'une derniere resis-
tance et, par dessus tout, consequents avec leur Haine et leur
misere, ils briseront les reves esthetiques dans les oeuvres d'art,
indifferents aux belles choses, meprisant d'instinct tout ce qui est
noble et elegant et ne demandant qu'ä l'ignorer et ä le detruire,
ces vains temoins du besoin d'aimer dans l'infini!
Et l'Art n'y pourra rien, puisque la machine du monde en
marche broie les reves superieurs avec leurs inutiles resistances.
Le poete, le philosophe, l'artiste sont les eternels vaincus. Qui
364
sait pourtant si de ces defaites successives ne se fait pas secrete-
ment, patiemment, !a victoire future, et de ces minorites accu-
mulees, la souverainete? Au surplus, en attendant les barbares,
il n'est pas sans quelque plaisir raffine de parier de formes ai-
mantes, de couleurs heureuses, de sons reconfortants ! Des
artistes enfermes dans leur tour d'ivoire peut venir encore peut-
etre une parole de consolatlon et de joie au public assemble dans
ia rue. Ecoutez leurs paroles, leurs chansons, mais sans les
analyser. 11 ne faudrait pas juger les hommes que pour Tutilite ou
le Charme de leur parütion dans le concert universel. II ne faut
pas aimer les oeuvres que pour ce qu'elles representent de verite
momentanee, mais d'amour eternel dans la continuelle evolution
des choses.
S'il est, en effet, une originale et saisissante conquete de
l'esprit moderne en fait de methode intellectuelle ou scientifique,
c'est bien celle qui consiste ä expliquer par l'evolution les lentes
transformations des etres subissant l'influence des milieux. L'his-
toire des idees doit obeir ä la meme loi. En l'appliquant ä
I'histoire des arts, on pourrait peut-etre mieux montrer la mar-
che de chacune des formes d'art dans l'humanite; comment ils
ont toujours et uniquement traduit les aspirations spirituelles et
embelli les besoins materiels — pour mieux dire trahi les habi-
tudes et reflete l'äme — de chaque groupe d'hommes ä l'origine,
puis de chaque cite, ä mesure que la race humaine s'organisait,
puis de chaque nation jusqu'ä nos temps; et comment aussi,
peut-etre, apres avoir ete un jour la meme expression, et sous
une forme plus universalisee puisqu'elle aura ete plus imma-
terialisee, d'une collectivite de plus en plus grande, ils sont des-
tines ä disparattre ou ä se transformer.
Et c'est en ce sens qu'ä cote des grands problemes so-
ciaux, se pose le probleme de l'Art l'avenir de TArt me parait
indissolublement lie ä ces hautes questions de religions et
de foi, de croyance et de verite; il n'echappera pas ä la terrible
loi d'unification que semble poursuivre la nature, et, comme eile
et au-dessus d'elle, la conscience humaine, poussees toutes deux
vers un but encore invisible, ä peine occupees de la continuation
de l'espece et de la continuite de l'idee, sans pitie pour l'individu.
Or, l'Art n'a jamais vecu que de diversite, que d'individualite.
365
Toute unite le tuera. La science abstraite en est purement la
negation. Cest de la perpetuelle bataille des idees personnelles
et des visions particulieres que nait la vie, en art, et qu'ont jailli
les belies renaissances apres les longs abaissements, mais non
le progres. Car il n'y a pas de progres artistique; il n'y a que
des reactions successives d'un extreme ä l'autre de l'idee, et des
etres qui passent, egaux en receptivite, pour ainsi dire, dans des
milieux difierents, et qui formulent ces reactions ä d'inegales et
imprevues distances. Et c'est bien lä, par Opposition ä la science,
toute la faiblesse de l'art dans un avenir con^u comme toujours
perfectible. Et c'est encore ce qui me fait croire que les arts,
apres avoir commence par etre materialistes, deviendront de plus
en plus spiritualises, se refugiant de plus en plus dans l'idee
pure, jusqu'ä ne plus chercher dans la matiere l'indispensable
point d'appui, et retournant d'abord au symbole d'oü ils sont
sortis, finiront, faute de pouvoir trouver une forme assez imma-
terielle de leur essence, par s'evaporer comme un trop subtil
parfum.
11 n'y a pas de progres en art. Qui oserait, par exemple, sou-
tenir un progres depuis les sculptures de Phidias ou de Praxitele
jusqu'aux plus belies statues modernes? Michel- Ange lui-meme,
stimule pourtant par l'ideal chretien, leur a-t-il ete superieur?
Non. Ce serait peut-etre que la forme meme de l'art du sculp-
teur, ou sa matiere, ne pouvait se preter aux transformations im-
posees par la complexite croissante d'un nouvel ideal. La beaute
morale exigee par une religion qui, apportant la pitie au monde,
allait le transfigurer, serait-elle exprimee dans le marbre ou le
bronze avec la meme perfection que l'antique serenite paienne?
Encore pas. Et ce serait encore que l'ideal de cet art de la
sculpture ayant ete rempli completement ä un certain moment
de l'histoire, l'effort de la Beaute absolue ä conquerir s'est trans-
porte dans une toute autre forme d'art, plus complexe ou plus
complete, comme on pourrait le dire, par exemple, de la pein-
ture qui, en ajoutant aux formes les couleurs, et en interpretant
les realites tangibles dans l'espace sur des surfaces planes et
conventionnelles, acquerait une sensibilite beaucoup plus grande
mais plus fragile ä la fois. Et voici que nous suivons ainsi tres
nettement la constante progression en ideal dont je parle.
366
En revanche, ne peut-on pas pretendre qu'on n'a jamais atteint,
ä d'autres äges, un sommet egal ä celui-ci: la neuvieme Symphonie
de Beethoven? La litterature meme n'est encore qu'une grandeur
nationale; la musique est dejä une langue universelle. C'est une
forte presomption en faveur de cette hypothese, que la Suprematie
artistique doit passer ä la forme d'art la plus capable de rendre
les sensations et de satisfaire les besoins spirituels de civilisaiions
de plus en plus complexes et tourmentees. Et si toutes les formes
d'art continuent ä coexister et ä etre exercees concurremment
dans toute societe organisee, un jour viendra oü, cette sorte de
principaute de !a pensee ayant passe successivement ä chacune
de ces formes de l'art, le cycle etincelant se fermera, ä moins
que les barbares ne viennent labourer si bien les champs rases
et les Coeurs las, qu'il puisse y germer de nouvelles moissons et des
desirs nouveaux. Dejä, dans les societes modernes, ebranlees et
vieilles surtout d'avoir trop vecu, s'eieve un parti mena^ant, ä
peine politique, avide, presse et logique, qui promet aux mise-
rables et aux desherites leur tour de jouir, apres la venue du
grand soir, et non plus aux humbles le royaume du ciel! Le
mot, pour etre d'une poesie farouche, est peut-etre plus vrai qu'on
ne pense. Le ciel du monde devient rouge, et si le soir doit
bientöt venir du grand jour que nous voyons, et la chute du
mouvement intellectuel que nous finissons peut-etre, l'Art se cou-
chera pour mourir, comme un grand Chevalier qui se couche
tout arme, et ne peut survivre ä la defaite de l'amour! Pour
mourir, ai-je dit? Pour dormir peut-etre, jusqu'ä ce qu'un genie
le vienne reveiller, un genie ou une foi!
11 n'y a, en effet, qu'une renaissance de la foi tombee qui
refera des arts. Hors d'une conception quelconque de la divinite,
il n'y a pas d'ideal possible et par consequent pas d'art. Et la
religion nouvelle, celle qui pretend s'imposer actuellement, n'a
vraiment pas encore accumule assez de preuves pour etre crue,
ni assez d'amour pour etre obeie. En attendant, l'Art se meurt,
comme bien d'autres choses, d'infidelite. Les preuves sont lä,
de sentiment ou d'histoire. Et ces preuves donnent ä l'histoire
de l'Art un charme particulier, noble et un peu melancolique,
pareil ä celui qui monte au coeur devant un beau coucher de
soleil, alors qu'on attend la nuit qui repose avec l'incertitude
367
vague et le secret espoir de voir recommencer le jour. L'Art est
comme ce soleil de vie. La suite de ses formes successives ap-
parait semblable ä la progression harmonieuse des annees dans
une longue existence. C'est une jouissance intellectuelle delicate
et profonde que de revivre ces belies heures du monde; et quo!
qu'il advienne de nos regrets et de nos reves, ii nous reste tou-
jours, de les avoir connues, quelque chose de grand dans Täme.
FRIBOURG P- BISE
DDO
NEUE GESCHENKBÜCHER :
Paul Ilg, Das Menschlein Matthias. Roman.
Jakob Schaffner, Die goldene Fratze. Novellen.
Adolf Frey, Neue Gedichte.
Alfred Huggenberger, Dorfgenossen, Neue Erzählungen.
Meinrad Lienert, Bergdorfgeschichten.
's Schwäbelpfyffli. Neue Ausgabe.
Albert Steffen, Die Erneuerung des Bundes, Roman.
Heinrich Federer, Jungfer Therese.
Jakob Bosshart, Erdschollen, Erzählungen.
Gottfried Keller, Der grüne Heinrich. Erste Fassung, Ausgabe für Bücher-
freunde.
Heinrich Leuthold, Gesammelte Dichtungen. Drei Bände.
Richard Dehmel, Gesammelte Werke in drei Bänden.
Thomas Mann, Der Tod in Venedig.
Arthur Schnitzler, Frau Beate und ihr Sohn.
Gerhart Hauptmann, Atlantis.
B. Kellermann, Der Tunnel.
Wilhelm Schäfer, Die unterbrochene Rheinfahrt.
Walter von Molo, Im Titanenkampf (Schillerroman).
Bergson, Künstlerische Entwicklung. — Das Lachen.
Rainer Maria Rilke, Rodln.
Karl Scheffler, Italien, Tagebuch einer Reise.
Architektur der Großstadt.
Romain Rolland, Jean Christophe. Zehn Bände.
Robert de Traz, L'homme dans le rang.
C. F. Ramuz, La vie de Samuel Belet.
Henry Bordeaux, La maison.
Rabindranath Tagore, Gitanjali.
Graber, Schweizermaler (Blaue Bücher).
Hodlermappe.
368
D D
□ D
THEATER UND KONZERT
□
D
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Eine
ernsthafte Uraufführung brachte uns
der 10. Dezember im Pfauentheater,
auf unserer kleinen Schauspieibühne;
die von Robert Faesis Tragödie Odys-
seiis und Nausikaa. Von dem Werk
ist in dieser Zeitschrift die Rede auch
schon gewesen. Die Premiere be-
scherte ihm eine überaus beifallreiche
Aufnahme. Man weiß: Faesi ist mit
der unsterblichen Episode der Odyssee
dichterisch sehr frei verfahren. Er
hat sich einen Odysseus konstruiert,
der es bis unmittelbar zur Vermäh-
lung mit Nausikaa kommen lässt, um
dann, plötzlich an sein Ithaka, an
Weib und Sohn und seine Pflichten
gegen sie erinnert (nicht sich selbst
erinnernd in quälend erwachtem
Schuldbewusstsein), den gastlichen
Herd und die liebliche Braut in
raschestem Entschluss preisgebend
das Schiff zur Flucht in die Heimat
zu besteigen, wobei er, um zu seinem
Ziel zu kommen, unbedenklich den
Sohn desAlkinoos tot hinstreckt, wäh-
rend Nausikaa im Meer sich ein Ende
aller Wirrnisse bereitet. Und Nau-
sikaa selbst wird beinah zu einer
zweiten Senta mit ihrer Meeressehn-
sucht, ihrer Verzauberung durch den
seltsam lockenden Mann vom Meere,
ihrer fast willenlosen, von einer über-
mächtigen Suggestionskraft getrie-
benen Hingabe an den Fremden. Weit,
sehr weit weg sind wir von Homer,
auch von Goethe, der, auf Sizilien
vor allem, so inbrünstig an einem
Nausikaa-Drama herumsann, dessen
Grundmotiv er später Schiller gegen-
über dahin definierte: „Die Rührung
eines weiblichen Gemüts durch die
Ankunft eines Fremden"; der aber
den im Schema durchgedachten, in
einzelnen wenigen Partien dichterisch
geformten Stoff, wie man weiß, nach
Weimar zurückgekehrt, hat liegen
lassen. Die Gestalt der Nausikaa,
die bei Homer nach dem wundersam
ergreifenden Abschiedsgruß an Odys-
seus: „dass du auch dorten meiner
gedenkest; denn sieh, ich half dir
gleich zu Beginne" und dem schönen
Versprechen des Odysseus, dass Nau-
sikaa ihm fürderhin als seine Lebens-
retterin eine der Himmlischen heißen
werde, aus unserm Gesichtskreis
entschwindet — die Gestalt der Nau-
sikaa weiterzu dichten, lockte Goethe.
Ihr Herz hat sie an den Fremdling
verloren, der sich erst als unver-
mählt ausgab, ohne zu ahnen, was
er damit für Hoffnungen in der Königs-
tochter wecke; wie nun wird sie die
Wahrheit, die Odysseus späterhin
den Phäaken, da er seiner Heimkehr
sich versichert weiß, nicht vorenthält,
ertragen? Sie kommt über die Ent-
täuschung nicht hinweg, und ihr Leid
treibt sie in die Fluten. Die tragi-
sche Wirkung dieses Endes gedachte
Goethe dadurch noch zu steigern,
dass er Alkinoos den Antrag des
Odysseus, seinen Sohn Telemachos
der Nausikaa zu vermählen, freudig
willkommen heißen u. schon von Aus-
stattung der Tochter und Hochzeits-
tag sprechen lässt. Statt dessen hat er
sein totes Kind zu beklagen. In den
Nausikaa - Fragmenten stehen am
Schluss die resignierten Verse: „Ein
gottgesendet Übel sieht der Mensch,
der klügste, nicht voraus und wen-
det's nicht vom Hause."
Das Wertvollste an Faesis Drama
scheint mir nach der Seite der lyri-
schent Stimmung zu liegen : das
Grauenvolle des Meeres gibt das
Kolorit ab. Die Mutter Arete warnt
gleich zu Beginn die Tochter vor
dem Meer: „wenn dich verlangt zu
träumen und Stimmen zu lauschen,
so gehe hinein in den Garten . . ."
Dieser Auftakt bestimmt das ganze
369
MMO
THEATER UND KONZERT
»OK)
Stück. Dass nicht nur Nausikaa, dass
auch der König, der an den alten
Satzungen des Landes, die keinen
Fremden am Land dulden, zu rütteln
wagt — man denkt an Kandaules,
wie bei den Reden des Ältesten an
den wackeren Thoas der Gyges-
Tragödie— , dass auch sein feuriger
Sohn gegenüber diesem grauenvoll
lockenden Elenient, das gewisser-
maßen in dem Fremden sich inkar-
niert, nicht auf der Hut sind, sich
ihm ausliefern, das führt das tragi-
sche Geschick über das edle
Königshaus hinauf. — Durch das
Balancieren des Dramas zwi-
schen Symbolischem und Realisti-
schem kommt ein Riss in das Stück;
denn zu einer vollen Stileinheit hat
Faesi die beiden Elemente nicht zu
verschmelzen vermocht. Sein Odys-
seus wird halb eine dämonische
Macht, halb ein verächtlicher Treu-
loser und Wortbrüchiger, und das
kraftvolle Ethos, das die Gestalt bei
Homer hat, verflüchtigt sich nahezu
ganz. Nicht zu verkennen ist auch,
dass die innere, die seelische Fort-
bewegung des Dramas eine klare
Linie nicht zeigt; dass sie von epi-
schen Zutaten stellenweise stark
überwuchert wird; dass mit recht
gewaltsamen Mitteln, wie dem uner-
warteten Erscheinen des Schiffes von
Ithaka her, die Handlung vorwärts
geschoben wird.
Die frei rhythmisierte Sprache
Faesis entwickelt an vielen Stellen
eine seltsam - fesselnde, lyrisch be-
schwingte Schönheit, die von echter
dichterischer Begabung und nicht
alltäglicher künstlerischer Kultur
zeugt. H. TROG
*
L'ETR ANGER A L'OPERA DE
GEN£VE. L'opera de Geneve peut
se permettre plus rarement que la
Comedie des tentatives interessan-
tes. Elles sont plus coüteuses, voilä
la grande raison. Et puis, s'il y a ä
Geneve un public litteraire etendu ;
si une elite nombreuse se presse
aux concerts, il faut dire que l'Opera
est moins bien partage et son pu-
blic se contente assez facilement de
Manon, de Carmen, de Mignon ou
dttieriodade^ voire meme de ces de-
plorables operettes viennoises que
l'on joue vingt ou trente soirs . . .
Cependant, ä la suite de diverses
protestations venant de critiques ou
de musiciens, la direction municipale
de l'Opera a inscrit ä son programme
entre autres l'Etranger de Vincent
d'Indy, Les Maitres Chanteurs de
Wagner, le Nlefistofele de BoVto et
quelques autres oeuvres de valeur,
inconnues ä Geneve. La preuve est
faite. L'annee derniere Pelleas et
Melisande avait peniblement atteint
quatre representations. Cette annee
l'Etranger de Vincent d'Indy a ete
retire de l'affiche apres deux repre-
sentations. C'est desolant, et la di-
rection de l'Opera peut, non sans
quelque raison, se plaindre du public.
Eva de M. F. Lehar fait des salles
combles et l'Etranger [ne fait pas
ses frais. Et pourtant le tres grand
artiste qu'est M. d'Indy meritait
mieux. II est le premier musicien
franijais de ce temps. Son influence
en France est considerable. Son art
est d'une noblesse, d'une purete in-
comparables. Decidement l'Opera
aurait bien tort de ne plus jouer
tous les deux jours les chefs-d'oeu-
vres de M. Massenet et ceux de
M. Puccini. Q- Q-
*
RESÜRRECTION AU THEA-
TRE DE LA COMEDIE DE GE-
N£VE. Le roman de Tolstoi" offre
une teile matiere que les auteurs
dramatiques devaient forcement ten-
ter de l'adapter pour le theätre. En
370
#OfO
THEATER UND KONZERT
ce qui concerne la France, M. Henry
Bataille en tira une piece en quatre
actes, d'un interet plutöt psycholo-
gique et passionnel. MM. Halperine-
Kaminsky et Jules Lermina ont cru
devoir reprendre ce travail. Ils ont
construit une Resurrection en sept
tableaux, qui ne manque ni de vi-
gueur ni d'interet, et qui respecte
assez fidelement le caractere moral
et social du roman de Tolstoi. Je
ne veux pas discuter ici de la valeur
des pieces tirees du roman; la place
me ferait defaut. Tout au plus peut-
on affirmer — et ceci est une idee
qui n'engage ä rien — que certains
romans se pretent plus facilement
que d'autres ä ce decoupage dra-
matique : ce sont les romans ä action
unique, simplement construits, et qui
ne fönt point intervenir un nombre
eleve de personnages.
Resurrection n'a aucun de ces
avantages, et cela excuse, dans une
certaine mesure, MM. Halperine-Ka-
minsky et Jules Lermina d'avoir fait
une piece quelque peu decousue et
ragmentaire, Elle est cependant
emouvante, emouvante d'une bonne
emotion — non point d'une Emotion
de melodrame. Cela tient avant tout
au sujet, ä la matiere meme qui est
admirable, et qui comporte tant de
pitie, de verite et de profonde hu-
manite.
On se souvient des premiers cha-
pitres de Resurrection d'une si puis-
sante poesie. 11 etait difficile d'en
faire passer quelque chose au theä-
tre. Je dois avouer cependant que
MM. Halperine-Kaminsky et Jules
Lermina s'en sont tires avec une in-
contestable habilete.
Ce premier tableau nous montre
l'interieur riebe et luxueux des tantes
du prince Nekhludow. C'est le soir de
Päques, et Nekhludow, quelque peu
ivre, conte des histoires militaires.
Une des auditrices a les yeux fixes sur
lui, intensement. Le prince lui parle
avec amitie et ne semble point la trou-
ver indifferente. C'est Katia Mas-
lova, laquelle est depuis son enfance
au Service des tantes de Nekhludow.
Les invites. dont le pope et ses deux
vicaires, se retirent, et Nekhludow
reste seul dans la salle ä manger.
Tout ä l'heure Katia est allee dor-
mir. Arrivee au bas de l'escalier
eile s'est retournee pour regarder
le prince qui a saisi ce regard. II
boit quelques verres de vodka, et
resolument se dirige vers la cham-
bre de la jeune fille.
Sans doute, je prefere les pages
incomparables oü Tolstoi montre la
seduction de la Maslova, et la com-
plicite de la nature, alors qu'au loin
gronde le fleuve, grossi par la fönte
des neiges . . . Mais le roman dis-
pose d'espace et de temps: le the-
ätre, lui, dispose d'un treteau et de
quelques heures. Le second tableau
est court et impressionnant. 11 repre-
sente la salle des deliberations de
la cour criminelle de Moscou. Parmi
les accuses figure la Maslova. Elle
est accusee d'avoir empoisonne
un „dient" — la Maslova est deve-
nue fille publique — au moyen d'une
drogue opiacee. Elle est innocente,
certainement, mais les charges qui
pesent sur elles sont enormes. Elle
est condamnee. Au moment oü le
President lit le verdict, un jure se
leve et proteste. C'est le prince
Nekhludow qui reconnatt, ä ce
moment, dans la personne de l'ac-
cusee, la jeune fille qu'il seduisit
huit ans auparavant, et qu'il aban-
donna lächement. Le rideau tombe
comme le public s'empresse autour
du prince, qui crie l'innocence de
Katia. „S'il y a un coupable, ajoute-
t-il, le vrai coupable, c'est moi."
Entre le premier et le second ta-
371
«o#o
THEATER UND KONZERT
KMO
bleau, il s'est passe beaucoup de
choses. Elles ne sont indiquees que
d'une fa<;on tres insuffisante. Les
spectateurs qui n'ont pas lu le ro-
man sont un peu deroutes. Les deux
tableaux suivants .sonl episodiques:
Tun est une brillante reception chez
la tante de Nekhludow, qui fait Op-
position avec le sombre tableau de
la cour d'assises. Nous apprenons
lä que le pourv'oi de Katia a ete
repousse par le Senat, et qu'elle
sera envoyee en Siberie pour quatre
ans. Mais Nekhludow n'est plus le
frivole officier du premier tableau.
II a lu dans le livre sacre. II veut
sa responsabilite dans le malheur
qui frappe Katia: il se sacrifiera
pour eile et la suivra en Siberie.
L'autre represente le parloir de la
prison. Nous assistons ä la premiere
grande entrevue de Katia et de son
seducteur. Katia est devenue une
vraie fille, vulgaire, sans instinct mo-
ral, sans pudeur. Nekhludow con-
temple avec horreur Tabime qu'il a
creuse. Cette fille s'etait donnee ä
lui, parcequ'elle l'aimait, et lui l'a
lächement abandonnee en laissant
Cent roubles. Elle regoit tres mal
les explications du prince. Elle est
ivre d'ailleurs, et comme il lui offre
de la suivre et de racheter sa faute,
eile lui crache au visage . . . „Cette
femme m'a crache ä la face, dit alors
le prince aux gardes qui intervien-
nent, eile a bien fait!" Les tableaux
suivants nous montreront alors la
lente regeneration de Nekhludow et
de Katia. Sur la recommandation
du prince, eile est acceptee comme
aide ä la pharmacie, mais la bru-
talite d'un infirmier vient tout gäter;
le medecin la renvoie; eile fera par-
tie du prochain convoi de prison-
niers pour la Siberie. Et le tableau
suivant est le plus tragique, le plus
impressionnant de tous. L'immense
plaine de Siberie. La neige est bleue
sous la lune. Pas un arbre, pas une
malson. On entend une melopee qui
grandit, grandit, puis monte puis-
sante et desolee. Ce sont les de-
portes qui chantent. Cette musique
dans laquelle pleure toute l'effroya-
ble misere du peuple russe, a bou-
leverse les spectateurs. Mais c'est
la halte. Les deportes s'assoient au-
tour d'un feu. 11 y a lä Krystlow,
Maria Pawlowna — la fille d'un
general, Wladimir Simonson, le phi-
losophe au coeur admirable, Vera la
nihiliste farouche et tetue, et Nekh-
ludow qui suit la Masiowa, laquelle
fut autorisee ä marcher avec les con-
damnes politiques. Katia n'est plus
la meme. La lumiere qui naissait en
eile, pale et pure, au tableau pre-
cedent, l'a envahie tout entiere. Elle
a ouvert les yeux. Ce n'est pas en
vain que Ton passe des journees et
des nuits avec un Krystlow ou un
Simonson, mieux que cela, eile s'est
prise ä aimer Nekhludow, et lors-
qu'au dernier tableau le prince, en
lui apprenant qu'elle est gräciee, lui
offre de l'epouser, eile refuse, ne
voulant pas etre un boulet pour lui . . .
Elle suivra Simonson, qui lui a fait
la meme proposition, et qui l'aime
„comme une belle creature qui a
beaucoup souffert".
Ce simple aper^u indique suffi-
samment la valeur de la piece, et
aussi ses deficits. Mais l'essentiel du
roman, des caracteres et de la doc-
trine est renferme dans ces sept ta-
bleaux — disons sept actes. Tout
au plus desirerait-on un second acte
plus long, plusexpressif, moins som-
maire. Pour bien faire, il eut fallu
nous faire assister ä la deliberation
du Jury. Mais cela se pouvait-il, au
theätre? Voilä la question.
Je dois ajouter que la piece, sous
cette forme, etait inedite, et que Qe-
372
0404
THEATER UND KONZERT
neve a beneficie ainsi d'une vraie
premiere. Evidemment, si MM. Hal-
perine-Kaminsky sont pour quelque-
chose dans le grand succes qu'a rem-
porte Resurrection, TolstoV y est
lui pour beaucoup. G. golay
Über die erste Aufführung von
Carl Friedrich Wiegands Marignano
in Leipzig, die in den ersten De-
zembertagen stattgefunden hat und
einen schönen Erfolg davontrug, geht
uns bei Redai<tionsschluss ein Bericht
zu, den wir leider erst für unser Heft
vom I.Jan. werden verwerten können.
n
D
D
n
NEUE BÜCHER
D
□
a
PAUL ILG, Das Menschlein Mat-
thias. Erzählung. Deutsche Verlags-
anstalt, Stuttgart und Berlin.
Wenn Paul lig mit diesem Roman
von dem großen Erfolg, den er stets
bei der Kritik gehabt hat, nicht auch
zum Erfolg bei einer großen Leser-
schaft gelangen sollte, wüsste man
wirklich nicht mehr, was man von
den Leuten zu halten hat. Denn was ihm
früher bei der Menge im Weg gestan-
den ist: das Bohren in den schmerz-
haftesten Wunden der Menschheit, das
rücksichtslose Aufweisen des Boden-
satzes von Gemeinheit, das auch
in edlen Naturen bisweilen wie faules
Holz aufleuchtet, (was beides manche
zartbesaitete Seele als brutal ver-
schrie), kommt in diesem Buche in
der alten Weise nicht zur Geltung. Es
könnte jedem jungen Mädchen in die
Hand gegeben werden, obwohl diese
Geschichte eines Kindes in erster
Linie für Männer geschrieben ist und
für Frauen, die vor der wahren Welt
nicht Angst haben und sich keine
verwässerte und geschminkte Welt
zurecht zu machen brauchen.
Bei der Anlage seines Romans,
die groß und streng durchgeführt
ist, stellt 11g, wie se'nerzeit bei den
Brüdern Moor, zwei entgegengesetzt
verlaufende Geschicke einander ge-
genüber, diesmal zwei Schwestern:
Brigitte Böhi, die in ihrer Jugend
gefehlt hat — das Menschlein Mat-
thias war das Resultat — und dann
nicht nur „brav" und fromm wie
eine Sektiererin wird, sondern einen
bösen Schrecken vor allem Ge-
schlechtlichen bekommt, und die in
ihrer Jugend hart tugendhafte Frau
Angehr, die im Mittag ihres Lebens
von so heißem Liebeshunger ge-
packt v/ird, dass sie nicht weiß, wo
aus und ein. Zwischen beiden mit
seinen ungestillten Kindersehnsüch-
ten der kleine Matthias, bald im
armseligen Bergwirtshaus auf dem
Gupf bei der Tante, die ihn in Fetzen
laufen und hungern, sein Brot mit
Hausieren verdienen lässt, bald als
verwöhntes Bübchen bei der Mutter,
dem „Musterfräulein" in der Fabrik-
stadt.
Es ist wohl das erste Mal, dass
ein Schweizer Dichter — ein wirk-
licher Dichter — den Weg in eine
unserer Fabriken gefunden hat. Die
Firma Hirsch, Herzfeld und Kom-
panie ist aber von den Chefs bis zum
Pförtner und Arbeiter mit allen ver-
borgenen und offenen Leidenschaften,
mit allen geheimen seelischen Be-
ziehungen so fest auf den Boden
gestellt, dass man glaubt, ihr im Le-
ben begegnet zu sein, nur ohne so
in die Tiefen geblickt zu haben wie der
Verfasser. Das alles wird in jener
dramatischen Szene zu tosendem
373
NEUE BÜCHER
K>K>
Leben, wo der bärbeißige Dessina-
teur Oberholzer, der Vater von Mat-
thias — eine prächtig gezeichnete
Figur — einen alten Angestellten aus
seinem Kontor wirft, der dann sei-
nem Zorn inmitten vespernder Ar-
beiter selbst gegenüber dem gefürch-
teten Fabrikherrn Luft macht und
für einen Augenblick allen die Binde
von den Augen reißt. Den Fabrik-
mädchen, die in ihrer Jugend die
Augen zu Prokuristen, Buchhaltern,
Ferggern und Stickermeistern auf-
schlagen und sich schließlich im be-
sten Fall mit einem Winkelglück im
Arbeiterviertel begnügen, wenn sie
nicht zu jenen versauerten alten
Jungfern werden, die nur um andere
zu ärgern verzweifelte Rekorde des
Fleißes schaffen und sich bemühen,
„Fehltritte" aufzuspüren, — den An-
gestellten und Arbeitern ist der uner-
bittliche Seelenkünder stets mit feiner
Spürnase auf den Fängen; er führt
uns Schritt für Schritt auf Neuland.
Keinen Augenblick zweifeln wir an
der Wirklichkeit des Erzählten.
Ilgs Sprache ist nicht die wohl-
gekämmte Prosa vieler Moderner,
Sie ist der Gegensatz zu dem fein-
ziselierten Prunkstück, wie es Tho-
mas Mann im Tod in Venedig ge-
schaffen hat: sie ist wie der Bronze-
guss einer Statue, an dem man über-
all sieht, wie des Künstlers starke
und bebende Hand den Ton geknetet
hat und wie das überströmende Le-
bensgefühl auf dem kürzesten Weg
zu fließender, schwellender Form
geworden ist. Man kann Ilgs Stil
nicht leicht mit dem eines andern
vergleichen, weil er niemandem nach-
gebildet ist. Aber an Gottfried Keller
erinnert er doch in vielem, gerade
in seiner unnachahmlichen Unmittel-
barkeit. Wie denn überhaupt dieses
Buch am gleichen Wege liegt, wie
Kellers Martin Salander, zwar ohne
jenes politische Wetterleuchten, das
uns gerade heute wieder einmal not
täte, aber mit nicht geringerer Ein-
sicht in die seelischen Folgeerschei-
nungen sozialer Schäden. a. b.
*
ERNST ZAHN. Der Apotheker
von Klein-Weltwil. Ein Roman.
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart
und Berlin 1913.
Schade, dass Ernst Zahn, als er
sich mit dem Neid auseinandersetzen
wollte, kein Novellenbuch geschrie-
ben hat. Aber es ist ja ein Novellen-
buch, wenn man es näher anschaut:
dem Apotheker kommt im Grunde
kein höherer Wert zu als einer Haupt-
person der Rahmenerzählung, und
Zahn hätte bloß die Karten nicht
zu mischen gebraucht; es lag nicht
die geringste innere oder äußere Not-
wendigkeit vor, die Kapitel durch-
einander zu schieben statt jede der
Geschichten, die in dem Buch ent-
halten sind, an der Schnur fertig zu
erzählen. Nur wäre bei einer solchen
Sammlung jener Geist, der sich beim
Namen der Kleinstadt Weltwil durch
ein Reimwort einstellt, allzulaut be-
schworen worden; und immer an
jener mächtigen Erscheinung ge-
messen zu werden, wäre selbst einem
Großen unserer Zeit gefährlich.
In diesem Novellenbuch ständen
nun ein paar Geschichten, die jetzt
durch die Zerrissenheit an Wirkung
einbüßen, die aber, wären sie straff
zusammengefasst, zum allerbesten
gehörten, was Zahn je geschaffen
hat. Dazu zähle ich das Schicksal
des jungen Bauern Blochinger, des-
sen Vater in einem Gefühl neu er-
wachender Kraft ein junges Weib
freit, das nun, ohne es zu wollen
und selbst unter der Tragik erwach-
ender Liebe fast zusammenbrechend,
sich als Friedensbrecherin zwischen
Vater und Sohn sieht. Nicht einmal
374
K>M>
NEUE BUCHER
eintönig und langweilig ist es ge-
worden, als Zahn die Leiden und
Kämpfe von drei so gütigen und
reinen Menschen schilderte. Gerade
darum steht diese Erzählung hoch
über dem Rest des Buches, weil der
Neid im Grund nichts in ihr zu
suchen hat, weil hier endlich einmal
bessere Mächte am Werk sind. Rühm-
lich angelegt ist auch die Geschichte
der beiden Söhne eines Fabrikanten,
von denen der scheue, linkische,
geistig langsamere Jüngere unter den
Schulerfolgen seines Bruders und
der diesem rasch gewährten Liebe
von Eltern und Backfischen leidet.
Namentlich der barsche Vater, der
jedesmal, wenn die gescheite Mutter in
die Tiefe der Seele ihres Jüngsten
einen Weg gefunden hat, diesen Pfad
durch rauhe Worte wie mit Steinen
verschüttet, ist eine echt schweize-
rische Erscheinung.
Diese beiden Erzählungen lassen
auf ein gütiges Mitfühlen des Ver-
fassers schließen, das vielleicht den
Kern des Wesens von Ernst Zahn
ausmacht und dem er wohl die Ver-
ehrung vieler seiner Leser verdankt.
Und gerade wegen dieser Veran-
lagung war er ungeschickt wie kei-
ner, ein Buch über den Neid zu
schreiben. Hätte er einen Schimmer
vom Humor eines Dickens oder ein
Quentchen von der Dämonie eines
Balzac, so hätte es ihm gelingen
können ; da er aber von beidem nicht
eine Spur besitzt, musste das Buch
an seinem Probleme scheitern.
Der Diable boiteux, der das Rück-
grat für die zusammenhangslosen
Glieder des Romans bilden soll, der
Apotheker Eusebius Fuchs, nimmt
nie vor unserm Auge Gestalt an. Er
selbst hat keinen Grund zum Neid,
da er reich und unabhängig und ganz
und gar temperamentlos ist; doch
ist er nicht ein bloüer Betrachter.
Er sagt einmal von sich: „Es gibt
zweierlei Ärzte in der Welt. Die ei-
nen unterdrücken die Krankheit: die
andern befördern sie, damit sie desto
rascher überstanden sei". Er zählt
sich zur zweiten Art, gehört aber
zur dritten, die man totschlagen
sollte, zu jenen, die Krankheit er-
zeugen und sich wohl hüten, sie zu
heilen. Der Herr Eusebius weiß
durch unglaubliche Taktlosigkeiten
Neid zu erwecken ; in seiner eiskal-
ten Seele kommt er aber weder da-
zu, sich darüber zu ärgern noch zu
freuen. Immer wieder heißt's von
ihm, er sei ein besonderer, hervor-
ragender Mensch, und doch zeigt er
sich bloß als ein widerwärtiger Ge-
selle und das nicht einmal mit Ste-
tigkeit. In einem Streik spielt er eine
eigentümliche Rolle, hetzt auf der
einen Seite die Arbeiter auf und
steht auf der andern zum Brotherrn.
Gegen die Schilderung dieses
Streiks ist es Pflicht, sich energisch
zu verwahren. Sie ist der Revolte
aus Hauptmanns Webern nachgebil-
det, wo eine hungrige verzweifelte
Meute Haus und Garten des Fabrik-
herrn stürmt, und stiehlt und raubt,
was nicht niet- und nagelfest ist.
Solche Streike hatten wir nie in der
Schweiz; im Jahr 1913, auf das der
Roman durch die darin genannte
Nationalflugspende festgelegt ist, ist
eine solche Schilderung ein frevles
Spiel mit der Wirklichkeit. Wenn
man dann weiter liest, dass der Fa-
brikherr auf eigene Hand Soldaten
aufgeboten habe, wird man an Zahn,
dem Kenner der Schweiz, und sei-
nem Verantwortlichkeitsgefühl voll-
ends irre. Und nicht minder muss
man den Kopf schütteln über die
Pro-domo-Novelle, über den Feuille-
tonredaktor in der Kleinstadt, der
aus dem Nichts Götter schafft und
ein halbes Jahr später, weil er auf
375
KMO
NEUE BUCHER
KMO
deren durchschlagenden Erfolg nei-
disch geworden ist, sie wieder ins
Nichts herabdrückt.
Diese undichterischen Überwürf-
nisse mit der Wirkh'chkeit haben das
Gute, dass man sich gar nicht ver-
anlasst fühlt, sich mit dem Spruch
„Der Neid ist der Fluch und Segen
der Welt", der Schluss und Fazit
des Buches bildet, weiter ausein-
anderzusetzen. Wenn er nur einen
Augenblick glaubhaft sein wollte,
müsste ganz ein anderes Buch vorne
dran stehen. a. b.
JAKOB BURCKHARDT. Brief-
wechsel mit Heinrich v. Geymüller.
Verlag Georg Müller u. Eugen Rentsch
München.
Geymüller war von Haus aus Ar-
chitekt. Verwandtschaftlich hing er
mit Basel zusammen, v/ie denn zum
Beispiel der Architekt Alioth, dem
Burckhardt so köstliche Briefe ge-
schrieben hat (sie sind bekanntlich
vor einem Jahr im selben Münche-
ner Verlag unter dem Titel Briefe
an einen Architekten erschienen und
mit wahrer Freude aufgenommen wor-
den), ein Vetter Geymüilers war. Die
Bekanntschaft mit dem Basler Kunst-
historiker machte sich gewissermaßen
von selbst. Sie befestigte sich, als
Geymüller immer mehr von der
Praxis wegkam und sich der Erfor-
schung der italienischen Renaissance-
Architektur zuwandte. Das Monu-
mentalwerk über die Architektur der
Renaissance in Toskana verdanken
wir seiner Initiative u. seinem Organi-
sationstalent. Seine ganze Bewunde-
rung wandte er aber Bramante zu,
dem er auch eine große Monogra-
phie widmen wollte; sie ist nicht zu-
stande gekommen; wichtige Vorar-
beiten jedoch hat Geymüller geleistet,
vor allem was die Tätigkeit Bra-
mantes am Sankt Peter in Rom be-
trifft, über welchen Bau so viele Pläne
und Veränderungen ergangen sind.
Die Uridee Bramantes, den unver-
gleichlich herrlichen Plan eines kon-
sequenten Zentralbaus, gelang es Gey-
müller ans Licht zu bringen. Um
diese Bemühungen Geymüilers für
die Klarstellung der Baugeschichte
vom Sankt Peter dreht sich ein guter
Teil der rund dreißig Briefe Jakob
Burckhardts, welche die Zeit von 1867
bis 1897 (das Todesjahr Burckhardts)
umfassen. Von seiner geliebten Re-
naissance-Architektur, die er bis in
letzte Feinheiten hinein mit wahr-
hafter Genialität ergründet hatte,
mit einem Renaissance-Enthusiasten
und glücklichen Entdecker wichtiger
Bauentwürfe von Renaissance-Archi-
tekten, wie es Geymüller war, zu
sprechen, war für Burckhardt natür-
lich eine erwünschte Angelegenheit.
Freilich mag er etwa klagen, dass er
im Grund bei diesen spezialisierten
Forschungen nicht mehr mitreden
dürfte; das hindert ihn nicht, da und
dort an Ansichten oder baulichen
Interpretationen des Fachmanns die
feinste, stilsicherste Kritik zu üben.
Wie man denn immerwieder staunend
bewundert, über welche Stärke des
künstlerischen Anschauungsvermö-
genSjüber welchen Reichtum stets prä-
senten Wissens inbezug auf den Denk-
mälerschatz Burckhardt verfügte.
Überall leuchtet auch die feine
geistige Persönlichkeit Burckhardts
hindurch, wenn ersieh auch nirgends
in diesen Briefen so frei und unge-
bunden gehen lässt wie in jenen geist-
sprudelnden Briefen an Max Alioth.
Der spezielle Inhalt des Briefwechsels
bestimmt dessen resevierteren Ton.
Für die Charakteristik Heinrich von
Geymüilers leistet die Einleitung
Prof. Carl Neumanns in Heidelberg,
der die Edition sorgfältigt besorgte,
Ausgezeichnetes. H. trog
376
NEUE BÜCHER
«OfO
ADOLF FREY. Neue Gedichte.
J. G. Cottasche Buchhandlung Nach-
folger. Stuttgart und Berh'n.
Adolf Frey veröffentlicht einen
Band neuer Gedichte. Natürlich er-
hebt sich die Frage: sind diese Ge-
dichte eine Ährenlese, eine Nachlese
der vor einigen Jahren in neuer Auf-
lage erschienenen Sammlung? Sind sie
nur eine Art Fortsetzung der frühe-
ren Kunstübung? Oder sind und be-
deuten sie etwas Neues?
Sie sind etwas durchaus Neues
und bezeugen eine Wandlung im
Wesen des Lyrikers Adolf Frey.
Züge und Qualitäten, die den Cha-
rakter der früheren Gedichtsammlung
Freys stark bestimmten, treten in der
vorliegenden auffallend zurück. Das
überwiegend Phantasiemäßige, das
Visionäre hat einen Teil seiner Herr-
schaft abgegeben. Während der
frühere Band eine ganze Abteilung
Gesichte enthält, kann im neuen nur
ein Gedicht als Vision angesprochen
werden, und auch dieses hat eine
etwas andere Technik und eine an-
dere Gefühlsnote als seine Vorgänger.
Sodann fehlt das patriotisch Kriege-
rische fast völlig und ebenso die
Ballade, an deren Stelle die poetische
Erzählung getreten ist. Auch das
dunkel Melancholische, dessen Aus-
druck sich einst im Totentanz kri-
stallisierte, ist zum großen Teil ge-
wichen. Der Ton der neuen Samm-
lung ist heller, heiterer; bezeichnen-
derweise heißt eine ganze Abteilung,
ein Viertel der Gedichte, Schelmen-
winkel. Auch der Charakter der
Landschaft, auf den es in der Poesie
Freys so stark ankommt, hat sich
gemildert. Die Gebirgslandschaft,
wenigstens in ihren rauheren Formen,
mit ihren menschenfeindlichen und
gewalttätigen Wesenszügen ist durch
die Tallandschaft verdrängt, die es
an Bedeutuiis nun mit ihr aufnehmen
kann. Durchweg fällt eine entschlos-
sene Abkehr von der Lebenshärte
auf.
Stärker aber und hauptsächlich
unmittelbarer treten in diesen neuen
Gedichten Gefühl und Leidenschaft
hervor. Flossen sie in den früheren
Gedichten fast unaufhaltsam in die
bildnerische Darstellung, so durch-
dringen sie nun häufig und mit
gleicher Stärke auch den unmittelbar
dichterischen Ausdruck. Es stimmt
damit überein, dass diese Sammlung,
verglichen mit der früheren, lyri-
scher ist. Die Meisterschaft Freys
scheint der Lyrik zuzudrängen. Auch
die Schatten und Gestalten in
einem der epischen Teile des Buches
sind von Gefühlsschauern herauf-
beschworen und getragen. Vor allem
aber hat mittelst dieser entschiede-
nen lyrischen Wendung in der Schaf-
fensweise gerade desjenigen Dichters,
der unter unsern Poeten seine Ly-
rik am stärksten episch bewuchtet,
neben dem zarten Liedton der ly-
rische Vollklang in unserer Dichtung
endlich angeschlagen. Der deutsche
Sehnsuchtsklang !
Die das Malerische mit Stoff und
Form ausschaltenden Gedichte sind
ja auch in dieser Sammlung noch
selten. Aber sie dürfen sich an Be-
deutung mit den bildnerisch gestärkten
messen. Ich denke an Fügung oder
Vergiss es nie! das sich „Frauen-
seele" betiteln könnte, da es ihre
Schönheit so ergreifend erschöpft.
Das dunkel schwermütig vollklingende
Das Ende der Liebe unterscheidet
sich nur durch eine einzige leise
Meldung Freyscher Plastik („der zarte
Liederzweig verdorrte") von einem
Stormschen Gedichte.
Ihrer großen Mehrzahl nach sind
die neuen Gedichte gleich den frühe-
ren ein Siegesplatz der Plastik. Doch
dürfte man vielleicht sagen, dass
377
C4Q4
NEUE BÜCHER
n»o
diese Plastik Bildnerkraft in dichte-
rische Inbrunst umgewandelt habe.
Sie hat sich lyrischer Läuterung
unterzogen. Man bemerke es, wie in
O lass mich nicht aus meinen Träu-
men stürzen! die in zauberischer
Fülle vorhandenen Bilder ihren Ein-
druck der Macht des klassisch lyri-
schen Bogenstrichs im Vortrag unter-
ordnen I Entmaterialisierte, musika-
lisch strömende Plastik scheint mir
die Errungenschaft der neuen Schaf-
fensweise Freys, womit sie die For-
derungen des schweizerischen Ge-
nius mit denjenigen der lyrischen
Poesie versöhnt und beide aufs herr-
lichste erfüllt:
„Weithin wölbt Das schweigsame
Tal Wellige Wälder, Vom bläulich
dämmrigen Netz Auflauschender
Sehnsucht umsponnen. Im tiefen
Grunde Hebt eine goldne Schaukel
an, Bewegt von Schimmerlüften, Und
wiegt sich sachte Auf und nieder.
Drauf schwanken und schweben Und
schwingen im klingenden Streit
Windvertragenes Kirchenläuten Und
ausgelassene Kuckucksrufe. Das
liebliche Spiel verschwebt, verweht,
Und Einsamkeit spreitet das kri-
stallne Gefieder über uns. Umfange
mich. Lieb, Und in der Fülle der
Frühlingsfreuden Küsse mir die Se-
ligkeiten deiner Seele!"
Wie es in Lenzgang ersichtlich
ist, strömt der feine, sich bis zur
Leidenschaft befeuernde lyrische
Schwung der Liebeslieder auch in
ihren landschaftlichen Gehalt. Dieser
Gehalt ist in den meisten Fällen be-
trächtlich. Und er gehört zu den
höchsten Schönheiten dieser Ge-
dichte. Ideallandschaft umgibt die
Glücklichen in den Liebesliedern
Freys. Nur bei Albert Welti können
wir diese Seelenhaftigkeit, Tiefe,
diese scheinbar paradiesische Art und
Abkunft der Farben und ihres Wan-
dels durch Lenz und Sommer finden.
Die Beseelung und Ausdrucks-
macht der Landschaft ist die tiefste,
so dass die Gedichte die Fülle doppel-
ter Offenbarung besitzen und das
Pathos zwiefacher Geschicke vor
uns ausbreiten. Ein voller Über-
einklang verbindet die Stimmen aus
den Hainen und aus der Menschen-
brust. Herrlich, wie sie sich ab-
lösen ! Wie das Orchester der kla-
genden Geige lässt nicht selten die
Wonne des Frühlingswaldes der
Sehnsucht, der sie gerufen hat, das
Wort. Die Divination der Natur an-
gesichts der menschlichen Liebes-
geschicke ist die feinste. Ihre Fähig-
keiten, die hohen menschlichen Ge-
fühle in ihrem eigenen Ausdruck zu
spiegeln, licht und dunkel zu beglei-
ten, sind unerschöpflich. Hierlächelnd
von graziöser Betätigung, arkadisch
entzückt, dort mit dem Aufgebot
großer erregter Handlung erfüllt und
bemeistert sie ihre Aufgabe. Mit
„Späthauchen über Felsensteigen
seufzend!" Mit „sternflutberieselten
Wegen!" Mit „schlattenumspülten
Stegen !" Der Schmerz einer Schei-
denden verklärt die Landschaft, in
der ihr Abschied vom Dichter statt-
findet:
Du wandelst weiter. Sonne und Gestirne
Sind dir Gefährten. Wolltenboote steuern
Für dich ins Blau: dein Traum hisst ihnen
Segel,
Von ihren Rudern trauten deine Lieder;
Dir hauchen taubesprengte Wälder Kühlung,
Dir flüstern Halmenwogen Schlummer zu
Und klagen dir mein letztes Lebewohl,
Denn, ach, mir ist die Bitternis verhängt,
In Wäldernächte hier hinabzusteigen.
Am fahlen Eingang zittern Sonnenkringel
Erbleichend noch an Stämmen und Geäst.
Dahinter welken Licht und Laut.
Das Liebesgedicht Freys über-
trifft dasjenige Kellers und Meyers
an Temperament, Schwung und Bild-
glut, an die Stelle der Kellerschen
Gedankenfülle und der starken in-
378
OMM
NEUE BÜCHER
dividuellen Besonderheit Meyerssetzt
es das große und einfache, im
Goetheschen Sinne typische Gefühl.
Unerschüttert seelenadeiig zeigt es
sich, dieses Gefühl, in Wonne, Hin-
gabe, Sehnsucht, Bitte, Klage,
Wunsch, Verlangen, Verzicht und
Abschied, im Traumreich, im Blick
auf Lethes Flut, vor den Schauern
des Todes.
Ausbündig reizend, jeder Erden-
schwere ledig sind die Situationen,
apart, neu, vielartig die Motive. Das
poetische Ungestüm der Eingänge
fällt auf. Ich kann die Sprachkunst,
die Grazie und den Adel der Dar-
stellung, den Reiz und die geistvolle
Konsequenz des bildlichen Ausdrucks
nur an einem kleinen Beispiel zeigen :
Der Frühtau, Jungfrau, netzt in deinem
Garten
Goldregensclileppen und Granatenfächer:
Dem Rosenbusch l<redenzt von Mauerwarten
Die Feuernell^e den gefransten Becher.
Blauschattig lauscht die Laube, überronnen
Von Eppichsträhnen. Aus den Rasensänften
Besieht die Malve sich im Murmelbronnen,
Der niedersilbert zwischen Kieselränften.
In der Abteilung Schatten und
Gestalten tritt zur Gefühls- und
Bildstärke noch der besondere Glanz
epischer und historischer Erschei-
nung, der Glanz der Fremde und
Ferne. Auch diese Gedichte zeigen
die schon erwähnte Abkehr von der
unheilbaren Lebensbitterkeit. Sie
haben es mit Triumph und Erlösung,
mit Erfüllung, mit Prophetengesich-
ten, mit dem großen Erbarmen zu
tun. Mit der ungebeugt erlittenen
Not, der die Treue trotzt, mit
dem tausendstimmigen Dankesüber-
schwang, den in Völkerweihestunden
der Opfertod für das Vaterland erntet!
Mit dem Menschentum überhaupt,
das sich an Größe mit der Lebens-
tragik messen kann! Und nicht zu-
letzt mit der Kunst! Es wird in
ihrem Rahmen Kunst ausgeübt. Un-
sterbliche nahen gütig und festlich.
Ihre Werke schimmern in hellen Sä-
len auf. Unzweifelhaft rührt auch
daher die Sättigung dieser Gedichte
mit Trost und Glück, ihre Macht der
Beglückung. Nicht dass ja die Be-
schäftigung mit Künstlerlosen den
tragischen oder schwermütigen Ge-
halt schmälerte! Doch was liegt
schon in der Schönheit der Diktion,
die sich, von persönlichen Erschütte-
rungen durchdrungen, und über-
haupt dem hohen Gegenstande zu
Ehren sublim vollendet, für eine
Kompensation ! Das Farbengeleite für
den Wohllaut, wo er als Stoff auf-
tritt, wird ausgesucht:
Der Wohllaut strömt ins sternbeglänzte
Waldgebirge
Unsagbar, wie ihn nie ein Atenschenohr er-
lauschte,
Auf Felsgerüst und hügelab zu Talgebreiten,
Zu Gärten, Tempelhainen, bollwerkstarken
Städten,
Zum blauen Hundertbuchtenmeer und über
seine
Umbrandeten Gelasse fern zum Weltenrande,
Wo stumpfe Wolkenwidder in der Wildnis
weiden.
Seit in der Sternensommermittnacht Aphro-
dite
Den wunden Busen ausgeschluchzt in Ton-
nen, wittert
Geheimer schmerzlichsüßer Nachhall in den
Nächten,
Das Herz der Liebenden erkühnend und
berauschend.
Schönheit, Macht und Herkunft
der Kunst erfahren in Schatten und
Gestalten jede Erhöhung. Stärkung
und Verfeinerung: des Fiedlers Dank
dringt aus dem Geisterreiche ; Göt-
terliebe haucht Euterpens Flöte den
Atem ihrer Qual und Seligkeiten
ein; die im Konzert gesungenen
Lieder wecken ihren toten Dichter;
in der durch die Kriegsfurie ver-
wüsteten bündnerischen Talschaft
„schreien" hinter der Bahre des Sa-
lis „die Pfeifen ein schrilles Stück".
379
0404
NEUE BÜCHER
rara
Wir haben in den neuen Gedich-
ten, wie in der altern Sammlung
auch, eine Elite von Nächten. Voran
geht ihr unter Schatten und Ge-
stalten, Christnacht, ein Bildnerwerk
vom höchsten Range, das überdies
mit einer der feinsten Leistungen
des schweizeiischen musikalischen
Genies endet. Die Leidenschaft der
Stimmen und Gesichte, die Größe
des Vorgangs (der Kampf der heili-
gen Zeit), die Urzeitschauer, der Ur-
zeitglanz, die dämonischen und die
heiligen Gewalten, die Ekstase der
Wahrnehmung fließen in Christnacht
in einen Sturm von Poesie zusam-
men.
In Der Engel des Paradieses und
Das kommende Reich ist das musi-
kalische Element zugunsten der
strengsten bildnerischen Realistik
und einer seltenen Prägnanz, Pracht
und Gewähllheit der Erscheinung
ausgeschaltet. Im Kommenden Reich
mit dem nächtlichen Gange der
Nazarener durch ein regendunkles
Feld sind Klang und Licht bis zum
Schlüsse aufgespart, wo — man
denkt an ein Bild von Rembrandt
— sie aus der Vision und Seele der
Schreitenden herausbrechen. Ein
Vergleich diesesGedichtes mit Meyers
Sturmnacht wäre für die Eigenart
und Unterscheidung der beiden
Dichter aufschlussreich. Die Er-
findung im Engel des Paradieses
ist ethisch bedeutend: der Engel
Gottes folgt zu Hut und Wacht dem
von ihm vertriebenen ersten Men-
schenpaar, über dessen Gram und
Schutzlosigkeit die erste Wüsten-
nacht anbricht.
Die Abteilung Unter Sonne und
Sternen gibt wieder Landschaften.
Sie sind im Gegensatz zu denjenigen
unter Lieb und Leid fast völlig um
ihrer selbst willen da. Sie beherber-
gen Sehnsucht nach dem Liede, um-
schließen Künstlererlebnis, wecken
Jugendheimweh, gewähren das viel-
leicht am feinsten in unserer schwei-
zerischen Poesie ausgekündete, am
originellsten abgewandelte Wander-
glück. Doch das alles lässt, so
scheint es mir wenigstens, ihrem
intensiven Eigenleben den Vorrang.
Die Landschaft in dieser Gedicht-
gruppe ist dem Bannkreis der Leiden-
schaft entrückt. Keinem übermäch-
tigen menschlichen Gefühl tribut-
pflichtig, kann sie ihr eigenes Cha-
rakterbild aufs reizendste ausbauen.
Sie wandelt sich stark oder leise
romantisch um. Sie wächst ins He-
roische. Sie ruht und spielt in einem
Reichtum idyllischer Stimmungen.
Sie trägt den Elfenreigen. Wo sie
elysisch aufflammt, wie in Verlangen,
tut sie es vor dem hier als einziges
in dieser Abteilung erwachenden
Liebessehnen. Es ist ihr das höchste
Glück der Schweizerlandschaft ver-
gönnt, unter „der Sennen und Hir-
ten Geschrei" den Morgenstrahl im
Hochgebirge zu erharren. Dass sie
die eigentliche Bergwildnis meidet,
erspart ihr Heimsuchungen und Ver-
düsterungen, wie wir sie im Toten-
tanz mitansahen. Schwermut und
Gram sind auf den Raum von zwei
Gedichten zusammengedrängt, wo
sie sich mit gesparter Kraft äußern.
„Die alte, schattenlinde Schlange
Nachteinsamkeit dehnt sich am
Hange. Sie ringelt um das weite
Tal Und saugt den kühlen Sternen-
strahl." Das ist ein Beispiel für die
Ausdruckskunst in Nacht.
Neu in unserer Lyrik sowohl als
in Freys eigener Dichtung ist das
Idyll in der Weise von Bergaufent-
halt und Luginsland. Wie dem
Dichter, der an der Berghalde streift,
ist seinem Leser auf Schritt und
Tritt „für Auge oder Ohr ein Son-
derschmaus bereit". Neben dem
380
C4G4
NEUE BÜCHER
großen Zug und Schwung der Land-
schaft kommt ein höchst originell
geregtes, mit dem drolligsten Eifer
und lieblichsten Gemüt bedachtes
intimes Flurleben und Treiben im
Moose zur Geltung. Es erfährt eine
Charakteristik, über deren realistisch-
phantastisch gemischte Vorzüge,
Humor, Geist und Grazie wohl nicht
mehr hinausgegangen werden kann.
Begreiflicherweise Lag es dem Land-
schafter Frey, die von dem schweren
Anteil an den menschlichen Liebes-
leiden und Freuden losgesprochene
Flur darzustellen und auf die Höhe
ihres selbständigen Ausdrucks, ihrer
eigenen Beredsamkeit zu führen.
Einer hinreißenden Beredsamkeit:
„Eine schallende Laute ist jede
Staude, Ein klingender Saal das Blü-
tental." Ohne die schweizerischen
Schauplätze zu verlassen, weist die
Landschaft in dieser Gedichtgruppe
Stimmungsgeheimnisse, Gefühlsglu-
ten und koloristische Zauber auf,
an denen unsere Poesie bis jetzt
vorüber ging. Zu den koloristischen
Zaubern rechne ich auch das in dem
vorherrschenden satten Grün bis-
weilen sparsam aber frappant auf-
tauchende Rot. Im verschatteten
Waldinnern glühen die Lippen der
Waldfee allein; vom dunkelgrünen
Luginslandaussieht der Dichter„beim
Meister Schmied die Esse lodern".
Die durch einen Vergleich heran-
gezogenen bauschigen Banner brin-
gen, für unsere Vorstellung, ihren
leidenschaftlichen Purpur in die grün
und weiße Landschaft der „Lenz-
bäche". Als „meisterlose Rinnsal-
buben" und „behäbige Landsturm-
bäche" — Beweis für die boden-
ständigen und stilgerechten Ver-
gleiche Freys! — eilen diese Lenz-
bäche zutal. Das Kriegerische dringt,
dank dem bildlichen Ausdruck im
kleinen wie im großen in die Land-
schaft. Die Gräser strecken „zarte
Spieße", die Kräuter „grüne Tart-
schen" über das Quellchen ; das Berg-
haupt schützen „gebuckelte Wolken-
schilde".
Die letzte Abteilung der Ge-
dichte tritt wieder ins epische, histo-
rische und kulturhistorische Gebiet
und nimmt den vollen Freyschen
Bildglanz und die kostbarsten, zeit-
gemäßesten Ausdrucksformen mit.
Das besondere ist hier die schel-
mische, phantasiedurchsonnte und
-gestärkte Laune. Man betrachte die
mit spanischer Grandezza schalk-
haft gesättigte und farbenglühende
Romanze das Geheimnis oder
Goetheforscher, das seine Ironien
mit so viel Grazie in Handlung um-
setzt! Originell ist, wie ein litera-
risches Gleichnis sich in der Hand-
lung eines Älplerspiels verbirgt. Ein
burlesker Künstlerscherz von erle-
sener Formulierung hat Gandria
zum Ausgangspunkt. Er bringt die
neuen Töne der politischen und so-
zialen Satire und der Selbstironie.
In dem kleinen dramatischen Spiel
Die Beschwörung haben wir ein
Werk souveränen Humors, der sich
eine geniale Sprachkraft dienstbar
macht. Der Dichter ironisiert Teufel
und Einsiedel, die sich um eine
junge Besessene streiten, das Feld
aber gemeinsam ihrem heimkehren-
den Liebsten räumen müssen. Der
Teufelshohn überschüttet den Ein-
siedel, dieser hänselt den höllischen
Widersacher. Die poetische Hold-
seligkeit und der Schwung, die aus
Bild und Wort der jungen Besesse-
nen und durch die Liebe Erlösten
in diese kühnste Groteske fließen,
sind ungemein und besitzen Goethe-
sche Akzente. anna fierz
*
BONOS SCHÖN-BÜCHEREI ist
eine der allzuvielen Sammlungen, die
381
<HC4
NEUE BUCHER
lOfO
sich zum Ziele setzen, unserer bil-
dungshungrigen aber zeitarmen Ge-
neration für wenig Geld und in süßer
Form die Gelehrsamkeitzu vermitteln,
die für unsere heutige Kultur die
Grundlage abgibt. Für zwei Mark
kann man sich den Extrakt einer
ganzen Bücherei erstehen. Ist das
nicht verdienstlich? Für den bildungs-
iechzenden Leser sowohl wie für den
Autor außerordentlich bequem? Da
gibt uns Bruno Wille unter dem
Titel Lebensweisheit, eine Deutung
unseres Daseins und er braucht sich
über dieses gar nicht so belanglose
Problem nicht den Kopf zu zer-
brechen, denn er gibt uns diese Deu-
tung „in Gedanken und Versen füh-
render Geister". Camill Hoffmann
stellt 193 Liebesbriefe von 100 be-
rühmten Persönlichkeiten zusammen.
Die heimlichsten Fasern reißt er aus
den 100 Herzen und bindet sie zu
einem zuckenden Bündel zusammen.
Wer muss da nicht die Hand darnach
ausstrecken ? Hunderte, von denen
nicht zehn merken, dass hier neben-
bei eine interessante Entwicklungs-
geschichte des Briefstils geboten wird.
Am erfreulichsten ist die Sammlung,
die Georg Hermann, der Autor von
Jettchen Gebert, unter dem Titel
Das Biedermeier herausgegeben hat.
Ein feiner Kenner dieser heute so
beliebten Zeit versucht mit Glück,
aus Briefen, Tagebüchern und ähn-
lichen Dokumenten einen Einblick
in die Psyche des Vormärz zu geben.
Dies Buch bekommt durch die Fülle
ausgegrabenen Materials wirklichen
Wert, es ist eine Kulturgeschichte im
Kleinen, in die man sich mit großem
Vergnügen hineinliest. blösch
*
VON UNSERN VÄTERN. Bruch-
stücke aus schweizerischen Selbst-
biographien vom fünfzehnten bis
neunzehnten Jahrhundert. Heraus-
gegeben von Otto von Greyerz. Bern,
A. Francke, 1913.
Der Erfolg des ersten Bandes,
der letzte Weihnachten erschien, rief
schon einer Fortsetzung dieser für
Schule und Haus verdienstvollen
Sammlung, die sich zur Aufgabe ge-
stellt hat, aus dem reichen Schatz
in alten Büchern und gelehrten Zeit-
schriften vergrabener Selbstbio-
graphien das Lebendige herauszu-
holen und vor allem der Jugend zu-
gänglich zu machen. Diese Absicht
veranlasste wohl auch die Aufnahme
von Bruchstücken aus Büchern, die
ohnedies in jeder Bücherei stehen
sollten, wie Gottfried Keller und
Ulrich Bräcker. Der Stern, der auf
dem Titel hinzugekommen ist, möge
freundlich über dem Unternehmen
leuchten, dass bald noch mehr sich
zu ihm gesellen können, denn das
sind Bücher, wie man sie seinen
Buben auf den Weihnachtstisch
wünscht. BLÖSCH
R. NIM FÜHR. Die Luftfahrt.
Dritte Auflage. Bearb. von F. Huth.
Aus Natur und Geisteswelt. Verlag
B. G. Teubner, Leipzig.
Wenn man diesen knappen, sach-
lich vorzüglich orientierenden Über-
blick über die bisherigen Errungen-
schaften in der Eroberung der Luft
durchgeht, so muss man nur staunen
über das Tempo, in dem sich die
Luftfahrt aus einer Spielerei zu einem
sozialen und kulturellen Faktor ent-
wickelt hat. Vor zehn Jahren ist es
den Wright gelungen, sich eine Mi-
nute lang in der Luft zu erhalten,
und heute fliegt Pegoud auf dem
Kopf und macht Purzelbäume. Es
hat einen eigenen Reiz, diesen fieber-
haft betriebenen Bestrebungen zu
folgen und dazu bietet das kleine
Büchlein neben allem technisch
Wissenswerten erwünschte Gelegen-
heit. BLÖSCH
382
tmo
NEUE BÜCHER
»OK>
ALFRED HUGGENBERGER.
Dorfgenossen. Neue Erzählungen.
R. Staackmann, Leipzig 1913.
Kaum ist ein halbes Jahr ver-
flossen, dass uns Alfred Huggen-
berger ein wertvolles Bändchen Ge-
dichte bescherte. Und schon erscheint
von ihm wieder ein Novellenbuch,
die Dorfgenossen, lauter Bauern- und
Dorfgeschichten. Denn das Bauern-
tum ist ja der fruchtbare, schwere
Grund, in dem Huggenberger wur-
zelt. Da mag sich mancher fragen:
ist denn dieser Quell der Bauern-
erzählungen und Ackerlieder noch
nicht erschöpft?... Der neue Hug-
genberger gibt die beste Antwort dar-
auf: Er enthält keine Geschichte,
die man neben den frühern missen
möchte.
Die Dorfgenossen zeigen deut-
lich einen Aufstieg des Dichters.
Nicht, dass er etwa ein Anderer,
Neuer geworden wäre! Aber Stil,
Sprache und Behandlung der Stoffe,
namentlich seelischer Zwiespältig-
keiten und Kämpfe, zeigen seine
Eigenart und Ursprünglichkeit noch
reifer, ausgeprägter. In der Zeich-
nung seiner Menschen, der Schilde-
rung der Ereignisse, der Wiedergabe
von Gesprächen und Gedanken: über-
all zeigt sich nach wie vor ein wei-
ses Maß- und Ziel-Halten, eine si-
chere Selbstbeherrschung.
Fast unerschöpflich erscheint nach
dem Lesen der Dorfgenossen Hug-
genbergers Welt an Eigenmenschen.
Da ist der Held der ersten Ge-
schichte, der Samuel Kämpf, „der
Wulkenmacher", der seinen Tabak
im Keller aufbewahrt und ihn von
Zeit zu Zeit mit etwas Wasser be-
spritzt, weil man „mit beintrockenem
Kraut niemals eine anständige Wulke
fertig zu bringen vermag". Er ist der
Philosoph unter Huggenbergers neuen
Helden. Seine Lebensbeichte an den
jungen Mit-Taglöhner, die er mit den
Worten einleitet: „ich kann Dir sa-
gen, es hat mich beim Rauchen schon
gewundert, dass meine Wulken nicht
abwärts gehen, statt aufwärts. Halt
wegen dem vielen Studium, das da-
rin ist," ist in ihrer Schlichtheit so
schön, dass ich sie am liebsten hier
wörtlich wiedergeben möchte. Nur
die gesunde Kunst eines Huggen-
berger konnte die sittliche Gradheit
und Kraft zeugen, die in der ruhigen
Erkenntnis des Samuel Kämpf liegt,
er habe seine ungute zweite Ehe
reichlich verdient durch seine Un-
treue an seinem ersten Weibe. Nur
aus Huggenbergers Können konnte
eine so zarte, reine Erzählung her-
vorgehen, wie sie die Worte des
„Wulkenmachers" vom Finden und
Verlieren seiner ersten Frau bilden.
Und es bedurfte Huggenbergers
scharfen Blickes fürs Leben, um die
wehmütig zufriedenen Worte des Sa-
muel Kämpf am Schluss seines Ge-
ständnisses so wirklichkeitswahr zu
sagen, von der Freude und dem
Trost, den er bei den wechselnden
Gebilden der Tabakwolken finde.
Diesem Original steht die Mutter
Spleiß mit ihrem Kerstenberger-
Kirchturmhochmut {Die heimliche
Macht) zur Seite, die standesstolze
Frau, die ihrem Jungen zur Kon-
firmation eine silberne Uhr schenkt
mit dem darin eingegrabenen Spruche
„Denk' daran, wer Du bist!" und
der Presi Heinrich Spleiß, der sei-
nen Sohn ruhig vom Hof schickt,
weil er's wagte, eine arme Guldene-
rin zu freien. Dann der Junggeselle,
der „Tässli-Bender", in fohann Ben-
ders Heiratsjahr, dessen Weltan-
schauung in dem Satze gipfelt, dass
es jedem schon in der Wiege be-
stimmt sei, ob er „bei der andern
Sorte" — so nennt er das Weiber-
volk — ein Glücksaff oder ein Pech-
383
»OK)
NEUE BÜCHER
K>K>
vogel sei. Oder der alte Bender, der
seinen beiden Söhnen eine so hoch-
diplomatische Rede über das Hei-
raten hält. Sie beginnt: „Dass mir
halt nur keiner auf Geld sieht!" und
endet: ^Und vor einem, der's nicht
wagt und probiert und den Bengel
ein wenig hoch wirft, vor dem hab'
ich nur für drei Rappen Respekt."
Wie fein ist in Huggenbergers
Erzählungen jeweilen das Werden
und Vergehen, das Wachsen und
Schwinden einer Neigung begründet.
Wie prächtig ist zum Beispiel in
Klaus Inzuben vorbereitet, dass Her-
mine dem ungeliebten Taubenmöös-
1er das Ja gibt! Dabei bewirken
nicht große, außergewöhnliche Er-
eignisse die Schicksalswendungen,
sondern kleine, scheinbar unbedeut-
same Vorkomnisse des täglichen
Lebens. Das Gespräch der Verlob-
ten auf dem Taubenmoos bei dem
schwarzen Fohlen und ihr gemein-
samer Besuch beim Schreiner Manz
sind zwei der tiefst-innerlichen Sze-
nen dieser Art.
Und nicht minder der Moment,
da Jakob Bender mit der Legler-
Alwine Reben werkt und das Mäd-
chen, grad als er sie ums Heiraten
fragen will, mit ihrer Hacke einen
dicken Frosch totschlägt und da-
durch ihrem heimlichen Freier sei-
nen Vorsatz gründlich austreibt. Hier
hat der Dichter wirkungsvoll zwei
Bauerntypen einander gegenüberge-
stellt: auf der einen Seite die Legler-
Alwine mit dem „scharfen Zug um
ihren auffallend kleinen Mund", die
jeden Frosch, der ihr über den Weg
hüpft, kaltblütig totschlägt, mit der
bequemen wie unrichtigen Begrün-
dung „Du nütz'sch jo nütl"; auf der
andern Seite Jakob Bender, der mit
seiner warmen Liebe zur Schöpfung
auch eines plumpen Frosches Leben .
heilig achtet.
Ich wüsste von den Dorfgenossen
noch vieles zu sagen: von den klei-
nen, feinen Zügen, mit welchen
Huggenberger seine Menschen immer
so scharf zu zeichnen verstand; von
der lauteren Poesie, die er in jedes f
Ding, selbst in das Polieren eines
harthölzernen Schrankes hineinträgt;
von der Liebe zur Heimat, die immer
wieder in seinen Geschichten atmet.
Der beste Maßstab für den Kunst-
wert des Buches aber ist wohl das:
man mag es wieder und wieder lesen,
man findet mit jedem Mal neue
Schönheiten darin.
BERTHA VOGEL
GOTTLIEB BINDER. Alte Nester.
Erster Band. Zürich, Orell Füßli.
Vor Jahresfrist etwa ließ derselbe
Verfasser ein Büchlein über den
Zürichsee erscheinen, das die selben
Vorzüge, aber auch die selben
Schwächen aufwies wie dieses erste
Buch einer größer geplanten Samm-
lung schweizerischer Städtebilder.
Ein jugendlicher, naiver Enthusias-
mus lebt sich in einem ziemlich ver-
wahrlosten Stil aus. Man freut sich
über eine solche Begeisterungsfähig-
keit, die bei Altbekanntestem Ent-
deckerfreuden feiert, und ärgert sich
über die Sorglosigkeit, mit der ein
Buch geschrieben und in die Welt
gesetzt wird. Greyerz, Murten, Solo-
thurn, Bremgarten, Schaffhausen und
Werdenberg sind in diesem ersten
Band vereinigt, jedes Städtebild aus
einem begeisterten Rundgang • und
einem entsetzlich nüchternen und
ziemlich billig gewonnenen Ge-
schichtsauszug zusammengesetzt.
Schade um das wohl ehrlicher Be-
geisterung entsprungene Wollen.
BLÖSCH
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
384
DOPPELSTERN
In Stiller Nacht staunt wohl der Astronom
Zuweilen über neues Sternenflammen.
Von jeher, dort am blauen Himmelsdom,
Kreisten ihm Zwillingsterne eng zusammen.
Nun mocht' ein Weltenbrand die beiden einen, .
Ein Sternensturz, so lodert auf ihr Scheinen.
Und manche Nacht schlägt dieser Glanz empor —
Wie lang? — ihm Monde, dort — vielleicht Minuten!
Doch einmal zeigt dem Sternenmann sein Rohr
Gemindert schon die unbekannten Gluten,
Vergangen dann, erloschen, Glanz und Helle,
Einsam ein Sternlein blinkt an jener Stelle.
385
Ein Wunder war's — auch in der Sternenflut,
Nur einem wird's, in all den Millionen.
Wohl mir! Sterngleich sank so in meine Glut
Dein ganzes Sein, an meiner Brust zn wohnen.
Seit Kindheit zogen wir ja nah die Bogen,
Und näher — bis zum Ineinanderwogen.
Mein Zwillingstern! — In deiner Liebe nur
Hat doch mein wahres Leben erst begonnen,
Aufsprangen alle Quellen, helle Bronnen,
Licht und Getön füllten der Tage Flur.
Kraft wuchs und Freude, als zwei Adlerschwingen,
Die hoben mächtig Schaffen mir und Singen.
Schuf ich ein Bleibendes — dein sei der Ruhm!
Denn schwinden mussten Zagen, wie Entsagen,
Vor deinem fraulich stillen Heldentum,
Und Geistesfeuer durften hoch aufschlagen. — % —
Mein Stern verglomm! Glanz will, mit ihm, verscheinen.
Einsam|mein Pfad — ein Ziel nur! — neu Vereinen!
ALFRED NIEDERMANN
386
GOTTFRIED KELLER IN EINEM
BRIEFE BETSY MEYERS
Was für eine feine Künstlerin des Wortes Conrad Ferdinand Meyers
(im April 1912 einundachtzigjährig verstorbene) Schwester gewesen ist, das
hat das wunderschöne Buch ihrer Erinnerungen an den Bruder jedem Leser
erwiesen. Von dieser wahrhaft dichterischen Begabung Betsy Meyers erhielt
man vor kurzem eine neue Probe durch die Publikation zweier Briefe an
eine Dame, die diese in der Täglichen Rundschau (Nr. 169 und 170 der
Unterhaltungsbeilage) der Öffentlichkeit bekannt gegeben hat. In dem zweiten
dieser behaglich sich verbreitenden Schreiben, das datiert ist vom Chalet
Rischmatt, 10. November 1908, kommt Betsy Meyer auf das Verhältnis ihres
Bruders zu Gottfried Keller zu sprechen, und von hier aus entwirft sie
dann die folgende Schilderung, die es im vollsten Maße verdient, auch
einem Leserkreis, der von jener Publikation in dem genannten Berliner
Blatt keine Kenntnis hat nehmen können, vorgelegt zu werden.
. . . Meinesteüs freute ich mich immer mit meinem Bruder,
den Meister Gottfried zu treffen, zum Beispiel auf dem Boote —
Besuche machte er überhaupt nicht — und habe nie anders als —
natürlich im Zürcher Dialekt — in selbstverständlicher Einfachheit,
im V^ertrauen und Verständnis, wie mit jedem andern verdienst-
vollen Landsmanne, mit ihm verkehrt. Er sprach dann ruhig,
etwas langsam, aber nie mit überlauter Stimme, in festen präzi-
sen Sätzen seine Meinung äußernd. Meist mit meinem Bruder
über Kunst und Literatur!
Was er sagte, haftete, und diese zufälligen Begegnungen auf
dem blauen See hinterließen einen guten Eindruck. Freilich waren
wir damals alle schon vernünftige Leute, die des Leben Mittags-
höhe überschritten hatten. Keller, ein Fünfziger, trug ein gewal-
tiges Haupt auf breiten Schultern ; das Fußgestell dieser impo-
santen Büste dagegen war schwach und im Verhältnis dazu klein
und unansehnlich. So mochte er, längeren Fußtouren entsagend,
bei seiner verständnisvollen Liebe für die heimatliche Natur schon
in der kühlen Fahrt längs der schönen Seeufer Genuss finden
und gute Stimmung.
in früheren Zeiten und an Abendtafeln, so wusste ich von
zwei Zeuginnen, von einer liebenswürdigen Malerin und von
unserer Johanna Spyri, konnte freilich die Situation unbehaglich
werden, da Keller den Alkohol nicht vertrug und einen grimmigen
387
Wein trank. Da konnte er beim ersten Glase geistreich und
höchst hebenswürdig werden, bei den späteren aber in dumpfes
Schweigen versinken und zuletzt unvermittelt zu hellem Zorn
und Tätlichkeiten übergehen, so dass er vor die ^Türe gesetzt
werden musste.
Er selbst litt natürlich unter dieser Schwäche. Wie schade
das war, und wie stark sein Leben dadurch beeinflusst wurde,
ließ sich nicht ermessen. Am wenigsten von Fernstehenden oder
von der ihn umgebenden Zürcher Gesellschaft, die dieses Elend
des großen Dichters humoristisch auffasste und ungezählte
Histörchen von ihrem „Gottfriedle" zu erzählen wusste.
Uns tat er leid. — Einst, so erzählte Dr. Frangois Wille,
der Keller hochhielt, verweilte er sich bei mir, hier in Mariafeld,
bei lebhafter Unterhaltung zu lange beim Glase. Ich ließ ihn
nachts nicht mehr fort, sondern führte ihn in unser Gastgemach
drüben im Nebenhause, versorgte ihn und bat, rasch zu Bette zu
gehen. Nach einer — nach zwei Stunden sah ich, vom Zimmer
aus, in dem seinigen durchs Fenster noch immer das auf dem
Tische stehende Licht brennen. — Ich ging nach ihm zu sehen.
Da saß er betrübt, noch angezogen, wie betäubt, auf dem Bett-
rande, sah mich verworren an und sagte „Sind Sie's? Bin ich
bei Ihnen? Mir war, ich sei in der Sonne zu Küsnacht und sollte
gerade hinaus geworfen werden."
Dr. Fran^ois Wille, der bedeutend ältere, hatte viel Verständ-
nis für ihn und behandelte ihn mit geradezu zärtlicher Rücksicht.
Einmal, als ich, nach der Verheiratung meines Bruders, allein
in Meilen wohnte, war ich zur altgewohnten Nachmittagstafel-
runde nach Mariafeld geladen worden, wo ich meine in Wangens-
bach-Küsnacht wohnenden Geschwister zu finden hoffte. Es mag
im Sommer 1876 gewesen sein. Zu meiner Überraschung fand
ich beim Eintritt in Frau Elizas trauliches Empfangszimmer dort
Meister Gottfried als gefeierten, ernsten Gast in der Sofaecke
sitzen. Ein Verehrer Kellers, den auch Willes kannten, der als
viel beschäftigter Arzt einem Seebadetablissement in Venedig vor-
stand, hatte seine noch jugendliche, nach der deutschen Heimat
reisende Frau nicht begleiten können und sie, früher eine be-
liebte Bühnensängerin, auf ihrer Durchreise in Zürich unter des
Dichters ritterlichen Schutz gesteUt. Heute waren sie dann beide
388
in Wllles gastliches Haus am Seeufer zur Mittagstafel geladen
worden im Geleite eines musikalischen, sehr alten, aber stets
jovialen und noch äußerst beweglichen Zürcher Herrn, der, irre
ich nicht, Präsident der Musikgesellschaft und des zürcherischen
Bühnenvorstandes war.
Neben Keller saß die Reisende, eine anmutige, blühende
Blonde, mit der freundlichen Hausfrau in gemeinsame Reise-
erinnerungen vertieft. Die Herren, die Kaffeetasse in der Hand,
bewegten sich in stehenden Gruppen und zogen auch den Dichter
über den runden Tisch hin ins Gespräch. Er antwortete in festen,
gewichtigen Sätzen, verhielt sich aber im ganzen schweigsam,
immer und immer wieder ging die Tür auf, traten neue Gäste
ein. Es kamen meine Geschwister, ihr Schwager, damals der
umgangsfrohe Pfarrer in Küsnacht mit seiner verständigen Frau,
es kam mit ihnen auch der Dr. Adolf Calmberg aus Hessen, der
am Staatsseminar in Küsnacht die deutsche Sprache lehrte, im
stillen aber sich zum deutschen Bühnendichter berufen fühlte.
Jüngst waren zwei nette kleine Volksstücke von ihm auf der
Zürcherbühne aufgeführt worden, mit erfreulichem Erfolgt).
Mein Bruder kannte ihn von dem früheren Aufenthalt in
Küsnacht her, wo wir eine Zeit lang mit ihm sogar unter dem-
selben Dache gewohnt hatten. Als wir ihn kennen lernten, machte
er einen sehr jugendlichen Eindruck. Er liebte blaue, flatternde
Bänder auf dem sommerlichen Strohhut. Im Winter umflog ihn
sein Mantel. Befand er sich bei uns im harmlosen Kreise be-
freundeter Damen, so stellte er sich, wurde nach seinem Fache
gefragt, wohl anfangs vor: „Ich bin Dramatiker", oder er sagte,
wie einst vor unserer Johanna Spyri im tiefsten Tone: „Ich bin
Idealist!" Dabei dachte sie natürlich: Gut gebrüllt, Löwe! und
lachte. Aber ein guter und im Grunde rechtschaffener, ehrlicher
Mensch war er trotz der fliegenden Bänder und Schleifen, die
ihm übrigens die Schweizerluft, besonders in den Krisen des
Siebenzigerjahres, sie scharf zerzausend, vom Hute riss. Er hatte
damals am Seminar keine leichte Stellung und hielt sich tapfer.
') Über Calmberg vergleiche man die Einleitung, die Adolf Frey in
seiner mustergültigen Publikation der Briefe Conrad Ferdinand Meyers den
Briefen Meyers an Calmberg vorausgeschickt hat.
389
Größere Gegensätze aber als die der inneren Natur und
äußeren Erscheinung der zwei „Dichter" Keller und Calmberg,
die an jenem Mittwoch bei Dr. Willes, durch die Liebenswürdig-
keit der geistreichen Gastgeber und durch eine lange Farbenskala
harmloser Nebengäste getrennt und vereint, sich zusammenfanden,
lassen sich nicht denken. Sie waren so verschieden schon an Alter,
Autorität und Bedeutung, dass es eigentlich keinem einfiel, sie zu
vergleichen, oder den jugendlichen Aspiranten an dem wuchtigen
alten Meister zu messen.
Die zahlreich gewordene Gesellschaft trat ins Freie. Die Söhne
des Hauses mit ihren jugendschönen, lieblichen Frauen bildeten
bei Willes einen besonders anziehenden Reiz des geselligen Kreises.
Es war schön, es war eine Freude an sich, diese anmutige,
jugendliche Generation sich bewegen zu sehen. Man wandelte
nun unter den schattigen Kastanien der Terrasse und kehrte
dann, das Gut auf einem geschwungenen Kiespfade umzirkelnd,
wieder zum Hause zurück. Auf der Höhe dieses Weges fand ich
mich, höchst ungesucht an Gottfried Kellers Seite. Er wollte
offenbar etwas sagen, vielleicht, wie die meisten Bekannten da-
mals, mich fragen: „Was tun Sie denn eigentlich ganz allein in
Meilen, seit Ihr Bruder verheiratet ist?" Diese sich stets wieder-
holende Frage konnte ich damals, da ich mit mir selbst noch
nicht ganz im klaren war, nicht ohne weiteres beantworten; so
kam ich denn dem Frager zuvor und fing an von seinen Ge-
dichten zu reden, von einem, das mir besonders lieb war. „Eine
Skizze" murrte er, dann kamen wir auf die Jugendzeit seines
Grünen Heinrich zu reden — auf das von ihm wunderbar
treu und doch mit einem altertümlich romantischen Hauch ge-
gebene Stimmungsbild der altvaterischen Stadt und ihrer Bür-
ger. — So näherten wir uns durch den schön gepflegten kleinen
Blumengarten unter Frau Elizas Fenstern dem Herrenhause. Eben
trat Dr. Wille ins Freie, erblickte die langsam Schreitenden, eilte
auf Keller zu, ergriff seinen Arm und flüsterte, ihn wegführend,
zutraulich in sein Ohr: „Sie müssen etwas ausruhen, sich nach
dem Essen ein bisschen legen," konnte ich verstehen. Dann trat
Wille wieder unter die auf der Baumterrasse rastende Gesellschaft.
„Sehen Sie, sagte er aufs Gestade des sommerblauen Seespiegels
hinunterweisend, ich habe mir kürzlich ein neues Stück Land
390
gekauft, eine Rebhalde, und am Ufer drunten einen Pavillon mit
einer Badeeinrichtung gebaut! Ich musste von hier an den See
vordringen, es war die unabweisbare Notwendigkeit. Ich führe
Sie hinunter, Sie müssen meine neue Anlage und die weite Aus-
sicht, die sie bietet, sehen." So folgten wir ihm denn alle, durch
die kleine Pforte der Gartenmauer am Ende der Allee über die
alte obere und die sich hier mit ihr vereinigende staubige See-
straße, an die Pforte seines neuen Besitzes. Wenige Schritte —
die untere Straße, die hier ziemlich hoch liegt, nach der See-
seite einfassend — zog sich, von Mauern gestützt, das Gelände
über den sich hier in steilem Abhang nach dem kiesigen Ufer
senkenden Streifen Weinberg. Eine feste, neue, nicht allzu breite
Steintreppe führte sicher, aber nach Landesbrauch geländerlos
von der Straße stracks und gerade in die hübsche Seeanlage,
eine breite, lichte Terrasse hart neben den anschlagenden Wellen.
Die Treppe mündete in einen ebenso geraden, neuen Kies-
weg, an dessen Ende das neue Sommerhaus — ein hübscher, rings
von geschnitzten Holzgeländern und gedeckten Baikonen, soge-
nannten Lauben, umgebener Chaletbau — stand. Hier zwischen
dem Blau des Himmels und der Seeweite im Schatten des leich-
ten Daches, neben der kühlenden Flut, war es gut sein. Größere
Gruppen der Gesellschaft bewegten sich plaudernd längs des
Ufers nach dem anderen Ende der Terrasse zu einer Ruhebank,
wo man sich um Frau Eliza Wille scharte.
Wie kam es, dass ich mit ein paar andern Gästen ums Ge-
länder gelehnt, im Schatten des Pavillons zurückblieb? Zufall! —
es war nach dem heißen Sommertage ein Genuss, zu schauen
und zu schweigen. Zu mir trat Dr. Calmberg. Seit mein Bruder
verheiratet wieder als sein Nachbar in Küsnacht wohnte, hatte
ich ihn aus den Augen verloren. Vielleicht wollte er fragen, seit
wann ich aus Italien zurückgekehrt sei und wie es mir gehe.
Zugleich aber schien der von Gottfried Keller geschützten frühe-
ren Bühnenkünstlerin der Augenblick gekommen, des bescheide-
nen Dramatikers sich etwas anzunehmen. Sie trat zu uns in den
kühlen Schatten und begann — vielleicht selbst gegen den Bann
der Sonnenmüdigkeit ankämpfend — aufs lebhafteste und liebens-
würdigste dem schweigsamen Bühnendichter von der Bühne zu
erzählen. Von der eigenen Laufbahn, ihren Lieblingsrollen, ihren
391
Erfolgen, ihren Gefährtinnen. Sie erzählte von Christine Nilsson,
der sie in ihrer äußeren Erscheinung so geglichen habe, dass
sie zuweilen verwechselt wurden. Dann brachte Dr. Calmberg
das Gespräch auf Volksstücke. Die hübsche frühere Primadonna
geriet immer mehr in ihr altes Lebenselement. Sie erzählte, be-
gann erst leise, dann lauter und ausdrucksvoller zu rezitieren, zu
singen. Schließlich war es ein Tiroler Duett! Das Holzgeländer,
die Hütte, der blaue See mochten sie in ferne schöne Zeiten der
Kunstausübung zurückversetzen. Sie stand vor uns, die leibhaftige
Sennerin, mutwillig ergriff sie bald die Rechte, bald die Linke des
bewundernd aber unglaublich steif vor ihr stehenden Seminar-
lehrers, trällerte, drehte sich geschmeidig und leicht auf dem Ab-
satz . . . kurz, es war für mich, die unbeteiligte Dritte, ein
allerliebstes, ein lustiges Zusehen — die harmloseste feinste
Komik!
Da plötzlich wandten wir alle drei unsere Blicke auf den-
selben Punkt, nach der Höhe der Straße, der wir zugekehrt stan-
den. Dort zwischen den Türpfosten, auf den obersten Treppen-
stufen, war ein dunkler Punkt erschienen. Gottfried Keller stand
dort und getraute sich nicht vorwärts die Treppe stracks hinunter-
zuschreiten. Einen Augenblick schien es, als wollte er, sich seit-
wärts legend, an den Stufen sich halten und herunterklimmen.
Einen schnellen Gedanken hatten wir alle drei: „Hinauf! Ihm
den Arm bieten!" Und ebenso den zweiten : „Du darfst es nicht!"
Meinerseits hätte ihn diese Hilfe als ein übel angebrachter
Diakonissendienst gekränkt. Calmberg fürchtete dabei, und ge-
wiss mit Recht, von ihm als ein seiner jungen raschen Beine sich
überhebender Fant angefahren zu werden.
Sollte die Sängerin dem Ritter, der sie beschützte, in diesem
Momente die Hand bieten? Sie durfte ihn gar nicht gesehen
haben! Zum Glück war es wirklich nur ein kurzer Augenblick!
Schon nahte von der anderen Seite der allein berechtigte
Führer. Raschen Schrittes den Platz durchquerend, eilte der alte
Dr. Wille die Treppe hinauf, bot heiter auf ihn einredend, dem
Dichter den Arm und führte ihn fest und schnell die Stufen hin-
unter quer hinüber zur Herrengruppe. Uns gönnte er keinen
Blick mehr. Er empfahl sich der gütigen Hausfrau und tat ihr,
Müdigkeit vorschützend, seinen Entschluss kund, sofort zum
392
nahen Landungsplatze zu gehen, um das nächste nach Zürich
fahrende Boot zu besteigen. Die junge Dame erbot sich ein an-
derer Herr, ohne Zweifel der diesen Auftrag sich zur Ehre rech-
nende greise Präsident der Theatergesellschaft, später in ihr Hotel
zurückzubegleiten.
Mit was haben Sie denn eigentlich sich unterhalten drüben
vor dem Pavillon? fragte mich nachher Frau Eliza belustigt. Viel-
leicht hatte Keller ein Wort fallen lassen, er brauche nicht länger
zu bleiben, sein Schützling unterhalte sich ebenso gut ohne ihn.
Das unbedeutende Stimmungsbildchen sagt Ihnen, teure Frau,
am besten, wie es sich mit der Angst, die Gottfried Keller seinen
Bekannten und Verehren einflößte, verhielt. Es war keine Angst
vor ihm, sondern mehr Angst um ihn, bei allen wenigstens die
ihn hochhielten.
D D D
NACH DEM CHINESISCHEN DES LAOTSE
1.
Und ficht mit ihrer Tücke dich an die böse Welt,
So ziehe dich zurücke in deines Herzens Zelt.
Doch tönt des Feindes Locken aus deinem eignen Haus,
So schreite ohne Stocken ins Weltgewühl hinaus !
Wahr' dich des Herzens Milde vor wundenvollem Krieg,
So wohnst du unterm Schilde der Sanhmut stets im Sieg!
11.
Zu den Treuen heg ich Treue,
Treue zu den Ungetreuen,
Jeder soll sich an mir freuen,
Keine Liebe mich gereuen,
Dass die Welt sich bald erneue!
Für die Guten heg ich Güte,
Güte für die Gütelosen,
Mögen Böse sich erbosen, —
Alle wie die Kinder kosen
Will der Gott mir im Gemüte.
ERIKA RHEINSCH
Aus dem Gedichtband Die Laute, erschienen bei Egon Fleischel & Co., Berlin.
D D D
393
DIE HOCHZEIT DES
LEONZ WANGELER
NOVELLE VON ROBERT JAKOB LANG
Leonz Wangeier saß auf dem vorderen Querholz des Leitern-
wagens und dachte nach. Das kam hin und wieder vor. Be-
sonders wenri er nach Feierabend mit den Gäulen des Sonnen-
wirts noch irgend welche Fuhrdienste tat, so schien ihm selbst-
verständlich, über die Gestaltung seiner Zukunft nachzudenken.
Er hockte dann zusammengeduckt, die gekreuzten Hände um
das Leitzeug gelegt und sah mit abwesenden Augen auf die
schweifschlagenden Pferde. Manchmal fuhr der Wagen an einen
Stein, dann hob er einen Augenblick seinen Kopf gerade auf,
um ihn gleich wieder auf die Brust sinken zu lassen. In seine
Pläne versunken, hörte er weder das Klirren der Metalbeschläge,
noch das kurze Schnauben der Rosse. Um ihn her war mit
einemmale nichts als die große Sehnsucht nach seiner Zukunft.
Es war eine behäbige Zukunft, welche sich Leonz Wangeier aus-
malte; eine Zukunft, mit einem roten Giebeldach in einem Nest
von Obstbäumen, einem niedern Viehstall mit einem vollen
Dutzend Stück Vieh. Kurz, es war eine runde Bauernzukunft.
Aber vorderhand war der Leonz Wangeier gewöhnlicher Fabrik-
arbeiter, hatte einen bescheidenen Zahltag und einen armen,
heimlichen Schatz. Das hinderte ihn aber nicht daran, alles sich
auszudenken und die Schwierigkeit lag in dem: er wusste nicht,
sollte er das Geld, welches er seit fünfzehn Jahren zusammen-
gespart hatte, hinlegen, um ein Heimweselein anzuzahlen, oder
sollte er seinen Schatz damit heimführen. Denn das war ausge-
rechnet, beides zusammen ging nicht an und die Verwirklichung
der einen Zukunft schob die der andern, zehn Jahre rnindestens,
hinaus. Nach und nach aber schien doch eine Überlegung
der Sache die Richtung zum Entschluss geben zu wollen: näm-
lich, es war '^wahrscheinlich, dass in zehn Jahren die Jungfer
Sophie Hunkeler nicht an Reizen zunehmen würde, während
der Hof auch nach der Zeit immer noch das selbe galt. Es
wäre also alles bereit gewesen, um der Jungfer einen dies-
394
bezüglichen Antrag zu stellen, aber da war der Haken. Der
Leonz Wangeier hatte nicht die geringste Ahnung, welcher Art
ihn das Fräulein empfangen würde, und vor einer Absage scheute
er sich wie vor einem Steuerzettel. Allerlei Redewendungen
wälzte der gute Mann im Kopf herum, während er so vor sei-
ner Ladung Käse dem Güterbahnhof zufuhr. Er kam auf keine
Lösung und wurde nicht mit sich eins, wie er die Sache angat-
tigen wollte.
Der Abend war von der wundervollen Klarheit, welche auf
einen warmen Herbsttag zu folgen pflegt. Über dem fernen Hügel-
rande ging ein Leuchten auf, von Gold und Silber zauberhaft
gemengt. Die Bäume hoben sich schwarz auf diesem hellen Grund
ab und man sah die Bewegung jedes Blattes an jedem Zweige.
Wohl an die zwanzig standen die beladenen Wagen auf dem
Platz und immerwieder fuhren zwei vor, um an die Bahnwagen zu
legen, in welche die Käse geschichtet wurden. Leonz Wangeier
hatte den Handgaul an einen Pflock gebunden und saß nun mit
hängenden Beinen, seine kurze Pfeife rauchend, auf dem Schaff-
nersitz eines leeren Kohlenwagens. Er fasste einen großen Ent-
schluss. Morgen würde er die entscheidende Frage tun. Es hatte keinen
Sinn, die Sache hinauszuzögern und brachte einem nur unnötig
in Wallung. Zufrieden mit seinen Gedanken rackelte er sich von
seinem hohen Sitz herab und ging auf seinen Wagen zu.
Der Großbauer Meier stand bei der Vorderfuhre und kürzte
die Stränge:
„He Wangeier, ich hätt was für dich jetzt, etwas ganz feines!
Die Schafmatt kannst haben, nichts musst geben dafür, geschenkt
bekommsts, ich muss noch drauflegen. Aber es war mir mehr
drum zu tun, dass wieder Ordnung in das Zeug käme. Er hats
wüst versauet, der Arnold, und für dich täts passen. Nicht zu
groß und nicht zu klein, langt für fünf Küh. ist auch ein Bitzen
Wald dabei. Der reine Schleck! Besinn dich!"
Morgen würde der Leonz Wangeier die entscheidende Frage
tun ! Man muss nie heute zu wissen vorgeben, was man morgen
tun will. Man kann nämlich nur so wollen, wie man muss. Das
erfuhr der Lönzi. Morgen würde er . . . warum würde er mor-
gen? Das hatte doch noch ganz völlig genügend Zeit, und zu-
dem die Sophie, die lief ihm nicht davon. Gar reich war sie nicht,
395
und allzu schön fand sie sogar der Lönzi nicht. Sie war ein
großes mageres Mädchen, mit einer langen, scharfen Nase und
Steckenhaaren. Es gab Leute, welche sagten, sie hätte einen schie-
fen Mund; aber der Leonz Wangeier behauptete das Gegenteil
und auf ihn kam es an. Ihre Haupttugenden aber waren ihre
Häuslichkeit und ihre Schaffigkeit. Es hatte keine Gefahr, dass
ihm jemand die Jungfer entführte und da verschob er, mit er-
neutem Entschluss, seine Werbung.
Es ist ein merkwürdiges Ding um eine Fabrik. Die Leute
werden in ihrem Innern still und beweglich wie Schatten.
Die Maschinen rattern, schieben sich, drehen ihre Körper. Die
Menschen stehen um sie herum, bald vor ihnen, bald hinter, bald
neben ihnen und sie sagen nichts, streichen da und dort über
einen glatten Teil, als möchten sie sich darüber klar werden, dass
sie doch nicht träumen und haben stumpfe graue Augen, ohne
Leuchten und ohne Willen. Oder sie sind keine guten Arbeiter;
dann steht die Maschine alle Stunden einmal still, wie um sich
zu beschweren, dass das Menschlein da neben ihr einen beson-
deren Willen hat, und darüber, dass der besondere Wille eine
besondere Richtung von ihr weg aufweist. Solche Arbeiter haben
harte Augen wie Raubvögel, und wo viel Augen von solchem
Glanz in vier Fabrikmauern sind, da ist ein Sturmwind im Anzug,
und es gibt Aussicht auf Gefahr.
Der Wangeier Leonz war einer von den Arbeitern mit den
grauen Augen und den kosenden Bewegungen. Seine Maschine
lief ohne Unterbruch und hatte einen murmelnden Gang. Es
war wie ein Bächlein, welches immer gleich schmal durch flaches
Gelände fließt. Es gab keine Strudel und launigen Kurven, aber es
gab auch keine Überschwemmungen und Verheerungen. So schaffte
die Maschine Wangelers bis auf den heutigen Tag. Aber heute
hatte das mit einemmal ein Ende; es kamen da ein Heimwesen
dazwischen, vier Kühe, ein Bitzen Wald, und für das waren die
Presswalzen nicht eingerichtet und der Flügel auch nicht, trotz
seiner über zweitausend Umdrehungen in der Minute. Bis jetzt
legte Lönzi, wenn die Rolle aus war, zur rechten Zeit eine neue
auf, dass deren Watte ein Stück breit über die der auslaufenden
396
kam. Dann merkte die Maschine nichts; denn man merkt selten
etwas, wenn mans gut hat, besser als zu erwarten ist. Hingegen
wenn auf einmal leer geschluckt werden sollte, so war das zu
wenig und man kam merklich ins Giften. Man setzte die Me-
lodie einen Ton höher ein und dann stimmte es nicht mehr, weil
man doch als Maschine nicht transponieren kann. Dann war
die Dissonanz und eine verpfuschte Wattenrolle da. Es gab heute
an der Maschine des Leonz Wangeier verschiedene Dissonanzen
und die Wattenrollen waren merkwürdig unregelmäßig. Ein Glück
war es, dass Wangelers Maschine das Ausgangsprodukt für die
Maschine der Sophie Hunkeler abgab, denn auf die Weise wurde
der Mangel nicht offensichtlich.
. . . Wenn sich ein einfacher Mensch Gedanken macht, so ist
er entweder verliebt, oder er hat Sorgen. Aus der ersten Ursache
hatte sich Sophie Hunkeler schon zu wiederholtenmalen Gedan-
ken gemacht; deshalb war sie skeptisch. Aber weil sie der Lönzi
heute so sonderbar ansah, und man dafür irgendwelche Erklärung
haben musste, so zauberte sie sich auch diesmal wieder ein ver-
liebtes Erlebnis zurecht und hätte ob demselben alle mögliche
Unregelmäßigkeit übersehen . . .
Dann kam nach fünf langen Stunden für Leonz Wangeier
die Mittagspause. Er dachte an gestern; nämlich er hatte den
Entschluss gefasst gehabt, während dieser Zeit sein Glück bei der
Jungfer Sophie zu versuchen. Merkwürdig, dass ich jetzt even-
tuel schon versprochen wäre, wenn der Meier gestern nichts ge-
sagt hätte, dachte er, während er mit der Linken langsam über
die glatten Presswalzen der abgestellten Maschine strich. Die
Sonne, welche durch die trüben Scheiben des hohen Fensters
mit steilen Strahlen in den Raum fiel, spielte seltsame Lichter
auf das blanke Metall.
. . . Die Jungfer Sophie Hunkeler hatte auf der Bank neben
Lönzi Platz genommen. Sie breitete umständlich die Herrlichkeiten
ihres Mittagsmahles auf dem Deckel des Korbes, welchen sie
zwischen sich und Wangeier gestellt hatte, aus. Lönzi tat einen
großen Schnaufer. Er überlegte, dass wenn der Meier nicht ge-
wesen wäre, er jetzt wahrscheinlich auch dieses, nach seinen
Junggesellenbegriffen opulenten Mahles teilhaftig geworden wäre.
Es überkam ihn nachgerade eine gelinde Aufregung über den
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ungebetenen Störefried und er fing an zu erwägen, ob es nicht
schließlich sicherer wäre, seinen gestrigen ersten Entschluss durch-
zusetzen. Die Mahlzeit der Jungfer Sophie ging ihrem Ende ent-
gen. Es lagen nur noch zwei Apfelküchlein, welche die Jungfer
vom Sonntag übrig hatte, auf dem schwarzen Geflecht des
Korbdeckels. Da gab sich Leonz Wangeier einen Ruck.
„Du Sophie", sagte er, „was meinst, wollen wirs zusammen
versuchen ?"
Sie sah ihn höchst verwundert an, und da sie aus seinen
Mienen nicht recht klug wurde, ob die Anfrage einen einfachen
Bezug auf die Apfelküchlein hatte, fragte sie etwas barsch:
„Was meinst?"
„He, ob wirs zusammen versuchen wollten, 's Heiraten?" So
im Klaren schluckte die Sophie zweimal, nahm eines der Küch-
lein zwischen Daumen und Zeigefinger streckte es dem Lönzi
hin und entschloss:
„Warum nicht!"
Und da sie ihren jetzigen Bräutigam mit großem Behagen in
das Küchlein beißen sah, fügte sie bei:
„Gell sie sind gut?"
So versprach sich der Leonz Wangeier. Vorläufig, das heißt
solange er an dem Apfelküchlein zu schmatzen hatte, deuchte
ihn das eine schöne und schmackhafte Sache. Nachher sah er
sich seine zukünftige Frau genauer an und stellte fest, dass das
mit dem schiefen Maul stimmte. Schließlich gab er sich auch
so zufrieden, als ihm eine immerhin weiche Hand langsam vom
Scheitel in den Nacken strich. Es war etwas gutes um eine
Frau; da mochte man nun sagen was man wollte.
Die beiden Leutchen mussten wieder an ihre Maschinen.
Die Wattenrollen wurden noch etwas unregelmäßiger als am
Vormittag und es gab zwei Paar Augen, welche weder guten
noch bösen Arbeitern zuzuschreiben waren, und welche ein merk-
würdig schmunzelndes Licht ausstrahlten.
Langsamen Schrittes gingen sie nebeneinander her, dem
Mühlebach entlang. Das Wässerlein nahm von der Mühle weg
398
seinen Lauf durch die Wiesen, um sich etwa eine Stunde unterhalb
des Schaufelrades allmähh'ch in ein schlammiges Rinnsälein zu
verwandeln, da die Wässerungsgraben ihm alles frische Wasser
ableiteten. Alle dreißig Schritte gingen vor diesen Ausflüssen
breite Schleusenbalken über den Fluss und bildeten kleine
Brücklein.
Der Abend war wieder so klar wie tags vorher. Über die
Ebene ging der dünne Rauch schwälender Herbstfeuer. In der
Ferne hörte man den Leerlauf der Fabrik rauschen. Hin und
wieder raschelten die Bäume und gelbe Blätter flatterten in der
goldigen Luft. Leonz Wangeier hatte ein merkwürdiges Gefühl.
Es war ihm, als müsste er nun etwas sagen, aber er hatte Angst
etwas Dummes zu reden. Er hatte so wenig wie das magere
Mädchen, welches neben ihm ging, viel mit weichen Stimmungen
zu tun gehabt, und nun kam etwas über ihn, das ihn merkwürdig
froh und bang zugleich machte. Als müsste er sich bei seiner
Weggenossin Rat holen,* schielte er zu ihr hinüber. Er ging an
ihrer Linken und hatte damit für sich und seine Liebste das gute
Teil erwählt. Von dieser Seite war die Sophie Hunkeler beinahe
hübsch. Die dunkeln Haare, welche sie wie alle Fabrikmädchen
mit einigem Geschick zu ordnen wusste, lagen in breitem Band
bis über die Mitte der kleinen Ohren. Die langen Wimpern hingen
nachdenklich über den halbgeschlossenen Augen, und auch dem
Mund sah man von der Seite die Schiefheit nicht an. Und weil
dem so war, und die Stille des Abends über beiden lag, blühte
ihre Gemeinschaft in einem guten Zeichen auf. Der Leonz
nahm sachte ihre Hand und schritt mit einemmale ganz heiter
und zufrieden mit seiner Liebsten fürbass. Sie sahen beide mit
verwunderten Augen in den Abend hinaus. Als sie an einem der
kleinen Schleusenbrücklein stehen blieben und die Betglocke zu
läuten anhub, umhalsten sie sich und küssten sich. Sie haben
das in ihrem künftigen Eheleben nicht mehr sehr oft getan.
Nicht dass sie einander weniger zugeneigt geworden wären, aber
die Abende waren von nun an geräuschvoller, der Tag schwer
von kleinen Sorgen und die Nächte voll Müdigkeit und Schlaf.
Jetzt aber gaben sie sich ihre Zärtlichkeiten mit verlangenden
Herzen und seltsam warmen Lippen und konnten nicht satt an-
einander werden.
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Der Korb der Sophie Hunkeler lag umgestürzt am Bachbord
und auf dem Wasser schwamm das braune Krugfläschlein fort,
in welchem sie sich ihren täglichen Trunk mitnahm.
Jetzt fielen ihre Hände von einander ab, sie getrauten sich
nicht mehr sich anzusehen und gingen mit Unbeholfenheit umein-
ander herum.
„Ja, ja" sagte der Leonz Wangeier und starrte mit frohen
Augen dem tanzenden Schifflein auf dem abendroten Wasser nach:
Ja, ja!"
Und als sie seinem Blicke folgend ihr Eigentum, welches so
gemächlich dahintaumelte erkannte und ein Herrjeh in die Zu-
friedenheit blitzen ließ, hob Leonz mit Eifer seine Füße und
setzte im Galopp dem Krügiein nach und brachte es atemlos
und lachend wieder her.
„Du wirst denk mit den Herren reden müssen!"
Leonz nickte.
„Und denk zum Gemeindeschreiber wirst müssen!"
„Herrjeh, wird das ein Gerätsch geben im Dorf!"
Auch Leonz Wangeier hatte eben an das Gerede der Leute
im Dorf gedacht und daran, dass er nun dem Meier werde ab-
sagen müssen wegen der Schafmatt.
„Ja, ja!" meinte er und überlegte dabei, dass er mehr hätte
sagen sollen. Aber es kam ihm die andere Zukunft dazwischen
und wälzte sich wie ein dunkles Gewölk über den neugeschaffe-
nen zweisamen Himmel. Es verlangte ihn allein zu sein. Er
hatte sein Rad des Abendspazierganges wegen im Geschäft stehen
lassen. Sein Quartier war in einem Nachbardorfe und er fuhr
sonst allabendlich hinüber. Nun machte er aus dem, was Absicht
gewesen, eineVergesslichkeit und einen Grund sich fortzumachen.
Sie reichten sich nochmals die Hände. Dann ging er den Weg
wieder zurück und sie schritt weiter, ein klein wenig erhobeneren
Hauptes als es sonst ihre Art war.
Als er in die Nähe der Fabrik kam, schlug der Wachthund
an. Beim Obermeister, welcher seine Wohnung neben dem
Hauptgebäude hatte, klopfte er. Er habe sein Rad vergessen.
Der Meister wunderte sich, fluchte ein Weilchen und schloss ihm
den Schuppen auf. Leonz Wangeier hatte sein Rad um einige
Fränklein erstanden. Es war ein uraltes Modeil, mit einem mäch-
400
tig großen vordem und einem winzig kleinen hintern Rad. Es
brauchte Kunst, auf das Vehikel hinauf zu klettern. Leonz steckte
die Kerze seiner rot und weiß gestreiften Papierlaterne an und
fuhr weg. Der Mond war über dem östlichen Wald aufgegangen
und warf den gespenstischen Schatten des merkwürdigen Karrens
und seines Lenkers auf die weiße Straße. Über dem Fluss stiegen
Nebel auf und der Wind ging in langen Atemzügen durch die
Äste.
Am gleichen Abend gab Lönzi in der „Sonne" dem Groß-
bauer Meier seinen Bericht.
Am andern Morgen, nach einer tiefschläfigen Nacht und
nachdem er mit klaren Sinnen seine Braut begrüßt hatte, ging
Leonz Wangeier aufs Bureau. Er war noch einer von den Ar-
beitern, für welche das Privatkontor ein Heiligtum ist, in welches
man nur im Sonntagsgewand froh, sonst aber mit beladenem
Gewissen treten kann. Es gibt nicht mehr viel solche Arbeiter.
Es ist heute so selbstverständlich, sich wegen jeden Haares in
der täglichen Suppe mit den „Herren" auseinander zu setzen, in
einem Ton der unter „Du und Du" steht, dass von dem Heilig-
tum nur dann etwas übrig bleibt, wenn der Zahltag zu holen
ist und auch dann nicht mehr immer. Es kann wohl sein, dass
dieses frühere Ansehen übertrieben war, aber es schuf neben der
Furcht die Zufriedenheit und die Patriarchalität, weil Rüge und
Lob untrennbare Geschwister sind; auch dann, wenn solch ein Lob
erst gar nicht ausgesprochen wird. Wer rügt und nicht lobt, lobt,
indem er nicht rügt. Aber das hat heute keine Bedeutung mehr,
weil jeder von vornherein auch auf das Lob verzichten zu
müssen glaubt. Leonz Wangeier aber war noch einer von den
Alten. Er hatte ein starkes Abhängigkeitsgefühl vom Kontor. Das
steigerte sich oft bis zur Beklemmung, wenn er mit dieser Ein-
richtung zu tun hatte; hingegen verspürte er eine große Zufrie-
denheit, wenn ihm durch Nichtbehelligung stillschweigend Aner-
kennung ausgesprochen wurde. Nun war das aber eine andere
Sache; nun hatte nicht das Kontor mit ihm, sondern er mit dem
Kontor zu tun. Nun würde er reden müssen. Zwei, drei Mai
401
schnaufte er vor der Türe, nahm sein schmieriges Käppiein ab
und klopfte.
„Herein!"
Leonz Wangeier riss seine Hand von der Türfalle zurück.
Das war doch merkwürdig, dass er nun reden musste dadrinnen.
Davon reden, dass er heiraten möchte! Das hätte doch auch noch
Zeit gehabt, weil sie doch noch die paar Wochen im Kästlein
hangen mussten, er und die Sophie. Aber immerhin, sie hatte
ihm gesagt, dass er mit den Herren werde reden müssen, warum
sollte er es nicht heute tun? Zudem musste man doch für die
Wohnung und den Hausrat sorgen, und das Geld war in der Fa-
briksparkasse.
Drinnen rief man ihn zum zweitenmale herein!
Leonz Wangeier schob sich so schmal er konnte durch die
Tür und blieb stehen,
„So Wangeier, was ist?"
„ich habe wollen — heißt das — wegen dem Geld komme
ich, und ich hätte gern zweihundert Fränklein!"
„So so, zweihundert Franken möchte der Wangeier, so so, mor-
gen könnt Ihr sie holen!" Der Herr schrieb an seinem Brief
weiter und sah nicht mehr auf. Da nahm Leonz Wangeier die
Türe und ging; Adieu sagte er noch.
Als er draußen stand, gab er sich alle erreichbaren und grob-
schrötigsten Kosenamen. Wegen dem Heiraten war er drinnen
gewesen, und jetzt hatte er nicht einmal etwas davon gesagt.
Aber schließlich, es tat es auch noch morgen. Brummig machte
er sich an seine Maschine; Sophie Hunkeler aber wappnete sich
gegen allerlei trübe Gedanken. Als er am andern Morgen um
sein Geld sah, wusste der Herr schon Bescheid und kam ihm
mit Glückwünschen entgegen:
„Es sind dem Wangeier nur hundert Franken weggeschrieben
worden, hundert gibt ihm die Firma. So und einen schönen
Glückwunsch!"
„Aha!", sagte der Wangeier Leonz und strich mit seiner rech-
ten Hand an seinen Arbeitskleidern herunter:
„Aha!"
Dann aber sah er sich um, streckte seine Hand nach der
des Herrn, schüttelte sie eine rechte Weile:
402
„Ich sag auch schönen Dank!" ging mit starren Augen um
das Pult herum, hielt auch dem jungen Herrn die Hand hin und
schlurfte rückwärts zur Türe hinaus.
Ein Schleck war es, das Heiraten!
Man nahm eine Frau und bekam hundert Franken dazu. Es
war einer ein rechter Narr, wenn ers nicht tat. Ja ja, das musste
wohl so sein! Hundert ganze Fränklein! Er ging hinunter zur
Sophie und meldete die Sache. Und wieder leuchteten den Tag
über zwei Augenpaare ein merkwürdig schmunzelndes Licht.
Vier Wochen später saßen sie zu neunt in der Sonne im
hintern Sällein beim Hochzeitessen. Da waren sie zwei; ihr
Bruder und seine Frau und ein Bruder ihres Vaters; von seiner
Seite zwei Brüder und zwei weitverwandte Töchter, denen es um
einen Mann zu tun war. Leonz hatte sie auf eine Anfrage hin
aus lauter Quttätigkeit eingeladen. Dem Essen merkte man es
nicht an, dass es etwa nur für Verwandte berechnet war. Die
„Herren" kamen für den Wein auf; so war der auch nicht ge-
rade vom sauersten. Es wurde kräftig und ausdauernd Bescheid
getan, und langsam kam eine gemütliche Fröhlichkeit zu stände.
Der Alte fing an, Sprüche zu machen! Die Braut hatte keinen
guten Tag. Sie sah grünbleich aus und hatte müde Augen, dazu,
wie sie schon vor der Kirche gesagt hatte, einen stürmen Kopf.
Leonz Wangeier hatte seine Gedanken auch nicht recht beiein-
ander. Auch ihm flog hin und wieder ein Wirbelwind durchs Ge-
hirn. So machten sie ein stilles und unansehliches Brautpaar aus.
Aber sie klammerten sich mit ihren klarsten Gedanken aneinander
an und in jedem war das Hoffen auf eine ruhige und gute Zu-
kunft, in welcher sie einander die Sonnenplätzlein nicht streitig
machen möchten. Nach und nach erhitzte der Wein auch ihre
Sinne, und sie dachten an ein näheres Ziel und fuhren sich mit
ungelenken Bewegungen über die rauhen Hände.
Der Alte zwinkerte zu ihnen herüber und stichelte: „He
Lönzi, s'ist lang Tag?"
Leonz sah seine junge Frau mit erschrockenen Augen an,
und da er sie über und über rot werden sah, fuhr auch ihm das
Blut in den Kopf:
403
„Red nicht so saudumm!" antwortete er. Der Alte saß eine
Weile verdutzt hinter seiner Literflasche. Aber schließlich schenkte
er sich das Glas voll und ging auf die Hochzeiter zu :
„Gsundheit dann und eine Schaar Kind! Nichts für ungut
Frauelein!"
Die Ledigen kicherten. Man kam aus den Anzüglichkeiten
nicht mehr heraus. Leonz Wangeier merkte, dass es auf sie nicht
mehr ankam. Er ging vor die Türe und winkte seiner Frau
heraus. Dem Wirt ließ er den Bericht, er solle für die Leute un-
geniert sorgen, es werde alles in der Ordnung bezahlt. Dann
gingen sie Arm in Arm auf Umwegen nach Hause.
Sie hatten eine kleine Wohnung vor dem Dorf gemietet, in
einem zweistöckigen Häuslein, im einen Stock lebte eine taube
alte Frau, in den obern zogen sie ein. Drei Zimmerchen warens,
die Küche eingerechnet. Sie stiegen ohne sich loszulassen die
schmale Holztreppe hinauf und mussten sich ganz dünn machen,
um nebeneinander Platz zu haben. Dann schloss Leonz die Türe
auf, ließ seine Frau in die Stube treten und tat einen Blick durch
das Gangfenster.
Es war Herbst. Auf dem gelbbraunen Grund der Baum-
gärten flatterten dürre Blätter und die Äste waren schwarz und
kahl und bedrohlich.
Da kam den Leonz Wangeier wieder seine Zukunftsehnsucht
an, und als er seiner Frau nach in die Stube trat, da hatte er
den selben verlorenen Blick, welchen er seit Wochen nicht mehr
gehabt, und mit welchem er früher hinter den Gäulen des Son-
nenwirts saß, wenn er für diesen nach Feierabend noch Fuhr-
dienste tat. Er setzte sich neben Sophie auf einen Stuhl und
sah an die gegenüberliegende Wand. Über dem Kanapee hing
ein Muttergottesbild. Die heilige Mutter Maria trug ein Herz in
den Händen, dieses war von einem Schwert durchbohrt. Er
sah das Bild nicht. Er dachte an die Schafmatt, in zehn Jahren
vielleicht, dachte er, und fing an zu rechnen . . .
Neben ihm saß seine junge Frau mit einem leeren, ein we-
nig traurigen Lächeln und wartete.
DDD
404
ARISTIDE BRIAND
Monsieur Briand va recevoir un visiteur. II s'avance d'un
pas un peu tratnant, le dos legerement voüte, le masque un peu
dur, les traits fatigues. II souleve la draperie, Les yeux, sous les
sourcils epais, ne regardent point, iis revent. Mais vous vous
avancez. Alors la main se tend, d'un geste brusque, i'oei! s'illu-
mine, la bouche, sous la moustache rüde, se tord legerement,
redressee ä droite en forme d'entonnoir et la voix un peu sourde,
mais chaude, vous accueille d'une exclamation joyeuse. Peut-
etre va-t-il s'asseoir un instant pour vous inciter ä l'imiter, mais
bien vite, il va se redresser, il marchera ä pas lents et glissants,
en roulant dans ses doigts une cigarette, s'arretant de temps en
temps, le dos ä la cheminee ou les mains appuyees au dossier
d'un fauteuil, comme au rebord d'une tribune, pour developper
familierement sa phrase toujours musicale et caressante.
L'homme est un nerveux qui n'est pas sanguin. Aussi a-t-il
de la sensibilite mais pas de sentimentalite, des sensualites mais
pas de passions, des vivacites mais pas de brusqueries.
II est tres intelligent. La lucidite, la limpidite fluide de la
pensee, la faculte d'assimilation qui sait degager de l'expose le
plus embrouille l'essentiel et l'accessoire sont, chez lui, extraor-
dinaires. Mais cet homme intelligent n'est point du tout un in-
tellectuel. II a horreur de l'idee et des idees. II n'est point de
ceux qui jonglent avec elles pour jouir de leur choc ou de leurs
combinaisons. II n'a meme pas la curiosite intellectuelle qui
fait ce que nos peres appelaient „l'honnete homme" ; son defaut
de culture est absolu et il n'en souffre pas.
Cette intelligence ne vaut que par ses qualites intuitives. La
iogique, l'ordre des idees, tels que nous avons l'habitude de nous
les representer, lui sont inconnus. Qu'on relise l'admirable serie
des discours de la Separation ^), aucun n'apparait avec les carac-
teres de la grande composition oratoire, aucun ne rappeile ces
grands monuments harmonieux et paracheves que l'art divin d'un
Demosthene nous a legues; mais par contre nous avons la
Sensation que chacun d'eux, et dans chacun d'eux chaque phrase,
1) La Separation, 2 volumes, 1908, Eugene Fasquelle editeur, Paris.
405
chaque mot est un acte qui porte, qui atteint son but, qui veut
quelque chose et Tobtient.
Sa vie est faite comme ses discours. Aucune action n'y est
non plus methodiquement ordonnee. L'homme ne commande
point aux faits, tnais ne se laisse jamais dominer par eux; il ne
les prevoit pas, mais aucun ne le surprend. Ses ennemis diront
de lui qu'il a de „l'astuce" et de la „fourberie", ses amis qu'il
a de la „souplesse" et de la „veine", dans leur incapacite ä ap-
precier cette qualite intellectuelle rare: en realite, cette intelü-
gence intuitive excelle ä sentir et ä comprendre directement ce
qu'une intelligence rationaliste sera impuissante ä decouvrir dans
le miroir de notre logique classique.
Cet intuitif est un volontaire. Mais ne nous trompons point
sur le caractere de cette volonte. Nous concevons ordinairement
la volonte comme la manifestation d'une raison logiquement or-
donnee et qui tend vers cet ordre impose de l'interieur de l'etre
ou, dans son exces, comme l'entetement qui se fixe parce que
la Serie ordonnee est arretee dans la conscience. Chez un Briand
la volonte sera de nature toute diiferente; eile ne sera que l'adap-
tation de l'individu considere dans ses fins aux conditions natu-
relles de son action. L'homme ne voudra pas les faits, il vou-
dra par les faits.
Ces caracteres profonds de la personnalite expliquent, me
semble-t-il, ses traits superficiels, son liberalisme qui fuit la disci-
pline tout en haVssant le desordre, son realisme, qui va droit au
fait Sans se soucier de l'idee dont a revetu celui-ci, son appa-
rente paresse, qui ne connait point les gestes inutiles, enfin son
Charme d'homme prive, fait de spontaneite, de gräce noncha-
lante et volontiers silencieuse, mais aussi la secheresse de la
sensibilite, Tegoisme d'enfant, la versatilite du coeur et de l'intelli-
gence. Monsieur Briand a toutes les qualites par lesquelles on
seduit, mais aucune de celles par lesquelles on retient et on atta-
che. 11 a suscite beaucoup plus de devouement admiratif chez
des camarades passagers d'action que chez ses proches. Je con-
nais de ses collaborateurs immediats qui lui furent tres devoues,
mais qui ne lui ont jamais donne leur Sympathie intellectuelle pro-
fonde. C'est chez ses anciens amis, pour la meme raison, qu'il
a souleve les haines les plus implacables.
406
On comprend qu'autour d'un tel homme les legendes, pour
la plupart defavorables, se soient multipliees. II n'est presque au-
cun acte de sa vie qui n'ait ete travesti par la haine des amities.
Mais la haine, meme quand eile est excusable, n'a pas droit
au mensonge et le devoir de l'historien est de dissiper les faus-
ses legendes.
Contentons-nous de denoncer ici les deux plus fameuses:
Celle du grevegeneraliste et celle de l'anarchiste de Cluses.
M. Briand a ete jadis, dans le parti socialiste, le propagandiste
le plus autorise de la doctrine de la greve generale. En soute-
nant cette these il a, nous dit-on, ete guide par les sentiments
les plus honteusement demagogiques, il a fait appel aux passions
les plus basses, il a excite l'envie proletarienne sans souci des
desastres qu'il pouvait aussi provoquer. Que valent ces accu-
sations? Examinons les faits.
Quelle est la veritable these de la greve generale que sou-
tenait, ä l'epoque oü Ton se reporte ainsi, M. Aristide Briand?
Au congres de la federation des syndicats, tenu ä Marseille
en 1892, la question de la greve generale fut renvoyee ä l'exa-
men d'une commission qui designa comme rapporteur le citoyen
Briand. Voici les conclusions adoptees ä l'unanimite par le
Congres :
„Considerant que la detestable Organisation capitaliste dont
dispose la classe dirigeante contre les travailleurs, a rendu im-
puissantes et vaines les tentatives amiables d'emancipation faites
depuis un demi-siecle par la democratie socialiste; qu'il existe
entre le capital et le travail une Opposition d'interet que les
legislateurs soi-disant liberaux n'ont pas voulu detruire;
„Qu'apres avoir fait aux pouvoirs publics de nombreux et
inutiles appels pour obtenir le droit ä l'existence et au bien-
etre, la grande et universelle famille des travailleurs a acquis la
triste et cruelle certitude que seule une revolution du travail
pourra lui donner la liberte economique et le bien-etre materiel,
conformes aux principes les plus elementaires du droit naturel;
„Que parmi les moyens legaux inconsciemment mis ä la dis-
position des travailleurs, il en est un qui, habilement et pratique-
ment interprete, doit assurer la transformation economique, en
faisant triompher les legitimes aspirations du Proletariat;
407
„Que ce moyen est la Suspension universelle simultanee Je
la force productive dans tous les metiers, c'est-ä-dire la greve
universelle, laquelle, meme limitee ä une periode restreinte, con-
duira infailliblement le Parti Ouvrier au triomphe des revendi-
cations formulees dans son programme;
„Le Congres decide:
1° Le principe de la greve universelle;
2" Les federations des syndicats et corporations et les Fede-
rations des Bourses du Travail sont invitees ä repandre et ä
propager ces principes dans la masse des travailleurs, ä etudier
et preparer une Organisation speciale de la classe ouvriere fran-
gaise dans le but de fournir au Congres international de 1893
un projet complet de greve universelle;
3° Le Premier mai doit etre une date de consultation mon-
diale de tous les travailleurs, sans distinction de ceux qui sont
syndiques et de ceux qui ne le sont pas, sur le principe de la
greve universelle."
Peut-on, de bonne foi, ne voir dans une teile these qu'un
appel ä la violence, au dechainement des passions? L'opposition,
au contraire, des moyens legaux de transformation economique
ä la revolution politique et insurrectionnelle, preconisee par cer-
taines fractions du parti socialiste, n'est-elle pas significative d'un
esprit realiste et calme qui exclut toute violence?
Mais, nous dit-on, Briand soutient cette these avec les vio-
lents, les anarchistes du parti socialiste, c'est sur ces elements
qu'il s'appuie, c'est sur eux que repose son action socialiste.
Ici encore examinons les faits. Le parti socialiste, quand
M. Briand y prend place, est divise en trois fractions: comme
tout parti politique il a sa gauche, son centre et sa droite. A
droite, avec Jaures et ses amis, nous trouvons les forces de
sentiment qui vont de l'ordre bourgeois ä l'ideal socialiste, dans
un esprit de justice sociale; au centre, c'est la rigueur austere
du guesdisme, construction intellectuelle, doctrinaire, de la raison
raisonnante contre le sentiment, le guesdisme qui est hors de la
vie, hors de larealite mouvante des faits et des choses; et enfin,
ä la gauche du parti, nous trouvons encore des forces de sen-
timent avec les revoltes, les insoumis, les anarchistes qui vien-
408
nent au socialisme parce qu'il faut bien s'agr^ger ä quelque chose
mals qui ne subissent pas le joug patiemment.
Briand, des qu'il entre dans le parti, sent bien que tout son
temperament le porte ä lutter avec les forces de sentiment con-
tre la formule, l'abstraction, le guesdisme.
Mais il sent bien aussi qu'on ne pourra rien contre le parti
guesdiste, qui est alors dans toute sa puissance, si on ne trouve
le moyen d'allier, sur une formule de combat, toutes les forces
de sentiment de droite et de gauche, et c'est alors qu'il fait appel,
avec un merveilleux sens politique, avec une remarquable con-
science du gouvernement des passions, ä sa theorie de la greve
generale.
11 va se tourner vers les impulsifs, vers les revoltes de l'ex-
treme gauche, et il leur dira: „oui, notre sentiment a raison con-
tre la raison de M. Guesde; oui, ce n'est pas par la seche doc-
trine mais par la vivante passion que le reve d'une societe rege-
neree se realisera. Mais, prenez garde, la passion, si eile de-
meure desordonnee, s'epuisera et s'agitera en efforts divises; il
faut coordonner vos efforts, il faut agir de l'interieur de la classe
ouvriere par . . . I'organisation de la greve generale. Cette Or-
ganisation, eile naitra du developpement normal de la force ou-
vriere par les moyens legaux, inconsciemment mis ä la dispo-
sition des travailleurs ..."
Et par lä on rapprochera les revoltes de l'extreme gauche
des evolutionnistes de droite, dans une action commune contre
les guesdistes.
En realite, cette doctrine, dans l'esprit de celui qui la sou-
tient, n'est qu'un procede tactique, le but poursuivi demeu-
rant toujours la victoire des evolutionnistes, des realistes avec
lesquels Briand combat contre les doctrinaires et les dogmatiques.
Et cela est si vrai que, des le premier moment, les revo-
lutionnaires purs protestent contre cette doctrine et cette action
au moins aussi fort que les guesdistes eux-memes. Ce sont les
anarchistes de l'extreme gauche du parti qui traitent Briand „d'en-
dormeur" de „porteur de foin", ce sont ces anarchistes qui sa-
botent sa reunion du theätre Chare, ä Marseille, c'est un anar-
chiste qui, ä Lyon, tire un coup de revolver sur lui. Et quand
il prononce, ä Bruxelles, son fameux discours sur la greve gene-
409
rale, c'est ä la demande meme de Jaures pour briser le bloc
guesdiste. Je sais bien que de ce discours on a coupe un tron-
(jon de phrase pour en accabler plus tard rhomme politique:
„Allez ä la bataille avec des piques, des sabres, des pistolets,
des fusils: loin de vous desapprouver, je me ferai un devoir, le
cas echeant, de prendre une place dans vos rangs . . ."
Phrase impie, phrase monstrueuse que Ton a denoncee sur
tous les tons, comme une excitation aux pires passions. Eh bien,
repla^ons-la, cette phrase, dans son texte, et eile va nous appa-
raitre avec son sens veritable, sa portee reelle.
Le discours de Bruxelles repose sur l'idee suivante:
Les guesdistes prönent, comme besogne essentielle, l'orga-
nisation de la classe ouvriere pour la lutte politique aboutissant
ä la revolution politique . . . mais ne voyez-vous pas que le
jour oü vous deviendrez mena^ants, le gouvernement bourgeois
ne manquera pas de restreindre vos libertes naturelles, au nom
meme du respect de la loi? Certes, ä ce moment, tous les amis
de la liberte se feront un devoir de protester avec nous:
„Allez ä la bataille avec . . ."
„Mais que feront vos piques contre les fusils et les canons de
l'armee legale? Le temps des barricades est passe. Je sais bien
que vous comptez que l'insurrection gagnera l'armee, mais ce
n'est qu'un reve, l'armee ne marchera pas contre la loi.
„Restez donc dans la legalite, preparez la revolution econo-
mique, la greve generale. Certes on pourra encore, pour briser
votre mouvement, faire appel ä l'armee. Mais quelle difference
avec tout ä Theure! maintenant c'est vous qui etes dans la lega-
lite, et on ne fait pas marcher les soldats pour defendre la loi
mais pour la violer. Et alors, mais alors seulement, il se pourra
que ces soldats, trouvant devant eux des freres et des peres exer-
?ant leur droit legal, tournent leurs fusils vers les chefs . . ."
C'est le developpement, sous sa forme oratoire, s'adressant
ä des militants, de la these de la greve generale qui etait formu-
lee dans l'ordre du jour de Marseille.
Voilä ä quoi se reduit la legende du grev egener allste , pro-
pagee surtout par les guesdistes qui n'ont point pardonne ä leur
ancien adversaire.
410
La plaidoirie de Cluses a ete exploitee d'une fa^on encore
plus repugnante par les ennemis de M. Briand.
Le 18 juillet 1904 se produisait, dans le petit village alpin
de Cluses, la plus horrible des tragedies sociales. Les fils Crettiez,
au cours d'une manifestation pacifique de leurs ouvriers grevistes,
tiraient des fenetres de ieur usine, pendant pres d'un quart
d'heure, de 40 ä 60 coups de fusils sur une foule d'hommes,
d'enfants, de vieillards, de femmes. Trois morts, une foule de
blesses, tel fut le resultat de cet acte de folie.
La foule qui, frappee de stupeur, s'etait dispersee, chacun
cherchant un refuge, aux premiers coups de feu, revint, une heure
apres, criant vengeance, envahit les usines ä la recherche des
meurtriers que des gendarmes et des soldats avaient maitrises.
Des scenes de pillage se produisent, on brise les machines, on
ailume des incendies.
A la Suite de ces evenements tragiques les freres Crettiez
furent traduits. en meme temps que six ouvriers inculpes de pil-
lage, devant la cour d'assises d'Annecy et juges le 24 novem-
bre 1904.
M. Aristide Briand qui defendait les ouvriers avec ses con-
freres Wilm et Lafont, pronon(;a une admirable plaidoirie ä la
suite de laquelle les ouvriers furent acquittes.
De cette plaidoirie. la haine et l'envie se sont plu ä extraire
quelques phrases tronquees pour laisser croire que M. Aristide
Briand avait, en l'occasion, fait l'apologie du meurtre, du pillage,
de l'anarchie. Or il suffit de relire la plaidoirie^) pour se con-
vaincre que c'est lä la plus infame des calomnies.
On a tout d'abord detache de l'exorde le passage suivant:
„Nous sommes ici par affinite de pensees et d'aspirations
avec ces hommes, moins comme avocats plaidant pour des
Clients qu'en amis assistant des amis. Devant vous nous nous
solidariserons en quelque sorte avec eux . . ."
Remarquons tout d'abord que la citation tronquee doit etre
completee ainsi:
„Nous nous solidariserons en quelque sorte avec eux, sinon
dans les actes qu'ils ont commis, au moins dans i expression
*) Cluses, plaidoirie prononcee par M. Aristide Briand; edition de „la
Vie Socialiste'', 3 rue de Pondichery, Paris.
411
de douleur, d' Indignation et de colere qui les a irresistiblement
pousses ä les commettre ..."
Expliquons d'autre part dans quelles conditions ces paroles
furent prononcees.
L'avocat des fils Crettiez, M. Descotes, avait insiste devant
le Jury sur le fait que les ouvriers avaient falt appel ä des avo-
cats etrangers ä la reglon. M. Briand lui repond:
„Messieurs, si mes cllents qui sont des Laroisiens, eux aussi,
et qui aiment leur pays, ont fait appel, pour leur defense, ä des
avocats parisiens — j'allais dire etrangers — ce n'est pas qu'ils
aient meconnu le talent de mes confreres des differents barreaux
de la region . . . Mais si nous sommes venus ici, mes confre-
res Wilm, Lafont et moi, ce n'est pas seulement, ce n'est pas
surtout par des raisons d'ordre professionnel. Nous sommes ici
par affinite de pensees ..."
Si nous rappelons que Wilm, Lafont et Briand etaient tous
trois membres du parti socialiste, on comprendra aisement le
sens et la portee de la phrase fameuse de solidarite. (!)
On a incrimine une autre phrase de la plaidoirie en la tron-
quant encore de la fa^on suivante:
„Vous me rappellerez qu'on a mis le feu ä l'usine, que les
degäts ont ete enormes, que de merveilleux Instruments de pro-
gres ont ete pulverises sous les marteaux. C'est fächeux, c'est
regrettable, mais mieux vaut cent fois ce desastre materiel que
des cadavres offerts en holocauste au principe d'autorite ... Je
m'eleve contre cette doctrine abominable et qui n'est plus de
notre temps, d'apres laquelle le respect de la propriete et de
l'ordre devrait toujours etre impose ... Le salut de la societe
exige, parait-il, que Ton fasse des soldats fran(;ais un tel emploi . . ."
Ceux qui se fönt les colporteurs immoraux de ces textes
pour demontrer l'immoralite de M. Briand, oublient de signaler
qu'en tronquant et rapprochant ces phrases, on en fausse entiere-
ment le sens. 11 suffit, pour le prouver, de retablir le contexte.
Apres avoir rappele le mot sinistre du pere Crettiez decla-
rant, apres avoir fait venir des caisses pleines d'armes chez lui:
„ces gaillards-lä (les grevistes) je me Charge bien de les mäter",
M. Briand continue:
412
„Vous avez dit, M. Descotes, qu'ä la mairie vous aurlez
prefere voir, ä la place de M. Drompt qui est d'un caractere
timide, un homme du temperament de Claude Crettiez. Je crois
avec vous qu'il aurait bien vite eu raison de la greve; il en serait
venu ä bout certes mais d'une maniere sinistre et le cimetiere de
Cluses eüt ete trop etroit pour contenir tous les cadavres.
„Seulement, si ä la place de M. Drompt il y avait eu M. Dau-
set, le maire actuel que vous avez vu ä cette barre, ivre d'auto-
rite, impatient d'exercer par la force ses nouvelles fonctions, et
si ä cote de lui, comme commandant d'armes, s'etait trouve certain
lieutenant dont vous n'avez pas oublie l'attitude, je n'ose envi-
sager ce qui se serait passe dans la soiree du 18. On ne peut
se le demander qu'en fremissant.
„Vous me rappellerez qu'on a mis le feu ä L'usine; que les
degäts ont ete enormes, que de merveilleux Instruments de pro-
gres ont ete pulverises sous les marteaux. C'est fächeux, c'est
regrettable, mais mieux vaut cent fois ce desastre materiel que
des cadavres ojjerts en holocauste au principe d'autorite.
,Je m'eleve contre cette doctrine abominable et qui n'est plus
de notre temps, d'apres laquelle le respect de la propriete et de
l'ordre devrait toujours etre impose, quelles que soient les cir-
constances et les cas, meme par la force, meme dans le sang.
„Un soir de manifestation, au cours du mois de mai, on
avait arrete des grevistes et pris leur noms en vue de poursuites
qui eurent lieu plus tard. Mais, dans un but de pacification fa-
cile ä comprendre, ä la demande de leurs camarades, on les ren-
dit ä la liberte quelques minutes apres leur arrestation. Les mani-
festants satisfaits, se disperserent aussitot. Cela n'etait-il pas pre-
ferable ä une collision sanglante? Non, il parait qu'on avait eu
tort d'agir ainsi. Le principe d'autorite exigeait qu'on maintint
les arrestations sous les yeux des grevistes. La surexcitation de
ceux-ci en eüt ete portee au paroxysme. Tant pis pour eux; ä
leur Intention, il y avait des baionnettes au bout des fusils, des
balles dans les cartouchieres des soldats. Le salut de la societe
exige, parait-il, que l'on fasse des soldats frangais un tel emploi.
C'est pour cela, Messieurs les jures, pour cette besogne, que la
Nation envoie vos fils ä l'armee!
413
„Pour moi, je ne saurais trop feiiciter les officiers, comme le
capitaine Lapierre, auquel je suis heureux de rendre ici un pu-
blic hommage, qui savent conciiier ä propos leurs sentiments
d'humanite avec le souci de l'ordre."
Et quo!! ce sont ces seules paroles, car tout le reste de la
plaidoirie n'est remarquable que par la forte logique des deductions
et l'eloquence de l'expose, ce sont ces seules paroles qui suffi-
raient ä faire de l'orateur l'apologiste ehonte de je ne sais quelles
violences anarchistes.
Pour ma part je ne peux voir dans la plaidoirie de Cluses
qu'un merveilleux plaidoyer pour la plus juste des causes.
Et voilä qu'ä la lumiere des textes et des faits se dissipe
la legende de l'anarchiste de Cluses apres celle du grevegene-
raliste!
II est d'autres legendes, propagees par les ennemis de
M. Briand, qui sont d'autres calomnies. Mais ä quoi hon nous
attarder ä les discuter?
La seule question interessante est celle de savoir pourquoi
elles sont nees et comment elles ont pu se repandre. Je crois
que l'esquisse psychologique que j'ai essayee ici, au debut de
cet article, repond ä la question, dans la mesure du possible.
PARIS ETIENNE ANTONELLI
D D D
Nous connaissons la verite non seulement par la raison, mais encore
par le coeur; c'est de cette derniere sorte que nous connaissons les Pre-
miers principes, et c'est en vain que le raisonnement, qui n'y a point de
part, essaie de les combattre. Les pyrrhoniens y travaillent inutilement.
Nous savons que nous ne revons point, Quelque impuissance oü nous
soyons de le prouver par raison, cette impuissance ne conclut autre que
Ja faiblesse de notre raison, mais non pas l'incertitude de toutes nos con-
naissances, comme ils le pretendent. Car la connaissance des premiers
principes, comme qu'il y a espace, temps, mouvement, nombres, est aussi
ferme qu'aucune de Celles que nos raisonnements nous donnent. Et c'est
sur ces connaissances du ccEur et de l'instinct qu'il faut que la raison s'ap-
puie, et qu'elle y fonde tout son discours. pascal
DDD
414
REISEERINNERUNGEN
AN DIE SCHWEIZ VON ZWEI ZEITGENOSSEN
SHAKESPEARES
„Da die besten und edelsten Geister am meisten darnach
trachten, fremde Länder zu sehen, und da man kaum einen Men-
schen finden i<ann, der so stumpf, träge oder boshaft ist, solche
zu entmutigen, die darnach dürsten, ihre Kenntnisse durch Reisen
zu vertiefen, so wäre es für mich eine überflüssige und zwecklose
Aufgabe, wollte ich zum Reisen besonders auffordern." Mit diesen
Worten beginnt der eine der beiden Zeit- und Landsgenossen
Shakespeares, Moryson ^), seine allgemeinen Betrachtungen über
das Reisen. Wenn wir unsere vaterländische Geschichte kennen
lernen, lesen wir in Professor Oechslis Quellenbüchern Berichte
deutscher, italienischer, französischer und spanischer Autoren über
schweizerische Verhältnisse des fünfzehnten und sechzehnten Jahr-
hunderts; aus England aber treffen wir eine einzige Quelle, John
Bales lateinisch geschriebenes Vorwort einer Kirchengeschichte
als Huldigung für vier schweizerische Reformatoren. Bei den
reichen Wechselbeziehungen, die namentlich im Reformations-
zeitalter zwischen England und der Schweiz und speziell mit Zürich
bestanden, und die Herr Professor Vetter in Zürich so trefflich
beleuchtet hat, hätten englische Quellen zur Belebung des heimat-
lichen Geschichtsunterrichtes wohl in ausgiebigerer Weise heran-
gezogen werden dürfen.
Fynes Moryson und Thomas Coryat-) haben, unabhängig
von einander, zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ihre Reise-
memoiren, von denen ein großer Teil auf die Schweiz entfällt,
aufgeschrieben. Beide sind akademisch gebildete Männer von
gutem Urteil, scharfer Beobachtungsgabe und vorurteilsloser Be-
trachtungsweise. Moryson neigt etwas zu Pedanterie und ängst-
licher Vorsicht, Coryat ist freier, weltmännischer. Fyne Morysons
Reisen auf dem Kontinent fallen in die Jahre 1591 — 95; in den
beiden nächsten Jahren besuchte er Jerusalem und Konstantinopel.
Als nahezu Dreißigjähriger erhält er von seiner alma mater Cam-
bridge die Erlaubnis, auf Reisen zu gehen. Als ein mit Geld-
^) Fynes Moryson, An Itinerary. London 1617. Neudruck Glasgow 1907/8.
2) Thomas Coryat, Crudities. London 1611. Neudruck Glasgow 1905.
415
Sachen sehr vertrauter Mann (er notiert auf seinen Reisen pein-
lich jeden Batzen, den er ausgibt) geht er vor seiner Orientreise
mit einer Art Versicherungsbureau einen meri<würdigen Kontrai<t
ein: er deponiert dort 400 L; kommt er wohlbehalten von Kon-
stantinopel und Jerusalem zurück, so zahlt ihm das Bureau
1200 L aus; kommt er aber auf seiner Reise um, so sind die
400 L verwirkt. Welche Unfallgeselischaft würde heutzutage auf
einen solchen Kontrakt eingehen? —
Von Konstanz her kommt er mit dem Boot nach Schaffhausen,
dessen Blüte e»" durch den Gewinn erklärt, den das Umladen der
Schiffe hier abwirft. „Am Ufer des Stroms, zur Stadt gehörend,
ist ein hübscher Anger, wo die Bürger zusammenkommen, um
sich im Büchsen- und Armbrustschießen zu üben. Da ist auch
eine Linde, die so viel Schatten spendet, dass sie oben eine Art
Zimmer hat mit einem Bretterboden, Fenstern an den Seiten und
einem Hahn. Dreht man diesen , so fällt aus verschiedenen
Röhren Wasser in ein Gefäß, um Gläser zu spülen und dergleichen.
Und hier pflegen die Bürger zusammen zu trinken und zu
schmausen, zu welchem Zwecke sechs Tische vorhanden sind."
In Schaffhausen wurde Moryson von Dr. Johannes Ulmer i)
freundlich aufgenommen, wie wir aus einem Briefe erfahren, den
er von Basel aus am 24. Mai 1592 an seinen Schaffhauser Freund
richtet. Ulmer hatte Moryson den Rat gegeben, zu Fuß über
Eglisau nach Zürich zu wandern. Der Engländer befolgte diesen
Rat, litt aber sehr unter den ihm ungewohnten Strapazen des
Fußwanderns. In Zürich verabschiedet er den Führer, den ihm
Dr. Ulmer mitgegeben hatte, gibt ihm einen Gulden und fünfzehn
Kreuzer, zahlt ihm alle seine Auslagen und legt sich, erschöpft
von dem zehnstündigen Weg, zum Schlafe nieder. „Nach vier
Stunden, siehe, da trat dieser Ehrenmann wieder in mein Zimmer,
mit einem Kranz von Rosen auf dem Haupt, mit Glas und Krug
in den Händen und wohl versehen mit Tranksame; ich war noch
halb im Schlaf und rieb die Augen, als hätte ich eine Vision ge-
sehen. Durch sein Zutrinken und die Aufforderung, ihm Bescheid
zu tun, wurde ich aber gewahr, dass es sich um keine Vision
handle. Eine geschlagene Stunde tranken wir zusammen, dann
0 Ulmers Porträt war kürzlich auf der Schaffhauser Bildnisausstellung
(1500-1900) vertreten.
416
ging er nun wirklich weg und in seinem trunkenen Zustande
konnte er nichts klügeres tun, als mir, der ich nüchtern war, die
Zeche von 48 Kreuzern zur Bezahlung zu überlassen."
Die Beschreibung der Lage und Bauart, der Mauern und
Wälle der Städte ist jeweils sehr exakt und eingehend. Von den
Zärchern sagt er: „Die Bürger haben eine Gepflogenheit, dass,
wenn sie gegen den Feind ziehen, sie ihre Pfarrer vor die Front
stellen oder dahin, wo sie auch der Gefahr ausgesetzt sind." Ein
dreistündiger Ritt bringt ihn nach Baden. Der Engländer muss
des italienischen Humanisten Poggio berühmten Brief über die
Bäder von Baden aus dem Jahre 1416 gekannt haben, denn ein-
zelne Partien seiner Schilderung sind eine direkte Übertragung
von Stellen aus Poggios Brief. Es zeugt dies für Morysons
Phantasie- und Temperamentlosigkeit; Coryat würde sich das nie
haben zu schulden kommen lassen. Es ist erstaunlich, wie das
vergnügliche Badener Badeleben, das der aretinische Humanist
und Sekretär der päpstlichen Kurie so anschaulich schilderte, zwei
Jahrhunderte lang sich intakt erhalten konnte. Sogar die stren-
geren Engländer neigen zu Poggios vernünfiger Ansicht: „Hier
allein weise sein zu wollen, wäre die höchste Torheit gewesen."
Dreißig Bäder sind vorhanden, dazu noch zwei außerhalb der
Stadttore für die armen Leute. „Von diesen Bädern ist eines
so heiß, dass es die Borsten eines Schweines wegbrüht. Manche,
die keine andere Krankheit als Liebesweh haben, wie sehr sie
auch körperliche Gebrechen vorschützen, kommen hieher, um
geheilt zu werden und manchmal haben sie Erfolg. Weiber
kommen hieher so kostbar gekleidet, als wenn sie zu einer Hoch-
zeit kämen; denn Männer, Weiber, Mönche und Nonnen sitzen
alle zusammen im selben Wasser, getrennt durch Bretter, aber
doch so, dass sie gegenseitig sprechen und sich berühren können.
Es ist hier eine Regel, aller Traurigkeit aus dem Wege zu gehen,
noch ist irgend welche Eifersucht gestattet. Die Wasser sind so
klar, dass man einen Penny auf dem Grund sehen kann; und
weil Melancholie verbannt ist, ergötzen sie sich mit viel Zeitver-
treib, während sie im Wasser sitzen: nämlich mit Kartenspiel,
mit Aufwerfen und Auffangen von kleinen Steinen, zu welchem
Zweck sie ein Tischchen haben, das auf dem Wasser schwimmt,
auf dem sie manchmal auch essen." Dann folgen Angaben, wo-
417
r
für diese Bäder gut sind und die Mitteilung, dass sie besser für
Weiber als für Männer taugen.
Weiter geht der Ritt nach Basel. Bei der Basler Brücke ist
es interessant, Morysons Worte durch Coryats Auslassungen zu
ergänzen. Moryson: „Die Holzbrücke, welche die kleine und
große Stadt verbindet, ist breit genug, dass zwei Wagen zugleich
hinüberfahren können." Coryat, sechzehn Jahre später: „Die
Holzbrücke ist ein gemeines, elendes Ding, zusammengefügt aus
vielen rohen Planken und unebenen Holzstücken, die ziemlich
lose hängen, so dass ein Fremder, der den Weg nicht kennt,
Angst hat, hinüberzureiten. Ich wunderte mich, bei einer so
schönen Stadt eine solch liederliche Brücke zu sehend).'- Peters-
platz und Pfalz, die Denkmäler im Münster und im Rathaus
werden von Moryson hervorgehoben.
1595 kommt Moryson von Bergamo nach Graubänden; trotz
der Fastenzeit, die auch von englischen Reformierten beobachtet
wird, bricht er beim Alpenübergang das Gebot, denn, fügt er
entschuldigend bei, „alle Reisenden pflegen ihr Fasten zu brechen,
wenn sie über die Alpen ziehen". Sein Weg führt aus dem Veltlin
über den Berninapass nach Chur. „ich selbst, überdrüssig, länger
auf Reisegefährten zu warten und heftig darnach verlangend, in
meine Heimat zurückzukehren, überschritt ganz aliein (was, wie
ich glaube, wenige oder niemand je tat) die Alpen, von Bergamo
nach Chur, abgesehen davon, dass ich manchmal einen Lauf-
burschen mietete, um neben meinem Pferd her zu gehen und
mir ein paar Meilen weit als Führer zu dienen. Auf dieser Reise
durch Qraubünden erklomm ich manchmal (nicht ohne Entsetzen)
sehr steile Partien des Gebirges, lag mit dem Gesicht auf dem
Hals des Pferdes, dessen Zügel ich ihm überließ, und hielt mich
mit der einen Hand an seiner Mähne und mit der andern am
Sattel. Wehe mir, wenn dannzumal Mähren vorbeigekommen
wären, bei deren Anblick mein Pferd so wütend zu werden pflegte,
dass manchmal bei engen Stellen und steilen Abstürzen in tiefe
Täler ich gezwungen war, abzusteigen und zu Fuß den Zügel zu
^) Auf einer lavierten Federzeichnung in der öffentlichen Kunstsamm-
lung in Basel (Scheibenriss des Standes Basel), mit Monogramm Tobias
Stimmers und Jahrzahl 1579, erscheint die Basler Rheinbrücke wie eine
Illustration zu Coryats Worten.
418
halten. Und doch war es manchmal so wild, dass es abseits
setzte und bis zum Sattelsaum in den Schnee sank, so dass ich
es kaum wieder herausbrachte." Gegen Chur zu hat Moryson
weitere Abenteuer zu bestehen. „Aus dem Walde bei Lanzi
(Lenzerheide?) hörte ich im Zwielicht des Abends mehr als hundert
Wölfe heulen und weil es gegen die Nacht hinging, hatte ich
einen Bauernburschen engagiert, mich nach der Stadt zu führen.
Dieser zitterte vor Angst und verlangte, dass ich meinen Karabiner
bereit hielte, um auf sie zu schießen; denn er sagte, nichts er-
schrecke sie so sehr als Pulvergeruch, ich hieß ihn hellauf sein,
weil die Wölfe mit einer Beute beschäftigt schienen und die Stadt
in der Nähe war. Ich versprach ihm, ich würde ihn nicht im
Stiche lassen und würde ihn im Notfalle hinter mir reiten lassen.
Aber die Furcht verlieh ihm Flügel, so dass er so schnell lief,
wie mein Pferd traben konnte, und in kurzer Frist kamen wir
nach Lanzi." Eine Stunde widmet Moryson der Stadt Chur und
reitet weiter nach Wallenstadt. Hier und an andern Stellen klagt
er sehr über die schweizerischen Längenmaße: „die Schweizer-
meilen sind so lang und von so unsicherem Maß, da sie ihre
Reisen nach Rittstunden, nicht nach Meilen messen." Da Moryson
in Venedig sein Geld für Frankreich nicht wechseln konnte,
macht er einen Abstecher nach Genf, um das dort zu besorgen.
Von Zürich aus führt ihn sein Weg über Solothurn. Nach den
naiven etymologischen Erklärungen seiner Zeit deutet er Solo-
thurn als „Turm der Sonne" oder als „nur aus Türmen bestehend".
Weiter gehts über Aarberg, Morion (Murten) und Avenches, das
alte Aventicum. Der fünfte Tag führt ihn nach Lausanne und
Genf, das topographisch sehr eingehend geschildert wird.
In jener Zeit, da das Reisen noch nicht zur Mode geworden
war, wurden akademische Bürger von Kollegen in fremden Städten
freundlich aufgenommen und in jeder Weise gefördert. Coryat
kann nicht genug rühmen, wie liebreich ihn die Zürcher Humanisten
aufnahmen; Moryson hat in Genf Zutritt zu Beza. „Hier hatte
ich große Befriedigung, mit dem verehrungswürdigen Vater Theo-
dor Beza zu sprechen und zu verkehren, der von Statur etwas
hoch war, korpulent und starkknochig und einen langen, dicken,
schneeweißen Bart hatte. Er sah wie ein ernsthafter Senator aus
und hatte ein breites, aber nicht feistes Gesicht, und allgemein
419
würde er durch seine gewinnende Persönlichi<eit, Freundlichkeit
und Ernst sogar solche, die ihn am wenigsten liebten, zur Ehr-
erbietung gezwungen haben. Ich ging mit ihm zur Kirche und
während ich auf seine Rede horchte, geschah es, dass ich unter
dem Kirchentor den Opferkasten für die Armen mit den Fingern
berührte, welchen Irrtum der verehrungswürdige Mann alsbald
bemerkte. Denn in Italien hatte ich die Gewohnheit angenommen,
nach der Art der Papisten meine Finger zum heiligen Wasser zu
tauchen, damit nicht das Unterlassen einer allgemein gebräuch-
lichen und so unbedeutenden Gepflogenheit mich als einen Re-
formierten vermuten ließe und mich in beträchtliche Gefahr brächte.
Und so berührte ich gleicherweise den Armeleutekasten, da ich
irrtümlicherweise wähnte, es sei das Weihwasserbecken, ich sage,
er nahm alsbald meinen Irrtum wahr, fasste mich an der Hand
und ermahnte mich, hinfort diese üblen Sitten, die man so schwer
überwinde, zu meiden."
Von Genf reitet Moryson nach Bern. Luzern hat er nicht
selbst gesehen, wohl aber folgendes davon gehört: „Bei Luzern,
das ich nie sah, ist ein wunderbarer See, an dessen Ufern, wie
es heißt, Pilatus, als Richter gekleidet, einmal des Jahres wandelt;
und wer immer ihn sieht, stirbt im selben Jahr." Von Bern, wo
er das Münster und dessen Umgebung, sowie die Laubengänge
bewundert, reist er über Solothurn und Basel nach Straßburg.
In der Nähe von Solothurn frappiert ihn ein Denkmal, das einen
Sieg der Schweizer über die Engländer feiert. Die Inschrift darauf
notiert er folgendermaßen:
„Ritterlich erschlagen die Englisch guckler Anno 1425, arme Jucke."
Als richtiger Engländer kann er nicht an eine englische Nieder-
lage glauben, findet auch in zeitgenössischen Chroniken keine
rechte Bestätigung und will es den Historikern überlassen, diesen
Punkt aufzuklären.
Als vorsichtiger Mann hat Moryson sein Geld gut versteckt:
zum Teil eingenäht ins innere und äußere Wams, anderes unten in
einer hölzernen Büchse, bedeckt mit einer übelriechenden Salbe
gegen Krätze und schließlich sechs französische Kronen, in Tuch-
lappen gewickelt mit eingesteckten Nadeln „als wäre ich ein braver
Ehemann, der die eigenen Kleider flickt". Diesen Knäuel trägt
er in der Hosentasche, damit man erst recht glaube, es sei etwas
420
wertloses. Auf französischem Gebiet, wo er von marodierenden
Soldaten überfallen wird, bewähren sich seine Versteckungskünste;
Salbenbüchse und Knäuel werden ignoriert und nur das einge-
nähte Geld findet Liebhaber.
Für Moryson gehört die Schweiz zu den sieben Gegenden,
wo Reisende Summen Geldes mit großer Sicherheit bei sich
tragen können. Ein langes Kapitel widmet er dem Geldwechsel
und den Münzstätten der verschiedenen Länder, um dann mit
behaglichen Ausführungen über das Reisen im allgemeinen seinen
eigentlichen Reisebericht abzuschließen. Es folgen freilich noch
langatmige Abhandlungen über die Geschichte und staatlichen
Einrichtungen der Länder, die er bereist hat; sie fallen aber aus
dem Rahmen des Werkes heraus und beruhen nicht mehr auf
persönlicher Anschauung, sondern sind nachträglich kompiliert,
in den allgemeinen Bemerkungen erteilt Moryson Ratschläge, die
man heute noch manchem reich gewordenen shop-keeper aus
Albion mit auf die Reise in die Schweiz geben könnte. Er rät,
sich möglichst dem Lande anzupassen, in dem man längere Zeit
weilt, dessen Sprache zu lernen und nicht mit den eigenen Lands-
leuten zusammenzusitzen. Als Vorschule für Auslandsreisen
empfiehlt er den Engländern Deutschland, damit sie dort lernen
ihren Stolz etwas zu dämpfen. „Da wir viel Beihilfe von unsern
Dienern haben und die Gesellschaft geringer Leute beim Schlafen
oder beim Essen verschmähen, können wir dort lernen, uns selbst
zu bedienen, wo der, der in einen Schuhmacherladen kommt,
die passenden Schuhe selbst herausfinden und anziehen muss.
Dort lernen wir, die Gesellschaft geringer Leute zuzulassen, wo
manchmal arme Teufel, ja sogar Fuhrleute in betrunkenem Zu-
stande uns als Bettgesellen gegeben werden. Und solche Leute
sitzen oft bei uns am Tisch und mancherorts trinken sie immer
rund um, so dass wir wie Männer mittun und ihnen aus dem
selben Becher zutrinken müssen. Dort können wir lernen, Haus-
mannskost essen und in armseligen Betten liegen. Aber alle, die
als Fremde durch Deutschland ziehen, sind im allgemeinen unter
diesem ehrlichen Volke durch keinerlei Betrügereien gefährdet."
Über die Auslagen äußert sich Moryson: „50 oder 60 Pfund
Sterling genügten zu meiner Zeit, als ich über dem Kanal war,
um aufzukommen für Kost, Kleider und mäßige Vergnügungen
421
bei zwei Reisen jährlich im Frühjahr und im Herbst." Er warnt
die Engländer davor, zu trinken und zu schmausen wie die Deut-
schen, unenthaltsam zu leben wie die Italiener und zu prassen
wie die Polen, und fügt einen Rat hinzu, den heute noch viele
Engländer befolgen: „Ich kann hierin unsere Landsleute empfehlen,
die zwar zu Hause verschwenderisch Geld ausgeben, jenseits des
Kanals aber eher darnach trachten, ihre Ausgaben einzuschränken,
um ihre frühere Verschwendung wieder auszubalancieren."
Morysons Abneigung gegen Fußwanderungen kennen wir
bereits; das Reiten aber ist teuer: „Pferde kann man pro Tag
für sechs oder sieben Batzen mieten, allein die Ausgaben des
Reisenden werden dadurch verdoppelt, dass er ebensoviel für die
Tage auslegen muss, in denen das Pferd leer heimkehrt; dazu
muss er noch einen Diener engagieren, um das Pferd zurückzu-
bringen und auch dessen Auslagen unterwegs tragen, die in jenen
Gegenden, die Wein hervorbringen, besonders anschwellen." Große
Angst hat Moryson vor den Alpenübergängen, besonders vor
Furka und St. Gotthard. „Niemand kann hinüber, bevor die
Beamten, die zur Besorgung der Pässe ernannt sind, diese ge-
öffnet haben. Über die Alpen gegen Genf und Savoyen werden
die Reisenden manchmal auf Schlitten befördert, manchmal krie-
chen sie hinüber auf Händen und Füßen, mit Handschuhen und
tüchtig genagelten Schuhen, und so oder so werden sie von den
Führern immer gewarnt, ihre Augen von den Abstürzen in tiefe
Täler abzuwenden. Denn manchmal passiert es, dass bei einer
Ecke oder Biegung der Schlitten, auf dem der Passagier sitzt,
überworfen wird und über einem schrecklich tiefen Tal hängt, so
dass des Reisenden Kopf unten und die Fersen oben sind; wehe
ihm dann, wenn er loslassen oder wenn das Geschirr, das den
Schlitten ans Pferd bindet, brechen sollte. Ja, sogar Maultiere
und Esel, die sehr langsam und daher sehr sicher gehen, fallen
doch manchmal in tiefe Täler und kommen so im Schnee um."
Recht anerkennend spricht sich unser Engländer über die
schweizerische Bauart aus, seien die Häuser nun aus Haustein
oder als Fachwerkbauten aufgeführt. Das größte Lob spendet er
der Bauart Berns. Vom schweizerischen Handel hält er nicht
viel; er bestehe hauptsächlich darin, Schweizer Vieh gegen delikate
italienische Weine auszutauschen, trotzdem die Schweizer eigent-
422
lieh gute Weine im eigenen Lande hätten. An Industrie nennt
er Wollspinnereien: „Einige Schweizerkantone verdienen viel mit
Wollspinnen, wobei sie Tücher von 134 Ellen fabrizieren; und
damit nicht Habgier privater Leute dem Gemeinwohl Schaden
zufüge, so ernennen sie Aufseher für dieses Gewerbe, die alle
Betrüger strenge bestrafen und einzelne peinlich."
Eine eingehende Schilderung der damaligen Schweizertracht
übergehe ich und schließe Fyne Morysons Ausführungen mit einer
allgemeinen Charakteristik der Schweizer ab: „Die Schweizer sind
bürgerlich, da ihr Adel schon seit langem durch Volkserhebungen
ausgerottet worden ist. Sie sind hauptsächlich Kriegsleute und
beharrliche Trinker, aber selten oder nie streiten sie unter sich,
weil die Gesetze große Bußen auf die legen, die sich vergehen,
und der strenge Richter verschont sie nie. Von Dieben oder
Mördern hört man sehr selten oder nie unter ihnen, sowohl
wegen der Strenge des Gesetzes und dessen strenger Handhabung,
als auch deshalb, weil sie zu Hause arbeitsam sind, und, um
Armut zu vermeiden, eher geneigt sind, in ausländischen Kriegen
zu dienen, als auf unrühmliche Weise zu Hause zu leben . . .
Als Nahrung haben sie Honig, Butter und Milch in Hülle und
Fülle, viel Wildbret aus den Alpen und besonders gute Fische
aus ihren vielen Seen, in Gasthäusern bekommt man sein Essen
für sechs oder sieben Batzen. Sie sind gastfreundlich Fremden
gegenüber und unter sich selbst haben sie Schützenhäuser, wo sie
zusammenkommen und mit Armbrust und Büchse schießen. Dort
essen sie manchmal gemeinsam und laden Gäste in diese Häuser
wie in ein Wirtshaus ein. Und bis zum Ende geht es dort an-
ständig her, da die Tische der Behörden und aller Arten von
Männern alle im gleichen Raum sind. Im Essen sind sie mäßig
und im Trinken herrscht viel weniger Übermaß als bei den
Sachsen und etwas weniger noch als bei den Oberdeutschen.
Sie haben strenge Gesetze, um Trunkenbolde für ein Jahr ins
Gefängnis zu werfen, und bei feierlichen Festen wird die gemeine
Menge ermahnt, sich bescheiden zu benehmen ; aber die Trunk-
sucht hat solche Gönnerschaft unter den Besten, dass sie nicht
ausgetilgt werden kann. Sie rühmen sich ihrer ehemaligen Mäßig-
keit und sagen, Überschwang sei mit der Annahme von Militär-
pensionen von ausländischen Fürsten in ihr Land gekommen."
WINTERTHUR PAUL FINK
(Schluss folgt.)
423
VERGESSENE NUTZPFLANZEN
Die Quellen der Kulturgeschichte fließen immer spärlicher
als die der Geschichte selbst. Die Kulturgewohnheiten eines Zeit-
alters werden von den Zeitgenossen immer als etwas selbstver-
ständliches hingenommen, so dass sie im Gegensatze zu den po-
litischen Veränderungen rasch vergessen werden. Deshalb ist
es meist nur auf indirektem Wege möglich, sich ein Bild des
Kulturlebens vergangener Zeiten zu machen.
Das was sich von den Quellen der Kulturgeschichte im all-
gemeinen sagen läßt, das gilt auch von dem Teil der Kulturge-
schichte, der der Botanik zugehört, nämlich der Kenntnis der
Kultur- und Nutzpflanzen vergangener Zeitalter. Direkte Anhalts-
punkte über sie gibt es nur sehr wenige und nur mühsam konnten
Im Verlauf mehrerer Jahrzehnte einige Züge der Kulturgeschichte
der Nutzpflanzen zusammen gestellt werden.
Wie schwierig es ist, die Geschichte der Kulturpflanzen, ja
oft die der wichtigsten zu kennen, geht daraus hervor, dass es
eingehender botanischer Untersuchungen bedurfte, um von ganz
bekannten Kulturpflanzen festzustellen, dass sie aus Amerika
stammen und also erst nach seiner Entdeckung und nach der-
jenigen der Buchdruckerkunst zu uns gekommen sind. Ganz be-
kannt ist, dass die Kartoffel, der Tabak und der Mais aus Ame-
rika stammen, aber erst im Jahre 1883 zeigten Asa Grey und
Hammond Tumbull, dass das, was wir gewöhnlich unter dem
Namen Bohnen verstehen, also unsere Stangenbohnen und Höckerli
(Phaseolus vulgaris) den Nord- und Südamerikanern vor der
Entdeckung Amerikas durch die Europäer bekannt waren und
von dort zu uns gebracht wurden.
Auch unser Kürbis (Cucurbita Pepo L.) stammt aus Nord-
amerika. Nur dort gibt es Verwandte dieser Sippe und nur in
dortigen, nicht aber in europäischen und nordafrikanischen alten
Gräbern und Niederlassungen wurden Samen von unsern heu-
tigen Kürbissorten gefunden. Es bedurfte auch hier eingehender
Untersuchungen, um die Heimat für die Pflanzen festzustellen,
die wir heute bei uns in Mitteleuropa Kürbis nennen.
424
Die Ursachen der geringen Kenntnis der Geschichte unserer
Nutzpflanzen habe ich bereits erwähnt. Die geringen Hilfsmittel,
die uns zu Gebote stehen, sind verschiedener Art. Zuerst müssen
wir an die schriftlichen Quellen denken. Sie sind aus der frühen
Zeit so spärlich, dass die einzelnen Schriftstücke, die hier benützt
werden können, jeweils eine gewisse Berühmtheit erlangt haben.
Hierher gehören das Capitulare de Villis aus dem Jahr 812. Es ist
eine in Kapitel eingeteilte Verordnung, die für eine Domänen-
ordnung der Höfe Karls des Großen gilt. Neuerdings hat Alfons
Dopsch dargetan, dass es sich nicht um eine Verordnung von
Karl dem Großen handelt, sondern um eine solche Ludwig des
Frommen, der sie erließ, um Misstände in seinen Gütern in Aqui-
tanien zu beseitigen. Damals galt die römische Kultur als vor-
bildlich und wenn es sich im Capitulare um Kulturpflanzen mehr
südlicher Länder handelte, so darf man doch in dieser Reich-
haltigkeit des Capitulare das Ideal eines richtig bewirtschafteten
Landgutes sehen, das man sich auch unter der mehr nördlichen
Sonne wünschte.
Noch mehr interessiert uns der Bauriss des Klosters St. Gal-
len aus dem 9. Jahrhundert. Ein Benediktinermönch zeichnete in
den Plan des Garten die Namen der zu bauenden Heil- und Ge-
müsepflanzen ein. Dadurch ist uns ein Bild davon erhalten ge-
blieben, wie sich ein Benediktinermönch einen vollständigen
Klostergarten dachte.
Man ist aber häufig weiter gegangen und stellte sich gerne
ganz allgemein die Gärten jener Zeit mit diesen Pflanzen angefüllt
vor — sicher ein Trugschluss. Klöster wie Krongüter gingen der
Zeit voran. Sie versuchten neue Heilpflanzen und ertragsreichere
und schmackhaftere Nutzpflanzen zu bauen. Unter den Pflanzen,
deren Einführung im Bauriß empfohlen wird, sind ja eine Reihe
solcher, die im Klima von St. Gallen gar nicht denkbar sind, wie
Lorbeer, Feige und Mandel. Auch andere erwähnte Pflanzen sind
bei St. Gallen kaum jemals Kulturpflanzen außerhalb des Klosters
geworden, wie Kastanie, Quitte, Pfirsich und Maulbeerbaum. Eben-
so ist es recht auffällig, dass gerade die häufigsten Kulturpflan-
zen jener Zeit im Klostergarten fehlen. Weder Getreide, noch
die damals als ein wichtiges Nahrungsmittel feldmäßig gebaute
Bohne, unsere heutige Saubohne oder Puffbohne ist im Ver-
425
zeichnis vorhanden. Auch ist für jede Art ein gleich großes Beet
vorgesehen, unbekümmert um die Größe des Ertrags oder der
Wichtigi<eit der Pflanze. Es geht daraus hervor, dass es sich
nicht um einen Gemüse- oder Obstgarten im heutigen Sinne
handelt, sondern gewissermaßen um einen botanischen Garten,
wo die Pflanzen, für die man damals Interesse zeigte, also die
Nutzpflanzen und unter ihnen besonders die neuen seltenen, gebaut
werden sollten. Teils mochte die Anpflanzung aus reiner Wissens-
begierde geschehen sein, teils aber war sicherlich die Anzucht
dazu da, um Erfahrung und auch Samen für die allfällige weitere
Ausbreitung zu gewinnen. Es gibt also dieser Vorschlag eines
Klostergartens wohl die fortgeschritteneren Verhältnisse, nicht
aber ein allgemeines Bild der Nutzpflanzen der damaligen Zeit.
Auch aus dem Grunde, weil von dem Massenbau der Nutz-
pflanzen keine Rede mehr ist, lernen wir die allgemein gebrauchten
Nutzpflanzen dadurch nicht kennen. Daran ändert der Umstand
nichts, dass sehr viele von den damals schon als Nutzpflanzen
erkannten und von den Römern übernommenen Arten im späteren
Mittelalter in den allgemeinen Gebrauch übergingen.
Unter dem Einfluss einer Forschungsrichtung ist man aber
oft weitergegangen und man stellte sich unter diesen Pflanzen
auch die allgemein gebauten Arten vor. Es war dies die Philo-
logie, die in der Geschichte der Kulturpflanzen überaus anregend
gewirkt hat. Das größte Verdienst gebührt hier ohne Zweifel
Viktor Hehn^), der in einem geistvollen Buche die große Ver-
wandtschaft der heutigen Namen der Kulturpflanzen und Haus-
tiere mit denen des klassischen Altertums gezeigt hat. In gleicher
Weise, wie man früher annahm, auch die ganze heutige Kultur
sei erst durch die Römer über die Alpen gebracht worden, so
glaubte auch Hehn aus der Verwandtschaft der Namen der Kul-
turpflanzen schließen zu müssen, dass wir die Pflanzen selbst von
den Römern bezogen hätten. Eine ganze Anzahl solcher Ent-
lehnungsreihen sind uns bekannt und geläufig, wie zum Beispiel
die Verwandtschaft des lateinischen „pirus" und des deutschen
„Birne", des lateinischen „ervum" und des deutschen „Erbse".
Ferner gehören hierher „Cucurbita" und „Kürbis" und viele an-
') Vgl. Wissen und Leben, B. Xll, S. 299 und 359.
426
dere. Allein die V^ortverwandtschaft braucht noch keine Wort-
enüehnung zu sein. Sie kann ja auch auf Urverwandtschaft allein
beruhen. Auch wenn das Wort entlehnt worden wäre, so braucht
die Pflanze nicht auch selbst von dorther zu stammen. Im Laufe
der Zeit hat es sich denn auch herausgestellt, dass durch die
Philologie allein selten die Geschichte der Kulturpflanzen klar-
gelegt werden kann. Trotz der Fehlschlüsse ist aber die Be-
deutung von Hehn's Werk nicht geringer zu achten.
Die Philologie begegnet oft großen Schwierigkeiten, die sie
allein nicht überwinden kann. Es kommt sehr häufig vor, dass
eine Pflanze die alte Bezeichnung ablegt und eine neue, oft fremd-
ländische übernimmt. Wollte man also nach dem Namen allein ur-
teilen, so müsste man daraus auf eine Einwanderung der betreffenden
Art schliessen. Die Kastanie zum Beispiel ist von jeher, schon
seit der Tertiärzeit in den Mittelmeerländern einheimisch, ihr
Holz wurde bereits in den broncezeitlichen und ihre Früchte in
den eisenzeitlichen Pfahlbauten gefunden. Aber die Früchte der
damaligen Kastanien waren klein, von der bitteren Samenschale
durchzogen und gaben keine besonders gute menschliche Nahrung.
Man hatte für sie deshalb anfänglich auch gar keinen bestimmten
Namen und fasste sie in Griechenland unter dem Namen „bala-
nus", im alten Rom unter „glans" mit der Eichel zusammen.
Nun wurde von einer armenischen Stadt aus eine neue, viel
großfrüchtigere und schmackhaftere Kastaniensorte bekannt und
nach dem Namen dieser Stadt „Kastanis" bekam die Kastanie ihren
heutigen Namen, den sie sich auch in der botanischen Kunst-
sprache erhielt. Heute gibt es eine ganze Menge verschiedener
Sorten der Kastanie, die alle nicht wurzelecht sind und die durch
Pfropfen vermehrt werden. Als wertvollste Sorte gilt eine runde
Form, bei der in der stacheligen Hülle nur ein Same steckt.
Es sind dies die Maroni, die schon in ihrer Heimat viel teurer
bezahlt werden, als die übrigen Sorten. Wenn man eine Sorte
empfehlen will, so nennt man sie Maroni. Wie im klassischen
Altertum die damals beste Sorte den Namen der ursprünglichen
Kastanie verdrängte, so könnte man glauben, dass nördlich der
Alpen der Name der jetzt als best angesehenen Sorte, die Maroni,
den ehemaligen Namen verdränge; bei uns wird ja der Name
ganz allgemein für Kastanien gebraucht. Das Auftauchen eines
427
neuen Namens berechtigt also noch lange nicht, auf den gleich-
zeitigen neuen Gebrauch einer Pflanze zu schließen. Hehn über-
sah diese Verhältnisse nicht. Er legte zu viel Gewicht auf den
Namen und gab an, dass der Kastanienbaum aus Armenien
stamme.
Wie gesagt lehnt sich der deutsche Name Kürbis an die
lateinische Bezeichnung Cucurbita an. Auch hier ließ sich Hehn
dadurch beeinflussen und glaubte, die germanischen Völker hät-
ten den Kürbis von den Römern erhalten, während er nachweis-
lich von Amerika stammt. Nichts destoweniger ist der Name von
uns aus dem lateinischen Sprachgebiet übernommen worden.
Schon vor der Entdeckung Amerikas hatten die Römer und Grie-
chen Kürbisarten, die sich aber bei uns nicht kultivieren lassen.
Es wurde also für die neue Frucht ein alter Name verwendet.
Diese Erscheinung ist bei den Kulturpflanzen häufig. Als die Kar-
toffel bei uns eingeführt wurde, erhielt sie den Namen Erdbirne
oder Erdapfel. Es wurden also die Knollen der neuen Kultur-
pflanze mit den schon einheimischen Birnen und Äpfeln vergli-
chen, im romanischen Sprachgebiet der Schweiz, zum Beispiel
im Puschlav, verglich man die Kartoffel mit der Trüffel und
nannte sie deshalb Tardifula oder Tardifüla. Aus dem gleichen
Wort ist auch der Name Kartoffel entstanden.
Bereits erwähnte ich, dass unsere heutigen Bohnen, unsere
Stangenbohnen und Höckerli aus Amerika stammen. Die Bezeich-
nung „Bohne" ist aber viel älter. Sie bezeichnet offenbar einen
länglichen Samen mit einem langen Nabel. Heute benennt man
aber beinahe nur noch unsere heutigen Bohnen und zwar sowohl
Pflanze, als auch Same und Schote mit diesem Namen. Auch
das ist wieder eine sehr oft auftretende Regel: Die häufigste
Pflanze bekommt nur eine allgemeine Bezeichnung. Mit „Tanne"
zum Beispiel bezeichnet man den häufigsten Nadelbaum. Bei
uns ist es die Weißtanne, an andern Orten die Fichte und hie
und da selbst die gemeine Kiefer. Als „Korn" bezeichnet man
bei uns den Spelzweizen, meist wird aber darunter der Roggen
oder der Weizen, in gewissen Gebirgsgegenden selbst die Gerste,
in Amerika dagegen der Mais verstanden. „Korn" ist eben über-
all die jetzige oder frühere häufigste Mehlfrucht. Die häufigste
Rübenart wird zumeist einfach mit „Rübe" bezeichnet. Bei uns
428
ist Rübe oder „Rabe" die Wasserrübe oder Brassica Rapa, an
andern Orten dagegen die Mohrrübe, also eine große Form
unserer Karotten. Auch diese Verhähnisse i^ann der Philologe
nur schwer übersehen und deshalb können sie allein uns nur
selten Auskunft über die Geschichte der Kulturpflanzen geben.
Neben den historischen und den philologischen Hilfsmitteln
zur Erforschung der Geschichte der Kulturpflanzen besitzen wir
noch ein drittes, die heutige Verbreitung der Verwandten einer
Kulturpflanze. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die
näheren Verwandten unseres Kürbis, wie übrigens auch unserer
Bohnen in Amerika leben. Darin fand sich einer der Gründe,
dass auch die Heimat des Kürbis und der Bohnen dort zu suchen
sei. Allein auch diese genetischen Hinweise werden uns, so
wertvoll und interessant sie sind, selten allein über die Herkunft
aufklären.
Neben diesen Richtungen hat man die wirtschaftliche
Seite der Erforschung recht vernachlässigt, und ich möchte nun
an Hand einiger Beispiele zeigen, wie auf anderer Grundlage eine
Zahl Angaben gewonnen werden können, die einige interessante
Ergebnisse bis in die früheste Zeit der menschlichen Existenz in
unseren Gegenden ergeben.
Um zu verstehen, wie es kommt, dass wir oft so schlecht
über die Herkunft und Geschichte der Kulturpflanzen unterrichtet
sind, müssen wir uns mit einigen allgemeinen Erscheinungen
vertraut machen. Vorerst muss hervorgehoben werden, dass die
wirtschaftliche Schätzung einer und derselben Kulturpflanze im
Laufe der Zeit großen Wandlungen unterliegt.
Portwährend kommen neue Kulturpflanzen oder Kultursorten
dem Menschen zur Kenntnis. Entweder handelt es sich um Pflan-
zen aus anderen Gegenden, die zum Anbau empfohlen werden
oder es wurden neue Sorten gezüchtet oder aber alte Sorten
tauchen als Neuzüchtung oder unter andern Namen wieder auf.
Der größte Teil dieser Neuerscheinungen hat wirtschaftlich keine
Zukunft und verschwindet über kurz oder lang wieder von der
Bildfläche. Ein kleinerer Teil aber eignet sich zur rationellen
Kultur. Obwohl diese eine Zukunft haben, so sind sie doch an-
fänglich weit davon entfernt, gut aufgenommen zu werden. Die
Landwirtschaft ist ein konservatives Gewerbe und jede Änderung
429
im Betriebe zieht oft ganz unberechenbar eine Reihe anderer nach
sich. Der Landwirt sucht das einmal vorhandene, meist empirisch
gefundene Gleichgewicht wenn immer möglich zu erhalten und
jede nötig werdende Betriebsänderung wird ungern gesehen. Des-
halb steht die Großzahl der Landwirte allen neu auftauchenden
Kulturpflanzen recht misstrauisch gegenüber. Die Kulturträger,
wie Klöster, landwirtschaftliche Schulen und Anstalten oder Do-
mänenverwaltungen, können längere Zeit neue Pflanzen empfehlen,
ohne dass die Landwirte vorerst davon Notiz nehmen.
Die neue Kulturpflanze tritt in ein zweites Stadium, sobald
sie in größeren Massen gepflanzt wird und die Anbaumethoden
allgemein ausgeprobt sind. Wohl nimmt jetzt der Landwirt Notiz
von der Nutzpflanze, aber er will nichts von ihr wissen. Er hält
sie schließlich recht für Mustergüter, also für Betriebe, die keinen
Reinertrag abwerfen sollen, im übrigen ist er mit wegwerfenden
oder verspottenden Urteilen rasch bei der Hand.
Schließlich gehen die sich bewährenden neuen Kulturpflanzen
in den allgemeinen Gebrauch über. Die kapitalkräftigen und
intelligenteren Landwirte sind es, die sich vorerst an die Neuerung
gewöhnen. Bei ihren Berufsgenossen kommen sie zwar dadurch
eher in Misskredit, weil sie gewissermaßen eine nicht erwünschte
Umwälzung, die nun weiter um sich greifen wird, vorbereiten.
Solche Neuerer und Besserwisser sind nicht gerne gesehen. Ganz
besonderen Widerwillen empfindet der Landwirt gegen neue Kultur-
pflanzen, wenn deren Früchte auch im eigenen Haushalte gegessen
werden. Es wird peinlich darauf gehalten, dass der Küchenzettel
im bürgerlichen Haushalte dem althergebrachten Brauche ent-
spricht und dass er standesgemäß sei.
Die Speisen, die Gemüse und Früchte, die gegessen und
nicht gegessen werden, bilden, wie kaum etwas anderes, den
Gradmesser, mit welchem einfache Leute sich gegenseitig ein-
schätzen. Wenn auch schließlich die neue Frucht gebaut werden
muss, so kommt sie doch vorerst nicht auf den eigenen Tisch.
Die Verachtung für neue Früchte kennzeichnet sich oft in den
Worten: „Ja, so öppis ässet mir nüd!" Wie weit diese Verachtung
gehen kann, zeigt uns eine Episode, die uns Messikommer aus
seiner Jugend erzählt. Damals wollte ein Knabe nicht neben
430
einem andern in der Schule sitzen, weil diese Familie Erdäpfel
aß! Das waren schon halbe „Revoluzer", diese Kartoffelesser.
Dieses dritte Stadium geht aber verhältnismäßig rasch vorbei.
Trotz allem anfänglichen Widerstreben geht eben die rentable
Kulturpflanze in allgemeinen Gebrauch über. Sie wird jetzt Markt-
frucht und, falls es eine Nährpflanze ist, werden die Früchte ein
allgemein geschätztes Nahrungsmittel, Das einstige Misstrauen
und die Verachtung sind schon längst vergessen. Eine große
Zahl von Sorten werden gezüchtet, die alle mit eigenen Namen
belegt werden.
Hat sich erst einmal eine Nutzpflanze diese Stufe allgemeiner
Anerkennung errungen, so fehlt es ihr an Lobsprüchen nicht. Ihr
Nutzen wird überall gepriesen, in Poesie und Prosa. Sie wird
als Sinnbild für Fruchtbarkeit und Wohlstand in der Ornamentik
benutzt. Selbst religiöse Vorstellungen können sich an die Pflanze
knüpfen und unter primitiven Verhältnissen werden die unent-
behrlich scheinenden Nutzpflanzen als heilig erklärt. Die Ägypter
und die Griechen hatten mehrere Kulturgewächse, die sie Lotos
nannten und heilig hielten. Das eine ist ein dorniger Strauch,
heute judendorn genannt, Ziziphus Lotus, ein anderer Strauch
ist die Dattelpflaume, Diospyros Lotos, einige andere sind See-
rosen, die noch heute Lotospflanzen heißen. Der Araber hat
seine heilige Dattelpalme. So grausam er mit dem Feinde selbst
umgehen mag, so gilt das Fällen der Dattelpalmen doch als gott-
los. Sie zu fällen würde den völligen Ruin des Feindes bedeuten
und so weit zu gehen, verbietet dem Araber die religiöse Anschauung.
Auch die Bibel bezeichnet es als ein fluchwürdiges Verbrechen,
Fruchtbäume umzuhauen. Der Christ betet: „Unser täglich Brot
gib uns heute", in der Vorstellung, dass das Brot als wichtigste
Speise der Inbegriff von Nahrung überhaupt sei. Um Brot zu
erhalten brauchen wir aber Mehlpflanzen, und so sind im Grunde
genommen das Getreide und die wenigen anderen Mehlpflanzen
im Vaterunser eingeschlossen.
Früher oder später gehen aber auch diese Kulturpflanzen dem
Verfall entgegen. Neue Sorten oder neue Arten tauchen auf.
Sie machen zwar meist wiederum mehr Ansprüche an Boden
und Arbeit, aber bei den steigenden Preisen geben eben die
neueren Pflanzen doch einen größeren Reingewinn. Die früher
431
geschätzten Kulturpflanzen erhalten Mitbewerber und fangen an,
in der Achtung zu sinken.
Sobald diese Periode des Verfalls beginnt, geht rasch der
Massenanbau jener Kulturpflanzen zurück. Die Preise sinken und
die Qualität nimmt ab. Nur noch unter zwei Verhältnissen können
veraltete, unter den neuen Verhältnissen nicht mehr rentierende
Kulturen sich erhalten: erstens auf schlechtem Boden oder in
unfruchtbaren Klimaten und zweitens in Gegenden mit einer Be-
völkerung, die aus irgend einem Grunde unter dem allgemeinen
Lohn arbeitet, also die an und für sich preiswerten Handelsfrüchte
nicht zu kaufen vermag. Während durch neuere Kulturpflanzen
an anderen Orten die nunmehr veralteten Sorten immer rascher
verschwinden, bleiben sie hier zum Eigengebrauch noch lange
erhalten, Jahrzehnte lang, ja selbst Jahrhunderte lang. Als all-
gemeine Kulturpflanzen sind sie nicht mehr geschätzt und als
Marktfrucht kaum mehr gekannt. Selbst der Same wird im Handel
selten und eine Sortenwahl wird kaum mehr betrieben. Sehr
häufig wird die gleiche Pflanze, die früher als menschliche Nah-
rung diente, jetzt als Viehfutter verwendet und dementsprechend
sinkt die Achtung vor ihr. Sie kommt nicht mehr auf den Tisch
des Landwirtes, auch wenn sie wie früher gute Verwendung fände,
denn der einfache Bürger scheut sich, die gleiche Nahrung wie
das Vieh zu genießen, auch wenn sie anders zubereitet wird.
Rasch genug verschwindet dann die Erinnerung an die ehemalige
Verwendung in der Küche. Dafür einige Beispiele: Einst war
das populärste Blattgemüse in einem Landesstreifen nördlich der
Alpen, etwa von Savoyen bis in das Allgäu hinein, im Norden
bis nach dem Oberelsaß (Altkirch), unser heutiger Mangold, Beta
vulgaris. Er stammt von einer im Mittelmeergebiet wild lebenden
Form ab. Früher wurde die Pflanze offenbar feldmäßig gebaut.
Bei uns heißt das Gemüse bei den Bauern heute noch einfach
„Chrut", ein Zeichen dafür, dass eben „Chrut" und „Chrutstiel"
das allgemeine Blattgemüse war, wofür auch historische Belege
vorhanden sind. Heute wird der Mangold noch häufig angebaut,
aber bei unsern Bauern beinahe nur als Schweinefutter verwendet.
Er sinkt dementsprechend in der Achtung der Bauern. Als wir
einst ein neues Dienstmädchen eingestellt hatten und ihm zuge-
mutet wurde, Mangold als Gemüse zuzubereiten, meinte es nase-
432
rümpfend: „Bi üs gämmer 's Chrut nu de Sau!" Dieser Aus-
spruch ist ganz bezeichnend für diese aus dem allgemeinen Ge-
brauch gekommene Kulturpflanze. Nur bei der städtischen Be-
völkerung ist der Mangold in Gebrauch geblieben. Heute wird
er auch außerhalb des ehemaligen Bereiches durch die Gärtner
einzuführen gesucht, in Erfurter Gärtnerkatalogen wird sogar
der Pflanze Ähnlichkeit mit der Spargel nachgerühmt. Das scheint
übertrieben, aber trotzdem müsste es bei einem Bauern vor 300
Jahren, wenn man ihm vorausgesagt hätte, dass der Mangold
einst nur noch für die Schweine für gut genug befunden werde,
das gleiche Gefühl erweckt haben, wie wenn uns heute einer
sagte, es käme einmal die Zeit, wo die Schweine mit Spargein
gefüttert werden und sich unsere Köchinnen nur mit Naserümpfen
dazu verstehen, uns ein solches Gemüse zuzubereiten.
Wir haben schon früher erfahren, dass das, was wir heute
unter Bohnen verstehen, aus Amerika stammt, während der Name
Bohne für frühere Bohnenarten bereits bekannt gewesen sei. Es
gab also vor unsern Bohnen andere Arten und in der Tat zeigen
die Funde aus der vorhistorischen Zeit, dass eine Bohnenart schon
seit der Steinzeit bekannt ist und zum mindesten im Mittelalter
allgemein im Gebrauch gewesen ist. Es ist dies eine nicht ran-
kende Wickenart, Vlcia Faba, die heute unter dem Namen Pferde-
bohne oder Saubohne bekannt ist.
Um also die alte Bohne, die mehrere Jahrtausende die Men-
schen ernährte und jetzt mehr in den Hintergrund gedrängt wurde,
von den neuen unterscheiden zu können, benennt man sie in
undankbarer Weise mit einem wegwerfenden Namen.
ZÜRICH H. BROCKMANN-JEROSCH
433
DEUTSCHE INVASION
Deutschlands Bestreben, die Sphäre seines wirtschaftlichen
Einflusses immer mehr auszudehnen, ruft namentlich in Frank-
reich immer neue Mahner auf den Plan. Bekanntlich sind dort
Bestrebungen vorhanden, die auf einen Boykott deutscher Waren
hinauslaufen. Diese feindseligen Stimmungen sind eher in der
Zunahme begriffen und erfassen Kreise, die bisher von derlei
Empfindlichkeiten verschont blieben. Je mehr Deutschland seine
wirtschaftliche Machtstellung akzentuiert, desto intensiver breitet
sich in Frankreich die Abneigung gegen Deutschland aus und
erobert auch jene politischen und wirtschaftlichen Interessen-
gruppen, die sich bisher frei wussten von allen nationalistischen
Engherzigkeiten. Unter solchen Umständen hält es schwer, in
absehbarer Zeit an den Erfolg der vom französisch-deutschen
Komitee eingeleiteten Verständigungsaktion zu glauben. Vor
einigen Wochen erschien im Echo de Paris ein Artikel, vielmehr
ein Junius-Brief, der ein grelles Licht auf die Sti mmungen wirft,
welche in breiten Kreisen gegenüber Deutschland tatsächlich vor-
handen ist. Der Artikel spricht von einem Envahissement me-
thodique; in seinem Dienste stehen die Kaufleute, Handelsreisenden,
Missionare, Lehrer, selbst Domestiken. Bei den großen wie bei
den kleinen Nationen könne die Ausbreitung einer deutschen
Hegemonie konstatiert werden. Der Schweiz habe man die Auf-
merksamkeit des Kaiserbesuches erwiesen; die Annahme des
Gotthardvertrags, die Vollendung der Hüninger Werke haben er-
kennen lassen, wie diese Abhängigkeit fortschreite. Es fehle nicht
an Klagen über die zunehmende Germanisierung. Aber auch in
Frankreich stehe ein ganzes Heer von Leuten im Dienste dieser
Idee; eine Armee von Kaufleuten, Industriellen, Lieferanten. Diese
Avantgarde arbeite methodisch und sicher. Auch die Kurorte
Interlaken, Zermatt, St. Moritz, Chamonix würden immer mehr
„germanisiert". Chamonix gehöre im Winter den Franzosen, im
Sommer aber sehe man dort deutsche Fahnen flattern und dieser
Ort wimmle derart von „sujets de l'empereur Guillaume", dass
434
er gleichsam seine frühere Eleganz verloren habe. Auch die
Hoteliers würden sich den Wünschen der Deutschen glatt anpassen.
Einer habe ein Hotel Germania erbaut. Dann finde man ein
Cafe Bavaria, ein „Zeppelin-Haus", eine Bahnhofstraße, einen
Biergarten. Franzosen, die in den Ort kämen, werden ziemlich
schlecht aufgenommen, nicht allein von den Konsumenten im
grünen Hut, sondern auch vom Hotelpersonal. Die Historiker
wissen nicht mehr genau, wann Chamonix an Deutschland an-
nektiert wurde. . . .
So weit das französische Blatt. Die Klagen über diese deut-
sche Hegemonie sind etwas übertrieben, aber doch nicht ohne
weiteres von der Hand zu weisen. In der wirtschaftlichen Ex-
pansion Deutschlands, in der Ausbreitung des deutschen Einflusses
liegt in der Tat Methode und System ; sie bedeutet für alle Völker,
die davon betroffen werden, eine gewisse Gefahr, die man nicht
wegdisputieren kann. Es muss jeder Nation überlassen bleiben,
sich mit ihr auseinanderzusetzen. Wenn aber die Franzosen das
wirtschaftliche Übergreifen Deutschlands auf die Schweiz so sehr
beklagen, so ist ihnen nur zu raten, sie möchten auch ihren
wirtschaftlichen Einfluss in der Schweiz stärken und zwar vor
allem dadurch, dass sie ihren Export nach unserem Land wieder
erhöhen und es auch der Schweiz möglich machen, in Frankreich
noch bessere Absatzmärkte zu finden. So lange aber bei jeder
Gelegenheit in unserer Nachbarrepublik ein engherziger Protek-
tionismus aus der Versenkung steigt, ist an die wohl dringend
wünschbaren stärkeren wirtschaftlichen Wechselbeziehungen nicht
zu denken. Frankreich spielt aus sehr natürlichen Gründen auch
als Abnehmer unserer kantonalen und zum Teil städtischen Werte
sozusagen keine Rolle mehr, seitdem in dem Land des enormen
Kapitalreichtums der Anlagezinsfuß beträchtlich in die Höhe ge-
gangen ist. Dass unsere finanzielle Verschuldung nach Paris zu-
rückgegangen ist, muss eher als ein Vorteil bezeichnet werden.
CIVIS
D D D
435
S g THEATER UND KONZERT
D D
D Q
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Die
letzte Zeit brachte den Schauspiel-
freunden ein wertvolles Gastspiel,
das erste dieses Winters: Tilla Du-
rieux, heute eine der bekanntesten
und anerkanntesten Berliner Schau-
spielgrößen, trat in vier sehr ausein-
anderliegenden Rollen vor das Zür-
cher Publikum, und sie errang sich
einen Erfolg, der für ihr Wieder-
kommen bestimmend sein dürfte.
Mit der Hedda Gabler fing sie an;
es folgte die Judith; in Shaws Pyg-
malion war sie die Liza, das Lon-
doner Blumenmädel, und die Magda
blieb uns nicht erspart.
Der erste Eindruck und der blei-
bende, bestimmende war, dass man
einer geistig höchst kultivierten
Schauspielerin gegenübersteht, die
ihren Geist nicht vom Regisseur,
sondern von sich selbst bezieht. Sie
bringt zu ihrer Kunst einen wunder-
voll geschmeidigen Leib mit, ein Ge-
sicht, in dem alles Bewegung und
Nerv und Ausdruck ist; wodurch
denn die Frage nach der Schönheit
ganz in den Hintergrund tritt, ja
völlig irrelevant wird; von Schönheit
ist nämlich keine Rede; die Unregel-
mäßigkeit ist Königin und die Einzel-
formen sprechen dem klassischen
Kodex Hohn; aber das geistige Flui-
dum bringt das Unregelmäßige zur
Einheit, verfeinert alles, lässt sogar
Schönheit (im höhern Sinn) aufblühen.
So vermag sie allem, was Geist und
Seele heißt, bis in tiefste Gründe,
bis in die Abgründe des Pathologi-
schen hinein ein lebendiges Spiegel-
bild von fesselndstem Reiz und auf-
schlussreichster Eindringlichkeit zu
werden. Ihre Hedda wies es, wie
ihre Judith; und selbst die (unmög-
liche) Magda Schwarze bekam einen
Scelenschimmer ab, den man im
Drama selbst (das man nur noch
mit größter Selbstzucht aushält) ver-
geblich suchen würde. Die Judith
zeigte überdies ein echt tragisches
Lineament: der psychologische Unter-
grund der Rolle wurde ergreifend klar
und damit wuchs die Tragik in dieser
Gestalt, der Konflikt zwischen reli-
giöser und sinnlicher Ekstase zu leib-
hafter Größe empor.
Die lustige Gassenmädelgrazie,
die die Durieux als Liza Doolittle
entfaltete, war ganz reizend, und wie
sie dem Professor seine Versündi-
gung an dem Blumenmädchen, das
ihm nur als ein phonetisches Spiel-
zeug interessant war, zum Bewusst-
sein (mit den Pantoffelwürfen und
der großen Anklagerede) bringt, das
war nun schon zum Entzücken gar.
Dass Liza dabei ganz genau weiß,
dass sie den Professor ja doch an
der Angelrute hat, ging selbstver-
ständlich als fröhlicher, fein fest-
gehaltener Unterton durch den
letzten Akt. Die sprachliche Drollig-
keit war ein Kapitel für sich. Das
Stück erhielt ein ganz neues Leben.
Die Sprachkunst der Durieux ist
vollendet. Sie verfügt über einen
erstaunlichen Nüancenreichtum, und
auch die stärksten Akzente der
Leidenschaft sind ihrer Stimme nicht
versagt. Hie und da erinnert der
Klang unwillkürlich an den der Ber-
tens, an hartes Metall. Der Judith
stand das vor allem prachtvoll an.
H. TROG
TONHALLE ZÜRICH. Aus der
Fülle musikalischer Darbietungen der
letzten Wochen möchte ich einiges
herausgreifen. Vor allem die zweite
Sinfonie von Fritz Brun, die wir vor
zwei Jahren unter des Komponisten
Leitung und nun unter Andreae noch
fastschlackenloserzu hören bekamen.
Zwei Geschenke haben die Musen
436
*OK>
THEATER UND KONZERT
an des Kapellmeisters Wiege gelegt:
die Gabe der Melodiebildung und
ein ganz eminentes Formtalent. So
finden wir bei ihm einen großen
quellenden Melodienreichtum — und
das will viel heißen heutzutage —
und dank seines Formtalentes das
Vermögen, die melodiösen Linien
derart geschickt zu schlingen, dass
daraus nur Wohlklang und Schön-
heit entsteht, statt der gewalttätigen
Dissonanzen, an welche sich unser
modernes Ohr nachgerade gewöhnt
hat. Deshalb das Entzücken bei
dieser edlen Musik, und das Urteil,
das man schon bei der Uraufführung
zu hören bekam: die erste Sinfonie
seit Brahms. Mit Brahms hat er
gemeinsam das akademische, vor-
nehme, zurückhaltende, aber seine
Zurückhaltung geht nicht so weit, dass
sie auf Kosten der ursprünglichen
Kraft geschähe. Schön und tief
spricht sein Leben aus diesen Tö-
nen, und darin ist alles echt, ehrlich,
empfunden, mit einem Wort: schwei-
zerisch. Auf diesen Schweizer dür-
fen wir stolz sein, der uns die na-
tionale Sinfonie geschaffen hat.
Während Brun im geistigen Ge-
halt seiner Sinfonie ganz auf realem
Boden bleibt, auf Erlebtem, Geschau-
tem. Fassbarem — auch darin ist er
ganz Schweizer — geht die moderne
Musik gerne darauf aus, das Unaus-
sprechbare, das in Worte nicht mehr
zu fassende zu schildern und mit
Klängen diejenigen Gefühlsempfin-
dungen zu vermitteln, welche dem
Wort nicht mehr genügend differen-
zierbar sind. So entstanden die from-
men Abendmahlsklänge des Parsi-
fals, so die Mystik der Mahlerschen
Achten, und so auch die fein ab-
getönten Naturstimmungen eines
Frederick Delius. Noch mehr als in
Bf^SS fO'ir ist er in der Tondich-
tung In a Summer Garden der
Poet des Sommers, all des Webens
und Lebens auf Wiese und Feld,
mit dem großen Himmelsgewölbe
darüber und der weiten Perspek-
tive, der Weite der Unendlichkeit,
wunderbar angedeutet in den lang-
gezogenen ausklingenden Pianissimo-
tönen des Stückes. Ein Tag, wo die
Lerche gar nicht schweigt und der
Roggen wächst, würde Jakobsen
sagen. Und dann ist doch wieder
ein Flimmern im Orchester, ein Ne-
beneinander, eine Bewegung, wie im
besten pointillistischen Gemälde der
Franzosen. Das alles in Worte zu
fassen, fällt schwer, ja ist und soll
unmöglich sein, und sollte ich es
dennoch tun, so würde ich sagen :
Ingeborg (von Bernhard Kellermann).
In die gleiche Kategorie der an-
gewandten Musik, wenn auch auf
ganz anderem Gebiete, gehört die
achte Sinfonie von Gustav Mahler,
die wir zum 50jährigen Jubiläum des
Gemischten Chores unter Andreaes
Leitung mit rund 800 Mitwirkenden
imposant und entsprechend zu Gehör
bekamen. Man war berauscht von
der Schönheit des Klanges, der Masse
des Tonalen, der visonären Kraft
dieser Schöpferphantasie, berauscht
wie man sich nur von etwas über
allem Irdischen schwebendem be-
rauschen kann ; aber wie lange dieser
Rauschzustand angehalten und wie
sich der Hörer nachher mit dem
Werk auseinandergesetzt hat, ist eine
andere Frage. Den Musikern im
allgemeinen hat der erste Teil besser
gefallen, weil er geschlossen ist, for-
mell rund und ganz, ein Sinfoniesatz
in fast übergroßen Dimensionen. Den
übrigen Kunstverständigen hat der
zweite Teil einen größeren Eindruck
gemacht: die Vertonung des in himm-
lischen Regionen sich abspielenden
Fausttextes. Wegen der Neuheit.
Man hat es heute nicht mehr so
437
«»o
THEATER UND KONZERT
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leicht, sich den Himmel mit all der
überirdischen Seligkeit vorzustellen.
Gottfried Kellers Tanzlegendchen
oder ein Ausschnitt aus Fra Beatos
Altarbildern genügen der Vorstel-
lungskraft, nicht aber dem Gefühls-
empfinden. Hier setzt Mahler ein.
Er hebt uns empor in die Sphäre,
die nichts Irdisches mehr hat. Wir
vergessen die Erde, das Menschliche
in und neben uns. Langsam lösen
sich die Sohlen vom Urgestein der
Felsenwände, durch die wir im Vor-
spiel mühsam wanderten, langsam
gleiten wir empor durch die Scharen
der Büßerinnen hinauf zu immer
höheren, seraphischen Regionen und
schweben endlich ohne Erdenrest
und völlig losgelöst in dem Goldstrom
des himmlischen Lichtes. Goldene,
gleißendeFäden spinnt hier dieMusik,
und ein Schwall von Licht breitet
sich über sie aus und eine wohl-
wollende wärmende Liebe, der nichts
Menschliches mehr anhaftet. Das
alles bringt die Musik, durch neue,
niegehörte Klangwirkungen, unendlich
mächtige Chormassen, Glocken- und
Posaunenchöre, die dröhnen und
ganze Meere in Schwingung zu brin-
gen scheinen. Ich hatte noch selten,
vielleicht noch nie das Gefühl des
Schwebens, des Aufsteigens, des sich
Entfernens von aller Erdenlast wie
in diesen letzten Momenten.
Das war mein ästhetischer Ein-
druck. Sich mit dem Stück ausein-
anderzusetzen wegen seiner formalen
und geistigen Gestaltung, sträubt sich
die Feder; es ist zu sehr ein Werk
von heute, unseres Tages, dessen
Wert oder Unwert uns nicht klar zur
Einsicht kommen kann. Jedenfalls
war die Wirkung groß und vielleicht
auch tief, und wenn die Sensation
des großen Apparates dabei auch
eine Rolle gespielt hat, so ist das
nichts rein Äußerliches, sondern liegt
in der Konzeption, im innern Cha-
rakter des Stückes und des Kompo-
nisten. Sei dem wie ihm wolle: die
Zürcher Aufführung war eine glanz-
volle für unser Musikleben und
Andreae hätte dem Gemischten Chor
nicht verheißungsvoller die Tore für
ein zweites Halbjahrhundert öffnen
können, als mit solch einem Wunder-
werk des stolzen Heute. —
Von den Solisten, die wir in letzter
Zeit hörten, nenne ich zuerst den,
der mir wieder zu einem ganz un-
vergleichlichen Erlebnis wurde: Mess-
chaert. Er bewies mir, dass höch-
ste Kunst alle Mittel vergessen lässt
und in letzter Linie eben doch Geist
ist. Geist vom Geiste des Künstlers
und vom Geiste des toten Tondich-
ters. Bei diesem Haydn, diesem
Schubert machte sich der Flügel-
schlag des Genius spürbar geltend.
Und nachher erst, nach diesen Mo-
menten völligen Wegseins, kam es
einem zum Bewusstsein, mit welch
eminenter Intelligenz, welch künst-
lerischem Geschmack und Können
dieser Sangesmeister singt.
Nüchterne, aber auch ganz
schlackenfreie Kunst bot uns Maria
Philipp! in Brahmsliedern und in der
Bachkantate: Vergnügte Ruh. Es
gibt einen mir lieb gewordenen Holz-
schnitt von E. Würtenberger, der
Joh. Seb. Bach darstellt und neben
der Person des Meisters nur noch
Raum gibt für die mächtige Orgel
und einige lobsingende Engel. Ich
könnte mir keine bessere Illustration
zu der genannten Kantate denken
als jenes Bild, das die ganze welt-
abgeschiedene Gottseligkeit des Ei-
senacher Meisters darstellt, aus der
heraus diese und so manche andere
Kantate entstanden ist. Fräulein Phi-
lippi ist bekannt als Bachinterpretin
von großer Innerlichkeit. Ich bewun-
dere an ihr mehr noch die Kunst
438
THEATER UND KONZERT
K}»0
der Ökonomie der Mittel, dank wel-
cher sie die mächtige Schlußsteige-
rung im Choral so plastisch und groß
zur Geltung bringen konnte. Ob
eine Bachkantate von dieser Aus-
dehnung und Weltferne in den prun-
kenden Tonhallesaal passt, ist eine
andere Frage ; jedenfalls ist sie wohl
in Verbindung mit schwerflüssigen
Brahmsliedern eine harte Nuss für
manchen arglosen Konzertbesucher
gewesen.
Noch ein Wort über den Beglei-
ter dieser beiden Künstler, Herrn
Moeckel. Er begleitet nach meinem
Empfinden zu diskret, wohl, weil er
die akustischen Verhältnisse des vol-
len Saales noch nicht recht kennt.
Ein Pianist von solchen Qualitäten
darf auch dann aus sich herausge-
hen, wenn er nur begleitet. Als So-
listen am Klavier hörten wir jüngst
Rudolf Ganz, dersein großes Können
in den Dienst des zweiten Liszt-
konzertes stellte, das dann auch un-
heimlich großzügig und gesteigert
zum Vortrag kam. in nicht gleich
guter Disposition war der Künstler
an jenem Abend für Chopin, dessen
Solostücke überhastet und fast etwas
poesielos herauskamen.
Als Violinvirtuose trat HerrSzigeti
hier zum erstenmale auf. Wie bei
kaum einem andern Instrument ist
gerade bei der Violine eine glänzende
Technik Voraussetzung. Ihren Ruhm
verdanken die Violinvirtuosen erst
andern Eigenschaften. Herr Szigeti
imponiert durch sein ernstes Ringen
um die Kunst eines Brahms und Bach,
und wenn auch seine Persönlichkeit
noch wenig von der Schule des Le-
bens erfahren hat, so ist das doch
nur eine Frage der Zeit. Die Zeit
aber wird seine Persönlichkeit dif-
ferenzieren und sein Spiel charakte-
ristischer gestalten. „Wer immer
strebend sich bemüht . . ."
Eine freudige Überraschung war
für mich das Konzert des Männer-
chors AußersihI, sowohl wegen des
künstlerisch großzügigen Programms
als auch wegen dessen Ausführung
unter Schoecks Leitung. Neben Haus-
eggers Schmied-Schmerz und Brück-
ners Germanenzug — aus der ge-
schraubten und unwahren Sphäre
eines Felix Dahn entlehnt und des-
halb heute schon etwas antiquiert —
interessierte hauptsächlich die Erst-
aufführung des römischen Triumph-
gesangs von Reger. Der große Pomp
der alten Weltstadt, der wuchtige
Tritt römischer Legionen, der phre-
netische Siegesjubel des fanatischen
Volkes, aber wenig von dem Innern
Gehalt des schönen Linggschen Ge-
dichtes. Fräulein Krüger befriedigte
vollauf auch als Konzertsängerin,
und wenn sie sich fast allzugroße
Reserve auferlegte, so bedeutet das
nur ein Lob für die Opernsängerin
von Beruf. otto hug
CARL FRIEDRICH WIEGANDS
MARIGNANO in LEIPZIG. Es mag
seltsam scheinen, dass ein gutes, ja
über den Durchschnitt hinaus treffen-
des Theaterstück von der Schweiz
aus so schwer auf deutsche Bühnen
zu lancieren ist; ist jedoch aus den
zentralisierten Organisationsverhält-
nissen des Literaturmarkts erklärbar.
Wer aber reimt uns die Tatsachen
zusammen, dass ein in der Schweiz
geradezu populär gewordenes, dazu
vom Richterkollegium des Volks-
schillerpreises in engste Wahl gezo-
genes Volksdrama trotz eifrigster
Werbearbeit seinen Weg auf die
Bühnen Deutschlands bis zu diesem
Augenblicke nicht hat machen kön-
nen ? Hier mögen volkswirtschaftliche
Erklärungsmethoden versagen. Hier
stehen wir vor Endfragen des literari-
43)
THEATER UND KONZERT
KM9
sehen Geschmacks, vielleicht gar vor
einem Kulturproblem.
Carl Friedrich Wiegands Volks-
drama tritt aus der Reihe der heute
beliebten Gesellschaftsdramen, die,
mögen sie nun in naturalistischem,
neuromantischem oder neuklassizisti-
schem Gewände einherstolzieren, auf
eine verwickelte Psychologie als ihr
Besonderstes abstellen, mit bewuss-
tem, ja selbstbewusstem Schritt her-
aus. In dem robusten, aller seeli-
schen Kompliziertheit abholden Tem-
perament dieses Dichters ist ein
künstlerischer Wille am Werke, der
mit naturhaftem Instinkt auf die
Wurzelkräfte der Seele zurückdrängt,
entschlossen, sie unzersetzt und un-
gebrochen in elementaren Strömen
ausfluten zu lassen. So ist dieser
Werni Schwyzer in Marignano kein
blankpolierter „Held", dem aus Tra-
ditionen, Verstandeskultur, Gefühls-
feuern oder -Feuerchen Entschlüsse
zu großen Taten kommen, sondern
eine Naturkraft, beherrscht, bewegt
und niedergestreckt von diesen zwei
Gewalten, die in ihm wirkend sind:
dem Heimatgefühl und der Liebe.
Und von gleichem, wenn auch niedri-
gerem Wuchs scheinen die andern
Gestalten. Diese Menschen sind der
unendlich mannigfachen Regungen
der modernen Seele, sind reflektierter
Gefühle gar nicht fähig. (Mit Aus-
nahme der beiden Abgesandten vom
französischen und vom päpstlichen
Hofe, die hier die Bedeutung von
wirksamen Kontrastfiguren aus höhe-
ren Kulturzonen haben.) Wohin man
blickt in Wiegands Volksdrama, ist
derbe Ursprungskraft, Einfalt und
primitive Menschlichkeit.
Dies aber ist es, was die zarten
Seelen von heute schreckt. Sie halten
die Verwendung des Elementaren in
der Kunst für der Neuzeit nicht mehr
entsprechend. (Als ob Shakespeare
schon tot wäre, als ob ein Matkowsky
unter uns nicht gelebt hätte, als ob
ein Hodler nicht schon in Zukunfts-
zeiten ragte.) Sie fürchten für das
Leben jener feingeschliffenen Wort-
und psychologischen Gestenkunst,
an deren stillen Reizen sie ihr leises
Entzücken haben. Und sperren dem
monumentalen Drama, in dem die
Kindheitsseele der Menschheit lebt,
die Pforten ihrer Tempel zu. Denn
sie haben es im Psychologischen so
schrecklich weit gebracht! Die ein-
fache, wuchtig aufsteigende Linie tut
es nicht mehr. So 'ne Theatersache
von Zug muss problemgeladen, psy-
chologisch „vertieft" und um und um
gewunden sein . . . Oder sie geht uns
nicht mehr ein . . .
Wenn diese wenigen Anmerkungen
deutlich machen können, dass Wie-
gands Marignano eigentlich gegen
den breiten Literaturstrom der Gegen-
wart geht — mehr wollen sie nicht — ,
so wird man die Erstaufführung des
Stücks auf einer großen deutschen
Bühne in doppeltem Sinn ein Ereig-
nis nennen dürfen. Dies Ereignis
herbeigeführt zu haben, ist das ver-
dienstvolle Werk Max Martersteigs,
der unter komplizierten Verhältnissen
seit dem L April 1912 drei Bühnen
der Stadt Leipzig leitet und einer
der charaktervollsten Intendanten
Deutschlands ist. Schon während
der Beratungen der Schillerpreis-
richter, unter denen Martersteig nicht
als schlechtester Kenner mittatete,
hatte dieser von Modeströmungen
Unbeirrbare eine erkleckliche Anzahl
Stimmen auf Wiegands Marignano
zu vereinigen gewusst. Sie genügte
nicht ganz, dem Stück zum Siege zu
verhelfen. Nun aber hat Martersteig
den Kampfplatz aus verschlossenen
Beratungszimmern auf die offene
Bühne verlegt. Und diesmal ist er
der Sieger geblieben.
440
THEATER UND KONZERT
Dabei war mir die Aufführung
durchaus nicht einwandfrei. Eins
fehlte vor allem : die dröhnendeWucht
der Massen, die den dritten Akt in
einen Taumel enden lassen, die die
fehlende innere Dramatik des vierten
Aktes ersetzen muss. Auch war der
Ammann Kätzi, der eigentliche tra-
gische Held von Marignano (W. Hell-
muth-Bräm), seiner Aufgabe nicht
gewachsen : hier muss man eine Stier-
kraft fühlen, statt dessen sahen wir
eine behandschuhte Ratsherrngestalt.
Dahingegen mit welcher Spürkraft
hat Martersteig dem Werk die
Schweizerseele entbunden, mit wie
viel liebevoller Treue hat er die
Hodlerfresken des vierten Akts ge-
staltet, wie feinfühlig hat er den ge-
waltigen Rhythmus des dritten Aktes,
dieses architektonischen Prachtge-
mäldes, ans innere Ohr gebracht! —
Bruno Decarli als VVerni Schwyzer
war gleichwohl der eigentliche Träger
des Stücks. Schwerlich möchte es,
seitdem Matkowski gewichen ist,
einen Schauspieler in deutschen
Landen geben, der dieses Urbild des
Schweizers so . tief auszuschöpfen
wüsste, nicht bis auf Haut und Kno-
chen nur, nein bis ins innerste Mark
der Seele. Es gab Momente, wo
unter dem stummen Spiel dieses
selbstschöpferischen Charakteristi-
kers das Dichterwort als belanglos,
ja als störend empfunden wurde, so
in der ersten Wiedersehensszene mit
der Judith, wo dieser herbverschlos-
sene Mann vor der Geliebten nieder-
sinkt, sein Weh ausschluchzt und nun
plötzlich das hilflose Kind im Riesen
sichtbar wird, das sich aus seinen
Lebensnöten zuletzt doch nur noch
an die liebende Brust der Allmutter
Weib zu klammern weiß. In solchen
ganz starken Augenblicken — es gab
ihrer mehrere — sprengte der Schau-
spieler die nationale Gebundenheit
der Gestalt und Werni Schwyzer
ward ein Repräsentant der Mensch-
heit. Sonst aber lebte echtestes
Schweizertum in Decarlis Gestaltung
auf. Dieser breite, wankende Älpler-
gang, dieses tränenlose, tiefbeküm-
merte Heimatweh, dieser prunklose
Mannesstolz (vor der Geliebten, als
sie ihm das Vatererbe schenken will),
dieser schwer lallende Zungenschlag,
diese hingebungsvolle Hundetreue,
diese Tigerlust im Angreifen, diese
zähe Überwinderkraft im Zurück-
weichen, diese Herbigkeit in Lieb
und Leid, dieses Stummsein in Ent-
sagungsqualen — all das verdichtete
sich in Decarlis Wernigestalt zu
typisch-schweizerischer Eigenart. Ein
Repräsentant des Schweizervolks
ohne die kitschigen Farben und Posen
so manches innigstgeliebten Volks-
schaustücks.
Die realistische Echtheit der
Figuren scheint mir — neben der
ungesuchten Körnigkeit der Sprache
und der stark bildhaften Prägung
mancher Szenen, die im Geiste
Hodlers durchgeführt ist — die
eigentliche Stärke von Wiegands
Marignano. Im Gefüge des Drama-
tischen will ja manches nicht klap-
pen. Die Einzeltragödie Judith-Werni
wächst nicht unmittelbar und zwin-
gend aus den Konflikten der All-
gemeinheit heraus, und auch die
Motivierungen dieser Einzelschick-
sale, besonders die tragische Schluss-
wendung, haben nicht die erforder-
liche Triebkraft von innen her. Hier-
mit mag es zusammenhängen, dass
Fräulein Anny von Orellis Judith nicht
ganz so fest- und großumrissen
aus dem massenhaften Geschehen
des sich immer mehr zu einem Volks-
drama aufrollenden Stückes heraus-
treten wollte. Es fehlte — seitsam
genug, da Fräulein von Orelli doch
Schweizerin ist — jene halbver-
441
THEATER UND KONZERT
foto
schlossene Herbheit der Schweizer-
seele, die ihr Bestes in Worten nicht
hingeben kann, die das große Leid
nicht leidenschaftlich herausschreit,
sondern in sich hineinschweigt und
stumm und kalt und versteint darüber
wird wie die grauen Berge ... In-
dessen ich sagte schon, die Figur der
Judith wird untfer der Wucht des
Volksschicksals erdrückt, ihr eige-
nes Schicksal bleibt Episode, der die
innere Notwendigkeit im Fortschrei-
ten des Stückes immer mehr abhan-
den kommt, und so würde auch eine
ganz starke Kraft diese Rolle ver-
mutlich nicht in tragische Höhen zu
führen wissen. So gesehen, muss die
schauspielerische Leistung der jun-
gen Künstlerin in ihren Teilen ge-
würdigt werden und da ist zu sagen,
dass Fräulein von Orelli besonders
in den ersten Akten Leidenschafts-
entladungen hatte, die sie, wenn
auch auf anderm Felde, vermutlich
noch auf steile Höhen führen wer-
den. — Von den übrigen Darstellern
verdienen lobende Erwähnung: Kurt
Stieler, der den französischen Ab-
gesandten ohne die mindeste über-
treibende Ironisierung, auf die nur
reife Kunst zu verzichten vermag,
charakterisierte und Wilhelm Walter,
dessen fettige Stimme die ölig trie-
fenden Reden des Kardinalbischofs
von Sitten in prächtigen Steigerungen
über die Versammlung ausschüttete.
Beide halfen den Prachtbau des drit-
ten Aktes aufführen, der im übrigen
unter Martersteigs feinfühligem Re-
gietaktstock in einem fortlaufenden
Crescendo zu brausender Höhe
schwoll.
Das Leipziger Publikum, das dem
Schweizertum meilenfern steht, be-
reitete dem fremdländischen Stück
gleichwohl eine warme Aufnahme,
die sich nach den beiden Schluss-
akten zu begeisterten Ovationen für
den Dichter, den Intendanten und
und den Hauptdarsteller (Decarli)
steigerte. Sie alle durften in immer
wieder aufbrandenden Wellen des
Beifalls den Sieg ihrer eigensten
Sache auskosten.
Fast scheint es demnach, als ob
diese Sache — das monumentale
Volksdrama — bereits von den
Massen als ihre eigenste Angelegen-
heit betrachtet wird. Man fühlt, es
stecken in unserer Zeit Tendenzen
zu Zusammenballungen von Kräften,
die aufs Monumentale hindrängen.
Das Individualschicksal des heutigen
Menschen, die Angelegenheiten des
kleinen Ich, ertrinken in dem Ge-
woge der großen gemeinsamen Ge-
fühls- und Willenströme, die unsere
Zeit durchfluten, oder verschwinden
wenigstens zeitweise darin. Gerade
in unserm neuzeitlichen Deutschland,
dessen Werdegang selbst ein monu-
mentales Drama ist, spürt man die-
sen wuchtenden Pulsschlag der Zeit,
hört man diesen eisernen Rhythmus
des völkischen Lebens nah erklingen,
und aus Leipzig nahm wohl jeder
zugereiste Besucher des Marignano-
spiels zwei Eindrücke dieser Art mit
sich nach Hause. Da umfängt den
Ankömmling ein neuer Bahnhofs-
bau, dessen ins Riesenmaß ge-
streckte Bögen und Pfeiler über dem
schwärzlichten Gewimmel stehen wie
das Firmament über dem kleinen
Gekribbel der Erde. Und wandert
man hinaus, wo die Enge der Stadt
zurücktritt und ein weites Blachfeid
seine Flächen öffnet, da steht man
vor einem andern Monument der
Zeit, in dem diese selben mächti-
gen Akkorde des Volksempfindens
schwingen, die unser Leben durch-
brausen. Das Leipziger Völker-
schlachtdenkmal und der Leipziger
Bahnhof sind mehr als technische
Zweckmäßigkeits- und historische
442
»OK>
THEATER UND KONZERT
Denkmalsbauten. Sie sind Monumen-
talgebilde der schaffenden Volkskraft,
die als ein Neues, ein Göttliches, ein
neues Göttliches, in unser Leben ein-
getreten ist, um einen immer breiteren
Platz darin einzunehmen. Sie sind
Werke derselben dunkel drängenden
Volkssehnsucht, die sich einst Qötter-
gestalten und Idealbilder schuf, in
denen sich die Vielheit der Individuen
zu einer Einheit fand. Sie sind Sym-
bole des Einswerdens ungeheurer
Menschenmassen, die aus dem Ge-
fühl der Zusammengehörigkeit ein
religiöses Erlebnis schöpfen und de-
ren Persönlichkeitsbewusstsein sich
erst an den Offenbarungen und Wer-
ken des großen Ganzen entzünden
kann. — Was will es nun in diesen
schwellenden Zeitläufen, die einen
jeden irgendwie in die großen see-
lischen Bewegungen der Massen hin-
einziehen, besagen, wenn ein Häuf-
lein von Ästheten sich dem monu-
mentalen Drama mit Hinweisen auf
die Gefährdung ihrer feineren See-
lenkultur „prinzipiell" widersetzt?
Ist denn die innere Zerrissenheit,
die ja wohl das Kennzeichen jener
Höchst- oder Überkultivierten ist,
nicht schon ein Zeitmerkmal von
gestern? Ist die Sehnsucht der
Besten nicht auf neue Formen des
Lebens aus, die seinen rhythmischen
Einklang ganz herstellen soll? Bauen
nicht überall, auf dem Trümmerfeld
der alten Skepsis, schöpferisch ge-
richtete Menschen die Pfeiler schon
auf, die eine harmonischer zusam-
mengesetzte Menschheit dereinst
umklammern und tragen soll? Die
differenziertere Kultur der Einzel-
seele wird erst dann ein Recht auf
Alleinexistenz geltend machen dür-
fen, wenn die Sehnsucht der Massen
kein Zielobjekt mehr hat. Das wird
vermutlich nie der Fall sein. Heute
aber sind wir von solchen beruhig-
ten Zuständen weiter entfernt denn
je. Und darum darf die Massen-
seele so gut wie die Einzelseele Ge-
genstand des Künstlers sein, wird
Massenschicksal so tief aufrütteln
wie die sublimste Tragik der großen
Einsamen, wird monumentale Volks-
kunst dem heutigen Menschen so
viel zu sagen haben wie feinstemp-
fundene Seelenproblematik. Carl
Friedrich Wiegand hat, über Ger-
hart Hauptmanns verwandte Be-
strebungen (Florian Geyer, Die We-
ber) durch härtere Schlagkraft, über
Carl Schönherrs Vorbild (Glaube und
Heimat) durch tiefere Gestaltungs-
treue hinaustreffend, das Volksdrama
im Historischen zu verwirklichen
gesucht. Der Mann, der die Volks-
masse der Gegenwart zum drama-
tischen oder tragischen Helden macht,
muss noch kommen. Er wird kom-
men. Die Zeit selber, von Gegen-
sätzen und Massenbestrebungen ge-
schüttelt, wird ihn aus ihrem kreis-
senden Schöße gebären.
ADOLF TEUTENBERG
D
D
D
D
NEUE BÜCHER
D
D
D
a
ADRIAN BAUMANN. Der Pla-
net Mars. Zürich, Druck und Ver-
lag von Müller, Werder & Co., 1913.
63 Seiten.
In dieser Schrift entwickelt ein
Laie seine Ansicht von der Ober-
fläche des Mars, der „der Erde jeden-
falls in der Entwicklung und Ab-
kühlung voraus ist und daher be-
reits heute zeigt, was der Erde nach
Jahrtausenden bevorsteht". Baumann
spricht in der uns unbeweglich zu-
443
NEUE BUCHER
roro
gekehrten Seite des Mars die dunkle
obere Hälfte als Kontinent, die un-
tere, helle als eisbedecktes Meer an
(im geraden Gegensatz an der land-
läufigen Meinung); in der Frage der
Kanäle unterscheidet er echte im
eisbedeckten Meer, als „Schmutz-
spuren vieler ehemaliger Risse und
Bewegungen in .der Eisdecke" und
unechte, die „Flügelzüge zwischen
Schneefeldern des Kontinents" ; eine
große Rolle spielen die vielen vul-
kanischen Inseln des Eismeeres (die
bisherigen Lacus, Seen), die durch
VerStreuung von vulkanischer Asche
sowie durch (aus Wasserverdunstung
entstandene) Schneefälle gewisse
wechselnde Farbenerscheinungen her-
vorrufen sollen. Die Abhandlung,
deren Überlegungen in den verschie-
densten naturwissenschaftlichen Dis-
ziplinen wurzeln, ist anschaulich und
einleuchtend geschrieben; da sie
überdies behauptet, die erste Hypo-
these zu enthalten, die „die sämt-
lichen Beobachtungen zu erklären
versteht", so muss der Laie drin-
gend wünschen, unsere Koryphäen
der Astronomie möchten mit der
ihnen eigenen Superiorität zu dieser
Anmaßung eines Laien zustimmend
oder ablehnend Stellung nehmen,
damit sich nicht in den Köpfen neu-
gierig dem Himmel zugewandter
Erdenkinder von dem schönen röt-
lichen Stern ein inoffizielles Bild
festsetzt. KONRAD FALKE
*
HELENE ZIEGLER. Lieder. 1914
Zürich und Leipzig. Verlag von Ra-
scher & Cie.
Es hat in dieser Erstlingssamm-
lung ansprechende Lieder und andere
mit Resten naiven Dilettantentums.
Oder sollte noch ein altmodisches
Kunstgewissen existieren, das nach-
gestelltes Pronomen (Seele mein)
unbedenklich passieren lässt und will-
kürliches Herausziehen des Verbes
in den Reim erlaubt? Doch der Ef-
fekt sichern Besitzes entsteht oft
genug, so dass man auf angebornen
poetischen Takt schließen darf. Der
Sprachwille hat sich noch nicht zur
formenden Leidenschaft entzündet.
Vereinzelt findet man Geprägtes:
„Ein Regentag hängt grau am an-
dern." Dann gibt es Verse, die Gutes
verheißen.
Der Strand scheint fahl durch Wetterhellen.
Groß flattern schwarze Vögel in der Nacht
Und Schrein ob deinem Haupt und kreisen.
Der Donner rollt. Ein Sandwall stürtzt und
[kracht
Die Sterne löschen und entgleisen.
Wenn aber am Schluss desselben
Gedichtes die Reversion ins Seelische
missrät, so scheint das wohl zu be-
deuten, dass das Erleben der Dich-
terin sich noch nicht zum souverä-
nen Schmerz und zum allgemein-
gültigen Dulden gesteigert hat. Ver-
schiedentlich kehrt denn auch der
Gedanke wieder, dass sich „das
dunkle Tor, das ernst am Eingang
dreht", noch nicht geöffnet hat und
sie die Schatten des Lebens noch
nicht kennt. Das entscheidende
Wort is also für später zu erwarten.
Unerbittliche Strenge gegen sich,
weises Zuratehalten der Kräfte wer-
den dann dessen Eindringlichkeit ver-
stärken. JOSEF HALPERIN
*
PAUL HALLER's Juramareili.
Gedicht in Aargauer Mundart. Verlag
Sauerländer, Aarau. Fr. 2.40
Eine einfache Bauerngeschichte
in Blankversen mit liebenswürdiger
Wärme erzält. Der Lebensgang eines
armenMädchens.dasvon der Schwind-
sucht früh geholt wird. Der Schrei
nach Glück und Liebe, der auch in
dieser Ärmsten wach wird, um nicht
erhört zu werden. Ein trauriges Ge-
schichtchen, das man trotz des sen-
timentalen Einschlags gern liest, da
444
K>#0
NEUE BÜCHER
er aus warmem Anteil heraus ge-
schrieben wurde.
*
Ein anderes Dialektgedicht kommt
aus der Heimat Usteris und Corrodis;
Ernst Eschmann hat diese zu Be-
deutendem verpflichtende Tradition
nicht unwürdig fortgesetzt. De Sän-
gertag, den der Zürcher Verlag Orell
Füssli erscheinen ließ, ist eine der
wirklichen Idyllen, wie sie aus poe-
tischem Empfinden und liebenswürdi-
gem Humor geboren werden. Eine
Idylle nach den Regeln der Kunst,
ein kleiner Ausschnitt aus dem klein-
bürgerlichen Leben, der mit aller
Freude am Ausmalen in Hexametern
vorgetragen wird. Und Eschmann
versteht die seltene Kunst, das Kleine
durch seine liebevolle Behandlung
bedeutend zu machen. Er bringt uns
dazu, die kleinen Ereignisse im welt-
verlorenen Dörflein wichtig zu
nehmen. Aber der würdige Nach-
folgerCorrodis zeigt sich auch in der
virtuosen Behandlung des unver-
fälschten Dialekts, aus dem heraus
die Verse geboren sind. Sie sind
nicht nur als heute übliches und
viel missbrauchtes Lockmittel um die
Erzählung herumgekleidet, die ebenso
gut in hochdeutsch erzählt werden
könnte, aber dann nicht ebensogut
wirken würde. Auch die Gescheh-
nisse und die Betrachtungen sind
unverfälschtes Bodenprodukt. Die
Lektüre des vergnüglichen Bändchens
hat uns große Freude gemacht.
Vom selben lustigen frischen Geist
getragen ist des selben Verfassers
Liederbüchlein Mer singed äis! Hei-
tere Dialektgedichtlein, die sich von
den meisten derartigen Sammlungen
vorteilhaft durch die warme poetische
Empfindung auszeichnen, die nicht nur
Spielereien sind, sondern wirkliche
kleine poetische Kunstwerke. Nicht
alle gleichwertig, aber alle an der
Sonnseite gereift. (Verlag Sauerlän-
der, Aarau.) blösch
D
D
D
D
BILDENDE KUNST
D U
U Q
RÜCKSCHAU. Eine bemerkens-
werte Ausstellung boten im verflosse-
nen Monat im Kunstsalon Wolfs-
berg Christian Conradin und Karl
Itschner. Conradin, dem wir die
Kunstbeilage dieses Heftes verdan-
ken — sie ist einem wohlgelungenen
Album mit 24 Federzeichnungen ent-
nommen, das der Zürcher Verkehrs-
verein herausgibt — , geht als Land-
schafter seine eigenen Wege. In
erster Linie kommt es ihm auf die
genaue Wiedergabe der Bodenform
und was damit im Zusammenhang
steht, an; man könnte nach seinen
Landschaften ein Relief anfertigen,
so wenig ist man über die Bedeu-
tung irgend einer Linie im Zweifel.
Über die liebenswürdigen Art, mit
der dann das einzelne farbig durch-
gearbeitet ist, darf man aber die
starken Vorzüge der Komposition
seiner Bilder nicht vergessen. Sie
beruht auf einem sorgfältig erwogenen
Gleichgewicht der Massen, auf der
ornamentalen Schönheit des Reliefs,
auf der weisen Ökonomie, mit der
die Farbe verwendet ist. Manche
Landschaften von Conradin haben
in ihrer~ minutösen Art auf den er-
sten Blick fast etwas Philiströses, das
aber bei eingehenderem Betrach-
ten verschwindet: andere, wie na-
mentlich die große Landschaft bei
San Gimignano wirken, trotz der wohl
sichtbaren unendlichen Mühe, die sich
der Künstler gegeben hat, kühn und
groß. — Karl Itschner ist wie Con-
radin ein Außenseiter und passt gut
mit ihm zusammen. In seiner Gou-
445
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BILDENDF! KUNST
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achetechnik erinnert er an Ferdinand bewegte Grazie des kleinen Mäd-
Spiegei und andere Münchener; in chens entdeckt und weiß sie mit einer
Stoff und Empfindung ist er ganz Liebe und Sicherheit darzustellen,
eigenartig: er hat die reine und froh die einfach entzückend ist. a. b.
D
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MITTEILUNGEN
DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS (S.E.S.)
COMMUNICATIONS DELASOCIETE DES ECRIVAINS SUISSES (S.E.S.)
Der Verein zählt gegenwärtig 110
Mitglieder. Schreiben sind zu rich-
ten an den Vorsitzenden: Dr. Ernst
Zahn, Freiestrasse 114, Zürich, oder
an den Sekretär: Dr. Robert Faesi,
Seewartstrasse 28, Zürich 2.
Urheberrecht. Das neue schwei-
zerische Urheberrecht stand schon
in Beratung, als der S. E. S. gegrün-
det wurde. Es sei daran erinnert,
dass es uns gelang, in die mit der
Vorberatung betraute Kommission als
Vertreter des Schriftstellerstandes
unsre beiden Mitglieder Fritz Marti
und Rene Morax abzuordnen. Der
jetzt aufliegende zweite Vorentwarf
weist gegenüber dem ersten schon
beträchtliche Verbesserungen in un-
serm Sinne auf, jedoch immer noch
eine Reihe Bestimmungen, die uns
im Vergleich zu Schriftstellern andrer
Staaten nur ein sehr geschmälertes
Recht gewähren. Doch ist zu hoffen,
dass sich bei den kommenden Be-
ratungen der allgemeine Zug der Zeit,
der dahin geht, den Urheberschutz
zu stärken, geltend machen werde.
Nach sorgfältigen Beratungen, zu
denen uns Herr Professor Röthlis-
berger in Bern seine ausgezeichnete
Sachkenntnis in liberalster Weise zur
Verfügung stellte, hat der Vorstand
seine Postulate genau formuliert und
wird sie mit Jahresbeginn dem neuen
Chef des Polizei- und Justizdeparte-
ments vorlegen.
Es schien uns rätlich, nicht durch
allzuweit gehende Wünsche denWider-
spruch der Öffentlichkeit gegen die
Schriftsteller heraufzubeschwören, auf
Forderungen, deren Annahme von
vornherein als ausgeschlossen gelten
konnte, zu verzichten, und endlich
solche Postulate auszuschalten, über
deren Wirkung man auch innerhalb
der Berufskreise sehr verschiedener
Meinung sein kann, wie die Ver-
längerung der Schutzfrist von 30 auf
50 Jahre nach dem Tod des Ver-
fassers.
Doch setzen wir uns grundsätz-
lich ein für das Prinzip der vollen
Vertragsfreiheit, und zwar gleicher-
weise aus ideellen wie praktischen
Gründen. Es scheint uns unerträg-
lich, dass dies Prinzip nur auf Bücher
und Zeitschriftenartikel angewendet
werden soll, dagegen noch laut Ar-
tikel 14 des zweiten Vorentwurfs die
Aufführung eines Werkes gegen den
Willen des Dramatikers durchgesetzt,
also dieser expropriiert werden darf.
Nach bisherigem Rechte konnte ein
beliebiges Theater in der Schweiz
sich der Dramen einheimischer Au-
toren ohne weiteres bemächtigen, so
lang es ihm nur die lächerlich ge-
ringe Tantieme von 2% der Brutto-
einnahmen ausbezahlte (5— 10 7o für
ein abendfüllendes Stück sind jetzt
die Regel). Zur Ehre unsrer größern
Theater sei übrigens gesagt, dass sie
sich für zu gut hielten, von dieser
unangebrachten Freiheit Gebrauch
zu machen. Nur aus Genf ist uns
ein Fall bekannt, wonach ein Stück,
das in Paris Erfolg hatte, wider Willen
und trotz Protest des Autors auf die
446
roKi MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SC H Rl FTSTELLER VEREI NS rara
Bretter gebracht und, wie er voraus-
sah, durch das Unvermögen der
Bühnenkräfte zu Fall gebracht wurde.
Auch die nun vorgesehene „ange-
messene Vergütung" wäre von zwei-
felhaftem Wert und entschädigte den
Verfasser keinesfalls für den morali-
schen Nachteil, den die Verschande-
lung eines Werks durch eine unwür-
dige Darstellung immer bedeutet.
Und ebenso wenig könnte uns das
von andrer Seite angeregte Recht auf
Einsprache befriedigen, denn hinsicht-
lich erst projektierter Aufführungen
wäre es praktisch unanwendbar, da
der Autor in vielen Fällen von der
Absicht einer Aufführung nichts er-
fahren wird, hinsichtlich bereits statt-
gehabter Aufführungen wäre dieses
Recht darum illusorisch, weil eine
Kontrolle namentlich der kleinen
Bühnen schwer durchzuführen ist.
Wenn Urheberrecht das Recht des
Urhebers an seinem Werke ist, so
darf es nicht für die wichtige dra-
matische Gattung am entscheidenden
Punkte durchbrochen werden.
Der zweite Vorentwurf sieht für
^Feuilleton-Romane und -Novellen"
einen Schutz gegen Nachdruck vor.
Wir fordern seine Ausdehnung auf
„Artikel literarischen, künstlerischen
und wissenschaftlichen Inhalts", da
auch solche nach Form und Gehalt
eine wertvolle geistige Arbeit und
das höchst persönliche geistige Eigen-
tum des Verfassers bedeuten können.
Energisch abzulehnen ist die in
Artikel 30 vorgesehene Freigabe dra-
matischer Werke an Liebhaberbühnen,
unter der Bedingung, dass die Mit-
wirkenden kein Entgelt beziehen.
Gewöhnlich bezieht das einzelne
Milglied solcher dramatischer Vereine
zwar keine Bezahlung in bar, profi-
tiert aber indirekt von der Vereins-
kasse, in die der ganze oft nicht
unbeträchtliche Gewinn fließt. Nun
haben wir aber in der Schweiz eine
ganze Anzahl Dialektdichter, deren
Werke eben der Mundart wegen aus-
schließlich durch Liebhaber zur Auf-
führung gebracht werden können.
Bestimmt nun das Gesetz, dass die
Dilettantenbühnen ein Werk ohne
Vergütung an den Verfasser aufführen
dürfen, so wird er um den einzigen
in Aussicht stehenden und wohlver-
dienten Lohn gebracht. Es ist also
dringend zu fordern, dass es durch-
aus in das Ermessen des Verfassers
gestellt werde, ob er die Aufführung
an Liebhaberbühnen wie an Berufs-
bühnen mit oder ohne Anteil an den
Erträgnissen gestatten will.
(Fortsetzung folgt)
#
La Societe compte actuellement
110 membres.
Friere d'adresser les lettres au
President: Dr. Ernst Zahn, Freie-
straße 144, Zürich; ou au secretaire:
Dr. Robert Faesi, Seewartstraße 28,
Zürich II.
Propriete intellectuelle. La nou-
velle loi sur la propriete intellec-
tuelle etait dejä en discussion lorsque
la S. E. S. fut fondee. Nous avons
reussi ä deleguer deux representants,
Fritz Marti et Rene Morax, ä la
commission chargee du preavis. Le
deuxieme avant-projet actuellement
depose, apporte dejä des amelio-
rations sensibles, mais contient en-
core plusieurs dispositions restric-
tives inconnues ä d'autres pays. Es-
perons qu'au cours des prochaines
deliberations on verra triompher
l'esprit de notre epoque qui tend
resolument ä proteger les droits
d'auteur. Le comite de la S. E. S.
a etudie la question avec soin ; il a
re(^u les conseils precieux d'un spe-
cialiste en la matiere, de M. le prof.
Rötlisberger ä Berne, et il a formule
des voeux precis qu'il presentera en
janvier au nouveau chef du Depar-
tement de justice et police.
447
fors
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS «>«>
Le Comite a evite d'indisposer
le public contre les ^crivains; il a
renonce aux revendications qui
n'avaient aucune Chance de succes,
comme aussi ä certaines mesures
dont l'efficacite est discutee par les
ecrivains eux-memes; par exemple:
la Prolongation de la protection de
30ä50 ans apres la mort de l'auteur.
Nous defendons par contre avec
energie le principe de la pleLne li-
berte de contrat, pour des raisons
ideales aussi bien que pratiques.
Nous ne saurions admettre que ce
principe de liberte ne s'etende qu'aux
livres et articles de revue, tandis
que (Selon l'article 14 du deuxieme
avant-projet) la representation d'une
Oeuvre dramatique serait autorisee
meme contre la volonte de l'auteur,
ce qui signifierait une pure et sim-
ple expropriation. D'apres !e droit
en vigueur jusqu'ici, un theätre quel-
conque en Suisse pouvait disposer
de l'oeuvre d'un auteur suisse, des
qu'il versait ä celui-ci un tantieme
derisoire de 2Vo sur la recette brüte
(dans l'usage on paie de 5 ä 10%
pour une piece qui remplit la soiree).
Disons ä l'honneur de nos grands
theätres qu'ils ont renonce spontane-
ment ä faire usage de ce droit; nous
ne connaissons qu'un cas, arrive ä
Geneve, oü une piece qui avait
reussi ä Paris fut portee sur les
planches malgre les protestations de
l'auteur: eile echoua, gräce ä l'insuf-
fisance de la troupe. Les „honoraires
conv^nables" dont parle l'avant-pro-
jet n'ont qu'une valeur problema-
tique et ne sauraient en aucun cas
compenser le tort moral que cause
ä l'auteur une representation indigne
de son oeuvre. Le droit de recours,
qu'on lui garantit, est egalement
Sans valeur: dans la plupart des
cas, l'auteur ne serait pas averti ä
temps; et lorsque la representation
a dejä eu lieu, comment en contro-
1er la valeur, surtout quand il s'agit
de petits theätres? Des que l'on ad-
met qu'un auteur a des droits sur
son oeuvre, comment souffrlr que,
pour le genre dramatique, ces droits
soient leses en un point essentiel?
Le deuxieme avant-projet prevoit
que les romans et nouvelles pour
feuilletons seront proteges contre la
reproduction. Nous demandons que
cette protection soit etendue aux ar-
ticles de litterature, arts et sciences
qui representent souvent, eux aussi,
un travail intellectuel considerable
et qui sont nettement la propriete
de leur auteur.
Nous protestons avec force con-
tre l'article 30 qui abandonne le re-
pertoire dramatique aux theätres
d'amateurs, ä la seule condition que
les acteurs ne soient point retribues.
11 est vrai qu'en general les mem-
bres de ces societes dramatiques ne
touchent point d'honoraires en ar-
gent comptant; mais, indirectement,
ils n'en realisent pas moins un gain,
par la caisse sociale, qui touche sou-
vent des sommes importantes. Or
nous avons en Suisse un assez
grand nombre de poetes dialectaux
dont les oeuvres ne sont guere
jouees et jouables que par des theä-
tres d'amateurs. Si la loi accordait
pleine liberte ä ces theätres, le
poete dialectal y perdrait le seul
gain possible, et un gain bien me-
rite. La stricte justice exige donc
que l'auteur ait le droit de poser ses
conditions aux theätres d'amateurs.
ERRATUM: Nous prions nos lecteurs de bien vouloir corriger, dans l'article Antonelli,
les coquilles suivantes: page 4ü9, ligne 3: la haine des amitiös trompees. — p. 409, ligne 14:
votre sentiment; ligne 3. d'en bas: Chave. — p. 410, ligne 12: ouvrez les guillemets; ligne 7,
d'en bas: leur droit legal, leur droit de gr6ve. — p. 412, ligne 8: Savoisiens.
M. Antonelli nous promet une suite ä cet articie.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
448
^ >^
m.
^ä3
I
I
IM BELVOIRPARK
GUTER RAT
Wir haben eine alte Magd,
Die Trina lieißt, ein -treues Blut,
Und immer willig, unverzagt,
Wenn sie nicht grad mal knurren tut.
Was auch nicht selten. Nun, wer will
Verlangen, dass stets guter Laune
Solch einsam ältlich Wesen ist,
Dass nie sie murre, grunze, graune;
Das kann nun mal nicht Jud noch Christ.
im ganzen jedoch still und friedlich.
Wenn sie mit meiner Frau nicht zankt,
Da flickt und putzt sie unermüdlich
In Treue, welche niemals wankt.
Dies seltne Wesen — ist's nicht selten
In dieser argen Gegenwart,
Wo jeder nur für sich will gelten
Und stets des höchsten Glückes harrt? —
Dies seltne Wesen — ganz erfreulich
Ist niemand — kam in guter Ruh
449
Zu mir an meinen Schreibtiscli neulich
(Ich schrieb gerade förfatsch zu
An einem Meisterwerk) und sagte:
„Herr Doktor, ich hab's lang bedacht.
Es sind nun Wochen, dass es plagte
Bei Tage mich und in der Nacht,
Es muss einmal heraus! Wie lange
Noch schreiben, schreiben Sie so fort?
Seh' ich's, es macht, weiß Gott, mir bange,
So sag* ich's denn an diesem Ort:
Was soll es, wenn Sie selbst doch sehen,
Dass ganz umsonst die Quälerei?
Wie lange soll es noch so gehen?
Es kommt ja nichts heraus dabei!
So lassen Sie es doch."
Gesprochen —
Und dann gegangen ist die Maid.
Ich wusst nicht, sollt ich überkochen
In Schimpfen oder Heiterkeit.
Ich saß verdutzt, ich saß vertattert:
Die Teure hat im Grunde recht.
Was habe ich mir denn ergattert
Und wozu spinn' ich mein Geflecht?
Sagt es die Frau, wie schmerzhaft immer,
Man ist's gewohnt, doch nun die Magd,
Obwohl im Grunde es nicht schlimmer : —
Ich saß benaut, ich saß verzagt.
Bis dass ich — weinte oder lachte?
Zu wissen sei's euch einerlei;
Es war am Abend gegen achte
Und — kommt ja nichts heraus dabei!
OTTO HINNERK
aan
450
SEIN BETT
NOVELLE VON LILLl HALLER, BERN
Herr Doktor, wenn Sie noch nie einen Pechvogel gesehen
haben, so schauen Sie mich an, den Martin Isenschmid. Schon
als Kind fings an, das Missgeschici<. In der Schule habe ich mich
gemüht wie alle andern, vielleicht sogar mehr, aber ich kam doch
nicht vorwärts, hinkte stets hintendrein. Gern gemocht haben
sie mich alle, die Buben wie die Mädels — aber was nützt das?
Wie ich mit der Schule fertig war, wusste der Vater eigentlich
nicht recht, was mit mir beginnen. Ich griff ein Handwerk an,
dann ein anderes, und schließlich erklärte ich, ich wolle nach
Amerika. Der Vater ließ mich ziehn, Mutter hatte nichts dagegen,
und so wanderte ich aus. Drüben aber hieß es schaffen und
ich schaffte, ich war alles durcheinander und miteinander, diente
auf einer Farm, dann im Hotel, kam auf ein Petroleumschiff und
schließh"ch in ein Handelshaus, war Kellner, Knecht, Packträger,
Geschäftsmann, arbeitete redlich und hart und brachte es in den
ersten Jahren zu nichts, das Geld zerrann mir zwischen den
Fingern. Als ich mich später in Chile aufhielt, tauchte auch
plötzlich ein Vetter von mir auf. Ich hatte ihn früher nur dem
Namen nach gekannt, denn meine Familie war der seinen in der
Heimat stets zu gering gewesen. Wie das nun so geht, Herr
Doktor, im fremden Lande schließt man sich eben doch einander
an und ich mochte ihn recht gut, den Arthur, der sich in Amerika
noch gar nicht zurechtfinden konnte. Er seinerseits war auch
glücklich, mich getroffen zu haben. Ich half ihm durch, fand ihm
eine Stellung, und brachte ihm Spanisch bei, das ich selber schon
recht leidlich sprach. Tränen habe ich oft gelacht, wenn er die
schwierigen Worte nicht aussprechen konnte. Ich bekam ihn
immer lieber, den jungen Mann, und wurde ihm eine Art Vater,
obwohl ich nicht viel älter war wie er. Damals war ich in Stellung
als Kellner, verdiente recht schön, und denken Sie sich, hatte
mir das erstemal im Leben ein ordentliches Sümmchen erspart.
Es fuhr mir durch den Sinn, ein eigenes Geschäft zu gründen,
ganz klein, bescheiden, und der Arthur sollte dabei mein Gehilfe
sein. Er besaß eine schöne Handschrift und verstand sich auf
451
Buchführung. Und wie ich mein Geld beisammen hatte, gab ich
das Keilnersein auf und übernahm eine Metzgerei. Ich lernte
das Fleischsalzen und Räuchern, hantierte in Keller und Küche,
und der Arthur, der bediente die Kunden und führte die Bücher.
Es ging uns recht gut, gleich von Anfang an, die Einnahmen
mehrten sich. Ich bildete mir was ein, dachte, nun bringe ich's
doch noch zum Millionär — da war eines schönen Morgens der
Arthur verschwun-den. Die ganze Ladenkasse hatte er mit sich
genommen, auch meine neuen Kleider und eine goldene Busen-
nadel, die ich mir zugelegt hatte, ich spürte ihm nicht nach; in
der Gegend, in der wir wohnten, hätte das keinen Zweck gehabt.
Aber ich sah mich genötigt, das Geschäft zu schließen und be-
fand mich wieder auf der Straße.
Ein Unglück kommt selten allein. Gerade um diese Zeit
packte mich das Fieber und zwar so stark, dass ich Monate lang
im Spital lag und am Ende aller Enden einen Herzfehler davon-
trug. Mit dem Kellnersein wars nun aus, ich vertrug das Rennen
und Hasten nicht mehr, zog hinauf nach dem Norden und spülte
in einem Hotel in Neuyork Gläser und Teller. Viel brachte mir
das nicht ein, kaum zum Leben. Aber wissen Sie was, Herr
Doktor, damals war ich doch voll froher Pläne und Aussichten,
denn ich dachte ans Heiraten. Ja, ans Heiraten. Sie war ein
gesundes, frohes Ding, die Luise, stammte aus Hamburg und
hatte versprochen, meine Frau zu werden. Ich schenkte ihr einen
Ring und eine goldene Halskette mit einem Herzchen dran, da-
rinnen befand sich mein Bild. Sie freute sich darüber, lachte
und behauptete, sie habe mich lieb wie keinen andern. Drei Jahre
habe ich auf sie gehofft und gewartet; da heiratete sie eines Tages
den Koch und reiste mit ihm davon.
Himmel, Herrgott, wollte mir denn nirgends das Glück er-
stehen? Was verlangte ich denn? Etwa mehr wie andere? Warum
musste auch mir stets alles schief gehn? Wo haperte es denn?
Was war an mir nicht in Ordnung, dass ich dem Leben nichts
recht machen konnte? —
ich beschloss, mich an keinen Menschen mehr zu halten und
vor allem von den Weibern zu lassen. Aber man hat seine Na-
tur und sein Schicksal, Herr Doktor, und damit basta . . . Doch
warum stehen Sie auch immer? Setzen Sie sich doch zu mir
452
aufs Bett. Ich rutsche nach der Wand hin, kann ja gottlob meine
Beine schon ganz gut bewegen. So. Und wenn Sie noch ein
bisschen Zeit haben . . . Also, ich beschioss, für mich ganz allein
zu bleiben. Da traf es sich aber nach ein paar Jahren, dass ich
auf einer Bank am Quai in Neuyork ein armes Geschöpf fand,
eine Landsmännin. Die war von ihrem Schatz nach Amerika ge-
schleppt, dann verlassen worden und trug ein Kind unter dem
Herzen. Ein Jammer war's um das blutjunge Ding, und hätt' ich
den Schandkerl gehabt, ich glaube, zum Krüppel hätt' ich ihn ge-
schlagen. Man muss sich ja schämen vor den Amerikanern, dass
so was unter unsern Leuten vorkommt, und das arme Wurm
heulte sich fast die Augen aus vor Jammer. Ich half ihr in all
ihrer Not, stand ihr bei, sorgte für sie, und versprach dem Kind
ein Vater zu sein, wenn ihr ein Unglück zustoßen sollte. Das
Unglück kam auch ; sie starb, kaum war das kleine Mädel da.
Ich hielt mein Versprechen, brachte das winzige Ding unter bei
einer rechtschaffenen , deutschen Familie und kann sagen, dass
mir damals das Leben ganz anders vorkam ; da hatte alles nun
Sinn und Zweck und ich schaffte mit ganz aparten Gedanken.
Aber kaum war das Kind vierjährig — es war gerade an seinem
Geburtstag — erkrankte es, und nach ein paar Tagen schon trug
man es seiner Mutter nach hinaus auf den Friedhof. Nun war
ich wieder allein. Ganz sonderbar kam's da eine Zeitlang mit
mir: ich mochte nichts denken, nichts angreifen, nichts schaffen.
Wozu auch? 's ging ja doch schief. Ich stand also herum, tage-
lang, wochenlang, die Hände in den Hosentaschen, schaute mir
die Straßen an, die Häuser, die Wagen, und verstand nicht, wa-
rum ich das alles immer anstarrte. Es war, als ob ich mich ein-
fach in Etwas nicht mehr hineinfügen könne, und dies Etwas war
das Leben. Ein Trinker bin ich nie gewesen, aber damals tat es
mir leid, dass ich es nicht werden konnte, denn der Wein bekam
mir nie gut. Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Leere in mir
dauerte, diese Arbeitsunlust; ich erinnere mich nur noch, dass ich
die Hände wieder rührte, als mein letzter Dollar aufgezehrt war.
Ich nahm einen ganz geringen Posten an, irgendwo bei
einem Fuhrhalter. Damals auch geschah es, dass ich mich zu-
fällig in einem Spiegel erblickte, und da bemerkte ich, dass ich
an den Schläfen ganz grau geworden war. Plötzlich, weiß Gott
453
wie das vor sich ging, kam das Heimweh über mich, und zwar
so stark, dass ich es drüben nicht mehr aushalten konnte. Es
packte mich wie eine zehrende Krankheit, die fraß und fraß.
Zum Ekel wurde mir auf einmal alles: Das Land, die Leute, die
Luft, die Sprache. Heim wollte ich, die Berge sehn, die alte
Stadt mit den engen Häusern und den Winkelgassen ; Heimatlaute
wollte ich hören und die Glocken der Kirchen sollten gleich alle
miteinander läuten. Das riss mich nur so der Heimat zu — viel-
leicht wartete dort ein bisschen Glück auf mich, wer weiß. Aber
die Reise kostete Geld und mit dem Herumstehn verdient's sich
nicht, ich stürzte mich jetzt förmlich ins Werken und Schaffen
nach dem langen Faulenzen und legte mein Sümmchen zusam-
men. Aber da traf mich gottverlassnen Teufel ein neues Miss-
geschick. Ich hatte eines Tages zu lange im Wasser stehn
müssen und die Nässe war trotz der hohen Stiefel bis ins Mark
gedrungen. Da spürte ich dieselben Schmerzen in den Beinen,
Herr Doktor, wie jetzt, die Schmerzen, für die ich da bei ihnen
im Spital liege. Krank sein ist immer bös, aber wenn einer noch
dazu am Heimweh fast krepiert, dann wirds erst recht schlimm.
Als ich endlich wieder gehen konnte, musste das Sparen zur
Reise wieder beginnen. Zweieinhalb Jahre hat's gedauert, bis ich
endlich meine Schiffskarte zur Rückkehr lösen konnte. Ich
glaube, ich habe während der ganzen Fahrt mit niemandem ein
Wort gesprochen. Als der Bahnzug polternd über die Brücke
fuhr, ins alte Städtchen hinein, und so nach und nach mir jedes
Haus, jeder Brunnen, jede Bank wieder bekannt und vertraut vor-
kam, da fühlte ich, wie etwas Schweres von mir abfiel; jetzt
wusste ich, ich war daheim. Aber der Martin isenschmid, der
über zwanzig Jahre in Amerika gewesen war, hatte nichts, rein gar
nicht herübergebracht, als seinen Koffer und seine grauen Haare.
Das Leben fing von neuem an. Meine Eltern waren tot, die
Schwester fort und verheiratet. Arbeit fand ich lange keine und
doch schien mir nichts schwierig, denn die Freude über das Da-
heimsein saß noch lange in mir und erfüllte mich jeden Morgen
von neuem, wenn ich erwachte. Überall, wo ich mich zur Arbeit
meldete, hieß es: Was seid ihr? Was könnt ihr? Was habt ihr
gelernt? Gelernt hatte ich nun eigentlich nichts, getan manches.
Da erfuhr ich, dass bei uns zu Lande beinah für jeden Beruf
454
eine Prüfung verlangt wird ; ein Hufschmied, ein Kaminfeger,
alles muss ein Examen bestehen. In Amerika schafft eben jeder
drauf los. So meldete ich mich da und dort und lief mir die
Füße lahm. Endlich konnte man mich in einer Druckerei als
Packer und Ausläufer brauchen, mich den Amerikaner, der sich
im Grund noch recht viel auf sein Amerikanertum einbildete.
Aber wenigstens hatte ich nun mein kleines Auskommen, konnte
langsam die neuen Schulden abzahlen und war ja außerdem da-
heim . . . Und wie ich da eines Sonntags in meiner möblierten
Mansarde saß, kam mir ein Gedanke. Der war da ebenso rasch
und ebenso hartnäckig wie das Heimweh und gab mich nicht
mehr frei. Mein eigen Hab und Gut musste ich mir erwerben,
etwas, das mein Eigentum heißen sollte, mein ausschließlicher
Besitz, ein Ruheplatz zum Leben und zum Sterben. Ein Bett
wollte ich. Das verstehn Sie nun, wohl nicht, Herr Doktor,
warum gerade ein Bett? Gewiss besaßen Sie stets ihr eigenes?
Ja, das begreift nur einer, der sein haibes Leben lang nichts
gehabt wie ich. ich war bis jetzt nur auf fremden Betten herum-
gerutscht, und da wollte es mich bedünken, als ob ich mit mei-
nen grauen Haaren endlich ein eigenes verdient hätte. Dies Bett
würde der erste Schritl sein zur späten bescheidenen Wohlhaben-
heit, zum großen Respekt vor mir, dem Besitzer. Sie lächeln?
Ja, aber es ist doch so. Ein schönes Bett sollte es werden, neu.
bequem, elegant, breit und bezahlt. Fünffränkier um Fünffränkler
legte ich zusammen; ich darbte, geizte ganz lächerlich, und als
ich das erste Goldstück zur Bank trug und ein Sparheft ver-
langte, da konnte ich dummer Kerl nicht schweigen. „Das ist für
mein Bett", sagte ich dem Kassier mit dem Schwarzbärtchen.
„So, habt ihr denn bis jetzt keins gehabt?" entgegnete er ver-
wundert. Natürlich verstand er mich nicht. Nach ein paar Mo-
naten erschien ich mit meinem zweiten Goldstück, „ist das wie-
der für's Bett?" lächelte er. Ich glaube, die ganze Bank hat
schließlich um meine Bettgeschichte gewusst. denn hinter allen
Fensterchen und Gitterchen tuschelten sie immer, wenn ich kam.
Beinah ebenso lange wie für meine Heimreise hab ich für mein
Bett gespart. Doch eines Abends konnte ich meiner Wirtin sagen:
„So jetzt nehmen Sie den Schrägen da hinaus, nun stellen wir
was Schönres hinein!" Sie schlug vor Verwunderung die Hände
455
überm Kopf zusammen, die dumme Frau, und wurde nicht fertig
mit Rühmen, als man mir mein erstes, eigenes Möbelstück ins
Zimmer hineintrug, ich brauchte das nicht, wollte mit mir allein
sein und schickte sie hinaus. Aber wie es da so fein aufgerüstet
vor mir stand, mein Bett, wurde ich selbst nicht fertig mit Be-
trachten und Staunen. Es war aus hartem, dunklem Holz, fein
blank poliert, so dass man sich wie in einem Spiegel drin sehen
konnte. In der Matratze steckte das allerbeste Rosshaar, ich
hatte das so befohlen; die Decke war warm, weich und der
Flaum in Kissen und Federdecke — na, kurz, Herr Doktor, ich
leistete mir was Rechtes und Sie wissen ja selbst, wie so ein
feines Ding aussieht. Es war an einem Samstag Abend, als man es
mir brachte: ich hatte das so angeordnet, denn ich wollte am
Sonntag Morgen gehörig darin ausschlafen. Lachen sie mich
nicht aus, aber wissen Sie, was ich tat, als ich endlich unter
meiner eignen Decke lag? Ich habe geheult wie ein Schulbub
vor lauter Glück und Freud, und es schien mir, als ob ich nun
erst ganz daheim sei, und als ob ich mir mit meinem Bett ein
Stück Heimatboden erworben hätte. —
Eine Zeitlang ging alles recht ordentlich. Beinah fing ich an
zu bereuen, dass ich so viele Jahre nutzlos in Amerika verbracht,
wo doch die heimatliche Erde die einzige war, auf der etwas
Ersprießliches gedieh. Ich fühlte mich wieder jung werden und
spann manchmal recht abenteuerliche Pläne; dem Bett sollte so
nach und nach ein eigener kleiner Haushalt folgen und noch
manch anderes. Da fings mit den Beinen wieder an. Schmerzen,
Schmerzen, das Qehn wurde immer schwerer. Was aber ist ein
Ausläufer ohne Beine? Im Geschäft war man gut zu mir, man
wartete, schließlich aber hieß man mich doch gehn. Ins Spital
wollte ich zuerst nicht, Herr Doktor. Wozu? Wenn man's zu
Hause schön hat. Außerdem versprach meine Wirtin zu sorgen.
S' war ihr nie Ernst damit, ein Weibsbild wie ein anderes, um
kein Haar besser. Kaum wurde ich mit der Miete rückständig,
drohte sie mit der Polizei und sprach vom Pfänden und meinem
Bett. Aber da blieb ich erst recht drin liegen. Man kann doch
einem Kranken nicht das Bett unterm Leib wegtragen, dachte ich
mir, und indessen würde sich vielleicht Hilfe finden. Ja, ich habe
vergessen, zu sagen, dass ich noch vor meiner Krankheit einmal
456
den Arthur traf. Der ist längst aus Amerika zurück und befindet
sich dank seiner Verwandten in guter, angesehener Stellung.
„Arthur," sagte ich bloß und trat auf ihn zu. Einen Augenblick
blieb er stehn, wurde feuerrot über's ganze Gesicht und ging
schnell hinüber auf's andere Trottoir. Gewiss dachte er an da-
mals in Chile und glaubte ich zürne. Das ist ja längst vorbei
und vergessen. Ich hätt's ihm gern gesagt, aber er ließ mir keine
Zeit dazu. Jedoch schreiben wollte ich es ihm nachher recht
eindringlich, damit er's glaube. Und wollte ihn bitten, er möchte
mir aushelfen, jetzt, wo ich in Not bin. 's ist mir ja um mein
Bett zu tun. Glauben Sie, der Arthur würde helfen, Herr Doktor?—
Sie werden gerufen? Warten Sie noch einen Augenblick. Sehn
Sie, ich bin meiner Wirtin wirklich ziemlich viel schuldig, auch
im Kosthaus für's Essen. Weil's nicht mehr anders ging, ent-
schloss ich mich endlich für's Spital. Kann man mir aber mein
Bett pfänden, ohne dass ich darum weiß? Hat man ein Recht
dazu? Sehn Sie, ich bin so lange fort gewesen von zu Hause,
ich weiß nicht mehr, was man gesetzlich darf und nicht darf.
Hab mich auch nicht erkundigt, dummer Weise; praktisch war
ich ja nie und lasse mich leicht einschüchtern, ich weiß nur,
dass mir meine Wirtin gedroht hat und die ist zu allem fähig.
Außer mir hat's bis jetzt keiner mehr wie zwei Monate bei ihr
ausgehalten, ich glaube eben, ich bin stets zu gutmütig. Ja, aber
um Gottes Willen, der wievielte ist heute? Der zwanzigste sagen
Sie? Bis zum zwanzigsten versprach sie zu warten. So geht's,
wenn man im Spital liegt und die Rechnung über die Tage ver-
liert. Ruft man schon wieder, Herr Doktor? Ach, laufen Sie
mir doch jetzt nicht davon. Sehn Sie, ich will Ihnen nun ge-
stehn: ich hab' an den Arthur bereits geschrieben und meine
Not geklagt. Jeden Augenblick kann die Post eintreffen. Glauben
Sie wirklich, er werde mich im Stich lassen ? Das ist doch nicht
möglich. Ich wüsste mir ja nicht zu helfen. Mein Bett könne
man mir nicht nehmen, sagen Sie. Wissen Sie's auch ganz genau?
Aber ich sollte wirklich nach Hause und dabei sein. Lassen Sie
mich aufstehn, ich halt's ja nicht mehr aus. — Mit den Beinen
würde es sicher gehn — auch mit dem Herzen — ich hab doch
jetzt so lange gesprochen — beinah mühlos. — Ich soll mich
nicht aufregen, meinen Sie — aber Sie müssen doch verstehn —
457
ich will nach Hause — meine Wirtin soll Ordnung lernen — man.
nimmt doch einem armen Teufel nicht sein einzig Hab und Gut
fort — so mir nichts, dir nichts. — Schließlich bin ich ja in der
Heimat — bei meinen Leuten — ich muss nach Hause. — Lassen
Sie mich aufstehn! — Herr Doktor! Herr Doktor!
aaa
ZUR FESTSTELLUNG
Herr Karl Bleibtreu versendet als Vorstand des Schutzverbandes
schweizerischer Schriftsteller ein Zirkular, wie es scheint im Interesse seines
Standes, tatsächlich in eigener Sache. Herr Bleibtreu verschweigt, dass es
sich um ein Manuskript von ihm selbst handelt, was vorerst festgestellt
sei. Es handelt sich um einen Essay über englische Lyrik, ein Thema von
so allgemeiner Fassung, dass mir ein Zurückstellen bis zu einem geeigneten
Zeitpunkt nicht unstatthaft schien, um so weniger, als ich Herrn Bleibtreu
darauf aufmerksam machte, dass ein Abdruck in nächster Zeit nicht in
Aussicht stehen könne. Da der Aufsatz, wie Herr Bleibtreu selbst zugibt,
nicht in einer Nummer erscheinen konnte, so legte ich ihn für den folgen-
den Jahrgang zurück, um nicht genötigt zu sein, ihn von einem Jahrgang
in den andern zu ziehen. Ich tat das in guten Treuen, da ich keine Ahnung
vom Eingehen der Alpen hatte. Wenn Herr Bleibtreu die Art der Fusion
in seinem Zirkular kritisiert, so veröffentlicht er in indiskreter Weise Dinge,
die nur mich persönlich angehen, und auf das Gebiet des Persönlichen
will ich ihm in seinem eigenen Interesse nicht folgen. Feststeilen muss
ich, dass mir mitgeteilt wurde, dass Wissen und Leben in keiner Weise
sich zur Herübernahme der Manuskripte und Mitarbeiter der Alpen ver-
pflichte, eine Tatsache, mit der ich mich um so eher abfinden konnte, da
ich die Alpen als tatsächlich eingegangen betrachten musste. Ich habe
mich daraufhin bemüht, die noch vorhandenen Manuskripte bei Wissen und
Leben unterzubringen — von „verzweifeltsten Bemühungen" konnte unter
diesen Uinständen wohl nicht die Rede sein — und sandte dann die abge-
lehnten Beiträge zurück. Hätte nun Herr Bleibtreu sofort mir Nachricht
gegeben, dass er mit diesem Modus sich nicht einverstanden erklären
könne, so hätte ich die Angelegenheit umgehend, wenn notwendig persön-
lich geordnet. Ich habe aber seit der Rücksendung kein V/ort mehr von
ihm gehört. Es scheint auch Herrn Bleibtreu weniger an der Regelung
dieses Falles gelegen zu haben als an der Ausschlachtungsmöglichkeit eines
Falles, der merkwürdigerweise erst akut wurde mit der Tatsache, dass der
Schweizerische Schriftstellerverein Wissen und Leben als sein offizielles
Organ erklärte.
Für mich ist es jedenfalls eine Erfahrung mehr zu denen, die ich im
Verlauf meiner Redaktionstätigkeit schon sammeln konnte, dass es Schrift-
steller gibt, die ihre Standesehre im Schaffen und solche, die sie im Honorar-
fordern sehen.
BÜMPLIZ Dr. HANS BLOESCH
□ DD
458
LA LANGUE DES SUISSES
Dans un livre recent, qui restera un monument de notre na-
tionalite, Gonzague de Reynold a concju l'idee d'une litterature suisse,
independante des diversites linguistiques, et en a donne une delimi-
tation et une caracteristique definitives. Dans un sens etroit, nous
ne saurions avoir de litterature ä nous, puisqu'i! nous en man-
que le signe distinctif, une langue. Cependant, il est impossible
de confondre ies ecrivains suisses avec ceux des pays voisins.
Rousseau, Madame de Staei ont toujours ete des etrangers en
France, et au XVIH^ siecle Bodmer et Ies ecrivains groupes au-
tour de iui formaient une „ecole suisse" avec des caracteres tres
particuliers, et i!s ont exerce sur l'Allemagne une influence d'au-
tant plus proionde qu'elle venait du dehors.
Nous avons une litterature suisse, qui temoigne de l'unite
intellectuelle et morale de notre pays. Est-il sür que nous n'ayons
pas une langue suisse dont nous pourrions faire au point de
vue national un emploi plus judicieux et plus honorable. si nous
en avions davantage le respect? La question vaut la peine d'etre
posee. Au cours d'une des dernieres sessions de l'Assemblee
federale, nous avons eu l'occasion de demander au landammann
de Tun des petits cantons: „Pourquoi railemand suisse n'est-il
pas la langue des landsgemeinden^)?" Cette question etonna
profondement notre magistrat; eile ne s'etait jamais presentee a
iui et il eut quelque peine ä y repondre. 11 finit par dire, sans beau-
coup de conviction: „Es wäre ja nicht gebildet" et puis, sur notre
geste de protestation : „Und die Fremden? die verständen nicht!"
Ces raisons valent qu'on s*y arrete. Le Suisse n'a pas assez
la fierte de sa langue; on Iui a dit qu'elle ctait inharmonieuse, il la
voit rarement ecrite et ä l'ecole on ne Iui a pas appris ä la
parier sans faute. La majorite des Suisses allemands considerent
leur idiome comme un patois. Dans Ies salons de Lucerne et
de Berne, on parle beaucoup le fran(;ais, et le peuple, lorsqu'il
veut paraitre „distingue" se sert du haut aüemand. Quant au
suisse, il se maintient comme seconde langue, avec une tena-
cite admirable, niais sans pouvoir obtenir ses brevets. Cest que,
1) On sait que la landsgemeinde de Glaris est seule, gräce au land-
ammann Blumer, teiiue en aliemand suisse.
459
dit-on, les etrangers ne le comprennent pas; ils se permettent
meme parfois de dire qu'il est laid! Que de semblables conside-
rations puissent influencer la conduite de notre peuple, dans une
question qui touche d'aussi pres ä la vie nationale, c'est un
phenomene dont nous n'avons pas lieu d'etre fiers et nous de-
vons le combattre de toutes nos forces.
Nous serait-il utile de posseder une langue nationale? Cer-
tainement, pour • donner plus profondement ä notre peuple ie
sentiment qu'il a une culture et un centre independants des autres
pays. Qui de nous n'a pas entendu avec emotion, une fois qu'il
etait au loin, les sons gutturaux del'allemand suisse? C'est comme
une bouffee d'air des montagnes, un morceau de notre drapeau,
une note de notre hymne. Cette Impression que nous sommes
plus suisses encore lorsque nous parlons suisse, il faut la don-
ner ä notre peuple dans le pays lui-meme.
On nous dira, sans doute, que nous renierions toutes nos
traditions et notre raison d'etre, si nous cessions de former le con-
fluent de plusieurs cultures, si nous renoncions aux avantages
de notre Situation centrale en Europe. Naturellement, il ne s'agit
pas de cela et nous ne songeons nullement ä obliger tous nos con-
citoyens, au delä de Sion, de Fribourg et de Bienne ä „desap-
prendre" le haut allemand. Mais la position centrale qui est la
notre presente des dangers auxquels nous devrions preter plus
d'attention. influences par plusieurs cultures diverses, nous
sacrifions parfois notre originalite; ä force d'etre mi-partis et
bigarres, nous ne restons pas toujours nous-memes. 11 est bon,
certes, de tout comprendre, mais il serait mieux encore de creer
des Oeuvres fortes. Ce que nous gagnons en surface, il nous
arrive de le perdre en profondeur, et notre eclectisme ne reste
pas toujours judicieux, parce qu'il nous manque le controle sür
d'une forte culture personnelle et independante, basee sur une
langue indigene.
Cette question a deux faces: eile peut etre examinee au
point de vue de notre rayonnement ä l'etranger et de l'influence que
les etrangers exercent chez nous. J'ai entendu soutenir que les
auteurs de petites nations — on citait Sienkiewicz et les Nor-
vegiens — jouissaient d'un veritable privilege au point de vue
460
de l'expansion et de la celebrite. Plus vite connus dans un
public plus restreint oü la concurrence est moins forte, les ecri-
vains trouvent bientöt des traducteurs dans les langues etrangeres,
et ils peuvent exercer une influence dans le monde entier et
repandre l'esprit de leur patrie; s'ils avaient ecrit dans une lan-
gue universelle et pour un vaste public, ils auraient eu la plus
grande peine ä s'imposer. Meme au point de vue du rayonne-
ment intellectuel, du pays aussi bien que des auteurs, il n'y aurait
qu'un inconvenient limite, il n'y aurait pas de vraie inferiorite ä
s'isoler des langues dominantes.
Cet argument n'est pas decisif. Le revers de la question,
l'influence que l'etranger exerce sur nous, est beaucoup plus
important. Nous nous plaignons, ä juste titre, de ne pas assi-
miler les etrangers qui vivent parmi nous, et nous pourrions nous
plaindre d'etre fortement influences, sinon assimiles par eux. Le
phenomene est si evident que les observateurs impartiaux le
signalent de tous cötes^). La cause de ce phenomene douloureux
doit etre cherchee dans le fait que nous leur ressemblons trop,
que nous avons avec eux trop de points de contact et, en par-
ticulier, dans le fait que nous ne sommes pas separes d'eux par
la langue, ce vehicule primordial des moeurs et des idees;
Taimosphere que les etrangers trouvent chez nous, n'est pas
assez differente de celle de leur pays. La preuve que la cause
du mal est bien lä, c'est que les Allemands, par exemple, se,
laissent parfaitement assimiler en Suisse romande, alors qu'ä
Zürich, ils assimilent autour d'eux^).
En resume, la digue qu'une langue nationale opposerait,
sur l'une au moins de nos frontieres, ä l'esprit de l'etranger, au-
rait de grands avantages, eile constituerait dans notre vie po-
litique interne, un centre de ralliemcnt nouveau et donnerait une
expression ä cette „conscience suisse" dont notre peuple a sl
grand besoin.
II ne suffit pas, dira-t-on, de proclamer l'utilite ou meme la
necessite d'une langue nationale. Nous serions tres heureux d'en
posseder une, mais nous n'en avons pas et ne saurions la creer.
1) Voir l'article de M. Francis Gribble, dans la Revue d'Edimbourg
(The destiny of Switzerland) reproduit par les Feuillets (juin et juillet 1913).
'^) Je conteste nettement l'exactitude de cette affirmation. bovet
461
C'est une erreur. Ce que nous n'avons pas, c'est une langue
commune ä toutes les parties du pays; aussi bien ne parlons
nous que d'un centre de culture, et non point d'une unite con-
traire ä nos traditions. Mais nous avons une langue nationale,
et nous ne pensons pas aux dialectes rheto-romans, mais bien
ä l'allemand suisse. Devolution a chasse du pays romand les
patois locaux, qui ne repondaient pas aux conditions d'une lan-
gue ecrite et litteraire; ce n'est pas une raison pöur pousser la
Suisse allemande dans une evolution sembiable qui y serait factice
et realisable uniquement par des moyens exterieurs et violents.
L'allemand suisse a fait preuve jusqu'ici d'une vitalite admi-
rable, qui n'a peut-etre pas sa pareille au monde. Sans protec-
tion officielle, sans appui nulle part, malgre la pression cons-
tante, et favorisee de toutes fagons d'un idiome etranger, il s'est
maintenu comme langue parlee, non seulement dans le peuple,
mais encore dans toutes les classes de la societe; cette vitalite
seule prouve qu'il s'agit d'une veritable langue, et non d'un
patois. Tandis que les Allemands du Sud n'ont, pour la plupart,
garde de leurs dialectes qu'un fächeux accent lorsqu'ils parlent
le haut allemand, les Suisses ont conserve leur langue et, dans
une certaine mesure, gräce ä eile, l'originalite de leur culture.
Nous demandons simplement, dans l'interet de cette culture
et de notre pays tout entier, que l'allemand suisse cesse d'etre
traite par nos autorites comme une langue etrangere ou Inte-
rieure. Ce qui est etranger, en Suisse, c'est le haut allemand; on
l'oublie trop.
La premiere reforme, la plus urgente, est de rendre ä la
langue de la population sa vraie place dans les ecoles, celle
qui lui revient de droit et qu'elle n'aurait jamais du perdre.
Dans tous les cantons, l'enseignement est donne en allemand
suisse dans les petites classes, parce que les enfants ne con-
naissent, en general, pas d'autre langue. Mals des qu'ils com-
mencent ä comprendre suffisamment le haut allemand, leur lan-
gue maternelle disparait completement pour faire place ä un
idiome etranger. C'est exactement ainsi que procede la Prusse
en Pologne et nos compatriotes ne sont pas traites mieux
dans notre propre pays que les petits Polonais en Posnanie.
Ce rapprochement, rigoureusement exact, devrait nous faire rou-
462
gir de honte. En Pologne, du moins, les enfants resistent, ils re-
font chez eiix la classe dans leur langue maternelle et affirment
ainsi leur fierte nationale. Chez nous, on persuade si bien aux
enfants qu'ils parlent un „dialecte" indigne de l'ecole, qu'ils le
laissent docilement ä la porte, avec leurs bonnets et leurs sou-
liers de caoutchouc. Heureusement, avec l'entetement instinc-
tif qui est Tun des traits les plus heureux de cette race, ils le
reprennent en sortant! II faut que cette Situation, indigne de no-
tre patriotisme, cesse enfin, il faut que, dans les ecoies suisses,
l'enseignement soit donne en allemand suisse.
11 ne s'agit pas, naturellement, de chasser Tallemand de nos
programmes scolaires: nous donnons d'avance un dementi ä ceux
qui nous preteront cette idee. Notre peuple doit conserver ce
bilinguisme qui est un element de sa superiorite economique.
Mais il faut lui rendre la fierte et la conscience de sa propre
langue qu'on s'efforce aujourd'hui de tuer en lui. L'allemand
doit avoir sa place dans les ecoies, mais sa place n'est pas celle
de la langue maternelle. C'est une langue etrangere tres utile, ä
laquelle on peut consacrer de nombreuses heures. Mais la lan-
gue de Tenseignement, celle qui sert aux rapports entre le mai-
tre et les eleves, la langue des le^ons d'histoire, de geographie,
d'arithmetique, de toutes les le^ons en un mot, il faut que ce
soit la langne maternelle commune du maitre et des eleves.
On nous objectera sans doute que l'allemand suisse — nous
prefererions le nommer le suisse, simplement — le suisse,
dira-t-on, n'a point d'unite; il est parle differemment dans cha-
que canton et nous n'aurions une langue nationale qu'ä condi-
tion de l'unifier tout d'abord. Cet argument n'a pas toute la
force qu'on lui prete. Nous proposons de donner dans les eco-
ies, l'allemand en suisse; naturellement, dans chaque canton,
dans le dialecte qui y est usuel. Ce qui peut se faire dans les
petites classes, doit etre realisable dans les autres.
Les differences tendront ä s'attenuer, car elles sont surtout
sensibles dans la prononciation. Le vocabulaire change peu, d'un
canton ä l'autre, et la conversation ne fait guere de difficultes
entre les ressortissants de diverses regions. Les necessites de la
langue ecrite, l'action de la litterature indigene, que tous nos
efforts doivent encourager, sont autant de facteurs qui tendront
463
ä une certalne unification. Mais, encore une fois, nous ne la
considerons pas comme necessaire et il ne s'agit pas pour nous
de faire triompher le suisse de Schaffhouse sur celui de Lucerne,
ou celui de Berne sur celui d'Appenzell.
On nous dira que l'orthographe suisse n'est pas fixe et que
toutes ies conditions d'une langue ecrite ne sont pas remplies.
Mais toutes Ies langues n'ont-elles pas ete parlees avant d'etre
ecrites et ne se sont-elles pas toutes fixees dans une forme litte-
raire et definitive par l'usage de Tecriture? Si l'argument corres-
pondait aux faits, ce qui n'est pas le cas, car le suisse possede
dejä une litterature, il devrait nous engager ä häter notre refor-
me, et non ä la retarder. Apres que le suisse aura retrouve
dans l'enseignement la place ä laquelle il a droit, il devra etre
reintroduit dans la vie publique. Dejä l'allemand suisse est la
langue de la Landsgemeinde de Glaris et du Grand Conseil
bernois. Pourquoi Ies autres cantons n'imiteraient-ils pas cet
exemple excellent et pourquoi Ies Chambres federales elles-me-
mes ne retentiraient-elles pas des accents graves de notre langue
nationale? II n'y aurait pas besoin pour cela d'une loi: il suf-
firait d'un depule courageux, et nous ne supposons pas que per-
sonne s'aviserait de lui imposer l'emploi d'une langue etrangere.
Ces conquetes, d'autres encore dans l'administration, dans
ies tribunaux, etc , viendront peu ä peu lorsque nous aurons
fait le Premier pas, et vaincu nos prejuges. Nous avons beau-
coup tarde, et il serait imprudent de compter trop longtemps
sur l'admirable force de resistance de l'allemand suisse. Dejä, il
recule et Tinvasion etrangere le menace. 11 est temps encore de
sauvegarder notre patrimoine, mais il n'est que temps, et nous
faisons appel ä nos autorites, ä notre peuple tout entier. Vive
la Suisse suisse!
BERLIN WILLIAM MARTIN
Les Suisses allemands auront de nombreuses objections ä faire ä
M. W. Martin; je compte meme sur une discussion. Le sujet en vaut la
peine Tout en differant de lui sur piusieurs points, je felicite M. Martin
d'avoir su appr^cier la haute valeur de Tallemand suisse, valeur politique,
morale et artistique. On pourra se demander: si Taliemand suisse est une
sauvegarde pour la Suisse allemande, quelle sera la sauvegarde de la Suisse
romande qui, eile, n'a pas de langue nationale? II y a, sur les bords du
Leman, des barrieres d'un autre genre, menacees aussi, mais solides en-
core Et de cela aussi il sera question dans la discussion ouverte par
M. W. Martin. bovet
464
REISEERINNERUNGEN
AN DIE SCHWEIZ VON ZWEI ZEITGENOSSEN
SHAKESPEARES
(Schluss)
Thomas Coryat stammte aus der Grafschaft Somerset und
erbh'ckte ungefähr 1577 das Licht der Welt. 1596 treffen wir ihn
als Studenten in Oxford. 1608 unternahm er seine erste Reise von
Dover aus und 1611 schrieb er das Memoirenwerk, das hier zur
Sprache kommen soll. Das Jahr darauf machte er sich nach
dem Osten auf und gelangte über Ägypten und Palästina bis nach
Persien und Indien, wo er 1617 den Tod fand. Coryat muss ein
passionierter, genialer Reisender gewesen sein. Da er Schwierig-
keiten hatte, einen Verleger zu finden, schrieben seine Freunde,
darunter auch Ben Jonson, Lobeshymnen, Distichen und empfeh-
lende Geleitworte zu seinem Werk. Unter ihnen finden wir fol-
gende Charakteristik Coryats: „Das Wort Reise bewirkt, dass er
nach einem Zugochsen oder Saumross ruft; eine Postsendung
aus Deutschland lässt ihn in Entzücken geraten, ja schon die
Aufschrift eines Briefes aus Zürich treibt ihn an wie einen Kreisel.
Basel oder Heidelberg macht ihn zwirbeln. Und wenn er das
Wort Frankfurt oder Venedig sieht, auch nur auf dem Titel eines
Buches, ist er bereit, sein Wams zu zersprengen, die Ellbogen
herauszustoßen und das Zimmer mit seinem Gesumm zu erfüllen."
Der volle Titel der Originalausgabe seines Werkes, die mir trotz
ihrer hohen Rarität bereitwillig in der Bibliothek des britischen
Museums zur Benützung anvertraut wurde, lautet: Coryats unver-
daute Kenntnisse, verschlungen während fünfmonatlicher Reisen
in Frankreich, Savoyen, Italien, Rhätien gemeinhin Graubündner-
land genannt, Helvetien alias Schweizerland, einigen Teilen Ober-
deutschlands und der Niederlande; neuerdings verdaut in der
hungrigen Luft von Odcombe in der Grafschaft Somerset und
nun ausgeteilt als Nahrung für die reisenden Glieder dieses
Königreichs. London 161L Während Moryson sein Werk zuerst
lateinisch schrieb und hernach erst ins Englische übersetzte,
schrieb Coryat gleich von Anfang an in seiner Muttersprache.
465
Auch er kommt von Bergamo nach Graubünden und hebt
mit einem Lobe des Velth'ners an, „den die Bündner so schätzen,
dass sie ihn auf Pferdesrücken über enge Straßen in alle wichtigen
und auch in die entlegensten Orte bringen". Überall achtet Coryat
scharf auf die kirchliche Zugehörigkeit der Bevölkerung, und wir
werden auf Schritt und Tritt daran gemahnt, wie stark damals
die konfessionellen Gegensätze waren und wie feindselig sich die
zwei Lager gegenüberstanden. Im reichen Chiavenna, das er als
größtenteils protestantische Stadt bezeichnet, lernt er den aus Lucca
stammenden, in Genf calvinistisch geschulten Geistlichen Octavianus
Mejus kennen, „der mein Herz mit einem Becher ausgezeichneten
Weins erfrischte". Von der Ehrlichkeit des Bündnervolkes ist
Coryat höchlichst entzückt: „Ein gewisser Priester dieses Landes
erfreute mich mit sehr trostreichen Worten in meinem Gasthaus
in Candolchin, da er sah, ich sei ein einsamer Mann und Fremd-
ling. Er sagte, dass, weil die Kost an einigen Orten des Landes
hart und die Wege schlecht seien, wolle er versuchen, mit freund-
lichen Reden meine Stimmung zu heben und mich so fröhlich
zu machen, wie eben ein einsamer Mann es sein könnte. Ich
reise in einem so ehrlichen Lande, wie je eines in der Christen-
heit; denn hätte ich 1000 Kronen bei mir, so könnte ich in ihrem
Lande damit ohne bewaffnete Begleitung sicherer reisen als in
irgend einer anderen Nation. Und er behauptete, er habe nie in
seinem Leben davon gehört, dass ein Mensch in seinem Lande
beraubt worden sei. Diese seine Rede wurde mir später auch
an andern Orten bestätigt. Das sage ich, dass ich nie vorher in
meinem ganzen Leben von solch seltener Ehrbarkeit bei irgend
einem Volke vor oder nach Christi Geburt gehört habe." Coryats
Interesse ist äußerst regsam; er beobachtet bis ins kleinste Detail
hinein und manche seiner Angaben könnten auch unsere Folkloristen
interessieren.
„in Candolchin sah in eine seltsame Art Holzgefäße wie
Eimer, in denen sie Wein für ihre Gäste heraufbringen, mit hüb-
schen passenden Röhren, die ungefähr einen Fuß lang sind, um
den Wein in Gläser oder Becher zu gießen. — Die Holzteller an
den meisten Orten dieser Gegend sind gewöhnlich wenigstens
einen Zoll dick und so groß an Umfang wie ein Shillingkäs
meines Landes Somersetshire. — Man ist auch tüchtig versehen
466
mit Hanf, den die Leute nicht mit so viel Mühseligkeit wie wir
in England mit den Fingern hecheln, sondern mit einem gewissen
Holzwerkzeug, das zu diesem Zwecke gemacht ist und womit
man leicht die Fasern vom Werg scheidet."
Beim Dorfe Splügen notiert Coryat, dass von hier an die
Bündner deutsch sprechen. Auch er klagt über die schweizeri-
schen Wegstunden: „eine Sitte, die sonst an keinem Orte der
Christenheit herrscht; sehr ungenügend, denn die einen können
weiter kommen in einer Stunde als andere in dreien". Bei Coryat
fällt für Chur, das er eine protestantisch-calvinistische Stadt nennt,
mehr ab als bei Moryson: „Eine Kirche im höher gelegenen Teile
der Stadt ist katholisch mit täglichen Messen. Auch sah ich in
der selben Kirche viele Bilder, abergläubische Gemälde und
papistische Eitelkeiten, darunter ein ungewöhnlich großes und
langes Gemälde des heiligen Christophorus, der Christus auf den
Schultern trägt, und das Bild eines Esels mit außerordentlich
langen Ohren und Christus, der mit bloßen Beinen und barfuß
darauf saß. — Auf dem Marktplatz ist ein prächtiger Brunnen
und darauf die schöne Statue eines gewappneten Mannes; das
ganze ausgezeichnet gemacht. Die Bürger ließen es sich in jenem
Jahre 1608, da ich in der Stadt war, viel kosten, diesen Brunnen
zu reparieren, so dass sie ihn hübsch verschönert haben." Schon
in Graubünden hebt Coryat die gute und billige Kost hervor
(martelmasse-beef heißt bei ihm das Bündnerfleisch); in Wallen-
stadt und dann namentlich in Zürich kann er nicht genug rühmen:
„Das Essen in der Schweiz ist an den meisten Orten vorzüglich;
denn man bringt eine große Mannigfaltigkeit von Gerichten auf
den Tisch, sowohl gebratene als gesottene; und die Kosten sind
sehr mäßig, denn mein spanischer Schilling beglich gewöhnlich
meine Zeche auch dann, wenn ich am meisten ausgab." In
Zürich, Baden und Basel erreicht Coryats Schweizerreise ihre
Höhepunkte.
Zürich ist uralt; ein Zürcher Prediger, Rodolphus Hospinianus,
erzählte Coryat, dass diese Stadt wie auch Solothurn und Trier
zu Erzvater Abrahams Zeit erbaut worden sei. Nach Coryat be-
deutet Zürich „zwei Königreiche". Geziemend gedenkt er der
Heiligen Felix und Regula, die hoch geschätzt werden unter den
Tigurinern, „aber nicht in jener abergläubischen Art wie Heilige
467
bei den Papisten". Es ist erstaunlich, wie gut Coryat die andert-
halb Tage, die er in Zürich weilte, ausgenutzt hat. Der Verkehr
mit den gelehrten Humanisten der Stadt kam ihm da sehr zu
statten. Mit besonderer Wärme erwähnt er „einen gewissen ge-
lehrten jungen Mann der Stadt, dem ich außerordentlich verbunden
war für die Besichtigung von Zürichs Hauptsehenswürdigkeiten,
Namens Marcus Buelerus, der von Hospinianus bestellt war, um
mir Gesellschaft zu leisten". Nichts scheint so Coryat zu ent-
gehen ; er macht Notizen über die Wasserräder der Limmat, „die
beständig Wasser durch eine große Menge Röhren ausspeien",
über die Sihl, in die man die Asche von Hexen, Zauberern und
Ketzern werfe, über die fünf verschiedenen Todesstrafarten, über
den Fröschengraben, die kunstvollen Öfen, die Mannigfaltigkeit
guter Speisen in seinem Hotel zu den zwei Störchen (England
scheint schon damals einförmige Kost gekannt zu haben); be-
wundert die oft vierstöckigen, ohne Backstein gebauten Häuser
und bemerkt, dass im Jahre seines Besuches (1608) die Bürger-
schaft eben den Kirchturm von St. Peter mit bedeutenden Kosten
ausbesserte. Großen Eindruck machte auf ihn die Waffensamm-
lung, zu der ihm Gaspar Waserus Zutritt verschaffte, ein Mann,
der sieben Sprachen beherrschte und viele Länder bereist hatte.
Coryat vergleicht die Zürcher Waffensammlung mit den Arsenalen
von Venedig, Mailand und dem des Tower In London; an Anti-
quität der Waffen stehe Zürich in erster Linie. Als besondere
Stücke nennt er das Schwert Wilhelm Teils und die Burgunder-
beute. Er rühmt die gute Ordnung der Sammlung, die Waffen
für 10000 Mann enthalte; daneben sei aber jeder Bürger zu Hause
selbst mit Waffen ausgerüstet.
Der Zürcher Tracht widmet der Engländer eingehende Be-
trachtung. Ganz besonders beschäftigen ihn hier und in Basel
die Zöpfe des weiblichen Geschlechtes: „Viele ihrer Weiber, be-
sonders Jungfrauen, haben eine seltsame und phantastische Mode
mit ihrem Haar, wie ich es nie vorher sah, aber das selbe sah
ich später an vielen Orten der Schweiz, besonders in Basel. Denn
sie flechten es in zwei sehr lange Locken, die eine halbe Elle
über die Schulter fallen; und manche knüpfen sie zusammen mit
hübschen Seidenbendeln oder mit verschiedenfarbigen Bändern."
Auch an den Betten sieht er etwas neues: „Die Betten sind sehr
468
seltsam, wie ich das nie vorher sah; denn jedermann hat ein
sehr leichtes Flaum- oder Federbett auf sich liegen, das ihn sehr
warm hält und dessen Last nicht drückend ist. Denn es ist aus-
nehmend leicht und dient zugleich als Bettdecke."
Von gelehrten Protestanten, mit denen Coryat verkehrte,
nennt er noch Thomannus, den Präfekten des Kornmarktes, dessen
Sohn Gaspar in Oxford studierte und den Enkel des berühmten
Bullinger, Heinrich Bullinger, der sehr gütig zu ihm gewesen sei.
Dass er mit diesen Männern Latein redete, geht aus einer Be-
merkung hervor, die er über die Unterhaltung mit Bullinger macht.
Es fällt ihm auf, dass Bullinger seine lateinische Fragestellung in
der dritten (statt in der zweiten) Person an ihn richtet, zum Bei-
spiel: „in quam regionem jam tendit Dominus? quam diu com-
moratus fuit Dominus in Italia?" Bullinger zeigt ihm „ein sehr
verdammenswertes Buch, von einem Italiener geschrieben, einem
Johannes Casa, Bischof von Benevent in Italien, zur Verherr-
lichung jenes unnatürlichen Lasters der Sodomie. Dieses Buch
ist auf Italienisch geschrieben und in Venedig gedruckt. Es kam
zuerst in die Hände des schon genannten Großvaters dieses
Mannes, der es als Zeugnis für die schreckliche Unreinheit eines
papistischen Bischofs behielt, und zu diesem Zweck behält es
auch dieser Mann, der es von seinem Großvater erhielt, bis zum
heutigen Tag^)."
Mit folgenden Worten fasst Coryat den Ruhm Zürichs zu-
sammen: „Obgleich es keine Universität ist, um den Studenten
Titel zu erteilen, so hat es doch mehr einzigartig gelehrte Autoren
hervorgebracht als irgend eine der berühmtesten Universitäten
der ganzen Christenheit; und zwar besonders Theologen: Zwingli,
Bullinger, Bibliander, Gualterus, L. Lavaterus, C. Gessnerus, Sim-
'erus, Frisius, Megander, Stuckius. Immerhin setze ich durch
diesen Ruhm Zürichs die gelehrten Männer meines Landes nicht
herab. Denn ich bin überzeugt, dass unsere beiden berühmten
Universitäten Oxford und Cambridge so gelehrte Männer wie
*) In den Gesamtausgaben der Opere di Monsignor Giovanni della
Casa, Florenz 1707, Venedig 1728 und Neapel 1733 fehlt dieser Traktat.
De laudibus Sodomiae erschien 1550 in Venedig und wird von den Her-
ausgebern und Kommentatoren der Werke della Casas als nicht von diesem
verfasst anerkannt.
469
irgendwo in der Welt hervorbringen; aber was die Quantität
(nicht Quah'tät) der Schriftwerke anbetrifft, sind die Tiguriner
unseren eigenen Leuten überlegen. — Um diese Schilderung
Zürichs zu Ende zu bringen, so halte ich so viel von dieser
edlen Stadt, dass ich sie wegen der Lieblichkeit ihrer Lage und
wegen des wunderbaren Reichtums an all dem, was Nutzen und
Vergnügen schafft, mindestens mit dem italienischen Mantua selbst
vergleiche." Dass Coryat auch später noch mit den Zürcher
Freunden verbunden blieb, beweisen eine Anzahl lateinische und
ein griechischer Brief, die im August 1609 und im Frühjahr 161C
von London aus an Waser, Hospinian, Bullinger und Bueler ab-
gingen. Von Waser und Bueler kennen wir die Antworten, die
sie im März und April 1610 von Zürich aus an Coryat richteten.
Am 27. August 1608 reist Coryat von Zürich ab. Thomann und
Bueler geben ihm ungefähr zwei Meilen weit das Geleite; der
letztere „betaute seine Wangen mit Tränen bei unserem Scheiden".
Die Zürcher Humanisten hatten den Engländer aufgefordert,
ja den Besuch Badens nicht zu unterlassen, da das dortige Bade-
leben sehr sehenswert sei; es beweist das, dass sie keine eng-
herzigen Puritaner waren. Beim Eintritt in das Städtchen fallen
ihm zunächst die an die Haustüren genagelten Eberköpfe auf.
In der Marienkirche gibt ihm eine mit Gebeinen und Schädeln
angefüllte Kapelle zu denken: „Denn ihre Zahl war so groß, dass
ich glaube, am Tage des jüngsten Gerichtes werden wenigstens
zehntausend Seelen nach ihnen verlangen. Wahrhaftig, ich be-
kenne, ich weiß nicht, wozu sie diese Gebeine aufhäufen." Die
Bäder liegen eine halbe englische Meile vor der Stadt; als Ge-
samtzahl gibt er etwa sechzig an und erwähnt auch die beiden
öffentlichen Armenbäder, in denen er siebenunddreißig arme Leute
baden sah. Nur reichere Leute können in die eigentlichen Bäder
kommen, von denen er den Bären, die Sonne, den Stadthof, die
Krone, die Blume, den Ochsen und den Hinterhof aufführt.
„Sicherlich, dies ist der lieblichste Badeort, den ich je sah und
übertrifft um ein bedeutendes unsere englischen Bäder sowohl an
Quantität als auch an Qualität. Die Bäder sind abgeteilt durch
mehrere Häuser, die nichts anderes als Gasthäuser sind und für
den Unterhalt der Fremden dienen. Viele Fremde haben dort
ihren Tisch gegen ein wöchentliches Pensionsgeld. Einige Spar-
470
same zahlen nur für ihre Wohnung und verschaffen sich die Kost
aus der Stadt; denn es ist ein i<ostspiehger Ort für die, die dort
wöchenth'ch ihr Essen bezahlen. Hier strömten viele Leute zu-
sammen zur Herbsteszeit, als ich dort war, gerade am 28. August,
da um diese Jahreszeit viele hieher kommen von Zürich, Basel,
Bern und von den meisten Schweizerstädten und von Konstanz.
Die Fremden, die man im Hinterhof (von Coryat als Kollektiv-
ausdruck für die Bäder gebraucht) sieht, sind manchmal an Zahl
mehr als tausend Personen, dazu noch einige, die der Bäder
halber in der Umgegend wohnen. Viele der Leute, die im Hinter-
hof sich aufhielten, als ich dort war, waren vornehme Herren,
die von den genannten Städten teils wegen Gebrechen sich dort-
hin begaben und teils bloß zur Unterhaltung und Ergötzung. Die
meisten der Privatbäder sind kleine, aber sehr feine, angenehme
Orte; sie sind von einander getrennt durch geeignete Verschlage,
in die man aber verschiedene Fenster eingelassen hat zum Zweck,
dass die in den Bädern mit einander verkehren und gemeinsam
trinken können. Denn sie reichen einander ihre Trinkgläser durch
die Fenster. Die Räume darüber sind Fremdenzimmer. Hier
sah ich die Leute im Bade gemeinsam essen an einem Tisch,
der auf der Oberfläche des Wassers schwamm. Dann bemerkte
ich auch noch etwas anderes, sonderbares unter ihnen, worüber
ich mich nicht wenig verwunderte. Männer und Weiber baden
mit nacktem Oberkörper zusammen in einem Bad; und zwar
waren einige dieser Weiber, wie man mir sagte, Ehefrauen und
die Männer teils Junggesellen, teils verheiratete Männer, aber
nicht die Ehemänner dieser Frauen. Und doch waren dieser
Frauen Männer zurzeit im Hinterhof und einige davon am
selben Ort, bekleidet dicht beim Bade stehend; und sie sahen
zu, wie ihre Frauen nicht nur zu andern Männern sprachen und
frei sich mit ihnen unterhielten, sondern sogar in bekömmlicher
und lustiger Weise sich amüsierten. Ja, manchmal sangen sie
fröhlich zusammen, besonders aber jenes liebliche Liebes-
lied Solus cum sola . . . Doch während aller dieser Zeit darf
der Ehemann nicht eifersüchtig sein, obgleich er in den Bädern
ist und ihm nur zu viel Gelegenheit geboten ist, eifersüchtig zu
sein. Denn schon der bloße Name Eifersucht ist verhasst an
diesem Orte. Aber mögen es diese Germanen und Helvetier
471
halten, wie sie wollen, und sich diesen üppigen Sitten hingeben,
so lange es ihnen behagt: was mich anbetrifft, wäre ich verheiratet
und wollte ich mit meiner Frau eine kurze Weile hier zu meinem
Ergötzen zubringen, wahrhaftig, ich könnte kaum dazu überredet
werden, sie baden zu lassen . . . Hier sah ich auch viele außer-
ordentlich schöne junge Damen und Ehefrauen mit ihren Freiern
und Liebhabern in den Bädern. Denn zu dieser Jahreszeit
kommen viele Liebhaber hieher, um sich mit ihren schönen Ge-
liebten zu ergötzen. Viele dieser jungen Damen hatten ihr Haar
sehr seltsam in Zöpfe geflochten und trugen zierliche Guir-
landen von wohlduftenden Blumen auf dem Kopfe, ein Anblick
zum Verlieben. Alte Leute, welchen Geschlechtes sie auch seien,
haben keinen Nutzen von diesen Bädern, die überdies parteiisch
sind, da sie ihre Vorteile eher dem weiblichen als dem männlichen
Geschlecht zugute kommen lassen." Zum Schlüsse zitiert Coryat
Poggios Worte über Baden: „ein zweites Paradies, ein Sitz der
Grazien, ein Busen der Liebe, ein Schauplatz der Wonne."
Über Königsfelden, dessen Geschichte er erzählt und über
Brugg, wo er den freundlichsten Gastwirt all seiner Reisen traf,
erreicht Coryat Basel. Es ist uns schon bekannt, wie abschätzig
er sich über die Basler Brücke ausspricht, dagegen preist er die
gute Luft und die köstlichen Brunnen dieser Stadt. „An der äuße-
ren Mauer des Torhauses eines der Stadttore sah ich das Bild
eines ungeheuer gewaltigen Riesenschweizers, der zu Pferd rechter
Hand am Tor vorrückte. Er ist mit seiner Rüstung gemalt wie
ein Kriegshauptmann, in der Hand ein entfaltetes Banner, worauf
ein Stab als Wappenzeichen von Basel dargestellt ist." Dem
Basler Münster, dessen blaue, gelbe und rote Ziegelbedachung
und dessen gute Instandhaltung ihm auffällt, spendet er hohes
Lob: „Aber nun, um zu dieser glorreichen und sehr eleganten
Kirche von Basel, der wahren Königin aller deutschen Kirchen,
die ich sah, zurückzukehren . . . Wahrhaftig, ich erhebe sie so
hoch, dass ich sie für die schönste protestantische Kirche erachte,
die ich je sah, ausgenommen unsere zwei in London, St. Pauls ^)
und Westminster, die diese sehr wenig, wenn überhaupt, an
^) Gemeint ist natürlich die ehemalige gotische St. Pauls Kathedrale,
die im großen Feuer von 1666 niederbrannte.
472
Schönheit, wohl aber etwas an Größe übertreffen. Und ich bin
überzeugt, dass ein frommes Gebet, das in dieser Kirche von
einem bußfertigen und zerknirschten Christen in der heiligen
Gemeinschaft der Bürger dem allmächtigen Jehova durch die
alleinige Vermittlung seines Sohnes Jesus Christus dargebracht
wird, mehr Wirkung tut und rascher in des Herren Ohren dringt
als ein ganzes Hundert, ja sogar eine ganze Myriade von Ave
Marias, die nach jener abergläubischen Art am Rosenkranz her-
unter geleiert werden, wie ich das oft an den schimmernden
Altären papistischer Kirchen gesehen habe." Coryat liest die Epi-
taphien im Kreuzgang, betrachtet mit Ehrfurcht das Grab des
Erasmus und besucht die theologische Schule: „In diesem Räume
war ich so glücklich, die wundervolle Zierde dieser Universität,
J. Jakobus Grynaeus, nicht nur zu sehen, sondern auch zu meiner
großen Freude und Stärkung mit ihm mich ungezwungen zu
unterhalten. Grynaeus ist ein so außerordentlicher Mann, dass
man ihn wohl einen zweiten Ökolompad nennen darf, das heißt
eine glänzende Leuchte im Hause Gottes".
Auch in Basel rühmt Coryat die guten, aber etwas teuren
Speisen. „Man pflegt lange beim Nachtessen sitzen zu bleiben,
mindestens anderthalb oder beinahe zwei Stunden. Die erste tüch-
tige Zecherei, die ich auf deutschem Gebiet sah, war in meinem
Gasthaus in Basel. Da sah ich die Deutschen Hals über Kopf
(helter-skelter) trinken und versuchte so freundschaftlich wie mög-
lich, ihren Trinkgeboten mich zu entziehen." Die Trinksitten seien
übrigens hier nicht schlimmer als in England; hier wie dort heiße
es „drink or be gone". Von der Basler Tracht schildert er vor-
nehmlich die Kopfbedeckung, durch die sich die Basler von den
übrigen Schweizern unterscheiden. Auch hier notiert er die Zöpfe
mit den farbigen Bändern und spricht recht anerkennend von
Basels Weiblichkeit: „Ich sah junge Damen in dieser Stadt, die
so hübsch und schön waren, wie ich sie je auf all meinen Rei-
sen sah; aber ich will sie doch nicht so hoch stellen, dass ich
sie mit unseren englischen Damen vergleiche, die ich berechtigter
Weise vorziehe (und zwar ohne Parteilichkeit anderen Frauen
gegenüber, die ich auf meinen Reisen sah), da sie eine elegante
und sehr anziehende natürliche Schönheit besitzen."
473
Mit dieser Äußerung guter heimatlicher Gesinnung wollen
wir von Coryat Abschied nehmen, der nun rheinabwärts ande-
ren Gauen zufährt. Im übrigen werden wir kaum fehl gehen,
wenn wir im Ausland es gleich halten wie dieser sympathische
Engländer: uns so viel wie möglich und schicklich ist, anpassen,
Augen und Sinne offen halten, voreilige, absprechende Kritik
meiden, Eigenartiges verstehen lernen, Vorzüge anerkennen und
bei all dem doch uns des Wertes der eigenen Heimat bewusst
bleiben.
WINTERTHUR PAUL FINK
DDD
Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den
Gasthäusern sowohl als überall, wo die wohlbestellte Klasse der Gesell-
schaft lebt. Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist
es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Bankiers füllt: nach
dem Gesetz des „vielzuviel" und des „vielerlei", woraus folgt, dass die Spei-
sen auf den Effekt und nicht auf die Wirkung hin bereitet werden und auf-
regende Getränke helfen müssen, die Schwere in Magen und Gehirn zu
vertreiben. Pfui, welche Wüstheit und Überempfindlichkeit muss die all-
gemeine Folge sein. Pfui, welche Träume müssen ihnen kommen ; pfui,
welche Künste und Bücher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein,
und mögen sie tun, was sie wollen: in ihrem Tun wird der Pfeffer und
Widerspruch oder die Weltmüdigkeit regieren. Zuletzt und das Lustigste
an der Sache, um nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Men-
schen keineswegs Schlemmer. Unser Jahrhundert und seine Art Geschäf-
tigkeit ist mächtiger über ihre Glieder als ihr Bau: was wollen also diese
Mahlzeiten? Sie repräsentieren! Was in aller Heiligen Namen? Den Stand?
— Nein, das Geld: man hat keinen Stand mehr, man ist Individuum. Aber
Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluss. Geld macht jetzt das
große oder kleine moralische Vorurteil für einen Menschen, je nachdem
er davon hat. Niemand will es unter den Scheffel, niemand möchte es auf
den Tisch stellen. Folglich muss das Geld einen Repräsentanten haben,
den man auf den Tisch stellen kann: siehe unsere Mahlzeiten.
NIETZSCHE
DDD
474
DIE RELIGIÖSE FRAGE IN ITALIEN
Im Mai 1875 hielt mein verehrter Lehrer, der Historiker
Senator Villari, in unserem Parlament über die Beziehungen von
Staat und Kirche eine seiner berühmtesten Reden. „Verkennen
wir die Macht und den Einfluss der Priester nicht! Das Volk
bedarf der Religion; und weil wir ihm nie ein Wort über die
ihm unentbehrliche Religion zu sagen wissen, weil es unserem Ra-
tionalismus, unserem Skeptizismus nicht traut, darum hört das
Volk auf die Stimme des Priesters und lässt sich von ihm leiten.
Unser Skeptizismus stärkt die Macht des Klerus. Wenn es uns
nicht gelingt, den Glauben zu stützen, den wahrhaft religiösen
Bedürfnissen des Volkes Nahrung zu schaffen, dann wird ein-
treffen, was mir die drohendste Gefahr unserer Zukunft scheint:
unser Unglaube und Indifferentismus wird eine Nation von Vol-
tairianern und Klerikalen schaffen." Wohl war es eine beißende
Antwort, als der Unterrichtsminister Bonghi dem ernsten Mahn-
ruf des Redners die Frage entgegenwarf: „Woran glaubt denn
Herr Villari?" Und wie eine gelinde Abkühlung musste es wir-
ken, als der damalige Ministerpräsident Minghetti, der Schwieger-
vater des späteren deutschen Reichskanzlers von Bülow, bemerkte:
„Wenn ich die Geschichte Italiens studiere, finde ich auf jeder
Seite die Tatsache verzeichnet, dass unser Volk sich nie für re-
ligiöse Angelegenheiten leidenschaftlich zu erregen vermochte.
Von den Tagen der Römer bis in unsere Zeit ist von religiöser
Leidenschaft nichts zu entdecken." Richtig ist aber auch, dass
seit den Tagen der Reformation Italien niemals eine Zeit erlebt
hat, wo so viel über kirchliche und religiöse Dinge geschrieben
und gesprochen wurde wie in den letzten Jahrzehnten.
Das eigentliche Wesen unserer religiösen Frage könnte nur
nach eingehendem Studium der Geschichte Italiens erklärt wer-
den. Hätte die italienische Umwälzung ein halbes Jahrhundert
gedauert, so hätte sie sicherlich, ohne fremder Hilfe zu bedürfen,
durch alle Unglücksschläge, Opfer, Niederlagen und Siege hin-
durch, eine neue Generation geschaffen; die für eine edle Sache
erlittenen Schmerzen geben einem Volk die beste sittliche Er-
ziehung. Doch unseren Patriotismus förderten diplomatische
475
Kombinationen, fremde Hilfe und ein Glück, dessen Gunst wir
in ganz kurzer Zeit, nach verhältnismäßig kleinen Opfern, die
so ersehnte politische Unabhängigkeit und Einheit zu danken
hatten. Und die alte Generation stand vor der ungeheuren Auf-
gabe, in diese neue Form hinein eine neue Gesellschaft zu schaf-
fen. Erzogen zu höchster, allzu hoher Schätzung der Formen,
gezwungen zu einer politischen Umwälzung, ehe eine soziale
Umgestaltung möglich geworden war, zur Einführung neuer In-
stitutionen, ehe sie als ein notwendiges Ergebnis der nationalen
Tätigkeit erstehen konnten, waren wir in solcher Lage genötigt,
auch der religiösen Frage, die so eng mit dem innersten Leben
der Völker verknüpft ist, eine Antwort zu suchen. Daher unsere
Unsicherheit und die nicht geringere unserer Freunde jenseits der
Alpen, die allzu häufig bei ihrem Urteil über Italien vergessen,
dass auch in dieser Beziehung ihre Lage von unserer wesentlich
verschieden ist.
Der deutsche Protestantismus blickt auf Italien heute wie
auf ein Land, das sich unerwartet schnell seiner Einwirkung er-
schlossen hat; und in gewissem Sinne hat er dazu das vollste
Recht. Ganz Italien, das Italien wenigstens, von dem wir in den
Zeitungen lesen, bewegt sich jetzt in protestantischen Stimmun-
gen : es protestiert wider die tausend Sünden des Papsttums und
will die Fabelwelt der römischen Kirche nicht mehr als unmittel-
bare Wirklichkeit oder gar als die Macht hinnehmen, die in Ge-
genwart und Zukunft, auf der Erde und im Himmel über uns
herrschen soll. Die Gebrechen, an denen das gesamte Kirchen-
und Glaubenswesen des Landes krankt, sind kein Geheimnis
mehr, und die Kritik dieser Gebrechen wird von den Alpen bis
zum Lilybaeon mit einer Schroffheit geübt, die hinter den ersten
Sturm- und Drangzeiten der deutschen Reformation kaum zu-
rückbleibt. Und — was wichtiger ist — zu dem Geist der Kritik
und der freien Forschung, der das moderne Italien wie die
ganze moderne Welt beherrscht, kommen andere bedeutsame
Anzeichen hinzu.
Während in Deutschland durch die wissenschaftlichen Kreise
vielfach, im Augenblick wenigstens, eine der Religion feindliche
Strömung geht, die zwar auch bei uns zu fühlen ist und be-
sonders von den Renegaten der Kirche genährt wird, leben in
476
Italien doch tüchtige Vorkämpfer freier Wissenschaft, unter den
Philosophen namentlich die Hegelianer, die das Wesen der Re-
ligion tiefer würdigen und für allgemeine religiöse Wiederbe-
lebung mit einem Ernst eintreten, wie ihn Fichte und Schleier-
macher am Anfang des vorigen Jahrhunderts zeigten. Diese
Männer appellieren an das Gewissen, das die beiden Mächte, die
hier Jahrhunderte lang das Szepter führten, Hierarchie und Hu-
manistik, die eine mit ihrer schlaffen oder starren kirchlichen
Praxis, die andere mit ihrer leichtfertigen Spötterei, wie um die
Wette einschläferten. Von der erstarrten Kirchensatzung, doch
auch von der kühlen Skepsis rufen sie ihre Volksgenossen zur
Wiederbesinnung auf die verlorenen oder verkümmerten idealen
Güter, die religiösen wie die weltlichen, zurück; und der ver-
hängnisvolle, ihnen selbst fast unheilbar scheinende Riss zwischen
Welt und Kirche treibt sie sogar, bei allem lebhaften National-
gefühl, zu einer gewissen Sympathie mit Religionsformen, die auf
völlig fremdem Boden gewachsen sind, auf diesem Boden aber
am meisten dazu beigetragen haben, das Gewissen zu wecken.
Ein Beispiel ist der englische Methodismus. Die Forscher, von
denen ich sprach, vergessen bei solchem Blick in die Ferne,
dass eben diese Formen, in der Nähe betrachtet, auch wieder
einen Teil der Gebrechen an sich tragen, die man der Heimat-
kirche so streng vorwirft, und dass ihnen, wenn sie in diese
Heimat, auf den Boden des vorwiegenden Sinnenlebens und der
sinnlichen Vermittlung aller Geistesdinge verpflanzt würden, jede
Bedingung eines natürlichen Gedeihens, jede Möglichkeit, sich ins
große Volksganze einzuleben, fehlen müsste.
Diese Bedenken werden noch zu begründen sein. Einstweilen
dürfen wir uns der Tatsache freuen, dass die Schranken des na-
tionalen Vorurteils zwischen Nord und Süd gefallen sind und die
Früchte der Geistesarbeit des protestantischen Nordens hier in
Italien genossen und verwertet werden, — nicht wie fremde Ein-
fuhrartikel, gegen die man immer noch auf der Hut sein müsste,
sondern wie ein Gemeingut des Menschengeschlechts, das hüben
und drüben im Dienst derselben großen Aufgabe steht. Italien hat
sein eigenes reiches Geisteserbteil, den Gesammtertrag der antiken
und christlich-mittelalterlichen Bildung, an die germanischen Völ-
ker abgegeben; jetzt wird ihm mit Zins und Zinseszins heim-
477
gezahlt. Die beiden großen, lange getrennten Stämme der Ger-
manen und Romanen leben nun in der selben Bildungsphäre.
Wer hätte nicht in Deutschland, wenigstens unter denen, die der
Kulturkampf nicht allzu sehr erhitzt hat, mit Freude das Buch
Minghettis über Staat und Kirche und ähnliche Schriften Bonghis
begrüßt? Wer blickte nicht in Italien mit dem Stolz eines Man-
nes, der die heimischen Größen richtig gewürdigt sieht, auf
Ranke und seine Geschichte der Päpste, auf Gregorovius und
seine Geschichte Roms, auf Reumonts Lorenzo von Medici, auf
Hases so wahr wie fein und holdsehg gezeichnete Heiligenbilder?
Oder — da diese Werke im Äther rein historischer Schilderung
schweben und mit den Streitfragen der Gegenwart nichts zu tun
haben — wer von uns freute sich nicht des Interesses, das Män-
ner wie Heinrich von Treitschke, Wilhelm Lang, Otto Speyer für
die Kämpfe und Kämpfer des jungen Königreiches Italien zeig-
ten? Und wenn protestantisch-theologische Bücher, in deutscher
Sprache geschrieben, hier einen Leserkreis finden könnten: wer
unter den gebildeten, von Vorurteil freien Italienern hätte nicht,
ohne jede Schadenfreude gegenüber dem heimischen Klerus,
seine rein geistige, auf lauteren Wahrheitssinn gegründete Lust
an Hases Handbuch der protestantischen Polemik?
Jedermann weiß, welche Sympathien Italien seit 1866 und
noch länger für die deutsche Kultur hegt; dazu gesellt sich die
Anziehung, die der gemeinsame kirchliche oder kirchenpolitische
Befreiungskampf erzeugt hat; und wer darin und in dem neu-
erwachten Bildung- und Wissensdrang unseres Volkes eine sieg-
reiche Protestantisierung Italiens sehen will, wird kaum einem
wesentlichen Widerspruch gegen diese Auffassung begegnen. Ganz
anders muss aber das Urteil lauten, sobald man diesem allge-
meinen Begriff die konfessionelle Propaganda des Protestan-
tismus als Inhalt geben will. Wer darüber Aufschluss, freilich den
Aufschluss der Parteisprecher, nicht des unbefangenen Historikers,
begehrt, braucht nur nach den vielen in Deutschland und in der
Schweiz verbreiteten Flugschriften über die Fortschritte des Pro-
testantismus in Italien zu greifen. Er findet darin eine Darstel-
lung der Erfolge, die das Werk der Evangelisation auf diesem
cisalpinischen Boden seit der Gründung des italienischen König-
reiches errungen hat; aber welche halb unschuldigen, halb sträf-
478
liehen Selbsttäuschungen laufen da mit unter! Da wird eine
Fraktion oder werden ein paar Fraktionen der großen christ-
lichen Kirche als die, ideal wenigstens, allein berechtigten ver-
kündet, — genau nach dem Muster der römischen Kirche. Die
stolze eccLesia extra quam nulla salus wird nicht nur mit ihrer
alten Anmaßung sondern mit Sack und Pack vor die Tür ge-
wiesen und an ihr Recht, das Recht der Vielen gegen die
Wenigen, weiter gar nicht gedacht. Man glaubt, in den Brochü-
ren, die von den neuentstandenen Gemeinden in Italien reden,
eine fortgesetzte Heiligenlegende vor sich zu haben: so gottselig
klingt Alles, nachdem erst über die Gräuel Roms unter Herbei-
rufung von Freund und Feind Gericht gehalten worden ist. Wohl
werden die Spaltungen der kleinen italienischen Kirchen getadelt;
unerwähnt bleibt aber ihr Grundgebrechen, die Unterschätzung
des Gegners und die Überschätzung des eigenen, im Verhältnis
zu dem weiten Missionsgebiet recht geringen Kraft.
Der Protestantismus findet in Italien noch heute die selben
Hindernisse wie zu Luthers Zeit^); denn diese Hindernisse wurzeln
in der Natur unseres Volkes.
Die romanischen Völker, namentlich die Italiener, waren
stets in ihrer ganzen Art, die moralischen Begriffe, das Leben
und seine Schicksale, das Göttliche und Geistige aufzufassen,
nicht sowohl „Christen" im höchsten und wahrsten Sinne des
Wortes als „römische Katholiken" ; sie bleiben heute noch so,
wie sie der Charakter und die Überlieferung ihrer ganzen Ge-
schichte gebildet hat, aus denen das Papsttum hervorging, die
Institution, die wiederum dazu beitrug, diese Völker in ihrem
Urcharakter zu bestärken. Der vereinsamende Individualismus,
das auf sich selbst gestellte, nach innen gekehrte Gedankenleben,
aus dem der Protestantismus die Freiheit des persönlichen Ge-
wissens schöpft und jeden Mittler zwischen dem des Heiles Be-
dürftigen und Gott ablehnt, der eigenartige Stolz, den der Mensch
empfindet, der sich allein auf der schwindelnden Höhe der
menschlichen Probleme bewegt: alles was auf die Puritaner und
Pietisten einen so mächtigen Reiz übt, widerstrebt der unmittel-
baren, mitteilsamen und phantasiereichen Gefühlsweise der Ita-
^) Vgl. meine Abhandlung über Die Einwirkung Luthers auf Italien
im sechszehnten Jahrhundert in der Deutschen Rundschau, September 1910.
479
liener, ihrem Bedürfnis, einander ihre Seele und ihre Gefühle
zu enthüllen, gemeinsam und öffentlich, mit lauter Stimme, in
den Straßen und auf überfüllten Plätzen, in dem vollen und
warmen Licht der südlichen Sonne ihre Gedanken und Ge-
fühle zu pflegen. Damit nun dieses echt romanische und ita-
lienische Bedürfnis der Geselligkeit auch in der Religion Befrie-
digung finde, genügt es nicht, dass, wie in der evangelischen
Kirche, das Wort Gottes, wenn nicht durch die Zustimmung,
wenigstens durch die freie Erörterung der Gläubigen bekräftigt
werde. Die persönliche Überzeugung befriedigt den südlichen
Gläubigen nicht; er veriangt die laute und öffentliche Überein-
stimmung mit seinen Glaubensgenossen und ihre gemeinsame
Kundgebung in der mächtigen, althergebrachten Einheit der Kirche,
im feieriichen Schauspiel des kirchlichen Symbols, im Ge-
präng der Feste und Riten. Bei seinem künstlerischen Charakter
kann das italienische Volk die sittlichen Wahrheiten ohne sinn-
liche Vermittelung nicht lebhaft erfassen. Das strenge Christen-
tum der ersten apostolischen Generationen, zu dem Luther zu-
rückkehren wollte, der heilige, geistige Wahn, die heroische
Spannung und Konzentration des ganzen menschlichen Geistes
in eine einzige Idee, die ihn aus sich selbst, über die Natur und
das Leben hinwegrafft, setzt im Innern des Menschen einen
Zustand erhabener Zerrüttung voraus, der in schroffstem Gegen-
satz zu der Harmonie aller geistigen Fähigkeiten, zu der Über-
einstimmung des Menschen mit seinen Genossen und der schö-
nen Natur steht, wie sie aus der Blütezeit der italienischen Kunst
und Geschichte zu uns spricht.
Die Religion der Italiener hat sich seit dem Mittelalter im-
mer mehr veräußeriicht und verweltlicht; sie hat sich von der
mystischen und innigen Geistigkeit der ersten christlichen Ge-
meinden entfernt, um wieder zu werden, was sie wohl im Grunde
stets für die Italiener, vielleicht in Etrurien und jedenfalls in Rom
war: die feieriichste und ansehnlichste unter den öffentlichen Ze-
remonien, die auch am meisten Würde und rituellen Pomp er-
forderte. Der alte Römer setzte die Moralität hauptsächlich in
den Anstand, in die äußere Zier, durch die sich die Tugend der
öffentlichen Bewunderung darbietet. Auch die Religion, das wich-
tigste soziale Gesetz, forderte von ihm die formelle und öffent-
480
liehe Erfüllung der vaterländischen Gebräuche. So, glaube ich,
kommt es — kein Historiker hat jemals darauf hingewiesen —
dass die Religion noch heute bei den Italienern, besonders in
den breiteren Volksschichten, zunächst eine rituelle, äußerliche
Befolgung der kirchlichen Vorschriften ist und viel größeren Wert
auf die Werke und deren öffentliche Erfüllung durch das Priester-
amt legt, als auf die Innigkeit des persönlichen Glaubens, der nur
aus dem Herzen spricht und sich selbt genügt.
Der Protestantismus findet in Italien eine ähnliche Gesell-
schaft wie in den Tagen der Reformation. Dem katholischen
Gläubigen ist er zu kühn, der Mehrzahl der Gebildeten und Frei-
geister zu beschränkt; jenen Ketzerei, diesen ein neuer Aber-
glaube. Die Gläubigen verharren in der Kirche, die Denker im
Unglauben. Entweder versinkt Italien in die Sklaverei des Papst-
tums oder es erhebt sich über alle positiven Bekenntnisse hin-
weg. In der Religion kennt es eben so wenig wie in der Poli-
tik die goldene Mitte; die Vernunft bleibt entweder ganz Meisterin
oder wird ganz Sklavin. Das ganze italienische Leben wird durch
diesen tiefen Abstand zwischen den gebildeten, skeptischen Stän-
den und dem unwissenden, verachteten Volke charakterisiert;
hier ein fast heidnischer Aberglaube, der in einem schlecht be-
gründeten Vv^erkdienst das Heil sieht, dort die Abwendung von
aller Religion. Jede starke reformatorische Bewegung müsste
einen volkstümlichen Charakter tragen; doch die gebildeten Ita-
liener, die Leiter unserer Kirchenpolitik, Männer wie Cavour,
Bonghi, Minghetti, hatten und haben zur naiven Masse des Vol-
kes fast gar kein inneres Verhältnis. Die beiden Schichten ken-
nen einander nicht. Luther fühlte mit dem gemeinen Mann, Ca-
vour vermochte es nicht. Für den eigentlichen Kern der Volks-
seele, die Mystik in ihren verschiedenen Äußerungen, besaß Ca-
vour wenig und Luther sehr viel Verständnis. Wer von der
Betrachtung der schmerzlichen, deutsch gewissenhaften Seelen-
kämpfe Luthers kommt, staunt, wenn er sieht, dass Cavour
manches in seinen Denkschriften über die Beziehungen zwischen
Staat und Kirche nur yvfivaariKwq, also zur bloßen Übung und
ohne eigene innere Überzeugung behauptete. Cavour ist Welt-
mann, Luther Voiksmann. Dass in Cavour der Verstand über-
wog, hat auf die ganze Bewegung, die er einleitete, fortgewirkt.
481
Dieser Weltbürger und Experimentalpolitiker konnte der Menge
italienischer Katholiken nie so nah kommen, wie Luther seinen
Deutschen, zu denen er innerlich gehörte. Und darin sind Beide
typische Vertreter ihrer Nation. Wie bei den Gebildeten überhaupt
tritt besonders bei den italienischen Protestanten diese Abge-
schiedenheit von der Masse des Volkes deutlich hervor. Ihnen
ist die Vereinigung des religiösen mit dem politischen Programm,
die in der Reformation und in Savonarolas Versuch wirksam
war, nicht gelungen ; der mystische Patriotismus fehlt ihnen ganz.
Sie halten ihr Ziel fern von jedem praktischen und sozialen In-
teresse. Ihr Werk ist eine Jakobsleiter, die in den Wolken schwebt
und jede Berührung mit der Erde verloren hat. Sie reden nur
vom Himmel. Italien kann diese Sprache nicht mehr verstehen.
So bleibt dem italienischen Protestantismus nur eine ge-
wisse Zahl zarter Seelen, die vor dem Abstand zwischen der
Wissenschaft und dem Gewissen zurückschrecken, sich vor dem
alten Aberglauben verletzt fühlen und vor der bloßen Philoso-
phie fürchten. Literaten zum großen Teil, Redner, Leute, die,
mit historischen Studien geistig genährt, sich von der plötzlichen
Entdeckung des Evangeliums ungefähr so begeistert fühlen wie
von der Auffindung eines Manuskriptes in den Ruinen von Her-
kulanum. Sie zeigen ihre Entdeckung dem Volke; doch das
Volk bleibt gleichgiltig. Und so wird in Italien geschehen, was
wir bei verschiedenen Nationen, bei Frankreich und Spanien
werden sahen, die sich aus Trägheit an die traditionellen Formen
der Kirche halten und dabei nicht genug Reinheit besitzen, um
daran zu glauben, nicht genug Glauben, um sie zu reformieren,
nicht genug Geistesstärke, um sie zu entbehren.
MAILAND PAOLO ZENDRINI
^%^^yfi^.»yf^'
482
DER NOVELLIST MORITZ HEIMANN
Sö wenige Dichter sind der Kunst mächtig, Menschen, Zu-
stände, äußere und seelische Begebenheiten in wahrhaft novelh'sti-
scher Form zu geben, dass auf jeden, der dies vermag, von der
Kritik mit allen Fingern gedeutet werden müsste. Erstens, um
dem jeweiligen Ausnahmenovellisten die verdiente Lesegemeinde
zu schaffen. Zweitens, um der dumpfsinnigen Menge der Bücher-
leser von Zeit zu Zeit ein grundsätzliches Beispiel für die novellist-
ische Kunst zu geben, um ihr eine Erinnerung an den vergessenen
Maßstab zu schaffen, nach dem die als „Novellen" verbreiteten
Erzeugnisse der Schreibenden bewertet werden sollten.
Die Begriffsverwirrung ist groß geworden. Schreiblinge sehen
in dem Wort „Novelle" in der Regel nur ein Mittel zur Umfangs-
bezeichnung. Novellen werden einfach alle schriftstellerischen
Arbeiten von schwankender erzählerischer Beschaffenheit genannt,
in denen nicht das Ausmaß zum Roman erreicht ist: etwa Land-
schafts- und Städteschilderungen, Milieubilder, in die dürftige,
rein „illustrative" Dialoge gewoben sind oder problematische
Fragmente, in denen die Motive auf keine rechte Kunstform
gebracht, oder poesieähnliche Abzeichnungen von geschichtlichen
Vorgängen, wobei die Wirkung bei einem nicht im Werke er-
zeugten Interesse ausgeborgt wird, oder mit billigem Gefühl
dekorierte Berichte über Unglücksfälle, Verbrechen und an-
derem. Die Mehrzahl aller veröffentlichten Novellen (der fal-
schen Seite) sind indessen Bekenntnisse junger Menschen (des
männlichen und neuerdings noch häufiger des weiblichen Ge-
schlechts), die durch Betrachtung und Erlebnis in Liebe, Ehe
oder Beruf verwirrt, ihre Lebensunreife und Not irrtümlich vor
aller Öffentlichkeit bekennen, statt sich verständigen Freunden,
Ärzten oder Priestern anzuvertrauen. Es ist notwendig, diese
Art von Novellen mit Härte gegen die Erzeugnisse berufener
Dichter abzugrenzen, die seit den Tagen der Renaissance in der
Novelle eine äußerst straffe Kunstform gesehen haben, eine Kunst-
form, nicht leichter zu bewältigen wie das Versepos, das lyrische
Gedicht und das Drama, und darum für den Dilettanten des
Schrifttums, der die Sprache nicht meistert und unfähig ist, einem
483
Werke Einheit und {künstlerische Ordnung zu geben, weit unge-
eigneter als etwa das Ausdrucksmittel des formlockeren Romans.
Eine Umschau unter der Literaturgeneration der letzten dreißig
Jahre ergibt, dass sich die Neulandsucher (das naturalistisch und
psychologisch schürfende Dichtergeschlecht) auf dem Gebiet der
echten Novelle nicht eben fruchtbar erwies. Dem Wesen eines
zur Analyse neigenden Schrifttums widerstrebt die von der Novelle
geforderte scharfe Kontur, die fast dramatisch gebaute novellische
Architektur und der ungehemmte, erzählende Vortrag. Einen Zyklus
von Novellen, der etwa den Erzählungen Gottfried Kellers von den
Leuten inSeldwyla oder den Novellen Maupassants gegenüberzustel-
len wäre, hat denn auch diejenige Literatur, die an der Jahrhundert-
wende die Führung hatte, nicht hervorgebracht. Es gibt in diesem
Umkreis keinen großen Novellisten. Aber es kamen, wo sich das
zur Novelle unentbehrliche Stilgefühl einstellte, vereinzeinte Aus-
nahmefälle hervorragender Novellen zustande. Und so haben
wir — aus der Generation, die ich meine — einige starke No-
vellen von dem Wiener Artur Schnitzler, haben wir Proben der
höchsten novellistischen Kunst von seinem Landsmann Jakob Was-
sermann (in den Drei Schwestern und im Goldenen Spiegel), von
den Schwaben Hermann Hesse und Emil Strauß und dem
Schweizer Schaffner, haben wir — um das Blickfeld für Dichter
verschiedenster Herkunft zu öffnen — Novellistisches von dem
kühlfarbigen Dichter und heißblütigen Stilkämpfer Paul Ernst,
Anekdoten durch die erzählende Sprachornamentik Wilhelm
Schäfers, des Rheinländers, Erzählungen schönster Fassung von
dem Thüringer Rudolf G. Binding und neuerdings ein Novellen-
buch von dem Brandenburger Moritz Heimann (Novellen von
Moritz Heimann, S. Fischers Verlag, Berlin 1913), mit denen sich
nach meinem Dafürhalten dieser denkerische Dichter einen der
sichtbarsten Plätze in der zeitgenössischen Novellistik sichert.
Was Heimann, und ich glaube, man darf sagen, als dem
ersten gelungen ist, scheint mir dies zu sein : dass er trotz uner-
hört weitgehender analytisch-reflektierender Grundtendenzen, trotz
einer nahezu erkenntnistheoretischen Auffassung der Umwelt und
der Menschen, seine Dichtungen auf fließende und selbst sang-
liche erzählende Melodien zu bringen vermochte, dass er seinem
dichterischen Intellekt die musikalische Form erfand, und dass er
484
wiederum diese musikalische Form in das konsequente Gefüge der
handlungsklaren (motivischen) Novelle zu zwingen verstand. Keiner
der „menschenwissenschaftlichen" Dichter, die seinem Tempera-
ment verwandt sind, hat bisher auch nur in ähnlicher Weise no-
vellistisch geformt: die Beobachter und Ergründer von psycho-
logischen „Neuwerten" gaben sich allzusehr ihrer Freude an der
Zeichnung der Einzelheiten hin, um darüber hinaus die Bewälti-
gung der novellistischen Kunstform ins Auge zu fassen. Heimann,
unter den Suchern und Aufhellern dämmriger Seelenverknüpfungen
der Unermüdlichsten einer, bekundet im Gegensatz zu ihnen den
Willen zum Stil.
Dass es jedermann vergönnt sein wird, in seine geistige
Atmosphäre einzudringen, halte ich für ausgeschlossen. Dass alle
Feinhörigen nach einer Einfühlung in diesen hochgradig bereichern-
den Dichter suchen sollten, dazu möchte ich mit Nachdruck er-
muntern, denn Heimann ist, wie nur einer, aus dem Fleisch
unserer Zeit, ein Forschender und Erkennender, ein Enzyklopädist
der geistigen Gegenwart (was neben seinen Dichtungen seine
essayistischen Arbeiten beweisen). In den fünf Novellen, die der
im November erschienene Band umfasst, spielt eine einzige in der
Vergangenheit: Die vergebliche Botschaft, ein Erzählung, für die,
wenn ich nicht irre, eine Begebenheit in Grillparzers Leben die
Anregung gab. Ein junger Dichter, im bürgerlichen Beruf ein
kleiner Beamter, verfasst unter dem Eindruck, den er von der
Sängerin des Cherubins im Figaro empfangen hat, ein Liebes-
gedicht. Mächtig brennt in ihm das Begehren nach der schönen
Frau. Aber der Mut zur Annäherung fehlt ihm. Er ist von
Charakter ein Zauderer, einer, der nie zu fragen wagt, und darum
auch nie eine Antwort bekommt, einer, der darunter zu leiden
angefangen hat, „dass ihm zu einer vollwichtigen Liebe gleich die
erste Hälfte, seine eigene Bereitwilligkeit, fehlt". Und diese
Wallung bestimmt ihn mit einem Das wird nichts das Gedicht
auf die Seite zu legen. Die Hauswirtin aber schickt das Gedicht
der Sängerin — namenlos — zu, und so entzückt ist die Sängerin
von dem Gedichte, dass sie den Dichter mit der Hartnäckigkeit
einer zur Liebe entschlossenen Frau, die sich verstanden fühlt,
ausfindig machen will. Ihr Liebhaber, den sie um des unbekannten
Dichters willen verabschieden möchte, muss dabei helfen, ihr
485
Liebhaber, der schließlich von der durch den Zwischenfall liebes-
erhitzten Sängerin nach dem Ablauf der vergeblichen Suchfrist
nur um so heißer umhalten wird, und — dies ist das Ende —
sein Glückgefühl dem ihm flüchtig bekannten Dichter bei einer
Begegnung redselig gesteht, wobei er ihm auch das Glücksrequisit,
das Gedicht zur Lektüre reicht. Der Dichter aber fühlt, wie vor
seinen Händen, weil sie nicht zufassen, der Strom des Lebens
alle Güter ewig vorbeiträgt, und sieht in diesem Augenblick „un-
betrogen seine unzufriedene Vereinsamung voraus". Diese Sätze
aus dem Finale als Proben der edlen tonsetzerischen Sprache, der
nur weniges aus der zeitgenössischen Prosa klangebenbürtig ist.
Nur von dem Stamm und den stärksten Ästen der Heimann-
schen Novellen vermag ich durch die Erwähnung des Inhalts von
zwei weiteren Stücken des Buches, den menschlich ergreifend-
sten, eine Vorstellung zu geben. Das Blattwerk, das Gedanken-
geranke, die inhaltlichen Verschlingungen im Einzelnen wieder-
zugeben, ist unmöglich.
Die Geschichte eines Kunstwerks, seines Schöpfers, und
des Menschen, der damit beschenkt wird, erzählt Heimann in
der Tobiasvase, die in das Haus eines selbstsicheren Pfarrers
gerät. Wie im Hause dann das Kunstwerk (auf dem des Pfarrers
Freund, ein genialer Künstler, die Geschichte des Tobias dar-
gestellt hat) zum großen Symbol wächst; wie der Pfarrer dann
daran das „lebenvolle Stummwerden vor dem Kunstwerk" lernt,
durch den Anblick der Vase und noch mehr durch ihren droh-
enden Verlust so sehr in seiner geistigen Ordnung erschüttert
wird, dass darüber in weiteren Wirkungen fast sein Schicksal und
seine Ehe ins Wanken kommt; wie die psychischen Bewegungs-
wellen dieser Erzählung größer und größer werden und wie da-
rin die äußeren Begebenheiten und die Anwandlungen und Wal-
lungen der Menschen geheimnisvoll, dichterisch — mystisch ver-
zahnt sind: Das alles ist mit der empfindsamsten und zartesten Hand
enthüllt, die nur ahnen und aufschimmern lassen will. In Schleiern
wandeln (dies ist ungefähr laut Heimanns Dichterwerk der Weis-
heit Ende) die Menschen ihr Schicksal ab, wittern nur dann, wie
sie beschaffen sind, wenn der Zufall des Lebens in die Mechanik
des Alltags greift, und wandeln dann weiter, unkundig ihrer selbst,
nicht einmal durch das Erleben um vieles klüger geworden,
486
wehrlos, von der eigenen und fremden Willkür gebannt. Wenn
ich also aus Heimanns Novellen eine Deutung des Lebens
folgere, so habe ich vor allem an das Hauptstück des Buches
gedacht, an den Dr. WisUzenus, eine Novelle, die auf einer
fast unglaublichen Basis aufgebaut ist: Wislizenus, ein tatenloser
grübelnder Sonderling, der sich vor den Menschen abgekehrt
hat, der so einsam geworden ist, dass er sich von seinen eige-
nen Gedankengespenstern gemieden fühlt und sich nur noch nach
etwas sehnt, das ihn sieht, und ihm möglich macht, zu ver-
zweifeln (weil es sich, wie Heimann sagt, ohne einen Zeugen
nicht lohnt, das Gesicht zu senken und zu verzweifeln), dieser
Wislizenus schießt einen Landstreicher nieder, um sich und einem
bei ihm vorlesenden Dichterfreund nächterlicher Weile Ruhe vor
dem trunkenen Lärm des Strolches zu verschaffen. Den Mord
vollzieht er aus der philosophisch-relativistischen Luft heraus, die
im Dialog mit dem Dichter entstanden ist und ihn, Wislizenus,
den Satz prägen lässt: „Es gibt nichts so Absurdes, dass ich es
nicht einmal, und nichts so Gewisses, dass ich es immer glaubte.
Das Irrsinnige hat keinen gänzlich irren Sinn für mich, und die
reine Wahrheit keinen gänzlich reinen".
Klänge von einem herrlichen Epos rauschen herein, von
einem dantesken Riesengedicht über die Hölle, das Fegefeuer und
das Paradies, und noch nie hat, wie mich dünkt, im Rahmen einer
Dichtung ein Dichter, ohne bei der Weltliteratur eine Anleihe zu
machen, eine so glaubwürdige Vorstellung von einer gewaltigen
Dichtung und einem großen Künstler mit einer novellistischen
Begebenheit zu verseilen gewusst. Des (dargestellten) Dichters
Ungeduld über den polternden und singenden Landstreicher, der
ihn in seinem Vortrag unterbricht, wird der Anlass zur Tat des
Wislizenus, zu der Tat, die der hochmütige Dichter im Über-
schwang seines Selbstwertgefühls — theoretisch — wünscht, und
die Wislizenus — praktisch — vollzieht. Bemerkenswert, dass
des Dichters Aufgeblasenheit entsetzt zerplatzt, als ihm Wislize-
nus meldet, was er vor dem Hause getan habe, und dass er
sich nicht eher beruhigt, bis Wislizenus die Meldung von der voll-
zogenen Tat als Spass erklärt. Dies die eine Hälfte der selt-
samen Erzählung, in der zweiten Hälfte wird des sonderbaren
Mörders Schicksal und Elend zum Schluss geführt. Mit der
Verzweiflung darüber, nicht aller Welt die Nichtigkeit, Eitelkeit
und Lügenhaftigkeit der Dichter beweisen zu können (das durch-
schwingende Hauptthema des ersten Teils!) beginnt es, mit un-
487
geheuerlichen Verlassenheitsgefühlen setzt es sich fort, und von
der Gewissheit, dass der Ziel- und Zweckmensch und Dichter
sich endgültig in seine außerordentliche Aufgabe hineingefunden
hat und Erfolg haben soll, wird es erhöht. Die Folgen des Mor-
des aber überwuchern den Verzweifelten und Ohnmächtigen.
Der Ausklang ist von großartiger symbolischer innerer Kraft:
Niemand ahnt den Mörder, der die Leiche des Landstreichers
heimlich in einem Schuppen verscharrt hat. Aber die Gefährtin des
Toten, eine Vagabundin, riecht den Mörder aus, umkreist sein
Haus, setzt sich schweigend und schnuppernd darin fest, ohne
dass sich der Willensgelähmte ihrer zu erwehren vermag, und
ohne dass er verhindern kann, dass er verkommt und menschlich
verwahrlost wie der erschossene Trunkenbold. Mit dem Weibe,
den Wacholderstock des Landstreichers in der Hand, wandert
Dr. Wislizenus in die Nacht und in den Wald hinaus, selber
ein Mensch geworden, wie der gewesen, den er gemordet hat,
selber zerrüttet, nachtumsponnen, Tierkreatur. (Ersatz für den
Toten!) Gedämpftes Licht von farbigen Fackeln fällt in eine
fürchterliche Düsternis. Ein Dichter mit strengen Augen singt aus
schmerzlichem Mund ein befreiend-gütiges Lied. Sechs- und zehn-
fache Deutungen sind möglich. Schillernd und wechselvoll ist das
Angesicht dieser Dichtungen, der dreie, die ich hier eingehender
erwähnen konnte, und der beiden anderen, die der Band enthält.
Und dass dem so ist, spricht für den Dichter, der diese No-
vellen geschrieben hat, für den gedankenschattigen und tiefen
Moritz Heimann, der selbständigsten und eigensten einer, den
das deutsche Schrifttum der Gegenwart kennt. Mag sein, dass
ein breites Geschlecht, das nach seiner Art verlangt, heute noch
nicht gewachsen ist. Aber früher oder später wird diesem Neu-
melodiker der Resignation von vielen Gehör werden. Denn er
zählt — das erweist nicht minder die letzte dramatische Sinfonie
seiner schaffenden Kraft Der Feind und der Bruder, eine Tragödie,
die vor zwei Jahren im deutschen Theater zu Berlin aufgeführt
und fast von der ganzen Kritik missverstanden, will sagen, mit
oberflächlichen Ohren gehört wurde ~ zu denen, die Kenntnis
von Menschen und Zuständen als schauende Erdenker und als
Bildner und Dichter erweitern. Und solche Dichter machen uns
die Augen auf und erheben uns in ihrem Erkennen.
ZÜRICH HERMANN KESSER
a D D
488
VERGESSENE NUTZPFLANZEN
(Schluss)
Sobald der Anbau einer Pflanze in die Periode des Verfalles
tritt, fehlt eine Sortenvvahl und die Sortenkenntnis, und damit
gehen diese selbst verloren. Dem armen Mann mangelt es an
Zeit und Muße zu einer sorgfältigen Kultur. Wenn aber die
alte Nutzpflanze nicht mehr mit Sorgfalt genutzt werden kann,
wird ihr Ansehen rasch begraben. Niemand begreift, dass ihr
einst eine größere Bedeutung zukam. Bei den Nährpflanzen vor
allem will niemand mehr glauben, dass aus ihr gute Speisen be-
reitet werden könnten. Wir erinnern uns noch aus der Jugend,
wie viel „Räbemus" (Wasserrüben, Brassica Rapa) auf dem Lande
gegessen wurde; es war kaum jemand, der es nicht gut fand.
Schon vor zwei Jahrzehnten ist das Räbemus eine Nahrung armer
Leute geworden und selbst bei diesen ist es schon verpönt. Wenn
es dem Städter heute als Irish Stew vorgesetzt wird, so lässt er
es sich aber wohl gefallen.
In einem späten Stadium des Rückganges einer Nutzpflanze
geht die Erinnerung an den Gebrauch leicht verloren. Sie wird
vorerst nur noch gelegentlich benutzt, zum Beispiel in Kriegszeiten
oder bei Hungersnöten. Dabei werden die früheren Namen ver-
stümmelt oder verwechselt.
Diesen Gang haben schon viele Kulturpflanzen durchlaufen.
Eine ganze Reihe von ehemaligen Nutz-, Arznei-, Färber-,
Gespinnst- und selbst Gemüsepflanzen sind seit dem Beginne
des Menschengeschlechtes über unser Land hinweggegangen. Viele
werden noch heute von armen Leuten oder in ungünstigen
Klimaten gebaut. Viele andere umgeben uns noch, doch ist
ihr Gebrauch bereits vergessen. In ihrer Verbreitung kleben die
meisten den menschlichen Siedelungen an und als verschupfte
Kinder der Vegetation retten sie sich als Gartenflüchtlinge oder Un-
kräuter in vernachlässigte Gärten, in Hecken und auf Schuttplätze.
ja, es kann so weit gehen, dass die ehemalige Benutzung dieser
Pflanze überhaupt vergessen wird, und nur zufällig aufgefundenen
Spuren ist es dann zuzuschreiben, wenn mit mehr oder weniger
Wahrscheinlichkeit der vergessenen einstigen Nutzung nachgegan-
gen werden kann.
489
Dieser Kreislauf der Nutzpflanzen hat verschiedene Ursachen,
Überall da, wo es sich um feldmäßig gebaute Pflanzen handelt,
die marktfähig sind, ist ein Gesichtswinkel maßgebend : der größte
Reinertrag. Ein in der Landwirtschaft feststehendes Grundgesetz,
das sich mathematisch beweisen lässt, zeigt, dass, je höher die
Produktenpreise steigen, desto größer auch der Aufwand an Arbeit
und Düngung sein muss, wenn der größtmögliche Reinertrag er-
reicht werden will. Nun waren früher die Produktenpreise meist
niedrig. Es konnten also nur solche Pflanzen einen Reinertrag
abwerfen, die auch nur geringe Ansprüche machten. Die Zu-
nahme der Produktenpreise verlangte nach und nach auch eine
kostspieligere Bebauungsart oder, wie der technische Ausdruck
lautet, eine intensivere Bewirtschaftungsweise. Die alten, wenig
Ansprüche machenden, die extensiven Methoden, werden verlassen
und die intensiveren angenommen. Damit geht aber auch ein
Wechsel der Kulturpflanzen Hand in Hand. Die alten Sorten
oder Arten rentieren nicht mehr und neue treten an ihre Stellen.
Die früheren guten Kulturpflanzen erscheinen jetzt als Begleiter
einer Wirtschaftsart, die gegenüber der jetzigen extensiv war.
Diese alten Kulturpflanzen können wir deshalb gut als Extensiv-
pflanzen bezeichnen und diejenigen, die jetzt in Blüte stehen, als
Intensivpflanzen (nach Krzymowski). Aber auch sie werden einst
veralten und die heutigen Sorten werden auch einst in diesem
ewigen Wechsel der Dinge zu Extensivpflanzen herabsinken. Es
ist also bei jeder Art oder Sorte nur unter einer bestimmten
Wirtschaftslage der größte Reinertrag zu erwarten; nur wenn
diese Lage vorhanden ist, lohnt sich ihr Anbau.
Diesen feldmäßig gebauten Pflanzen stehen die Arznei- und
Gemüsepflanzen gegenüber. Bei dem hier eintretenden, übrigens
viel häufigeren Wechsel ist weniger die Rendite als Sitte und
Gebrauch maßgebend. Wenn neue Arzneipflanzen eingeführt und
empfohlen werden, so kommen nach und nach andere außer
Gebrauch und sie verschwinden. Bei den Gemüsen spielen die
Kultureinflüsse die größte Rolle. Als alles Römische, wie es im
Beginne des Mittelalters der Fall war, als ein Fortschritt be-
trachtet wurde, übten die Fürstenhäuser und Klöster auf die
bürgerliche Küche einen starken Einfluss aus. Sie verlangte neue
fremdländische Gemüse und die herkömmlichen wurden deshalb
490
nach und nach verlassen. Aus dieser Zeit stammt noch die Mehr-
zahl unserer heutigen Gemüsearten samt ihren Namen: Kabis ist
das lateinische capitata, Rettig das lateinische radix, Sellerie das
griechische selinon, und dass die heutige Erbse vom lateinischen
ervum, Kürbis von Cucurbita und Birne von pirus abgeleitet wer-
den, habe ich bereits erwähnt. In späteren Zeiten wurde im
deutschen Sprachgebiet französische Küche nachgeahmt und da
diese wie die damalige Kultur überhaupt vorwiegend auf der
römischen aufbaute, so ist in Europa ein starker Ausgleich in
den hauptsächlichsten Gemüsearten zustande gekommen. Es
sind also die alten Gemüse, die die Neolithiker und die alten
Germanen ganz sicherlich hatten, nicht gerade deshalb ver-
schwunden, weil sie weniger Rendite abwarfen, sondern weil
ihre Zubereitungsart in den römischen und französischen Koch-
vorschriften nicht enthalten war.
Die Wirtschaftsgeschichte vor allem bedingt also den Wechsel
der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen; die Kulturgeschichte den
der Arznei- und Gemüsepflanzen. Dieser Wechsel bringt es
mit sich, dass die Wertschätzung der gleichen Pflanze eine Änderung
durchmacht. Misstrauisch wird sie aufgenommen, um in einer
folgenden Periode das höchste Ansehen zu genießen und in
einem spätem Stadium langsam in Verachtung herabzusinken.
Der Wechsel in der Wertschätzung vor allem ist es, der es so weit
kommen lässt, dass ehemalige wichtige Nutzpflanzen völlig der
Vergessenheit anheim fallen können. Haben wir aber anderseits
diesen Gang der Dinge erkannt, so finden wir darin auch ein
Mittel, das uns mithelfen kann, um wenigstens einzelne vergessene
Nutzpflanzen wieder aufzustöbern.
Eine selbst in der Literatur völlig verlorene ehemalige
Kulturpflanze ist durch Ernst H. L. Krause heute wieder erkannt
worden. Die Schriftsteller des klassischen Altertums kennen eine
Gemüsepflanze, die in Griechenland Lapathon hieß und hier be-
reits im vierten vorchristlichen Jahrhundert gebaut wurde. Es ist
eine Ampferart und zwar eine der nicht sauer schmeckenden.
Wahrscheinlich war diese Pflanze Rumex grcecus, die auch heute
noch in Griechenland gesammelt und gegessen, aber nicht mehr
gebaut wird. Jahrhunderte später ist die Pflanze in die römi-
schen Gärten, wo der Namen in Lapathum verwandelt wurde,
491
übergegangen, wo sie sich bis in das Mittelalter erhielt. Nord-
wärts von Neapel ist sie in späterer Zeit verschollen und nur noch
in Überlieferung bekannt. Diesseits der Alpen hat der Ampfer
auch Eingang gefunden, aber nur der Name und der Gebrauch.
Die Pflanze selbst ist eine andere gewesen, nämlich eine einheimi-
sche Art, Rumex alpinus, der Alpenampfer, eine Art, die jedem
Gebirgsgänger bekannt ist. Es ist der Ampfer, der so massenhaft
an den überdiingten Stellen rings um die Sennhütten herum mit
seinen breiten, stumpfen Blättern vorkommt. In Lausanne war
die Pflanze unter dem Namen Lampe und Lapais im sechzehnten
Jahrhundert im Gebrauch.
Auch in den Niederlanden und in England wurde der
Ampfer, eine gute, ausdauernde Spinatpflanze, gebraucht. Dort
war es Rumex Pathientia, der auch heute noch hie und da
gepflanzt wird. Die gleiche Art wurde in Deutschland, wenn
wohl auch nicht allgemein und zudem nur vorübergehend,
gebaut. Immerhin genoss sie doch eine sehr hohe Achtung. „Als
1711 der Kurfürst zu Sachsen den neuen botanischen Garten zu
Wittenberg gestiftet hatte, wurde eigens eine große Prozellanvase
angefertigt. Da hinein pflanzte man den bewussten Rumex und
stellte das Ganze als besonderes Zierstück mitten in die Anlage."
Zweihundert Jahre später sind diese Rumex-Arten als Nutzpflanzen
verschollen. In undankbarer und selbstgerechter Weise heißen
sie nun bei uns „Hundsampfer". Nur noch in entlegenen Win-
keln hat sich der Gebrauch einer nicht sauren Rumex-Art erhalten :
an verschiedenen Orten des Kantons Graubünden wird der Alpen-
ampfer noch in besonderen Gärten kultiviert, was Krause ent-
gangen ist. Es sind dies nahe bei den Hütten liegende, kleine,
eingezäumte Stellen, die reichlich mit Dünger versehen werden.
Einer weiteren Pflege bedarf der Ampfer nicht. Die Blätter werden
im Sommer ausgezogen, in heißem Wasser gebrüht und in einen
viereckigen, trogartigen Behälter, der aus losen Brettern im Freien
errichtet wird, gebracht, mit Brettern zugedeckt und mit Steinen
beschwert. Hier machen die ausgepressten Blätter eine Gährung
durch, so dass eine Art Sauerkraut entsteht. Im Winter gefriert
es zu einem Klotze, von dem mit der Axt einzelne Stücke los-
gehauen und in aufgetautem Zustande, meist mit „Heublumen"
oder Häcksel vermischt, den Schweinen als Futter gegeben wer-
492
den. Gelegentlich wird auch auf den Maiensäßen oder den Alpen
dieses Sauerkraut bereitet. Im Winter, wenn alles zu einem Klotze
gefroren ist, hackt man ihn los und bringt ihn auf einem Schlitten
zur Winterwohnung.
Die Zubereitung dieses heutigen Viehfutters ist so umständ-
lich, dass wir schon daraus ersehen, dass es sich um eine früher
menschliche Nahrung handelt. Ob noch in historischer Zeit in
armen Familien oder bei Hungersnöten der Alpenampfer als
menschliche Nahrung diente, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Die Leute, die ich bis jetzt frug, meinten beleidigt, das sei ja nur
für die Schweine. Und vor ungefähr zweihundert Jahren pflanzte
man dieses Gemüse in eine eigens angefertigte Porzellanvase und
stellte das ganze als Zierstück in einen Garten! So ändert sich
das Urteil des Menschen.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung, dass unsere heutigen
Kulturpflanzen zum allergrößten Teil eingeführte Arten oder
wenigstens Sorten sind und schon der Laie fragt sich, ob sich
nicht auch einheimische Arten als Nutzpflanzen eignen? Wir
haben aus dem vorigen gesehen, dass wir in der Tat Arten in der
einheimischen Flora haben, die Nutzpflanzen sein könnten und es
auch gewesen sind. Das legt die neue Frage nahe, welches denn
die Arten sind, die früher im Gebrauch waren. Im romanischen
Sprachgebiete kennen wir eine Reihe von Gemüsepflanzen, die aber
nicht gebaut, sondern nur gesammelt werden. Da muss in erster
Linie an den Löwenzahn, Taraxacum officinalis, erinnert werden,
den wir in Unkenntnis der Genießbarkeit oder zu einer Zeit, da
wir noch nichts von ihm wissen wollten, „Chrottebösche" (Kröten-
kraut) genannt haben. Die Franzosen der Bourbakiarmee und die
italienischen Arbeiter haben in den letzten Dezennien uns seine
Nutzbarkeit gelehrt. Zuerst wurde die Pflanze nur in Arbeiter-
kreisen gegessen, dann hie und da feilgetragen, und heute ist sie
selbst in Zürich wieder Marktfrucht geworden, in Holland wie in
Frankreich wird sie sogar gebaut und die gebleichten Blätter werden
teuer bezahlt. Hier handelt es sich um eine einheimische Art, die
also gut Nutzpflanze und Kulturpflanze sein kann. Ob sie früher
bei uns je eine solche war, wissen wir nicht. Doch dürfen wir
aus dem verächtlichen Namen nicht auf das Gegenteil schließen.
Ähnlich verhält es sich mit der Cichorie, Cichorium intybus.
493
Noch vor wenigen Jahrzehnten war diese eine so allgemeine
Kulturpflanze, die auf kleinen Parzellen selbst feldmäßig gebaut
wurde, dass sie mit dem Sammelnamen „Wurza" oder „Würza",
also Wurzel, genannt wurde. Die Pfahlwurzeln wurden getrocknet,
geröstet und daraus Kaffee bereitet, der unter den Surrogaten zu
den besten gehört. Heute kauft selbst der Landwirt seinen Kaffee-
Ersatz in Form von einem oft unglaublichen Gemisch mit
dem schönen Namen „Päckli-Kaffi" und die frühere Kulturpflanze
ist beinahe nur Unkraut, das sich vorzugsweise an die Straßen-
ränder (daher der schriftdeutsche Name „Wegwarte", hervorge-
gangen aus einer Umdeutung von „Wegwurzel") und Schuttplätze
hält, ohne in die natürlichen Pflanzengesellschaften einzudringen.
Es lässt sich daraus schließen, dass es sich um keine einheimi-
sche Art handelt, sondern um eine eingeführte. An abgelegenen
Orten des italienischen Sprachgebietes der Schweiz ist die gleiche
Pflanze aber noch heute Kulturpflanze. Die grünen Blätter liefern
einen guten, wenn auch etwas bitteren, die gekochten Wurzeln
einen vorzüglichen Salat. Vor 150 Jahren wurde die gleiche Art
auch bei uns zum gleichen Zwecke gebaut. Erst später, allgemein
erst zurzeit der Kontinentalsperre, erkannte man den Wert der
Wurzel als Kaffee-Ersatz. In den letzten fünf Jahren ist aber
diese Pflanze als Gemüse auch bei uns wieder marktfähig ge-
worden. Die jungen gebleichten Köpfe kommen aus Paris und
Brüssel zu uns und werden als Brüsseler Salat oder Brüsseler
Witlof im Winter zu teuren Preisen verkauft.
Unsere einheimische Flora bietet aber noch eine ganze Reihe
anderer Gemüse. Die jungen Sprosse des Hopfens zum Beispiel
bilden in den italienischen Landesteilen ein heute noch geschätztes
Gemüse, das übrigens auch anderwärts, z. B. in Holland, heute
noch auf dem Markt verkauft wird. Die Brennesseln geben, jung
gepflückt, einen ausgezeichneten Spinat, der gar nicht so selten
gegessen wird, so bei uns zum Beispiel im Kanton Tessin, im
Veltlin, Puschlav und gewiss noch anderwärts.
Diese einheimischen Pflanzen liefern aber nur Gemüse. Die
wertvollste pflanzliche Nahrung des Menschen bilden jedoch die
Mehlfrüchte, weil aus ihnen ein verhältnismäßig gehaltreicher
Körper, das Mehl, gewonnen werden kann, das sich in trockenem
Zustande ohne zu verderben jahrelang aufspeichern und zudem
494
in mannigfaltiger Weise zubereiten lässt. Wir besitzen nun
in Mitteleuropa einen Baum, dessen mehlreiche Früchte ihm den
Namen „Mählbeeribaum", Vogelbeerbaum, Sorbus aria, gaben.
Heute sammeln bei uns gelegentlich die Kinder einige Hände voll
von diesen Beeren, um mit ihnen zu spielen oder um sie zu
essen. Aber vor wenigen Jahrzehnten noch war dies anders.
Etwa in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts galt der Mehlbeer-
baum noch an einigen Orten als Nutzbaum. Am südlich besonnten
Ufer bei Quinten am Wallensee wurde der Ertrag des Waldes jähr-
lich an die Meistbietenden versteigert. Mit einem Leiterchen, einem
Haken und einem „Chratten" (Korb) wurden die Beeren geerntet
und in Säcke geleert. Um sie haltbarer zu machen wurden sie
auf dem Ofen getrocknet. Sie dienten damals bereits hauptsächlich
zur Schweinemast. Immerhin wurden sie auch noch zur Brotbe-
reitung verwendet. Die zerhackten Beeren verbuck man mit einem
gutem Mehl gemischt zu einem etwas süßlichen Brot, das als Lecker-
bissen galt. Auch Mus wurde aus diesen Beeren bereitet. Noch
heute werden in jener Gegend, zum Beispiel in Amden, die Mehl-
beeren von kinderreichen Familien gesammelt, getrocknet und ohne
weitere Zubereitung als menschliche Nahrung gebraucht. Aber
auch im schweizerischen Mittellande dauerte die Nutzung der Mehl-
beeren lange an. Im Jahre 1885 wurden in Rüdlingen am Buch-
berg, Kanton Schaffhausen, Kinder angehalten, diese Beeren selbst
im Walde zu holen und zu essen, wenn sie Hunger hätten.
Eine andere Mehlfrucht ist die Wassernuss, Trapa natans.
Die Pflanze kommt in Altwässern der Flüsse und in zuwachsenden
Seen vor. In früherer Zeit war sie viel häufiger als heute und oft
findet man sie geradezu massenhaft subfossil am Grunde der
Torfmoore. Aber nicht nur viele Standorte dieser Art sind er-
loschen, sondern auch das Verbreitungsgebiet ist gegenüber früher
stark zurückgegangen. Die Nordgrenze, die heute durch das
südliche Schweden verläuft, umfasste früher noch einen großen
Teil dieses Landes. Kein Wunder, dass man in diesem Falle
glaubt, dieser Rückgang zeige eine Klimaverschlechterung an.
Aber auch eine andere Deutung muss hier geprüft werden. Der
schwedische Botaniker Sernander berichtet, dass in einem schwedi-
schen Torfmoor in einem Tongeschirr aus der neolithischen Zeit
Trapafrüchte vorgefunden wurden. Das legt schon den Gedanken
495
nahe, es könnte sich hier um eine ehemah'ge Nutzpflanze handeln,
in der Tat werden heute noch die Früchte von andern Trapa-
Arten im Osten Asiens als Nahrung gebraucht. Aber auch unsere
Art dient heute noch hie und da als Speise. Die mehlreichen
Früchte werden heute in den Straßen von Mailand in gleicher
Weise wie die Kastanien gebraten und feilgeboten. Am Langensee
kommen sie auf den Markt, ebenso in Ungarn, am Kaspischen
Meer usw. Vor einigen Jahrzehnten war dies in Dresden eben-
falls der Fall. Aber diese Gebräuche bilden nur die letzte Phase
eines früheren allgemeinen Gebrauches, der schon weit zurück-
liegt. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts war die Pflanze
in Mitteleuropa bereits so selten, dass sie einem der besten da-
maligen Pflanzenkenner, Hieronymus Bock, nie zu Gesichte kam,
während er aber von den Früchten voraussetzte, dass sie jeder-
mann kenne. Besser unterrichtet ist der Basler Botaniker Zwinger.
Nicht nur gibt er eine richtige Abbildung der Pflanze, sondern
er kennt 1696 auch noch den Gebrauch als Nährpflanze: „Das
arme Volck isst die VVassernüss wie Castanien, sonderlich in
theurer Zeit kochen sie diese Frucht, dörren und mahlen sie,
und backen Brot darauss." Die wirtschaftliche Wichtigkeit ist
also schon gering, da sie nur die Nahrung der Armen ist, der
nur bei Teuerungen eine größere Bedeutung zukommt. Im früheren
Mittelalter war die Pflanze also wohl noch häufiger als Nährpflanze
und in der neolithischen Zeit war sie nachweislich gemeingebräuch-
lich. Die Pfahlbauer benutzten sie in solcher Menge, dass die Frucht-
schalen sich in ihren Niederlassungen oft in ganzen Schichten vor-
finden. Die Wassernuss behagte aber auch dem früher durch ganz
Europa verbreiteten Biber und er trug sie in seine Vorratskammern.
Dadurch half er ohne Zweifel mit, die Pflanze zu verbreiten.
Die Frage, ob die Wassernuss kultiviert wurde, können wir nicht
mit Sicherheit beantworten. Ihre Kultur muss vermutet werden, weil
noch im vorletzten Jahrhundert dasZisterzienserkloster Sittich inKrain
in seinen Teichen den Anbau betrieb. Dafür spricht auch, dass der
Mensch selbst sie stark verbreitet hat. Sie kommt auch in künst-
lichen Gewässern vor, wie in Fischteichen, Feuerweihern und Stadt-
gräben. Es liegt deshalb die Ansicht nahe, es handle sich bei derWasser-
nuss um eine ehemalige wichtige Nährpflanze, die schon vom Neo-
lithiker in Mitteleuropa weit verbreitet und wohl auch angebaut wurde.
496
In Kultur ist sie heute nirgends melir und aucli als Speise wird
sie selt&n gesammelt. Weder Mensch noch Biber — die Wasser-
vögel verschleppen die Früchte nicht — verschaffen der Wassernuss
neue Standorte, und da sie als einjährige Wasserpflanze solche
immer wieder haben muss, um erhalten zu bleiben, so ist sie im
Begriffe auszusterben, indem ein Standort nach dem andern erlischt.
Zum Schlüsse möchte ich noch auf eine andere, ebenfalls
einheimische ehemalige Mehlfrucht hinweisen, die heute als Nutz-
pflanze vergessen ist, bei der sich aber aus der Zeit der Blüte
noch Anschauungen bis auf unsere erhalten haben. Die
Germanen hatten einen heiligen Baum, die Eiche. Unter ihr
standen die Altäre, in ihrem Schatten tagte die Gemeindever-
sammlung und das Gericht; mit Eichenlaub schmückte man den
Sieger. Diese Verehrung der Eiche bei den germanischen Völkern
ist uns allen bekannt, weniger aber der Ursprung dieser Sitte. Er
ist darin zu suchen, dass die Eiche der wichtigste Nutzbaum der
Einwohner Mitteleuropas und zwar wohl seit dem Auftreten
des Menschen, also wohl seit der älteren Steinzeit, war. Die
Einwohner fanden die Eiche hier vor, und da sie eine Frucht hat,
aus der Mehl bereitet werden konnte, so wendeten sie der Eiche
die größte Aufmerksamkeit zu. Mehl ist ja ein Nahrungsmittel,
das unvergleichlich wichtiger ist als alle andern. Es ist gehaltvoll,
lässt sich gut aufbewahren und auf verschiedenste Weise zum
Genuss verwerten. Zur Mehlbereitung brauchen die Eicheln nur
gedörrt, geschält und gemahlen zu werden. Diese Nutzung lässt
sich durch eine Reihe verschiedener Quellen nachweisen. Leider
mangelt der Platz, darauf näher einzutreten, wie sich hier die
Sprachwissenschaften, die Kulturgeschichte, die Geschichte, die
Botanik und die Pflanzengeographie die Hände reichen, um eine
der ersten wichtigen Nutzpflanzen wieder erkennen zu helfen. Die
Fähigkeit, als Mehlfruchtbaum genutzt zu werden, ist es gewesen,
die der Eiche die große Verehrung eintrug. Aus diesem Grunde
wurde sie als heilig erklärt, was so viel heißen will, dass sie von
jedermann geschont werden musste. Selbst in den Kriegen durfte
sie nicht geschädigt werden, denn ihre Vernichtung setzte den
Besitzer unnötigerweise einer Hungersnot aus. Aber die Eiche
war nicht nur ein geschonter Nutzbaum, sondern auch Kultur-
baum. Die wenigen Quellen, die wir darüber besitzen, zeigen
497
uns ganz klar, dass die Eiche so hoch geschätzt wurde, dass man
sie anpflanzte. Da man früher viele Sorten bei der Eiche unter-
schied, je nach der Schmackhaftigkeit der Früchte, so wäre es
absonderlich, zu glauben, man habe sich diese Kenntnis nicht zu
Nutze gemacht und die guten Sorten zu eigenem Nutzen nicht
künstlich vermehrt.
Aber schon frühzeitig, wohl schon in der Mitte des Mittel-
alters, war die Eichel als menschliche Nahrung zurückgegangen,
was nicht ausschließt, dass sie damals und später noch vielerorts
den Menschen ernährte. Im allgemeinen sank sie zum Viehfutter
herab. Nur noch in Kriegszeiten und bei Hungersnöten griff man
zur Eichelkost zurück; als Viehfutter, ganz besonders zur Schweine-
mast, wurde die Eichel noch bis in die Mitte des letzten Jahr-
hunderts verwendet. Heute ist sie jedoch selbst als Viehfutter
bei uns ungebräuchlich, nur noch die Bezeichnung „Mastjahr" ist in
der Förstersprache für die Jahre geblieben, in denen die Eichen (und
Buchen) reichlich Früchte tragen. Aus der Zeit, in welcher die Eichel
anfing, zum Schweinefutter herabzusinken, lassen sich eine Reihe
von Sprichworten nachweisen, die die damalige Verachtung der
Eiche zeigen, entsprechend der allgemeinen Regel über das Schicksal
von außer Gebrauch gekommenen Nutzpflanzen. Allein die
Eiche war ein zu nützlicher Baum gewesen und die Anschauung
des Volkes über ihre Heiligkeit wurzelte deshalb zu tief, so dass
diese Periode des Übergangs vorbeiging, und heute, wo wir die
Eiche nur noch von ihrer ästhetischen Seite aber nicht mehr als
Fruchtbaum kennen, wird sie noch in Ehren gehalten. Noch ver-
wenden wir die Eichenornamente auf unsern Münzen und immer
noch drücken wir dem Sieger im Wettkampfe unsere Anerkennung
durch die Überreichung eines Eichenkranzes aus.
im ewigen Wechsel der Zeiten geht eine Kultur nach der
andern vorüber. Immer tauchen neue Ziele auf; der Mensch
macht sie zu seinen Idealen und strebt ihnen unaufhaltsam zu.
Fortschritt nennt er dieses Streben. Rasch findet er das, was
ihm früher gut und nützlich gewesen, überflüssig und er verlässt
es. Ja, noch mehr: nur Geringschätzung hat er dafür übrig, so
dass es schnell vergessen wird. Es ist deshalb Aufgabe der
Wissenschaft, alles, was sich an alten Erinnerungen, Spuren von
Gebräuchen, Zeugnissen und Überlieferungen noch auffinden lässt,
festzuhalten und der Kulturgeschichte dienstbar zu machen.
ZÜRICH H. BROCKMANN-JEROSCH
ODD
498
D D
a D
THEATER UND KONZERT
D a
D D
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Henri
Nathansens, des Dänen, Schauspiel
Hinter Mauern ist auch zu uns ge-
kommen, nachdem es in den letzten
Monaten sein Glück vielerorts in
Deutschland gemacht hat. Es führt
uns in die Welt eines alten jüdischen
Bankiers und seiner Familie. Die
Söhne stehen selbständig im Leben,
der eine, ledige, als Arzt, der zweite
als Kaufmann, verheiratet, Vater.
Aber das elterliche Haus ist für sie
immer noch der Herd geblieben, zu
dem sie treu und gerne kommen, an
dem sie sich wohl fühlen, den sie
als Zentrum ihrer Existenz empfinden.
Freilich, von der väterlichen Frömmig-
keit ist manches bei ihnen abgeblät-
tert : der Arzt denkt sehr vorurteilslos,
und auch der Kaufmann findet für
die Synagoge nicht mehr viel Zeit;
und doch bleiben sie mit der jüdi-
schen Tradition verwachsen, und der
Kaufmann vor allem hat sich noch
ein gut Stück altvaterischer Sitte und
abergläubiger Bräuche bewahrt und
macht aus seinem Judentum kein
Hehl. Mit der Tochter ist's anders.
Sie hat ihr Herz einem christlichen
Privatdozenten, dem Sohn eines
reichen Etatsrates, geschenkt; und
ihre Verlobung mit ihm hinter dem
Rücken der Eltern weckt Empörung
beim Vater und etwelches Missbe-
hagen bei den Brüdern, namentlich
beim Kaufmann. Aber schließlich
lassen sie sich doch zur Zustimmung
bewegen. Da zeigt sich's nun aber,
dass die Tochter aus dem jüdischen
Haus christlich sich soll trauen und
künftige Kinder soll taufen lassen.
Da will der Alte um keinen Preis
mehr mit. In alttestamentlichem
Zorn wendet er mit seiner Gattin
sich von der Tochter ab, und dem
ctatsrat, dessen Antisemitismus er
schon früher bitter hat spüren müs-
sen, schleudert er seinen sorgfältig
gehüteten Hass gründlich ins Gesicht.
Alles scheint ein Ende zu haben.
Aber die Tochter kriegt Gewissens-
bisse. Ihr jüdisches Bewusstsein
flammt wieder auf. Sie dreht dem
Verlobten den Rücken und kommt
ins Elternhaus als eine Reuige. Und
siehe da: der christliche Bräutigam
besinnt sich auf seine über alle Kon-
fession erhabene Menschlichkeit. Er
verzichtet auf die offiziellen Bezeu-
gungen seines Christentums in Ge-
stalt von Kirchgang, pfarrherrlichem
Segen und Kindertaufe in spe und
gelobt, seine Kinder dereinst ganz
einfach als Menschen zu erziehen.
So ist hinter die Mauern des jüdi-
schen Hauses der Friede wieder zu-
rückgekehrt.
Diese rasche Umkrempelung des
Hasses des alten Bankiers, der Af-
fichierung des offiziellen Christentums
beim Bräutigam, der verliebten Hals-
starrigkeit der Tochter, die sich ihres
Judentums nachgerade geschämt hat,
lässt aus dem letzten Akt eine herz-
lich schwache Rührseligkeit werden,
die aber gerade dem Stück zu seinem
Erfolg verholten hat. Das jüdische
Beiwerk macht im übrigen des Schau-
spiels Glück, gerade wie bei den
Fünf Frankfurtern.
Der literarische Wert des Ganzen
ist ein höchst bescheidener. Was nun
aber angesichts des Beifalls, den ge-
rade das jüdische Auditorium dem
Stück, mit dem gruseligen Titel und
dem humanen Finale, auch bei uns
bereitet hat, der Pikanterie nicht ent-
behrt, ist, dass von orthodox-jüdi-
scher Seite dem Schauspiel eine
sehr scharfe Kritik zu Teil geworden
ist. Letzter Tage ist mir als Aus-
schnitt aus einer jüdischen Zeitung
(oder Zeitschrift; der Titel lässt sich
aus dem Exzerpt nicht erkennen)
499
M>M>
THEATER UND KONZERT
KMO
eine Kritik von anonymer Seite zu-
geschickt worden. In dieser finde ich
das Urteil, dass, wenn Herrn Nathan-
sen wirklich ein Jude sei (woran der
Name doch wohl keinen Zweifel zu-
lässt), er „jedenfalls ein sehr mo-
derner, vorgeschrittener Jude, ein
Assimilant der schlimmsten Sorte"
sei. „Wie könnte er sonst solche
Zerrbilder von jüdischen Typen auf
die Bühne führen". „Bei uns" gebe
es keine solche Juden, wie der alte
Bankier einer sei; in Dänemark
möge so was vorkommen. Mit dem
„alten Judentum" hätten des Bankiers
Theorien (Gestattung der Mischehe;
Essen und Trinken an einem christ-
lichen Tisch usw.) nichts gemein. In
Dänemark freilich kämen auf 100
jüdische Ehen 70 bis 80 Mischehen.
(Furchtbar!) Eins lässt der Kritiker
gelten: das jüdische Familienleben
sei gut gezeichnet. Immerhin: auch
dieses echt Jüdische werde auf der
Bühne „nur trivialisiert". Der Schluss
des Stückes aber sei bloß Tendenz,
und allein um ihretwillen sei das ganze
Schauspiel da. „Sie ist gefährlich,
und deshalb weisen wir Nathansens
Ideen weit von uns ab".
Es ist doch wohl nicht ohne In-
teresse, auch von dieser Beleuchtung
des Nathansenschen Stückes Hin-
ter Mauern Notiz zu nehmen. Ten-
denzdramen müssen sich nun einmal
dergleichen unliterarische Durch-
strahlungen gefallen lassen.
H. TROG
D D
D D
NEUE BÜCHER
D O
D D
EUGEN WOLFF. Faust und
Luther: ein Beitrag zur Entstehung
der Faust-Dichtung. Halle a.S, Ver-
lag von Max Niemeyer 1912. Preis
5 Mark.
Es liegt etwas Tragisches und
zugleich tief Symbolisches in der
Tatsache, dass uns die Person jenes
alten Geheimkünstlers, der „an sich
Adlers Flügel name und alle Grund,
am Himmel und Erden erforschen
wolle" und in die hinein Goethe den
Schmerz, die Freuden und den tief-
sten Sinn der Menschheit legte, dass
sie uns nicht genau bekannt ist, und
wir weder den Träger jenes groß-
sprecherischen Namens : „ Doctor
Johann Faust, Zauberer und Schwarz-
künstler, Quelle der Nekromantie,
Astrolog und Magus" scharf umrissen
vor uns sehen, noch die Kreise, aus
denen heraus 1587 das Spießche
Faustbuch entstand, genau anzugeben
vermögen.
In trübem Halbdunkel entgleitet
uns immer wieder der so tief er-
kannte und doch unbekannte Magus
und spielt uns so sein letztes Taschen-
spi^lerkünstlein vor.
Unbekannt ist uns die Welt, aus
der heraus jene schillernde Persön-
lichkeit, wie sie uns das Faustbuch
mit allen ihren Künsten und Fähig-
keiten schildert, erwuchs.
Es lag wohl nahe, den mystischen
Gaukler, der aus den Irrgängen einer
dumpfen Dogmatik heraustretend,
sich den Dingen des Tages und der
Realität zuwendet, um dann, in einer
ungestillten Sinnlichkeit ertrinkend,
schließlich von seinem galanten Ci-
cerone zerrissen zu werden, als das
Werk eines lutherischen Verfassers
anzusehen, um so mehr, als in dem
Buch mehr als einmal eine antikatho-
lische Tendenz sich fühlbar macht, —
Goethe schon meinte: „Die Ge-
schichte vom Faust wurde nach
500
04<M
NEUE BÜCHER
Wittenberg verlegt, also in das Herz
des Protestantismus und gewiss von
Protestanten selbst."
Woifgang Menzel, der Denunziant
des Jungen Deutschlands allerdings
sträubte sich gegen die Anschauung,
indem er behauptete, die Sage von
Faust sei eine katholische Allegorie
der Reformation. — Erich Schmidt,
Zarncke und Wilhelm Scherrer aber
gehen wieder auf die Goethesche
Annahme zurück und betonen die
streng-lutherische Tendenz des Faust-
buches aufs neue und lassen es in
Luthers Lager entstanden sein.
Eugen Wolff nun versucht es aber-
mals, eine neue Perspektive zu er-
öffnen : er erkennt im Faustbuch eine
katholische Parodie auf die Ranai-
sance, die Reformation und vor allem
auf Luther.
Die Beweisführung für dieseThese
ist eine höchst geistreiche und ge-
wissenhafte und fundiert auf Tat-
sachen, um die herum auch der
Forscher, der gegenteiliger Meinung
ist, nicht gehen kann und darf.
Die katholische Satire auf das
Luthertum hat sich immer und immer
wieder darin erschöpft, in Luther
den Antichrist, den Erzketzer, den
Simon Magus IL zu erblicken; die
lutherischen Tischreden wurden von
den katholischen Satirikern als Hin-
weise auf das sittenlose und aus-
schweifende Leben Luthers genom-
men, das in bacchantischen Völlereien
seinen Höhepunkt erlebte, und Johan
Nas prägte damals das Schlagwort:
Lutherei ist Zauberei und Zauberei
ist Lutherei.
Mit feinem psychologischem und
philologischem Verständnis erkennt
nun Wolff im Faust des Volksbuchs
die karikierten Züge des Lutherbildes
jener katholischen Literatur des sech-
zehnten Jahrhunderts wieder, was
ihm von der antilutherischen, katho-
lischen Herkunft des Faustbuchs
überzeugt, um so mehr, als eine
Reihe anderer Tatsachen ihn in seiner
Anschauung zu bestärken in höch-
stem Maße geeignet ist, die er in
richtiger Erkenntnis ihres Wertes
nachdrücklich betont, etwa: die höchst
unlutherische, epikureische Auffas-
sung von der Renaissance, die sich
im Faustbuch äußert, oder die un-
lutherische Teufelsauffassung, oder
die Verlegung einer ganzen Reihe
wilder Gelage in die Fastenzeit.
So verdichten sich für Wolff die
leichtbeweglichen und spielerischen
Züge Fausts immer mehr und mehr
und erstarren schließlich in der her-
ben Maske des tiefäugigen Luthers,
den Petrus Sylvius zu der sündhaften
Frucht einer Liebesbeziehung eines
Bademädchens mit „einem bösen
Geist in menschlischer Gestalt, ge-
nannt Incubo" werden lässt, und
dessen keusche Ehefrau Katharina
die ekelhafte Satire von Simon
Lemnius zur zuchtlosen Helena de-
gradiert.
Faust ist eine katholische Parodie
auf Luther und die Reformation:
damit ist die Faustforschung wieder
auf jenen Weg getreten, den ihr
schon 1859 Wolfgang Menzel an-
deutete.
Mit dem Buche hat sich Wolff
das Verdienst erworben, das ge-
samte Material für seine These ge-
sammelt und in erschöpfender Weise
benützt zu haben, und so seiner
Anschauung durch das harte Gerüst
wissenschaftlicher Tatsachen Halt
und Grund gegeben zu haben.
Vor allem zu schätzen ist in vor-
liegendem Fall die objektive und
unpolemische Schreibweise, die nicht
wenig dazu beiträgt, dem Buche
jenen bleibenden Wert zu geben, den
501
NEUE BÜCHER
ro»
es in dem Chaos der Faustliteratur
beanspruchen darf.
SALOMON D. STEINBERG
*
ADOLF SPANNER. Texte aus
der deutschen Mystik des vierzehnten
und fünfzehnten Jahrhunderts. Ver-
lag Eug. Diederichs, Jena. Broschiert
Mk. 4. — , geb. Mk. 5. 50.
Es ist eine eigenartige Erscheinung
unserer Tage, dass unserer modernen
Zeit, die uns Stunde für Stunde durch
technische und mechanische Errun-
genschaften verblüfft, ein stark ent-
wickelter Sinn für das Mystische
eigen ist.
Wer nicht an dem Grotesken
dieser Tatsache hängen bleibt und
einen Sinn für das Symbolische hat,
der ahnt hinter dieser Erscheinung
etwas, wie ein stilles Sichbesinnen
des modernen, naturwissenschaft-
lichen Verstandes, dem trotz der
gesteigerten Technik das Leben aller-
letzten Endes ein dunkles Rätsel blieb
und der immer und immer wieder
vor der Unendlichkeit und mystischen
Tiefe der Erscheinung erschauernd
zurücktaumelt: Ignosco.
Allerdings ist die Mystik unserer
Tage eine andere als die jener vor-
reformatorischen Zeit. Wir treiben
eine Mystik des Verstandes; wir
werden dann Mystiker, wenn wir die
Kräfte des Seins scheinbar bis in
ihre letzten Zusammenhänge hinein
analysiert haben — und dann mit
einemmale wieder vor jenem undefi-
nierbaren Rest stehen, der, rätsel-
haft und unverstanden, uns stets
wieder in jenen mystischen Abgrund
entgleitet; wir stammeln in jenen
Momenten in ohnmächtigem Trotz
etwas von Naturkräften, die wir uns
wohl vorstellen können (denn der
„moderne Mensch" kann sich alles
vorstellen), die wir aber nicht mehr
ins Experiment hineinzuzwängen ver-
mögen; und so erhält unsere Mystik
jenes Verstandesmoment, das ihr die
Berechtigung gibt: zu sein.
Wie anders war die Mystik jener
Tage. Sie war vor allem Gefühl.
Dort, wo der Verstand vergeblich an
die Tore schlug, dort trat das Gefühl
auf und versuchte jene dunkle Welt
sich anzueignen; eine intuitive Kon-
templation errang dem Gläubigen
jenen metaphysischen Horizont und
durch ein liebevolles, gefühlsmäßiges
Erfassen drang er in jenem erschüt-
ternden Moment extatischer Span-
nungen bis in das unklare Gebiet
des Transzendenten vor und ver-
mählte sich in der unio mystica seinem
heißersehnten Gotte. — So war ein
Meister Eckehart, so ein Tauler und
ein Heinrich Seuse — und aus diesen
dunklen Ahnungen einer übersinn-
lichen Welt trank Luther den Mut,
mit Hammerschlägen an der Witten-
berger Schlosskirche einer neuen Zeit
Beginn anzukündigen.
Der Herausgeber dieser Texte hat
nur zu recht, wenn er meint, dass
„der Sammelnamen der deutschen
Mystik heute mehr Gefühlswertung
als Begriffsumgrenzung" geworden
ist — und dem Gebildeten, der keine
SpezialStudien getrieben hat, war
jene Welt sprachlicher und dichteri-
scher Schönheiten, die in einem
Angelus Silesius ihren feinsten und
poetischsten Vertreter findet, kaum
bekannt.
Gerade diese Ausgabe, die sich
durch eine, verstänisvolle Auswahl
der Texte, durch sinnige Anordnung
und wissenschaftliche Noten aus-
zeichnet, ist das gegebene Einfüh-
rungsbuch in diese krause Wunder-
welt; dieses Werk schließt sich den
anderen im gleichen Verlage erschie-
nenen Veröffentlichungen über die
deutsche Mystik in Ausstattung und
Inhalt würdig an.
502
^OK>
NEUE BÜCHER
*OK>
Vor allem kommt Meister Ecke-
hart in dieser Ausgabe zu Worte und
es deutet auf ein äußerst feines Ver-
ständnis für die Mystik hin, dass der
Herausgeber gerade diesen Klassiker
der Mystik zum Führer in sein bun-
tes Reich erwählte.
SALOMON D. STEINBERG
*
MORGENLÄNDISCHE ERZÄH-
LUNGEN (Palmblätter) nach den von
S. G. Herder und A. J. Liebeskind
besorgten Ausgabe neu herausge-
geben von Hermann Hesse. Insel-
verlag, Leinenband 4 Mk., in Leder
5 Mk.
Dem Versuch, die Palmblätter in
einer von dichterischen Grundsätzen
geleiteten Auswahl von neuem zu
einem Volks- und Jugendbuch zu
machen, ist der beste Erfolg zu wün-
schen, denn noch heute gilt, was
Herder in seiner prächtigen Vorrede
sagt, dass für die Jugend das Wunder-
bare und das Außerordentliche eine
außerordentliche und besondere An-
ziehungskraft besitzen. Die Erzäh-
lungen dieser Tausendundeine Nacht
für die Jugend sind dem Ideale der
Herderschen Zeit entsprechend ent-
schieden moralisch, aber mit Berech-
tigung sagt Hesse: „Wir haben heute
keine solche Moral mehr, doch sehe
ich darin keinen Grund, die schöne
Gebärde zu missachten, mit der
Liebeskind diese Geschichten erzählt
hat." Es sind zum Teil Meisterstücke
einer kukivierten Erzählerkunst und
so liest man sich mit heller Freude
in das entzückend ausgestattete Bänd-
chen hinein, das wohl bejahrt, aber
nicht alt geworden ist seit der Zeit
seines ersten Erscheinens, blösch
»
Einen vorzüglich zusammenge-
stellten Überblick über eine zehn-
jährige Verlegertätigkeit bietet der
Verlag R. Piper & Co. in München
mit seinem Almanach 1904—1914.
Die nahezu 300 Seiten enthalten nicht
nur einen Katalog, sondern eine Aus-
wahl von Kostproben literarischen
und künstlerischen Inhalts, ein außer-
ordentlich interessantes Bilderma-
terial, die einen Begriff geben von
der besonders in künstlerischer Be-
ziehung so eingreifenden Bedeutung
dieses Verlages für den Werdegang
unserer modernen und modernsten
Kunst. BLÖSCH
*
Die Zeit der möglichst billigen und
möglichst vollständigen Klassiker-
Ausgaben ist etwas vorbei, man kam
zu der Einsicht, dass solche Gesamt-
ausgaben wohl eine Notwendigkeit
sind, aber mehr dem Forscher als
dem lesenden Publikum zurecht ge-
macht werden müssen. Ein präch-
tiges Büchergestell, das man samt
einer wohlassortierten Klassiker-
bibliothek ins Haus geliefert be-
kommt, gilt heute mehr als Ge-
schmacklosigkeit denn als Bildungs-
ausweis. Mehr Anklang finden heute
die Sammlungen von Einzelwerken,
die in möglichst vornehmer Ausstat-
tung den Leser zum Kaufe reizen.
Ulstein ist Trumpf und wenn auch
alle über ihn herfallen, möchte ich
seine Bändchen doch nicht missen,
denn ihnen verdanken wir eine ganze
Reihe von literarisch wertvollen Ver-
lagsunternehmen, die Ulsteins Kon-
kurrenz zu Anstrengungen zwingt,
an denen wir unsre Freude haben
können. Eines der besten derartigen
Unternehmen ist die Bibliothek der
Romane, die der Inselverlag heraus-
gibt. Bekannte und unbekannte Ro-
mane aller Zeiten in vornehmer Aus-
stattung, wie man sie aus diesem
Verlag als selbstverständlich voraus-
setzen darf. Der Erfolg der 20 zwei
Markbände, die eine Auswahl wert-
503
NEUE BUCHER
«OK>
vollster literarischer Dokumente bil-
det, rief einem neuen Unternehmen,
den drei Markbänden, in denen vor
allem auch modernere und ausländi-
sche Romane erscheinen. Die bisher
erschienenen 29 Bände bilden eine
Auswahl, die neben Bekanntem, das
man gern in so vorzüglicher Aus-
stattung sich zu eigen macht, auch
vieles bringen, das bisher schwer
zugänglich war. Unter den neuesten
erschienenen Bänden heben wir vor
a\\emStendha\s Rot und Schwarz her-
vor, diesen wundervollen Roman eines
der größten Geister der Weltliteratur.
Auch Charles Lealsfield, des sonder-
baren literarischen Irrsterns Kajüten-
buch nimmt man gern in solcher
Ausgabe zur Hand, in der es viel
moderner und bedeutsamer wirkt als
in dem Reklambändchen, auf das
man bisher angewiesen war. Das
selbe gilt iürTo\sto\s Anna Karenina
und für Jean Pauls Titan. Die Samm-
lung sei allen warm empfohlen, die
nicht schon daraus ihre Auswahl ge-
troffen haben. blösch
EDUARD FUCHS und ALFRED
KIND. Die Wsiberherrschaß in der
Geschichte der Menschheit. Verlag
von Albert Langen in München.
Die innersten und geheimsten
Gefühle des Menschen richtig ken-
nen und auch begreifen zu lernen,
ist nicht leicht, denn alte Vorurteile,
durch Erziehung und Mode geschaf-
fene Anschauungen stellen objekti-
ven Studien große Hindernisse in den
Weg. Eine äußerst interessant ge-
schriebene Arbeit liefern hier :der in
Kultur- und Sittengeschichte bewan-
derte Eduard Fuchs und der durch
seine psychologischen Studien be-
kannte Alfred Kind.
In klarer und anschaulicher Spra-
che gibt Alfred Kind eine psycho-
logische Auseinandersetzung über
den Sexualcharakter des Weibes. Er
beweist, wie schon seit langem sich
die Frau gegen die Unterwürfigkeit
sträubt, wie alt schon die Emanzi-
pitationsbewegung ist, wie aber die
Frau auf der andern Seite eine tief-
gehende Herrschaft über den Mann
ausübt, wie sie es immer verstanden
hat, ihren Partner mit ihren Reizen
auf sexuelle Art zu besiegen und
sich auf diesem Gebiete die Herr-
schaft zu erringen. Die verschiedenen
Äußerungen des weiblichen Herr-
schergelüstes, die mannigfaltigen Ab-
und Ausartungen werden in tiefge-
henden psychologischen Untersuch-
ungen dargestellt, ergründet und er-
klärt.
Vorzügliche Abbildungen ergänzen
den Text. Nur einem so ausgezeich-
neten Kenner der Sitten- und Kul-
turgeschichte wie Eduard Fuchs war
es möglich, einen so reichen und
trefflich ausgewählten Bilderschmuck,
der als wertvollste Ergänzung und
als wichtiger Beleg dient, aus den
verschiedenen Zeitaltern auftreiben
zu können. Seine interessanten Werke
über karikaturische und erotische
Kunst hatten ihn schon früher ge-
nügsam mit diesem Thema vertraut
gemacht. Dass eine rein objektive,
das psychologische Moment in den
Vordergrund stellende Behandlung
dieses Themas ein wirkliches Bedürf-
nis ist, wird jedem Kenner klar sein.
Denn gerade in diesen Fragen, die
doch eigentlich das Innerste eines
jeden Menschen betreffen, herrscht
eine große Unwissenheit ; eine oft ver-
schrobene Erziehung, falsche Scheu,
das Unvermögen, das Natürlichste
natürlich aufzufassen haben uns oft
schon auf große Abwege geführt;
um so größer ist das Verdienst dieser
beiden Forscher, den Kampf mit
einer oft schädigenden Unwissen-
504
NEUE BUCHER
heit aufgenommen zu haben. Dass
auch diese Gelehrten, die mit ihren
Studien neue Bahnen gesucht und
erfolgreich betreten haben, durch ihre
Neuerungen und durch ihre freiere
Anschauungsweise die Zustimmung
nicht Aller ernten, wird sie nicht ab-
halten, auf dem von ihnen als gut
empfundenen Wege weiter zu gehen.
Und dass diese beiden Autoren
den Mut haben, die Wahrheit zu
sagen, wenn sie auch in vielen Ohren
unangenehm erklingen wird, er-
höht den Wert dieser Studien. Dass
der Verlag von Albert Langen in
München bestrebt ist, nur das Beste
zu bieten, bedarf keiner weiteren
Versicherung. f. schwerz
a
a
Q
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BILDENDE KUNST
D
□
D
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KUNSTHAUS ZÜRICH. Es ist
keine Kleinigkeit, über die zwei-
hundert Bilder, Studien, Lithogra-
phien und Plastiken Cuno Amiets
zu schreiben, die bis Ende dieses
Monats hier ausgestellt sind und die
ein Wirken von mehr als zwanzig
Jahren umfassen. Was bei Ferdinand
Hodler so leicht und so dankbar
wäre: [eine Entwicklungslinie festzu-
stellen, wird mir bei Amiet schwer-
lich je gelingen ; ich glaube, es wäre
leichter, über diesen äußerst sen-
sibeln, von den Stimmungen des
Tages abhängigen Künstler einen Ro-
man zu schreiben als eine Mono-
graphie. Es sind ganz wenige unter
diesen zweihundert Werken, die man
auch nur annährend auf ein bestimm-
tes Jahr festlegen könnte.
Selten, leider selten bekommt man
Zeichnungen von Amiet zu sehen.
Denn er ist ein verblüffend guter
Zeichner, nicht nur für das Gegen-
ständliche, sondern auch für das Ge-
fühl, das seinen Stift leitet. Aber so
fein differenziert dieses Gefühl auch
ist, oder vielleicht gerade deswegen:
ein persönlicher Stil ist in seinem
Ausdruck nicht aufzufinden: wären
die Blätter nicht signiert, auf hundert
andere Künstler würde man raten,
bevor man auf Amiet verfiele. Und
nicht selten wirkt der als wilder
Neuerer verschrieene Künstler hier
fast allzu brav, wie ein guter Schüler;
namentlich in einigen Kinder- und
Frauenköpfen. Sein glänzendes Ta-
lent zeigt sich aber wieder in rasch
hingeworfenen Pinzelzeichnungen, die
die Sensibilität des Künstlers, unver-
fälscht durch lange Arbeit, zum Aus-
druck bringen.
Aus den Zeichnungen Amiets lei-
tet sich seine hochstehende Porträt-
kunst her, die er leider allzu selten
betätigt. Das Bildnis von Giovanni
Giacometti ist trotz der merkwürdig
trüben Farbe ein prächtiges Stück;
einige Selbstbildnisse nicht minder,
obwohl gerade bei diesen Amiets
Hang zum Experimentieren stark
zum Ausdruck kommt. Und von küh-
ner Sicherheit sind seine Kinderakte.
So wenig persönlich die Zeich-
nungen Amiets sind, so sehr ist es
seine Farbenwelt; und daran ändert
nichts, dass er keine Art des Pinsel-
auftrags und der Malweise unversucht
ließ, dass er seine Harmonien mehr
nach festem Plan als nach der Im-
pression, die ihm die Natur gab, zu-
sammenstellte. Ob er nun nach dem
Fortissimo der Sonnenglut wie in
seinen Gärten oder nach dem wei-
chen Piano perlmuttrig duftiger Win-
termorgen strebte, es ist immer ein
kraftvoller Vortrag in seinen Bildern.
505
«ora
BILDENDE KUNST
»OK>
Und auch das Gegenständliche ist mit
Ausnahme eines undeutbaren Gar-
tenstücks aus der ailerjüngsten Zeit
stets klar wiedergegeben.
Dass er an den Wandbildern für
die Loggia im Kunsthaus fleißig ge-
arbeitet hat, beweisen die vielen Stu-
dien und selbst Plastiken, die Amiet
dafür machte. Vielleicht würde ich
mich mit dem Ergebnis besser ab-
finden, wenn ich eine entsprechend
lange Einfühiungsarbeit hinter mir
hätte; heute erscheint mir der Zwei-
klang rot-gelb für die große Fläche
und für die beabsichtigte Monumen-
talwirkung zu mager, und die Akte,
so gut sie an und für sich sind,
kommen mir akademisch und kraft-
los vor, mehr vergrößert als groß.
Wie mir denn überhaupt die Werke
Amiets um so besser gefallen, je
kleiner ihr Format ist und je mehr
sie das Ergebnis einer Gefühlsüber-
tragung und nicht einer Verstandes-
arbeit sind.
Allerdings dürfte man über .^miet
nur Trompetenstöße der Begeiste-
rung erschallen lassen — ihm selber
würde das wohl kaum gefallen —
wollte man ihn mit Carlo Böcklin
vergleichen, von dem elf Bilder ne-
benan ausgestellt sind. Nicht ein
freundliches Wort wüsste ich dem
Sohn Arnold Böcklins über seine Wer-
ke zu sagen, so gerne ich auch möchte.
Hier bleibt dem Kritiker überhaupt
nichts zu sagen übrig. Riguarda e
passa! albert baur
D D
MITTEILUNGEN
n D
DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS (S.E.S.)
COMMUNICATIONS DELASOCIETE DES ECRIVAINS SUISSES (S.E.S.)
Sonntag den 11. Januar hielt der
vollständig anwesende Vorstand Sitz-
ung in Zürch. Man beschloss, in An-
betracht brennender Fragen, die dies-
jährige Generalversammlung mög-
lichst bald abzuhalten und hat dazu
den 15. Februar in Aussicht genom-
men, und als Versammlungsort Zü-
rich, da erfahrungsgemäß Zusam-
menkünfte schweizerischer Vereine
hier die beste Frequenz zeigen. Der
Vorsitzende und der Schriftführer
wurden beauftragt, ein Programm
auszuarbeiten.
Der Generalversammlung soll vor-
gelegt werden ein Antrag auf Ab-
änderung der Statuten, dahingehend,
dass die ordentliche Mitgliederschaft
in besondern Fällen auch in der
Schweiz lebenden Schriftstellern nicht-
schweizerischer Nationalität verliehen
werden kann.
Die Generalversammlung soll fer-
ner über die prinzipielle Stellung
des S. E. S. zum Schutzverband
schweizerischer Schriftsteller ent-
scheiden.
Ernst Zahn hat die ihm vom
„Schutzverband Schweiz. Schriftstel-
ler" angetragene Ehrenmitgliedschaft
abgelehnt.
Als ordentliche Mitglieder wurden
aufgenommen: Simon Gfeller, Egg
bei Grünenmatt im Emmenthal;
Adolf Keller, Pfarrer am St. Peter,
Peterhofstatt 6, Zürich.
Urheberrecht (Fortsetzung). Laut
Art. 31 des zweiten Vorentwurfs ist
vorgesehen, dass der öffentliche Vor-
trag sowie öffentliche Vorführung
oder Aufführung eines Werkes zu
wohltätigen Zwecken auch ohne Er-
laubnis des Verfassers statthaft sein
soll. Also auch hier Expropriation!
506
K>ra MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS roro
Die schweizerischen Schriftsteller,
obwohl selbst häufig in Notlage,
haben sich von jeher willig und frei-
willig so oft in den Dienst gemein-
nütziger Bestrebungen gestellt, dass
ihnen gegenüber eine solche zwangs-
weise Vergewaltigung und Nötigung
zur Wohltätigkeit wahrhaftig unan-
gebracht erscheint! So gut wie ein
jeder, den man zu wohltätigen Ver-
anstaltungen um Überlassung von
Räumlichkeiten, Waren, Dekoratio-
nen usw. angeht, darf auch der
Schriftsteller befragt werden. Wir
glauben versichern zu können, dass
die Autoren, sobald sie würdig be-
grüßt werden, sich gerne zu weit-
gehendem Entgegenkommen bereit
zeigen werden, ja, wir raten unsern
Mitgliedern ausdrücklich dazu. Wenn
wir aber auch in diesem Punkt auf
dem Rechtsschutz bestehen, so ge-
schieht es, um gegen allfälligen Miss-
brauch geschützt zu sein, und nicht
minder aus prinzipiellen Gründen.
Ganz das selbe gilt gegenüber
Publikationen zu Schul- und Lehr-
zwecken. Der schweizerische Autor
wird es im allgemeinen gewiss mit
Freude und Stolz begrüßen, wenn
seine Geisteserzeugnisse schon zu
seinen Lebzeiten der Schuljugend in
ihrem Lehrmaterial geboten werden;
das bedeutet eine Wirkung auf breite
Schichten der Bevölkerung, und vor
allem auf die aufnahms- und bild-
ungsfähigsten. Auch hier raten wir
zu einer Liberalität, die gewiss im
Interesse des Autors selber liegt.
Aber er soll doch von Fall zu Fall
entscheiden dürfen, ob er seine Werke
dem jungen Volk schenken oder ge-
gen eine Vergütung bieten will. Es
ist nämlich kaum zu glauben, was
unter der Flagge „für den Schulge-
brauch" in den letzten Jahren den
Schriftstellern gestohlen worden ist.
Literarhistoriker, Lehrer und Schul-
vorstände veranstalten Anthologien,
Sonderausgaben von Novellen etc.,
verbrämen die Werke der Verfasser
mit ein paar kritischen oder belehr-
enden Bemerkungen, falls sie nicht
zum Überfluss noch die Texte aus
vermeintlich pädagogischen Gründen
willkürlich verändern, und ernten oft
mühelos den klingenden Lohn für
die geistige Arbeit eines andern.
Durch diese Erzeugnisse wird oft
der Verkauf der eigentlichen Schriften
des Verfassers übel beeinträchtigt.
Wir weisen darauf hin, dass zum
Beispiel Italien solche Einschränk-
ungen des Autorrechts nicht kennt,
wie sie bei uns bestehen und in
Art. 23 des zweiten Vorentwurfs für
das neue Gesetz wieder vorgesehen
sind, weil man dort zu gut weiß,
wie häufig es den Herausgebern
solcher Sammlungen nicht im ge-
ringsten um die Jugendbildung, son-
dern nur um den eigenen Beutel zu
tun ist, und wie oft Gemeinnützig-
keit und Schulfreundlichkeit das
Mäntelchen für Verlegerspekulationen
sind. Auch Frankreich schützt in
diesen Punkten den Verfasser be-
deutend besser, und in Deutschland
besteht wenigstens die Pflicht der
Befragung des noch lebenden Ver-
fassers. Demgemäß dürfen gewisse
in der Schweiz publizierte Samm-
lungen, falls sie die Werke fremd-
ländischer Autoren aufnehmen, nicht
einmal über unsere Grenze ausge-
führt werden. Man schütte uns also
gegen den Nachdruck in Anthologien
und Sammlungen für den Schulge-
brauch. (Schluss folgt.)
*
Dimanche 11 janvier, le comite
au complet a tenu une seance ä
Zürich. Considerant qu'il y a des
questions urgentes ä regier, il a ete
decide de convoquer l'asscmblee ge-
nerale dans le plus bref delai possi-
507
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS ««>
ble. Le comite a en vue, comme
date, le 15 fevrier et comme lieu de
reunion Zürich, parce que l'expe-
rience a montre que c'est dans cette
ville que les assemblees de ce genre
sont le plus frequentees. Le Presi-
dent et le secretaire ont ete charges
de preparer un programme.
Le comite proposera ä l'Assem-
blee generale de modifier les Statuts
pour permettre de nommer, dans
certains cas, membres ordinaires des
ecrivains etrangers domicilies en
Suisse, mais n'ayant pas la natio-
nalite suisse.
L'assemblee generale devra ega-
lement se prononcer sur la position
que la S. E. S. doit prendre vis-ä-
vis de la Societe qui porte le titre
de Schutzverband schweizerischer
Schriftsteller.
M. Ernest Zahn a refuse la qua-
lite de membre d'honneur du Schutz-
verband schweizerischer Schriftstel-
ler qui lui avait ete Offerte par cette
societe.
Ont ete re?us comme membres
ordinaires: M. Simon Gfeller, Egg
pres Grunenmatt, Emmenthal;
M. Adolphe Keller, pasteur de la
paroisse de St. Pierre, [Peterhof-
statt 6,] Zürich.
(La suite de la version de Proprietä in-
tellectuelle au prochain numero).
D D
TAGEBUCH
□ D
n a
VON DER ERZIEHUNG ZUR
SPARSAMKEIT
Am 8. Dezember sprach im Na-
tionalrat Herr C. Chr. Burckhardt
über das Sparen, und was er aus-
führte, ist wohl wert, im Auszuge
in einer Zeitschrift festgehalten zu
werden, wo man es jederzeit leicht
nachsehen kann:
Ich habe versucht, eine Zusam-
menstellung von literarischen An-
schaffungen von Bundesbeamtungen
zu machen, bin mir aber vollkom-
men klar, dass sie ungenügend ist.
Nach meinen Schätzungen belaufen
sich diese Ausgaben auf weit über
100,000 Franken im Jahr.
Das erste, was mir aufgefallen
ist, nicht sowohl im Budget, als bei
meinem Gang durch die verschie-
denen Bureaux der Bundesverwal-
tung, das ist die ungeheure Masse
von Zeitungen, die gehalten werden.
Unsereiner, so ein unglücklicher Po-
litiker, muss ja Zeitungen lesen; das
gehört zu seinem Metier. Aber was
in allei Welt hat der Verwaltungs-
mann mit einem Haufen von Zei-
tungen zu tun? Wie ich an mein De-
partement kam, bestand meine erste
Tat darin, sämtliche Zeitungen ab-
zuschaffen. Warum ? Weil die An-
gestellten Zeitungen lasen statt zu
arbeiten. Ich sagte den Herren:
Zeitungen lesen können Sie abends,
wenn Sie ausgehen. Zeitungen auf
Bureaux zu halten, ist eine direkte
Demoralisierung des Bureauperso-
nals. Und nun halten in Bern allein
die Verwaltungen des Bundes 360
Zeitungen und Zeitschriften, wovon
324 bei der Post abonniert sind.
Den direkten Abonnenten habe ich
nicht vollständig nachgehen können.
Aber es ist doch immerhin eine re-
spektable Summe, wenn über 6600
Franken allein für Zeitungen und
Zeitschriften ausgegeben werden.
Und zudem herrscht bei diesen Zeit-
ungsanschaffungen die Systemlosig-
keit desjenigen, der mit den Talern
im Sacke klimpert und dem es gleich-
gültig ist, ob er ein paar Fünfliber
mehr oder weniger ausgibt.
508
TAGEBUCH
fOK>
Noch bedenklicher sind die Zu-
stände in Bezug auf die Bücheran-
schaffungen. Ich habe den Eindruck:
wenn irgendeiner der Herren Lust
hat, ein Buch zu lesen, so lässt er
es von der Zentralbibliothek an-
schaffen. Ich habe in den Katalogen
bei flüchtigem Durchgehen äußerst
instruktive und merkwürdige Dinge
gefunden.
Was hat es mit den Bedürfnissen
der eidgenössischen Verwaltung zu
tun, dass Juliette Adam ihre Souve-
nirs geschrieben hat? Müssen die
angeschafft werden? Warum die
Bücher von Maurice Barres? Wa-
rum Romane von Rene Bazin? Wa-
rum ein Werk über Charlotte v. Stein ?
Warum auf portugiesisch die mehr
berühmten als wahrscheinlich gele-
senen Ltts/arf^/z von Camoens? Dass
eine brasilianische Übersetzung von
Dantes Divina Comedia vorhanden
ist, scheint mir für keines der De-
partemente von großem Nutzen zu
sein. Die Werke von Eichendorff
mögen für einen Literarhistoriker
und poetisch denkenden Menschen
sehr interessant sein; sie gehören
aber so wenig in die Zentralbiblio-
thek als die Werke von Otto Ernst
und die Romane von Federer und
Fogazzaro. An Anatole Frances ILe
des Pingouins wollen wir Schweizer
uns, glaube ich, nicht gerade ein
Muster nehmen; zu diesem bittern
Pessimismus und zu dieser Verspot-
tung des eigenen Landes sind wir
glücklicherweise noch nicht fortge-
schritten. Ich willl nichts dagegen
sagen, dass man Hesse anschafft —
man kann die schweizerische Lite-
ratur unterstützen — aber was sol-
len in dieser Bibliothek der Eidge-
nossenschaft die Erinnerungen der
Gräfin Ilka Krimsky und warum
schaffen wir Republikaner König-
liche Hoheit von Thomas Mann an?
Die philologischen Schriften von
Mommsen zieren gewiss eine Uni-
versitätsbibliothek; aber was sie mit
unserer Bibliothek zu tun haben,
verstehen wir ebenso wenig als das
Buch von Ratcliffe Sebastopol, Villa-
franca oder die Kabinette und ihre
Revolutionen, offenbar ein ziem-
licher Schauerroman. So könnte ich
stundenlang fortfahren. Ich könnte
Ihnen sagen, dass sämtliche Bädeker
hier vorhanden sind — es wäre
besser nicht so viel in die Ferne zu
schweifen, sondern hier bei der Ar-
beit sitzen zu bleiben — , dass die
Reisebeschreibungen Von Peking
nach Paris im Auto vorhanden ist.
Nicht hierher gehört auch des be-
rühmten Delitzsch Handel und Wan-
del in Altbabylonien, aus dem un-
sere verehrten Wirtschaftspolitiker,
die Herren Alfred Frey und Jäggi,
kaum sehr viel werden lernen können.
Der rumänische Roman Domprava
der Heiduk mag in den Zeitläuften
der Balkankrieges Interesse gehabt
haben; er ist aber schon vor dem
Kriege angeschafft worden ! Und,
meine Herren, um eins möchte ich
bitten, wenn Romane angeschafft wer-
den, schaffen Sie sie in der Original-
sprache an. Les Trongons du glaive
der beiden Margueritte könnte jeder
französisch lesen.
Das andere Paradigma, sind die
Taggelder und Reiseentschädigungen
für unsere Kommissionen. Wir ha-
ben im Budget immerhin eine Zahl,
die sich hören lässt, 110000 dafür
eingestellt.
Wir bessern das ungenügende
Taggeld mit der Reiseentschädigung
auf, indem wir unsere Kommissions-
sitzungen in unvernünftigem Maße
auswärts, . in großer Ferne, anbe-
raumen. Es ist ja klar, dass man in
gewissen Fällen auswärts gehen muss
(Waffenplatz Bülach, Jura-Neuchä-
509
*OK>
TAGEBUCH
K>K>
telois, Verbauung des Laveggio-
baches; Korrektion der Reuß). Aber
was hat die Organisation der Bundes-
verwaltung mit Brunnen zu tun,
außer dass Brunnen ein sehr schö-
ner Ort ist? Was hat die Über-
tragung der Strafkompetenzen ans
Bundesgericht mit Vitznau zu tun ?
Sollte Vitznau etwa aus historischen
Gründen gewählt worden sein, weil
es im Mittelalter eine besondere Ge-
richtsbarkeit hatte und dort die Bett-
ler zusammenzukommen pflegten ?i)
Es ist auch nicht ganz verständlich,
warum man den Geschäftsbericht
der S. B. B. in Brig und in Vallorbe
besprechen muss, wenn ich auch
begreife, dass man sich gerne den
zweiten Simplontunnel anschaut. So
hat die Militärversicherungskommis-
sion in Brunnen getagt und unsere
Automobiikommission — ich war
auch dabei ; ich schlage immer an die
eigene Brust, wenn ich über diese
Dinge spreche — in Montreux.
Am meisten aufgefallen ist mir
unsere Naturschutzkomission. Sie
hat mit der ständerätlichen zusam-
men den Nationalpark in Augen-
schein genommen und dazu, sage
und schreibe sechs Tage gebraucht,
und ich fürchte, bei dem Augenschein
ist noch recht wenig herausgekom-
men. Denn ich habe von einem sehr
verehrten Mitglied eine freundliche
Karte von dort erhalten, die lautete:
„Wir stecken im Schnee und frieren
und können nicht in den National-
park gelangen." Also ein bisschen
wie Moses, der nur von ferne das
gelobte Land schauen durfte. Diese
sechs Tage haben die Eidgenossen-
schaft an Taggeldern und Reiseent-
schädigungen nur für die Kommis-
sionsmitglieder über 4200 Franken
gekostet! Wenn doch diese Summe
') Das geschah zwar in Gersau und nicht
in Vitznau. Schad um den Witz. D. R.
dem Naturschutz zugewendet wor-
den wäre! Ich glaube, die Kom-
mission hätte ganz gut in Bern über
einer Karte tagen können.
Ein anderes Beispiel ist das Kon-
zessionsgesuch eines Bähnchens bei
Montreux. Diese Kommission hat
drei Tage in Siders und in Sitten
gesessen und allein an Taggeldern
und Reiseentschädigung 2413 Fran-
ken gekostet.
Und es ist etwas Gefährliches bei
diesen Sitzungen auswärts. Man
kommt immer und immer wieder in
den Fall, dass man eingeladen wird,
sehr oft von Interessenten eingela-
den wird. Wir haben in Basel ein-
mal die Kommission für die Rhein-
schiffahrt eingeladen und Herr Kol-
lege Wullschleger sagte den Herren,
wir hätten uns ein bisschen geniert
und uns gefragt, ob die Herren nicht
glaubten, wir suchten sie zu be-
stechen. Herr Kollege Secretan, der
Präsident der Kommission, antwor-
tete: „Avec le vin que vous nous of-
frez, vous ne sauriez jamais nous
corrompre'\
Was ich vorhin gesagt habe von
einer gewissen Lebenshaltung, die
man sich angewöhnt, zeigt sich auch
in anderen Dingen. Man fährt Auto-
mobil, wo man Eisenbahn fahren
könnte. Ist es notwendig, dass man,
um das Zeughaus in Lyss zu inspi-
zieren, das Automobil nimmt? Gibt
es nicht eine Bahn, die nach Lyss
führt?
Aber wenn das nun alles wäre!
Ich will einen Fall nur andeuten und
nicht ausführen. Aber ich muss ihn
andeuten. Wenn man herumreist,
sollte man wenigstens aus seinen
Taggeldern bezahlen. Ich habe in
dieser Beziehung ein sehr gutes
Beispiel gefunden und ich habe mit
großer Freude gesehen, mit wie
fester Hand der Vorsteher des Fi-
510
TAGEBUCH
«0*0
nanzdepartements dem Gelüste, nicht
zu zahlen, sondern die Kosten dem
Bunde anzuhängen, Einhalt geboten
hat.
Ich glaube, wir wollen in dieser
Beziehung einen Appell an den
Bundesrat richten und ihn bitten,
uns zu helfen, dass nicht mehr so
viel unnütz gekauft wird und nicht
mehr so viel gereist wird. Wir wol-
len aber auch einen Appell an uns
selber richten: Wir wollen nicht im-
mer nur vom Sparen reden, sondern
uns selber daran betätigen, speziell,
indem wir kürzere Kommissions-
sitzungen abhalten, sie öfter wäh-
rend der Session und möglichst in
Bern abhalten.
HERR BLEIBTREU ALS BESCHÜTZER DER SCHRIFTSTELLER
Im November 1912 wurde ein
Schweizerischer Schriftstellerverein
(S. E. S.) gegründet, der zwar nicht
viel Lärm macht, der aber für einen
größeren Schutz des Urheberrechts
tüchtig arbeitet und bereits manches
erreicht hat. Sein Vorstand besteht
aus den Herren Zahn, Seippel, Faesi,
Morax, Bosshart, Reinhart, Frau
Matthey.
Kurz nach der Gründung dieses
Vereins wurde von Herrn Carl Bleib-
treu ein „Schutzverband schweizeri-
scher Schriftsteller" ins Leben ge-
rufen ; im Vorstand sitzen die Herren
Bleibtreu, Aellen, Steinmann.
Eine solche Art von „Kollegialität"
kommt ja auch in andern Ländern
vor; in der Schweiz vielleicht noch
häufiger als anderswo, und ist bei
uns auch besonders gefährlich. Der
vorliegende Fall ist eine Illustration
zur „Fremdenfrage".
Nun hat der Schweizerische Schrift-
stellerverein Wissen und Leben zum
offiziellen Organ gemacht; das hat
Herrn Bleibtreu zu einem kleinen
Pamphlet veranlasst, das an alle
Redaktionen und wohl noch an viele
andere Leute verschickt wurde.
Dieses Flugblatt greift nicht nur
den Schriftstellerverein an, sondern
auch Herrn F.O.Schmid, den früheren
Herausgeber der Alpen, und mich,
als Herausgeber von Wissen und
Leben.
Der S. E. S. wird wohl in einem
nächsten Hefte antworten. Was die
Alpen und Wissen und Leben betrifft,
resümiere ich zuerst die Behauptun-
gen des Herrn Bleibtreu.
1. Wissen und Leben hat (sagt
Herr Bleibtreu) den Abonnenten-
stamm und die Inserate der Alpen
übernommen, und hätte also auch
die noch lagernden, ungedruckten
Beiträge der Alpen übernehmen sollen.
2. Unser Redaktor hat sich „hart-
näckig geweigert", diese Beiträge zu
übernehmen, trotz der „verzweifelten
Bemühungen" des Herrn Dr. Blösch.
3. Wissen und Leben hätte wenig-
stens diese Beiträge bezahlen sollen.
4. Eine kurze Anfrage des Herrn
Bleibtreu hat unser Redaktor nicht
beantwortet.
Schlussresultat: ich habe mich
„in unverantwortlicher Weise gegen
wahre Schriftstellerinteressen ver-
sündigt".
Diese Behauptungen sind alle
gründlich falsch.
ad L Von den 750 Abonnenten
der Alpen sind bis jetzt 202 auf
Wissen und Leben übergegangen,
was sich aus dem Preisunterschied
und aus andern Gründen erklärt.
Von den Inseraten der Alpen hat
Rudolf Mosse kein einziges über-
nommen. Die „Vereinigung" der
beiden Zeitschriften war überhaupt
juristisch gar keine Fusion. Und ich
511
TAGEBUCH
K>K>
habe ausdrücklich erklärt, dass ich
für die Manuskripte der Alpen keine
Verpflichtung übernehme.
ad 2. Über die angeblichen „ver-
zweifeltsten Bemühungen" des Herrn
Dr. Blösch berichtet dieser in klarer
Weise auf Seite 458 dieses Heftes.
Bei Beginn seiner neuen Tätigkeit
legte Herr Dr. Blösch die Liste der
bei den Alpen liegenden Beiträge
Herrn Dr. Baur vor; ohne jede Mei-
nungsdifferenzwurden einige Beiträge
herübergenommen, andere nicht (An-
fangs Oktober 1913). Abgesehen von
Herrn Bleibtreu hat bis heute kein
einziger Autor weder bei Dr. Blösch.
noch bei Dr. Baur, noch bei mir
reklamiert.
ad. 3. Herr F. O. Schmid schreibt
mir: „Ich habe Dr. Grünau (Verleger
der Alpen) seinerzeit angewiesen, die
angenommenen Manuskripte zu be-
zahlen, soweit sie nicht von Ihnen
übernommen wurden."
ad 4. Am 1. Dezember erhielt Dr.
Baur eine kurze Anfrage, unterschrie-
ben Jos. Steinmann, in der kein ein-
ziger Fall mit Namen genannt wurde,
sondern bloss die allgemeine Frage
stand, ob er die persönliche Verant-
wortung für NichtÜbernahme von
Beiträgen tragen wolle. Auf diese
Anfrage hat Dr. Baur mit Recht nichts
geantwortet; sie ging ihn gar nichts
an; sie betraf nicht die Redaktion,
sondern den Vertrag, den ich mit
Herrn F. O. Schmid eingegangen, und
den der Vorstand von Wissen und
Leben gebilligt hat. Und mir ist nie,
weder von Herrn Bleibtreu, noch von
Herrn Jos. Steinmann, noch von ir-
gend jemandem ein Wort in dieser
Sache zugegangen.
Das Flugblatt Bleibtreu spielt auf
zwei und nur zwei Beiträge an; der
eine ist von Herrn Bleibtreu selbst
(siehe hier Seite 458); der andere,
bei den Alpen bereits im Satz be-
findliche, gehörte zur „Umschau" und
hatte somit jeden aktuellen Wert ver-
loren. Auch hat der Autor nichts
dagegen eingewendet. Hiermit sind
die Behauptungen des Flugblattes
Bleibtreu erledigt, und ich überlasse
das weitere Urteil den Lesern.
Zu meiner Versündigung gegen
die Schriftstellerinteressen füge ich
noch einige trockene Zahlen hinzu:
Das Budget von Wissen und Leben
schwankt zwischen 36,000 und 40,000
Franken; davon bekommen die Mit-
arbeiter (Redaktion nicht inbegriffen)
jedes Jahr mindestens 12,000 Fr. Aus
meiner Tasche habe ich bis jetzt un-
gefähr 120,000 Fr. bezahlt. Das habe
ich immer freudig getan, in der Über-
zeugung, gerade den jungen Schrift-
stellern und dem Vaterlande zu die-
nen. Herr Bleibtreu kommt nun mit
den Gesetzen seines deutschen Vater-
landes, um mich eines Besseren zu
belehren. Damit imponiert er mir
nicht im geringsten. Schon oft hatte
ich Lust, zu erzählen, wie gewisse
Schriftsteller die Interessen „ihres
Standes" zu wahren wissen ; die Ge-
legenheit dazu bietet mir Herr Bleib-
treu; er verkündet nämlich: „Der
Schutzverband wird den Prozess in
allen Instanzen führen, um den Be-
treffenden einen richtigeren Begriff
ihrer Pflichten zu lehren."
Zu diesem Prozess fordere ich
Herrn Bleibtreu auf. Es soll einmal
gesäubert werden. Nach den großen
Worten wird Herr Bleibtreu doch
gewiss zu großen Taten schreiten !
Oder zieht er vielleicht einer gründ-
lichen Abfuhr den Rückzug vor?
E. BOVET
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
512
^»gL^
SCHLAFLOSE NACHT
Ich kann nicht schlafen. Das Sternenlicht
Macht alle Fenster blau. Die Nacht
Schaut mir so furchtbar ins Gesicht,
Und wacht, und wacht.
Die Stunden gehen ohne Sinn
Hinab, hinweg ins andere Land,
An dessen unerforschtem Strand
Ich bald auch bin.
Morgen, morgen, da will mein Herz
Wieder leben und unbedacht
Sich erlaben an Lust und Schmerz
Bis in die Nacht!
Morgen — ach, da leb' ich nicht mehr.
Da bin ich schon drüben am bleichen Strand,
Schlummer winkt mir von ferne her,
Vom anderen Land.
HERMANN HESSE
513
EINE MANÖVERNACHT IM
HOCHGEBIRGE
Von JOHANNES JEGERLEHNER
In dem schönen Gommerdörflein Reckingen im Oberwailis
ist 7 Uhr morgens Befehlsausgabe. Die kombinierte Gebirgs-
Infanteriebrigade 9 steht in den kurzgeschorenen Matten beidseitig
der Landstraße versammelt und die Spitzen marschieren eine
Viertelstunde später ab, eine Kolonne talaufwärts, zwei Regimenter
verlassen bei Gesehenen in der Einerkolonne die Talstraße. Sie
haben den Auftrag, nördlich und südlich der Kämme des Groß
Sidelhorn (2881 m) und des Klein Sidelhorn (2766 m) gegen die
Grimsel vorzugehen und den Gegner zu schlagen. Dem Regiment
18 (Gebirgsbataillone 36 und 89) wird der längere und schwieri-
gere Weg nördlich der Kammlinie zugewiesen. Regiment 17 (Ge-
birgsbataillone 34 und 35) erhält zur Verstärkung eine Gebirgs-
Mitrailleurkompagnie. Es ist ein schöner, klarer Septembertag,
prachtvolles Walliserwetter, die Truppe erst von den über 2000
Meter hoch liegenden Alpterrassen am Aletschgletscher eingeübt
und abgehärtet heruntergestiegen und gewillt, das Beste zu leisten.
Regiment 17 ersteigt in zwei Kolonnen die Ulricher Galen,
wo mittags eine Stunde Rast gemacht und verpflegt wird. Die
Galen sind kahle, mit Geröll und dünnen Grasnarben bedeckte
Felsrippen, die sich von der Kammlinie gegen das Haupttal hin-
unterziehen, dazwischen liegen schmale, tief eingeschnittene Täler
mit steilem Gefälle und schräg einfallenden und mühsam zu er-
klimmenden Hängen, die in Wirklichkeit nicht so harmlos aus-
sehen wie auf der Karte. Um den tiefen Abstieg ins Tälchen
und die nachherige zeitraubende Kletterei zu ersparen, wird nach
Norden gegen die Hänge des Groß Sidelhorns ausgebogen, die
Gefechtsstaffeln der beiden Bataillone, die nicht mehr folgen könnten,
werden ins Tal zurückgesandt und die Pferdekolonne des Küchen-
Saumtrains, der noch weit zurück ist, erhält Befehl, ebenfalls auf
die Talstraße hinabzugehen und am nächsten Tag nach Gefechts-
abbruch auf dem Grimselpass mit warmer Verpflegung einzutreffen.
514
Die Truppe ist für den heutigen Tag und die Nacht auf den
eigenen Sack angewiesen, der reichlich mit Proviant versehen ist
und schwer auf den Schultern lastet.
Auf den schneeigen Höhen des Geschenerstockes erscheinen
schon die Achtzehner in flotter, auf dem weißen Grund sich
prachtvoll abzeichnender Einerkolonne, deren Spitze bald hinter
den schwarzen Zacken verschwindet.
In der Talsohle ringen die Emmentaler bei Ulrichen und
Obergestelen tapfer gegen den Feind. Der Kanonendonner und
die Gewehrschüsse hallen dumpf in die feierliche Stille herauf,
man hört Hallogeschrei und sieht mit bloßem Auge, wie es
Ameisen gleich den Blaswald herunterkrabbelt.
Bald stapfen auch wir, die Siebzehner, im Schnee, der rasch
metertief wird. Unsere Patrouillen und die Avantgarde-Kompagnie
haben die schwachen vorgeschobenen Postierungen des Gegners
vertrieben, und langsam aber stetig geht es vorwärts, mit einem
Bataillon hart am Kopf des Groß Sidelhorns vorbei. Die Mitrailleur-
Kompagnie, die die Geschütze und Munition auf Walliser Maul-
tieren verladen hat, folgt dicht aufgeschlossen unsern Stapfen.
Die berggewohnten Tiere marschieren mit verblüffender Sicherheit
und ohne Zeichen der Ermüdung, in der Luftlinie gemessen
trennen uns nur noch fünf Kilometer vom Totensee an der Grim-
sel, und bevor die Sonne zur Rüste geht, hoffen wir am Gegner
zu sein, doch schon treten die ersten Stockungen ein. Eine
Geröllhalde mit haushohen Blöcken und breiten Spalten und Rissen
im verharschten Schnee verlangsamt die Bewegung. Man schaut
mit Entzücken in das tiefblaue Auge des Ulrichsees und der zwei
andern kleinen Bergseen hinunter, die in der weißen Umrahmung,
noch gestreift von den goldenen Strahlen der Fünfuhrsonne, im
schönsten Farbenspiel leuchten. Das Bataillon rechts und die
Maschinengewehr-Kompagnie nehmen Richtung Tittersee-Totensee,
wir gehen mit der Kolonne links und schlagen uns nördlich am
Klein Sidelhorn durch. Die Sonne ist hinabgetaucht, der Schnee
knarrt, Stöcke und Pickel kreischen, die apern Täler des Oberaar-
und des Unteraargletschers versinken in schwarzes Dunkel. Nur
auf den Höhen liegt noch das Licht, „das große stille Leuchten",
und es scheint, als ob es über den Gipfeln nie Nacht werden
515
könnte. Der Gegner, der sich aus seiner Stellung herausmanövriert
sah, hat sich gegen die Qrimsel zurückgezogen. Mit kundigen
Führern an der Spitze windet sich unsere Kolonne auf einem
unendlich langen Schräghang vorwärts, Mann hinter Mann. Kohl-
schwarze Schatten steigen aus den Tälern auf, der helle, warme
Herbsttag ist fast plötzlich zur kalten Winternacht geworden. Die
Füße greifen unsicher aus, gleiten über glitschige, im Schnee ver-
borgene Felsblöcke, man torkelt durch den kaum noch sichtbaren
Treib, purzelt, spuckt den Schnee aus, reibt die Hände und stapft
mechanisch dem Vordermanne nach.
„Spitze langsam," schallt und rollt der Ruf von Mann zu Mann
und bald hernach „Spitzehalten." Wir warten und warten im Blasen
des eisigen Nords. „Anfragen, ob aufgeschlossen !" „Noch nicht auf-
geschlossen," erschallt die Antwort. Eine einzige heikleStelle verzögert
den Marsch der kilometerlangen Kolonne um eine halbe Stunde.
Endlich ertönt das erlösende Wort „aufgeschlossen". Noch zwei,
drei solche Stellen sind zu überwinden und zu erdauern, 8 Uhr,
9 Uhr, 10 Uhr ist vorüber und immer noch krabbeln wir bergauf
und ab in den zerklüfteten Felsen des Klein Sidelhorns. Man
muss jetzt auf jeden Schritt acht geben. Der Schein der Laternen
täuscht und bringt die Leute ins Stolpern, sie werden deshalb
wieder gelöscht. Die Lippen brennen. Ein Schluck warmen Tees,
man darf nicht daran denken, nur vorwärts, immerzu! „He,
Trompeter, ruf einmal dem Vreneli!" Der Mann gehorcht und
schmettert einen flotten Simmentalerjodler, der seltsam erklingt
in der öden nächtlichen Steinwildnis. Weit hinten schallt aus dem
Dunkel die Antwort. Pumps, rumpelt der Mann vor mir kopfüber
in den Schnee. Er greift nach der Stirne, in die ihm das Instru-
ment eine blutige Wunde geschlagen hat. Doch der Kompagnie-
arzt ist augenblicks zur Stelle, legt den Verband an und richtet
den biederen Trompeter mit einem großen Schluck Kognak, den
jeder Arzt als Medikament mitträgt, wieder auf die Beine.
Ein letzter mühsamer Aufstieg und Übergang über den Grat
und endlich, aus fast 3000 Meter Höhe, wendet sich die Spitze
nach rechts gegen die windstillen Hänge der Grimsel hinunter.
Man stolpert, taumelt und freut sich, wenn eine kleine Rutsch-
partie uns rascher vorwärts bringt, bis auf einmal der unlieb-
516
same Ruf „Spitze anhalten" den schönen Fluss der Bewe-
gung wiederum staut. Laternen schimmern uns entgegen und
wir tauschen einige Worte mit der Avantgarde-Kompagnie des
Regiments 18, die nach einem strapaziösen Marsch sich zur Näch-
tigung einrichtet. Stumm, lautlos, die Teegerüchlein der Walliser-
kompagnie in der Nase, ohne ein Wort der Unzufriedenheit,
marschieren unsere Gebirgler trippe-trapp immerzu und sind doch
seit 5 Uhr morgens mit dem lästig drückenden Sack am Rücken
auf den Beinen. Der Krieg, oho der Krieg, würde noch ganz
andere Strapazen verlangen und was im Krieg gehen soll, muss
im Frieden geübt werden. In der Tiefe schaukeln die roten Lichter
des Gegners, der an der Grimselstraße seine Vorposten aufgestellt
hat. Wir sind noch hoch über dem Totensee und steigen und
gleiten durch eine steile Felsrinne in Mulden von sanftem Gefälle,
wo man scheinbar ganz behaglich biwakieren kann, denn wir sind
erhitzt und ziemlich erschöpft und es ist 1 1 Uhr. Wir hatten in
den letzten sechs Stunden kaum vier Kilometer zurückgelegt.
Die Spitze hält an, die Kompagnien wählen ihre Plätzchen
für das Biwak, die Säcke werden abgestreift, die Scheiter losge-
schnallt, die Gamellen klirren. Neben uns liegt ein kleiner über-
eister See, der auf der Karte keinen Namen hat. Die Eispickel
hacken Löcher in die splitternde Decke, die Geschirre werden
mit Wasser gefüllt, die Feuer fressen sich in den Schnee und in
Grüpplein stehen die Soldaten um die Kochstellen und strecken
Hände und Füße nach den Flammen, die mit der Wärme unsäg-
lich geizen. Steuri Peter, der sich auch einen Platz am Feuer
erobern will, ruft laut: „im russischen Feldzug sind alle, die am
Feuer lagen, erfroren, die andern sind davongekommen!" Der
Ring tut sich auf und Steuri Peter hält seine großen, breiten Füße
lachend an die Flammen. „Und nur Rossfleisch hatten sie zu essen,"
bemerkt der Korporal, „und ich habe noch ein Kilo Saanenkäse
im Brodsack und dürre Landjäger."
„Her mit dem Fraß," schreien die Untergebenen, und der
Korporal regaliert seine Gruppe. „So ein Gebirgsmanöver ist
kein Spass, aber gleichwohl hundertmal interessanter als ein
Marsch im Staub der Landstraße. He, Bauchwehknecht, hast
noch etwas in der Flasche?"
517
„Sche-Schneewasser," stammelt der Sanitätssoldat. Er hatte
die Guxmütze so prall über das Gesicht gezogen, dass er fast
nicht reden konnte.
„So gehen wir halt trocken ins Bett, man schwitzt dann
weniger stark," sagt Steuri Peter und sucht sich seine Schlaf-
kameraden aus.
Eine kurze Zeit ist es still im Biwak, die Feuer flackern
nieder und vergluten, die Kälte dringt durch das dünne, undichte
Zelttuch und die Decke, durch Haut und Knochen; jeder Atemzug
führt einen Hauch der eisigen Luft in Brust und Lungen, die
Zehen prickeln und schmerzen. Im Augenblick steht alles wieder
auf den Füßen, einige Dickhäuter ausgenommen, und nun geistert
im Halbdunkel des Sternenlichtes das Soldatenvolk, in Tücher
und Decken gemummelt, in den Mulden und Schneefeldern herum,
hin und her, auf und ab, still, lautlos im leise knisternden Schnee,
als ob die toten Franzosen und Österreicher von anno 1799 auf-
erstanden wären. Die Sterne funkeln im wundersamen Glänze,
in den Himmel hinein ragt breit und schwarz das Nägelisgrätli,
wo der Feind, durch unsere Patrouillen fortwährend belästigt,
nicht zur Ruhe kommt und nicht um einen Kittel weniger friert
als wir. Ab und zu knallt ein Schuss und dringt der zornige
Ruf „Halt" durch die Stille. Der katholische Feldprediger, der
durch einen Zufall von seinem Pfad abgeirrt und zu unserm Re-
giment gestoßen war, trampelt seit einer Stunde dasselbe Weglein
hin und her. „265", ruft er mit seinem gesunden Bass. Das will
sagen, er habe den Weg schon 265 Mal durchlaufen. „Macht
2,6 Kilometer in der Stunde," rechnet der protestantische Feld-
prediger aus. Die Minuten schleichen dahin wie Stunden. Auf
der Furkapasshöhe sind plötzlich alle Fenster des Hotels taghell
erleuchtet, oder ist's ein Stern? Ein Stern von solcher Größe,
unmöglich. Ein Scheinwerfer kann's auch nicht sein. Wir starren
alle hin und jetzt löst sich vom schwarzen Rand die Venus und
steigt groß und leuchtend wie eine Sonne über den Paßsattel
empor. Oder ist's der Saturn? denn wir sehen deutlich einen
wagrechten Ring, wie er sonst nur dem Saturn eigen ist. Aber
diese Größe und Leuchtkraft. „Es ist die Venus," entscheidet
der protestanische Pfarrer, „und der Gürtel, der gehört eben dazu,
oder dann sind wir alle schneeblind."
518
Der Himmel ist mit glitzernden Sternen übersät, doch die
Venus überstrahlt sie alle in unerhörter Pracht und Schönheit.
Wir legen uns nochmals hin und schlüpfen zu dreien in den
Schlafsack, so eng und klebrig wie die Murmeltiere in ihren Winter-
höhlen. Mit Wehmut träumt man von den warmen Kantonnementen
auf der Riederalp und im Goms, und doch sagt keiner ein Wort
von Wein oder andern alkoholischen Getränken. Man denkt
nicht daran und vermisst sie nicht. Ein Schlücklein Kognak hätte
freilich unendlich wohlgetan, aber im ganzen Regiment ist kein
Tropfen erhältlich, denn die paar Flaschen in den Sanitätstaschen
der Ärzte sind für die Kranken bestimmt. Der Adjutant bildet
sich ein, er müsse nun schlafen und schnarcht im tiefsten Orgel-
ton. Die alten Hirtengeschichten vom Aletschgletscher gehen mir
durch die Sinne. Kopf an Kopf gedrängt leiden und frieren,
jammern und klagen die armen Seelen im Gletscher und ersehnen
das Ende ihres Purgatoriums. Die schöne Pariserin und die edle
Mailänderin trippeln mit roten Füßen, nur mit dem Hemde be-
kleidet dem Gletscher zu, um ihre Schuld zu büßen. Die Gräfin
von der Lusgen sitzt auf dem Eise und weint bitterlich, da sie
noch neun Mal bis an den Hals einfrieren soll, während ihre
Gefährtin, bis an den Hals im Eise stehend, wunderschön singt,
weil sie ihrer baldigen Erlösung entgegensieht, ich träume von
der lebenslustigen Emma, die an den Quatembertagen zum To-
tentanz zieht, von der herzguten frommen Altschmidja, die bis
in alle Nacht hinein spann und den armen Seelen die Tür offen
ließ, damit sie in die Stube hineinhuschen und sich am Ofen
erwärmen konnten. Schließlich glaubte ich selber, eine arme
Seele zu sein, bis an den Nasenzipfel im Eise steckend, und mit
einem Ruck springe ich auf, die Gefährten mitreißend, und wir
schütteln uns, pusten vor Frost und rennen wie die Narren im
Kreise herum. Die Sterne lächeln ihr kaltes, silbernes Lächeln
und die Uhr zeigt erst die zweite Morgenstunde. Neben uns läuft
der katholische Pfarrer, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, un-
ermüdlich im künstlich ausgetretenen Weg.
„So eine Nacht hat auch ihre gute Seite," erklärt der Re-
gimentsarzt. Seine Stimme klingt hoch und klapperig, wie ver-
eist. „Wenn ich wieder zu Hause bin und mich zu Tische setze,
so werde ich, auch wenn es nur Erdäpfel und magern Käse gibt
519
— he ja, der Schularzt der Bundesstadt ist halt schlecht bezahlt —
oder wenn ich mich in die warme Sofaecke setze, so werde
ich nur noch sagen gut, sehr gut und meiner Frau nie mehr
Widerreden und alles, was sie sagt, vortrefflich finden — drei
Monate lang — ja". So redet sich der Arzt den Dusel aus dem
Kopf und die wirren Häupter des Regimentsstabes nicken und
finden drei Monate sei zu wenig, man könnte ganz gut bis auf
ein Jahr gehen, dann stieben wir wieder auseinander. Patrouillen
gehen und kommen und melden, der Feind habe während der
Nacht Verstärkungen erhalten. Und wenn er dreimal so stark ist
wie wir, am Morgen greifen wir an und schlagen ihn, basta!
Am Morgen, wenn die Sonne den eisigen Grimselschnee in gelbes
Gold verwandelt, o die Sonne — die Sonne! Das Wort hat so
warmen goldenen Klang und erst drei Uhr! Wann steigt die
Sonne auf? Niemand weiß es genau. Keiner hat einen Kalender,
in dem er nachschauen kann, und wer ihn besitzt, schweigt still,
um nicht die Hände aus den Taschen nehmen zu müssen. Wenn
uns die Sonne wieder lächelt, so geht es schon auf den Heim-
weg, und in einigen Tagen ist der katholische Feldpater wieder
bei den Älplern und Ziegen seines wolkenhohen weltfernen Berg-
nestes, der protestantische Kollege weit drunten in der Großstadt
am Rhein, der Regimentsarzt bei seinen Schulkindern und der
Adjutant in seinem Geschäft und guckt vom dickgepolsterten
Sessel durch die sieben Löcher seines Regals, ob die Laden-
fräulein gut bedienen.
Noch einige solche Tage und Nächte und was das Leben
Hohes und Heiliges zu bieten hat, wäre in unsern abgestumpftei
Sinnen ausgelöscht. Mit dem größten Gleichmut würde man tot-
schießen und niederhauen, was sich uns feindselig entgegenstellt
und wenn es hieße, in zwei Stunden liegst du tot im weißen
Schnee, mit der Achsel zucken und sagen: also. Einer weni-
ger, punktum.
„Tausend", ruft in unsere weisen Betrachtungen der katho-
lische Kamerad aus seinem tiefen Graben. „In der Stunde bin
ich auf meiner Promenade 250 Mal hin und her spaziert und
jetzt ist vier Uhr. Vier mal 250 macht tausend." Er ragte nur
noch von den Hüften an aus dem Schnee und hatte in den vier
520
Stunden nach Mitternacht den flottesten Schützengraben ausge-
trampelt.
Um fünf Uhr zerkräuselte sich der Nebelstreifen über dem
Totensee und gab das tintenschwarze unheimlich düstere Spieg-
lein frei. Auf der Furkahöhe glühte der Morgen auf. Die Zacken,
Gipfel und Bergscharten zeichneten dunkle straffe Linien in den
Himmel und das Gelände vor uns zerteilte sich in schwarze
Felsen und helle Schneefelder. Am Nägelisgrätli bewegten sich
Lichter, auf der Grimselstraße tutete das Automobil der Ma-
növerleitung und die Festungskanonen der Galenhütten sandten
uns ihren eisernen Morgengruß. Der Scheinwerfer bemalte mit
seinem Lichtpinsel die Grimselhöhen, die Gewehre und Mitrail-
leusen begannen zu knattern und zu rattern und der Kampf, der
ersehnte Angriff löste die erstarrten Glieder und Sinne.
Einige Stunden später war das Manöver zu Ende. Die Kom-
pagnien defilierten auf der Grimselstraße mit leeren Mägen und
schwer beladenen Schultern, aber ohne Zeichen der Erschöpfung,
mit strammen^.Knieen und gereckten Hälsen, eine Mannschaft, die
während vierundzwanzig Stunden in schwierigem Gelände fort-
während auf den Beinen war und nach der kalten Nacht noch
einen vollen Tagesmarsch nach Meiringen zurückzulegen hatte.
Ein Soldatenvolk, gesund bis ins Mark, stark und trutzig wie die
alten Schweizer. „Mit dieser Truppe", äußerte sich ein öster-
reichischer,„Oberst, „dürften Sie ruhig ins Feld ziehen".
Während die Maultiere der Maschinengewehr^- Kompagnie
durch den Schnee des Klein Sidelhorns zur Grimsel herunter-
stapften, erklangen die Jodler der bergabziehenden Vaterländler
gegen die hell in der Sonne sprühenden Gletscherschliffe am
Hospiz. Aus der eisigen Winternacht war wiederum hell und
warm der goldene Herbsttag emporgestiegen.
521
TESSINER BANKKRACHE
Die Tessiner Bankkrache haben wegen der ungewöhnlichen
Intervention des Bundesrates eidgenössisches Aufsehen erlangt.
Nicht allein vom rein Banktechnischen soll hier gesprochen wer-
den, sondern von den Voraussetzungen, unter denen die Tessiner
Banken arbeiten. DerTessin ist wie so mancher andere Schweizer-
kanton reich, allzureich mit Banken gesegnet. Und die Konkur-
renzwirkungen sind auch im tessinischen Bankwesen für die
Aktionäre und, wenn es schlimm ausfällt, für die Gläubiger nicht
sehr erfreulich. Am unerfreulichsten am tessinischen Bankwesen
ist aber die Tatsache, dass die Politik auch vor ihm nicht Halt
macht. Wie es im Tessin radikale und konservative Musikvereine,
radikale und konservative Schützenfeste gibt, so bestehen dort
auch radikal und konservativ schillernde Bankinstitute. Als das
Bankinstitut des tessinischen Radikalismus wurde vorzugsweise die
Tessiner Banca cantonale betrachtet, während der Credito ticinese
in Locarno, der Hochburg des Ultramontanismus, selbstverständ-
h'ch auf schwarz gestimmt war. Die Misstände, die besonders
bei dieser „schwarzen" Bank vorläufig aufgedeckt wurden, schreien
zum Himmel. Es muss schon eine böse Wirtschaft bestanden
haben, dass Wertschriften, die zur bloßen Verwahrung gegeben
wurden, verschwinden konnten.
Die Tessiner Kantonalbank nannte sich zu Unrecht so; sie
ist nicht mit staatlichem Dotationskapital und kantonaler Garantie
ausgerüstet, sondern eine reine Aktienbank. Wie sie im Jahre
1861 bei der Gründung zu diesem Titel kam, darüber wissen
wohl selbst die berühmten „ältesten Leute" nicht mehr Bescheid.
Eine Bank des Kantons war die Tessiner Kantonalbank nur inso-
fern, als sie den staatlichen Kassendienst besorgte.
Wirkte die Katastrophe des Credito Ticinese wie ein Blitz
aus heiterem Himmel — Leute, die sich auf Bilanzen verstehen,,
haben freilich schon früher Anlass zur Kritik gefunden — so war
der Zusammenbruch der Tessiner Kantonalbank nicht im gleichen
Maße eine Überraschung. Man wusste, dass die Bank durch die
italienische Krisis des Jahres 1907 scharf mitgenommen worden
war. im Jahre 1913 kritisierte die Neue Zürcher Zeltung ihren
Geschäftsbericht in einer Weise, dass sich für jeden, der zwischen
522
den Zeilen zu lesen versteht, der Ernst der Lage ergeben musste.
Es wäre unter normalen Verhältnissen der Bank vielleicht mög-
lich gewesen, wieder in ein besseres Geleise zu kommen, alte
Verpflichtungen abzustoßen, ihren Status liquider zu gestalten.
Da kam das Schlimmste, was einer Bank passieren kann: eine
Vertrauenskrise, die das Kreditgebäude in Trümmer schlug. Der
Krach des Credito Ticinese, erklärte der Bankpräsident National-
rat Stoffel, hat die Hoffnung, das Institut könnte sich wieder
herausarbeiten, zu Schanden gemacht.
„La confiance c'est la source du credit, le credit meme" ; je
feinfühliger der moderne Kreditorganismus wird, desto wahrer
werden die Worte von Leon Say.
Die Tessiner Kantonalbank hat zum erstenmal im Jahre 1890
durch die „Scazziga- Affäre" ernstlich Schaden genommen. Der
Kassier Scazziga erleichterte das Institut um beinahe eine Million;
die Bank stand schon damals vor dem Zusammenbruch. Müh-
sam konnte sie sich herausarbeiten. Dann kamen von neuem
schwere Jahre; sie hatte sich allzusehr in italienische Bau- und
Terraingeschäfte eingelassen und sich beinahe unrettbar im-
mobilisiert.
Von der Krisis des Jahres 1906/1907 gingen tiefgreifende
Wirkungen auf das italienische Bankwesen aus. Carlo Ferraris
schilderte drastisch, wie die Konkurrenz den sechs das Emissions-
recht ausschließlich besitzenden Zettelbanken, welche alle Stufen
der ökonomischen Macht darstellten, zu einer übermäßigen Ver-
mehrung des Notenumlaufes geführt hat, zur Unterstützung von
Bauspekulationen in großen Städten, insbesondere in Rom und
Neapel, zur Begünstigung von künstlichen, lebensunfähigen indu-
striellen Unternehmungen und von schlecht geleiteten Kredit-
anstalten, zur Verschwendung des Geldes, um auf den Gang der
Gesetzgebung in den die Banken betreffenden Beratungen Ein-
fluss auszuüben.
Worin liegt nun das Übel der tessinischen Banken? Vor
allem in der Tatsache, dass sie im eigenen Kanton ein zu kärg-
liches Aliment finden. Dem Kanton Tessin fehlt die Industrie im
eigentlichen Sinne. Die wenigen Kleinindustrien, vielleicht mit
523
Ausnahme der Zigarrenfabrikation, liegen ungünstig hinsichtlich
des Standortes; sie sind zudem unzureichend finanziert. Einzelne
Banken, vor allem die Tessiner Kantonalbank, suchten zu einem
großen Teil ihr Arbeitsfeld in Italien ; sie fanden es um so mehr,
als in den letzten dreißig Jahren bis zur Gründung der stark mit
deutschem und schweizerischem Kapital finanzierten italienischen
Großbanken: Banca Commerciale Italiana und Credito Italiano
ein weites Betätigungsgebiet vorhanden war. Auch der Anreiz
zu Spekulationen ist gegeben ; der Credito Ticinese hat besonders
gerne an der Börse operiert. Wohl hat die tessinische Fremden-
industrie die Banktätigkeit namentlich in Lugano stark gefördert.
Wer die Entwicklung von Lugano in den letzten Jahren verfolgt
hat, musste sich fragen, ob sie nicht eine überhastete, eine zu
sprunghafte war, ob ihr die Banken nicht allzusehr durch Kredite
Vorschub geleistet haben. Es wird indessen versichert. Bedenken
dieser Art seien nicht stichhaltig, und Überraschungen von dieser
Seite so gut wie ausgeschlossen.
Die geographische Lage des Tessins bringt es also mit sich,
dass er sich wirtschaftlich mit logischer Konsequenz nach Süden
in das benachbarte Italien ausbreitet. Die Tessiner besitzen be-
deutende Kapitalien in Italien in Gebäuden und landwirtschaft-
lichen Grundstücken. Der Besitz an italienischen Wertpapieren
soll dagegen in den letzten Jahren stark zurückgegangen sein.
Das italienische Bankkapital ist bei den Tessiner Banken nicht
beteiligt; eine Ausnahme ist festzustellen bei der Banca Commerciale
Italiana, die seit einigen Jahren Großaktionär bei der Banca della
Svizzera Italiana in Lugano ist, die von den heutigen Vorgängen
nicht berührt wurde.
Die Bankintervention im Tessin bedeutet einen ersten bedeu-
tungsvollen Schritt zur Sanierung. Die Gründung einer eigent-
lichen Kantonalbank mit Staatsgarantie, wie sie aus parteipoliti-
schen und persönlichen Motiven von einflussreichen Persönlich-
keiten der Tessiner Finanz früher unmöglich gemacht wurde, wird
heute als durchaus im Interesse aller Volkskreise liegend betrachtet.
In das Pflichtenheft einer eigentlichen, nicht vermeintlichen Tessiner
Kantonalbank muss jedoch auch die intensive Pflege des land-
wirtschaftlichen Grundkredites aufgenommen werden. Diese
Kreditorganisation war bisher vollständig ungenügend ; man kann
524
sogar sagen, es geschah gar nichts. Es fehlt der Kataster, es
fehlt immer noch eine richtige Einführung des Grundbuches, was
allerdings bei der unglaublichen VerStückelung des Tessiner Kultur-
bodens ein schwieriges Ding sein wird. Derartige vitale Forde-
rungen sind durch das Kleinzeug des politischen Tageskampfes
stets in den Hintergrund gedrängt worden.
Hoffentlich wird der Kanton aus den schmerzlichen Vor-
kommnissen die Lehre ziehen, dass man nicht ungestraft sich
gegen die Gesetze einer gesunden Bankpolitik verstößt und auch
das Bankwesen nicht in politische Formeln zwingen kann. Es
wäre erfreulich, wenn die Intervention der Banken auch noch
in dieser Richtung wirken würde, dass sie einen innigeren Kontakt
zwischen tessinischen und den übrigen schweizerischen Banken
herstellt.
Die Tessiner Bankkrache sind auch eine neue ernste Mahnung
in anderer Richtung: die Gefahren, die aus der wirtschaftlichen
Isoliertheit des Tessins unserem Lande drohen, müssen unablässig
im Auge behalten werden. Ein Volk, das nicht nur kulturell,
sondern auch wirtschaftlich nach einem anderen Lande gravitiert,
muss staatspolitisch mit Vorsicht und Delikatesse angefasst werden.
Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet war das Vorgehen des
Bundesrates eine Tat.
Nach den letzten Nachrichten muss auch die Lage der Tessi-
ner Kantonalbank als höchst bedenklich bezeichnet werden. Die
Verhaftung des früheren langjährigen Direktors und nachherigen
Bankpräsidenten lässt Schlimmstes vermuten. Da bei beiden falli-
ten Instituten die Spareinlagen die größten fremden Gelder dar-
stellen, muss man leider schon jetzt von einer ernstlichen Schä-
digung weiter Volkskreise sprechen.
ZÜRICH PAUL GYGAX
DDD
525
DIE KÄMPFE UM NOVARA, 1495
EIN VORSPIEL DER ITALIENISCHEN KRIEGE
Die ausführliche Darstellung einer Episode aus der schwei-
zerischen Söldnergeschichte kann nur deren historischer Zusammen-
hang rechtfertigen: die neuere Geschichte des westlichen und süd-
lichen Europa, die am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts mit umfas-
senden territorialen Umwälzungen vor allem auf dem Boden Italiens
einsetzt, findet in den zu besprechenden Gegensätzen den Ursprung
ihrer folgenreichsten Wandlungen, und für die Eidgenossenschaft
zeigt sich als Rückwirkung ein Höhepunkt innerer Verwahrlosung;
Grund genug, auch wenig bekannten, meist nur in den allgemeinen
Zügen dargestellten Ereignissen vorübergehende Aufmerksamkeit
zu schenken und die Kräfte darin zu erkennen, die sich kurze
Zeit später in Frankreich und Italien aufs neue zum Ausdruck
rangen. Für die Eidgenossenschaft fallen diese Erscheinungen
zwar zunächst lediglich als Anzeichen innerer Auflösung in Be-
tracht; aber die selben Geschehnisse, die so die Orte und Be-
völkerungen nur vorübergehend in ihren Bannkreis zogen, setzten
anderthalb Jahrzehnte später deren dauernde Verflechtung in die
italienischen Kämpfe durch, und in den Streitigkeiten um Novara
zeigt sich zum erstenmal die Intensität dieser Fesselung. Wohl
haben die Schweizer schon vorher an den italienischen Kämpfen
teilgenommen, an Karls VIII. Eroberungszug gegen Neapel 1494,
der vorübergehend den ganzen Süden den Franzosen überlieferte;
allein die Werbung der zirka 3000 Söldner, die doch ihr Dienst-
geld gegen den ausgesprochenen Willen ihrer Obrigkeiten empfin-
gen, vermochte noch nicht die Bevölkerungen tiefer aufzuwühlen.
Dagegen ergreift bei den im Sommer 1495 im Anschluss an
Karls VIII. Zug geschehenden Werbungen eine Aufregung die
Eidgenossenschaft, die zu eigentlich elementaren Bewegungen
führte. Schon aus diesem Grund wären die Ereignisse, die sich
an Karls VIII. Rückkehr aus Neapel schlössen, der Erzählung
würdig. Zu diesem schweizergeschichtlichen Interesse tritt in-
dessen das allgemeine: die Kämpfe um Novara besitzen als Vor-
bereitung zu der wenige Jahre später erfolgten französischen Er-
oberung Mailands ihren Wert, und die enge Verknüpfung in- und
526
ausländischer Vorgänge gibt ihnen auch für die Geschichte Italiens
und Frankreichs hohe Bedeutung. Wenn das Übergreifen der
Franzosen nach den Gebieten südlich der Alpen, wie es unter
Karl VIII., Ludwig XII., Franz 1. und Heinrich II. erfolgte, von
den französischen Geschichtsschreibern meistens als verhängnis-
volle Torheit beurteilt wird, welche die nationale Entwicklung
nach falscher Richtung drängte, so gibt der Ursprung dieser Kämpfe
zwar noch nicht die Möglichkeit, eine so kurzsichtige Anschau-
ungsweise zu berichtigen. Er zeigt aber jedenfalls, dass dieses
Übergreifen nach dem Süden nicht, wie man aus den landläufigen
Darstellungen schließen müsste, durch die phantastische Laune
abenteuerlicher Könige herbeigeführt ward, sondern dass die ganzen
Zeitumstände auf die Einmischungen drängten. Es ist stets eine
missliche Sache, einer geschichtlichen Entwicklung ihre Fehler-
haftigkeit nachzuweisen. Im vorliegenden Fall übersieht der Tadel
die offenbare Tatsache, dass das Eindringen der fremden Mächte
nach dem kulturell glänzenden, aber staatlich zerrissenen und
desorganisierten Italien in jedem Fall erfolgt wäre, und dass für
Frankreich, das mit dem Abschluss des hundertjährigen Krieges
gleichsam neugeboren erscheint, die Möglichkeit kaum bestand,
sich zurückzuhalten. Die politische Notwendigkeit erscheint aber
hier wie so oft allerdings zunächst lediglich unter dem Deckmantel
fürstlicher Erbschaftsansprüche, und nur Franz I. ward das Be-
wusstsein, als französischer König einst zwischen den vereinigten
Ländern Habsburg-Spaniens eingeklemmt zu sitzen, schon vor
dem Regierungsantritt als Stimulans seiner italienischen Bestre-
bungen wahrhaft deutlich. Dem Zeitalter, in dem die Kämpfe um
Italien einsetzten, ist diese Erkenntnis noch fremd: Karl VIII.
unternimmt seinen Zug wie ein abenteuernder Kreuzfahrer und
wählt sich für seine Erbschaftsansprüche Neapel, auf das er als
Nachfolger der Anjous zwar gewisse Rechte besaß, das aber mit
seinem Stammland niemals organischen Zusammenhang gewinnen
konnte. Dem gegenüber vertraten die Ansprüche der im Vetter
des Königs, Herzog Ludwig von Orleans, personifizierten Nebenlinie
auf Mailand Interessen, die sich weit eher mit Frankreich verbinden
konnten: nach seiner Thronbesteigung als Ludwig XI I. 1498 tritt in-
folgedessen die Gewinnung der Lombardei ganz in den Vordergrund,
und die ganze Regierung des Königs sollte zeigen, dass bei günsti-
527
gen Allgemeinverhältnissen eine französische Herrschaft über die
Lombardei so gut möglich war wie später die spanisch-öster-
reichische; erst die durch Julius 11. aufgestachelten Schweizer
haben 1512 einem Regiment das Ende bereitet, das zum guten
Teil nur durch Ihre Hilfe aufgerichtet worden war und dessen
Verlust Ludwig als das eigentliche Unglück seines Lebens be-
trauerte. Die Bestrebungen, das Erbteil seines Hauses, Mailand
zu gewinnen oder zu sichern, auf das er als Enkel der Valentine
Visconti, Tochter des Herzogs Giovanni Qaleazzo von Mailand
und Gemahlin Ludwigs 1. von Orleans, Anspruch erhob, haben
sein ganzes Dasein ausgefüllt, und die Kämpfe um Novara im
Januar 1495 bilden dazu lediglich den Anfang.
Karl VIII. hatte vom Herbst 1494 bis Februar 1495 ganz
Italien durchzogen und Neapel erobert, ohne irgend ernsthaften
Widerstand zu finden. Während er sich aber anschickte, in dem
neu gewonnenen Gebiet die dauernde Regierung aufzurichten,
hatte sich in seinem Rücken eine Koalition feindlicher Mächte
gebildet. Der Herzog Lodovico Moro von Mailand, der die Fran-
zosen selber zur Vernichtung der neapolitanischen Aragonesen
herbeigerufen hatte, der Papst Alexander VI., der mit Karl VIII.
Bündnis und Vertrag geschlossen hatte, die Venezianer, welche
die Verstärkung des französischen Einflusses aufs äußerste fürch-
teten, der römische König Maximilian und Ferdinand von Spanien
vereinigten sich am 31. März 1495 zu der Liga von Venedig.
Karl VIII., der so mit der Vertreibung aus Neapel bedroht wurde,
trat am 20. Mai mit etwa der Hälfte seiner Truppen die
Heimkehr an und bahnte sich durch das feindlich gewordene
Italien den Rückweg nach Frankreich. Während die Liga ihm
aber den Übergang über den Apennin zu sperren suchte, hatte
sich in Oberitalien ein zweiter Kriegsschauplatz gebildet. Der
Herzog Ludwig von Orleans, der spätere Ludwig XII., war während
Karls VIII, Zug nach Neapel in seinem norditalienischen Fürsten-
tum Asti zurückgeblieben und warf sich nun am 10. Juni 1495 in
die über die Gewalttätigkeiten ihres Herzogs erbitterte mailändische
Stadt Novara. Lodovico Moro, der die Ansprüche des Orleans
auf das von ihm usurpierte Herzogtum stets fürchten musste,
hatte ihn zu diesem Schritt förmlich gedrängt: denn nachdem es
ihm im Vorjahr misslungen war, Karl VIII. dazu zu bewegen,
528
dass er den Herzog von Orleans an die Spitze seiner Flotte stelle,
hatte er im Frühjahr 1495 versucht, ihn aus seinem Erbgut Asti
zu drängen. Anfangs April forderte ein mailändisches Heer unter
Galeazzo di San Severino den Herzog zur Übergabe seines Fürsten-
tums auf, und als dies, wie selbstverständlich, verweigert wurde,
schien es bereits damals zu ernstlichen Kämpfen zu kommen.
Der von militärischen Hilfsmitteln fast entblößte französische Her-
zog wusste aus der Dauphine und vom Reichsregenten Pierre von
Bourbon neue Streitkräfte herbeizuziehen und Werbungen in Italien
wie in der Eidgenossenschaft vorzunehmen. Allein Lodovico Moro,
der offenbar auf ein gänzlich feiges Ausreißen gerechnet hatte,
fand gegenüber dieser Entschlossenheit den Mut zu unverhehltem
Angriff doch nicht. Während er die Zeit mit neuen Aufforderungen
zur Übergabe und Versicherungen seiner friedlichen Absichten
verlor, sammelten sich in Asti die Truppen, die Orleans das Aus-
harren immer besser ermöglichten. Anknüpfungen mit den mai-
ländischen Unzufriedenen gefährdeten bereits das Herzogtum selber,
und als sich Orleans am 10. Juni der Stadt und Festung Novara
bemächtigte, drohte der Aufstand in Mailand selber loszubrechen.
Die mit Feigheit gepaarte Begehrlichkeit Moros hatte dem Rivalen
den Angriff auf sein usurpiertes Fürstentum förmlich aufgedrängt,
und die militärische Unfähigkeit der Italiener ließ keinen günstigen
Ausgang vorhersehen. Freilich wagte Orleans, der von der Be-
völkerung mit dem größten Enthusiasmus aufgenommen wurde,
den weiteren Vormarsch auf Mailand nicht. Karl Vill., der seinem
Bundesgenossen Moro wohl alle Verlegenheit, dem ihm nah ver-
wandten Vasallenhaus aber nicht den unabhängigen Besitz Mailands
gönnen mochte, war schon durch die Einnahme Novaras in Ver-
legenheit gebracht, und die Nähe der venezianischen Armee,
sowie die Bedrohung Frankreichs durch Spanien und Maximilian
nötigte zur größten Vorsicht.
Die beiden Prätendenten hatten sich gleich von Anfang an
die Schweizer gewandt: schon am 28. April 1495 fragte Moro
vertraulich die zürcherische Regierung an, ob man ihm 500 Söldner
gewähren wolle, und anfangs Mai fanden sich in Graubünden
und dem Wallis für den mailändischen Beauftragten bereits Hun-
derte von Knechten zusammen, während andere, darunter zahl-
reiche Berner und Luzerner, dem Ludwig von Orleans zuliefen.
529
Die obrigkeitlichen Verbote nützten nicht das geringste. Umsonst,
dass Luzern schon am 7. Mai von den Bernern und Freiburgern
die Sperrung der Straßen und die Verhaftung der Durchziehenden
begehrte, dass Bern am 12. Mai einen offenen Brief an die Weg-
gezogenen erheß, ihnen ein Ratsmitglied mit der Heimmahnung
und Strafdrohungen nachschickte, sowie zahlreiche verhaftete.
Die Tagsatzung beschloss am I.Juni zwar ebenfalls, dass jeder
Ort den Seinigen das Wegziehen ernstlich verbieten und die Auf-
wiegler bestrafen solle. Allein der Reislauf ward durch solche in
ihrer Wirkungslosigkeit oft erprobte Maßregeln nur mangelhaft
unterbunden. Wenn einzelne zurückkehrten und die Agenten
Moros im Veltlin über die spärliche Rekrutierung in Qraubünden
klagten, so hatte das neben den obrigkeitlichen Verboten in erster
Linie in der Abneigung vieler gegen das mit Österreich verbündete
Mailand seinen Grund, sowie in dem Gerücht, dass Moro ihre
Konkurrenten, die Landsknechte, besolde. Seinem Widersacher,
dem Herzog von Orleans, liefen die Knechte trotz aller Verbote
weiter zu; ja, es ließ sich nicht verkennen, dass die öffentliche
Meinung ihn mehr als seinen Rivalen begünstigte. Die in der
niederen Bevölkerung stets zu fürchtende üble Nachrede gegen
die Regierungen wandte sich bereits gegen eine angebliche Be-
günstigung Mailands: in Luzern und Uri ging das Gerücht, es
seien ein oder zwei Esel mit mailändischen Geldern in der Eid-
genossenschaft erschienen, der eine Zürich, vor dem Haus des
Bürgermeisters Schwend, während andere wieder behaupteten, der
zürcherische Rat habe von König Maximilian 4000 Gulden erhalten,
damit er still sitze und keine Partei ergreife. Auf der Luzerner
Tagsatzung vom Anfang Juli wurden von einigen Urnern gegen
Schwend so heftige Drohungen ausgestoßen, dass der Bürger-
meister, der schon vorher eine Untersuchung gegen sich verlangt
hatte und nun als zürcherischer Tagsatzungsbote erschienen war,
wieder nach Hause ritt und die Rückkehr trotz der nachgeschickten
Briefe verweigerte.
Für Moro gestaltete sich die Stimmung um so ungünstiger,
als die Walliser und Luzerner ihre 1487 bei Crevola erlittene
Niederlage noch keineswegs verschmerzt hatten und die Urner
als Besitzer des Livinentals mit dem Herzogtum in fast stän-
diger Fehde lebten. Die Zurückweisung ihrer oft vereitelten Er-
530
Oberungspläne hatte nach und nach zu einem Zustand der Ge-
reiztheit, der unaufhörh'chen Übergriffe, Räubereien und beidseitigen
Gewalttätigkeiten geführt, dass die herzoglichen Beamten jeden
Augenblick einen Überfall auf Bellinzona fürchteten. Dabei ver-
stand der Herzog von Orleans trefflich, die Begehrlichkeit der
Innern Orte zu schüren. Am 13. Juni ließ er der Luzerner Tag-
satzung durch seinen Gesandten Jean Jacques de Ferrari die Ab-
tretung von Bellinzona, Lugano, Locarno und Arona vorschlagen,
Vx'enn sie ihm offizielle Hilfe bewillige und die genannten Gebiete
selber besetze; ferner die Zahlung der einst unter Ludwig XI.
genossenen Pensionen. Die Tagsatzung nahm freilich diese Er-
öffnungen, die sie zur Einmischung in die lombardischen Streitig-
keiten verführen sollten, um so zögernder auf, als der mailändi-
sche Gesandte Giovanni Moresini — mit Unterstützung des kaiser-
lichen Boten, der ebenfalls 10 000 Mann für Maximilian und die
Rückberufung der dem Herzog von Orleans zugelaufenen Söldner
verlangte — eine vorteilhafte Erneuerung des mailändischen Ka-
pitulats vorschlug und gleichfalls Zahlung von Pensionen in Aus-
sicht stellte. Die WaldstäUe, deren Ziel durch die Anerbietungen
der Franzosen in greifbare Nähe rückte, konnten allerdings nur
mit Mühe von feindseligen Unternehmungen gegen Mailand ab-
gehalten werden. Die Tagsatzungsboten, die nach Schwyz und
L'ri ritten, erhielten bloß ausweichende Antwort, und auch in den
übrigen Orten liefen beinah aufrührerische Reden über angebliche
mailändische Bestechungen um. Allein die größeren städtischen
Gemeinwesen, die mit der Lombardei in regelmäßiger gewinn-
bringender Verbindung standen und gegen tumultuarische Frei-
scharenzüge schon aus Rücksicht auf die eigenen Untertanen
Front machten, waren für eine Unterstützung nicht zu haben, die
sie in langwierige Kämpfe verwickeln musste : Bern war der
Meinung, das Anerbieten des Herzogs von Orleans aus Rücksicht
auf das mit Mailand verbündete Reich ganz und gar abzuschlagen,
und Zürich unterstützte diese Haltung. Übrigens tauchte gleich-
zeitig wieder einmal der gute Vorsatz auf, alle fremden Pensionen
und Jahrgelder überhaupt abzuschaffen und den Reislauf ganz zu
verbieten, was selbstverständlich nicht hinderte, dass die Knechte
während des ganzen Juni und Juli in stets wachsenden Scharen
über die Alpen liefen. An den Passmündungen, zu Chiavenna
531
und Domodossola, strömten Hunderte von Söldnern zusammen,
die dann in großen Transportschiffen nacli den südlichen See-
enden gebracht werden mussten, wo alles vor ihrer Zügellosigkeit
zitterte. Ebenso sammelten sich im Wallis und Graubünden unter
Beaufsichtigung der mailändischen Agenten Tausende von Fußsol-
daten und Reitern, gewiss auch zahlreiche Landsknechte. Freilich
bereiteten die Geldverlegenheiten den Beauftragten Moros bisweilen
große Sorgen. Im Wallis brachen zum Beispiel 300 für Mailand
Angeworbene, da sie die versprochenen Gelder nicht erhielten,
zum Herzog von Orleans auf, und hier wie vom Gotthard und
Graubünden her erwartete man jeden Augenblick einen Angriff.
Der Herzog hatte sich zwar mit Georg Supersax, dem Gegner
des französisch gesinnten Bischofs von Sitten, Jost von Silenen,
ins Einvernehmen gesetzt; aber trotz solcher Anknüpfungen mit
ehrgeizigen Volkshäuptern war man vor einem Überfall des untern
Eschentals und Domodossolas durch Walliser und Luzerner
keineswegs sicher. Am 3, Juli traf die damals freilich noch un-
begründete Allarmnachricht in Domodossola ein, die Luzerner
rüsteten und beabsichtigten loszuschlagen, und drei Wochen später
häuften sich die Berichte über die Zusammenrottungen der Grau-
bündner und Urner. Die Riviera und das Bleniotal schienen
ebenso bedroht wie Chiavenna und Como. Bereits waren über
1200 Schwyzer und Urner zum Herzog von Orleans gezogen, und
der Bischof von Sitten wagte offene Feindseligkeiten. Die Ver-
bote der Berner und übrigen fruchteten so gut wie gar nichts.
Einzelne aus französischen Diensten Zurückkehrende zeigten den
in der Heimat Gebliebenen ihren Sold und ihr Beutegeld vor und
verlockten sie damit vollends zum Aufbruch. Die Urner erteilten,
den Aufforderungen der Tagsatzung und dem eigenen Versprechen
zuwider, den Reisläuferkompagnien, die sich inzwischen gebildet
hatten, die obrigkeitliche Erlaubnis zum Aufbruch und gaben ihnen
sogar Hauptmann, Venner und Fähnlein. Auch die Luzerner er-
nannten am 20. Juli Hauptmann und Venner, um mit dem Fähnlein
„unsern lieben Eidgenossen von Uri, als sy wider den Herzogen
von Mailand zogen sind, nachzerücken". Doch erreichte die ohne
alle Rücksicht auf die schwebenden Verhandlungen vom Zaun
gebrochene Unternehmung ihr Ziel im ganzen nicht. Die Truppen,
die sich unter dem Urner Stierbanner in Airolo gesammelt hatten,
532
rückten zwar nach Claro vor und sandten den Kommissären in
Bellinzona die offizielle Absage. Doch Htten sie alsbald großen
Mangel und fanden aus der Heimat keinen genügenden Nachschub.
Der Übergang über die Moesa und damit das weitere Vordringen
nach Süden ward ihnen versperrt, und zugleich ausgesprengt,
Novara, das inzwischen vom Herzog von Mailand und den Vene-
tianern belagert worden war, habe sich bereits ergeben. So ließen
sich die durch mannigfaches Missgeschick entmutigten Urner,
Schwyzer und Luzerner am 28. Juli auf Verhandlungen ein, die
schon nach wenigen Tagen zum Abschluss führten: sie erhielten
für ihren Abzug 4000 Gulden, mussten aber auf Bellinzona ver-
zichten. Der Ausbruch des Kampfes hätte übrigens beinah einen
Bürgerkrieg im Kleinen herbeigeführt; denn unter der mailändi-
schen Besatzung von Bellinzona befanden sich 200 Schweizer und
Graubündner, die also gegen ihre eigenen Landsleute zu fechten
bereit waren und nun bei der Auszahlung der 4000 Gulden einen
Auflauf erhoben, zu den Waffen schrieen und mit Brand und Plün-
derung drohten, wenn man ihnen nicht ebenfalls 4000 Gulden
entrichte. Nur die Geistesgegenwart des herzoglichen Kommissärs,
der sogleich die übrigen Söldner herbeizog und die Tore zu
schließen wusste, verhinderte das Schlimmste.
Während der mailändische Herzog so die Nordgrenze seines
Staates gegen die Schweizer, Walliser und Graubündner mühsam
verteidigte, hatte sich die Lage in Italien wesentlich verändert.
Dass der Herzog von Orleans nach der Einnahme Novaras den
weiteren Vormarsch auf Mailand nicht wagte, zeigte sich immer
mehr als schwerer Fehler. Wenn er nach der Wegnahme Novaras
einen Augenblick im Stande gewesen wäre, auf die feindliche
Hauptstadt selber loszurücken und seinen Gegner aus dem so
heiß begehrten Herzogtum zu vertreiben, so hinderte ihn die
Zaghaftigkeit und Uneinigkeit der ihm zu Hilfe gezogenen könig-
lichen Hauptleute alsbald an allem weiteren. Wohl liefen ihm
deutsche und schweizerische Knechte noch während des ganzen
Sommers zu; doch das änderte die Lage nur wenig. Wenn eine
Zeitlang auch Genua, Alessandria, Pavia, Vigevano, Cremona, ja
Mailand selber durch die Franzosen bedroht geschienen und ein
allgemeiner Abfall der über Moros Missregierung erbitterten Be-
völkerung in Aussicht gestanden hatte, so beraubten sich die
533
Angreifer, als sie den Aufforderungen und Versprecfien der Mai-
länder, vorzurücken, keinen Glauben schenkten, selber des ganzen
Vorteils ihrer Lage. Während sich Moro in Angst und Erschlaf-
fung kaum noch außerhalb seines Schlosses zu zeigen wagte,
gab der Gegner den Erfolg, den sein kecker Vorstoß ihm ein-
getragen hätte, alsbald wieder preis. Statt Karl VIII. durch einen
entschlossenen Handstreich gegen Mailand jeder Verlegenheit auf
seiner Rückkehr von Neapel zu entreißen oder dann in Asti als
Wachtkorps stehen zu bleiben, um im Notfall zu seiner Unter-
stützung einzugreifen, tat er den einen Schritt, ohne doch den
damit notwendig gewordenen zweiten zu wagen. So verscherzte
er nicht bloß das angestrebte Ziel, die Eroberung des Herzog-
tums, sondern, statt dem König zu helfen, rief er alsbald dessen
eigene Unterstützung an, und eine Reihe weiterer schwerer Fehler
machte seine Lage binnen kurzem sehr gefährlich.
Die Venetianer, die den panischen Schrecken Moros nie
teilten, hatten nämlich schon auf die erste Kunde von der Weg-
nahme Novaras militärische Gegenmaßregeln getroffen und den
römischen König Maximilian zum Vordringen nach Italien oder
dem längst geplanten Überfall von Burgund aufgefordert. Und
auch Moro selber, der trotz harten Steuerdrucks und riesiger
Einnahmen in steten finanziellen Verlegenheiten schwebte, ver-
schaffte sich durch das Einschmelzen seiner Medaillen Geld und
verbesserte die Stimmung seiner Untertanen durch Amnestien und
Erlass von einzelnen Abgaben, Das Nahen von venezianischen
Stradioten, Landsknechten und Schweizern, sowie der Rückhalt
an dem Karl Vlll. entgegenziehenden venezianischen Heer er-
laubten ihm bald auch den Angriff. Bis Ende Juni zogen sich
bei Vigevano gegen 10000 Fußsoldaten und 700 Lanzen zusam-
men, die nun in der Tat im Stande waren, Novara zu belagern
und den Herzog von Orleans an der Verbindung mit seinem
Mittelitalien durchziehenden König zu hindern. Bereits begann
man ihm den Verkehr mit Asti abzuschneiden, und da seine
Hauptleute die ihnen auf Betreiben der Beatrice d'Este, der Ge-
mahlin Moros, von Galeazzo di San Severino bei Trecate ange-
botene Schlacht, vielleicht aus Sorge um Karl VIII., verweigerten,
von dem sie keine Nachricht besaßen, so konzentrierte sich der
ganze Kampf nun um Novara. Der Herzog zog sich am 28. Juni
534
ganz hinter die Mauern der Stadt zurück, versäumte aber deren
rechtzeitige Verproviantierung. Seine Streiti<räfte zählten etwa
8000 Fußsoldaten, 850 Lanzen, 1000 Archers ä cheval und 1000
leichte Reiter, wären also gegen Ende Juni dem Feind noch eher
überlegen gewesen. Da er den günstigen Augenblick aber ein
über das andere Mal versäumte, so wagte die mailändische Armee
am 29. Juni endlich gegen Novara selber vorzugehen, das nun
allmählich eingeschlossen wurde. Die Unfähigkeit der französi-
schen Kriegsführung, die sich trotz aller Unterstützung durch die
Landbewohner über den Feind keine genauen Nachrichten zu
verschaffen wusste und ihre schon besetzten Außenposten ohne
jede Not selber aufgab, ja sich in einer Stadt einschloss, in der
man sich wegen der ungenügenden Verproviantierung von vorn-
herein nur mühselig und kurze Zeit zu behaupten rechnen konnte,
hatten Moro trotz seiner Verzagtheit einen unerwarteten Erfolg
verschafft: statt für den rückkehrenden König eine wertvolle Ver-
bindung mit der Heimat zu sichern, hatte man sich durch die
Festsetzung in Novara um den eigenen Rückzug gebracht und
ließ sich mit einer Widerstandslosigkeit einschließen, die um so
erstaunlicher wirkt, wenn man gleichzeitig erfährt, dass der vene-
zianische Senat seinen Hauptleuten jedes Gefecht mit dem Feind
untersagte, weil ein Misserfolg den Franzosen die Türen von
Mailand öffnen würde. Die Feigheit der durch politisches Miss-
trauen gehemmten italienischen Kriegsführung ward so nur durch
die noch größere Unschlüssigkeit der Franzosen wett gemacht,
und Karls Vill. Befehl, Orleans solle ihm nach Piacenza ent-
gegenrücken, hätte kaum mehr durchgeführt werden können, auch
wenn der Überbringer am 3. Juli nicht den Mailändern in die
Hände gelaufen wäre.
Die Hoffnung des mailändischen Kommandanten Galeazzo
di San Severino, die Stadt durch Verräterei oder falsche Sieges-
nachrichten zur freiwilligen Übergabe zu veranlassen, erfüllte sich
freilich nicht, und die Unbotmäßigkeit seines neben den Stradioten
vor allem aus Landsknechten und Schweizern bestehenden Heeres
verursachte schon damals zahlreiche Sorgen. Allein die kleinen
Scharmützel, in denen die belagerten Franzosen sich Luft zu
machen suchten, fielen meistens zu deren Ungunsten aus und
ermutigten die Feinde, den Belagerungsgürtel stets enger zu ziehen
535
und der Stadt das Wasser abzuschneiden. Während Karl VIll.
den Apennin überstieg und sich bei Fornuovo gegen die vereinigten
Truppen der Liga den Weitermarsch durch Norditalien erzwang,
geriet Ludwig von Orleans in immer schlimmere Verlegenheit.
Da er jede Requisition unterlassen hatte, so konnte er nur noch
einen spärlichen Vorrat von Lebensmitteln zusammenkaufen, und
die beständige Verstärkung des Gegners, der ihm nach und nach
um das Doppelte überlegen wurde, wog die sehr entfernte Aus-
sicht, aus Frankreich oder vom König Hilfe zu erhalten, bei
weitem nicht auf. Da man überdies die noch stets vorhandene
Möglichkeit, nach Asti zurückzukehren, für die der Herzog per-
sönlich schon am zweiten Tag der Belagerung eingetreten war.
auf dringendes Verlangen der königlichen Hauptleute versäumte,
so fingen die Feinde um den 12. Juli an, die auf Novara zu-
führenden Straßen abzuschneiden. Die größtenteils venezianische
Armee unter dem Marchese Francesco Gonzaga von Mantua, die
auch nach der Schlacht von Fornuovo dem nordwärts ziehenden
Karl VllL gefolgt war, ließ um den 15. Juli von diesem ab und
erschien nun ebenfalls vor Novara. Und wenn sich auch auf die
Geldsendungen des Herzogs von Orleans in der Eidgenossenschaft
eine stärkere Bewegung zeigte, die Moro vorübergehend ernstliche
Verlegenheiten bereitete, so war sie doch zu schwach, um auf
den Kriegsschauplatz ernstlich einzuwirken. Der Angriff der Urner
auf Bellinzona ward von Moro, wie schon erzählt, abgekauft, und
die aus Neapel zurückgekehrten Truppen Karls VIll. erwiesen sich
als viel zu erschöpft, um irgendwie zur Unterstützung Orleans
beizutragen. Während also der König ohne weitere Hinderung
nach Asti zog, ward die allerdings zum guten Teil selbst ver-
schuldete Not der Belagerten immer größer. Die Angreifer hatten
sich in einem am 18. Juli abgehaltenen Kriegsrat zur bloßen Aus-
hungerung der Stadt entschlossen, statt, wie Galeazzo di San
Severino im Namen Moros verlangte, zur Beschießung: die Furcht
vor dem Heranrücken Karls VIII. und die unsichere Haltung Mont-
ferrats und Savoyens nötigten zu einer Vorsicht, die bei ent-
schlossenerem Vorgehen des Feindes leicht in Misserfolg hätte
umschlagen können. So aber litten die Belagerten nicht bloß
unter dem in der Sommerhitze ausbrechenden Fieber, sondern
mussten sich auch vom 20. Juli ab in zahlreichen Scharmützeln
536
verteidigen. Da nur nachts einzelne Vorräte von Vercelli her
eingeschmuggelt werden konnten, stieg die Lebensmittelnot immer
höher. Die Mauern ohne Bastionen und das Fehlen der Artillerie
machten ohnedies die Abwehr schwierig, und ohne die einmütige
Unterstützung der Stadtbevölkerung, die das Schlimmste dulden
zu wollen erklärte, wenn man ihr nur die Rückkehr unter die
Herrschaft des Moro erspare, wäre die Lage schon damals völlig
aussichtslos geworden. So aber hoffte man vor allem auf das
Eingreifen des Königs, dem der Herzog von Orleans Botschaft
zusandte, damit er ihn erlöse. Die Schweizer Karls VllL ver-
suchten zwar am 22. Juli bereits einen Handstreich auf die mai-
ländische Grenze, von Asti her, so dass Moro für Alessandria zu
fürchten begann. Die Lage der Mailänder und Venezianer ge-
staltete sich nun vorübergehend ungünstiger: sie erhielten zwar
beständig neue Verstärkungen, zum Teil von Maximilian ; allein die
mangelhafte Disziplin der Truppen und beginnende Meinungs-
verschiedenheiten unter den V^erbündeten verzögerten ein tatkräf-
tiges Eingreifen, und als nun gar am 27. Juli die Nachricht eintraf,
Karl VI II. habe Asti verlassen und in Turin den Befehl über seine
mühsam wiederhergestellte Armee übernommen, war bereits von
einem Abbruch der Belagerung die Rede. Die Venezianer wollten
sich bis Vigevano zurückziehen, und auch die Mailänder fürchteten,
zwischen zwei Feuer zu geraten. Indessen verflog diese Angst
wieder, als man erfuhr, der König habe sich in Chieri nach seiner
Gewohnheit durch eine Liebschaft fesseln lassen, so dass er nun
zwei Monate lang zwischen Chieri und Turin hin- und herzog,
ohne in dieser ganzen Zeit etwas Ernstliches zum Entsatz Novaras
zu unternehmen. Wohl hatte er in der zweiten Hälfte des Juli
\ on Asti aus den Probst Benoit Adam und den Jean des Serpens,
Sr. de Cytain, als außerordentliche Gesandte nach der Eidge-
nossenschaft geschickt, um die schon früher begonnenen Ver-
handlungen wegen Erneuerung' des französischen Bündnisses
wieder aufzunehmen und Söldner anzuwerben, und am 4. August
ward ihnen der landeskundige Bailli von Dijon, Antoine de Baissey,
beigegeben. Allein die Unglücksnachrichten aus Neapel, wo die
französische Herrschaft vor den zurückkehrenden Aragonesen zu-
sammenstürzte, das Scheitern eines Handstreichs gegen Genua, die
Unlust der Franzosen, für die aussichtslose Unternehmung weitere
537
große Opfer zu bringen, die Geldnot und Verhandlungen mit den
Florentinern, die Untätigkeit Karls Vlll., sowie die ganze unsichere
Lage des Königreichs verhinderten einen ernstlichen Versuch zur
Rettung Orleans. Die Pyrenäengebiete waren von einem Einfall der
Spanier bedroht, und Maximilian hatte schon längst seine Absicht
kundgegeben, auch persönlich mit den Kräften des Reiches in Italien
zu erscheinen, um die Franzosen zu verjagen oder Frankreich sel-
ber anzugreifen. Kein Wunder, wenn die Anstrengungen der dem
Herzog von Orleans günstig Gesinnten in Karls Vlll. Umgebung
ergebnislos blieben und selbst Unterhandlungen mit den Ver-
bündeten angeknüpft wurden. Inzwischen aber hatten Krankheit
und Hunger unter den Verteidigern Novaras immer schrecklicher
aufgeräumt, und die furchtbaren Entbehrungen führten schon in
der zweiten Hälfte des Juli zu Desertionen. Die zwangsweise
Einteilung der Lebensmittel stieß auch bei der Bevölkerung zum
Teil auf Widerstand, und Ende des Monats befanden sich beim
Herzog kaum noch mehr als 800 marschfähige Landsknechte und
Schweizer, 300 Italiener und 200 Lanzen. Ihre Lage ward da-
durch kaum verbessert, dass auch die Angreifer unter dem nun
einsetzenden sündfiutartigen Regen, der den Boden in ungangbare
Sümpfe verwandelte, sowie an dem infolgedessen ausbrechenden
Fieber stark litten und Unordnung und Zwietracht bei der Leitung
wie bei den Truppen ebenfalls nicht ausblieben. Die Einnahme
durch einen Sturm wagte man nach wie vor nicht, sondern be-
gnügte sich, das bisher getrennte lombardische und venezianische
Lager zu vereinigen und gegen den befürchteten Anmarsch des
Königs notdürftig zu sichern : hatte doch ein Teil des Kriegsrats
wieder für den Abzug nach Vigevano gestimmt! Die pomphafte
Truppenschau, die man am 4. August in Anwesenheit Moros über
das nun 45 000 Mann zählende Heer abhielt, verdeckte nur die
allgemeine Unschlüssigkeit, und es war offenbar, dass der Herzog
von Mailand durch eine unglückliche Schlacht seine ganze Herr-
schaft in Frage bringen vi'ürde.
ERNST GAGLIARDI
(Schluss folgt.)
Dan
538
UN POLßMISTE: AUGUSTE BIPPERT
il est rare qu'on fasse, du moins en Suisse, ä des articies
de Journal les honneurs du livre. Et pour cause. Cette littera-
ture improvisee n'a pas plus de consistance que le vent qui passe.
Elle n'a pas meme le temps de vieillir; eile est morte apres quel-
ques heures de vie. I! faut que le talent de I'ecrivain soit bien
exceptionnel ou que sa production hätive soit servie par des cir-
constances bien extraordinaires, pour que Ton songe ä recueillir
des pages condamnees d'avance ä n'etre que de la maculature.
La fin tragique du journaliste Auguste Bippert, une des pre-
mieres victimes de l'aviation en Suisse, suffirait-elle ä expliquer
la publication de ses oeuvres choisies, en deux volumes luxueu-
sement imprimes^), et prefaces Tun par M. Philippe Qodet, Tau-
tre par M. Jules Carrara? Ce qu'il y eut de temeraire, d'heroV-
que et de foudroyant dans sa derniere aventure n'aurait-il pas
trouble le jugement de ses amis, lorsqu'ils se sont impose le
pieux devoir de sauver de l'oubli quelques bribes de son effort
litteraire? II se peut que, si Auguste Bippert füt bourgeoisement
decede dans son lit, il n'eüt laisse qu'un nom bientot efface de
nos memoires distraites. Tant de ses confreres, et d'aussi bien
doues que lui, n'ont pas recju d'autre Hommage, le lendemain
de leur disparition, que le tribut obligatoire de cinquante ou cent
lignes de necrologie! Mais serait-il donc necessaire que la regle
d'injustice n'eüt pas ses exceptions? Et qui ne regretterait, apres
avoir lu la prose et meme les vers de l'ancien redacteur ä la
ä la Tribüne de Vevey, ä la Suisse libe'rale, ä la Feuille d'avis
de La Chaux-de- Fonds, que l'abime eüt englouti tout cela?
Auguste Bippert eut la vocation et le temperament du jour-
naliste. 11 avait la richesse de verve et la promptitude d'esprit
qui tiennent en haieine la paresseuse attention du public. Son goüt
du paradoxe, son humeur independante et batailleuse, son Ironie
qui ne moderait pas ses acces d'enthousiasme, ses crises d'amere
melancolie traversees par des eclairs de gaite, sa passion non
point Sans doute pour les principes qui se figent mais pour les
') Auguste Bippert: Poesie, preface de Philippe Qodet. — Prose, pre-
face de Jules Carrara. Avec un portrait de l'auteur. Imprimeurs-editeurs:
les fils de Mettler-Wyss, La Chaux-de-Fonds, 1913.
539
idees qui changent et dont le libre jeu promet de si enivrantes
delices, toute cette seduisante, complexe et un peu deconcertante
individualite etait predestinee aux lüttes oü la plume se manie
comme une epee. Aussi Bippert fut-il avant tout, et par-dessus
tout, un polemiste, Tun des plus agiles, des plus mordants et des
mieux armes qui aient ferraille dans la presse romande.
Les meilleurs de ses vers restent des vers de polemiste.
Ses poesies d'allure epique ne sont que d'un bon eleve de Le-
conte de Lisle. Ses pieces lyriques, d'un accent plus personnel,
valent par l'elegante aisance de la langue plus que par l'originalite
de l'inspiration :
Aux vertes frondaisons que je vois de ma chambre
Bien des feuilles dejä commen<;;ent ä jaunir,
Et les Premiers matins, clairs et frais de Septembre,
Font l'ete beau comme un bonheur qui va finir . . .
I] n'est vraiment lui-meme, il ne s'exprime completement,
on ne sent ie frisson joyeux de la creation que dans ses rimes
funambulesques oü sa muse narquoise fait le pied de nez aux
etoiles. 11 y avait en lui un fond, presque douloureux, de scep-
ticisme et de causticite. 11 se riait de la vanite des choses et de
la sottise des hommes pour n'en pas pleurer. Mais l'artiste et le
lettre qu'il fut pretait ä ses espiegleries ou ä ses satires les alles
d'un verbe alerte et sonore. Rien de plus leger, de plus vif, de
plus allegre, sinon de plus gracieusement spirituel, que son Pot-
pourri jete sur le papier „ä la seule fin de dedommager une de-
moiselle gente et joliette de la moult grande contrition et na-
vrance que lui procura l'interdict mis sur les escripts du chro-
niqueur de renom Emile Zola":
. . . Parmi les desirs innocents,
Pris comme des oiseaux passants,
Que tu comptais par vingt, par cents,
Et mille,
Aucun jamais ne desola
Ton coeur autant que celui-lä:
De ne pouvoir iire Zola
Emile . . .
Oh! je m'empresse de dire que Banville eüt fait encore
mieux et que Bippert n'evite pas toujours l'ecueil de la vulga-
rite. Le „polissez-le sans cesse et le repolissez" de Boileau est
540
Tun de ces preceptes que les gazetiers n'ont pas le loisir d'ob-
server. Jusqu'oü la virtuosite du rimeur pouvait aller, nous le
verrions en glanant dans les Paroles d' Infamie:
L'autre jour, au coin de la rue,
Un vieillard chauve dont le nez
Venerable, mais bourgeonne,
Portait besicies et verrues,
M'aborda, disant: „Pardonnez,
Mais c'est moi qui suis l'Abonne!"
Or, l'abonne est un tres grand personnage. 11 s'agit de flat-
ter ses prejuges, de caresser les plus ridicules de ses dadas
comme les plus absurdes de ses manies. Ses voeux sont des
commandements sacres, ses critiques de redoutables garde-ä-vous.
Bippert a donc rencontre cet etre considerable, qui l'a sermonne
d'importance:
„Soyez, monsieur le journaliste,
Comme ä mes ievres suspendu;
Je vais vous etablir la liste
Des propos qui sont defendus,
Et qu'un Journal qui pretend vivre
Doit ecarter comme indecents,
S'il veut eviter qu'on le livre
A des büchers incandescents.
. . . Epargnez la magistrature ;
Ne blaguez plus les magistrats;
Ou gare ä la deconfiture !
Je vous predis un patatras.
A la Commission scolaire
N'avez-vous pas dit — j'en fremis —
De s'en aller faire lanlaire:
La foudre de Dieu l'a permis!
Puis vous parlez des fleurs nouvelles,
Du soleii et des amoureux,
De quoi perturber la cervelle
Aux adolescents: malheureux!" . . .
Cela continue un moment sur ce ton de persiflage. Et le
poete, accuse de n'avoir pas assez d'aversion pour les „paroles
d'infamie" que debitent les journaux, plaide en Gavroche les cir-
constances attenuantes.
Me reprocherai-je d'avoir trop cite de ces petites strophes
pimpantes et droles? Si Auguste Bippert ne se presentait ä la
541
posterite qu'avec ce tres mince bagage, nous pourrions feuilleter
ses Poesies, sourire et n'en plus parier. Sa prose, en revanche,
merite qu'on la traite d'un air moins detache. Elle est d'un
ecrivain, et M. Jules Carrara peut affirmer que „si Rochefort
n'eüt point vecu et qu'Auguste Bippert ne füt pas mort, celui-ci
aurait bien pu, un jour, et sur une plus vaste scene, incarner
celui-lä".
On ne saurait cependant que le repeter: Bippert, ne pole-
miste, ne fut que cela; mais il le fut ä un degre eminent. Quand
il essaie d'exposer une question, de l'exposer avec la methode
et le serieux qu'on attend d'un honnete vulgarisateur, il ne com-
met que des articies ä la douzaine, releves peut-etre d'une re-
flexion savoureuse ou d'une pittoresque boutade. II est gene par
les servitudes du genre. 11 n'a, au surplus, qu'une experience et
une science mediocres de la vie politique et de la lutt^ sociale.
L'art, la litterature, les sports sont infiniment plus dans la ligne
de ses preferences. Un journaliste n'en doit pas moins etre ca-
pable de disserter de tout, et meme de quelques autres choses.
Son metier l'oblige ä enoncer des opinions et ä les defendre, ä
intervenir dans les competitions electorales, ä juger les partis et
leurs programmes, ä ne pas ignorer les produits abondants de
la machine legislative, ä eclairer sur tous les sujets actuels la religion
de quelques milliers de lecteurs. Mais il y a la maniere.
La maniere d'Auguste Bippert etait celle du batteur d'estrade,
qui va son chemin et qui fait le coup de feu en amateur. Comme
il avait du courage, et trop d'esprit critique pour se donner en-
tierement ä quoi ou ä qui que ce füt, il claironnait ses verites
de droite et de gauche sans s'inquieter du qu'en dira-t-on. Re-
publicain, certes, et democrate, il n'avait pas la superstition du
regime populaire et il soufflait impitoyablement sur les illusions
interessees ou sinceres des tribuns. Socialiste, il protestait avec
energie contre „l'esclavage collectiviste", contre l'avenement "d'un
fonctionnarisme oligarchique et d'un despotisme plus dangereux
que le despotisme cesarien, parce qu'il serait insaisissable et im-
personnel". 11 ne craignait pas non plus d'etre seul de son avis.
Aprement, il denon^ait les „idees-confections" — le mot est de
M. Carrara, — les convictions routinieres, les admirations tradi-
tionnelles, comme il fustigeait la moutonnerie des majorites. Une
542
definition, quelque peu „pompiere", de la patrie, par Numa
Droz, pouvait l'exasperer. Lors des fetes de Rousseau, il partait
en guerre contre Jean-Jacques, „Tun des plus regrettables entre
les paltoquets illustres" et „Tun des moins recommandables
echantillons de l'espece". II me rappeile, quoiqu'il füt le moins
doctoral des contemporains. cette caracteristique cocasse et pro-
fonde du professeur allemand: ein Mann, der anderer Meinung ist.
Encore un coup, II etait polemiste dans l'äme. N'ayant au-
cune ambition du pouvoir, aucune responsabilite, aucune notion
des realites gouvernementales, il distillait ä propos de tout son
clair filet de vinaigre et abusait de son humeur frondeuse. 11 ne
reculait pas devant les plus dures severites, devant les plus
cruelles injustices meme, empörte qu'il etait par sa passion de
contredire et de railler. Comme chez Rochefort, le besoin de
demolir les forteresses et les idoles du sens commun tournait ä
Tobsession. Avec cela, des mouvements genereux, en l'occurence,
de nobles emballements et le coeur sur la main.
Le peuple suisse vient d'adopter la loi sur les assurances.
Les commentaires victorieux des uns, desoles des autres, em-
plissent les colonnes des journaux. Bippert, lui, se contente d'une
pirouette: „Si je n'ai pas donne mon avis sur la loi des assu-
rances, c'est que je n'en avais aucun. Vous me direz que ce
n'est pas un motif, que s'il fallait posseder une opinion sur cha-
que chose avant d'en parier, le metier de journaliste et celui,
beaucoup plus repandu, de simple citoyen, deviendraient impossi-
bles, que personne ou presque personne n'a vu goutte ä la loi
sur laquelle on s'est prononce dimanche, ce qui n'a pas empeche
les electeurs de voter avec conviction, et, ma foi! je serais bien
force de convenir que la sagesse parle par votre bouche, que
vos propos sont le reflet de la raison pure et l'echo de la ve-
rite nue." Et, apres avoir conte les sollicitations auxquelles il
aurait pu ceder, selon qu'il eüt ecoute les politiciens ou les
agents des compagnies, il termine son boniment par cette phrase:
..J'ai dij m'abstenir par adresse; mais aujourd'hui je puis sortir
enfin de ma reserve, et je vous confie, entre nous, que la seule
assurance dont je sois vraiment partisan, c'est celle de ma par-
faite consideration". Car le polemiste blague volontiers, quand
les autres s'echauffent ä soutenir le pour et le contre. il est le
543
negateur par excellence, crevant tous les ballons, meme ceux
qui montent vers le ciel.
Quand il se pique d'un peu de Philosophie, qu'il n'est pas
un bateleur se contorsionnant devant la foule, un bouffon gri-
ma(;ant devant l'abonne, ii laisse voir le fond de son äme in-
curablement triste. Les polemistes qui ont moins d'intelligence
que d'esprit, un Rochefort par exemple, ne s'embarrassent pas
des grands problemes. 11s multiplient leurs cabrioles ou leurs
coups de griffe, et ils s'en vont dormir. Les autres, ceux qui ne
dedaignent pas de penser, nous livrent souvent, et sans meme
y prendre garde, les mornes secrets de leur äme desenchantee.
Est-il plus noble ideal, ou plus haute chimere, que le paci-
fisme? Auguste Bippert declare tranquillement que, somme toute.
„la guerre n'est pas injuste, puisqu'elle n'est que la legitime de-
fense continue et universelle". Et il poursuit: „Sans doute, les
pacifistes repondent: ce fatalisme est affreux. La dignite humaine
exige que nous nous affirmions des etres libres et non des es-
claves de l'instinct, des jouets de nos passions natives et here-
ditaires. Si la guerre est une loi naturelle, reformons cette loi!
Ce sont lä des paroles genereuses. Mais nous devons les con-
siderer comme vaines, puisqu'elles ne reposent sur aucun fait,
qu'elles sont en contradiction flagrante avec l'experience de l'his-
toire". Jusqu'ici, rien de bien saillant dans cette riposte aux elo-
quentes objurgations des fanatiques de la paix, qui ne sont pas
invariablement des gens tres pacifiques. Soudain, le ton s'eleve
et Bippert de s'ecrier:
„Oü voit-on que la nature humaine ait jamais change? Elle
ne se modifie meme pas. Ses transformations sont toutes de
surface, d'apparence, d'aspect exterieur. Qui est dupe de l'abo-
lition du servage, et qui ne sait que, s'il est des differences
honorifiques, il n'est point de differences reelles entre l'esclave
de l'antiquite et l'ouvrier de l'epoque contemporaine? Qui croit
ä un abime entre la monarchie et la democratie? Partie de
l'idee de liberte et d'egalite, la democratie organise, comme fata-
lement, un regime oü, tout comme autrefois, un certain nombre
d'hommes oppriment un certain nombre d'autres. Qui croit vrai-
ment ä la suppression des religions, quand sur les debris des
theogonies mystiques, on nous erige des systemes de morale et
544
des cultes humanitaires? Qui croit vraiment que les passions
violentes dechainees par l'amour disparaitront? Et cette forme
eternelle de l'activite humaine, la guerre, disparattrait de la sur-
face du monde par l'effet subit de notre volonte? L'immuable
nature s'inclinerait spontanement, les passions essentielles et fun-
damentales de l'etre seraient abolies, extirpees de nos ämes?
Quelle esperance enfantine, quel reve saugrenu!"
C'est maintenant Alceste qui libere sa conscience, au risque
d'alarmer son editeur et de mettre en fuite l'abonne. Les pole-
mistes de cette envergure sont des hommes de tete et de coeur,
11s peuvent se tromper, ils se trompent, esperons-le; la dure
franchise de leur langage est necessaire pour nous consoler ou
nous guerir de toute la doucereuse ou pompeuse phraseologie
que d'autres nous prodiguent. Le röle de ces rüdes docteurs
Tant Pis peut etre fecond. Que d'autres fassent les mouches
du coche! 11s marchent, eux, derriere l'attelage qu'ils aiguillon-
nent du fouet.
Le malheur est que l'habitude de frapper ä tort et ä travers
ne soit pas sans danger. II ne s'agit point des coups que Ton
re^oit en echange de ceux que Ton a donnes. Mais on est
incite ä enfler sa voix et ä corser son geste. La qualite, si joli-
ment fran(jaise, de la mesure se perd. Toujours plus fort,
comme chez Nicolet! Bippert n'a pas echappe ä ce peril. Un
jour, il a consulte un „vieux bouif", devant „l'infaillible sagesse
duquel 11 s'est incline" ; et son „vieux bouif" lui a dit, entre
autres, ceci:
„Le droit de vote est-il la propriete de tout citoyen majeur
qui n'est point frappe de decheance civique? Oui, n'est-ce pas?
Eh bien! ce vote, qui m'appartient en propre, au nom de quelle
logique ambigue pretendrait-on m'empecher de le vendre, si teile
est ma fantaisie? Et qu'entendez-vous, je vous prie, par cor-
ruption electorale? Montrez-moi donc l'electeur qui a vote sans
espoir de profit! il sera aussi difficile ä trouver que la chemise
d'un homme heureux. Tous les partis en lutte ont corrompu les
citoyens par des promesses. 11s ont affirme au peuple qu'ils
amelioreraient son sort et diminueraient ses charges. N'etait-ce pas
une fa(jon d'acheter les suffrages, je vous le demande? Seule-
ment c'etait les acheter ä credit, avec la ferme Intention de ne
545
jamais payer ses creanciers. Ceux qui sont venus m'offrir des
bocks m'ont paru plus honnetes et moins immoraux, puisqu'ils
faisaient honneur sans delai ä leurs engagements. C'est pourquoi
j'ai vote pour eux; et j'estime qu'en agissant de la sorte, j'ai
glorifie la vertu et la raison tout ensemble, en soutenant des
hommes prets ä tenir sur-le-champ leur parole et en combattant
les maiins qui voulaient gagner mon vote avec des promesses
iljusoires".
Ce melange de sarcasme et de paradoxe peut faire les de-
lices de palais blases. 11 contient du poison, un poison subtil
et mortel. L'absolu serait-il le domaine privilegie des polemis-
tes? Ont-ils le droit de ne tenir aucun compte des relativites
humaines? Peuvent-ils impunement generaliser et seraient-ils les
seuls d'entre les ecrivains qui n'eussent pas un peu Charge
d'ämes? Le passage que j'ai reproduit tout ä l'heure a pu exer-
cer une influence malfaisante sur beaucoup. Ces conseils d'une
meprisante sagesse, il est permis de les adresser ä des sur-
hommes. Combien y a-t-il de surhommes parmi les lecteurs de
la Feuille d'Avis de La Chaux-de- Fonds?
Mais quoi! La deformation professionnelle existe. Et il sera
beaucoup pardonne ä ceux qui auront beaucoup deraisonne.
Evadons-nous de la politique! Auguste Bippert ne l'aimait
point. II aurait donne la Constitution federale, et les chartes can-
tonales par-dessus le marche, pour dix vers de Musset. Ce qui
ne l'empechait pas de maudire poetes symbolistes et decadents,
qui galvaudent notre belle langue et notre saine prosodie. Lors
de l'election de Paul Fort comme „prince des poetes", il ecrit:
„Le goüt de posseder un souverain n'est pas special aux
pinceurs de lyres. Au temps de Clopin Trouillefou, les truands
elisaient, eux aussi, des potentats. 11 en va de meme aujourd'hui
pour les blanchisseuses qui, chaque annee, s'adjugent une reine.
Et, si nous en croyons VAssommoir, les poivrots se permettent,
eux aussi, des infidelites ä la democratie republicaine. N'est-ce
pas ,cet animal de Mes Bottes' qui avait ete proclame ,roi des
cochons* pour avoir mange une salade de hannetons vivants, ä
ce que raconte Zola? Et, pour dire vrai, je crois qu'il est beau-
coup plus malaise d'acquerir les Honneurs du tröne ä la cour
des miracles, au lavoir et au cabaret du pere Colombe, que dans
546
nos petites chapelles litteraires. Pour etre roi des truands, il
faut etre .costaud'; pour Stre reine des reines, il faut etre jolie;
pour etre roi des poivrots, il faut avoir un bon estomac. Pour
etre prince des poetes, il suffit de vagir et de begayer au lieu
de parier fran^ais".
C'est lä de bon style, rapide et dru. On y decouvrirait sans
peine quelques taches. Le journaliste n'a pas le temps de se
relire. Mais vous deploreriez, comme moi, que Tun au moins
des deux ouvrages posthumes d'Auguste Bippert, sa Prose, n'eüt
pas ete publie. Notre litterature, nous pouvons bien le con-
ceder entre nous, est quelque peu monotone. Nous cultivons
surtout le psaume et le choeur patriotique. Nos Instruments, en
quelque sorte nationaux, sont l'harmonium et la contre-basse.
Un fier eclat de trompette, un sifflet grin<;ant de fifre, voilä ce
qu'a ete la voix de Bippert, tour ä tour amere et railleuse. Elle
„ne fait pas de bien" ; eile affligera nombre de braves gens.
Ainsi que le note M. Carrara: „A ceux qui lui reprochaient de
n'avoir qu'un respect modere pour les pontifes de tous les cul-
tes laiques et sociaux, de manquer d'enthousiasme pour les re-
ves humains et de laisser transparaitre trop volontiers la gatte
intime" que lui inspiraient „les acteurs qui, dans Teternelle farce
d'ici-bas prennent leur role au tragique", il repondait: „En somme,
l'ironie dont on me fait un reproche, n'est, chez moi, que de
la sincerite, l'aboutissement logique d'une enquete intellectuelle
bien modeste, mais probe et consciencieuse". Alors, nous n'avons
plus qu'ä enregistrer cette declaration, quitte ä ne point approuver.
Ajouterai-je quelques mots de biographie? Auguste Bippert
— qui l'eüt cru? — etait Vaudois, originaire de Paudex, pres
de Lausanne. 11 naquit en 1875, fit de solides etudes litteraires,
se lan^a dans le journalisme et mourut il y a deux ans, au
cours d'une promenade aerienne en compagnie de l'aviateur Cob-
bioni. Avec lui, nous avons perdu un ecrivain de race. Et nous
l'aurions perdu tout entier, si des mains amies n'avaient lie la
gerbe qu'il eparpilla dans les journaux. Ses deux recueils posthu-
mes lui assurent une place dans l'histoire des lettres romandes,
et une place qui n'est pas d'entre les moins enviables.
LAUSANNE VIRGILE RÖSSEL
DDD
547
WISSENSCHAFT UND
ALPENSCHILDERUNG
Dem Namen nach waren die Alpen schon vor 2000 Jahren
bekannt, und einige der leichteren Alpenpässe wurden schon von
den Römern benützt. Aber wer darüber wanderte, schaute vor
allem auf den Weg und war froh, wenn er mit heiler Haut drüben
ankam. Dass es sich lohnen könnte, auch um der Alpen willen
in die Alpen zu gehen, ist unsern Vorfahren erst vor etwa zwei-
hundert Jahren aufgedämmert. Zwar wurden schon im 16. Jahr-
hundert einige Voralpengipfel, wie Stockhorn und Niesen, be-
stiegen und sogar poetisch verherrlicht; aber die Hochalpen mied
man als Orte des Schreckens und der Mühsal.
Da brach ein Zürcher Arzt, der in seiner Vaterstadt zu wenig
Arbeit fand, mit der herkömmlichen Sitte und und unternahm —
Alpenreisen. Johann Jakob Scheuchzer hieß der Neuerer. Und
weil er so viel Merkwürdiges und Erstaunliches von seinen Reisen
zu berichten wusste, fand er bald Begleiter und Nachahmer, die
gleich ihm in die Berge zogen, alles mögliche beobachteten. Pflanzen,
Tiere, Mineralien sammelten, und in Reisebeschreibungen die
Früchte ihrer Unternehmungen auch andern zu gute kommen
ließen. Es galt zwar noch fast als eine Ketzerei, wenn Scheuchzer
offen erklärte, dass er „an dergleichen, sonst wilden und einsamen
Orten, größere Belustigung und mehreren Eyfer zur Aufmerckung
spüre, als bey den Füßen des großen Aristotelis, Epicuri oder
CartesU. Etiam hie Du sunt."'
Freilich beschränkten sich alle diese Reisen auf die Gebirgs-
täler und die Pässe, mit Einschluss einiger Abstecher auf leicht
erreichbare Gletscher; die Berge selbst galten ohne weiteres als
unersteiglich. Aber allmählich wurden das Interesse und auch die
Neugier doch stärker und allgemeiner, und von der Mitte des
18. Jahrhunderts an folgten sich Reisebeschreibungen und Schil-
derungen der Alpenwelt fast Jahr um Jahr. Zwar schrieb ein
jeder nach seiner Eigenart, wenn er nicht bloß einen Vorgänger
ausbeutete, aber es lässt sich doch leicht erkennen, dass das all-
gemeine Interesse sich bald diesem, bald jedem Problem zu-
548
wandte und zwar nicht zufällig, sondern unter dem Einfluss der
Ergebnisse der wissenschaftlichen Alpenforschung.
Wenn wir im folgenden diesen Beziehungen nachgehen, so
müssen wir uns allerdings auf eine kleine Auswahl von Alpen-
schilderungen beschränken und können auch da nur einzelne
Probleme herausgreifen.
Wie hoch sind die Berge? Das war eine sehr naheliegende
Frage, im Quecksilberbarometer hatte man ein Mittel zur Höhen-
bestimmung erhalten. Scheuchzer war der erste, der es syste-
matisch dazu verwendete. Die noch sehr unvollkommene Methode
suchte er zu verbessern, ebenso die zur Berechnung erforderlichen
Tabellen. Scheuchzer ohne Barometer auf Reisen — das war
undenkbar. „Und pflege ich diesen Götzen an allen Orten, wo
ich hinkomme, aufzustellen", sagt er einmal. Doch nicht nur hier,
sondern auf allen Gebieten der Alpenforschung brach er Bahn
und suchte die Grundlagen für weitere Arbeit zu schaffen, wobei
er allerdings oft allzu leichtgläubig die Erzählungen seiner Ge-
währsmänner als Tatsachen hinnahm.
Natürlich interessierten ihn auch die Gletscher, besonders
deren Anwachsen und Schwinden. Das Wiedergefrieren des
Schmelzwassers und die Ausdehnung der im Eise enthaltenen
Luft hält er für die wesentlichen Ursachen der Spaltenbildung.
Am Urnersee entdeckt und untersucht er die Schichtung des Ge-
steins, findet Versteinerungen, die er, wahrscheinlich zum Teil
mit Rücksicht auf die Zürcher Geistlichkeit, sämtlich der Sünd-
ilut zuschreibt. Die Berge hält er für hohl, da sich nur so das
Gleichgewicht gegenüber tiefer liegenden Ländern wie auch die
Menge der Quellen erklären lasse. Vom Gotthard aus fließen
Ströme nach allen Küsten Europas, also muss dort auch die
größte Bodenerhebung sein, die Scheuchzer auf etwa 10,000
Fuß schätzt. Ungefähr gleich hoch scheint ihm der Titlis zu sein.
Seine noch sehr ungenauen barometrischen Höhenmessungen
begegneten so großem Misstrauen, dass sogar die noch viel un-
richtigeren geometrischen Messungen, die Micheli du Crest wäh-
rend eines unfreiwilligen Aufenthalts auf der Festung Aarburg
vornahm, mehr Glauben fanden. Aber die Alpenreisen hatten
überhaupt das Interesse der Gebildeten nach einer anderen Seite
abgelenkt: Das Gletscherproblem spielt nun die Hauptrolle. 1751
549
veröffentlichte der Theologe Professor Altmann von Bern eine
Beschreibung der helvetischen Eisgebirge. Nach der beinahe
obligatorischen Schilderung des untern Grindelwaldgletschers teilt
er eine Beschreibung des Unteraargletschers mit, die er vom
Luzerner Arzt Kappeier erhalten hat. Dieser glaubt, in Überein-
stimmung mit Altmann, dass sich vom Tödi bis zur Gemmi ein
eigentliches Eismeer von etwa vierzig Stunden Länge ausbreite,
auf dem die Gletscher als eine riesige Eistafel schwimmen. Bei
Zunahme des Eises werden Eisschollen durch die Einschnitte des
Ufers hinausgedrückt und bilden so die eigentlichen Gletscher.
Als Ursachen der Spaltenbildung bezeichnet Altmann die Be-
wegungen dieses „Meeres" und warme Quellen; zudem glaubt
er, dass fast überall „starke Schwefeladern sich befinden, deren
dann das ganze bernerische Oberland voll ist, von denen die
hitzigen Ausdünstungen auf diesem Orte des Berges (er meint
die sogenannte heiße Platte im Grindelwaldgletscher) den Schnee
und das Eis alsobald wegschmelzen". Ja, der Berg Üschenen (am
Gemmiweg) sei so von Schwefel durchzogen dass dessen Aus-
witterungen die Luft völlig mit Schwefeldünsten erfüllen, die bei
warmem Wetter durch bloße Luftbewegung sich entzünden. So
erklärt er sich die Tatsache, dass die Gipfel im Gebiet des Großen
Lohner oft vom Blitz getroffen werden.
Nur neun Jahre später erschien G. S. Gruners Werk: Die
Eisgebirge des Schweizerlandes. Auch ihn beschäftigen vor allem
die Gletscher, über deren Bewegung er sich eine eigene Theorie
ausdenkt. Den Mineralien widmet er, meist auf Grund der Ar-
beiten anderer Forscher, eine längere Darstellung. Damals
herrschte im Staate Bern ein wahres Bergwerksfieber; überall,
wo sich ein Erz zeigte, begann man zu graben und zu sprengen.
Darum zählen die Beschreibungen jener Zeit eine Unmenge von
Fundstellen auf, Grüner gibt einzig bei Lauterbrunnen deren etwa
ein Dutzend an. In der Ortsbeschreibung ist er schon viel ge-
nauer als Altmann, obwohl auch er den größten Teil seiner
Beschreibung nicht auf eigene Anschauung gründen kann. Und
noch etwas Neues macht sich hier zum erstenmale geltend: Bou-
guers Reisen in Peru hatten eine neue Gebirgswelt erschlos-
sen, und nun werden die peruanischen Gipfel mit den Alpen
verglichen.
550
Auch bei Grüner weckte die Gebirgslandschaft im Einzelnen
noch den Eindruck des Schauerlichen; so schildert er den Weg
vom Grimselhospitz zum Oberaargletscher in folgenden Ausdrücken :
„Von dem Oberaargletscher stürzt sich die Aar durch einen
greulichen Fall, hinter einem sehr hohen Felsen, aus entsetz-
lichen Schrunden hervor. Wenn man von dem Spitale bis dahin
ihrem Laufe nachgehen will, so muss man sich an eisernen
Haken, die zu diesem Ende in eine steile Felswand festgemacht
sind, halten, um nicht in grässliche Schrunde hinunterzustürzen.
Diese Reise dauert eine ganze Stunde lang, durch eine scheuß-
liche Wildnis."
Aber wie schön der Ausblick von einem der Hochgipfel sein
müsse, — leider seien die meisten unersteiglich — das zu be-
schreiben findet er nicht Ausdrücke genug, und lässt darum dem
Dichter der Alpen das Wort, indem er ein paar Strophen aus
dieser Dichtung abdruckt. Da wir gerade von Haller reden —
auch dem poetischen Schilderer unserer Berge sind einige Trop-
fen Wissenschaft in die Feder geflossen, wenn er zum Beispiel
vom Leukerbad sagt:
Sein lauter Wasser rinnt mit flüssigen Metallen,
Ein heilsam Eisensalz vergüldet seinen Lauf;
Ihn wärmt der Erde Gruft und seine Fluten wallen
Vom innerlichen Streit vermischter Salze auf.
Während Grüner noch die höhern Gipfel für unbesteigbar
erklärte, hatten schon die Versuche, den Montblanc zu bezwingen,
begonnen. Nun tauchen auch die bisher fast völlig unbekannten
Walliseralpen in den Büchern auf. Der Genfer Bourrit entdeckt
den Otemmagletscher, den er für den Anfang eines bis zum Sim-
plon reichenden Eismeeres hält. Die von Grüner begonnenen
Vergleichungen mit den amerikanischen Gebirgen setzt er fort:
mitten in seine — großenteils aus Grüner entlehnte — Beschrei-
bung Graubündens schiebt er ein paar Kapitel über die süd-
amerikanischen Cordilleren ein, die unterdessen noch besser be-
kannt geworden waren; und von jetzt an wird in der alpinen Lite-
ratur immer wieder Bezug genommen auf die Erforschung frem-
der Länder durch La Condamine, Bouguer, Humbold und andere.
Aber auch in der Beschreibung des eigenen Landes vollzog
sich um die Jahrhundertwende eine wesentliche Änderung. Pro-
551
fessor Tralles in Bern und viele andere Forscher bestimmten
trigonometrisch die Höhe der wichtigeren Gipfel, und damit
wurde den bisher so häufigen Diskussionen über diese Streit-
frage endgültig der Boden entzogen. Dafür machte die Beschrei-
bung auch der abgelegensten Hochtäler rasche Fortschritte; denn
Naturforscher und Bergsteiger gingen immer eifriger und kühner
ans Werk. Die rasch wachsende Zahl der Fremden nötigte zur
Herausgabe möglichst praktischer Führer durch die neu er-
schlossene Wunderwelt. Ein Beispiel dafür bietet J. Q. Ebels 1804
in „ganz umgearbeiteter und sehr vermehrter Auflage" erschienene
Anleitung, auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweiz
zu bereisen. In alphabetischer Reihenfolge wird alles Wissens-
werte aufgezählt, ein besonderer Band gibt eine Menge praktischer
Winke, Tourenvorschläge usw.
Neben der Beschreibung des Landes kam allmählich auch
die Schilderung seiner Bewohner zu ihrem Rechte. Interessant
sind besonders die Darstellungen der Ausländer. Wir müssen uns
hier mit ein paar Streiflichtern begnügen. Dem gebildeten Städter
des 18. Jahrhunderts fiel vor allem das äußerst einfache und da-
bei gar nicht freudlose Leben der Alpenbewohner auf. So ruft
Haller, indem er Rousseaus Ideen vorwegnimmt:
Seht ein verachtet Volk zur Müh und Armut lachen,
Die mäßige Natur allein kann glücklich machen!
Und diesen Glücklichen sagt er:
Bei euch, vergnügtes Volk, hat nie in den Gemütern
Der Laster schwarze Brut den ersten Sitz gefasst.
Euch sättigt die Natur mit ungesuchten Gütern.
Fünfzig Jahre später schreibt Bourrit von den Oberwallisern,
unter dem bezeichnenden Titel Sitten des goldenen Zeitalters:
„Nun sind wir im Lande der Ruhe, Menschlichkeit und Glück-
seligkeit . . . Man wird als Mensch empfangen; und auf diesen
schönen Titel gründet sich die Zuneigung, die sie äußern. So
empfingen sie uns; so hatten sie J. J. Rousseau empfangen."
Und nun folgt eine lange Schilderung dieses Paradieses und sei-
ner glückseligen Bewohner. Gegen Ende des Jahrhunderts machte
dieses Idealisieren einer ruhigen Beobachtung und Forschung
Platz. Das zeigt sich deutlich schon in Ebels Schilderung der
552
Gebirgsvölker der Schweiz. Der Verfasser nagelt zwar auch
noch mit bitteren Bemeri^ungen die Tatsache fest, dass eine Kuh
im Appenzellerlande mehr Achtung genieße, als Millionen Menschen
Europas, die unter dem Prügel und der Knute ihr Leben ver-
fluchen. Aber er sieht auch das Unerfreuliche und beschönigt
es nicht. In seiner Reise in das Berner Oberland (1817) spricht
J. R. Wyß ganz offen von allerlei Unsitten, von Trägheit, die
man da und dort finde.
Im Vorwort betont er, dass manche Forschungsgebiete, „wie
zum Beispiel die Bergnamen, viele Sagen und die Mythologie der
Alpen noch sehr wenig berührt worden sind, während sie doch
ein neues Gebiet von Unterhaltung eröffnen, das im gegenwär-
tigen Augenblick, bei der auflebenden Teilnahme für das Alt-
deutsche, wohl größere Teilnahme finden dürfte, als sonst frei-
lich der Fall sein könnte." Während frühere Beschreiber über
das, was sie nicht sicher wussten, mehr oder weniger phantasier-
ten, man denke nur an Altmann und Bourrit, sagt Wyß: „Ich
habe absichtlich nicht eine Beschreibung, sondern eine Reise ge-
geben. Jene schien mir noch immer viel zu viel zu versprechen ;
diese dagegen erlaubte mir, da zu schweigen, wo ich gar nichts
wusste, nicht selbst gesehen hatte, nicht hinreichend unterrichtet
war, oder zwischen ungewissen Angaben noch nicht ins Klare
gekommen."
1811 wurden Finsteraarhorn und Jungfrau bezwungen; da-
mit war der Bann gebrochen und in den folgenden Jahrzehnten
fanden die meisten Gipfel der Alpen ihre Ersteiger. Auch das
Gletscherproblem wurde endlich mit aller Gründlichkeit in An-
griff genommen. Das allgemeine Interesse dafür stieg in den
vierziger Jahren derart, dass in den politischen Tagesblättern
lange Diskussionen über die „Eis-Epoche" geführt wurden und
das Publikum überall nach Gletscherschliffen suchte. Die Alpen-
schilderungen konnten davon nicht unberührt bleiben. Engelhardt
(1840) bringt Erörterungen über die erratischen Blöcke und
J. G. Kohl (1851) widmet der Natur in den Alpen ein paar
hundert Seiten seiner Alpenreisen, wobei er vorsichtigerweise
die verschiedenen Theorien der Gletscherbewegung bloß aufzählt,
ohne dazu Stellung zu nehmen. Ein Zeichen der Zeit ist es auch,
dass Kohl die Reisenden selbst in seine Schilderung einbezieht.
553
Seine Landsleute aus Norddeutschland, die Franzosen und Eng-
länder bieten ihm reichlich Stoff zu humorvollen Plaudereien,
die den feinen Beobachter erkennen lassen.
Die Alpenschilderung des 19. Jahrhunderts hat sich nach
verschiedenen Richtungen entwickelt. Wenn wir von der wissen-
schaftlichen Literatur und den vielen Einzelbeschreibungen ab-
sehen, finden wir noch drei Hauptgruppen: Das Reisehandbuch,
dessen Zweck darin besteht, ein möglichst zuverlässiger Führer
zu sein. Aus Ebels vierbändiger Anleitung zum Reisen ist 1843
in der 8. Auflage ein einbändiges Handbuch für Reisende in der
Schweiz geworden, das in manchem schon an den modernen
Bädeker erinnert. Die zweite Gruppe bilden die je nach der
Eigenart des Verfassers mehr oder weniger subjektiv gefärbten
Reisebeschreibungen, die manchmal nur ein kleines Gebiet um-
fassen und darum oft wenig Neues bringen, wenn der Verfasser
nicht ein besonders guter Beobachter ist. Literarisch am höch-
sten stehen wohl die Darstellungen, die uns die Natur in den
Alpen als ein Ganzes und im Zusammenhang der einzelnen Er-
scheinungen zeigen. Die Ortsbeschreibung wird dem „Handbuch"
überlassen und an ihre Stelle tritt die eben erwähnte Darstellung
der einzelnen Erscheinungen nach ihrer Ursache und Wirkung
und deren Einordnung in die Gesamtheit der Alpenwelt. In solchen
Werken zeigt sich der Einfluss der wissenschaftlichen Forschung
am deutlichsten. Diese ist einerseits kompliziert, anderseits
bringt sie allmählich Klarheit in die Zusammenhänge. Der Laie
möchte nun gerne Klarheit haben, aber ohne die Kompliziertheit,
und man kann ihm das gewiß nicht verargen. Solchen Wünschen
suchen die in den letzten Jahren besonders zahlreich erschiene-
nen volkstümlichen Darstellungen der verschiedensten Wissens-
gebiete entgegen zu kommen. Pflanzen- und Tierleben, die Erde
als Wohnstätte des Menschen, fremde Länder und Völker: all
das ist Gegenstand volkstümlicher Darstellung geworden, wobei
die hochentwickelte Illustrationstechnik nicht wenig mitgeholfen
hat. Derartige Werke wären aber nicht möglich, wenn nicht das
Interesse für die Erscheinungen der Natur zugenommen hätte. Da-
rum finden auch die Alpen immer neue Schilderer. Einer der
neuesten ist France, der in seinen Alpen die Ergebnisse der For-
schung dem Verständnis des Lesers nahe zu bringen und vor
554
allem den Natursinn des Bergwanderers zu wecken und zu schär-
fen sucht. Die meisten dieser Werke sind eigentlich Variationen
des nämlichen Themas: Der Mensch und die Erde. Unsere Va-
riation heißt: Der Mensch und die Alpenwelt. Schon die Schrift-
steller des achtzehnten Jahrhunderts betonen den Einfluss der
Berge auf die Alpenvölker, allerdings meist in allzu rosiger Be-
leuchtung. Wir modernen Menschen sind darin viel nüchterner
geworden; wir beleuchten bloß noch die Wasserfälle. Wie die
Darstellung der Menschen ihr Zeitalter nicht verleugnen kann, so
auch diejenige der Natur. Von Scheuchzer bis auf France erken-
nen wir den Einfluss der Naturforschung. Selbst wenn France gar
keine Quellen für den naturgeschichtlichen Teil seiner Alpen
nennen würde, könnte ein Naturforscher das Werk auf wenige
Jahre genau datieren, und so ist es auch mit früheren Darstel-
lungen. Es gewährt einen eigenen Genuß, einige „Alpenbücher"
aus verschiedenen Zeiten vergleichend zu lesen und so den
Wandlungen zu folgen, die sich im Verhältnis der Menschen zur
Bergwelt vollzogen haben.
BASEL TH. DE QUERVAIN
□ DD
KÜNSTLER UND PSYCHIATER
Der nennt mein Leben Wahn,
Der's nicht erfassen kann.
Die Frucht reift wie im Traum,
Und krank sein soll der Baum?
Ihr steigt mit Messerblick
Hinein in mein Geschick
Und wühlt drin ohne Scham,
Ehrt nicht, woher es kam.
Ich leb' wie ihr so heiß
in Liebe, Kampf und Fleiß,
Und fang' den Widerschein
Im Spiegel obendrein.
KUNST UND BÜRGERTUM
Das kluge Bürgertum
Wird nie im Tempel stumm.
Es kann nur schmäh'n und schrei'n.
Was läuft es dann hinein ?
EMANUEL VON BODMAN
555
ZUM FERMATPROBLEM
In den letzten Jahren hat, aller sonstigen Regel entgegen,
ein mathematisches Hauptproblem, das Fermatproblem, in wei-
testen Kreisen auch der Nichtfachmathematiker Beachtung ge-
funden. Allerdings nicht seiner selbst wegen; die große Popu-
larität, die ihm binnen kurzer Zeit geworden, verdankt es viel-
mehr dem Umstand, dass 1907 ein Darmstädter Mathematiker,
Dr. Wolfskehl, durch Legat einen Preis von 100,000 Mark ge-
stiftet hatte zu Gunsten desjenigen, der zuerst einen allgemeinen
Beweis für den Fermatschen Satz erbringe. Kurze Zeit schon,
nachdem dieses Vermächtnis bekannt geworden war, liefen bei der
mit der Preisangelegenheit betrauten Gesellschaft der Wissen-
schaften in Göttingen angebliche Problemlösungen in sehr großer
Zahl ein, unzulängliche Arbeiten aus allen möglichen Berufs-
kreisen. Die Göttinger Instanz suchte — was begreiflich war — dem
Segen Einhalt zu tun, verfiel jedoch auf ein recht sonderbares
Auskunftsmittel. Sie erklärte nämlich im offiziellen Preisaus-
schreiben, keine Manuskripte anzunehmen, sondern nur Arbeiten
berücksichtigen zu wollen, „die in periodischen Zeitschriften, als
Monographien, oder in Buchform im Buchhandel käuflich er-
schienen seien". Alle Lösungsversuche sollten also vor irgend-
welcher Prüfung gedruckt werden. Und ferner bestimmten die
Göttinger, dass der Preis frühestens zwei Jahre nach der Ver-
öffentlichung der zu krönenden Abhandlung zuerkannt werden
solle. Mit diesen Bestimmungen wurde die Preisausschreibung
nun aber in eine bloße Prämierungsangelegenheit umgewandelt,
indem die Bedingung der vorgängigen Drucklegung natürlich zur
Folge hat, dass die Namen der Bewerber den Preisrichtern zum
vornherein bekannt werden.
Mit dem Problem selbst hat es folgende Bewandtnis. Im Altertum
schon kannte man eine allgemeine Formel für die Lösung der Aufgabe,
zu zwei Zahlenquadraten ein drittes Zahlenquadrat zu finden, das
gleich der Summe der beiden ersten ist (also x^ -h y^ = z^). Die
Formel gibt — mit andern Worten — an, welche ganze Zahlen den
Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks entsprechen, so dass nach
dem pythagoreischen Lehrsatz die Summe der Quadrate der bei-
den kleineren Zahlen gleich ist dem Quadrate der größeren.
556
Diese Lösung überlieferte Diophant in seiner Arithmetik. Nun
fand Fermat, der Toulouser Gerichtsrat und größte Mathematiker
des siebzehnten Jahrhunderts, dass die Summe von zwei gieich-
gradigen Zahienpotenzen nur im Falle der Quadrate gleich einer
dritten Zahlenpotenz des gleichen Grades sein könne, dass es
hingegen unmöglich sei, zwei Zahlen zu finden, deren dritte Po-
tenzen zusammengezählt wieder eine dritte Potenz ausmachen,
und dass die nämliche Unmöglichkeit für alle höheren Grade
bestehe. Dieser Schluss auf die Unmöglichkeit, für die Formel
X" 4- y" = z" ganzzahlige Lösungen zu finden, wenn der Expo-
nent n größer als 2 ist, also für Dreipotenzengleichungen dritten und
aller höheren Grade, ist der berühmte Fermatsche Satz. Fermat
selbst behauptete in einer seiner Randbemerkungen, womit er
sein Handexemplar der Diophantschen Arithmetik beschrieb, für
diesen Satz, zu dem er offenbar durch Probieren gelangt war,
einen „wunderbaren Beweis" aufgefunden zu haben. Von dem
wunderbaren Beweis war jedoch weder in Fermats hinterlasse-
nen Papieren noch in seiner Korrespondenz etwas zum Vor-
schein gekommen, und es ist deshalb mehr als bloß zweifelhaft,
dass Fermat die Lösung wirklich gefunden hat. Die seitherigen
Erfahrungen lassen viel eher annehmen, dass Fermat bei der
Niederschrift jener Bemerkung zwar geglaubt habe, den Weg zur
Lösung schon abzusehen, der spätere Versuch der Lösung selbst ihn
dann aber enttäuschte. Tatsächlich liegt von Fermat nichts vor.
Aber auch in den seit Fermat verflossenen drei Jahrhunderten
ist das Problem Problem geblieben, obschon ihm alle Mathematiker
begegnen mussten und es an Anstrengungen von ganz Großen, wie
Euler zum Beispiel, nicht fehlte. So ist es begreiflich, dass man
auch in neuerer Zeit die Chancen für die Problemerledigung
nicht hoch einschätzte und der Darmstädter Preisstifter die
Gültigkeit seines Preisanerbietens auf ein volles Jahrhundert
befristete.
Ende 1910 erregte es daher Aufsehen, als im Berliner Tag
eine Nachricht erschien, wonach die in Nowawes bei Berlin
lebenden Privatgelehrten Eugen und Ulrich Dühring den Beweis
des Fermatschen Satzes gefunden hätten. Der Verfasser der Ein-
sendung, ein Fachmathematiker, Prof. Dr. Metger, verwies auf
eine dahin auszulegende Andeutung, die Eugen Dühring in einer
557
Artikelserie (Zum Hohn auf drei mathematische Jahrhunderte^)
getan, nach der aber die Lösung gerade wegen der Wolfskehl-
schen Preisstiftung und der sogenannten Preisausschreibung nicht
veröffentlicht werden sollte. „Die beiden Dühring — erklärte
Prof. Metger — sind unzweifelhaft Mathematiker von allererstem
Rang. Sie haben in ihren Grundmitteln 2) die Wissenschaft um
weittragende Methoden bereichert und sie haben außerdem, was
man bisher für . unmöglich erklärte, für die Gleichungen von
einem höheren als dem vierten Grade eine allgemeine Lösung
gefunden. Wenn sie also jetzt erklären, dass sie das Fermatsche
Problem gelöst haben, so kann man fest davon überzeugt sein,
dass sie Recht haben". Auf diese Metgersche Äußerung hin be-
stätigte Eugen Dühring ganz bestimmt, was er zuvor mehr nur
hatte durchblicken lassen. „Er besitze — so erklärte er^) — nicht
nur den betreffenden Beweis bezüglich der Zahlen, sondern mehr
als das, nämlich eine algebraische, also weit allgemeinere als
.zahlentheoretische Darlegung, dass und warum der Möglichkeit
beim zweiten Grade die Unmöglichkeit bei allen höheren Graden
zur Seite geht; die Dreipotenzengleichung zweiten Grades lässt
sich rationalisieren, die der höheren bis in die Unendlichkeit hin-
ein nie." Der Beweis soll jedoch zunächst nicht veröffentlicht
werden. Dühring Vater und Sohn haben Verschweigung und Pla-
giierung ihrer früheren Leistungen zur Genüge erfahren. Da
kommt ihnen die Göttinger Preisstiftung — mit der sie persön-
lich aus Gesinnungsgründen nichts zu tun haben können — bloß
quer, indem die gegenwärtige Preisjägerei das denkbar größte
Entwendungsrisiko darstellt. Die beiden verspüren begreiflicher-
weise wenig Lust, nun etwa durch vorzeitige Veröffentlichungen
die Anerkennung für die wissenschaftliche Leistung einem Pla-
giator zuzuwenden, der ihre Lösung in anderer Einkleidung ge-
schickt zu verwenden verstände und sich dafür obendrein noch
durch den Göttinger Preis vor aller Welt auszeichnen und legi-
timieren lassen könnte. Vor der Veröffentlichung sollten wirkliche
^) Personalist, Nr. 256 ff. {Personalist-V erlag in Nowawes bei Berlin).
2) Neue Grundmittel und Erfindungen zur Analysis, Algebra, Funk-
tionsrechnung und zugehörigen Geometrie, 1. und II. Teil (1884, 1903). Ver-
lag von O. R. Reisland.
•) Personalist, Nr. 271.
558
Garantien gegen deren Plagiierung geschaffen werden. Und in
weiteren Artii<eln begann Dühring selbst mit den sichernden
Vorkehrungen.
Ohne die entscheidende spezielle Wendung kenntlich zu
machen, erklärte Dühring zunächst allgemein, weshalb die Pro-
blemlösung drei Jahrhunderte hindurch vergeblich gesucht wor-
den sei und weshalb sie auch jetzt von anderer Seite nicht zu
erwarten stehe. Der Fehler liege an den bisherigen Methoden,
die für das Fermatsche Problem untauglich seien. Der zahlen-
theoretische Weg führe nicht zum Ziel; nicht, wie bisher, als
Zahlenproblem sei der Nachweis der Fermatunmöglichkeil zu
fassen, sondern als algebraische Aufgabe. Diese Erklärung ver-
deutlichte Dühring, indem er durch geeignete Beispiele die Über-
legenheit seiner algebraischen Methoden darlegte. Es gibt für die
sogenannten pythagoreischen Zahlen, wie einleitend schon ange-
deutet wurde, eine alte, sehr einfache Berechnungsformel: Man findet
die fraglichen Quadratzahlen, indem man von zwei beliebigen
Zahlen das doppelte Produkt, die Differenz und die Summe der
Quadrate nimmt also setzt: x = 2ab, y = a^ — b^ z = a^ -h b^
wobei a und b beliebige Zahlen sein können. Wählt man als
Zahlenbeispiel a =- 2 und b = 1, so erhält man für x^ + y^ = z-
die Quadratzahlengleichung 42 + 3^ = 5^ oder 16 -f- 9 = 25. Bei
der Kennzeichnung seiner algebraischen Methoden gab nun Düh-
ring eine von ihm abgeleitete Formel bekannt für die rationale
Lösung der Forderung, die Summe zweier Quadrate in einen
Kubus zu verwandeln, also der Gleichung x^ + y^ = z^. Diese
Formel ist derjenigen für die pythagoreischen Zahlen ähnlich, wenn
auch nicht ganz so einfach. Nimmt man wiederum die beliebi-
gen Zahlenelemente a und b, so findet man nach der Dühring-
schen Formel x = a^ — 3ab^ y = b^ — 3a b, z = a^ + b^. Wählt
man das Zahlenbeispiel a = 2 und b = 1, so erhält man für
x2, y2 und z^ die Zahlen 2\ W und 5» oder 4, 121 und 125.
Dühring gab außerdem noch eine andere „singulare" Lösung,
nämlich x = a (a^ + b^), y = b (a^ -j- b^), z = a^ -]- b^, bei der
das Zahlenbeispiel a = 2 und b = 1 folgendes Ergebnis zeigt:
10^, 5^ und 5^ oder 100, 25 und 125. Ferner erklärte er, dasser
eine Ableitung besitze, welche die beiden angegebenen Lösungen
für x^ -f y2 = z^ mit einem Schlage ergebe, und forderte die
559
Fachmathematiker heraus, ihm auf rein algebraischem Wege die
Sache nachzutun. Wenn dieses und noch ähnhche später anzu-
gebende Probleme öffentlich gelöst seien, so werde er zu wei-
teren Veröffentlichungen seiner Methoden bereit sein.
Im Tag Nr. 33 (1913), meldete sich der Berliner Mathe-
matikprofessor Dr. Krohs, der sich schon durch eine frühere
hochmathematische Arbeit als Kenner der Dühringschen mathe-
matischen Errungenschaften ausgewiesen hatte i), zum Wort. Er
teilte mit, dass er die von Dühring geforderte Ableitung besitze,
und gab das von ihm gefundene Ergebnis an. Die gleiche alge-
braische Methode gestattet — nach Prof. Krohs — überdies die
Lösung von x^ -[" y^ = 2*, von x^ + y^ = z^ etc. Für x^ + y^ = z^
liefere die Lösungsformel zum Beispiel für a = 1 und b = 2 die
Potenzengleichung 1121^4-4042= 17^ oder 1 256 641 + 163 216 —
1419 857, die sich gewiß nicht durch bloßes Ausprobieren finden
lasse. Dabei wird z = (a* -f b*). Ferner erklärt Prof. Krohs,
dass die schon von Euler erwähnte und von Dühring als Zwei-
potenzengleichung bezeichnete bisher aber noch nie allgemein
behandelte Aufgabe x^ — y^ = 2 sich nunmehr algebraisch er-
ledigen lasse; es lasse sich dabei beweisen, dass außer der frü-
her durch Probieren leicht gefundenen Lösung x = 3 und y = 5
keine weitere rationale Lösung möglich sei. Prof. Krohs schloss
seinen Artikel mit den Worten: „Das alles aber spricht für Düh-
ring. Die angegebenen Resultate wurden mir, indem ich mich
mit Hilfe seiner Andeutungen im Personalist von der zahlen-
theoretischen Beschränkung der Aufgaben frei machte, allerdings
erst nach manchem Fehlversuch und angestrengtem Nachdenken.
Die Anwendung meiner Methode auf das eigentliche Fermat-
problem hat mir die Gewissheit gegeben, dass Dühring die viel-
umstrittene Lösung besitzt".
Die Problemlösungsangelegenheit, die nun so weit gediehen ist,
verdient nicht nur des Problems wegen Beachtung. Es handelt
sich nicht nur um eine Höchstleistung auf mathematischem Ge-
biet. Es handelt sich außerdem auch um die Einführung ein-
facherer, sicherer Rechnungsmethoden. Prof. Krohs erklärte schon
früher in seiner oben erwähnten mathematischen Abhandlung
^) Die algebraisch lösbaren irreduziblen Gleichungen fünften Grades.
Berlin 1901. R. Gaertners Verlagsbuchhandlung.
560
„Die algebraisch lösbaren irreduziblen Gleichungen fünften Gra-
des" auf bloß dreißig Seiten nach Dühringscher Methode die
Schwierigkeiten einwandfrei erledigt zu haben, ohne vom Leser
mehr als die Vorkenntnisse eines Realabiturienten zu verlangen,
während sonst dazu eine recht beträchtliche Menge schwieriger
zahlen- und substitutionstheoretischer Kenntnisse nötig gewesen
wären, die einen ziemlichen Band gefüllt hätten. Heute werden
Vereinfachung und größere Anschaulichkeit in der Mathematik
vorab in den Elementen von Fachmathematikern als Hauptpro-
grammpunkte anerkannt. Wenn nun, wie Prof. Krohs andeutet,
die Bemühungen um das Fermatproblem in dieser Hinsicht größte
Fortschritte erwarten lassen, so gewinnt die Frage, ob eine bal-
dige Veröffentlichung der Dühringschen Lösung möglich werde
oder nicht, ein ganz allgemeines Interesse. Denn Vereinfachung
der mathematischen Mittel, leichtere Zugänglichkeit, abkürzende
Wege zur Höhe sind nicht bloß eine Angelegenheit der Fach-
mathematik, sondern des menschlichen Wissens überhaupt.
ZÜRICH HERMANN MEYER
D D D
DIE WANDMALEREIEN DER
UNIVERSITÄT
„Sehen Sie denn nicht ein, lieber Herr Bovet, dass Sie mit
Ihrer scharfen Kritik der Entwürfe Bodmer und Huber der Se-
zession in Luzern Vorspanndienste leisten? Und betrübt es Sie
nicht, dass sowohl das Volksrecht wie die Biilacher Wochenzeitung
ihrem Votum Beifall spenden?"
Diese Argumentation beunruhigt mich nicht. Abgesehen da-
von, dass ich keiner Partei angehöre, kann ich nicht einsehen,
was die Politik mit diesen Wandmalereien zu tun hätte . . . „Aber
die Sezession?!" Ja, wer beweist mir denn, dass zwischen den
Entwürfen Bodmer und Huber einerseits und der Sezession ander-
seits gar kein Raum vorhanden ist für eine andere Auffassung
der Kunst? Seit wann sind denn die Herren Bodmer und Huber
der Inbegriff der „modernen Malerei"? Da würden sich die besten
Künstler in der Schweiz schön bedanken, und nicht zuletzt Herr
Hodler selbst.
561
Damit habe ich den Mann genannt, auf dessen mächtiges
Wirken — ohne seine Schuld — eine merkwürdige Konfusion
zurückgeht. Für viele Verehrer, wie auch für viele Gegner Hodlers,
ist Er die Offenbarung, er allein die moderne Kunst. Etwas an-
deres neben ihm gilt nicht mehr; der traurigste Schmierer jedoch,
der mühsam das Äußerlichste an Hodlers Kunst kopiert, wird
durch des Meisters Zauberkraft zum „modernen Künstler" ge-
hoben. Ich bin überzeugt, dass Hodler selbst an diesem sonder-
baren Kultus keine echte, tiefe Freude hat. Er ist dafür in dem-
selben Maße verantwortlich, wie Racine für die schlechten Tragödien
eines Voltaire, und wie Goethe für die vielen Wertheriaden. Es ist
das Schicksal eines jeden Bahnbrechers, dass er nach der einen
Seite befreit und nach der andern Seite knechtet; er befreit die
Tüchtigen, er knechtet die Mittelmäßigen.
Über Hodler selbst nur wenige Worte, um meine persönliche
Stellung zu ihm kundzugeben. Seit zwanzig Jahren bewundere ich
ihn, nicht blind, aber mit umso größerer Treue. In einer italieni-
schen Zeitschrift (Rivista politica e letteraria) veröffentlichte ich
1901 einen Artikel über die Schweizer Künstler, der gerade in
Hodler den Befreier begrüßte. Seit einigen Jahren sehe ich wohl
in ihm eine weitere Entwicklung, doch keinen Fortschritt mehr
und muss manches als Irrungen bedauern. Wer will aber heute
schon über ihn ein sicheres Urteil fällen? Ein solcher Riese ver-
langt Perspektive . . .
Wie groß er auch sei, vergessen wir doch nicht, dass neben
ihm andere echte Künstler ganz andere Wege gegangen sind und
noch gehen werden; er ist nicht die moderne Schweizerkunst.
Der Fehler seiner blinden Verehrer besteht eben darin, dass sie
diese Identifikation vorgenommen haben, und dass sie alles, was
auch nur äußerlich „hodlerianisch" aussieht, als „modern"
verherrlichen. Wer anderer Meinung ist, der „versteht eben nichts
von Kunst". Die einfache Logik forderte einen andern Absolutis-
mus heraus, den der freudelosen Sezession, auf die Hodlers Name
wie ein rotes Tuch wirkt . . . Und so heißt es schließlich auf bei-
den Seiten: „Vogel, friss oder stirb!" Wer die Entwürfe Bod-
mer und Huber nicht bewundert, der wird zur Sezession gescho-
ben und von ihr mit dickem Strick gezogen. Wo bleibt da die
562
Freiheit der Kritik, die ebenso notwendig ist, wie die Freiheit
der Kunst?
Mein h'eber, verehrter Freund Hans Trog hat es erfahren
müssen. Mag ich auch oft (besonders auf dem Gebiete der Ma-
lerei) anders denicen als er, ich sehe in ihm, seit Jahren, einen
durchaus unabhängigen, hervorragenden Kritii<er, von dem gerade
der Andersdeni^ende immer etwas zu lernen hat. Die gewissen-
hafte Erfüllung seiner Pflicht hat ihm genug Schmähbriefe und
perfide Insinuationen zugezogen, dass ich ihm hier öffentlich,
auch im Namen anderer, unsern Dank ausspreche. Sein Wissen,
sein Geschmack, seine scharfe Einsicht seien nur nebenbei er-
wähnt; was ich betonen möchte, das ist das stete Wohlwollen,
das er, trotz der gelegentlichen feinen Manie, den jungen auf-
strebenden Talenten entgegenbrachte, und die Standhaftigkeit, mit
der er immer für Hodler und einige andere eintrat. Nun, da er
mit durchaus sachlicher Begründung die Entwürfe Bodmer und
Huber abgewiesen hat, musste er auch erfahren, dass er von der
„Kunst der Gegenwart" nichts versteht . . . Hans Trog wusste
wohl, dass man mit dem Gespenst der von ihm so grimmig be-
kämpften Sezession kommen würde; er ist vor diesem Gespenst
nicht erschrocken; er sprach aus, was sein Gewissen ihm deut-
lich sagte; und damit hat er allen ein Beispiel des männlichen
Mutes gegeben.
Jetzt können wir endlich zur Sache selbst übergehen, zu
diesen Entwürfen, die vielen meiner Leser offenbar bekannt sind.
In der neuen Zürcher Universität sollen also der Saal des Senates
und das Dozentenzimmer Wandmalereien erhalten. Der Entwurf
Bodmer (Senat) ist besonders lehrreich. Es kommen da Wände
in Betracht, die architektonisch aus zwei Rechtecken bestehen;
das untere Rechteck bekommt ein Holzgetäfel ; dem Künstler blieb
das obere, schmalere Rechteck. Herr Bodmer hat das Problem
so gelöst: er teilte das Feld in drei Dreiecke ein; das mittlere,
rote Dreieck (mit schwarzer Figur) soll mit Linien und Farbe
das obere Rechteck mit dem roten Getäfel verbinden; links und
rechts bekommen die gelben Dreiecke je ein schwarzes Medaillon.
In diesem Entwurf sollen wir die Farbenpracht und die glück-
liche Verbindung der Rechtecke bewundern. Wenn aber der Ar-
chitekt seine Wand so einteilte und das Verhältnis der Höhe der
563
Rechtecke bestimmte, warum soll der Maler andere Linien, an-
dere Verhältnisse vortäuschen? Gerade die „modernste" Archi-
tektur verlangt aufrichtige Struktur, und Unterordnung des Orna-
mentes eben dieser Struktur. Die Sache wird aber geradezu
komisch: da man nachträglich eingesehen hat, es sei doch des
Roten zu viel, so soll jetzt das Getäfel grau werden; um aber
die Verbindung mit dem roten Dreieck zu erhalten, sollen links
und rechts die äußersten Fächer des Getäfels rot bleiben. Das
heißt: anfänglich war das Dreieck rot wegen des roten Getäfels;
und jetzt haben wir zwei rote Fächer wegen des roten Dreiecks!
— Rot, gelb und schwarz sind gewiss
eine schöne Farbensymphonie, wenn
man auch keinen besonderen Grund
hat, gerade diese Farben zu wäh-
len ; käme es bloß auf die Farben an,
so hätte der Architekt keinen Wett-
bewerb gebraucht um die Wand
zu schmücken; dass man Künstler
zu einem Wettbewerb einlud, be-
weist, dass man auch Formen, womöglich Figuren wünschte,
die in irgend einer Beziehung zur Bestimmung des Saales stehen.
Da kommen mir nun die schwarzen Medaillons in den gelben
Dreiecken merkwürdig unbeholfen vor, zwar nicht an sich, son-
dern im Raum, als losgelöste Teile eines Ganzen; der Architekt
meinte, diese Medaillons seien „so schön, dass man sie direkt
herausschneiden möchte" ; besser könnte man sie nicht kritisieren ;
denn die Wandmalerei (möge sie Linien oder Figuren bringen)
fordert eine so strenge Komposition, dass kein einzelner Teil
auch nur die Idee des Herausschneidens zulassen darf. Vom
schwarzen Pferde und seinem Reiter, von der rätselhaften Frau
will ich nichts sagen, weil hier nur der subjektive Geschmack
dafür oder dagegen spricht; die zwei Hunde (besonders der hin-
terste) gefallen mir sehr gut in ihrem kräftigen und eleganten
Schwünge. Das Dekorationsmotiv der grünen, dünnen, blätter-
armen Stengel scheint mir eine unglückliche Nachahmung des
sehr bestreitbaren Verhoeven; doch ist auch das Sache des Ge-
schmackes. Sachlich ist jedenfalls die eigentliche Technik des
Entwurfes äußerst mangelhaft; eine solche Keckheit grenzt an
564
Leichtsinn ; die souveräne Verachtung der Qualität in Zeichnung
und Farbe hat gewiss dem Gesamteindruck sehr geschadet.
Der Entwurf Huber (Dozentenzimmer) bringt fünf Figuren,
deren rhythmische Anordnung sofort die Absicht kundgibt, „hodleri-
anisch" zu sein; ebenso die Horizonth'nie und die spärh'che Aus-
schmückung der Wüste, die als farbig neutraler Hintergrund die
Farben und Linien der Figuren besser hervortreten lassen soll.
Die Ausführung bleibt weit hinter der Absicht zurück. Die kau-
ernden Figuren tragen „zeitlose", sich enganschmiegende Gewän-
der; die französische Kunst hat in ihren besten Epochen immer
wieder nach dem Zeitlosen gestrebt (reduction ä l'universel); ich
bewundere das an ihr und so wäre mir auch diese Absicht des
Herrn Huber sympathisch ; doch ist die Ausführung misslungen.
Ein anderes, schwer definierbares Element fällt mir bei den Fi-
guren auf: etwas Hieratisches, das stark an die Götterbilder der
Hindus erinnert^). Also verschiedene Elemente und Absichten,
die unorganisch neben einander liegen. Das Ganze soll die Ver-
kündung einer neuen Lehre darstellen^); als solche macht es auf
mich einen grotesken Eindruck.
Über den Gehalt, über die Beziehung dieser Bilder zu den
Räumen hat Hans Trog so richtig geurteilt, dass ich die wichtige
Frage ruhig bei Seite lassen kann.
Am 10. Januar haben die Dozenten der Zürcher Universität
mit großer Mehrheit (49 und 48 gegen 10 und 11 Stimmen) der
Regierung den Wunsch ausgesprochen, die Bilder möchten nicht
ausgeführt werden. Uns allen tat es besonders leid, in dieser
Sache gegen Herrn Moser, den Erbauer unserer Universität,
kämpfen zu müssen. Persönlich gehöre ich zu denjenigen, die
das Werk des Herrn Moser bewundern und es immer gegen alle
Angriffe verteidigt haben. Wir schätzen und lieben in Herrn Moser
den Menschen und den Künstler. Er ist aus voller Überzeugung
') Bemerkenswert ist, dass dieses Element auch in Amiets Entwurf
für die Dekoration des Kunsthauses fühlbar ist; nur dass bei Amiet das
Ganze viel einheitlicher ist, aus einem Wurfe, in einem Stile. Dieser Ent-
wurf gehört sicher zu den besten Leistungen des Künstlers, wenn man
auch über das Verhältnis der Figuren zur Höhe der Wand und über die
Verwendung von nur zwei Farben sich wundern darf.
^) Also auch hier eine Ähnlichkeit mit Amiets Entwurf für das Kunst-
haus; und auch hierin bleibt Herr Huber weit hinter Amiet zurück.
565
für die Entwürfe eingetreten; unsere Überzeugung gebot uns^
gegen die Entwürfe zu stimmen. Wer hat Recht? Das icann nur
die Zukunft lehren. Beide Parteien '.haben ehrlich ihre Pflicht
getan; und wie auch der Entscheid der Regierung ausfallen mag,
wir dürfen nach dem Kampfe einander die Hände reichen.
Vom Rechte der Professoren und der „Bourgeois" im allge-
meinen, in Kunstfragen ihre Meinung auszusprechen, soll bei
anderer Gelegenheit die Rede sein. Heute will ich bloß mit Tat-
sachen eine Auffassung widerlegen, welche die Künstler gerne
vertreten. Es werden immer wieder zwei oder drei Fälle ange-
führt, in denen große Künstler von ihren Zeitgenossen verkannt
und verfolgt wurden, während die Nachwelt in ihnen Befreier sieht.
Und daraus wird der Schluss gezogen : wer heute keinen Erfolg
hat, der ist ein großer Mann. — Das beruht doch auf einer sehr
summarischen und einseitigen Kenntnis der Vergangenheit. Aus
der Geschichte der Literatur will ich nur einige Namen zitieren:
Von ihren Zeitgenossen wurden verkannt oder nicht richtig ge-
schätzt: La Fontaine, Racine, Moliere, Vauvenargues, Stendhal,
Flaubert. Viel zu hoch gepriesen wurden Leute wie Malherbe,
Chapelain und Voltaire. Aber mit Recht wurden Unzählige wenig
beachtet, die oft an die Nachwelt appellierten und von dieser
Nachwelt noch strenger beurteilt werden, so die Brüder de Gon-
court. Und endlich haben viele ihre Zeitgenossen sofort oder
nach sehr kurzem Kampfe erobert; so Petrarca, Rabelais, Ron-
sard, Corneille, Lamartine, Hugo, ja auch J. J. Rousseau. Man
sollte wahrlich aufhören, aus jedem Abgelehnten einen Märtyrer
zu machen.
Die Herren Bodmer und Huber haben sicher schwere Tage
durchgemacht. Sie werden wohl aber die Ersten sein, nicht Mit-
leid, sondern sachliche Anerkennung zu wünschen. Und wenn
sie das Zeug dazu haben, werden sie eines Tages die Anerken-
nung auch erzwingen. Manchen Künstler kenne ich, der heute,
nachträglich, in den ersten Schlappen die fruchtbarste Belehrung
sieht. — Lassen wir die Sezession triumphieren und Kronzeugen
anrufen; das wird aus guten Gründen nicht lange dauern. Wenn
aber auf unserer Seite ein gewisser Bann gebrochen ist, wenn
das kunstfreundliche Publikum, die Kritiker und vor allem die
Künstler sich wieder auf Freiheit, Aufrichtigkeit und Qualität be-
sinnen, dann ist der jetzige Kampf für die Schweizerkunst ein
wahrer Segen.
ZÜRICH E. BOVET
DOD
566
D O
D D
THEATER UND KONZERT
D D
D Q
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Das
Schaffot. Wir sahen in diesem Winter
das Danton-Drama Büchners. Ein
revolutionärer Politiker endet unter
der Guillotine. Ein noch Radikalerer,
dem er unbequem geworden ist,
bringt ihn zur Strecke. Ist das tra-
gisch? An sich gewiss nicht. Die
politische Konjunktur bringt das so
mit sich. Wir mögen es tragisch
finden, dass der Minderbegabte, der
Wertlosere Sieger bleibt. Allein er
ist nun einmal der Mächtigere (für
den Moment), und dieser nicht so
selten im Leben sich ereignende Fall
vom Heraufkommen des Geringeren,
des Rücksichtsloseren, vielleicht auch
nur Pfiffigeren hat im Grunde mit
Tragik nichts zu tun, so traurig der
Vorgang als Lebenserfahrung immer
wieder stimmen mag. Die Tragik
als solche kann nur im Helden selber
liegen. Etwa so: er ist durch Ge-
walttaten, durch Ungesetzlichkeiten,
durch Frevel hoch gekommen; und
nun möchte er aus all dem heraus,
hinauf zu einer reineren Sphäre,
möchte das Vergangene vergessen
machen, möchte das Chaos, aus dem
er unbedenklich emporstieg, indem
er mit ihm Geschäfte machte, zur
Ordnung, zur Gesetzlichkeit bändigen
und umbilden ; dazu aber reicht seine
ethische Kraft nicht mehr, oder sie
findet keinen Glauben, und seine
Vergangenheit tötet seine Zukunft.
Nicht das Schaffot macht einen
solchen dramatischen Helden tra-
gisch ; dass er an sich selbst zer-
brach, bevor er den Todesgang an-
treten muss, bestimmt seine tragi-
sche Konfiguration.
Beim Egmont, wie ihn Goethe
formt, liegt die Sache wieder anders.
Was da von tragischer Wirkung her-
ausspringt, stammt aus einer andern
Quelle: ein Optimist verschließt aus
seinem ganzen Temperament heraus
die Augen vor den harten Realitäten
des Lebens; er kann und will nicht
an die dunkeln Mächte in der Men-
schennatur glauben. So zerschellt
er an ihnen. Aber auch hier: sein
eigener Charakter wird zur Ursache
seines Todes.
Im ersten Fall ein Held, der an
der Unreinheit, im zweiten einer, der
an der Gutgläubigkeit seines Wesens
zu Grunde geht. Gleichsam zwei
Pole des tragischen Erlebens.
Wie stände es nun mit Hans
Waldmann ? Er wird zur ersten
Kategorie gehören müssen, wenn er
dichterisch als tragische Persönlich-
keit zur Erscheinung gebracht werden
soll. Denn er ist ein großer Ehr-
geiziger, was bei Egmont völlig weg-
fällt. Und der Ehrgeiz hat ihn in
den Mitteln des Empordrängens und
Sichbehauptens völlig unbedenklich
gemacht. Oben angelangt aber -
und hier würde ein weiteres psycho-
logisches Moment eintreten — ist die
Hybris über ihn gekommen, die Ver-
blendung, dass er sich nun alles er-
lauben dürfe, um die Macht zu be-
haupten und anzuwenden im Dienste
dessen, was ihm als das Zuträgliche
für das Gemeinwesen erscheint. Aber
die Andern, die er untergekriegt hat,
sind auch noch am Leben, und sie
spähen nach seinen Schwächen, um
mit ihrer Rache einzuhaken. Sie
legen die Kontreminen, sie wiegeln
— um die historisch-exakte Wahrheit
hat sich der Dichter nicht zu küm-
mern — die Landschaft gegen sein
Regiment auf. Waldmann jedoch
will und darf von solcher Widersetz-
lichkeit, die ja jetzt nicht seinen eige-
nen Zwecken mehr dient, nichts
wissen. Er fährt scharf drein. Und
nun haben die Gegner doppelt ge-
wonnenes Spiel. Jetzt können sie
567
K>««
THEATER UND KONZERT
sich als die Volksfreunde aufspielen.
So wird das Netz geflochten, in dem
das Wild sich fängt. Zur Tragödie
des großen politischen Ambitiosus
müsste der Waldmann-Stoff geformt
werden. Eins wäre unumgängliche
Bedingung: die Mächte der Gegen-
aktion müssten klar, und scharf ge-
zeichnet und mit der nötigen drama-
tischen Dynamik ausgestattet wer-
den; die Skrupellosigkeit haben sie
bei dem Waldmann des Aufstiegs
lernen können, und sie waren auf-
merksame Schüler, so aufmerksame,
dass ihr Lehrer, dem späterhin aHe
Unbotmäßigkeit als ein Staatsver-
brechen gegen seine Person nicht
nur, sondern auch gegen das von
ihm selbstherrlich und streng ver-
tretene und verwaltete Regiment er-
scheint, den Kürzeren ziehen muss.
So etwa würde ich mir ein
Waldmann - Drama vorstellen , das
über das zufällig Historische hinaus
uns menschlich etwas zu sagen hätte.
H. TROG
O D
D a
NEUE BÜCHER
a □
Dr. H. SCHOLLENBERGER.
Edmund Dorer ; die Persönlichkeit
und sein Schaffen. Huber und Co.
Frauenfeld.
„Bildung, Geschmack, Begabung,
Herzensadel besaß er in ungewöhn-
lichem Grade, und jedem, der nur ein
Stündchen neben ihm gesessen hat,
wird er unvergesslich bleiben". So
urteilt C. F. Meyer in einem Kon-
dolenzschreiben über Edmund Do-
rer, mit dem er manches gemein
hatte. Dies Wort Meyers enthält keine
jener Übertreibungen, die beim Tode
eines Freundes entschuldbar sind;
es erscheint vielmehr mit Bedacht
geschrieben, wie alles, was Meyer
dem Briefe anvertraute.
Schollenberger führt für diese
Auffassung den Beweis und ergänzt
das Urteil über den Menschen durch
eine scharfe Umgrenzung der Künst-
lernatur Dorers, von dem Meyer ge-
sagt hatte, dass er bei zarter Natur
und Gesundheit zum Verwundern
viel geleistet habe. Schollenberger
hat diese Leistung durchforscht, er
hat sich die Arbeit, die manchen vor
ihm zurückschreckte, angelegen sein
lassen und nicht leicht gemacht. Hier
galt es, Quader zu wälzen, zu graben,
zu sichten und zu sieben, ehe die nicht
sehr ergiebige Goldader dieses in
seinen Interessen lebhaft schwanken-
den Dichtergeistes bloßgelegt war.
Mit großer wissenschaftlicher Ge-
nauigkeit, mit Geschick und Ge-
schmack, mit dem Rüstzeug eines
durchgeschulten Literarhistorikers
ging der fleißige und kenntnisreiche
Autor zu Werke, genau so, als ob
er seine Kräfte einem großen Dich-
ter zu widmen gehabt hätte. Die
warme Liebe zum Menschen und zum
Gegenstand lobt jede Zeile dieses
Buches.
Dorer, dessen interessanter Ro-
mantikerkopf die erste Seite des
Werkes schmückt, erinnert stark an
Platen, der kein Romantiker sein
wollte, aber doch zu ihnen gezählt
werden kann. Er hat mit diesem
gemeinsam die kulturelle Familie, die
sensitive Seele, die Keuschheit der
Jugend, die Reinheit der Lebens-
führung, die ängstliche Sorge für
seinen nur wenig widerstandsfähigen
Körper, die Sehnsucht nach dem
Süden (dort nach Italien ; hier nach
Spanien), die Liebe zur Form, die
Schönheit des Gedankens, die Viel-
seitigkeit des Wissens; aber auch
den Mangel an Leidenschaft (was
C. F. Meyer einmal lobend feststellt
568
NEUE BUCHtR
»0*0
und auf seinen Vegetarismus zurück-
führt!) und den Mangel hervorragen-
der Geistigkeit. Sein Talent liegt
etwas unter der Linie Platen-Geibel.
Ein Menschenalter früher geboren,
hätte Dorer eine gewisse Geltung
wohl erobern können. Er gehört
zu jenen tragischen latenten Dichter-
naturen, die das Beste ihres Talentes
nur schwer ans Licht fördern kön-
nen, die ineist auf halbem Wege
stecken bleiben, so dass die letzte
Durchbildung, die erst die Eigenart
eines Dichters am deutlichsten er-
weist, meist nicht gelingt. Er gehört
zu jenen tragischen Menschen, denen
niemals die gewaltige emotionelle An-
feuerung eines Erfolgs zu Teil ge-
worden ist, so dass die lebendige
Quelle ewig durch eine Eisdecke ver-
schlossen blieb. Er gehört nicht zu
den Flammen, die im Sturmwind
wachsen, eher zu denen die ewig zu
erlöschen drohen. So beschleicht ihn,
den Märtyrer, wie er auf dem Toten-
bette sich nannte, die Unsicherheit.
So bleibt er oft im Konventionellen
stecken. Er kommt aus dem Geiste
anderer nicht heraus. Er gewinnt
nicht die Kraft, selbst etwas sein
zu wollen, und es ist bezeichnend
für ihn, dass, neben einer Fülle eige-
nen geistigen und erworbenen Gutes,
seine vortrefflichsten Aussprüche sich
häufig an den Worten, Gedanken und
Dichtungen anderer entzünden müs-
sen. Hier liegt auch der Grund, wes-
halb er andere wiederholt.
Es wäre jedoch durchaus verfehlt,
Edmund Dorer die Bedeutung ab-
sprechen zu wollen, die ihm in
dieser genau abwägenden Arbeit zu-
gesprochen wird, denn die Persön-
lichkeit Dorers — Schollenberger
hat auf dem Titel des Buches das
Wort Persönlichkeit vorangestellt —
ist von unzweifelhaftem Kulturwert.
Ich habe unter Schollenbergers
Führung mit großer innerer Anteil-
nahme die menschlichen Seiten dieses
eigenartigen Dichterlebens kennen
gelernt und als eine wirkliche Be-
reicherung die eindruckvollen zusam-
menfassenden Schlusskapitel gelesen.
Schollenberger benutzt, um im
Bilde zu reden, seinen Gegenstand
niemals als Reckstange, um in einem
virtuosen Aufschwung zu exzellieren.
Immer aber am richtigen Orte, ohne
von Person und Gegenstand abzu-
lenken, ist ein Vergleichsmaterial
aufgeschüttet und ein Reichtum der
Beziehungen hergestellt, der Respekt
abnötigt.
Ein Beitrag zur Schweizer Kultur
aus der zweiten Hälfte des ge-
schwundenen Jahrhunderts ist dieses
Buch, zu jener künstlerischen und
menschlichen Kultur, deren geniale
Blüte Conrad Ferdinand Meyer be-
zeichnet.
Deshalb ist dieses Buch für jeden
Nachdenklichen lesenswert, beson-
ders aber für Künstler, die am Schick-
salsmäßigen nicht kalt vorübergehen.
Schollenberger hat, was ich deut-
lich hervorheben möchte, durch einen
sehr ansehnlichen Zuschuss an rein-
geistigen und seelischen Werten
seinem Werke eine starke besondere
Anziehung geschaffen.
CARL FRIEDRICH WIEGAND
*
M. BUTTS. Au temps des Che-
valiers. Lausanne, Payot.
Voici un livre fort bien fait et
tres adapte aux lectures en famille.
Tout en interessant vivement les
petits il n'ennuiera aucun des grands.
M"e Butts y a mis ä la portee
de chacun un choix d'histoires de
chevalerie, legendes celebres et pour-
tant mal connues parce que trop
longues et surtout difficiles ä lire
dans le texte; eile les a resumees
adroitement, dans une prose nette
et sobre, agrementee d'une legere
saveur moyen-ägeuse. Et c'est une
569
NEUE BUCHER
K><9
saine lecture pour notre jeunesse
que Celle des aventures heroVques
et merveilleuses des preux Chevaliers.
Ajoutons que les illustrations en
sont excellentes. b.
*
KARL STAMM. Das Hohelied.
Lyrische Dichtungen. Mit Buch-
schmuck und einer Originalradierung
von Eduard Gubler. Orell Füßli,
Zürich 1913.
Wir haben nicht gerade Mangel
an jungen Dichtern. Mit berechtigtem
Skeptizismus betrachtet man neue
Namen und poetische Erstlinge; viele
glauben sich auserwählt, wenige sind
berufen! Wie mancher beginnt als
vielversprechendes Talent und hält
nicht, was sein Anlauf versprach.
Gerade das kleine Land sollte in der
Wertung seiner künstlerischen und
dichterischen Vertreter doppelt vor-
sichtig und gewissenhaft sein undseine
Kronen nicht allzu freigebig austeilen.
Wo aber einmal eine wirkliche
schöpferische Kraft nach hartem
Ringen und gewissenhafter Selbst-
prüfung ihr Können preisgibt, da
sollte auch die Anerkennung der ge-
botenen Gabe entsprechen. So
möchte ich heute dem Leser einen
jungen Zürcher Dichter ans Herz
legen, der es wahrlich verdient, dass
man sich mit seinem Empfinden und
Schaffen vertraut mache.
Karl Stamm wurde vor 23 Jahren
in Wädenswil geboren und ist heute
Lehrer in Steg, einem kleinen Dorf
des Tößtales, wo er in aller Stille
seinen dichterischen Plänen sich hin-
gibt. Sein erstes menschliches und
dichterisches Bekenntnis nennt er
nach dem, was es ihm ist und be-
deutet, Das Hohelied. Es ist eine
aus zahlreichen klangvollen und form-
vollendeten Sonetten und einer An-
zahl freier Rhythmen bestehende
„lyrische Dichtung", die in bezeich-
nende Gruppen gegliedert (Das Lied
570
an die Natur. — Das Lied des Le-
bens. — Das Lied der Seele) vom
Höchsten und Heiligsten, vom Tief-
sten und Unergründlichsten singt,
was das Herz und die Harfe des
Sängers bewegt hat. Es sind Klänge
darin angeschlagen, die uns mit un-
mittelbarer Kraft und Stimmungsge-
walt in den Bannkreis der Bewunde-
rung ziehen und unwiderstehlich
darin festhalten, Töne von einer
Schönheit, Tiefe und Reinheit, wie
sie nur die seltensten und glücklich-
sten Stunden dem echten Dichter
schenken.
Ein junger, dem Autor befreunde-
ter Künstler, Eduard Gubler, hat den
aus einer Originalradierung, Kopf-
leisten und Schlussvignetten beste-
henden Buchschmuck beigesteuert,
und der Verlag hat eine dem Gehalt
angemessene und würdige Ausstat-
tung zu bieten sich angelegen sein
lassen.
Mit ein paar kurzen Proben
möchte ich den Dichter hier ein-
führen ; ihre Art und Kunst, ihre Tiefe
und Reife, ihr Wohlklang und ihre
Schönheit werden ihren Genuss in
stillen Feierstunden begehrenswert
erscheinen lassen. Da ist zunächst
das einleitende Präludium, ein kleines
Meisterstück von künstlerischer und
gedanklicher Vollendung:
Ich bin wie eine weiße Schale
Im weiten Räume aufgestellt.
Das Flüstern klangerfüliter Tale,
Die Stille hoch im Sternensaale,
Das Licht, das in die Tiefen fällt:
Sie sammeln sich in meinem Grunde
Und kreisen selig in der Runde
Und formen sich in meinem Munde
Zum leisen Lied von Gott und Welt.
Zu Beginn des Liedes der Seele
finden wir das in feierlich-ernster
Majestät seelischen Vollklangs da-
hinrauschende Sonett:
Dich, selt'ne Stunde, segne ich vor allen,
Die du mir nahst, wenn stumm der Tag
verblich
Und all die wirre Hast entschlief in sich,
Und ungestört die nächt'gen Schleier wallen.
<MO«
NEUE BUCHER
tOKy
Dann schreitest du aus deinen ernsten Hallen
Mit kühlem Mund und still und feierlich
Und stattest mir zurück mein eignes Ich,
Das mir im lauten Lärm des Tags entfallen
Und gibst die Kraft mir, weit mich wegzuheben
Aus diesem ungestillten, halben Leben
Und öffnest mir die Tür' zu einer Welt
Jenseits vom Gut und Böse dieser Erde
Und lädst mich ein mit lächelnder Gebärde
Und duldest mich, so lang's dir wohlgefällt.
Gegen das Ende der Dichtung
findet man zwei Stücke von festlicher
Pracht der Anschauungswelt und
wuchtiger Prägnanz der ausgespro-
chenen Empfindungen, von urwüch-
sigster Fülle und Tiefe des wertvollen,
sprachlich fein abgerundeten Ideen-
gehaltes:
Des Himmels grauer Vorhang ist geschlossen.
Der Hof der Toten öffnet mir die Türen,
Die mich ins Reich der Abgeschied'nen führen.
Von Stille sind die Steine übergössen.
Und aus der Tiefe kommt es leis geflossen —
Unsichtbar kalte Hände mich berühren,
Den Atemzug Gestorb'ner kann ich spüren
Und dunkel hat ein Traum sich mir
erschlossen:
Ein Toter sprengte seine engen Wände
Und reichte mir die fleischlos harten Hände.
Doch seinem Mund entrann kein einzigWort.
Nur seine Augen hielt er aufgeschlagen
Und seine ew'gen Augen wollten sagen:
Wir sind verkettet alle, hier und dort.
*
Es naht die Nacht mit schlummerschweren
Winden
Und löscht die Lichter aus im weiten Land.
Auf heiße Schläfen legt sie sacht die Hand
Und lässt die müden Augen sanft erblinden.
Und allen Dingen will sie sich verbinden
Und deckt sie zu mit ihrem Traumgewand
Und Stille gießt sie lautlos in den Sand
Und tiefer dunkelnd alle Ufer schwinden.
Der ungebroch'nen Stille hingegeben
Erlischt der Dinge schlummertrunk'nes
Leben;
Sie sind nicht mehr und haben keinen Sinn. —
Jetzt eben ward, von Gott zurückgenommen
In seine Brust, die stille Welt vollkommen —
Und ist so dunkel wie von Anbeginn.
So dieser Dichter und sein viel-
versprechendes junges Werk. Spricht
es nicht genug für sich selbst, für
das Reife und Abgeklärte, was sich
jetzt schon darin findet und für das
vielleicht noch Reifere, was die Zu-
kunft und das weitere Schaffen seines
Urhebersund Gestalters uns dereinst,
wie wir hoffen, schenken wird? Ist
es nötig, Karl Stamm erst wieder
auf dem üblichen Umwege der An-
erkennung im Auslande seinen Lands-
leuten als etwas Tüchtiges, Rühm-
liches und Besonderes vor Augen zu
führen?
Oder soll ich zum Überflusse ver-
raten, dass sich in kürzester Frist
eine ganz stattliche Anzahl erster
deutscher und einheimischer Autoren
mit Überzeugung und Freude für den
jungen Dichter ausgesprochen und
sich neid- und rückhaltlos zu seinem
Werke bekannt haben? Ich glaube,
dieser Hinweis wird kaum noch not-
wendig sein. Aber freilich im lär-
menden Getriebe des Alltags und
des großen Marktes geht so mancher
feine Klang des echten Golderzes
unrettbar und unbeachtet verloren.
Und darum halte ich es für eine
schöne Pflicht, allen wahren Freun-
den echter Poesie zuzurufen: „Kauft
und leset dieses Buch; es wird, es
muss Euch gefallen, Ihr werdet schöne
und frohe Stunden des Genusses
und der Erhebung daran erleben,
weil es selbst ein tief Erlebtes, wie
für uns andere ein eigenartiges,
prachtvolles, unvergessliches Erleb-
nis ist. .ALFRED SCHAER
EMIL ERTL. Der Neuhäuselhof.
Roman. Leipzig 1913. L. Staack-
mann.
Der Österreicher Emil Ertl ist
schon längst nicht mehr darauf an-
gewiesen, dass ihm irgend ein Literar-
historiker auf dem Wege zum Parnass
selbstgefällige Führerdienste leiste
571
»oro
NEUE BÜCHER
Mit dem Fähnlein der „Meistgelese-
nen" darf er freilich nicht marschieren;
dazu fehlt ihm die Ellenbogenenergie,
das Raffinement der Aufmachung, die
Routine, überhaupt alles, was dazu
gehört, einen literarischen Rekord
aufzustellen. Seine beschauliche
Kunst lässt den Stoffhunger des Eil-
fertigen ungestillt; aber wer es ver-
steht, gemächlich zu genießen und
mitunter auch für ein paar Augen-
blicke das Buch sinken zu lassen
und nach innen zu horchen und zu
schauen, dem gewährt sie tausend
kleine, heimliche Freuden. Nie wird
es ihm gelingen, die gewaltige Pyra-
mide des strenggeführten Romanes
in die Wolken zu spitzen ; das Mas-
sige, die große Linie, die klare Archi-
tektur ist nicht seine Sache; in der
vielfach verästelten, gestaltenbunten
heimatlichen Familiengeschichte ent-
faltet er seine schönsten Kräfte. Am
besten kennt er sich aus in der Welt
der Philister, der kleinen Leute, die
wie die Seldwyler wohl keine Later-
nen einschlagen, aber auch keine
anzünden. Was Pate Gottfried vom
Original fordert: neben dem „beson-
dern Wesen allgemeine Tüchtigkeit,
Liebenswürdigkeit und ein mit dem
Herzschlaggehender innerlicherWitz"
hebt seine Helden über die enge
Dumpfheit ihres kleinbürgerlichen
Daseins empor; sie saugen die Ideen
der neuen Zeit ein, aber sie bleiben
dennoch Österreicher vom Wirbel bis
zur Zeh : ihre Seele gleicht, wie Alfred
V. Berger von seinen Landsleuten sagt,
einem übermalten Gemälde — kratze
die Deckfarben weg, und unter der
Erstürmung der Bastille kommt die
Anbetung der heiligen drei Könige
zum Vorschein. Und ein klein wenig
fühlt sich wohl jeder Leser mit die-
sem Völklein verwandt, wenn ihm
die stille Glut des Herzenskohlen-
beckens, das Nietzsche in der Brust
jedes Menschen finden will, noch
nicht erloschen ist.
Das neue Buch des Unermüd-
lichen, der Roman Der Neuhäusel-
hof, erschließt die Tore eines jener
ehrwürdigen, geheimnisvollen, urbe-
haglichen altwiener Mietshäuser, die
nun freilich allesamt der allmächtigen
Baulinie zum Opfer fallen werden.
„O ihr alten, geräumigen Höfe mit
den knallroten Pelargonien an den
Fenstern, mit dem blühenden Ole-
anderbaum im grüngestrichenen Kü-
bel, der allen gehört, den alle liebea
und der sorgsam von geschäftigen
Händen unter das vom Rost durch-
gefressene Loch in der Dachrinne
geschoben wird, sobald es in die
sommerliche Glut ein wenig zu
tröpfeln beginnt! ... Ihr Friedens-
oasen mitten im lärmenden Getriebe
der Stadt, ihr Lustparke der Kleinen
und Gedrückten, ihr Feengärten und
Märchenreiche der spielenden Kin-
der! . . ." Der Neuhäuselhof ist ein
wahrer Wunderkasten. Eine ganze
Welt hat darin Platz. Alle Stände
und Berufe sind da vertreten, und
was das Menschengeschlecht an drol-
ligen und leichtfertigen und tüchtigen
und versonnenen Abarten hervorge-
bracht hat, davon ist im Neuhäusel-
hof gewiss ein Exemplar zu finden.
Der gutmütige Hausbesitzer selbst,
der Herr Kaschper, vermöchte das
quecksilbrige Völklein freilich nicht
in Zucht und Zaun zu halten, wenn
ihm nicht seine Schwester Malwine
mit gewetzter Zunge und messer-
scharfen Blicken zu Hilfe käme. Sie
möchte ihn sogar dazu zwingen, sich
zu vermählen, damit der kostbare
Besitz der Familie erhalten bleibe;
doch ein Schlaganfall dispensiert ihn
von dieser ihm höchst peinlichen
Pflicht, Malwine sorgt für den Hilf-
losen, und die Krankenpflege weckt
auch in ihrer Brust das Beste, was
572
J^O^O
NEUE BÜCHER
in einer Frauenseeie schlummert:
Muttergefühle. Und wie nach dem
Tod der beiden Geschwister Doktor
Hariander Fräulein Malwinens Testa-
ment eröffnet — köstlich ist der Auf-
marsch der erbhungrigen Verwandten
dargestellt — da zeigt es sich, dass
der große Neuhäuseihof weder den
Wipperichs, noch den Trebernsacks,
sondern einzig und allein dem jungen,
etwas bockigen Doctor philosophiae
Peter Peterneil zufällt. Der möchte
am liebsten gleich seiner Steffi in die
Arme eilen, aber die Jugendfreundin
ist inzwischen eine große Schau-
spielerin geworden, und der Respekt
?or ihrer Kunst treibt ihn so lange
in der weiten Welt umher, bis er den
ganzen großen Neuhäuselhof ver-
trödelt hat. Da mietet er sich eine
Kammer der alten Heimat gegenüber,
und während das verödete Riesen-
haus niedergerissen wird, um einer
modernen Mietskaserne Platz zu
machen, hastet seine Feder eifrig
übers Papier: die Geschichte seiner
Jugend will er erzählen, und viel-
leicht wird ein Kunstwerk draus, so
groß und rein, dass er den Mut findet,
die Hand seiner Steffi zu fassen.
Der Roman ist von einem eigenen
intimen Reiz, trotzdem die Erfindung
eigentlich auf etwas schwachen Bei-
nen steht. Eine gewandte Hand hat
alle diese lieben Menschen geformt,
und der Erzähler verhehlt es auch
nicht, dass die Grazie, mit der er
seine Gestalten durcheinanderwirbelt,
ihm selber Spass macht. In der feinen
modernen Charakterkomödie oder
in einzelnen Berliner Gesellschafts-
romanen von Theodor Fontane waltet
die selbe behaglich-geistvolle Fabu-
lierfreude. Mitunter blitzt eine er-
götzliche Wendung auf, die im Ge-
dächtnis des Lesers haften bleibt;
so heißt es von Herrn Kränzle, dem
„platonischen Don Juan", der grund-
sätzlich alle weiblichen Wesen des
Neuhäuselhofs anschmachtet, er ver-
ehre die stille, schüchterne Kate Lu-
ley, seine Englischlehrerin, „nicht als
Gegenwart, sondern als Vergangen-
heit, wie etwa ein Kenner ein halb-
verfallenes Gemäuer liebt, um seiner
einstigen Pracht und Herrlichkeit
willen". Oder ein entzückendes
Stimmungsbildchen: auf der Bank
vor der Werkstätte sitzen am Abend
Gevatter Schneider und Handschuh-
macher bei allerlei sommerlichem
Klatsch und Getratsch ; da schnuppert
plötzlich einer in die Luft, das Ge-
spräch versickert, andächtig wie in
der Kirche, mit verklärten Gesichtern
staunen sie vor sich hin : die ersten
Blüten des Oleanderbaumes haben
sich erschlossen und strömen zärt-
lichen Wohlgeruch aus, und der auf-
steigende Mond füllt den Hof mit
flimmerndem Silberduft. Da lüpft
einer nach dem andern mit kurzem
Gutnachtgruß das Käppiein und
schlüpft sachte von dannen, ein Fen-
ster nach dem andern erlischt, und
über den First des Daches schleicht
der graue, nachdenkliche Hauskater
auf seidenweichen Pfötchen.
Wenn es Bücher gibt, die man,
wie manche Menschen, trotz ihrer
Mängel lieb haben muss, man mag
wollen oder nicht, so gehört Emil
Ertls Neuhäuselhof bestimmt dazu.
MAX ZOLLINGER
MAX STAHEL. Das Bauhand-
werkpfandrecht nach dem schweize-
rischen Zivilgesetzbuch. Zürich, Orell-
Füßli, 1913.
Das Büchlein ist eine kritische
Darstellung jenes neuen Rechtes,
das in Art. 837—841 des Zivilgesetz-
buches niedergelegt ist und zugleich
eine Studie über dessen bisherige
praktische Anwendung. Man beschul-
573
toto
NEUE BUCHER
raro
digt nicht selten das Bauhandwerker-
ipfandrecht, die gegenwertige Krise
des Baugewerbes zu verschärfen ;
auf jeden Fall kann es einschnei-
dende Neuerungen für gewisse wirt-
schaftliche Verhältnisse unseres Lan-
des anbahnen. Die anregend und
knapp geschriebene Schrift sollte
also von Laien wie von Juristen be-
achtet werden. a. b.
D
D
a
a
D
a
MITTEILUNGEN
DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS (S.E.S.)
COMMUNICATIONS DE LA SOCIETY DES fiCRIVAINS SUISSES (S.E.S.)
ASSEMBLEE GENERALE. Dans
sa seance du 25 janvier, le President
a fixe l'ordre du jour suivant pour
l'Assemblee generale qui aura Heu ä
Zürich le dimanche 15 fevrier:
Le . matin ä 10 heures, discours
d'ouverture du president, puis seance,
dont voici le programme:
1. Rapport de la derniere Assem-
blee generale.
2. Rapport annuel. Comptes et
Budget. Nomination de deux veri-
ficateurs des comptes.
3. Pioposition du president con-
«cernant le § 5 des Statuts.
4. Discussion concernant le §6.
5. La question du Secretariat.
6. Proposition du president: En-
tree dans la Societe de la Presse
Suisse.
7. Nos rapports avec le „Schutz-
verband schweizerischer Schriftstel-
ler."
8. Affaire Hermann Kurz (Le
Feuilleton Suisse).
9. Nomination d'unmembred'hon-
neur.
10. Entröe dans la „Fondation
Schiller."
11. Propositions individuelles des
membres de la societe ayant trait au
President.
12. Imprevu.
A 1 heure apr^s-midi, banquet ä
Belvoir.
Si le temps est beau I'apres-midi,
excursion ä Egg-Meilen.
A Meilen Conference de M. le Dr'
Robert Faesi: Geld und Geist im
Schrifttum. Retour par le bäteau.
En cas de mauvais temps: Con-
ference ä Belvoir. Visite de I'Ex-
position du Theätre au musee des
Arts et Metiers, avec explication. On
passera eventuellement la soiree au
Theätre.
Les membres de la Societe sont
cordialement invites ä venir nom-
breux ä cette assemblee, ainsi qu'au
banquet, et ä y amener leur famille
et leurs amis. On est prie de s'an-
noncer au plus tard trois jours ä
l'avance aupres du secretaire, le
Dr. Robert Faesi, Seewartstraße 28,
Zürich 2.
*
Nouvelles S. E. S. Ont donne
leur demission en janvier 1914:
M. Platzhoff-Lejeune, Lugano ; M^e
Hedwig Domine, Baden; MUe Anna
Theobald, Cästris.
*
Droits cTauteur. (Suite). L'article
31 du deuxieme avant-projet prövoit
clairement que la lecture, la repre-
sentation ou l'exposition publiques
d'une Oeuvre d'art dans un but de
bienfaisance, peut se faire sans
l'autorisation de l'auteur. C'est lä
une veritable expropriation. Les
ecrivains suisses, dont les ressources
sont souvent assez modestes, ne se
sont Jamals fait prier pour se mettre au
Service d'une oeuvre d'interet public.
574
#OK)
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ, SC H RI FTSTELLE R VEREINS «wo
ir n'y a donc aucune raison pour
leur en faire une Obligation. Et pour-
quoi tiendrait-on moins compte de
)a volonte d'un erivain que de celle
de tout autre individu auquel on de-
mande de ceder une salie, des mar-
chandises ou des ornements pour
une Oeuvre de bienfaisance? Nous
croyons du reste pouvoir affirmer
que tous les ecrivains dont on fait
cas se montreront toujours prets ä
satisfaire aux demandes de cette
softe, et nous engageons les mem-
bres de notre societe ä en user ainsi.
Mais si nous insistons sur la neces-
sit^ d'etre proteges par la loi, c'est
que nous trouvons qu'il importe
d'etre premuni contre les abus; c'est
une question de principe.
II en est de meme pour la re-
production d'une oeuvre dans un but
d'instruction ou d'education. Certes
un ecrivain sera toujours fier et
heureux de voir ses oeuvres devenir,
de son vivant, matiere d'enseigne-
meiit. C'est une preuve que son in-
fluence s'est largement exercee sur
le peuple, et particulierement sur la
classe susceptible d'etre instruite et
eclairee. Dans ce cas, nous con-
seillons aussi la plus grande libe-
ralite; c'est du reste l'interet meme
de l'auteur. Mais il lui appartient
pourtant de decider s'il veut faire
don de son oeuvre ä la jeunesse, ou
la lui ceder contre retribution. Que
de larcins n'a-t-on pas commis ces
dernieres annees sous l'enseigne:
„Pour Instruction". Des professeurs
d'histoire de l'art, des directeurs et
des maitres d'ecole publient des an-
thologies, des choix de nouvelles et
autres editions speciales d'ecrivains
dont ils encadrent l'oeuvre de remar-
ques critiques et instructives, quand il
ne la defigurent pas ä leur gre sous
des pretextes d'ordre pedagogique.
C'est ainsi que, sans aucune peine,
ils recoltent le fruit du travail d'au-
trui. Ces publications peuventenou-
tre porter prejudice ä la vente de
l'oeuvre originale.
En Italie, la loi n'apporte aux
droits d'auteur aucune des restric-
tions que prevoit l'article 23 du 2"^^
avant-projet suisse. On y sait trop
bien que le plus souvent les editeurs
de semblables „Collections" s'inte-
ressent moins au progres de l'ins-
truction qu'ä leur portemonnaie, et
fönt mainte speculation ä i'abri des
grands mots d'lnteret public et de
Devouement ä la jeunesse. En France
les auteurs sont beaucoup mieux
proteges que chez nous surcepoint.
En AUemagne on s'occupe au moins
desavoir si l'auteur est encore vivant.
C'est pourquoi plusieurs editions,
publiees en Suisse, d'ceuvres d'ecri-
vains etrangers, ne peuvent se ven-
dre au-delä de la frontiere. Nous
demandons donc que nos oeuvres
ne puissent plus etre reproduits con-
tre notre gre dans les anthologies
et editions scolaires.
L'art. 49 du 2me avant-projet nous
surprend beaucoup. Ce dernier ar-
ticle semble fait pour abolir les dis-
positions qui le precedent, en pro-
tegeant celui qui par erreur viole
les droits d'auteur. Cette disposition
est du reste en contradiction avec
l'article 7, oü, comme dans la Con-
vention de Berne, est considere
comme auteur, celui qui, de la facon
fiabituelle, est indique comme tel
sur l'exemplaire de l'oeuvre dont il
s'agit. On pourrait croire que toute
Chance d'erreur est exclue quand le
texte de la loi est clair. Nous pro-
testons contre cet article 49, qui
n'est fait que pour öter ä la loi sa
vigueur, et pour permettre de la
tourner par des [procedes suspects,
Teiles sont les dispositions con-
tre lesquelles nous avons cru devoir
575
»ors
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRlFTSTELLlEjRVEREINS »0*0
nous elever. Ceux que la question
interesse, trouveront de plus amples
renseignements dans le compte-rendu
de la Journee des Juristes de 1913.
»
GENERALVERSAMMLUNG, in
seiner Sitzung von 25. Januar hat der
Vorstand folgende. Tagesordnung für
die Sonntag den /5. Februar in Zürich
stattfindende Generalversammlung
festgesetzt :
Vormittags 10 Uhr im Belvoir,
Zürich-Enge, Eröffnung durch den
Vorsitzenden. Verhandlungen nach
folgender Geschäftsordnung:
1. Protokoll der letzten General-
versammlung.
2. Jahresbericht. Vereinsrechnung
und Budget. Wahl zweier Revisoren.
3. Zusatzantrag des Vorstandes
zu §5 der Satzungen.
4. Besprechung des §6.
5. Sekretärfrage.
Antrag des Vorstandes betreffend
Beitritt zum „schweizerischen Press-
verein".
7. Stellungnahme zum , Schutzver-
band schweizerischer Schriftsteller".
8. Angelegenheit Hermann Kurz.
9. Ernennung eines Ehrenmit-
gliedes.
10. Eintritt in die Schillerstiftung.
11. Anregungen aus dem Schöße
der Gesellschaft zu Händen des
Vorstandes.
12. Unvorhergesehenes.
1 Uhr Bankett im Belvoir.
Nachmittags bei schöner Witte-
rung: Ausflug nach Egg-Meilen.
In Meilen Vortrag von Dr. Robert
Faesi: „Geld und Geist im Schrift-
tum". Rückkehr per Dampfboot.
Bei schlechter Witterung: Vortrag
im Belvoir. Besuch der Theateraus-
stellung im Kunstgewerbemuseum,
unter Führung. Abends eventuell ge-
meinsamer Besuch des Theaters.
Die Mitglieder sind höflich ein-
geladen, recht zahlreich zu erscheinen
und zum Bankett und den folgenden
Festveranstaltungen ihre Damen und
weitere Gäste einzuführen. Anmel-
dungen spätestens drei Tage vor
der Versammlung an den Schrift-
führer Dr. Robert Faesi, Seewart-
straße 28 Zürich 2.
Vereinsnachrichten. Den Austritt
erklärten im Januar 1914: HerrPlatz-
hoff-Lejeune, Lugano; Frau Hedwig
Domine, Baden; ;Frl. AnnaTheobald,
Cästris.
Urheberrecht. Mit Befremden erfüllt
uns Art. 49 des 2. Vorentwurfs. Dieser
Schlussartikel scheint dazu angetan,
die voranstehenden Gesetzbestim-
mungen sozusagen wieder aufzuhe-
ben, indem er diejenigen schützt, die
das Urheberrecht irrtümlich ver-
letzen. Diese Bestimmungsteht durch-
aus in Widerspruch zu Art. 7, wonach
gerade wie in der Berner Konven-
tion als Urheber gilt, wer mit seinem
Namen in der üblichen Weise auf
den Exemplaren des Werkes als
Verfasser angegeben ist. Man sollte
meinen, ein Irrtum wäre vollständig
ausgeschlossen, wenn die Abfassung
des Gesetzes eine klare ist. Wir pro-
testieren gegen diesen Art. 49, der
nur dazu geeignet ist, die Wirkung
des Gesetzes aufzuheben und allen
möglichen unlauteren Kniffen den
denkbar besten Vorschub zu leisten.
Das sind die wichtigsten Bestim-
mungen, gegen die wir glaubten, uns
wenden zu müssen. Interessenten
mögen sich beispielsweise aus der
Veröffentlichung der Verhandlungen
des Schweizerischen Juristentages
1913 des genaueren informieren.
R. F.
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
576
ZUR LAGE
NEUORDNUNG DER BUNDESVERWALTUNG
Im letzten halben Jahr sind wichtige Fragen auf eidgenössi-
schem Gebiet ausgereift, die es sich lohnt näher zu besprechen.
In der Januarsession der Räte sind die strittigen Punkte im Ge-
setz über die Organisation der Bundesverwaltung bereinigt wor-
den. Damit wird das Gesetz binnen kurzem in Kraft treten können,
insofern es nicht durch das Referendum angefochten wird.
Seit dem Jahr 1909 haben sich die Räte mit dieser Frage,
insbesondere mit der Schaffung eines ständigen politischen De-
partements nicht mehr befasst. im bundesrätlichen Berichte vom
9. Juli 1912 wurde kein Hehl daraus gemacht, dass über die Er-
richtung eines ständigen politischen Departements im Bundesrate
selbst verschiedene Meinungen bestanden und dass sie sogar vor-
übergehend eine Mehrheit für sich gehabt habe. Schließlich wurde
sie mit vier gegen drei Stimmen noch einmal abgelehnt. Durch
den bald nachher erfolgten Hinschied von zwei Mitgliedern des
Bundesrates und' die Ersatzwahlen wurde indes das Stimmen-
verhältnis neuerdings verschoben, und es ergab sich nun im
Bundesrate eine Mehrheit für die Errichtung eines ständigen poli-
tischen Departements.
Am 17. Oktober 1912 beschloss dann die Kommission des
Nationalrates, dem Rate folgende Anträge zu stellen:
Der Bundesrat wird ersucht, den eidgenössischen Räten auf
folgender Grundlage eine neue Vorlage vorzulegen:
1. Entlastung des Präsidiums und der Mitglieder des Bundesrates
durch Übertragung von Befugnissen an die den Departementen
untergeordneten Amtsstellen.
577
2. Schaffung eines ständigen politischen Departements.
3. Der Bundesrat wird ferner ersucht, Bericht und Antrag darüber
einzubringen, ob nicht die Zahl der Mitglieder des Bundesrates
auf neun erhöht werden sollte.
Dieser Beschluss wurde dem Bundesrate mitgeteilt, damit er
eine entsprechende Vorlage ausarbeite. Im Nationalrate — das
war der Wille der Kommission — sollte erst darüber gesprochen
werden, wann die Vorlage des Bundesrates bekannt sein würde.
Es bedurfte der Auffrischung des Bundesrates durch jüngere
Kräfte und des freieren Luftzugs, den die Bewegung gegen den
Qotthard vertrag hervorgebracht hat, um unerwartet rasch, das heißt
schon am 13. März 1913 einen Entwurf des Bundesrates für die
Neuordnung der Bundesverwaltung hervorzubringen.
Der Angelpunkt der ganzen Reform ist die Abtrennung der
politischen Angelegenheiten vom wechselnden Bundespräsidium
und die Schaffung eines besondern politischen Departements mit
einem beständigen Leiter. Also kurz gesagt: man kam auf das
System Droz zurück, nach dessen Aufgabe im Jahre 1895 man
auf internationalem Gebiet eine Schwächung nach der andern
erfahren hatte.
Alles andere, auch die Schaffung eines besondern Volks-
wirtschafts-Departements, ist weiter nichts als eine neue Anord-
nung der verschiedenen Dienstabteilungen, hat aber nicht grund-
sätzlichen Charakter.
Das künftige politische Departement zerfällt in die politische
Abteilung und in die Handelsabteilung. Die politische Abteilung
soll unter anderm folgende das Auswärtige betreffende Materien
umfassen :
Wahrung der Unabhängigkeit, Neutralität und Sicherheit der Eidge-
nossenschaft und Ordnung ihrer völkerrechtlichen Beziehungen.
Gesandtschafts-, Konsulatswesen.
Vorbereitung und, soweit sie dem Departement übertragen wird, Be-
sorgung der auswärtigen Angelegenheiten.
Periodische Berichterstattung an den Bundesrat über den Gang der
auswärtigen Angelegenheiten.
Vorbereitung der Verträge mit dem Auslande, in Verbindung mit den
im einzelnen Falle beteiligten Departementen.
Verkehr mit den auswärtigen Regierungen und deren Vertretern in
Vertragsangelegenheiten.
Vermittlung des amtlichen Verkehrs zwischen Kantonen und auswär-
tigen Staatsregierungen. Prüfung von Verträgen, welche die Kantone von
sich aus mit ausländischen Behörden abzuschließen befugt sind.
578
Schutz schweizerischer Landesangehöriger und Wahrung schweizeri-
scher Interessen dem Auslande gegenüber. Schweizerische Vereine und
Anstalten im Auslande.
Überwachung und Regulierung der Grenzverhältnisse zum Auslande.
Internationale Ämter, unter Mitwirkung der beteiligten Departemente,
mit Bezug auf fachtechnische Fragen.
Die innerpolitische Abteilung umfasst unter anderm:
Die Grenz- und Gebietsverhältnisse der Kantone unter sich, soweit
hierin nicht das Bundesgericht zuständig ist.
Vorbereitung und Vollzug der Gesetzgebung über das Schweizer
Bürgerrecht. Optionsangelegenheiten.
Die Gesetzgebung über eidgenössische Wahlen und Abstimmungen.
Die Organisation und den Geschäftsgang der Bundesbehörden.
Vorbereitung und Vollzug der Gesetzgebung über das Auswande-
rungswesen.
Vorbereitung von Verträgen mit dem Auslande betreffend die Nieder-
lassung und das Unterstützungswesen.
Interkantonale Armenpflege; Aufsicht über die Verpflegung und Beer-
digung armer Angehöriger eines Kantons, die in einem andern Kantone
erkranken oder sterben.
Die interkantonale Armenpflege war bis vor einiger Zeit beim
Justizdepartement und war dort sehr gut aufgehoben. Dann hat
man sie plötzlich aus unbekannten Gründen dem Innern zuge-
wiesen.
Die internationale Armenpflege hat das Justiz- und Polizei-
departement auch jetzt noch in der Hand.
Heute, wo die Frage der Reorganisation des Armenwesens
und die Ausländerfrage eine so große Rolle spielen, hat niemand
begriffen, warum man im Entwurf des Bundesrates die Bürger-
rechts- und Ausländerfragen, die viel mit dem Armenrecht zu tun
haben, dem politischen Departement zuweisen wollte, das inter-
kantonale Armenwesen dem Innern und die internationale Armen-
pflege dem Justiz- und Polizeidepartement! Das sollte alles in
einer Hand, am besten beim Justiz- und Polizeidepartement ver-
einigt sein, wenn etwas Ersprießliches werden soll. Die ständige
Kommission der schweizerischen Armenpflegerkonferenzen hat
mit Recht in einer Eingabe an die eidgenössischen Räte Ein-
sprache gegen diese Ordnung der Dinge erhoben. Es sind dann
die interkantonale Armenpflege und die Bürgerrechts- und Nie-
derlassungsfragen dem politischen Departement zugewiesen wor-
den und die internationale Armenpflege sonderbarerweise dem
579
Justiz- und Polizeidepartement. Eine ideale Lösung ist dies nicht,
aber doch besser als der Entwurf.
Die Aufgabe der Handelsabteilung des politischen Departe-
ments ist ungefähr wie folgt umschrieben:
Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen aller jiErwerbsgruppen
gegenüber dem Auslande; insbesondere Förderung des Handels und des
Absatzes der schweizerischen Produktion im Auslande.
Mitwirkung bei der Zollgesetzgebung, bei der Aufstellung der Zoll-
tarife und beim Abschluss von Handelsverträgen.
Anstände im internationalen Handelsverkehr.
Internationale Ausstellungen (mit Ausnahme der Kunst- und Schul-
ausstellungen).
Redaktion und Herausgabe des Handelsamtsblattes.
Patenttaxen der Handelsreisenden.
Die ganz beträchtlichen Kompetenzen des Leiters des poli-
tischen und Handelsdepartementes werden eingeschränkt durch
folgende Bestimmung:
Für die Vorberatung der Zollgesetzgebung, der Zolltarife und der
Handelsverträge wird aus der Mitte des Bundesrates eine ständige Kommis-
sion gebildet, bestehend aus den Vorstehern des politischen Departements,
des Finanz- und Zolldepartements und des Volkswirtschaftsdepartements.
Dass der Leiter des Volkswirtschaftsdepartements, dem Land-
wirtschaft und Industrie unterstellt sind, mit dem Chef der Fi-
nanzverwaltung dieser Delegation angehören muss, versteht sich
von selbst. Man kann sich aber fragen, warum der jeweilige
Bundespräsident, der „den Gang der ganzen Bundesverwaltung
beaufsichtigt" nicht der Delegation angehören oder ihr Vorsitzen
soll. Ihm ist auch eine gar bescheidene Rolle zugedacht:
Der Bundespräsident vertritt die Eidgenossenschaft nach außen und
im Innern.
Dem Bundespräsidenten liegt die Leitung der Geschäfte des Bundes-
rates und die Vorprüfung der von den Departementen an den Bundesrat
gelangenden Geschäfte ob. Er beaufsichtigt den Gang der gesamten Bundes-
verwaltung und sorgt für die beförderliche Erledigung der den Departe-
menten zugewiesenen Geschäfte.
Dringliche Geschäfte des Bundesrates können in seinem Namen durch
Verfügung des Präsidenten erledigt werden. Sie sind dem Bundesrate zur
nachträglichen Genehmigung vorzulegen.
Der Bundesrat ist befugt, den Bundespräsidenten zu ermächtigen,
Geschäfte von mehr formeller Art oder untergeordneter Bedeutung in seinem
Namen durch Präsidialverfügung zu erledigen.
Es sind also mehr allgemeine Präsidialgeschäfte, die man dem
Bundespräsidenten zugedacht hat; bei deren Erledigung werden ihm
580
der Kanzler und die Vizekanzler behilflich sein. Bei aller Anerken-
nung der Notwendigkeit einer ständigen Leitung des politischen
Departements hätte es angemessen geschienen, dass der Bundes-
präsident den Beratungen der stets wichtigen Geschäfte der bundes-
rätlichen Delegationen, wo das Schwergewicht der Verwaltung und
der zu treffenden Entscheide liegt, Vorsitzen würde; sonst kann
tatsächlich der Vorwurf einer zu großen Kompetenzanhäufung in
der Hand des Chefs des politischen Departementes erhoben werden.
Denn dieser gehört auch noch mit den Leitern des Eisenbahn- und
des politischen Departementes der Delegation für Eisenbahnfragen
an. Etwas mehr als eine Art oberster Kanzleichef oder Formel-
präsident des Landes sollte der Bundespräsident denn doch sein,
um so mehr, als die Geschäfte mit Kanzleicharakter bei kräftiger
Mithilfe von Kanzler und Vizekanzler nicht allzuviel Zeit in An-
spruch nehmen sollten.
Mit Rücksicht auf die nicht gerade befriedigende Stellung
des Bundespräsidenten wurde die Frage der Erhöhung der Zahl
der Bundesräte von sieben auf neun neuerdings aufgerollt.
Der Neunerbundesrat wird namentlich von denen unterstützt,
die die Volkswahl des Bundesrates damit in Zusammenhang
bringen wollen. Es herrscht im Volke fortwährend eine starke
Strömung zugunsten der Volkswahl des Bundesrates, die am
4. November 1900 mit 145 936 gegen 270 502 Stimmen in der
Volksabstimmung unterlegen ist.
Man hat nun diesmal davon abgesehen, neben der Initiative
zur Stellung gewisser Staatsverträge unter das Referendum und
der neuen Proporzkampagne auch die Volkswahl des Bundesrates
wieder auf den Schild zu heben; aber an Lust dazu fehlt es bei
den Demokraten, den Katholiken und Sozialdemokraten nicht.
Die Erhöhung der Zahl der Bundesräte würde aber die
Volkswahl nach sich ziehen ; nicht weil die Bundesversammlung
nicht ebensogut neun wie sieben Bundesräte wählen könnte, son-
dern weil man ihr keine weitere Machtvermehrung zugestehen
will. Man hat deshalb auch schon die Erhöhung der Zahl der
Bundesräte mit dem Postulat der Volkswahl zusammengekoppelt.
Wenn man also die Volkswah! nicht will, darf man auch die
Erhöhung der Zahl der Bundesräte nicht wollen. Nicht zuletzt
aus diesen Erwägungen dürften Bundesrat und Räte die Erhöhung
581
der Zahl der Bundesräte abgelehnt haben, wenn dies auch nicht
gesagt wird.
Es bestehen allerdings noch andere Gründe gegen sie. Je
zahlreicher der Bundesrat ist, um so schwieriger wird es sein,
ein einheitliches Vorgehen des Bundesrates besonders in der
Finanzverwaltung und in der äußern Politik zu erzielen ; der
Gegendruck der einzelnen Departemente gegen alles planmäßige
und einheitliche Handeln wird noch stärker, als er zum großen
Schaden des Landes schon ist. Der Bundesrat sagt darüber in
seiner Botschaft vom 13. März:
Die gegenwärtige Mitgliederzahl verbürgt, wie die Erfahrung lehrt, die
innere Geschlossenheit, den festen innern Zusammenhalt und damit die
Kraft und Einheit der Exekutive. Der Rat ist heute noch ein geschlossener
Körper; man war aufrichtig bestrebt, nicht nur einig zu scheinen, sondern
es auch zu sein. Mit den Vertretern der Minderheiten ist ein gutes und
loyales Verhältnis ausnahmslos möglich gewesen. Wir fürchten, dass bei
einer vermehrten Zahl leichter innere Gruppierungen ermöglicht würden,
welche den Zusammenhalt lockern und damit die Kraft und den Einfluss
der Behörde nach außen vermindern könnten.
Wir fürchten, dass die regionalen Interessen, welche sich bei der Be-
stellung der Behörde schon jetzt zuweilen geltend gemacht haben, erst
recht sich in den Vordergrund drängen würden. Das um so mehr, als viel-
fach schon jetzt die Beibehaltung des Verfassungsgrundsatzes, wonach nicht
mehr als ein Mitglied aus dem nämlichen Kanton gewählt werden darf,
mit der Zahl von neun Mitgliedern als unvereinbar erklärt wird und als
anderseits eine verfassungsrechtliche Garantie einer Minimalvertretung des
welschen Sprachgebietes verlangt wird. Lohnt es sich wirklich, diese Kon-
troversen, die eines gewissen Stachels nicht entbehren, aufzuwerfen, in
einem Zeitpunkte, wo die Notwendigkeit der Mitgliedervermehrung noch
keineswegs dargetan, zum mindesten zweifelhaft ist?
Darf man auch diesen Schlussfolgerungen unbedingt beistim-
men, so muss doch wiederholt werden, dass die Stellung des
Bundespräsidenten besser hätte geordnet werden können.
Die übrigen Dienstabteilungen werden weniger von sich
reden machen. Das bis heute dem Handelsdepartement ange-
gliederte Inspektorat für kaufmännisches Bildungswesen ist dem
Volkswirtschaftsdepartement, dem Gewerbe und Industrie unter-
stehen, zugeteilt worden.
in landwirtschaftlichen Kreisen hat man sich dagegen gewehrt,
dass Handel und Landwirtschaft nicht mehr unter dem selben
Departementschef stehen sollen, womit zwar jene Kreise aber
nicht die Industrie unter Herrn Deucher sehr gute Erfahrungen
gemacht haben.
582
Bei unserer Handelsvertragspolitik herrscht die alte Schwierig-
keit, die ganz verschiedenen Interessen des Handels und der
Landwirtschaft so gegen einander abzuwägen, dass so weit als
möglich eine Ausgleichung der Gegensätze eintritt. Dieser Aus-
gleich wird künftig nicht mehr in dem selben Departement
vorbereitet, sondern erst in der Beratung der bundesrätlichen
Delegation, in der die Departementsleiter von Landwirtschaft und
Handel sich gegenüberstehen, insofern sie sich nicht schon vor-
her darüber verständigt haben, was sie dem Bundesrat und den
Räten beantragen wollen. Ein triftiger Grund, den Handel des-
halb nicht dem politischen Departement zuzuweisen, wohin er
bei der Neuordnung der Dinge entschieden gehört, liegt nicht vor.
Das Departement des Innern behält die bisherige Organi-
sation mit den Abteilungen Wissenschaft und Kunst, Oberbau-
inspektorat, eidgenössische Bauten, Forstwesen, Jagd und Fischerei,
Wasserwirtschaft; das Gesundheitsamt wird dem Volkswirtschafts-
departement zugeteilt.
Sehr erfreulich ist der Ausbau der bisherigen Abteilung der
Landeshydrographie zu einer Abteilung für Wasserwirtschaft.
Die bundesrätliche Botschaft sagt darüber:
Heute ist eine der hier in Betracht fallenden Aufgaben, das Studium
und die Unterstützung der Schiffahrtsbestrebungen, auf verschiedene De-
partemente verteilt. Das Eisenbahndepartement befasst sich mit den Tarif-
fragen und dem Verhältnis zu den Eisenbahnen; das Handels- und Indu-
striedepartement sollte wohl die Interessen der künftigen Kundschaft der
Schiffahrt vertreten ; das Departement des Innern hat durch die Abteilung
für Landeshydrographie und das Oberbauinspektorat die technischen Fra-
gen zu untersuchen und zu begutachten, und das Politische Departement
hat bei der Regelung internationaler Fragen mitzuwirken. Dieser letztge-
genannte Punkt soll unberührt bleiben. In Beziehung auf die internen Auf-
gaben aber erscheint eine Konzentration wünschenswert.
Die Geschäfte, welche sich auf die Nutzbarmachung der Gewässer
für Gewinnung von Wasserkräften bezogen, hat bis jetzt das Departement
des Innern besorgt. Für die Behandlung des volkswirtschaftlich so wich-
tigen und auch juristisch schwierigen Gesetzes über die Nutzbarmachung
der Wasserkräfte fehlte aber jegliche Organisation. Dazu kommt, dass,
während die Bewilligung zur Ausfuhr von Wasserkräften ins Ausland vom
Departemente des Innern behandeU wird, die mit dem Transport elektri-
scher Energie zusammenhängenden Fragen (Anlage von Leitungen und
Expropriation für solche) durch das Eisenbahndepartement gehen. Dieses
verkehrt mit dem Starkstrominspektorat.
Es soUte eigentlich selbstverständlich sein, dass die Vollziehung und
der Ausbau des Art. 24 bis der Bundesverfassung betreffend die Gesetzge-
bung über die Wasserkräfte einem einzigen Departemente zugewiesen wird.
583
Die Nutzbarmachung der Wasserkräfte steht im engsten Zusammenhange
mit der Fortleitung und Abgabe elektrischer Energie. Die Möglichkeit der
Schiffahrt wiederum hängt in hohem Maße von der Anlage der Wasser-
werke ab. Das Ganze, die rationelle Nutzbarmachung unserer Wasser-
kräfte, ist für unser Land von so großer volkswirtschaftlicher Bedeutung,
die noch in kraftvoller, vielversprechender Entwicklung begriffen ist, dass
es sich gewiss lohnt, eine besondere Abteilung für Wasserwirtschaft zu
errichten, welche die Durchführung des Art. 24bis zu sichern und den Voll-
zug des auf Grund dieses Verfassungsartikels zu eriassenden Bundes-
gesetzes zu leiten haben wird. Diese Abteilung muss mit technischen und
mit volkswirtschaftlich gebildeten Kräften versehen sein, wenn sie den An-
forderungen genügen soll, die an sie herantreten.
Nach diesen Äußerungen darf man annehmen, dass die vom
Bunde bis jetzt sehr unsystematisch oder gar nicht behandelte
Wasserpolitik, besonders der Schiffahrt, eine wesentliche Förde-
rung erfahren werde.
Das Justizdepartement hat seinen bisherigen Charakter bei-
behalten, ebenso das Militärdepartement.
Eine zweckmäßige Maßregel scheint uns die Zuteilung des
Eidgenössischen statistischen Bureaus an das Finanzdepartement zu
sein. Verschiedene Zweige der Statistik dürften damit eine sach-
gemäßere Ausgestaltung erhalten, besonders die bis jetzt sehr
verkürzte Finanzstatistik. Dadurch können auch unnötige und
doch viel Geld kostende Erhebungen, wie sie hin und wieder
dem statistischen Bureau aus dem Parlament heraus vorgeschrie-
ben werden, etwas in den Hintergrund gedrängt werden.
Die Bestimmungen des Entwurfes des Organisationsgesetzes
über die Fwa/izverwaltung dürften kaum genügen. Sie lauten:
In den Geschäftskreis des Finanz- und Zolldepartements fallen:
Vorbereitung und Vollzug der Gesetzgebung über das Finanzwesen
des Bundes.
Verwaltung der eidgenössischen Finanzen und Spezialfonds.
Verwaltung der eidgenössischen Liegenschaften, soweit nicht andere
Departemente damit beauftragt sind.
Vorbereitung von Anleihen.
Aufstellung des Entwurfes zum jährlichen Voranschlag und der Ent-
würfe zu den Nachtragskreditbegehren.
Aufstellung der Staatsrechnung.
Aufsicht über das Kassen- und Rechnungswesen der Eidgenossenschaft.
Mitwirkung und Aufsicht des Bundes bei der Verwaltung der schwei-
zerischen Nationalbank.
Vorbereitung und Vollzug der Gesetzgebung und der internationalen
Verträge über das Münzwesen. Eidgenössische Münze und Herstellung von
Postwertzeichen.
584
Vorbereitung der Verträge mit dem Auslande über das Münzwesen,
in Verbindung mit dem politischen Departemente. Überwachung ihrer Voll-
ziehung.
Bei der Vielköpfigkeit des Bundesrates und der natürlichen
Tendenz, dass jedes Departement vor allem für seine Bedürfnisse
sorgt, womit von jeher eine einheitliche Finanzpolitik des Bundes-
rates erschwert war, wäre eine dominierende Stellung des Finanz-
departementes in Verbindung mit den parlamentarischen Finanz-
kommissionen in Fragen von größerer finanzieller Tragweite
dringend nötig. Man hat tatsächlich alles beim Alten gelassen,
was zu bedauern ist.
Das neu geschaffene Departement für Volkswirtschaß um-
fasst die bisherigen Abteilungen für Industrie, Gewerbe und Land-
wirtschaft, das Bundesamt für Sozialversicherung und das Ge-
sundheitsamt.
Das Post- und Eisenbahndepartement bleibt intakt. Man hat
die Frage der Zuteilung des Post- und Telegraphenwesens zum
Finanzdepartement geprüft, ist aber davon abgekommen.
Damit hätten wir die wesentlichen Punkte des Entwurfes
erörtert. Wenn man ihn studiert, so begreift man nicht, warum
es so viele Jahre und so viele Kämpfe gebraucht hat, um etwas
zu schaffen, das sich ganz von selbst aus den Verhältnissen ergibt.
Was zu beanstanden ist, kann auch mit der Zeit noch ver-
bessert werden. Die Grundlagen sind im allgemeinen unstreitig
den heutigen Verhältnissen entsprechend.
BERN J. STEIGER
(Schluss folgt.)
D ö D
EIN SCHÖNES BUCH
Die Zeit der hastigen Reklame für Bücher, „die sich beson-
ders als Festgeschenke eignen", ist seit mehreren Wochen vorüber;
jetzt können wir wieder in aller Ruhe und mit gutem Gewissen
von denjenigen Büchern sprechen, die etwas Bleibendes bringen.
Sie sind nicht gerade zahlreich, in der fieberhaften Über-
produktion, die uns mit bedrucktem Papier überschüttet, werden
die aufrichtigen, klardurchdachten und originellen Bücher immer
585
seltener. Gedichte, Romane, Dramen habe ich schon in ver-
schiedenen Sprachen zu vielen Tausenden gelesen, kann Vergleiche
anstellen, und sehe immer deutlicher ein, dass wir eine Periode
der geistigen Anarchie durchmachen, wo das Alte in leeren For-
meln erstarrt und das Neue seine Ausdrucksform noch nicht ge-
funden hat. Aufgewärmte Speisen mit pikanter Tunke einerseits,
naive Prahlereien oder Schnörkeleien anderseits — es ist wahrlich
keine große Freude; viel lieber liest man zum zehntenmal ein
altes Meisterwerk. Ob vielleicht die Jahre bereits meinen Ge-
schmack abgestumpft haben? eine beängstigende Frage; die
sicherste und beruhigendste Antwort finde ich im Genuss einiger
Werke, die mir einen ersten Hauch des kommenden Frühlings
bringen.
Zu diesen Werken rechne ich Uhomme dans le rang des
Genfers Robert de Traz (Lausanne, Payot, 1913). in Wissen und
Leben, Bd. VI, Seite 377, hatte ich bereits in de Traz einen viel-
versprechenden „Jungen" begrüßt. Er hat sich seither weiter ent-
wickelt, und sein letztes Buch ist, wenigstens in der ersten Hälfte,
mehr als ein Versprechen ; es ist eine Tat.
Kein Roman, sondern eine Sammlung von sechs Studien,
die alle das Militärleben betreffen: Die Erziehung in der Rekruten-
schule (L'homme dans le rang), Ein Manövertag (L'ordre qui
passe), Eine nächtliche Rekognoszierung (Patrouille), Im Kriege
(Lieutenant d' Infanterie), Die Illusion unserer Neutralität (Jeunes
energies) , Vauvenargues und Stendhal als Offiziere (Figures
d'officiers).
Erlebnisse, Bilder der Phantasie, Früchte des Lesens und des
Nachdenkens, alles in einer klaren, präzisen und eleganten Sprache,
die dem ernsten Buche einen durchaus originellen literarischen
Wert verleiht. Die erste Studie gibt den Titel des Ganzen; l'homme
dans le rang ist zunächst der Mann in Reih' und Glied, und be-
kommt allmählich die tiefere Bedeutung: die Selbstdisziplin des
Bürgers in der Republik.
Der vornehme Student Morrens, der gestern noch im Sport-
kleid Tennis spielte oder im Schaukelstuhl mit Wonne den Über-
menschen Nietzsche las, steht heute mit Bauern und Arbeitern
zusammen im Zeughause von Morges, wo den Rekruten die
militärischen Kleidungsstücke verteilt werden. Er muss sich vor^
586
den Leuten ausziehen, die erste wüste Nacht miterleben ; dann in
der Kaserne die Promiskuität, die physische Dressur, die rauhe
Zucht des Korporals. Morrens kennt zuerst das Erstaunen, den
Ekel, die Empörung . . . und doch gehorcht er, ohne es zu ver-
stehen ; gehorchend entdeckt er nach und nach in sich einen
neuen Menschen, eine ungeahnte Kraft, und das Warum däm-
mert ihm endlich auf. Die Verehrung für den Leutnant, die Soli-
darität des Zuges, und schließlich des Bataillons . . ., das sind die
Etappen zur Erkenntnis der Pflicht, die Opfer verlangt, und des
Glaubens, der sich wie das Leben und mit dem Leben ohne
Diskussion aufdrängt. Jetzt, da die Rekruten Soldaten geworden,
dürfen sie die Fahne sehen . . . Beim großen Ausmarsch auf einer
Alp im Wallis wird sie vom Adjutanten aus dem Futteral gezogen ;
sie flattert im Winde vor dem in Achtung stehenden Bataillon.
Morrens steht als Fahnenwache neben dem Adjutanten. „L'adju-
dant avait peine ä tenir le drapeau, tellement le vent l'ebranlait.
II arriva qu'au milieu de ce tumulte, l'etoffe tourna de mon cöte
et vint passer sur ma figure. Quelle caresse humaine, en cette
minute, eüt valu celle-lä? Sous cet attouchement sacre, un
frisson brüiant et froid me traversa le corps. Le drapeau flottait
de l'autre cöte maintenant, mais je ne le voyais plus, je ne voyais
plus le vaste horizon. Mes yeux etaient pleins de larmes . . .
Ce pavillon ecarlate, j'en ecoutais l'exigeante eloquence. Jamals
personne jusque iä ne m'avait demande mon devouement. Lui
le reclamait, et aussi, ä l'occasion, mon sacrifice. Voilä la grande
chose, la chose nouvelle qui eclairait tout le reste."
Eine militärische Schwäche, die dem Zivilisten sofort auffällt,
ist die Weitschweifigkeit, mit der viele Offiziere ihre Manövertage
erzählen; es wird da jedes Detail genau erzählt, als ob das Schick-
sal des Vaterlandes davon abhinge; so geht es auch bei den
Sportleuten (siehe die Berichte der Zeitungen über Fußballpartien!);
bei Bergsteigern und bei Jägern ist es auch der Fall, doch treten
hier die Wirklichkeit und die Natur viel deutlicher hervor, während
beim Sport und bei den Manövern der Gedanke störend wirkt,
es sei doch nur ein Spiel gewesen. Gewiss ist die Psychologie
des Erzählenden ebenso begreiflich wie die des etwas gelang-
weilten Zuhörers; künstlerisch ist aber diese Weitschweifigkeit
ganz gewiss ein Fehler. Herr de Traz hat diesen Fehler glücklich
587
vermieden, was ein besonderes Lob verdient. In L'ordre qui passe
hat er einen Manövertag in einen Hauptgedanken konzentriert:
er zeigt wie der Befehl zur Konzentration oder Dislokation der
Truppen vom Hauptkommando ausgeht, und nun unaufhaltsam,
wie eine eiserne Notwendigkeit, durch die Obersten, die Majore,
die Hauptleute bis zu dem einzelnen Soldaten gelangt, das Ganze
in der richtigen Minute in Bewegung bringt und zum richtigen
Punkte führt. Ein jeder gehorcht seinem Vorgesetzten, und selbst
der oberste Befeihlshaber gehorcht in einer angstvollen Stunde
der sich ihm aufdrängenden Logik ; kaum hat er den Marschbefehl
ausgesprochen, so bekommt dieser Befehl ein eigenes Leben; er
fliegt von einem Mund zum andern, und führt das Heer, das viel-
tausendköpfige Wesen, zum Siege oder ... in den Tod. So ent-
steht aus der unmittelbaren Realität die Tragik der Poesie. Mit
der selben Kunst wird in Patrouille gezeigt, wie bei nächtlichen
Rekognoszierungen der Soldat in ganz neue Beziehungen zur Natur
tritt, wie Himmel und Erde in jedem Detail mitwirken, wie oft
der Instinkt die führende Rolle übernimmt, und wie da der ein-
zelne Soldat durch das Gefühl gehoben wird, das Schicksal der
Kolonne hange zum Teil von seiner Tüchtigkeit ab. Verantwortung,
Gehorsam, Verstand, Instinkt, rascher Entschluss, Vorsicht und
Kühnheit, alles das muss zusammenwirken, kann nur durch Er-
ziehung zu dieser Harmonie gelangen, und potenziert das Leistungs-
vermögen des Einzelnen. Und alles wird als selbstverständlich
mit Einfachheit vollbracht. Der Soldat Rossiaud hat in dunkler
Nacht in raschem Laufe auf gefährlichem Pfade dem Kommando
eine wichtige Aufklärung gebracht; nun kehrt er zu seinem Zuge
zurück, wo der Korporal ihm zuruft: „Rossiaud, Kinnriemen
hinunter, Bluse einknöpfen !"
In Lieutenant d'infanterie und in Jeunes energies werden in
der lebendigen Form des Gespräches Fragen behandelt, die be-
reits ins Politische hinübergehen; die Subjektivität dieser Diskus-
sion kontrastiert nicht ganz glücklich mit der Sachlichkeit der
ersten Studien. Der Schluss Figures d'officiers, ist, wenn auch an
sich interessant, ohne tieferen Zusammenhang mit dem Vorher-
gehenden ; dieses Füllsel könnte ruhig gestrichen werden. Die
drei ersten Studien sind die Hauptsache; sie machen die Origi-
nalität und die tiefe Bedeutung des Buches aus.
588
Kriegerische Erzählungen und Beschreibungen sind bei uns seit
einigenjahren ein beliebtes Thema geworden. Die Wahl der Stoffe und
die Art der Behandlungsind nicht immer glücklich. Von den Manöver-
berichten sagte ich bereits, dass sie künstlerisch den Fehler haben,
den Eindruck des Unbedeutenden, Vorübergehenden und Nutzlosen
wachzurufen; es sind Randglossen zu einem Texte; es fehlt aber
der Text selbst. Und die Heldengeschichten aus der Söldnerzeit
sind die posthume, einseitige Verherrlichung eines Systems, [das
uns schwer geschadet hat. Je größer der damalige Heldenmut,
um so bedauerlicher der Irrtum in der Verwendung dieser Kraft;
ganz zu schweigen von den Roheiten unserer Väter in Neapel und
anderswo . . . gewiss, eine lehrreiche Vergangenheit, die ihre
Glanzpunkte hatte ; doch das ist Geschichte und kein reiner Stoff
für die Literatur eines Volkes der Freiheit. Wir wollen in die
heutige Wirklichkeit und in die Zukunft schauen. Das hat eben
Robert de Traz getan; sein Heer ist das echteste Schweizerheer,
in seiner stolzen Eigenart, wo die Erziehung in der Kaserne auch
die Erziehung zum Bürgerleben ist.
Wie hätte ich es sonst gewagt, über das Buch zu schreiben?
Eine Jugendkrankheit machte mich schon früh zu einem „Un-
tauglichen" ; dazu bin ich im friedlichsten Studium aufgewachsen,
durch und durch ein Pazifist . . . und doch packt mich L'homme
dans le rang mit jeder Zeile, als einen Soldaten in Reih' und
Glied.
Wie erklärt sich das Wunder? ich erinnere mich, wie vor
etwa zwanzig Jahren der Ausspruch eines Obersten mich tief be-
leidigte; er sagte, die Kaserne sei die Erziehung zu den bürger-
lichen Tugenden. Was soll nun aus den armen Untauglichen
werden? Und zu der selben Zeit sagte mir ein Freund (ein tüchtiger
Offizier), die Kaserne sei eine Schule der Korruption. Heute
sehe ich, dass beides wahr und beides falsch ist. Die beste
Methode wie das beste Instrument haben genau den Wert des-
jenigen, der sie verwendet. — Bei uns sind Bürger und Soldat
zwei Begriffe, die wir nie trennen dürfen. Ein schlechter Bürger
ist ein schlechter Offizier; und umgekehrt. Der Ruf „vive l'armee"
gegen den Staat ist bei uns sinnlos; und ebenso gut ist es, dass
eine Geschichte wie die von Zabern aller Augen über den Ab-
grund öffnet, der uns hier von Deutschland trennt.
589
Und wie viel haben wir noch zu lernen, ob wir „tauglich"
seien oder nicht! Im Herbst 1912 reiste ich in einem Zuge, der
am Schlüsse der Manöver viele Soldaten nach Hause beförderte;
ich hatte ein Billett erster Klasse gelöst, um ruhig an einem Vor-
trag zu arbeiten; doch füllte sich bald der Abteil mit Offizieren,
die alle Billette zweiter Klasse hatten. Der Schaffner machte sie
zweimal darauf aufmerksam, dass hinten ein Wagen zweiter Klasse
noch halb leer stehe; sie wollten aufstehen, wurden jedoch von
einem Hauptmann zurückgehalten, der einfach brummte: „Ach
was, dieser Schaffner ist ein Antimilitarist!" In seiner Art war
dieser Hauptmann offenbar mit Herrn Naine vervettert. Kennte ich
seinen Namen, ich würde ihm das Buch von de Traz zusenden.
Noch nie ist wie in diesem Buche die tiefe, geheime Kraft unserer
militärischen Erziehung so eindringlich, so knapp und so phrasen-
los geschildert worden. Ich lese es meinen Buben vor und
möchte es in jedem Hause sehen.
Der Student Morrens wäre ja vielleicht auch auf anderem
Wege, durch die Wissenschaft, durch das Leben zur Selbstdisziplin
gelangt; die Rekrutenschule hat aber diese Entwicklung beschleu-
nigt und präzisiert; weil er den richtigen Offizier bekam, weil er
selbst, trotz aller Vorurteile, eine gesunde Natur mitbrachte, be-
sonders jedoch, weil bei uns diese Auffassung der Pflicht, der
Solidarität so zu sagen in der Luft schwebt und uns immer mehr
durchdringen muss. Diese unsere Auffassung darf ebensowenig
durch importierten Antimilitarismus als durch rhetorische Über-
schwenglichkeit nach links oder nach rechts verschoben werden.
Gerade aus! Wenn jeder Offizier es weiß, dass er in der Ka-
serne pfUchtbewusste Menschen zu erziehen hat, und dass er auf
der Straße die Achtung der Bürger verdienen soll, und wenn jeder
Bürger es weiß, dass er im täglichen Leben mit der militärischen
Selbstzucht zu wetteifern hat, dann sind auch für die Friedenszeit
die vielen Millionen nicht verloren, die wir für das nationale
Heer ausgeben. Auf dem weiten Felde der bürgerlichen Arbeit
stehen wir alle zusammen, in Reih' und Glied, lernen von ein-
ander und sind freie Männer, weil wir freiwillig dem Gesetze ge-
horchen. Das hat Robert de Traz deutlich in diesem aufrichtigen
Buche gezeigt, in dem er die persönliche Erfahrung zu einem
echten Kunstwerk gestaltete.
ZÜRICH E. BOVET
DDO
590
BRIEF AN MEINEN LANDSMANN
WILLIAM MARTIN
Lieber Herr Landsmann,
Nach den Regeln bewährter Stilkunst sage ich Ihnen zu aller-
erst eine Artigkeit: es freut mich, dass es endlich welsche Schweizer
gibt, die unsre liebe schweizerdeutsche Heimatsprache nicht ver-
achten. Ich habe in dieser Beziehung schon anderes erlebt. Vor
etlichen Jahren schrieb ich einen Aufsatz zugunsten der Mundart.
Darauf erhielt ich von einem welschen Landsmann eine höhnische
Postkarte, die unter anderm den schönen Satz enthielt: „fils d'une
mere suisse allemande, je n'ai cependant jamais voulu apprendre
ä kotzen." Und ein von mir sehr verehrter Genfer, Herr Paul
Seippel, hat mich im Journal de Geneve verspottet, weil ich in
einem ausschließlich für deutsche Schweizer bestimmten Schreiben
statt Februar das jedem Schweizer verständliche, urecht alemanni-
sche Hornung brauchte, das bis vor dreißig Jahren in der Bundes-
kanzlei ausschließlich gebraucht wurde. Nun, Ihr Urteil über
unser Schweizerdeutsch lautet also anders, das ist brav und klug
von Ihnen und verdient einen warmen landsmännischen Hände-
druck.
Und noch etwas gefällt mir gut an Ihnen. Vor wenigen
Jahren las ich einen Aufsatz aus Ihrer Feder, worin Sie von der
Einführung des einheitlichen schweizerischen Zivilgesetzbuches ab-
mahnten, und zwar in dem Augenblick, wo die Frage entschieden
war und in Volk und Räten einhellige Freude über das endliche
Gelingen des großen Werkes herrschte. Da waren Sie um etliche
Jahre zu spät gekommen, und ich lächelte ein wenig darüber.
Heute kommen Sie nicht um etliche Jahre, sondern gleich um
Jahrhunderte zu spät mit Ihrer Aufforderung, eine schweizerische
Schriftsprache zu gründen. Und, sehen Sie, das gerade gefällt
mir an Ihrem Vorschlag: Sie sind einer von der Sorte, die ich
liebe, ein Romantiker, der das Erbe der guten alten Zeit ohne
Notwendigkeit nicht aufgibt und der auch einmal gegen seine
sämtlichen Zeitgenossen allein eine Meinung zu haben wagt. Und
wenn Sie nun in Ihrem nächsten Aufsatz vorschlagen werden,
die gemeinen Herrschaften wieder herzustellen und den fünfund-
591
zwanzig Kantonen ihr Münzrecht wieder zu geben — es war so
viel schöner und gemüth"cher, Rappen, Kreuzer, Batzen, alte und
neue Franken, Gulden, Kronen und Pfunde zu haben, statt der
langweiligen, stets in dieselben 100 Rappen eingeteilten ausländi-
schen Franken — dann werde ich mich wieder freuen, dass es
noch {Menschen gibt, die sich um ein Jahrhundert Geschichte
den Kuckuck scheren, und frisch und froh im zwanzigsten Jahr-
hundert mit Zopf und Degen herumwadenstrümpfeln.
Über die Undurchführbarkeit Ihres Vorschlages wird nun frei-
lich in der Schweiz nur eine Meinung herrschen. Die Frage ist
entschieden worden, als im Jahr 1518 die Basler Buchdrucker
Luthers Schriften nachdruckten, als im Laufe der beiden folgenden
Jahrhunderte die Zürcher Theologen in den Neudrucken ihrer
Bibel stufenweise eine landschaftliche Eigenheit der Sprache nach
der andern beseitigten.
Wer unser schweizerdeutsches Sprachleben kennt, der geht
nicht so leicht über die Vereinheitlichung der Mundarten weg, wie
Sie es tun. Während Sie die Vereinheitlichung und Ausgleichung
der Mundarten als eine für ihren Bestand erfreuliche Erscheinung
anzusehen scheinen, liegt hier gerade die Haupt^e/cÄr für die
Zukunft unsrer heimatlichen Sprache. Die Widerstandskraft der
Mundart liegt in dem heimeligen Reiz ihrer örtlichen Besonder-
heiten; in dem Maße, wie diese verschwinden, bekommt die
Mundart das Aussehen von verdorbenem Hochdeutsch, verliert
für uns an Reiz und macht der Schriftsprache Platz. Wer die
Mundart fördern will, der muss in jedem Kanton die örtliche
Mundart pflegen, was Sie ja freilich auch vorschlagen. Aber das
ist wieder sehr schwer durchführbar in unserm Zeitalter des Ver-
kehrs. Wie sollen die elsäßischen Schulbrüder, die in Brig die
Knabenschule leiten, wie sollen die zahlreichen Thurgauer, Sankt-
galler, Graubündner Lehrer in Basel die örtliche Mundart fördern,
lehren, einprägen? Herauskommen kann da nur jene Abschlei-
fung, Ausgleichung, Verschmelzung der Mundarten, von der ich
eben sagte, dass sie einen Zerfall bedeutet.
Weshalb nun dieser aussichtslose Vorschlag zu einem völlig
unmöglichen Versuch? Sie sagens uns ziemlich deutlich: der
fremde Einfluss auf die Schweiz soll dadurch gebrochen werden,
der mächtige norddeutsche Einfluss. Das ist eine große Sorge, die
592
wir ja alle sehr gut verstehen. Aber ist die Unabhängigkeit
der Schweiz durch die deutsche Schriftsprache wirklich gefährdet?
Sie, Herr Martin, schreiben, sprechen, denken in der Sprache der
lle de France, wie alle Gebildeten unter unsern welschen Lands-
leuten. Und Sie würden es doch nicht gelten lassen, wenn ich
Ihnen vorwürfe, dass die Welschen keine rechten Schweizer seien,
fremden, unschweizerischen Geist in sich aufgenommen hätten.
Weshalb trauen Sie den deutschen Schweizern, die die Eidge-
nossenschaft gegründet und mit ihrem Blut am Leben erhalten
haben, weniger zähes Schweizertum zu als den später dazuge-
kommenen welschen? Warum soll der amtliche und schriftliche
Gebrauch der hochdeutschen Sprache neben der Mundart unsrer
Vaterlandsliebe und Eigenart schaden, wenn Ihre Vaterlandsliebe
und Eigenart den ausschließlichen Gebrauch der französischen
Schriftsprache ertragen hat? Dieses Zeugnis des Misstrauens
könnten wir Ihnen eigentlich übel nehmen, lieber Herr Lands-
mann.
Nun werden Sie nicht müde, die hochdeutsche Sprache für
uns Schweizer ein idiome etranger, une langue etrangere zu
nennen. Das können Sie aber nur, weil ihnen die Geschichte
der deutschen Schriftsprache nicht bekannt und unser ganzes
Sprachleben fremd ist.
Die hochdeutsche Sprache ist unsre Sprache, ja sie ist sogar
unsre Muttersprache aus folgenden Gründen.
Im engsten Sinn ist unsre Muttersprache freilich die Mundart,
weil jeder von uns sie zuerst gelernt hat und am liebsten und
besten spricht. Aber diese Mundart ist deutsch, so deutsch wie
die der Württemberger, Sachsen und Tiroler. Für den schrift-
lichen Gebrauch haben alle diese Völkerschaften wie wir Schweizer
nicht ihre Mundarten ausgebildet, sondern in gemeinsamem Ringen
eine Schriftsprache geschaffen, die von unsern Mundarten aus
leicht verstanden, angeeignet und anempfunden werden kann.
Hochdeutsch ist uns darum nicht eine fremde Sprache, sondern
es ist diejenige Form unsrer Muttersprache, die wir für den
schriftlichen Gebrauch, für wissenschaftliche Darlegungen, für die
mannigfachen Bedürfnisse des öffentlichen Lebens ausgebildet
haben. In Ihrem Sinne verstanden wäre Hochdeutsch auch für
die niedersächsischen Bauern, für die Wiener und Stuttgarter ein
593
Idiome etranger und überhaupt für keine zehn Millionen Men-
schen die Muttersprache.
Fremd ist uns das Hochdeutsche auch nicht in dem Sinne,
dass es ohne unser Zutun entstanden wäre. Jeder Kenner unsrer
Sprachgeschichte kann Ihnen sagen, dass wir Schweizer zur Aus-
bildung der Schriftsprache ganz bedeutende Beiträge geleistet
haben und auch heute noch leisten, in dieser Hinsicht stehn wir
ganz anders da, als die französische Schweiz, die ihre Sprache
fix und fertig in • fast unantastbarer Form aus Paris bezieht und
in der Schule gegen alle heimatliche Eigenart als gegen etwas
Unerlaubtes Krieg führen muss. An unsrer Schriftsprache haben
wir mitgearbeitet und deshalb gehört sie zu uns.
Muten Sie uns nicht zu, Goethe, Schiller, Lessing und Gott-
fried Keller als Dichter einer fremden Sprache zu betrachten.
So empfindet kein deutscher Schweizer. Der herrliche Faust, der
jedem von uns ans Herz gewachsene Schillerische Teil, sie gehören
uns so gut wie den Berlinern und Münchnern. Wir genießen
und lieben sie als Werke, die aus unserm Geiste geschaffen sind.
Sagen Sie uns nicht, das sei eben Weltliteratur und gehöre jeder-
mann. Wir wissen Im Kulturleben die Entfernungen zu messen
und zwischen Eigenem und Fremdem zu unterscheiden. Ich weiß
sehr gut, was Ich meiner jahrelangen liebevollen Beschäftigung
mit französischer Literatur verdanke. Aber mein Verhältnis zu
La Fontaine und Lamartine ist etwas völlig anderes als mein Ver-
hältnis zu Goethe und Uhland; jene sind Fremde, die mir ge-
fallen, von denen ich dies und das lerne, die mir manches ge-
ben, diese packen mich Im Innersten well es unsre Dichter sind,
die uns aus dem Herzen sprechen. Und so empfinden alle deut-
schen Schweizer, — vielleicht ein paar blasierte Bildungsgigerl
ausgenommen, bei denen Sie jedoch alles eher finden werden als
die Wertschätzung unsrer Mundart.
Ein gesittetes und gebildetes Kulturvolk will etwas sein eigen
nennen. Was uns ein Dutzend wackerer, heimeliger Landsleute
an mundartlichem Schrifttum geschenkt hat, das lieben wir von
ganzer Seele. Aber es Ist Im ganzen wenig und es sind Sachen
zweiter und dritter Güte. Es kann uns nicht genügen. Wir haben
bisher die Großen der deutschen Literatur mit Stolz und Freude
zu den Unsrigen gezählt, uns gefreut, dass wir sie unmittelbar
594
aus unserm eigenen Volkstum heraus verstanden. Glauben Sie
wirklich, wir deutsche Schweizer wären geneigt, hierauf zu ver-
zichten. Deutsch als eine fremde Sprache zu betrachten und sogar
unser eignes ehrliches Schwizerdütsch, das immer und überall
so geheißen hat, nun auf einmal nach Ihrem Vorschlag aller
Wahrheit zum Trotz nicht mehr als deutsch gelten zu lassen?
Und wozu? Damit Ihnen und einigen andern Lesern der Pariser
Zeitungen künftig die Unannehmlichkeit erspart bleibe, das Wort
Suisse mit dem für Sie unlustbetonten Worte allemand verbun-
den zu sehen? Nein Herr Landsmann, so gern wir ihnen sonst
gefällig sind, das ist zuviel verlangt. Wir dürfen Ihretwegen nicht
an unsrer Vergangenheit Verrat begehen und jahrhundertalte
offenkundige Wahrheiten leugnen. Wir stehen zu dem was wir
sind, und werden deswegen fortfahren unsre Mundart als das
zu bezeichnen was sie ist, als Schweizerdeutsch.
Sie verlangen aber noch größere Opfer von uns als die Ver-
leugnung unsres eigenen Wesens. Wenn wir Ihrem Rat folgten,
würden wir uns für den geistigen und wirtschaftlichen Wettbewerb
aufs tiefste schädigen. Schon jetzt ist uns in Handel und Wandel
sehr oft der gewandte Norddeutsche überlegen, weil wir seine
Sprache nicht geläufig genug sprechen. Alle unsre Kaufleute kla-
gen über die ungenügende Kenntnis ihrer Lehrlinge in der deut-
schen Sprache. Wird Ihr Plan verwirklicht, so sind wir völlig
dazu verurteilt ein ungeschicktes und unzugängliches Nichtganz-
dreimillionenvölklein zu werden, dessen Angehörige bei sonst
großer Tüchtigkeit nirgends in der Welt recht zu brauchen wären.
Jetzt hat jeder halbwegs erträgliche unter unsern Schriftstellern
die Aussicht, dass man seine Sachen alsbald in Hamburg, Wien
und Riga, ja in — Genf liest. Schreiben wir einmal alemannisch,
dann sitzen wir auf dem Isoüerschemel, nur die besten Sachen
dringen dann über unser Land hinaus. Wir würden dabei ver-
kümmern, unser geistiges Leben allmählich absterben. Nochmals,
Herr Landsmann, das ist zu viel verlangt. Wir wollen leben, auf
die Gefahr hin, dass Sie nicht mit der Art einverstanden sind,
wie wir leben.
Wenn wir dann noch wenigstens bei der Verwirklichung
Ihres Vorschlags die Freude hätten, durch unsre Abschließung
595
gegen Deutschland nähern Anschluss an unsre nichtdeutschen
Landsleute zu gewinnen! Aber nicht einmal das steht uns in
Aussicht, wie Ihnen sehr richtig die Suisse Liberale am 20. Ja-
nuar letzthin entgegengehalten hat. Die Verstärkung der Mund-
art würde den Graben erweitern, der uns von den welschen
Landsleuten trennt. Diese können allenfalls, wie die Suisse Li-
berale sehr gut sagt, auf hochdeutsch mit uns verkehren; die
Erlernung der Mundart können wir ihnen nicht zumuten. Es
bliebe vielleicht der Ausweg, dass wir noch mehr Französisch
lernten als bisher, also drei Sprachen, Schwizerdütsch als Schul-
sprache, Hochdeutsch als Fremdsprache und Französisch als
zweite Fremdsprache, alles sehr gründlich. Das erträgt einmal
ein Einzelner, der auf seine formale Bildung sehr viel Zeit und
Geld verwenden oder aus dem Sprachenlernen sein Lebenswerk
machen kann, aber ein Volk erträgt das nicht ohne zu verdum-
men. Das wird ihnen jeder Lehrer sagen, falls Sie es nicht
selbst schon wissen.
Es geht also nicht an, dass wir Ihren Vorschlag annehmen;
wir dürften es auch dann nicht versuchen, wenn es sich machen
ließe. Für unser Volk gibt es nur zwei Möglichkeiten, wenn wir
nicht untergehen und erdrückt werden wollen. Entweder wir müs-
sen das Beispiel der französischen Schweiz befolgen, wo die Lo-
sung gilt: mort au patois. Das wollen wir nicht, weil wir mit
zäher Liebe an unsrer Mundart hangen, die uns ans Herz ge-
wachsen ist (denn es ist nicht richtig, dass, wie Sie sagen, die
schweizerdeutsche Mundart bei uns missachtet sei; das ist sie in
der welschen Schweiz). Oder wir müssen fortfahren wie bisher
und alle Liebe und Sorgfalt auf die Erlernung unsrer edlen und
schönen Schriftsprache verwenden, und dabei gleichzeitig durch
Bildung des Gemütes, des heimatlichen Sinnes und des Ge-
schmackes die Mundart als ein teures Gut pflegen und wahren.
Diese doppelte Aufgabe ist eine nicht geringe Belastung unsres
Eigenlebens. Sie, lieber Herr Landsmann, können uns dabei hel-
fen, wenn Sie bei Ihren welschen Sprachgenossen dafür eintreten
wollen, dass man uns nicht jede Anstrengung, unsre Mutter-
sprache, Mundart oder Schriftsprache, besser zu pflegen, als pan-
germanisme mit allen möglichen Verdrehungen und Beschimpf-
ungen in Grund und Boden hinein schlecht macht, wie mir das
596
einigemale sogar von guten welschen Zeitungen und Zeitschriften
zu Teil geworden ist.
Gestatten Sie noch ein Wort über die Einschweizerung der
eingewanderten Reichsdeutschen, die Ihnen mit Recht ein Anliegen
ist. Die Aufsaugung der Fremden ist uns bis jetzt sehr gut ge-
lungen, weil wir die Fremden halbwegs anständig behandelt
haben. Erschwert werden kann sie uns durch eines: wenn wir
nämlich vor lauter Ängstlichkeit in einen nationalistischen Über-
eifer verfallen, bei jeder Gelegenheit den Fremden fühlen lassen,
dass er ein Fremder ist, stets und überall unser Schweizertum
eckig und derb herauskehren. Deswegen sehe ich alle die jetzt
so zahlreichen gut gemeinten Versuche und Gründungen zur
Stärkung des schweizerischen Selbstbewusstseins mit recht ge-
mischten Gefühlen aufkommen. Sie können nützen, aber ebenso
gut auch das Gegenteil von dem erreichen, was sie erstreben.
Sie können leicht einen lächerlichen Chauvinismus erzeugen, der
uns schädigt. Auch unsre sprachliche Abkapselung könnte das
Gegenteil bewirken von dem, was sie nach ihrer Meinung soll.
Wir sind nicht in einer sehr günstigen Lage, seitdem die
Einkreisung der Schweiz erst durch zwei, dann drei, endlich vier
Großmächte vollendet ist. Aber es ist auch kein Grund zum
Verzweifeln da. Unsre eigenartigen politischen Anschauungen und
Einrichtungen bewirken, dass die bei uns einwandernden Frem-
den die Schweiz lieben und sich gern einfügen und anpassen,
wenn wir es ihnen nur erleichtern, — und bewirken zweitens, dass
wir für jeden der uns umgebenden Staaten ein unverdaulicher
Brocken sind. Bleiben wir, was wir seit Jahrhunderten sind, hüten
wir uns davor, durch künstliche Umbiegungen, wie die von Ihnen
vorgeschlagene, uns selbst irre zu machen an dem was wir sind
und wollen; dann hat es keine Gefahr. Die Furcht ist wie der
Hass ein schlechter Berater, auch die Furcht vor Deutschland.
Ich bin und bleibe mit Schweizer Gruß und Handschlag ihr
deutscher Landsmann
ZÜRICH EDUARD BLOCHER
ana
597
DIE KÄMPFE UM NOVARA, 1495
EIN VORSPIEL DER ITALIENISCHEN KRIEGE
(Schluss)
Während die Liga so trotz erdrückender Übermacht den
entscheidenden Schlag nicht wagte, hatte sich die französische
Armee in Verceih', auf savoyischem Gebiet, zwar wieder gesammelt;
ihre Verfassung schloss aber ein Eingreifen nach wie vor aus.
Einzelne der königlichen Schweizer, denen man den Abschluss
eines Kapitulats zwischen der Eidgenossenschaft und Mailand ge-
meldet hatte, gingen sogar zum Feinde über, und 250 Mann des
Herzogs von Orleans nahmen bei Moro Dienste. Auf der andern
Seite freilich war die bisher versteckte Zwietracht der Verbündeten
so hoch gestiegen, dass die Venetianer gegen Moro, der schon
mit dem König unterhandelte, seinen erbittertsten Gegner Gian
Giacomo Trivulzio zu gewinnen suchten und an eine Ermordung
der Brüder San Severino dachten. Die Belagerten zogen aber
davon keinen Vorteil. Sie nährten sich bereits von ihren Pferden
und mussten Wein und Brot fast entbehren, 150 Bettler und
Weiber wurden auf Orleans Befehl aus der Stadt geschickt. Vor
allem aber gestaltete sich die Verteidigung der angegriffenen Vor-
städte immer schwieriger: nur das Eingreifen der Schweizer rettete
am Abend des 15. August vor Erstürmung. Auf Befehl des vene-
zianischen Senats hatten die Stradioten inzwischen die ganze
Umgebung von Novara aufs furchtbarste verheert und dehnten
nun diese Plünderung auch auf das savoyische Gebiet, gegen
Vercelll, aus, so dass die Belagerer, die Tausende von Kühen
und Schafen erbeutet hatten, jetzt im Überfluss schwelgten. Die
Franzosen aber, die stets enger umschlossen wurden, sahen den
Zeitpunkt der gänzlichen Entblößung an Nahrungsmitteln immer
näher rücken. Kranke und Gesunde rissen jeden Tag in ganzen
Abteilungen aus. Am 23. August gingen 150 Reiter zum Feinde
über, da sie das ungenießbare Wasser, die beständigen Anstren-
gungen und Entbehrungen nicht mehr weiter ertragen konnten.
Häufig starben diese Flüchtlinge aber noch, wenn man ihnen das
erste Essen reichte. Novara glich einem großen Spital. Die
Leute kamen vor Hunger in den Straßen um. Die nächtlichen
598
Signale, mit denen man die königlichen Truppen herbeizurufen
suchte, wurden aber nach wie vor nur vom Gegner bemerkt;
kaum dass sich einige Verproviantierungs- oder Aufklärungs-
kontingente in der Ferne zeigten. Während Karl Vi!!, sich in
Chieri amüsierte, zündeten die Belagerer bereits die Vorstädte an
und bereiteten die Erstürmung vor, die nur durch das bodenlose
Terrain und die Ängstlichkeit Moros verhindert wurde.
Während der Herzog von Orleans und die unglücklichen
Novaresen sich so mit einer Standhaftigkeit verteidigten, welche
die früher begangenen Fehler wenigstens einigermaßen entschuldigt,
hatte in der Eidgenossenschaft eine heftige Bewegung zu ihrer Be-
freiung eingesetzt. Die königlichen Boten, die Ende Juli zu ihr abge-
ordnet worden waren, hatten auf ihre Anträge wegen Erneuerung des
seinerzeit mit Ludwig XI. bestehenden Bündnisses zwar nur zwie-
spältige Antwort empfangen, für ihren nächsten Zweck, die un-
verzüglichen Werbungen, aber einen sehr geeigneten Boden ge-
funden. Die schon monatelang herrschende Agitation hatte be-
reits eine Zügellosigkeit bewirkt, die sich den obrigkeitlichen Be-
fehlen je länger je mehr entzog. Die im Land herumreisenden
Boten, die überall an frühere Einverständnisse anknüpfen konnten
und alte Agenten besoldeten, brauchten nur das Füllhorn ihrer
V^ersprechungen auszuschütten, um massenhafte Anhänger zu
finden, in Freiburg bestätigten sie ausdrücklich die Zusagen des
Herzogs von Orleans, die angrenzenden Teile des Herzogtums
Mailand abtreten und alle möglichen sonstigen Privilegien gestatten
zu wollen, in Luzern, wo die maßgebenden Persönlichkeiten,
wie der Schultheiß Ludwig Küng und der Staatsschreiber Ludwig
Fehr, sich zum Teil von beiden Seiten bezahlen ließen, fanden
sie bei der immer noch lebendigen Erbitterung gegen Moro zahl-
reiche Werber. Ludwig Küng und Peter Russ als Hauptleute
nahmen ganz offen Knechte an. Ihren Haupterfolg ernteten die
königlichen Gesandten aber vor allem in Uri, wo ihnen keine
Mailänderpartei die Wage hielt. Als die Berner Boten Wilhelm
von Diesbach und Caspar vom Stein am Abend des 24. August
zur Luzerner Tagsatzung erschienen, kamen sie eben recht, um
die triumphierende Rückkehr ihrer Gegner zu genießen. Die drei
Gesandten liefen auf großen Schiffen mit Pfeifen, Trommeln und
mächtigem Geschrei und Gefolge eben in den Hafen ein, und
599
zahlreiche Luzerner waren ihnen entgegengefahren : einem Herzog
hätten sie nicht mehr hofieren können. Überall herrschte dienst-
beflissene Erregung. Mit Absicht und Bosheit zählten die Fran-
zosen den bernischen Boten dann die Ehren und Zusagen auf,
die sie in den Ländern erfahren hatten. Der Bailli von Dijon
benahm sich als der wahre Landesherr und erklärte den Bernern
ausdrücklich: wenn sie nicht so witzig seien, ihm gute Antwort
zu geben, so wisse er mit ihren Gemeinden das Mehr wohl zu
machen. Die ergrimmten Berner, die sahen, dass der Fremde
zum eigentlichen Gebieter der Eidgenossenschaft geworden war,
richteten auf der Tagsatzung umsonst ihren Auftrag aus: es war
nicht schwer vorauszusehen, dass die noch vorhandenen Wider-
stände vor dem Glanz und der Sicherheit dieses Auftretens sich
beugen würden. Aus Altdorf erfuhr Moro, dass täglich Hunderte
von Knechten zum Könige durchliefen und dass noch mehr über
Unterwaiden und Wallis zögen. Luzern, wo die Stimmung in
unberechenbaren Launen schwankte, beschloss bereits, sich der
Stellungnahme der Urkantone anzuschließen, deren offenkundige
Franzosenfreundschaft niemandem zweifelhaft bleiben konnte, und
wenn es Moro durch massenhafte eigene Werbungen möglich
gewesen wäre, diese Erfolge der königlichen Gesandten wenigstens
einigermaßen zu durchkreuzen, so verhinderte ihn daran seine
durch die steten Geldverlegenheiten verursachte Sparsamkeit.
Umsonst, dass auch die Venezianer einzelne Gelder schickten
und durch ihren Gesandten in Mailand Moro bearbeiten ließen,
damit er nichts versäume. Trotz aller obrigkeitlichen Verbote
brachen auch in der Ostschweiz die Knechte überall zum König
auf, und aufs neue musste der zürcherische Rat dem Gerüchte
entgegentreten, es sei Geld von Mailand gekommen und ausgeteilt
worden. Wie stets, wenn man durch die Ungebundenheit des
Söldnertums in schlimme Lage gekommen war, tauchte zwar
auch jetzt wieder der Gedanke auf, den Frieden, den man im
eigenen Lande nicht halten konnte, den fremden Mächten zu
vermitteln. Ja, es gab unter den Tagsatzungsboten sogar Leute,
welche die mailändischen Boten geradezu ermunterten, zwei- bis
dreitausend Knechte anzunehmen; denn dann könne die Eidge-
nossenschaft niemals zugeben, dass die in verfeindeten Lagern
Stehenden in Kampf mit einander gerieten: man werde eine Ge-
600
sandtschaft zu Karl VIII. schicken und ihn womöglich zur Heim-
kehr veranlassen ; wenn er sich weigere, würden sie ihren Leuten
befehlen, heimzukehren. Den Gesandten Moros schien es aller-
dings, dass dieser Weg in erster Linie dazu bestimmt sei, den
Orten Pensionen und Vorteile von beiden Seiten einzutragen.
Jedenfalls aber war bei einer derartigen Auffassung klar, dass
von einer ins Gewicht fallenden Bekämpfung des Söldnertums
nicht mehr die Rede sein konnte. Um den 10. September brach
man in allen Teilen der Eidgenossenschaft mit offenen Fähnlein
zum König auf, so dass „niemand, der sich vermog", zu Hause
bleiben wollte. Umsonst, dass die Berner nach allen Seiten
schrieben und die Pässe bewachen ließen, sowie einzelne verhaf-
teten. Während man noch die Hoffnung aussprach, die Leute
im Lande zu behalten, lief bereits die Nachricht ein, dass auch
die Berner Miene machten, wegzuziehen und zum Teil bereits
fortgelaufen seien. Trotzdem auch Solothurn auf bernisches
Drängen am 15. September ein neues, strenges Reisverbot erließ,
so schlugen sich doch auch dort Einzelne hinaus und bemächtigten
sich eines alten Fähnleins, das ihnen vor Jahren vom König ge-
schenkt worden war. Umsonst, dass man ihnen eine Ratsbot-
schaft nachschickte und sie zur Heimkehr und Rückgabe des
Fähnleins aufforderte: sie antworteten, der König habe 40000
Kronen ins Land geschickt; darum wollten sie ihm zu Hilfe
kommen, wie es die andern Orte ebenfalls getan hätten — die
ließen ihre Leute auch laufen, um Gut zu gewinnen. Als die
Obrigkeit von weiteren Zusammenrottungen hörte und die Tore
schließen ließ, sprangen Einzelne über die Stadtmauern hinaus,
rannten in die Schiffe und machten sich auf dem Wasser fort.
Umsonst, dass man auch nach Neuenburg eine Ratsbotschaft
schickte: es blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen, wenn
man auch nach wie vor die Reisverbote, Gefängnis- und Buße-
drohungen erließ und damit wenigstens das Wegziehen in großen
Haufen hinderte; „denn die Kraft des regierenden unfridsamen
Planeten Saturn uns mit sinen kreftigen Helfern der Planeten zij
Gedult zwingt" ^). Wohl war es Moro gelungen, durch sein Ein-
verständnis mit Supersax, durch Geldspenden, Zollprivilegien und
^) Solothurn an Basel und Bern, 25. und 19. September.
601
die Tätigkeit seiner unaufhörlich hingesandten Agenten den Wai-
h'ser Landrat auf seine Seite zu bekommen. Doch der Bischof
ließ sich weder dadurch noch durch päpstliche Breven an der
Begünstigung der Franzosen hindern. Nachdem bis zum 8. Sep-
tember etwa 6000 Knechte durchgezogen waren, allerdings vielfach
schlecht oder gar nicht bewaffnete Truppen, da der Bailli schließ-
lich alle angenommen hatte, bis zu den Spitälern — brach der
Bischof gegen Ende des Monats mit weiteren 3000 von ihm an-
geworbenen selber zum König nach Vercelli auf. Gleichzeitig
erhielt Moro aus Bellinzona Nachricht, dass auch die Urner sich
wieder regten. Die Leventinesen streuten im Bleniotal das Ge-
rücht von einer Abtretung Blenios und Biascas aus, und am
3. September kam von dort her Bericht, die Urner seien mit
offenem Fähnlein nach Airolo gerückt, um den Franzosen zuzu-
ziehen. Und als Moro die Nachricht vom allgemeinen Aufbruch
zu Karl Vlll. nicht glauben wollte, wurde ihm am 13. September
aus Bellinzona ausdrücklich bestätigt, dass seit den Burgunder-
kriegen eine solche Massenerhebung nicht mehr vorgekommen
sei: 10000 seien allein bei Bellinzona durchgezogen, sodass man
an ein Verbot gedacht habe; in Uri und den anstoßenden Gebieten
seien nur Greise und kampfunfähige Leute zurückgeblieben: sonst
sei alles fort; aus Graubünden allein 2000. Und zwei Tage später,
nachdem man genauere Zahlen erkundet hatte, stieg die Zahl der
Weggezogenen schon auf 15 000, darunter 5000 Graubündner.
Umsonst, dass man wenigstens im Wallis mit allen Kräften zu
hemmen suchte. Die Knechte, die auf das Gerücht, es seien
Einzelne von ihnen überfallen und beraubt worden, nur mit Mühe
von einem Marsch gegen Domo abgehalten werden konnten,
schlugen, so weit sie nicht über den großen St. Bernhard in sa-
voyisches Gebiet zogen, den Weg über allerlei Nebenpässe ein,
und die Bemühungen, das Wasser auf die eigene Mühle abzu-
leiten, blieben größtenteils vergeblich. Wohl herrschte gegen den
die Franzosen offen begünstigenden Bischof unter den Bauern-
schaften des Oberwallis bereits eine eigentliche Aufruhrstimmung;
allein vorderhand ließ er sich durch die Anzeichen des drohenden
Sturmes nicht beirren, sondern zog über Aosta und Ivrea dem
Könige zu, und Moros Lage wurde dadurch kaum verbessert,
dass auch ihm über Chiavenna immer noch neue Söldner aus
602
Deutschland und der Eidgenossenschaft zuh'efen. Nur die Berner
hatten es, wie es scheint, fertig gebracht, das Wegströmen ihrer
Leute durch ein Verbot, dass die französischen Gesandten ihr
Territorium überhaupt nicht betreten dürften, wenigstens im größten
Teil ihres Gebietes einigermaßen zu hindern.
Während so statt der begehrten 5000—15 000 Schweizer deren
20 — 25000 über die Alpen liefen, hatte sich die Lage in Novara stark
verändert. Die Vorstädte waren zwar bereits anfangs September
zum Teil von den Novaresen selber angezündet worden, und der von
den verschiedensten Einflüssen umkämpfte König blieb nach wie
vor in Chieri. Doch spitzten sich die Dinge trotzdem stärker auf
die Entscheidung zu: Karls Vi!!. Truppen, von Krankheiten so gut
wie die Belagerten und Belagerer verfolgt, hielten nur mit äußer-
ster Unlust um Vercelli aus; die Franzosen suchten mit oder
ohne Abschied nach Hause zu kommen, und die Schweizer ent-
schädigten sich durch Plündern, In Novara aber standen die
Dinge zum Verzweifeln, Vom 5, September an war die Lage
auch militärisch so schlecht geworden, dass man den Sturm auf
die Tore jeden Augenblick erwartete und selbst Karl VIII, den
Verlust des Platzes fürchtete. Nachdem er in Turin mit größter
Mühe Geld aufgetrieben hatte, wurden dem Bailli von Dijon Boten
entgegengeschickt, damit er sich beeile. Die Verbündeten aber,
die nach den beständigen Desertionen der Belagerten mit er-
drückender Übermacht vor der Stadt standen, rückten nun gegen
die Mauern vor, um eine Bresche zu öffnen, und erhielten von
Mailand Kanonen. Doch kam es trotz aller Vorbereitungen zu
der gewünschten Erstürmung nicht: während die Führer sich er-
bittert bekämpften, brachen auch unter den Soldaten Eifersüchte
aus. Die Schweizer besonders hatten schon Ende August Miene
gemacht, zum König überzugehen. Statt also dem Wunsch des
über die hohen Kosten ungeduldigen venezianischen Senats zu-
folge den Krieg durch entschiedene militärische Maßregeln zu
beenden, ließ sich der mailändische Herzog auf die schon längst
von den Franzosen angeknüpften geheimen Unterredungen ein,
und am 14. September begannen die offiziellen Unterhandlungen
auch mit den Venezianern. Die Italiener verlangten Novara, die
Franzosen Genua. Moro erschien nun auch selber im Feld, und
eine starke Partei in der Umgebung des Königs war bereits für
603
das Nachgeben: bei der beiderseitigen Unentschlossenheit in der
Tat das Geratenste. Am 16. September wurde denn auch tatsäch-
h"ch die Einstellung der Feindseligkeiten für drei Tage und die
Verproviantierung der Stadt beschlossen, und nun kamen die seit
Ende Juni Eingeschlossenen, so weit sie die furchtbaren Hunger-
qualen überstanden hatten, wieder zum Vorschein. Tag für Tag
waren ihrer vor Erschöpfung gestorben. Zwei Drittel lagen krank,
und nur ein erschreckend geringer Bruchteil überlebte die Ent-
behrungen. 2000 waren allein durch Hunger und Seuchen um-
gekommen, und die übrigen erschienen in äußerster Magerkeit,
mehr tot als lebendig. Die überall herumliegenden Leichname,
Kadaver von Pferden etc. machten den Aufenthalt in der Stadt
vollends unerträglich; seit der Belagerung Jerusalems durch die
Römer, versichert Commynes, seien solche Hungerqualen nicht
erhört worden. Die französischen Unterhändler erwirkten nun
zuerst dem Herzog von Orleans die Erlaubnis, Novara zu ver-
lassen; denn der König verweigerte alle weiteren Friedensunter-
handlungen, wenn man seinen Vetter nicht vorher zu ihm lasse,
so dass Moro nachgeben musste. Am 22. September verließ der
Herzog so als erster die Stadt, deren Besetzung ihm wie ihr gleich
teuer zu stehen gekommen war: die Gesandten hatten dem Moro
seine Rückkehr garantiert, falls die Verhandlungen scheiterten ;
der Marchese von Mantua lieferte sich als Bürge für die Sicher-
heit der Reise den Franzosen aus, und der Marschall de Gie, der
den Herzog abholte, stellte den überlebenden Bewohnern von
Novara, die eine verräterische Preisgabe fürchteten, den eigenen
Neffen zur Verfügung, mit dem Versprechen, sie ebenfalls binnen
drei Tagen zu erlösen. Der ganz kampfunfähige Teil der Be-
satzung, zirka 1000 Mann, schlüpfte damit gleichfalls hinaus, und
drei Tage später folgten die übrigen : 5500 — 6000 Mann, darunter
zirka 3300 Schweizer, aber kaum 600 noch im Stand, sich wirk-
lich zu verteidigen — dazu ganz wenige Pferde, da man die meisten
aufgegessen hatte. Obgleich es also zu blutigen Kämpfen gar
nicht gekommen war, ging so ein volles Drittel der Besatzung
zu Grunde — die Desertionen allerdings nicht gerechnet. Selbst
auf dem Heimweg oder auf der Straße nach Vercelli kamen noch
zahlreiche weitere um, trotzdem ihnen sogar die Feinde beispran-
gen. Commynes, der in der Umgebung Karls VIII. vor allen
604
andern auf schleunigen Friedensschluss gedrängt hatte, rettete
etwa fünfzigen, die in einem Garten bei Cameriano niedergesuni<en
waren, das Leben, indem er ihnen etwas Suppe reichen heß. In
Vercelli teilte der König ihnen 800 Francs an Almosen aus und
ließ Lebenden und Toten den Sold bezahlen, auch den Schweizern,
von denen wohl 400 gestorben waren. Aber so viel man auch
zu helfen suchte, so kamen doch auch in Vercelli noch 300 um,
die einen vom heißhungrigen Essen, die andern von Krankheit;
ein Teil von ihnen verendete geradezu auf den Misthaufen.
in den selben Tagen aber, in denen sich so das Schicksal
der Belagerten entschied, trafen endlich die vom Bailli von Dijon
angeworbenen schweizerischen Verstärkungen ein, die, wenn früher
angelangt, den König wohl zum Kampf bewogen hätten. 8—10000
Mann stießen bereits zu Karls Vlll. Heer, wo sich noch etwa
2000 Veteranen vom Zug gegen Neapel her befanden. Da der
König in der begreiflichen Furcht vor Gewalttätigkeit die Vereini-
gung der beiden Haufen nicht gestattete, blieben die übrigen etwa
zehn Meilen entfernt. Im ganzen zählten sie über 22 000 Mann,
und Commynes meint, es hätten sich wohl noch nie so viele
Schweizer überhaupt zusammengefunden. Nach der Meinung von
Leuten, die sie kannten, seien nur wenige Waffenfähige in der
Heimat geblieben. Man habe die piemontesischen Alpenpässe
sperren müssen, um keine weiteren eindringen zu lassen: sonst
wären sogar Weiber und Kinder erschienen. Man könne sich
fragen, ob dieser massenhafte Aufbruch der besondern Vorliebe
für die Franzosen entsprungen sei, da der verstorbene König
Ludwig ihnen so viel Gutes getan und zu ihrer Ehre und ihrem
Ruhm vor aller Welt verholfen habe, und in der Tat hätten ein-
zelne Alte eine solche Liebe zum König besessen und seien siebzig-
jährige Hauptleute in großer Zahl erschienen, die einst im Kampf
gegen Karl von Burgund angeführt hätten. Der hauptsächlichste
Beweggrund aber sei die Habsucht und die große Armut gewesen;
denn zwei der Kantone, Bern und Zürich, hätten sich gegen die
Franzosen erklärt. Trotzdem aber seien alle Waffenfähigen ge-
kommen, und zwar so viel schöne, kräftige Leute, wie er sie nie
gesehen habe, so dass es ihm unmöglich schien, sie zu schlagen,
außer wer sie durch Hunger, Frost oder eine andere Naturgewalt
überwand. In jedem Fall hatte die Kunde von ihrem Nahen
605
gewiss schon zu Moros und der Venezianer Einlenken beigetragen.
Wenn aber die Kriegspartei in der Umgebung des Königs, Trivulzio
und die Anhänger Orleans, auf sie die Haupthoffnung für den
Kampf gesetzt hatten, so war die ehrenhafte Gelegenheit zum
Schlagen schon vorüber. Im Schloss von Novara standen nach
dem Abzug der französischen Besatzung nur noch 30 Mann ; sonst
blieb die Stadt ihren Bewohnern überlassen, die einen Eid ge-
leistet hatten, bis zum Friedensschluss weder Italiener noch Fran-
zosen aufzunehriien. Die Uneinigkeit im französischen Lager, die
Vergnügungssucht und Zerfahrenheit des Königs, der schlechte
Stand des Heeres und die allgemeine Unlust, wegen des einzigen
Novara einen neuen schweren Kampf anzuheben, der Geldmangel
und die Erwägung des bevorstehenden Winters hatten ein Ein-
greifen, so lange dies den Belagerten noch Hilfe zu schaffen ver-
mocht hätte, gehindert. Nun, da man die fast Verhungerten durch
Friedensunterhandlungen befreit hatte, verbot neben der Klugheit
fast der Anstand schon den Kampf, wenn auch der Herzog von
Orleans, der sich inzwischen erholt hatte und von allen möglichen
Leuten aufgestachelt wurde, heftig für den Krieg sprach, um so
mehr, als er auch den Vorwurf zu hören glaubte, dass er sich
mit so ansehnlichen Truppen überhaupt in eine so verzweifelte
Lage habe drängen lassen. Der Herr von Ligny und der Erz-
bischof von Ronen, Georges d'Amboise, sowie einige weitere
unterstützten ihn und steckten sich hinter einzelne Schweizer, die
ihnen den Kampf anerboten. Da sich im feindlichen Lager ja
ebenfalls zahlreiche Eidgenossen befanden und die Venezianer
und Mailänder trotz aller Desertionen noch immer 2800 Hommes
d'armes, 500 leichte Reiter und 1 1 500 deutsches und schweizeri-
sches Fußvolk zählten, nebst weitern allerdings sehr ungleich-
wertigen Truppen, so drohte bei einem Kampfausbruch schon
damals das Gemetzel zwischen den eigenen Landsleuten, das fünf
Jahre später durch die Schande des Verrats von Novara ver-
mieden ward. Auf der andern Seite freilich operierte die Friedens-
partei, die auf die Überlegenheit des Feindes und seine durch
Gräben verteidigte starke Stellung, sowie auf die Gefahr einer
Hungersnot hinwies, mit der keineswegs unbegründeten Befürch-
tung, die Schweizer könnten, wenn sie sich vereinigten, den König
und alle reichen Leute gefangen nehmen und in ihr eigenes Land
606
abführen. Am 26. September kam es aus zufälligem Anlass bei-
nahe zur Schlacht zwischen den beiden Heeren, und es bedurfte
der ganzen Geschicklichkeit der französischen Unterhändler, vor
allem Commynes, um den von hundert Zwischenfällen stets be-
drohten Frieden abzuschließen. Trotz allen Widerstands des
Herzogs von Orleans, der seine Erbansprüche auf Mailand auch
nach dem Scheitern seiner kriegerischen Unternehmung nicht
aufgab, wurde indessen in den ersten Tagen des Oktober ein
Vertrag zwischen Karl Vlll. und dem von seinen venezianischen
Bundesgenossen sich trennenden Moro festgesetzt, nach dem der
Herzog von Mailand dem König für eine Unternehmung gegen
Neapel Hilfe und Durchpass gewährte, die französische Suzeränität
über Genua anerkannte, Karl Vi!!. 80 000 Dukaten früher gelie-
hener Gelder erließ und überdies gegen Venedig Beistand ver-
sprach, falls dieses den Frieden ablehne. Da der König eine
Eroberung der Lombardei nie beabsichtigt hatte und an der Son-
derunternehmung des Herzogs von Orleans kein Interesse besaß,
so konnten diese Bestimmungen als äußerst vorteilhaft gelten.
Moro, durch das massenhafte Erscheinen der Schweizer wohl
erschreckt, trat damit von der antifranzösischen Liga, die er großen-
teils selber hervorgerufen hatte, wieder zurück und sagte Karl Vlll.
Unterstützung zu. Den Helfern der Franzosen, also auch den
Bewohnern Novaras, die ihm nun wieder überliefert wurden, ver-
sprach er Straflosigkeit, und dem Herzog von Orleans für seine
Kosten 50000 Dukaten. Der Friede ward am Q.Oktober end-
gültig bestätigt. Während aber Moro trotz aller Zusagen die un-
glücklichen Novaresen durch Kontributionen, gerichtliche Unter-
suchungen und mehr oder minder unverhüllte Plünderung und
Beraubung zur Verzweiflung trieb, so dass die Hauptschuldigen
sich fortan in der Verbannung hielten, musste Karl VIII., dem
durch das massenhafte Erscheinen der Schweizer zwar ein unver-
kennbarer diplomatischer Erfolg, aber auch eine schwere finan-
zielle Verlegenheit entstanden war, die bei diesen herrschende
Unzufriedenheit zu beruhigen suchen. Die nach langem Zögern
und Verhandeln trotz der Ablehnung Zürichs und Berns zu Stande
gekommene Friedensgesandtschaft der Eidgenössischen Orte, die
sich gegen Ende September in Martigny gesammelt hatte und am
3. Oktober, also zu spät für die eigentlichen Verhandlungen, nach
607
Ivrea gelangt war, hörte bereits dort von dem großen Zorn der
Knechte, denen ein Monatssold bezahlt und gesagt worden war,
der König bedürfe ihrer jetzt nicht mehr, außer, wenn sie nach
Neapel zögen: dann wolle er ihnen für drei Monate Sold geben.
Die Knechte widersetzten sich dem aber und verlangten in jedem
Fall dreimonatlichen Sold, wie er einst im Vertrag mit LudwigXi.
festgesetzt war. Und als die Boten am 4. Oktober auf den Wunsch
Karls VIII. nach Casale ritten, erfuhren sie von weiteren großen
Ungebührlichkeiten, wie die Söldner „mit gar wilden Stampenyen
hinhar zogen". Wo ihrer 200 oder minder gewesen, hätten sie
je ein besonderes Fähnlein aufgerichtet und häufig doppelte Sold-
listen angegeben, zum großen Missfallen des Bailli und der Fran-
zosen. Nach der Aussage der Musternden seien ihrer über 25 000,
„und meinen die Franzosen, dass die alle Welt möchten bezwin-
gen". Der Bailli von Dijon und andere Herren seien übel zufrieden,
dass der König den Frieden angenommen habe ; „dann er meint,
dass ein Krön von Frankrich hübschem Zug von Tütschen niemer
überkombt". Die Zügellosigkeit dieser ganz verwilderten Haufen
ward aber immer größer. Als die Hauptleute von der Ankunft
der eidgenössischen Gesandten in Casale hörten, „haben si sich
gar gröblich lassen merken und gesprochen: well der Küng zu
Casal mit uns tagen, so wellen aber si hie in dermass tagen, das
er sin nit wurd lachen!" Als Karl Vlil. diese Drohworte ver-
nahm, schickte er eilends während der Nacht einen Boten nach
Casale, um die Gesandten zu bitten, bei Tage nach Vercelli zu
kommen. Als sie dies taten und darauf am 7. Oktober eine
Audienz erhielten, verständigten sie sich zwar mit dem König sehr
leicht; die Hauptleute aber erklärten, „si wellen mit unser tagen
nütz schaffen haben, sunder für jeden Knecht drei Manotsold
haben, oder aber si wellen in nit von Händen lassen, sunders so
wellen si us dem Feld ziehen und in die Stadt Versel und die
Stadt mit Gewalt inhaben mit sampt dem Küng, bis si für dry
Manot bezahlt syen, mit vil groben Worten, das der loblichen
Eidgnoschaft nit ehrlich ist". Als nun der Küng diese Wort hörte,
ließ er ihnen sagen, „er well si bi diser Tagzyt lassen bezahlen
für zwei Manet; umb den dritten well er inen lassen das Gelt
gan Luzern schicken bis zur Liechtmess (2. Februar), und darzu
gibt er inen die besten Wort, so er kann und mag". Allein auch
608
das half nichts, „sunders wellen si das Gelt also harbaben für
die drei Manot". Umsonst, dass sich der Prinz von Orange, der
Bischof von Sitten und andere ins Mittel legten. In der Nacht
vom 10. auf den 11. Oktober, nachdem Karl Vlll. den Frieden
ratifiziert hatte, rotteten sich seine Schweizer unter dem Klang
der Trommeln zusammen und hielten, nach Kantonen geordnet,
im Ring ihre Heergemeinden. Die einen rieten, den König und
sein ganzes Gefolge gefangen zu nehmen, besonders alle Reichen,
die andern stimmten dem bei, wollten ihn aber nur zur Bezahlung
der einst mit Ludwig XI. vertraglich festgesetzten drei Monats-
solde zwingen. Wieder andere rieten, dass man bloß auf die
Umgebung des Königs, nicht auf diesen selber Hand lege, und
erboten sich bereits zur Ausführung. Schon hatten sie zahlreiche
Leute nach Vercelli hineingebracht, als Karl Vlll., der während
der Nacht von einem das Deutsche verstehenden französischen
Hauptmann der Schweizer, de Lornay, gewarnt worden war, die
Stadt verließ und sich nach Trino, auf das Gebiet des Markgrafen
von Montferrat begab. Da über eine Erneuerung der einst von
Ludwig XI. aufgerichteten Vereinigung erst beraten wurde, so be-
fanden sich die meuternden Söldner mit ihrer Forderung in jedem
Fall im Unrecht, ganz abgesehen davon, dass sie mit Ausnahme
von Hinzug und Heimweg erst wenige Tage im Felde standen.
Trotzdem ward weiter mit ihnen verhandelt; allein bevor man
noch zu einem Entscheid gekommen war, nahmen die alten Reis-
läufer von Neapel ihre Führer, den Bailli von Dijon und jenen
Hauptmann gefangen, um für die Heimkehr eine weitere Zahlung
von 14 Tagen zu erpressen. Den andern wurden trotz allen
Weigerns zuletzt doch alle drei Monatssolde versprochen, so dass
die Gesamtausgabe sich auf reichlich 500 000 Francs belief, wenn
sich die wirkliche Auszahlung auch freilich zum Teil noch Jahre
lang verzögerte. Zu allem hinzu hieß es noch, die dem Frieden
abgeneigten französischen Führer hätten sie dazu angestiftet.
Während nun Karl VIII., nachdem er so im Vertrag von
Vercelli für den Augenblick von Moro alles Wesentliche erreicht
hatte, am 21. Oktober den Weg nach Frankreich antrat, zogen
im Lauf des Oktober die von ihm angeworbenen Knechte nach
der Heimat zurück, trotz des reichen Soldes zum Teil in kläg-
licher Verfassung. Die von Neapel Heimkehrenden, soweit sie
609
nicht schon früher nach Hause gelaufen waren, brachten die
furchtbare Kranl^heit mit, die, schon früher an einzelnen Stellen
heimisch, doch erst von jetzt ab sich über ganz Europa ver-
breitete und mit um so wütenderer Heftigkeit auftrat, als die ärzt-
lichen Hilfsmittel vorläufig gänzlich fehlten: umsonst, dass man
die Kranken anfänglich wie Aussätzige isolierte. Die aus Novara
Zurückkehrenden schleppten sich in doppelt elendem Zustande,
gelb und abgezehrt, nach der Heimat zurück, wo noch lange das
Sprichwort ging', „wann einer ein gelb Antlitz hatt, dass der
Nächst zu im sprach : Ich mein, du syest auch zu gelben Wabern
gesini" Zahlreiche starben auch jetzt noch vor Erschöpfung auf
den Straßen. Von der strengen Bestrafung, welche die Obrigkeiten
einst angedroht hatten, war bei der Massenhaftigkeit des Auszugs
freilich kaum mehr die Rede. Im Gegenteil erwarteten die Re-
gierungen das Zurückfluten zum Teil mit großer Besorgnis. Der
Gegensatz der Städte und Länder, der im Stanser Verkommnis
nur ungenügend überbrückt worden war, tat sich aufs neue kund :
schon im September hatte ja der Ammann Reding von Schwyz
auf der Luzerner Tagsatzung geäußert: „so der Tagen eins gemein
Eidgnossen in das Feld kommen, alldann ein ganze Versamm-
lung ze tund und ein Mehrs ze machen", sodass sich Bern mit
Solothurn, Freiburg und Zürich bereits damals gegen Unruhen
der heimkehrenden Knechte vorsah. Als dann in der zweiten
Hälfte des Oktober der Durchzug wirklich erfolgte, sorgte es
zwar für freundlichen Empfang und billigen Markt, erließ aber
zugleich ein eigentliches Rüstungsaufgebot. Da die nach Hause
Rückenden gleichzeitig alle möglichen Drohungen ausstießen,
„besunders wo wir die unsern, mit inen, doch in kleiner Zahl,
hinweggelaufen, strafen, . . . das si dem vor sin wellen", so
bedeutete es kein geringes Wagnis, die trotz aller Verbote Weg-
gelaufenen zu strafen. Bern hielt seine Verordnungen im Ganzen
aufrecht; Zürich hob sie aber am 22. Oktober auf Bitten der
Landschaft auf und begnügte sich mit einer Buße. Als man die
Strafsummen jedoch einziehen wollte, begegnete man neuem
Widerstand, einer heftigen Agitation, die zu stets wiederholten
Begnadigungsbegehren führte, Schimpf- und Schmachreden gegen
die Obrigkeit, die allen Verboten zu Trotz wieder Pensionen
angenommen habe, und anderes. Zu eigentlichen Unruhen kam
610
es aber vor allem in Solothurn und Freiburg, wo die Knechte
mit offenen Fähnlein in die Stadt zogen und die Anerkennung
der Reisstrafen verweigerten. Die Räte mussten trotz allen Wider-
willens dem Waldwasser seinen Lauf lassen und sich „zu diser
Zit milter Regierung" unterziehen, und in den Länderorten war
von irgendwelcher Bestrafung natürlich erst recht keine Rede.
Die Verflechtung der Eidgenossen in den Kampf der euro-
päischen Fürsten um die Lombardei nimmt damit für einmal ihr
Ende. Wenige Jahre später aber beginnt der Streit aufs neue, und
eine heftige mailändische und französische Agitation in der Schweiz
sorgte inzwischen dafür, die 1495 hervorgerufenen Gegensätze zu ver-
schärfen. Die Kämpfe um Novara haben nun wohl schon als Fort-
setzung der Bestrebungen, welche die Lombardei bereits beim
Aussterben der Visconti den Orleans überliefern sollten, ihre Be-
deutung; ihre hauptsächliche Wichtigkeit gewinnen sie indes als
Vorbereitung zu der vier Jahre später einsetzenden französischen
Eroberung. Während der von Karl VIH. fast mühelos gewonnene
Süden der Krone schon nach wenigen Monaten wieder ver-
loren ging, scheiterte der Handstreich des Feudalherrn zwar zu-
nächst an der Eifersucht und mangelnden Unterstützung seines
Königs. Wenige Jahre später aber nimmt Ludwig von Orleans
mit den umfassenden Machtmitteln des Staates die Ansprüche
wieder auf, die er zum erstenmal in Novara verfochten, und
seine zwölfjährige ungestörte Regierung über die Lombardei be-
weist, dass es sich hier um Ziele handelte, die sich vom natio-
nalen Gesichtspunkt aus vollkommen rechtfertigen. Wohl haben
seine Nachfolger ein halbes Jahrhundert später den Versuch, in
Italien Fuß zu fassen, in der Hauptsache wieder aufgegeben. Aber
als die Krisis der Hugenottenkriege überwunden war, zeigte sich
in der Politik Richelieus der selbe Grundsatz, wie in derjenigen
Karls VllL, Ludwigs Xll. und Franz 1.: die Bekämpfung der Über-
macht Habsburg Spaniens, die sich am Ende des 15. Jahrhunderts
wenigstens vorbereitet. Nur das Schlachtfeld, auf dem dieser Fun-
damentalsatz französischer Diplomatie zum Ausdruck kam, hatte
sich inzwischen gewandelt. Wie im 17. Jahrhundert Deutschland.
so zog aber am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Italien die
auswärtigen Mächte auf sich, und sein ungeheurer kultureller Ein-
fluss gibt der rein politischen Notwendigkeit auch die höchste
611
geistige Berechtigung. Unter den Ursachen, die dem staath'ch
zusammenbrechenden Italien einen Einfluss auf ganz Europa ge-
statteten, der an die Hegemonie des von den Römern unter-
worfenen Griechenlands erinnert, [spielen die italienischen Kriege
nicht die geringste Rolle. Indem sie die Völker des Nordens jahr-
zehntelang über die Alpen führten, bereiteten sie deren Durch-
dringung mit Geist und Kultur des [Südens vor, und selbst der
deutsche Protestantismus, den Karl V. mit dem Untergang be-
drohte, ist vorwiegend durch die italienischen Feldzüge Franz I.
gerettet worden. So knüpfte sich das Größte der modernen Zeit
vielfach an die italienischen Kriege. Was verfeinertem geistigem
Genießen zunächst als beinahe gleichgültiges Ringen um die
europäische Vorherrschaft erscheint, hat in Wahrheit die Ent-
stehungsgeschichte dieses modernen Geistes tief beeinflusst. In-
dem wir die Anfänge dieser Kämpfe herausgriffen, stellten wir
allerdings eine Episode dar, in der sich diese Zusammenhänge
noch kaum andeuten. Mit jedem folgenden Jahr werden die
Linien aber immer klarer. Von dem Zeitpunkt ab, in dem die
Schweizer im Vordergrund des Geschehens erscheinen, hat sich
die volle Gewalt der ganz West- und Südeuropa umfassenden
Gegensätze enthüllt, und nach einem halben Jahrhundert unauf-
hörlicher Kämpfe erst fängt die in den Jahren 1494-1495 auf-
geregte Welle wieder an sich zu beruhigen.
ZÜRICH ERNST GAGLIARDI
D D D
Winkelmann mag vielleicht auch das Gefühl für eine gewisse antike,
fast heidnische Großartigkeit in der römischen Religion gehabt haben. In
seiner Abwendung von dem verkrüppelten Protestantismus, unter dem er
in seiner Jugend so oft gelitten, mochte er wohl denken, dass Rom sich
mit der Renaissance ausgesöhnt hatte, während das protestantische Prinzip
in der Kunst Deutschland um die höchste Tradition der Schönheit gebracht
hatte.
Renaissance W. PATER
Q D D
612
SUFFRAGETTES ET FßMlNISME
Je ne crois pas avoir l'äme d'un buveur de sang. Pourtant,
j'avoue qu'ä la place du gouvernement anglais, je laisserais sans
remords M"^^ Pankhurst et ses emules mourir de faim, puisque
tel semble etre leur bon plaisir. Et en ce faisant, j'aurais con-
science de rendre ä la cause du feminisme, que je trouve infi-
niment interessante, un Signale Service. La tournure prise par le
suffragisme en Angleterre est en effet un exemple, typique entre
tous, du tort que peut causer ä une cause juste une poignee
d'energumenes et de desequilibrees. Et cet avis n'est pas celui
d'un male isole, disqualifie du reste du fait de son sexe. C'est
celui de toutes les feministes, de toutes les suffragettes sinceres
et clairvoyantes que j'ai rencontrees. Toutes unanimement de-
plorent les exces des propagandistes par le crime, des grevistes
de l'estomac. De meme les libertaires eclaires — en general des
idealistes plutöt pacifiques — se rendent parfaitement compte du
discredit profond dans lequel les exploits des terroristes jettent
les hautes et belles — trop hautes et trop belies peut-etre —
theories du communisme individualiste. Et pourtant la propa-
gande par le fait se justifie beaucoup mieux du point de vue
anarchiste que du point de vue feministe. On peut tres bien ad-
mettre que dans une autocratie, lorsqu'il s'agit de tenir en res-
pect une caste tyrannique campee au pouvoir ets'appuyant, pour
regner, exclusivement sur la force et sur l'argent, il puisse etre
utile ä un moment donne de faire trembler les mattres en leur
rappelant par de terribles exemples qu'ils ne sont pas ä l'abri
de la mort embusquee dans l'ombre. L'explosif est alors l'arme
du desespoir, arme bien imparfaite, helas! bien maladroite, qui
frappe bien rarement celui qu'elle vise et fait au hasard bien des
victimes innocentes. Mais l'histoire demontre que la terreur reus-
sit parfois ä arracher aux puissants des concessions qu'aucun
autre moyen n'eüt obtenues.
C'est que la bombe, si eile frappe ä tort et ä travers, vise
cependant les vrais responsables. Elle peut manquer le veritable
destinataire, mais au moins ne se trompe-t-elle pas d'adresse.
En va-t-il de meme lorsque d'imbeciles megeres incendient des
gares, des tribunes de champ de courses, brisent des devantures
613
de boutiques, abiment la correspondance dans les boftes aux
lettres? A quoi riment de pareils attentats? A faire reflechir les
hommes? A terroriser les pouvoirs legislatif et executif? S'ima-
gine-t-on vraiment que dans un etat constitutionnel il se trouve-
ra un seul ministre responsable pour presenter une loi sous de
pareilles menaces? Et s'il s'en trouvait un, si une loi de fran-
chise etait presentee dans de telles conditions, pense-t-on qu'il
se trouverait un Parlement pour la voter?
Les attentats nihilistes avaient une excuse: l'enormite des
maux endures par un peuple immense, ecrase sous le joug de
fer d'une bureaucratie toute puissante et sans entrailles. 11 exis-
tait du moins un certain rapport de mesure entre le mal et le
remede. Oü est le rapport entre le but ä atteindre et les moyens
employes dans les attentats suffragistes? De quoi s'agit-il, en
somme, pour M"^^^ Pankhurst et consortes? D'une simple ex-
tension de la franchise electorale, d'un nouveau pas en avant
dans la conquete du suffrage universel. Cette extension de la
franchise laisse la majorite des hommes indifferents; une fraction
s'y oppose, une autre y serait plutot favorable; la masse n'a pas
d'opinion arrelee. Et mon but, en ecrivant ces lignes, est de con-
vaincre mes lecteurs que cette masse flottante serait acquise ä
la reforme le jour oii iL sera demontre que celle-ci est vraiment
desiree par la grande majorite' des femmes. En tout cas il est
parfaitement absurde de pretendre que dans l'ordre de choses
actuel, la partie feminine de la population souffre de maux tels
qu'ils justifient l'emploi de la violence. Aucune femme de sens
rassis ne soutiendra que le sort du sexe le plus nombreux soit
ä ce point intolerable qu'il faille recourir au terrorisme pour l'y
soustraire. Dans ces conditions, n'est-il pas evident que tout ce
mouvement de propagande par le fait va ä fin contraire, oblige
les hommes, ne serait-ce que par dignite, ä ne pas ceder ä la
menace en une question oü seule la justice a le droit de parier,
et rejette dans le camp du suffrage masculin toutes les femmes
de bon sens, parce que leur instinct leur dit qu'entre la loi de
l'homme, si injuste soit-elle en principe, et la loi de femmes du
type des suffragettes anglaises, la premiere leur offre plus de
garanties, avec l'avantage d'eviter un saut dans l'inconnu.
614
L'erreur fondamentale des suffragettes est de croire que le
triomphe de leur cause depend de rhomme. Que dis-je? pas
meme de rhomme en general, de la population masculine dans
son ensemble, pas meme d'un Parlement masculin, d'une assem-
blee legislative formee de representants de la partie male de la
nation, mais d'un cabinet, de tel ou tel ministre. C'est lä une
illusion tout ä fait puerile. La legislation n'a jamais ete que le
reflet des moeurs; eile se borne ä enregistrer les decisions de la
conscience collective. Toute loi qui pretend devancer cette con-
science ou lui imposer une contrainte, manque de base profonde,
n'est pas viable. Dans le domaine de la franchise electorale en
particulier, l'etude de l'histoire prouve que toutes les fois qu'une
nouvelle couche de la population s'est trouvee müre pour les
responsabilites, la franchise lui a bientöt ete presque automa-
tiquement etendue. Presentons cette verite sous une autre forme
plus tangible: toutes les fois qu'une categorie de citoyens a pris
conscience d'elle-meme au point de desirer participer ä la vie
politique, eile a vu son desir assez promptement satisfait, et cela
au prix d'un effort relativement minime. Et la conclusion s'im-
pose: le jour oü les femmes le voudront, elles voteront; la re-
sistance des hommes pesera moins que rien dans la balance. Si
jusqu'ici elles n'ont conquis le suffrage que dans un petit nom-
bre de pays, c'est tout simplement parce que dans les autres
elles ne le desirent pas encore avec assez de force et d'unani-
mite. Ce ne sont pas les hommes qui leur barrent la route, ce
sont elles qui restent inertes, qui n'eprouvent pas le besoin de
participer ä la vie politique. En usant de violence et d'intimi-
dation vis-ä-vis des hommes, les suffragettes commettent donc
une erreur grossiere: Elles se trompent d'adresse.
La propagande feministe parmi les hommes peut avoir son
utilite, sa necessite meme, ä titre accessoire. Sans doute ce sera
un Parlement masculin qui aura ä enregistrer la conquete defi-
nitive du suffrage pour la femme. Ce sera un ministre masculin
qui soumettra la reforme ä sa ratification. Mais lorsque nous en
serons lä, c'est que la victoire aura dejä ete gagnee ailleurs. La
propagande qui importe avant toute autre, c'est la propagande
615
parmi les femmes. Ce sont elles qu'il s'agit de gagner, et de ce
c6te-lä, il y a presque tout ä faire. Une avant-garde de linottes
bien intentionnees est partie en guerre, croyant qu'il n'y avait
qu'ä marcher et que le genre feminin tout entier suivrait. Erreur
fundamentale, erreur fatale. La grande masse des femmes — des
femmes de chez nous en tout cas — est prodigieusement indif-
ferente en matiere politique. La conscience civique lui fait en-
core defaut. Ce n'est pas affaire de capacite; il est absurde de
pretendre que la citoyenne moyenne soit intellectuellement in-
ferieure au citoyen moyen. Pareille affirmation ne supporte pas
l'examen. C'est civiquement qu'elle est inferieure. „La faute en
est aux hommes qui lui refusent l'instruction civique", objectent
les suffragettes. Possible, mais nous tournons dans un cercle
vicieux. Pour que les programmes scolaires comportent l'ins-
truction civique des filles, il faut d'abord que les femmes soient
citoyennes. Tant qu'elles ne le seront pas, pareille discipline est
sans objet. D'autre part, pour que les femmes conquierent leur
capacite de citoyennes, il faut que prealablement elles soient par-
venues ä la conscience civique. Et si l'ecole est dans l'impos-
sibilite de les y aider, il faut que l'aide vienne d'ailleurs. Le
grand objet de la propagande suffragiste doit donc etre l'instruc-
tion civique de la femme, l'eveil chez la femme de la conscience
civique, du desir, du besoin de participer ä la chose publique. Donner
le bulletin de vote ä des femmes qui ne le desirent pas, qui n'en
comprennent ni la signification ni l'importance, serait leur faire
un cadeau qui pourrait etre dangereux, qui ne le serait toutefois
guere dans la pratique, parce qu'elles s'en serviraient probable-
ment tres peu. Mais cette abstention serait extremement regret-
table, car le sexe feminin tout entier supporterait desormais la
responsabilite des mesures auxquelles il aurait neglige de colla-
borer. II perdrait tout droit ä se pretendre tyrannise par l'homme.
Et la femme donnerait raison ä ceux qui lui refusaient la fran-
chise. Le jour oü les femmes pourront voter, il est ä souhaiter
qu'elles votent et qu'elles votent beaucoup. A ce prix seuiement
leur concours pourra etre utile et rendre les Services qu'en atten-
dent les partisans d'une legislation sociale plus genereuse, plus
humaine, plus sainement „sentimentale". Les feministes con-
vaincus, dont je suis, comptent beaucoup sur le suffrage de la
616
femme pour ramelioration du droit de famille, pour la lutte anti-
alcoolique, pour la protection legale de l'enfant et de la mere.
Ils appellent de leurs voeux, non le jour oü l'extension de la
franchise ä toute une moitie de riiumanite aura enfin pris place
au livre des lois, mais le moment, beaucoup plus important, oü
toutes les femmes auront enfin compris que cette extension elles
y ont droit, et qu'il Importe pour elles de la demander, de la
revendiquer hautement, sans violences inutiles, mais avec une
energie froide et resolue.
Qui donc, ä l'heure qu'il est, reclame le suffrage feminin?
Quelques associations de combat constituees par une elite dejä
parvenue ä la conscience civique. Ces associations sont bien peu
de chose comparees ä l'enorme masse des indifferentes; elles ont
avec cette masse trop peu de contact et ne peuvent raisonnable-
ment etre envisagees comme representant le sexe feminin tout
entier. Leurs revendications ne pourront etre prises en serieuse
consideration que le jour oü elles seront devenues vraiment re-
presentatives; le jour oü un grand, un irresistible mouvement
d'opinion entrainera toutes les femmes ä la conquete du suffrage.
C'est ä creer ce mouvement que devraient tendre les efforts
des suffragettes, ou plutöt de cette elite feminine dejä parvenue
ä la conscience civique. C'est ä leurs scEurs qu'elles doivent
s'adresser; c'est l'education de leurs soeurs qu'elles doivent en-
treprendre. Faire de chaque femme une citoyenne d'abord, tel
devrait etre le but de leur propagande. Pour les aider dans cette
täche, elles peuvent etre assurees du concours de beaucoup de
leurs freres; car parmi ces monstres d'hommes, voues ä l'exe-
cration du sexe faible par quelques Eumenides d'outre-Manche,
il en est plus qu'on ne croit de gagnes ä la cause de la justice.
Secouer l'indifference des femmes, les eveiller au sentiment de
leurs responsabilites vis-ä-vis de leur sexe et de l'humanite est
une täche plus noble, et surtout plus urgente, que de lancer des
pierres contre les vitres de Westminster ou de crier des sottises
ä M. Asquith.
Les peuples ont les institutions qu'ils meritent. Cela est vrai
en detail comme en gros. Les femmes obtiendront le bulletin de
vote le jour oü elles le meriteront.
617
Vous connaissez V Ariane et Barbe-Bleue de Maeterlinck :
Ariane, qui personnifie la femme consciente, ä l'avant-garde de
son sexe, a entrepris de delivrer ses soeurs captives. Elle a brise
ieurs chaines; elles les a amenees ä la lumiere; gräce au con-
cours du peuple, Barbe-Bleue a ete reduit ä rimpuissance. Et
maintenant Ariane les invite ä partir, ä user de leur liberte re-
conquise. Pas une ne bouge; toutes restent dans la maison du
maitre et laissent leur liberatrice s'en aller seule, desabusee et
un peu meprisante. Elles prouvent par lä que leur propre ser-
vilite, et non leuri fers, faisait leur esclavage.
Pourtant Ariane a tort de partir. Sa täche n'est pas achevee:
debarrasser de Ieurs chaines materielles les filles d'Orlamonde
etait relativement facile ; plus essentiel est de leur inspirer l'amour
et le desir de la liberte.
Conquerir pour la femme le suffrage dans les circonstances
actuelles serait une conquete vaine. Nos Arianes ont mieux ä
faire: eveiller chez la femme la conscience civique qui dort; lui
souffler cet altruisme agissant qui elargira leur horizon au-delä
des limites de la famille jusqu'ä Celles de la vaste humanite.
LAUSANNE EDOUARD COMBE
N'y a-t-il pas du plaisir ä tout critiquer, ä sentir des defauts oü les
autres hommes croient voir des beautes? Sans doute; c'est-ä-dire qu'il y a
du plaisir ä n'avoir point de plaisir.
Candide VOLTAIRE
M . , . disait qu'il y avoit tels ou tels principes excellens pour tel ou
tel caractere ferme et vigoureux, et qui ne vaudrait rien pour des caracte-
res d'un ordre inferieur. Ce sont les armes d'Achille qui ne peuvent con-
venirqu'ä lui, et sous lesquelles Patrocle lui-meme est opprime.
Oeuvres choisies CHAMFORT
. . . la premiere condition d'un style est la convenance, la probite.
Un grand style sur des idees petites, de grands ramages sur de petits
moyens, voilä ce qui s'appelle emphase.
Le romantisme franfois LASSERRE
DD D
618
DRAMA UND BÜHNENBILD
I.
Es war einmal eine schlimme Zeit, da gingen die guten
Kunstmaler weder durch den Fassadeneingang der Zuschauer
noch durch die hintere Arbeitstüre der Bühnenleute ins Theater.
Sie fanden es unerträglich, auf die von der bildenden Kunst ver-
gessene Szene zu schauen. Von der Mitarbeit auf der Bühne
waren sie darum so gut wie ausgeschlossen, weil das Theater —
merkwürdig zu sagen — eine hochgradig konservative ästhetische
(oder auch nur kunstgewerbliche) „Institution" ist, auf der sich die
Grundmeinungen über Regie und Inszenierung von Darsteller-
geschlecht zu Darstellergeschlecht und von Direktionsgeneration
zu Direktionsgeneration, unter Umständen selbst nach Art eines
peinlichen Sprech-, Bewegungs- und Raumausstattungsreglements
vererben. Wobei die Erkenntnis abhanden gerät, dass das Theater
im Gegenteil eine außerordentlich wechselnde, fast aktuelle Kunst-
äußerung ist, bei der jedes schablonenhafte Beharren auf Über-
liefertem und bedingungslos Übernommenem genau so zum Un-
lebendigen und Epigonären führt, wie in der dramatischen Dich-
tung selbst, die immer versagt, wenn die Fühlung mit der Gegen-
wart fehlt und die alten Kunstmittel dramatischer Wirkung als
leeres Gefäß für einen mangelnden geistigen Inhalt angewandt
werden. Festzuhalten, dass der Verfall des Bühnenbildes in den-
jenigen Zeitabschnitt zu setzen ist, in dem die dramatische Dich-
tung, vor allem die auf dem Theater herrschende dramatische
Dichtung in ein seichtes und stehendes Wasser gekommen war.
(Die mittleren Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts!) Festzu-
halten auch, dass der erste dramatische Dichter, der in Rede, Schrift
und Tat das Herkommen wegzuschauern versuchte, der Musik-
dramatiker Richard Wagner gewesen ist. Er war (unter manchen
von der Dichterseite, die minder vernehmlich, aber in stiller,
gleichlaufender Weisheit fühlten) der größte Propagandist für die
wesentlichste dramaturgische Forderung, die für die Theaterleiter
zu formulieren ist: dass jedes dramatische Kunstwerk aus seinem
eigenen Darstellungsgesetz verkörpert werden muss, und nicht
den Zwingen und dem Zufall der Tradition auszuliefern ist.
619
II.
Von der Kennerschaft des heute Erreichten und gestern Ge-
wesenen wird niemand abstreiten, dass Richard Wagner — misst
man an dem Zustand, in dem er die deutschen Bühnen antraf —
für seine Zwecke zwar ansehnliche Zugeständnisse erhielt, dass
ihm aber die Helfer fehlten. Und so ist denn seine große drama-
turgische Forderung sehr lange Theorie geblieben und sind selbst
die Aufführungen seiner Werke in der Gegenwart nur in wunder-
seltenen Fällen Beispiele für neue Hoffnungen und Bahnen. Wie
die Mehrzahl aller zeitgenössischen Opernaufführungen. An der
Spitze aller fruchtbaren Versuche, die Oper mit dem neuen In-
szenierungsstil zu vermischen, behaupten sich — mit reichlichem
Abstand von anderen Anstrengungen — die Darstellungen der
Musikdramen eines neueren Komponisten, Richard Straußens. Ein
viel breiterer Bezirk, aus dem Taten zu nennen sind und folge-
richtig weitergepflanzt wurden, von führenden Großstadtbühnen
auf kleinere und kleinste Theater, ist das reine Drama. Und hier
war es — der Name ist in keinem Zusammenhang zu umgehen,
in dem je von der Neubelebung des Szenenbildes die Rede sein
wird — ein Berliner Theaterdirektor, Max Reinhardt, der Leiter
des deutschen Theaters und der Kammerspiele zu Berlin, der
zuerst als einsamer Reformator, und bald mit großer Gefolgschaft
benachbarter Bühnen vorgegangen ist. Er schnitt ab, wo andere
angeknüpft hatten. Er knüpfte an, wo andere jeden Anschluss
vermieden hatten: bei der neuen bildenden Kunst, bei den Weg-
machern des Kunstgewerbes, die zwar längst in den Wohnhäusern,
Gärten und Fabriken, aber noch immer nicht auf der Bühne
Aufnahme gefunden hatten. Es kam dazu, dass die bildende
Kunst vielleicht zu jener Zeit, da dies geschah, eben reif und
willig geworden war, solche Aufgaben zu übernehmen. Sie hätte
es wahrhaftig ein Jahrzehnt früher nicht vermocht, sich aus dem
Kreis malerischer Sonderspekulation und dogmatischer künstleri-
scher Tätigkeit zu lösen, um sich helfend mit dem Theater zu
verbünden, auf dem sich die Nachwirkungen einer verabschiedeten
Historienmalerei, Anekdotenmalerei und farblos-luftlosen Land-
schaftsmalerei mit beinahe bewunderungswürdig zäher Kraft in
Form von schlechten Kulissen und übel ausstaffierten Innenräumen
zu behaupten schienen.
620
III.
Die Künstler Kruse, Corinth, Stern, Walser — einige Namen
aus der (erst begonnenen) Geschichte der künstlerischen Szenerie-
schöpfung — hatten bezeichnenderweise keine gewaltigen Wider-
stände zu brechen. Als Reinhardt — im Laufe der ersten zehn
Jahre des neuen Jahrhunderts — mit ihrem Beistand gezeigt hatte,
was zu erfüllen war, frug sich vielmehr mancher ästhetische Denker,
weshalb man so lange daran geglaubt habe, dass die künstleri-
sche Einheit in historischer Dramen in erster Linie durch sach-
liche und wissenschaftliche Aufschlüsse (nach dem letzten Stand der
Forschung) erzielt werden könnte. Die Neuen wiesen im übrigen
(um beim Historischen zu bleiben, wo den jungen Inszenierern die
größten Erfolge in den Schoß fielen) die von dem neunzehnten,
dem Schul- und Lern-Jahrhundert erzeugten Werte nicht von sich
ab. Aber mit Reinhardt sind sich inzwischen die Befehlshaber
der künstlerisch geführten Bühnen darüber einig geworden, dass
aus einem trocken aufgereihten historischen Kram keine Stim-
mungen blühen. (Welche Museumsmeinung der Fall der Mei-
ninger gewesen war.) Trotzdem berief man sich keineswegs auf
die Maler der Vergangenheit, die von den Frührenaissance-
Florentinern an bis in die Zopfzeit hinein Geschichts- und Bibel-
begebenheiten fast immer nur im Kostüm ihrer Tage gemalt und
sich nach der historischen Genauigkeit nie erkundigt hatten. Nur
dass man das historische Element um einen Platz zurück und
das künstlerische um einen Platz nach vorn rückte, wobei sich
etwa der Leitsatz ergab, dass die Bühne nicht dazu da ist, um
exakte Illustrationen für die Kulturgeschichte vergangener Zeiten
zu liefern, vielmehr die Historie nur ein Vorwurf zur künstlerischen
Bearbeitung der Szene nach der Wissenschaft von der Farbe und der
Linie ist, auf die allein — immer im Rahmen der dramatischen
Absicht, der -Generalabsicht — das szenische Bild gestellt werden
muss. Das Ergebnis des Schweißes war — andere Formen:
neuerdachte Regieeinfälle, neue Ausdrucksmöglichkeiten für den
Schauspieler dazugerechnet — ein ungeahnter Shakespeare, von
dem vorher weder Dichter noch Bühnenleiter jemals geträumt
hatten. War auch (man besehe den Reinhardtschen König Ödipus)
ein neuer Sophokles, ein neuer Goethischer Faust.
621
IV.
Hier ungefähr (ich lege den Finger auf Shakespeareauf-
führungen, wo der Kostümfasching allzubunt über die Komödie
wegwuchert, oder auf ein Königsdrama Shakespeares, wo das
innere Geschehen durch die szenisch allzusehr ausgewachsene
Schlachten- und Massenhandlung leidet, auf karusselhafte Bilder-
Kunststücke mit der Drehbühne und andere Ausschweifungen
im neuen szenischen Mittel) beginnen die Einwände, die Pro-
bleme, die Streitfragen. Es gab szenische Einfälle, die die drama-
tischen Gewichte verkleinerten, es kam zu einer Hypertrophie
der Dekoration. Das Drama wurde dann Nebensache, und die
szenische Ausgestaltung haftete als die festeste Erinnerung unter
den Theatereindrücken. Man berief sich zur Begründung der Un-
zufriedenheit auf dokumentarisch und bildlich erhärtete Tatsachen
aus der Theatervergangenheit.
Die Einwände bestehen zu Recht. Weder für Shakespeare,
noch für Sophokles, noch für Goethe und andere Dramatiker
haben die Neu-Inszenierer die letzte, die endgültig genügende
Form gefunden. Sie sind selbst, mitunter, weiter abgeirrt, als
frühere Interpreten. Gegen den Grundsatz, der bildenden Kunst
ihren Teil an der Theaterwirkung zu sichern, besagt das nichts,
und das wegleitende Verdienst der Reformatoren und derer, die
um sie sind, wird dadurch nicht geschwächt. Bezeichnend, dass
dieselben Neuordner auch die Träger der (etwas jüngeren)
szenischen Bestrebungen auf Vereinfachung gewesen sind. Noch
während die Kunstmaler auf der Bühne Feste feierten (und heute
noch so feiern, dass ihr Werk auf offener Szene beklatscht wird),
kam das Besinnen auf Dämpfung und Verminderung der deko-
rativen Zutaten, begann das Suchen nach andeutenden, nur an-
deutenden stilistischen Mitteln, durch die der Phantasie mehr
Spielraum und dem Dichterwort mehr Macht gegeben werden soll.
Dieses das zweite Zeichen der szenischen Neuordnung mit
Beistand der bildenden Künstler. Was hier vollbracht wurde,
gehört zum Teil denselben Personen. Zum Teil einer großen
Gruppe von Bühnenleitern, Regisseuren und Malern, die an den
verschiedensten Stellen der deutschen Lande inzwischen auf den
Plan getreten waren. Darunter völlig Eigene, Einfallsbeschenkte,
622
Schöpferische. Die tätige Bewegung ist allgemein geworden. Und
das ist es, was der Zukunft das gute Licht gibt.
V.
Soziologisch ist hier einzuschalten, dass ein Mangel an
ästhetischen Genieins amkeitsgefühlen die Bewegung hemmt.
Es herrscht noch keine rechte Übereinstimmung über eine
ungeheuer wichtige Frage: Welche Stilmittel vor allem in Betracht
kommen, um die Massen wiederum in die Richtung der guten
dramatischen Dichtung zu zwingen, was zu tun ist, um den Sinn
der theaterbesuchenden Menge für die ernste Dichtung zu schär-
fen, für die Notwendigkeit der Tragödie, für die Bereitschaft zur
Hingabe.
Dass dabei die Form der szenischen Ausgestaltung erheblich
mitspricht, ist außer Zweifel.
Dass wenig erreicht ist, wenn die Massen um der ästhetischen
Sensation willen dem Rufe der Theaterleiter folgen, damit haben
alle Kritiker der Zeit recht.
Aber es ist nicht zu übersehen, dass das, was heute ästhe-
tische Sensation ist, morgen eingewachsen und Bestandteil des
künstlerischen Allgemeinempfindens sein kann. Und der Ein-
spruch Feindseliger, dass die neue szenische Kunst die genießende
Einfalt verderbe, ist darum noch keine Erledigung der szenischen
Künstler.
Wenn erst wieder der große und verzweigte Organismus des
Theaters deutscher Zunge (der an Umfang nirgends in der Welt,
wo Bühnenkunst getrieben wird, seinesgleichen hat) mit dem Stil-
gefühl, das er so lange entbehrte, in allen Adern duchblutet ist,
wird es niemanden einfallen, über dem szenischen Rankenwerk
die Dichtung zu vergessen; es wird dann wieder ein so reichlicher
Vorrat an künstlerischer Kultur vorhanden sein, dass über die
Kunstmittel zwischen dem Theater, das spendet, und den Menschen,
die da nehmen, eine nur selten durchbrochene Einmütigkeit
herrscht. Es wird auf beiden Seiten keine Versteinerungen mehr
geben, weil sich aus dem Zusammenwirken aller künstlerischen
Kräfte eine dauernde Fähigkeit zur Erneuerung von selbst ergibt.
Damit diese erfreuliche Beziehung entsteht, ist eine Fortsetzung
der Maler-Kunstarbeit auf der Szene eine Notwendigkeit.
623
VI.
Von Tatenmustern.
Nur handwerklich geführte Bühnen haben immer noch nichts
aufzuweisen. Wo ein nur auch mittelstarkes Gewissen für die
Zeitaufgaben waltet, in Städten bis zu 50,000 Einwohner herab,
da sind Berührungen spürbar.
An weltstädtischen Theaterplätzen zwingt der Wettbewerb.
An kleineren Orten, wo weniger Geld gewagt werden darf,
steht man nicht zurück.
Wie bei allen ästhetischen Unternehmungen, wo mit dem Be-
griff „Publikum" hauszuhalten ist (der vor dem neunzehnten Jahr-
hundert, wo der Stand und die Bildung der Kunstgenießer genau
bestimmt war, nicht vorhanden gewesen war) ist Takt erforderlich:
Man muss sich auf die Pubükumsschichten einstellen. Kein Zufall,
dass Otto Brahm, der verstorbene Leiter des Lessingtheaters,
Schrittmacher für die dramatischen Analytiker, an der Bewegung
nur mäßigen Anteil genommen hat. Er, von dessen Theater eine
neue, verfeinerte Schauspielkunst ausging, blieb in diesen Dingen
auf einer kühlen mittleren Linie, wohl wissend, dass die von ihm
verfochtene dramatische Kunstrichtung durch eine augenfällige
Wandlung der dekorativen Kunstmittel, mit denen seine Gemeinde
nicht vertraut war, kaum bereichert worden wäre. So hielt er
im Bühnenbild fast am Herkömmlichen, eher am Neutralen fest,
(um nicht etwa die Spinnwebfeingliedrigkeit Ibsenscher Dialoge zu
beeinträchtigen). Ein kommendes Geschlecht wird sich die (richtige)
Einsicht Brahms auf seine Art zunutze machen und wägen wie er.
Nach diesem Muster sanftester Anwendung ein Zeugnis für
eine fast monumentale Stilmöglichkeit aus den Mitteln der jungen
szenischen Kunst: Reinhardts Zirkusaufführungen, Übertragungen
plastischer und architektonischer Neukünste auf ein Riesentheater-
haus, wie es in dem mittelalterlichen Mysterienspiel Jedermann
geschah, wo der Geist der Gotik (als höchste und feierlichste
Ausdruckskunst, wie sie in der Überzeugung unserer ästhetischen
Zeitgenossen wach ist), wieder lebendig gemacht wurde. Eine
größere Entfernung von dem, was vordem unter Ausstattung und
Bühnendekoration verstanden wurde, ist kaum denkbar. Jede
Erinnerung an die Bühne von gestern fehlt. Der Geist des Myste-
rienspiels schafft eine mehrfach geteilte, versenkbar und verschieb-
624
bare Monumentalbühne. Alles Sichtbare, vom kirchenhaften Spitz-
bogengiebel der Hintergrundsbaute bis zur Gebärde der Personen,
die, in der Mitte des amphitheatralischen Zuschauerraums, allseitig
beschaut werden können, ist unter die gotische stilistische Einheit
untergeordnet. Das Kostüm, die Massenszenen, das Menschliche
und die Traumsphäre vereinigen sich zu einem kunstgeistigen
Wunderbilde, wie es die Schaubühne der Vorgänger mit den alten
Requisiten nie zu erfinden vermocht hätte. Die gewaltige und über-
zeugende Impression rührt davon her, weil völlig neue Illusio-
nen entstehen, die in keiner Weise den verbrauchten Mitteln ver-
alteter Regiekunst zu danken sind. Die Illusion ist auch darum
so mächtig, weil sie nicht auf stümperhafte Naturvortäuschung
ausgeht. Bühne und Spiel und wiederum Bühne und Spiel, aber
in ein neues künstlerisches Reich gesetzt, und von allen Zügen
peinlicher Wirklichkeitsnachahmung, dem Irrtum aller schlechten
Realkunst, befreit.
Zwei Beispiele aus der letzten Vergangenheit der Züricher
Bühne, die ein Nachweis für aufwandslose Erfüllungen sein sollen:
Anzengrubers Viertes Gebot und Tolstois Lebender Leich-
nam auf der Schauspielbühne des Stadtheaters, beide Dramen
ihrem Wesen nach nicht in üblicher Form abgespult, sondern
aufs Szenenbildhafte gebracht, wobei im Vierten Gebot Erschei-
nung wurde, was uns heute am meisten angeht: Das volksmäßige
Kultur- und Sittengemälde, und das tolstoische Fragment auf dem
Hintergrunde abgetönter Vorhänge einen verketteten straffen epi-
schen Zusammenhalt bekam.
Dies einige Willkürgriffe in einen reichen Stoff.
VII.
Für unabsehbare Felder malerischer, künstlerischer Betäti-
gung auf der Szene ist abgesteckt. Kein Theater, keiner von den
dramatisch Schaffenden wird leer ausgehen. Es wird, das belegt
die Züricher Theaterkunstausstellung, aus lebhaften und begabten
Händen verteilt. In der Geschichte der Künste wird diese Zeit-
wende darum genannt werden müssen, weil die Annäherung der
bildenden Kunst an das Theater als eines der letzten Anzeichen
für die ersehnte Vergemeinschaftlichung der Künste zu einer
hoffentlichen neuen Kultur anzusehen ist.
ZÜRICH HERMANN KESSER
625
HOMER UND GERHART HAUPTMANN
Die besten Hörnenden haben ihren Homer mit einer Inter-
linearübersetzung notdürftig gelesen, den Zünftigen aber war
Homer im XVlll. Jahrhundert ein Buch mit sieben Siegeln. Für
diese literaturgeschichtliche Tatsache steht auf der 393ten Seite
seiner Homerischen Untersuchungen Ulrich von Wilamowitz ein.
Das XX. Jahrhundert will sie durch Gerhart Hauptmann bestä-
tigen, der an der städtischen Realschule in Breslau keinen Strahl
der Sonne Homers einfing.
Dass aber grade Gerhart Hauptmann nach langer künstle-
rischer Odyssee mit dem Dulder Odysseus den Kreis der Schöp-
fung ausschreitet, gibt zu denken, denn mehr als Breitengrade und
Jahrhunderte trennen ihn von den Griechen. Seine eigene Welt
und ihre Geschöpfe stellen sich zwischen ihn und Homer. Die
Weber glotzen verständnislos nach der Weberin Penelope; das
liebe Proletarierkind Hannele Mattern wird an seinem deutschen
Himmel mit dem Herrn Jesu und dem Lehrer Gottwald irre,
wenn von griechischen Pantheon geflunkert wird; Rautendelein
versteht nur schlesische Laute; Emanuel Quint begreift seinen
Apostel Hauptmann nicht, der gen Hellas zog — und nicht nach
Palästina. Hat Ibsen, haben Tolstoi und Dostojewsky: die ganze
heilige russische Literatur uns und Hauptmann nicht verwandelt?
Führt sich und uns der Dichter nicht irre, den die geschichtlich
festgelegten sozialen Konflikte des XIX. Jahrhunderts zum dra-
matischen Dichter begabten, wenn sich unter seine Finger
Stoffe schieben, die man heute Exerzitien halber von einem
Metrum ins andere wirft? Die junge Generation, die im XVIII.
Jahrhundert sich Homer verbündete, hatte nur die Zukunft vor
sich, in die sie die Vergangenheit der homerischen Kunst hin-
eintrug. Wenn Gerhart Hauptmann heute in den Schatten Homers
tritt, liegt der Gedanke nahe: Da hat einer die alte und die neue
Welt gesehen, seinen Pflug durch die Dichtung des Mittelalters
gezogen, in der Reformationszeit sein Herz lodern lassen, sich die
Seele des modernen Menschen erlistet, aber End der Ende hat
er seinen eigenen Schatten verloren und borgte als armer Schle-
mihl den Strahl von der Sonne Homers. Eine Vergangenheit
liegt hinter ihm, er will sich eine Zukunft erobern, in dem er in
626
den Schränken der Weltliteratur wühlt? Ist man in solchen Fäl-
len Homeride, oder nicht ebenso gut Philologe und schreibt in
Versen — - aus handfertiger Gewohnheit?
Darf man sich Bestes versprechen, wenn ein Dichter an
einen andern Dichter sich klammert? Wenn Gerhart Hauptmann
zu Homer spricht wie Tasso zur Wirklichkeit Antonios:
O edler Mann ! Du stehest fest und still,
Ich scheine nur die sturmbewegte Welle.
Darf ein Kunstwerk auf anderen Voraussetzungen als der
Erfahrung des Lebens sich aufbauen?
Kein Name und kein halbes Werk vermöchte diese Zweifel,
die immer neue gebären, beschwichtigen. Nur ein außerordent-
liches Werk entkräftet sie, in dem Odysseus nicht bloß von Ho-
mers, sondern von Gerhart Hauptmanns Gnaden lebt. Wenn der
Dulder Odysseus in unserer Gesellschaft geduldet und begriffen
werden soll, so darf er kein Gattungsbegriff, muss mehr ein
Nomen proprium für einen festumrissenen, haarscharf charakte-
risierten Menschen sein. Hauptmann wird also zeitgemäß und
großzügig Odysseus in unser Zeitgefühl übertragen, indem er
den typischen Dulder in einen charakteristischen wandelt. Felo-
nie an Homer begeht er nur, wenn dieser charakteristische Odys-
seus sich nicht unter den Oberbegriff des typischen Odysseus
Homers subsumieren lässt. Hier liegt das Problem dichterischer-
Übersetzung in des Wortes wörtlichster Bedeutung und in dem
Sinne: Einen Stoff aus einer Zeit in eine andere zu übertragen.
Die Frage: ob Hexameter oder Blankvers wird den Dichter
weniger, viel mehr die Handgelenke des Dichters bewegen.
Der Dichter, dessen Zeit für das Epos sich nicht mehr, oder nur
gelegentlich aus Kuriosität einstellt, wird das Epos dort aufs
Korn nehmen, wo seine dramatische Ader sich nicht mehr ver-
heimlicht. Die realistische Forderung unserer hastigen Zeit legt
der Dichtung außerdem nahe, sich nur zwischen acht und elf
Uhr Abends und nur dramatisch vorzustellen. Auf diesem Wege
zum Drama aber verliert der Held seine epische Unschuld. Er
wird im Drama ein zeitgemäßer Mensch, oder die Gründlinge
im Parterre kehren ihm den Rücken.
- «
627
Ein Dichter der jungen Generation wie Robert Faesi wird,
wenn er sich nicht selbst verleugnen will, Odysseus und Nausikaa
modellieren. Goethe und Hofmannsthal werden für ihn nicht um-
sonst gelebt haben. Er wird Jugend und Schönheit in präch-
tige selbstgewählte Versgewänder hüllen. Den aber, der in
den höheren Jahren steht, dessen eigener Sohn um Nausikaa
freien könnte — man denke an Goethes Plan! — ergreift das
Los des alternden Odysseus. In dem zerschrumpften, zerlump-
ten, vernarbten Odysseus schlägt ein Dulderherz an die Rippen.
Der in Schmutz starrende Bettler verlangt keinen Purpurmantel
schöner Worte; soll er aber im Gesänge eines modernen Dich-
ters mächtig dahinschreiten, so muss sein Sänger die Pfützen
so gut als die Himmelsleitern kennen. Ohne Verleugnung seiner
naturalistischen Vergangenheit wollte und konnte Gerhart Haupt-
mann kaum anderswo dem Dulder Odysseus begegnen als im
vierzehnten Gesänge der Odyssee — im Hofe des Sauhirten Eu-
maios, die in jedem der zwölf Kofen „fünfzig der Wühler im
Grund, der gelagerten Schweine" hegte. Wer Homer nicht kennt,
steht dieser von allem Erdenjammer gebeutelten Gestalt Odys-
seus, wie sie Hauptmann schildert, fast unbefangener und gläu-
biger gegenüber, als der Homerleser, denn dieser hat ja im acht-
zehnten Gesänge der Odyssee miterlebt, wie Pallas Athene den
herrlichen Odysseus mit dem Zauberstab berührte:
Ließ ihm verdorren das blühende Fleisch der gelenkigen Glieder
Und vertilgte vom Haupt sein blondes Gelock und zog ihm
Rings über sämtliche Glieder die runzlichte Haut eines Alten,
Machte die Augen ihm blöd, die leuchtenden Sterne, und warf ihm
Über den Leib ein Lumpengewand und garstigen Mantel.
(übersetzt von L. A. Schröder)
Der homerische Odysseus erscheint in der Maske auf dem
Hofe Eumaios; dem Hauptmannschen dagegen ist die Bettler-
maske Wesensform, er wäre „Schauspieler", wollte er sie ver-
leugnen. In des Wortes urältester Bedeutung ist er elend, denn
keine Athene leitet ihn; er muss sein Leben unbeschirmt weiter-
tragen. Die Irrfahrt hat seine Seele aus den Angeln gehoben.
Mählich nur schieben ihm die Worte und die Geberden der Men-
schen die reale Welt wieder unter die Sohlen. Er darf seinen
Namen nicht nennen und bekennen, weil niemand auf den Hel-
den verzichten will, um einen Bettler zu besitzen, weil dieser
628
Odysseus an sich selber, als einer tief zweideutigen Erscheinung
irre wird, der die beglaubigenden Kräfte fehlen. So vergräbt er
um ein Stück verschimmelt' Brot seinen Namen zwölf Klafter tief.
„Niemand" ist er für den strahlenden Götterjüngling Telemach,
der doch eine schwärmerische Nänie auf den Geist des toten Vaters
klagt. Nicht aus List gebärdet er sich närrisch, aus Not verkehrt
sich ihm die Welt. Er wird der ältere Bruder des Armen Hein-
rich: Ein Narr, der mehr erkennt als alle andern! Wie soll er
sich dem Sohne beweisen und erweisen?
Wer denn lehrt ihn, den Sohn
Den Kern der goldnen Ruhmesfrucht erkennen,
Der ausgespien am Wege fault?
Wer bin ich? ist
Nicht meine Tat vor mir entflohn und steht
Fern, zwischen Göttern, am gestirnten Himmel?
In Licht verhüllt, ein funkelndes Gestirn,
Fremd meiner Seele? Und ich hocke hier,
Ein Bündel schlechter Lumpen?
Eine Hülse, kein Kern mehr! So fühlt er sein Schicksal.
Nichts unterscheidet ihn von dem Bettler, der um eine Hafersuppe
wimmert, von Laertes, seinem Vater. Hauptmann hat diese Be-
gegnung erschütternd gestaltet: wie das Elend aus Vater und Sohn
Schicksalsbrüder macht. Schwirrten bisher nur aus Worten des
Argwohns vergiftete Pfeile nach dem Ohr Odysseus, so vergiftet
der Anblick der geilen freilich herkömmlich gezeichneten Freier-
schar Penelopes sein Auge. Ein Widerspiel setzt ein: Telemach,
der Starke, spürt sich den Freiern gegenüber schwach; Odysseus,
der sich duckt, spürt in sich Säfte des Hasses und der Rache
kochen, die seine Sehnen straffen. Mählich kehrt der Glaube an
die eigene Kraft zurück. Der Blick in diese brutalen Wirklich-
keiten gibt sie ihm wieder. Ein Dämon umkreist er den Sohn,
erobert ihn, bevor Telemach ihn erkennt. Wie von jedem großen
Thaumaturgos geht von ihm eine gewaltige seltsame An-
ziehungskraft aus. Seine Umwelt beginnt die wohlwollenden Er-
eignisse der Natur auf ihn zu deuten. Blitz und Donner werden
seine Zeugen (die natürlich bei Gerhart Hauptmann von langer
Hand vorbereitet sind). — Aber erkennen können jene, die
dem Herzen Odysseus am nächsten standen, ihn nicht; denn
seine äußere Erscheinung — ein Bettlermantel und ein in Schmutz
629
starrendes Runzelngesicht, die Haut — kurz die Kriterien der Welt:
die Oberfläche spricht gegen den Helden Odysseus! nicht gegen
den Dulder! Nicht Athene, sondern das Erdenkind Leukone er-
kennt sein Auge zuerst. Es bedarf vier Akte, bis Telemach das
Wort „Vater" schluchzt. Das sei nicht gesagt im mitleidigen
Hinblick auf die Griechen, denen ein ävayvaypKjjiöq leichter fällt
als uns, denn Nietzsches Zwischenbemerkung stimmt nachdenklich:
„Die Griechen waren oberflächlich — aus Tiefe." Gewiss aber
hat es ein moderner Odysseus schwerer; man will ihn nicht an
einer Narbe, sondern an den Narben der Seele erkennen. In
einer Welt von Skeptikern, die alle halb und ganz an Penelope
zweifeln, reckt sich dieser unfreiwillige Skeptiker Odysseus ins
Riesengroße, schlägt aus dem Zweifel den positiven Funken der
rächenden ingrimmigen Kraft, Er kann die Sehne des Bogens
straffen, aber nicht eher, als bis die Hybris der Freier ihm diese
gewaltige Anstrengung erpresst; denn Heldentum ist kein freier
Willensakt, nur Notwehr, Besitz des stärkeren Stachels.
Keine Frage, Hauptmann hat den Helden in der Schwäche
lieber; der Glaube an die robusten Heroen fehlt ihm und uns.
Die Schwachen sind die eigentlichen Moralisten der Leistung.
Die Kraft des bogenspannenden Odysseus wirkt bei Hauptmann
mehr als symbolische Andeutung. Der Freiermord auf der Bühne
kann als Bleisoldatenmord erscheinen neben der großartigen
Schilderung Homers. Hier dichtet das Epos so definitiv und so
stark, dass das Drama nicht einmal Wirkungen weiterschwingen kann.
Hauptmanns dramatische Dichtung gibt die seelischen Korre-
late zu den äußeren Erlebnissen Odysseus' (bei Homer). Man hat
mit Recht, aber auch ohne Aufwand von Scharfsinn bemerken
können, diesem Drama rolle der Vorhang zu früh herab; denn
die Frage: „Was wird die Mutter sagen, Penelope?" deutet ja den
Verzicht einer Lösung von Hauptmanns Seite an. Warum? weil
er seinen Odysseus weit weg von homerischen Lösungen führen
müsste. Sage man dreist, das moderne Drama ist viel zu diplo-
matisch, „Schlüsse zu ziehen", das moderne Drama kennt keine
definitiven Abschlüsse, will das Leben nicht in einen Rahmen
hineinlügen.
Wilamowitz hat den Schluss einer älteren Odyssee sich also
konstruiert:
630
Aber die Dienerin führte den König und seine Gemahlin
Zu dem bereiteten Lager und trug die leuchtende Fackel;
Als sie die Kammer erreicht, enteilte sie. Jene bestiegen
Freudig ihr altes Lager, der keuschen Liebe geheiligt!
„Es heißt ja ganz und gar das Wesentliche in der Sage ver-
kennen, wenn man den Odysseus leichter Hand durch sein bloßes
Erscheinen, wie den Onkel aus Amerika im letzten Akt einer
schlechten Komödie, der Schwierigkeiten Herr werden lässt, und
wieder wie in der Komödie den Konflikt in eitel Zufriedenheit
auflöst." Hauptmann ist gewiss nicht durch Wilamowitz zur
selben Einsicht gekommen. Er hätte sie von Ibsen, ja von Hebbel
her, der sich freilich persönlich auf die Seite Penelopes gestellt
hätte, beziehen können. Wilamowitz hat den selben Argwohn
gegen Penelope, den Pausanias und Hauptmann pflegen: Penelope
lässt sich von Freiern Geschenke erweisen: „die treue Witwe ist
natürlich treu. Das steht ja fest. Aber, aber, sie beträgt sich,
wie sich Weiber immer betragen ; sie weiß ganz gut, wie hübsch
sie ist, sie weiß, wie man die Männer kirre macht und weiß die
günstigen Chancen, dass so viele Liebhaber um sie schmachten,
wohl auszunützen." Dieser extreme Zweifel verlautet auch auf
den Lippen Hauptmannscher Gestalten. Aber, was Pflicht des
Dichters ist, er lässt diesen Zweifel nur als Einzelmeinung in
allen Nuancen gelten; schon der Gerechtigkeit wegen. Penelope
kann sich ja nicht selbst verteidigen, weil sie im Drama nicht
erscheint. Persönlich und leiblich! in Wirklichkeit begegnet man
ihrem Bild auf Schritt und Tritt im Drama. Hauptmann hat die
Abwesende stärker charakterisiert als manche der im Drama
Anwesenden. Wenn zudem ein spannender Konflikt, der freilich
von uns auszudenken ist, entsteht: Wie werden diese zwei ver-
bundenen Menschen zu einander stehen, das jung gebliebene Weib
zu dem von der Rute des Schicksals gepeitschten alternden Manne?
Dieser Odysseus gehört in das Reich der „Einsamen Menschen";
denn er wird allein stehen. Seine Erlebnisse isolieren ihn von
allen. Aber er wird die Einsamkeit mit feierlicher Entschlossen-
heit tragen, alles Erlittene und Erstrittene aus der Distanz ver-
klären.
631
Der Inhalt oder Gehalt hat in diesem Drama Hauptmanns
Siege über die Form erstritten. Herr Hofmiller in München, der
eine geistreiche, bald stachlige, bald hymnische, an Irrfahrten
erlebnisreiche Feder führt, wird unschwer aus „dem Bogen des
Odysseus" eine Blütenlese trivialer Blankverse pflücken können.
Er möge gleichzeitig aus Fr. Hebbels Werken die Banalitäten auf
seine Feder spießen, damit wir andern lernen, wie gewöhnlich
große Talente sein dürfen, um ungewöhnliche Wirkungen zu er-
zielen. Nicht verhehlt sei, dass die Glocken, die aus der Glocken-
speise der Verssprache Hauptmanns gegossen wurden, herbe
Klänge geben. Ist das Leben etwa immer ein reiner Glocken-
klang und Harfenschlag?
Leicht wäre zu helfen: Alessandro Moissi würde mit sei-
nem Organe diese Verse hätscheln! Als ob dem hustenden,
mit brüchiger Stimme behafteten Odysseus damit geholfen wäre?
Nicht einmal mit Joseph Kainz. — So muss Hauptmanns Odys-
seus warten auf einen, der nicht „Rollen", sondern nur Menschen
spielen kann. Auf Albert Bassermann!
Nichts spricht für die innere, in so viele Schwächen verhüllte
Größe der Werke Hauptmanns, dass sie warten können — und
aus der Entfernung fast immer besser erscheinen als am Pre-
mierenabend: Der Bogen des Odysseus hat der wirklichen Bühne
gegenüber versagt. Die Berliner geben für ein kritisches Wort-
spiel ein Stück preis, das hat der muntere Jacobsohn bewiesen,
als er von „der Seekrankheit und der Seelenkrankheit des Odys-
seus" floskelte. Allein dies Werk Hauptmanns hat sehr viel mit
der Seele zu tun, und Berlin als Ganzes, dies Berlin getünchter
Frauen, ausgehöhlter Sklaven, das die Schicksalswürfel über das
moderne deutsche Drama wirft, sollte hier nicht das letzte Wort
sprechen; denn was hat Berlin mit Gerhart Hauptmann, einem
schlechten Theatraliker und einem guten Seelentaucher zu schaf-
fen? Was die Seele mit „der Insel und dem Paradies der See-
lenlosen", wie der große Durchschauer Walter Rathenau —
Berlin nennen musste !
ZÜRICH E. KORRODI
632
D
D
D
O
THEATER UND KONZERT
Q D
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. In John
Galsworthys Drama Justiz, das bei
uns jüngst seine Aufführung erlebte,
ohne einen durchschlagenden Erfolg
zu erzielen, zitiert der junge Rechts-
anwalt Walter How, der im Gegensatz
Sieht zu seinem streng juristisch aus-
gerichteten Vater (und Compagnon),
bitter — so heißts in der Bühnen-
anweisung — den ersten Vers aus
Porzias wundersamer Preisrede auf
die Gnade: the quality of mercy is
not strain'd, „die Art der Gnade weiß
von keinem Zwang". Wie ein Motto
steht das Wort da. Für den armen
Schreiber William Falder, der eine
Fälschung begangen hat, um einer
geliebten, bitter unglücklich verhei-
rateten Frau die Befreiung aus ihrem
Ehejoch und ihr und sich das Glück
der Vereinigung in fernem Lande zu
verschaffen, würde Gnade statt Justiz
nicht eine Prämie auf seine wider-
rechtliche Tat, sondern die Möglich-
keit eines besseren Lebens an der
Seite eines guten Weibes bedeuten:
was das Gesetz verlieren würde,
würde die Gesellschaft gewinnen.
Statt dessen wird dem Gesetz seine
Genugtuung, und die Gesellschaft
wird eines trotz seinem Vergehen
innerlich tüchtigen Gliedes beraubt,
und ein Menschenleben wird in Stücke
geschlagen. Fiat justia, pereat mun-
diis! Vielleicht hätte zwar auch nach
dem Strafvollzug Falder wieder ein
brauchbarer Mensch werden können.
Galsworthy zieht diese Eventualität
mit in den Kreis seines Dramas. Dazu
wären aber zwei Dinge nötig gewe-
sen: man hätte der physisch wenig
widerstandsfähigen , neurasthenisch
belasteten Natur Falders im Zuchthaus
Rechnung tragen und ihm die geist-
und seelentötende Einzelhaft erspa-
ren müssen. Zum andern: man
müsste dafür sorgen, dass die Neu-
eingliederung des Entlassenen in den
sozialen Organismus möglichst rei-
bungslos bewerkstelligt würde. Nach
beiden Seiten tritt das Gegenteil für
Falder ein. Ein Spezialunglück kommt
dazu, das aber auch wieder unheim-
lich eng mit dem allgemeinen Tat-
bestand zusammenhängt: durch Fal-
ders Einkerkerung ist die von ihm
geliebte Frau ihres sittlichen Haltes
beraubt worden und auf einen Ab-
weg gezwungen worden, der ihr ein-
zig die Möglichkeit gewährt, mit ihren
Kindern (nachdem sie von ihrem
scheußlichen Ehemann endgültig fort-
gegangen ist) das Leben zu fristen.
So zerstört die an Falder vollzogene
Justiz, das Versagen der Gnade, auch
ihr ethisches Leben. Dass Falder
schließlich durch Selbstmord aus
dem Dasein sich davonmacht, ist
letzten Grundes belanglos. Sein
höchstes Glück, die auf den Glauben
an jene Frau gegründete Liebe ist
doch endgültig dahin, und damit hat
das Leben jeden Wert für ihn ver-
loren.
Was steckt in diesem Drama?
Edelste Tendenz war sein Vater. Es
sagt nicht: die Justiz als solche ist
schlecht; aber es sagt: mit dem
starren Walten der Justiz ist nicht
alles getan. The quality of mercy —
das Wesen der Gnade — blesseth
him that gives and him that takes,
um nochmals Shakespeare zu zitie-
ren. Sie wäre ein Segen für den
armen Falder geworden, die Justiz
ward sein Fluch.
Wir bekommen ein Widerstreben
gegen solche Tendenzstücke, mag
auch, wie bei Galsworthy, ein Dichter
die Thesen zu lebendigen Gestalten
und ergreifendem Geschehen ver-
dichten, nie ganz los. Trotzdem
wird das dramatische, das dichteri-
sche Schaffen überhaupt niemals
633
#0*0
THEATER UND KONZERT
gänzlich auf diese lehrhafte, mah-
nende, strafende Funktion verzichten.
Und unter Umständen können heil-
samste Antriebe von solchen Werken
ausgehen, die unter der Flagge des
l'art pour la vie stehen. Nur auf
die Kunst darf nicht verzichtet wer-
den (wie dies etwa in den braven
Avaries von Brieux.der Fall ist, die
man in deutschen Landen neuestens
— auch in Zürich war's der Fall —
in den Dienst des Kampfes gegen die
furchtbaren Folgen unbedacht er-
worbener und nachlässig behandelter
Geschlechtskrankheiten gestellt hat).
Dass aber in Galsworthy eine dich-
terische Kraft steckt, daran ist nicht
zu zweifeln. Und sein starkes sozi-
ales Empfinden, seine männliche Ent-
rüstung über so viele Mißstände in
unserm öffentlichen Leben sichert
ihm obendrein unsere menschliche
Hochachtung.
ich kenne noch ein anderes Stück
des Engländers (das gleichfalls Meyer-
feld vorzüglich übersetzt hat): Der
Zigarettenkasten. Bitter nennt er es
eine Komödie. Da wird auch dem
formalen Recht Genüge getan ;
und doch ist dieses Recht das schrei-
endste Unrecht ; denn es ist Klassen-
justiz, und um eines lumpigen Bour-
geoissohnes willen wird eine arme
Frau um ihren dürftigen Lebens-
unterhalt gebracht; und der Entwen-
der des Zigarettenkastens ist um kein
Haar schlechter als der Parlamen-
tariersohn, der einer Dirne das Porte-
monnaie entwendet hat, und der
straflos ausgeht, weil er eben der
Sohn eines Unterhausmitgliedes ist.
Hätte ich, vom Standpunkt der Büh-
nenwirksamkeit aus, zu wählen, ich
würde diese Komödie vom Zigaret-
tenkasten jenem Drama Justiz vor-
gezogen haben. h. trog
o
D
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NEUE BÜCHER
D
a
D
a
ALFRED HUGGENBERGER.
Die Stille der Felder. Neue Gedichte.
Verlag L. Staackmann, Leipzig 1913.
Man ist versucht, bei der Wertung
dieser Gedichte die stoffliche Be-
sonderheit der Entstehung und die
bei dieser Entstehung überwundenen
Schwierigkeiten in die Wage zu legen.
Auch der geschulte Leser kann sich
da nicht leicht ganz frei machen.
Authentische Darstellung bäuerlicher
Geschicke, Gedanken und Empfin-
dungen, Hesse- und Scheffeische
Töne, hinterm Pfluge gefunden, ein
Sensenschwinger, der seine eigene
Gestalt dichterisch symbolisiert —
das sind seltene Verhältnisse. Natür-
lich soll man aber die Bedeutung der
Gedichte Huggenbergers von ihnen
loslösen. Man kann es tun ; es blei-
ben beträchtliche Gaben der Cha-
rakteristik, Lebensinnigkeit, Humor,
ungezwungene Symbolik, Formtalent
und lebhafte Naturempfindung.
Die Gedichte betrachten die Stille
der Felder vom Standpunkte des
Bauern aus So ist diese nicht, wie
in der Lyrik sonst meistens, Gegen-
stand der Sehnsucht, sie antwortet
keinem Erlösungsbedürfnis, sie be-
deutet nicht von Mühe und Sorge
abgelöste reine Wonne. Jede Distanz
zwischen dieser Feldeinsamkeit samt
den zu ihr gehörenden ländlichen
Gestalten und Geschicken und dem
Dichter fehlt. Gleichwohl zeigt sie
sich als eine Bedingung und Förde-
rung wünschenswertesten Menschen-
glückes. Das macht den ethischen
Wert des Büchleins aus. Ich teile
die Gedichte in drei Gruppen : die
Lyrik in der ersten Gruppe bekundet
634
KMO
NEUE BUCH ER
K)KS
ihren Ursprung aus der Stille der
Stille der Felder durch Liebe zur
Mediation, durch gelassene, kluge,
aufmerksame, warm beschauliche,
selbständig erfühlte Lebensauffas-
sung, durch bewusst kräftige Resig-
nation, andächtige Bescheidung, inni-
ges Naturgefühl. Den Bauer im Dichter
verrät sie nicht, weder mit der Form,
noch dem Inhalt und Gehalt der
Lieder. Sie zeugt von einer schönen
und sehr harmonischen allgemein
menschlichen Geistes- und Gemüts-
bildung. Sie verfügt über melodisch
fließende Formen. Stromfahrt mit
den waldduftigen Landschaftsbildern
könnte für gute süddeutsche Poesie
genommen werden. Die herzhaft
volkstümliche kleine Ballade gelingt
Huggenberger, desgleichen und ganz
besonders das Scherzlied, das er mit
mittelalterlichen Nachklängen aus
Volkswitz und Wanderpoesie webt.
In der zweiten Gruppe stellt Hug-
genberger Bauern dar, ohne sich
selbst innerhalb der Handlung als
ihren Genossen einzuführen, von
außen scheinbar, doch innerlich be-
teiligt und fest an sie geknüpft, mit
der Schärfe und Liebe des verwandt-
schaftlichen Blickes. Anschaulich,
einprägsam stehen die Gestalten an
den Felderbreiten; sie bringen die
Schwere des Bauernloses zum Aus-
druck : die dumpf gefühlte Gebunden-
heit der Seele, den Druck der Sorge
und des Arbeitsjoches. Die Psycho-
logie des Bauern ist meisterhaft.
Wo der Dichter in Dorfgenossen
die drei Typen des Habsüchtigen,
des Ehrsüchtigen und des wohlge-
launten Gutherzigen vorführt, sicher
erfasst, fest umrissen, mit etwas
Humor geschaut, zeigt sich die Eigen-
art seines Stils. Wie Bergbach und
Föhnstoß fehlt die Leidenschaft in
dem Büchlein. Doch fehlt sie nicht
völlig. Der Dichter zeigt sie, wo sie
ihren Mann zäh beherrscht : „Kein
Äckerlein ist so mager und klein,
Sein Auge hungert: Wärst du mein!"
Der wanderlustige Jungbauer kann
nicht in die Ferne ziehen: „Seinen
Acker lässt keiner dem andern". Be-
weglich und stilrein klingt der Aus-
druck bäuerlicher Sehnsucht, sie ruft
lieblich durchblühten, schlicht und
rein gezeichneten Heimatbildchen.
(„Dies Höflein müsst mein eigen
sein I")
In der dritten Gruppe spricht der
Dichter, die Hand am Pflug oder die
Sense geschultert. Diese Gruppe
birgt das gemütliche Schwergewicht,
sie zeigt die eigentliche Besonderheit
des Dichters, auch in seinem Ver-
hältnis zur Natur, in der Art und
im Ausdruck der Naturstimmungen ;
sie enthält die schönsten und origi-
nellsten Motive. Unter diesen Mo-
tiven ist auch das Huggenberger ganz
besonders zugehörige, von seinem
Gemüte durchgearbeitete, vom Gang
des Bauern über das Feld, das ihm
nicht mehr gehört. Originell und
prächtig ausgeführt ist, wie der
Mähder das Werk seiner Sense zu-
erst als Dichter beklagt, dann als
Bauer gut heißt und schließlich im
Sinne beider innig poetisch auslegt.
Das Bauernschicksal lichtet sich in
dieser Abteilung. Ein innerlich Be-
freiter, für seine idealen Werte Auf-
geschlossener erlebt es. Die Treue
an der Scholle, die Treue an den
Menschen, die sie vordem bebaut
haben, wird zum bewussten Glück.
Der Begleitgesang der Grillen tönt
der Arbeit. „Ich darf nicht stehn
und lauschen. Die Sorge wacht auf
Schritt und Tritt", sagt auch dieser
Bauer, „Aber die Augen trinken.
Das liebe Läuten wandelt mit." Dank-
bar gräbt er sein Bauernerbe, die
„niebefreiten Lieder" der Voreltern
aus der Furche. Erpreist das Glück
635
MWO
NEUE BUCHER
*«fo
unterm ländlichen Dache, die Land-
schaft im Frühtau, den Blumenflor
des Gärtchens, die dörfliche Sonn-
tagsstille, den altvertrauten Feldweg.
Die lyrische Zartheit dieser Gedichte
ist fühlbar echt, doch verschuldet sie
es noch zuweilen, dass Stoff und
Ausdrucksform sich nicht völlig
decken. Es verirrt sich noch diese
oder jene empfindsame Zeile in die
kräftigen und stilgerechten Kund-
gebungen volkstümlicher Seele. Mär-
chenton ist eine Stärke des Dichters;
er fabuliert sinnreich, schalkhaft und
mit trefflicher Wortwahl. Seine Tier-
geschichten sind originell und an-
schaulich. Die innig durchfühlten
Geschicke der Bäume werden ihm zu
eindrücklichen Gleichnissen mensch-
lichen Lebens. anna fierz
*
WILHELM G. HERTZ. Ein Wan-
derer in der Wüste. Gesänge. Del-
phin-Verlag, München.
Das albumartig geheftete Bänd-
chen ist recht problematisch , wie
alle Albums. In den etwa zwei Dut-
zend Gedichten konstatiert man leicht
eine merkwürdige Mischung von Ein-
flüssen. Bibel. Petrarca. Von den Zeit-
genossen etwa Wilhelm von Scholz,
Ernst Lissauer. In Formen gegos-
senes, nicht geformtes Gefühl. Mei-
stens Sonette, dann Hymnen und
„Psalmen".
Lissauers hymnische Gedichte
sind überbordende Gedrängtheit. Da-
von fängt Hertz einen Vers auf wie:
Priester am Stein ich, besprechend das
ewige Alte :
Neues, Schale brich! Schwingen enfalte!
Der bekannte lange Prosarhythmus
aber:
Doch ein Fels ist mein Gott; seine Wände
hallen wieder vom Echo meines Rufes.
Ein Wasser ist mein Gott, darin ich mein
Ebenbild schaue
setzt ein ganz anderes Organ voraus.
Man muss vermuten, dass keines der
Organe Hertz angehört. Deswegen
sind seine Bemühungen nutzlose
Kreisgänge. Ein zweifelhaftes Bild-
material
Wenn wilde Flut des Leibes Tau zerreißt.
Hält Liebesanker fest im Sturm, so
schwör' ich
wird Stammelnd vorgebracht:
Sturm heult, Zeit nagt, schäumende
Woge frisst
Am starren Felsen: Hand des Weisen
schreibt.
Dieser unglückliche Knappheitsrappel
wirkt komisch:
Sturm reißt Anker, jagt Schiff wie Hund
das Wild;
Blitz schlägt Baum, Freiheit bricht Kette
der Not
oder
Herz bebend schlägt; eilender Atem keucht;
Läufer zum Ziele ich, vom Siege heiß.
Ob dem ehrlichen Ringen der
Preis beschieden, wird vielleicht die
nächste Sammlung entscheiden. Der-
weilen ist das beste, man betrachte
diese Wüstenwanderungen als unge-
schehen. JOSEF HALPERIN
D D
D D
BILDENDE KUNST
D a
D O
Im ZÜRCHER KUNSTHAUS ist
bis zum 4. März Hodlers großes
Wandbild, der Reformationsschwur
für das Rathaus Hannover, ausge-
stellt in jener etwas kleineren Fas-
sung, die unter dem Titel „Unanimite"
im Pariser Herbstsalon Zustimmung
und Widerspruch erregte. Doch ist
auch dieses Stück, an dem der Mei-
ster gleichzeitig mit dem Original
arbeitete, von gewaltigem Ausmaß,
das aber durch die innere Größe des
Stils und die konzentrierte Wucht
des Aufbaus vollkommen gerecht-
fertigt ist. Wie in einem Brennpunkt
sammelt sich nichtnur der Rhythmus
636
»o*o
BILDENDE KUNST
«>(o
aller Linien, sondern die seelische
Hochspannung aller Schwörenden in
der Figur des Sprechers, dem Hod-
ler den Ausdruck einer der bilden-
den Kunst bis heute fremden An-
strengung zur Sammlung geistiger
Energie gegeben hat ; es ist die Ge-
bärde eines Gebets, das die Kraft
hat, Götter zu zwingen.
Doppeltes ist Hodler in diesem
Bild gelungen: die Schaffung eines
riesigen, in sich selbst vollkomme-
nen Ornaments aus menschlichen
Leibern und ein Höchstmaß seeli-
schen Ausdrucks, der schon in jeder
einzelnen Gestalt steckt, durch die
Wirkung der Masse, die zum Orna-
ment geworden ist, aber eine solche
Macht über uns gewinnt, wie sie
sonst nur der Musik eigen ist. Das
Prinzip ist das gleiche wie im Tag
oder in der heiligen Stunde; neu ist
nur, trotz der Marignanofresken, das
heroische Thema und seine heroi-
sche Orchestrierung.
Neben solchem Donnerhall hört
sich der kindlich reine Ernst Krei-
dolf wie ein leis Geflüster an. Und
doch ist auch er ein reicher Schöp-
fer. Jeder kennt bei uns seine Kin-
derbücher mit ihren menschgewor-
denen Blumen und Käfern, mit ihrem
süßen Plauderton, der uns in der
Seele schmeichelt, soweit wir Kinder
geblieben sind. Viel mehr als diese
guten Reproduktionen geben uns
zwar die Originale nicht. Wohl sind
sie brave Arbeiten, lassen aber den
Reiz einer besonderen Handschrift,
einer Technik, die an sich Kunst-
werte besitzt, ganz vermissen. Wo
Kreidolf aus seinem Märchenland
heraustritt, da bleibt er nur dann
ein besonderer, wo er auf der
Schwelle stehen bleibt und nach der
Heimat seiner Phantasie zurückblickt :
in den Kinderbildnissen. Worin er
sich wie in allem, was er tut, auf
seine Art ganz als treuer Schüler
Albert Weltis erweist.
Ein eigenartiger Landschafter ist
der Karlsruher Rudolf Hellwag; ihm
hat es besonders der Park im Stile
Lenötre's angetan. Nicht das Werk
der Natur, sondern das Werk des
Menschen mit der bewussten Glie-
derung der Massen, mit dem Rhyth-
mus, dessen Strenge wieder durch
die frei wachsende Vegetation ge-
mildert ist, gibt ihm den Stoff zu
großen, delikaten, vornehmen Bildern.
Die stille Großartigkeit dieser Kunst
wird durch den bräunlichen Grund-
ton gehoben, den Hellwag wohl von
Ludwig Dill übernommen hat. Dass
er aber diese bequeme Brücke zu
guter farbiger Haltung nicht benö-
tigt, zeigt er in einigen kleinen, im
besten Sinne impressionistischen
Strandbildern in den hellsten, zar-
testen Tönen, mit einer raschen
Wiedergabe der Bewegung, wie man
ihr am ehesten bei Max Lieber-
mann begegnet.
Aus dem Münchener Franz Hoch
mache ich mir nicht viel. Am Kön-
nen fehlts ja nicht, aber an der Emp-
findung. Hier wird das Erbe der
Impressionisten verschleudert, eil-
fertig und gleichgültig. Und auch der
Luzerner Franz Elmiger liefert Dut-
zendware; dass er herausgebracht
hat, wie man einen Schimmel duf-
tig und durchsichtig darstellt, ist
noch kein Grund, auf den Lorbeeren
auszuruhen.
»
Die MODERNE GALLERIE TAN-
NER überrascht mit einer Ent-
deckung: mit Alexander Wolf, der
lange Jahre vergessen in einem
Schaffhauser Dörflein malte. Ein
gutes Stück aus seiner ersten Zeit:
eine verhutzelte Betschwester mit
Augenaufschlag, eindrucksvoll, un-
vergesslich, man darf von Leibl re-
637
KWO
BILDEND r KUNST
den. Nachher Versuche verschieden-
ster Richtung, die durchblicken las-
sen, dass Wolf sich wenistens Aus-
stellungen ansah. Aber ein merk-
würdiges Versagen in vielem, beson-
ders vor feineren Köpfen.
Der KUNSTSALON WOLFSBERG
hat sich neu eingerichtet: Wände in
schwarzem Samt und in Gobelin-
stoffen. Wie darauf die Bilder von
Verhoeven, von Asselin, von Blanchet
stehen, ist wirklich sehenswert, a. b.
a
D
□
TAGEBUCH
D
D
□
MONISMUS und CHRISTENTUM.
Der Zudrang zu dem vom Monisten-
bund Zürich veranstalteten Religions-
gespräch über Monismus und Chri-
stentum war ungeheuer. Dr. Mauren-
brecher entwarf ein klares Bild vom
Ideal, dem der in seiner Organisation
noch junge Monismus zustrebt. Er
zeigte, dass es schon längst Monisten
gab, ehe das Wort geprägt war, wie
es auch schon Jahrhunderte Christen
gab, ehe sich die Bekenner des neuen
Glaubens den Namen beilegten. In
den vorliegenden Thesen hatte Mau-
renbrecher eine genaue Formulierung
des Monismus versucht und mit be-
wusster Schärfe den Gegensatz zum
Christentum herausgearbeitet :
„Monismus ist nicht ein neues
Dogma oder eine neue fertige Welt-
erklärung. Vielmehr ist Monismus,
genau wie Protestantismus oder
Christentum, ein geschichtlicher und
kein philosophischer Begriff. Es ist
die Bezeichnung dafür, dass eine
neue Lebensstimmung oder Willens-
richtung im Entstehen begriffen ist,
die dem Christentum gegenüber etwas
Neues darstellt, eine neue Kultur-
periode der Menschheit.
„Der Unterschied der monistischen
von der christlichen Lebensstim-
mung liegt in diesen drei Haupt-
stücken :
A. Der Monismus fasst den Welt-
grund nicht mehr als persönlichen
Willen, als Liebe, Vorsehung, Vater
oder dergleichen, sondern als un-
persönliches Geschehen, als Gestal-
tung, Entfaltung, Wachstum, For-
mung, Reifung oder dergleichen,
jedenfalls aber als unbewusstes Ge-
schehen.
B. Der Monismus fasst das Welt-
ziel nicht als überweltliche Erlösung,
, Reich Gottes' oder ,Jenseits', son-
dern als Ordnung, Gestaltung, Wachs-
tum im innerweltlichen Prozess selbst,
aus den eigenen Kräften dieses Ge-
schehens selbst herausgeboren.
,Geist' ist für den Monismus nicht
Gegensatz zur Natur sondern Pro-
dukt und Teilkraft der Natur.
C. der Monismus sieht das indi-
viduelle Ziel des einzelnen Menschen
darum nicht mehr in der Seligkeit,
jenseitigen Vollendung und ewigen
Dauer seiner Person, sondern darin,
dass er Kraft ist im Gesamtgesche-
hen, Teilkraft im Weltprozess, deren
Wirkung bleibt, auch wenn das Indi-
viduum selber erlischt."
Das Christentum erfuhr durch
Maurenbrecher keine von christlicher
Nächstenliebe getragene Behandlung.
Er nannte es wiederholt „klein, feige,
eng, weichlich und unehrlich". Er warf
ihm vor, dass es seine ganze Lebens-
auffassung aus Furcht vor der Wirk-
lichkeit des Lebens auf eine Illusion
aufbaue und blind an den Abgründen
des Seins vorüberwandle, in der Hof-
nung, Gott werde schon für das
Rechte sorgen. Leider waren einige
Hiebe des Redners auch gar zu wuch-
tig und plump hingehauen und ver-
fehlten bei allen die beabsichtigte
Wirkung.
638
TAGEBUCH
*ON»
Während der Vortrag Mauren-
brechers in der temperamentvollen
Art eines Mannes gesprochen wurde,
der mit glühender Begeisterung sein
ganzes Ich für eine neue Idee ein-
setzt und in trotzigem Mute gegen
alte Festungen Sturm läuft, war die
Verteidigungsrede von Prof. A.Meyer
vom Gefühl einer auf Jahrhunderte
gegründeten Sicherheit getragen, die
mit lässiger Gebärde, mit Ironie und
lächelnder Erhabenheit den Stürmer
anrennen sieht und ruhig wartet, bis
er sich den Kopf an den Mauern
blutig gerannt hat, um ihn hernach
mitleidig in seine Festung aufzuneh-
men und ihn zu pflegen. Er brachte
die Lacher auf seine Seite, indem er
lächelnd die Wunden vorwies, die
der Gegner dem Christentum durch
allzu derbe Streiche beigefügt hatte
und ironisch um das Mitleid der
Hörer warb. Seine Rede wurde
wiederholt durch laute Beifallskund-
gebungen unterbrochen.
Professor A. Meyer umschrieb
in seinen Antithesen den Charakter
des Christentums nicht weniger
scharf als Maurenbrecher den des
Monismus :
„Das Wesen des Christentums be-
steht nicht in der Weltanschauung
und der Vorstellungsart, darin es
entstanden ist und sich entwickelt,
noch in einer Reihe von Lehren und
sittlichen Vorschriften, sondern in
dem ehrfürchtigen und freudigen
Glauben Jesu von Nazareth, dass
die Macht über alle Dinge ewige hei-
lige Liebe ist, die auch uns zur Liebe,
zur Gemeinschaft mit ihr und zum
ewigen vollkommenen Leben beru-
fen hat.
„Daher sprechen wir Gott als dem
Quell unseres geistigen, persönlichen
und sittlichen Lebens, als der Macht,
die das Gute zum Siege und die
Welt zur Vollendung führt, Persön-
lichkeit, Liebe, Wille und zielsetz-
ende Weisheit zu. Ohne solchen
Glauben entbehrt alles sinnvolle und
sittliche Streben des sicheren Hal-
tes und der Aussicht auf Vollendung
unserer Persönlichkeit und Ewigkeit,
weil wir nicht im Kleinen, Unvoll-
kommenen und Hässlichen befangen
bleiben wollen. Ohne die Anerken-
nung von Sünde und Gnade verfehlt
man den Ernst der sittlichen Ver-
antwortung, den wirklichen Tatbe-
stand und das tiefste religiöse Er-
lebnis.
„Die moderne Weltanschauung, in-
sofern sie auf besserer und klarer
Weltforschung beruht, die moderne
Kultur, soweit sie den Adel der
menschlichen Persönlichkeit befreit
und hebt, jeden technischen, sozia-
len und geistigen Fortschritt muss
das Christentum begrüßen als einen
bessern Einblick in das Wirken Got-
tes und einen Fortschritt zu seinem
Ziele. Aber das Christentum be-
kämpft jede Behauptung, die das
unergründliche Geheimnis der Welt
und den wahren Wert des Lebens
verkennt, jede Kultur, die den Geist
zerstreut, niederdrückt und verheert,
und den engen Sinn, der die leben-
dige Beziehung zum Weltgrund und
die Aussicht auf Ewigkeit abschnei-
den will."
So anregend der Abend auch
war, — er dauerte bis gegen ein
Uhr — so ließ er doch unbefrie-
digt. Es ist stets unerfreulich, wenn
Vertreter Verschiedener Geistesrich-
tungen sich öffentlich schroff ent-
gegentreten und ihre Gegensätze
scharf herausarbeiten. Es wirkt im-
mer wie geistiger Hochmut, wenn
dann jeder die ganze Welt überzeu-
gen will, dass er und nur er allein
Recht habe. Wäre es nicht besser,
in solchen Diskussionen über die
im Wesen der Sache begründeten
639
fON>
TAGEBUCH
Gegensätze wegzusehen und, an-
statt sich zu bekämpfen, die Fäden
herauszuwickeln, die an beiden Web-
stühlen verwoben werden können?
Letzten Endes sind Monismus
und Christentum trotz aller theore-
tischen Widersprüche doch nicht so
wesensfremd. Streben nicht beide
Gemeinschaften nach dem gleichen
Ziele, nach einer Höherentwicklung
des Einzelnen und einer Veredlung
der Menschheit? Ob der Monist sich
mit irdischer Glückseligkeit begnügt,
ob der Christ nach den himmlischen
Gefilden ausschaut, das ändert nichts
daran, dass sie an der Schwelle des
Todes zusammentreffen und dahin
gehen, wohin ein „Gott" sie führt.
Bringt es diesem hohen Ziele näher,
wenn der Monist dem Christentum
vorwirft, dass es feige und unehr-
lich sei, oder wenn der Verteidiger
des Christentums überlegen lächelnd
dem kaum geborenen Monismus ent-
gegenruft: Wir haben Männer in
unserem Lager, Christus, Paulus,
Augustinus, Luther, Calvin . . .
Was hast du geleistet!? Du stellst
prahlerische Wechsel auf die Zu-
kunft aus! — Haben wohl die So-
phisten in Athen dem in heiligem Ei-
fer rasenden Paulus nicht hohn-
lächelnd das selbe zugerufen? — Re-
ligionen werden nicht gestiftet. Re-
ligionen wachsen und zwar wächst
jede aus der andern heraus und
wenn sie lebenskräftig ist, wächst
sie über sie hinaus. So wuchs das
Christentum über das Judentum und
das Heidentum hinaus und so kann
der Monismus, wenn er lebenskräftig
ist, aus dem Christentum heraus-
wachsend über das Christentum
herauswachsen und seine Mission
erfüllen. corray
EINE KURZE RICHTIGSTEL-
LUNG sei zu dem Artikel Die Wand-
malereien der Universität im Heft
vom I.Februar gestattet: von den
erstprämierten Entwürfen Huber und
Bodmer habe ich den von Hermann
Huber in meiner Besprechung —
in der Tagespresse — nicht abge-
wiesen. Es ist in Hubers Kunst et-
was, das sich wesenhaft von Hodlers
und Amiets Kunst abhebt und
durchaus sein Eigentum ist. Des-
halb empfinde ich Sympathie für seine
Kunst, schon seit geraumer Zeit.
Deshalb empfand ich auch seine
Prämierung als völlig berechtigt. Sehr
unrecht aber will es mir vorkommen,
wenn die Zürcher Regierung, wie es
scheint, die Lösung des Konfliktes in
merkwürdigen Kompromissen sucht.
H. TROG
«'
EIN PREISAUSSCHREIBEN, das
zwischen dem Schrifttum und Handel
und Gewerbe eine neue einwandfreie
Brücke schlagen will, erlässt das
Seidenhaus Adolf Grieder & Cie. in
Zürich. In höchstens 50 Druckzeilen
soll „Das Beste über die Seide" ge-
sagt werden, in Poesie oder Prosa.
Jeder kann sich in deutscher Sprache
bewerben. Die Preise stufen sich
in 500, 300, 150 und 50 Franken.
Der letzte Einsendungstermin ist der
3L März 1914. Preisrichter sind die
Herren: Paul Block, „Berliner Tage-
blatt", Berlin ; Fritz Martin, „Neue Zür-
cher Zeitung", Zürich; Fritz Müller,
Schriftsteller, Cannero ; Ernst Zahn,
Schriftsteller, Göschenen; Frau Ri-
carda Huch, Schriftstellerin, München.
Nähere Bedingungen können kosten-
los bezogen werden von Adolf
Grieder & Cie., Zürich (doppeltes
Briefporto nach der Schweiz).
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
640
GROSS -STADT
Von ROBERT FAESI
Über die Mauern weg und Giebel und Dächer
Seh ich aus meinem engen Qroßstadtfenster
Den Schatten eines Turmes luftig durchbrochen
Geruhig sich in den goldenen Himmel heben.
Da heiß ich meine Seele hinüberfliegen ;
Vom Mauerkranze soll sie nach allen Seiten
Mit freiem Blick und unersättlicher Freude
Über das Meer der Häuser und Wälder schweifen.
O die wir in engen Kammern niedrig wohnen,
Wir zielen mit unserer Sehnsucht nach den Türmen.
Wohl, wessen Seele Flügel hat zu fliegen!
Wohl, wem ein Turm noch ragt am Horizont!
G D D
641
ZUR LAGE
(Schluss)
OSTALPENBAHN UND EISENBAHNSCHULD
Die Ostalpenbahnfrage machte seit letztem Sommer keine
wesentlichen Fortschritte. Im Herbst fanden verschiedene Volks-
versammlungen zugunsten der Greinabahn statt, so in Truns und
Ilanz, die von über tausend Personen besucht waren, wodurch die
Behauptung, als sei der Kanton Graubünden in der Ostalpenbahn-
frage einig, Lügen gestraft wurde. In beiden Versammlungen
wurde der Bau der Greinabahn befürwortet und die Freude darüber
ausgesprochen, „dass die politischen und ökonomischen Interessen
des Vaterlandes mit den vitalsten Interessen der Surselva zu-
sammenfallen".
In Altstätten fand eine große Gegendemonstration zugunsten
einer Splügenkonzession statt. Die Verhandlungen trieben dort
einige sonderbare Blüten. Einer der Wortführer bemerkte unter
anderm :
Freilich ist es eine tief schmerzliche Erscheinung, dass gerade jene
Eidgenossen, welche schon seit Dezennien des Genusses der großen Vor-
teile eines internationalen Schienenweges sich erfreuen, einer selbständigen
Ostalpenbahn am meisten Hindernisse in den Weg legen. Das sind die
Gesättigten^ die beati possidentes, die nach leckerem Mahle dem Hungrigen
predigen, wie wohl das Fasten dem Organismus sei.
Und noch ein weiteres Bild brauchte der Redner:
Drei Freunde haben sich gelobt, einander helfend ihr Land der Kultur
zu erschließen. Dem ersten und dem zweiten ist der dritte redlich zur
Seite gestanden; jetzt aber muss er zusehen, wie die andern säen und
ernten und goldene Garben binden, während ihm niemand helfen will. Das
kann, das darf nicht die Richtsauffassung der Eidgenossenschaft sein.
Es zeugt von einer merkwürdigen Gesinnung, wenn man das
Eintreten für nationale Interessen überhaupt niemand mehr zu-
traut, weder den einen, die vom Bund etwas glauben fordern zu
müssen, noch den andern, die eisenbahnpolitisch sich befriedigt
erklären können.
Wir sind also glücklich so weit gekommen, dass keiner mehr
dem andern eine ehrliche nationale Gesinnung zutraut. National
denken kann man nur noch als „gesättigt", und man darf so lange
regional denken, bis man „gesättigt" ist. Das ist der Grundsatz,
642
der als Nutzanwendung aus solchen Aussprüchen hervorgeht, ein
Grundsatz, an dem unser Land mit Sicherheit früher oder später
zu Grunde gehen wird, falls er weiter Schule macht.
Auch die Greinafreunde haben kein Recht, die Gegner anti-
national zu schelten. Ihr Projekt mag vielen antinational erschei-
nen; damit ist nicht gesagt, dass seine Vertreter antinational
denken. Man muss sich auf beiden Seiten vor Verdächtigungen
hüten.
Im übrigen wurde in Altstätten beschlossen:
1. Die Versammlung verlangt — solidarisch mit Behörden und Volk
des Kantons Graubünden — die endliche Einlösung des der Ostschweiz
gegebenen Wortes und somit die Konzession der Splügenbahn.
2. Sie ist bereit, uneigennützig wie bisher an dem Ausbau der Boden-
see-Toggenburgbahn als Zufahrtslinie zur Gotthardbahn mitzuwirken, in der
sicheren Erwartung, dass Toggenburg und Linthgebiet mithelfen zum Bau
einer selbständigen Ostalpenbahn.
3. Sie ersucht den Regierungsrat, aus führenden Männern der ver-
schiedenen Landesteile eine Konferenz einzuberufen, um auf Grund der
angeführten Vorschläge zu einer einheitlichen sankt-gallischen Ostalpen-
bahnpolitik zu gelangen.
An den Bundesrat wurde in echtem SL Galler-Pathos folgen-
des Telegramm gesandt:
Das in Altstätten versammelte Volk von der Quelle des Rheins bis
zum Bodan setzt in den hohen Bundesrat der schweizerischen Eidgenossen-
schaft das volle Vertrauen, er werde die wohlverbrieften Rechte der Ost-
schweiz einlösen und den Bau einer selbständigen Ostalpenbahn baldigst
fordern und verwirklichen helfen. Es versichert Sie, hochgeachteter Herr
Präsident, hochgeachtete Herren Bundesräte, der treueidgenössischen Ge-
sinnung das ganze Volk vom Jungrhein.
Diese Kundgebungen sind insofern erfreulich, als sie vielleicht
den Bundesrat veranlassen werden, die spruchreife Konzessions-
frage endlich an die Hand zu nehmen, sei es, um eine Splügen-
konzession zu befürworten, sei es um die Konzession abzulehnen
und grundsätzlich den Staatsbau anzustreben, zunächst ohne Stel-
lungnahme zu den einzelnen Projekten. So würde wenigstens
eine klare Lage geschaffen und nicht nur die Eidgenössischen
Räte, sondern das ganze Volk stände vor einer zur Erörterung
reifen Tatsache.
Zu bedauern ist der Unfug, der mit dem Wort „selbständige
Alpenbahn" auch in Altstätten getrieben wurde. Weder die Berner
Alpenbahn noch die Splügen- oder Greinabahn sind „selbständige"
643
Alpenbahnen in der vollen Bedeutung des Wortes. Und zwar
deshalb nicht, weil ihr Einzugsgebiet sowohl im Norden als im
Süden so stark in die Gotthardzone übergreift, dass sie ohne den
Verkehr, den sie dem Gotthard entziehen, gar nicht leben können.
Damit ist nicht gesagt, dass diese Bahnen keinen neuen Verkehr
heranziehen, aber nicht in genügendem Maße, um als „selbständige"
Alpenbahn gelten zu können, wie die Gotthard-, Brenner- oder
Mont-Cenisbahn.,
„Unselbständig" ist eine Alpenbahn nicht in erster Linie des-
halb, weil sie für ein paar Stationen eine andere Alpenbahn be-
nützt, wie die Splügenbahn von Como, die Greinabahn von Biasca
oder Bellinzona an die Gotthardbahn, wie die Berner Alpenbahn
von Brieg an die Simplonroute, sondern weil sie aus ihrem Ein-
zugsgebiet nicht genügenden neuen Verkehr heranzieht und des-
halb ganz oder teilweise von dem Verkehr einer andern Alpen-
bahn zehren muss. Das ist auch bei der Splügenbahn der Fall,
die im Norden das gleiche und im Süden großenteils das gleiche
Einzugsgebiet hat wie die Greina. Ähnlich verhält es sich bei
dem Lötschberg. Alle drei Bahnen sind von der Gotthardzone
abhängig und insofern nicht selbständig.
Das Wort „selbständige Alpenbahn" steht in keinem gesetz-
lichen Aktenstück. Die Erfinder dieses Ausdruckes wollen damit
offenbar den Gedanken ausdrücken, die Ostalpenbahn müsse
direkt nach Italien führen und dürfe, wie die Splügenbahn, jeden-
falls erst auf italienischem. Boden in die Gotthardbahn einmünden.
Den Verhandlungen der Eidgenössischen Räte über die Nach-
subvention für die Gotthardbahn vom August 1878 ist klar zu
entnehmen, dass dem Gesetzgeber bei Aufstellung des Artikels 3
des Eisenbahngesetzes von 1872 durchaus kein bestimmtes Pro-
jekt, keine sogenannte „selbständige" Alpenbahn vorschwebte.
Der jetzige Leiter des Eisenbahndepartements, Bundesrat Forrer,
sagte damals:
Wir wissen alle, was wir mit unserem Beschlüsse gemeint und gewollt
haben. Wenn der Simplon zustande kommt, und wenn es im Osten ge-
lingt, einen Alpenpass nach Italien oder nach dem Tessin zu überschienen,
so wollen wir links und rechts auch viereinhalb Millionen geben.
Der Vizepräsident des Nationalrates und Berichterstatter der
Kommission, Klein, führte aus:
644
Die Kommission hat nämlich gefunden, dass für den Fall, dass man
die Subventionen auf internationale Alpenbahnen beschränkt, gerade die-
jenigen ausgeschlossen werden könnten, welche am ehesten Aussicht haben,
zustande zu kommen und am ehesten ein Recht auf Subvention haben.
Es sind das diejenigen Alpenbahnen, die möglicherweise andere Teile der
Schweiz mit der Gotthardbahn verbinden. So wäre der Lukmanier zum
Beispiel durch die Bezeichnung des Herrn Weck ausgeschlossen, weil der
Lukmanier den Kanton Graubünden nicht direkt mit dem Ausland in Ver-
bindung setzen, sondern an die Gotthardbahn anschließen würde.
Und Forrer fügte wieder hinzu:
Ich glaube, wenn wir sagen, eine Alpenbahn von internationalem Cha-
rakter, so werde dasjenige vermieden, was Herr Klein befürchtet; denn es
ist unzweifelhaft, dass, wenn eine Bahn wie diejenige von Graubünden nach
dem Gotthard zustande kommt, sie Anspruch auf diese Subsidie hat, weil
der internationale Charakter derselben evident ist, wenn sie auch nicht
selber international ist. Ich werde daher vorschlagen, zu sagen: „je für
eine Alpenbahn von internationalem Charakter im Osten und Westen der
Schweiz."
Bundesrat Welti äußerte noch folgendes:
Wenn Sie sich auf diesen Artikel 3 berufen, so glaube ich, sind Sie
wiederum auf dem rechten Wege, indem dieser Artikel wiederum nicht
voraussetzt, dass durch eine Alpenbahn im Osten und Westen eine direkte
Verbindung zwischen schweizerischen und ausländischen Bahnen erstellt
wird, sondern dessen Voraussetzung nur dahin geht, dass durch eine solche
schweizerische Bahn, welche die Eidgenossenschaft unterstützt, ungefähr in
dem Sinne, wie es eben von Herrn Wirth-Sand auseinandergesetzt worden ist.
Aus allen diesen Reden geht klar hervor, dass der Anspruch
der Ostschweiz auf eine sogenannte „selbständige" Alpenbahn rein
aus der Luft gegriffen ist.
Die Ostalpenbahnregion hat rund 630000 Einwohner ohne
Zürich, Tessin und Schaffhausen, wie dies hier früher ausgeführt
wurde. Von diesen 600 000 Seelen haben über 300000, mehr als
die Hälfte der eigentlichen Ostschweiz, ein nachweisbares Interesse
an der Greinabahn mit späterem Ausbau der Tödibahn. Selbst
bei der Annahme, diese erfolge erst nach Jahrzehnten, hat man
kein Recht, diesen Gegenden durch die Splügenbahn für immer
die Möglichkeit abzuschneiden, je an eine internationale Bahn zu
gelangen. Es betrifft dies vor allem die Ortschaften an der
Bodensee-Toggenburgbahn, an der Rickenbahn und im Kanton
Qlarus, die so gut zur Ostschweiz gehören als Graubünden und
das St. Galler Rheintal. Auch sie haben Rechtsansprüche, die
645
berücksichtigt sein müssen. Es gibt kein Recht auf den Splügen,
sondern nur ein Recht auf eine Ostalpenbahn.
Dass die Spiügenbahn nur der halben Ostschweiz dient, hat
man zwar in letzter Zeit eingesehen. Man beschwört die Freunde
einer Greina-Tödibahn, der Spiügenidee zum Durchbruch zu ver-
helfen, und als Dank verspricht man ihnen, die Bodensee-Toggen-
burgbahn unmittelbar mit der Gotthardbahn zu verbinden, sei es
durch eine neue Strecke Rapperswil-Sihlbrugg, sei es durch einen
Tunnel Pfäffikon-Goldau. Wer das machen soll, wird nicht ge-
sagt. Dass eine Bergstrecke nach Sihlbrugg keine Lösung für
einen Anschluss an eine internationale Bahn bedeutet, ist ohne
weiteres klar, so erwünscht sie vielen als Touristenbahn sein mag.
Der Bundesrat hat mit Botschaft vom H.März 1905 ganz ent-
schieden Stellung gegen das von ihm als unwirtschaftlich bezeich-
nete Projekt genommen und die Bundesversammlung hat ihm
beigestimmt. Annehmbarer wäre ein Tunnel Pfäffikon-Goldau
(womit allerdings die Südostbahn ruiniert würde); brächte man
aber überhaupt je das Geld zusammen, um ihn zu bauen, so
wäre es doch viel vernünftiger, es für die Tödlbahn bei Seite
zu legen, die direkt in die Greinabahn einmündet. So könnte
man den Langensee mit dem Linthtal und dem obern Zürichsee
verbinden, was besonders wasserwirtschaftlich für den Kanton
Zürich von größter Bedeutung wäre und auch militärisch größere
Vorteile als die Strecke Pfäffikon-Goldau böte. Glaubt man
übrigens, wenn der Splügen die Bundesbahnen jährlich um Mil-
lionen schädigen wird, die Bundesbahnen werden dann noch Mittel
haben, um auch diejenige Hälfte der Ostschweiz zu befriedigen,
die vom Splügen wenig oder gar nichts hat? Auf diese Hilfe
könnte sie ewig warten.
Die Tödibahn wird vom nationalen Standpunkt aus ihre Be-
rechtigung allerdings erst erhalten, wenn sich für die Gotthard-
bahn eine dritte Schienenlegung lohnen würde, und das kann
noch lange gehen. Auch da zwingt der Stand der Eisenbahnschuld
zu allergrößter Vorsicht. Selbst wenn man den Bau der Greina-
bahn früher oder später wagen dürfte, so kann es lange gehen,
bis man auch den der Tödibahn aus Bundesmitteln riskieren darf.
Es ist deshalb falsch und tendenziös, wenn den Baukosten der
646
Splügenbahn die der Greina- und Tödibahn gegenübergestellt
werden ; die Greinabahn ist bekanntlich viel billiger.
Soll die Tödibahn vorher gebaut werden, so müssen die
interessierten Kantone St. Gallen, Appenzell, Thurgau, Zürich,
Schwyz, Glarus, Schaffhausen, Tessin schon tief in die Tasche
langen. Auch Graubünden ist für das Oberland daran interes-
siert. Vom regionalen Standpunkt aus ist die Tödibahn das ein-
zige Mittel, um der ganzen und nicht bloß einem Teil der Ost-
schweiz wenigstens für die Zukunft die Möglichkeit zu sichern,
einmal auch ihren Anteil an der versprochenen Ostalpenbahn zu
erhalten. Diese ist der ganzen Ostschweiz versprochen und nicht
bloß dem Rheintal und einem Teil von Graubünden. Für Wii.
Weinfelden, Frauenfeld, Wattwil ist die Strecke nach Mailand durch
den Tödi um rund 45 km näher als durch den Splügen. Sogar
für St. Gallen macht der Unterschied etwa 35 km aus, für Herisau
gegen 50 km. Mit Tödi-Greina gewinnt Zürich rund 45—50 km gegen-
über dem Splügen und etwa 12 km gegenüber dem Gotthard.
Die Tödi-Greinabahn hat somit für mindestens die Hälfte der
Ostschweiz eine große Bedeutung und es ist wohl anzunehmen,
dass sich die erwähnten Kantone die Erstellung der Tödibahn
etwas kosten lassen. Dass die Bundesbahnen sie je allein erstellen
werden, ist nicht wahrscheinlich. Die Tödibahn ist in gewissem Sinne
eine internationale Regionalbahn, die in erster Linie einmal die
Aufgabe haben würde, den Verkehr zwischen den noch nicht an
einer Alpenbahn gelegenen Teilen der Ostschweiz und Italien zu
vermitteln. Der große internationale Verkehr zwischen Deutsch-
land und Italien bleibt dem Rheintal als der althistorischen Tal-
straße gewahrt. Herold, der Sekretär der Bodensee-Toggenburgbahn,
bemerkt in einem Bericht an seine Direktion:
Wir haben also im vorstehenden gesehen, dass die tarifarische Kraft
der Gebirgsverbindung Romanshorn-Ricken-Tödi-Greina nicht so groß wäre,
als dass sie die natürlichen Vorteile der vorzüglichen Talverbindung,
Vielehe sich mit der Rheintallinie bietet, wettmachen könnte.
Der Wert einer Tödibahn für die Bodensee-Toggenburgbahn kann aber
auch nicht durch Vorteile für den Personenverkehr eine bessere Begründung
erhalten. Der große Verkehr, auf den es allein ankommt, geht über die
großen Linien und über die Zentralpunkte. In dieser Hinsicht kann die
Stadt Chur mit ihrem großen Hinterlande von keiner künftigen internatio-
nalen Ostalpenbahnverbindung ganz umgangen werden. Etwaige abkürzende
Verbindungen, von Zürich ebenso wie von Konstanz oder von Romanshorn
647
her, mögen über eine Tödilinie geschaffen werden wollen und es mag an
ihnen auch die Bodensee-Toggenburgbahn beteiligt sein: in den meisten
Fällen würden sie wohl durch Stillager im Angesichte des Greinatunnels
wettgeschlagen !
Eine Tödibahn könnte nur dann Bedenken erregen, wenn
eine Privatgesellschaft sie baute, die sich mit der Bodensee-
Toggenburg- und Mittelthurgaubahn gegen die Bundesbahnen ver-
bünden würde. Davon ist keine Rede. Die Tödibahn wird von
den Bundesbahnen unter Mitwirkung der beteih'gten Kantone
und Gemeinden oder gar nicht gebaut. Es steht nichts im
Wege, heute schon Zusicherungen für die spätere Verkehr Stellung
zwischen Rheintal und Tödibahn zu geben, wie man es zwischen
Qotthard und Lötschberg gemacht hat. Nach der bernischen
Redeweise „alles üse" treibt man in der Schweiz keine Eisen-
bahnpolitik. Wenn man nach diesem Grundsatz im Kanton
St. Gallen eine „Einigung" in der Ostalpenbahnfrage herbeiführen
will, so wird diese Einigung keine guten Früchte zeitigen.
Die Zentralschweiz hat sich die Verkehrsteilung mit der
Lötschbergroute auch gefallen lassen müssen. Basel, Bern und
Zürich werden nichts dagegen machen können, wenn dank dem
Ausbau der Rheinschiffahrt und anderer Faktoren und dank dem
Bau einer Ostalpenbahn die Bodenseegegend sich zu einem Ein-
gangstor ersten Ranges nach der Schweiz und zu einem wichtigen
Durchgangspunkt nach Italien herausgestalten sollte. Also soll
man in St. Gallen, Chur und im Rheintal auch den andern Mit-
Ostschweizern etwas gönnen und sie nicht ohne Not der einzigen
Möglichkeit berauben wollen, jemals an eine internationale Ver-
bindung mit Italien zu gelangen.
Sicher ist, dass die Ausführung des Splügenprojektes dem
Bund die dem Referendum unterliegende Verstaatlichung der
Bodensee-Toggenburgbahn nicht erleichtern wird. Ganz anders
die Greinabahn; sie hat, wirtschaftlich gesprochen, für den Kanton
St. Gallen in Verbindung mit einer spätem Tödibahn als Ganzes
einen bedeutend höhern Wert als die Splügenbahn, und ohne
Tödibahn annähernd denselben. Auch die Entwicklung des Kan-
tons Graubünden hängt nicht von der Lösung dieser Alpenbahn-
frage ab. Er hat dank dem Ausbau der Rätischen Bahnen in den
letzten zehn Jahren größere wirtschaftliche Fortschritte gemacht
als irgend ein Gotthardkanton.
648
Die internationale Bedeutung, die der Splügen zu allen Zeiten
gehabt hat, verkennen wir keinen Augenblick, auch nicht gewisse
Vorteile für die Verbindung mit dem adriatischen Meer, obwohl
sie gewaltig überschätzt werden. Aber nationale Gründe zwingen
uns, eine andere Lösung zu suchen: einmal die oben erwähnten,
weil die Splügenbahn nur der halben Ostschweiz Befriedigung
gibt und militärisch große Gefahren bietet, während die Greina-
bahn in Verbindung mit einer spätem Tödibahn der ganzen Ost-
schweiz Anschluss an eine internationale Bahn gewährt und
für die Landesverteidigung von größter Bedeutung ist.
Ein weiterer Grund ist der Stand der Eisenbahnschuld, die
weder den Bau noch die Konzessionierung von bedeutenden Kon-
kurrenzbahnen gestattet, welche die Verzinsungs- und Amortisa-
tionsfähigkeit der Bundesbahnen schwächen.
Es wurde schon in den Juliheften von Wissen und Leben,
Band Xil, S. 449 und 521, nachgewiesen, dass sich ohne Ost-
alpenbahn und ohne Verstaatlichung der Berner Alpenbahn die
nicht getilgte Bahnschuld in den nächsten zehn Jahren um eine
halbe Milliarde vergrößern und die zweite Milliarde in absehbarer
Zeit übersteigen wird, wenn man sich nicht vorsieht.
Man hat gesagt, das sei übertrieben oder allzu pessimistisch,
und auch in den Räten machten sich solche Stimmen kund. Wir
wollen daher die Sache näher begründen. Zugegeben , dass
man auch eine steigende Schuld in Friedenszeiten leicht verzinsen
wird, 50 lange wir das Bundesbahnnetz ertragsfähig erhalten
können. Das kann sich aber ändern, wenn wir der wichtigsten
Linie des Landes, dem Gotthard mit seinen Zufahrten, eine Kon-
kurrenz schaffen, die die Bundesbahnen nicht zu ertragen ver-
mögen, und hierin beruht die Schwierigkeit jedes Ostalpenbahn-
projektes. Als man 1872 die Ostalpenbahn versprach, hatte die
Schweiz so gut wie keine Schulden. Seither wurden die fünf
Hauptbahnen verstaatlicht, wodurch wir bis Ende des Jahres 1912
eine nicht getilgte Eisenbahnschuld von 1416,4 Millionen, mit
Einschluss der schwebenden Schulden von 1481 Millionen Franken
bekamen. In den Jahren 1913 und 1914 sind für nicht weniger
als 107 Millionen Bauten veranschlagt worden; außerdem stellen
649
sich die bis 1914 beschlossenen aber noch nicht ausgeführten
Bauten auf rund 200 Millionen, was jeder an Hand des Budgets
von 1914 selbst ausrechnen kann. Über den Stand von Ende 1912
hinaus beträgt also die amtlich in Aussicht genommene Erhöhung
des Baukontos die runde Summe von über 300 Millionen, wovon
nur ein Achtel durch den Betrieb gedeckt werden dürfte; es blei-
ben somit 260 Millionen durch Anleihen zu decken.
Mit dieser Summe von rund 260 Millionen ist man aber noch
lange nicht fertig. Es kommen große Bauten in Betracht, die
vorausgesehen sind und die nicht oder nur zu ganz geringem
Teil auf Betriebskonto fallen. So der Umbau des Genfer Bahn-
hofs mit der spätem Verbindung beider Genfer Bahnhöfe, so die
vertragsgemäße jährliche Abzahlung für den Bahnhof Cornavin
von rund 500000 Franken bis 1958. Dann der Umbau und die
Erweiterung der Bahnhöfe in Basel (Rangierbahnhof), Zürich,
Romanshorn, Luzern, Ölten, Chur, Freiburg. Ferner die noch
nicht veranschlagten, aber projektierten und zum Teil schon
begonnenen zirka 300 Kilometer Doppelgeleise; die Tieferlegung
und das zweite Geleise des Monte Cenere; die zum Ausbau des
Gotthards gehörende Doppelspur Brunnen- Flüelen usw. Dazu
kommt das Laufende für die Stationen von 1915 an, das Roll-
material nach 1915, das sich für Jahre hinaus gar nicht berechnen
lässt, aber in viele Millionen geht.
Man übertreibt nicht, wenn man die noch nicht veranschlagten,
aber projektierten und sicher bevorstehenden Bauten für die näch-
sten zehn Jahre auf 250 bis 300 Millionen berechnet; diese Summe
kommt zu den schon veranschlagten, aber noch nicht veraus-
gabten zirka 260 Millionen hinzu. Das sind im Ganzen 500 bis
550 oder jährlich 50 bis 55 Millionen, die zu den 1481 Millionen
der nicht getilgten Schuld von 1912 hinzukommen. Das stimmt
zu dem Kommentar, mit dem die Generaldirektion die auf rund 59
Millionen bezifferte Bausumme von 1914 begleitet; „es kann eine
Verminderung der Bauausgaben noch auf lange Zeit hinaus nicht
erwartet werden."
Von 1903 bis 1912 sind durchschnittlich 5,6 Millionen jähr-
lich getilgt worden, zuletzt rund 10 Millionen, während das Bau-
konto jedes Jahr um 30 Millionen Franken gestiegen ist.
650
Auch wenn man annimmt, dass in den nächsten' zehn Jahren
12 bis 15 Millionen Franken getilgt werden können ohne die
Gewinn- und Verlustrechnung allzu sehr zu belasten, so sehen
wir trotzdem einer Zweimilliardenschuld entgegen, wenn man
sich nicht gewaltsam Einschränkungen auferlegt, von der Ver-
staatlichung der Berner Alpenbahn und der Bodensee-Toggenburg-
bahn, von einer Ostalpenbahn nicht zu reden. Man sagt, das
Baubudget müsse auf 25 — 30 Millionen Franken jährlich herabge-
setzt werden ^). Das wird in den nächsten zehn Jahren, so wie
alles eingeleitet ist, schwer halten.
Eine solche Schuldenlast ist für eine kleine, von lauter Groß-
staaten umgebene Republik keine harmlose Sache. Werden nun
noch im Osten und Westen den Bundesbahnen zwei uneinträgliche
Alpenbahnen im Betrage von etwa 300 Millionen angehängt, so
kann man der weitern Entwicklung der Dinge nur mit großer
Sorge entgegensehen.
Jede Ostalpenbahn drückt auf das Ergebnis der Bundesbahnen.
Da ist es doch selbstverständlich, dass man diejenige Bahn in
Aussicht nimmt, die dem Betrieb und dem Ertrag am wenigsten
schadet, bei ungefähr gleichen oder noch höhern wirtschaftlichen
Vorteilen.
Man sagt nun, gerade weil der Baukonto der Bundesbahnen
übermäßig belastet sei, so müsse man auf Erteilung einer Kon-
zession halten, die den Bundesbahnen keine Bauverpflichtungen
auferlege, und da komme nur der Splügen in Frage, weil nur bei
diesem die Möglichkeit bestehe, auf Grund einer Konzession ge-
baut zu werden. Wir wollen das nicht bestreiten, aber in erster
Linie kommt es nicht auf die Baukosten an, sondern auf den
Betriebsausfall.
Wir möchten zur weitern Klarstellung der Sache folgende
Stelle aus dem Anleihensprospekt der Eidgenossenschaft für das
60 Millionen-Anleihen anführen:
Alle derart ausgegebenen Obligationen bilden direkte Schuldverpflicht-
ungen der Schweizerischen Bundesbahnen, für deren Verbindlichkeiten in-
dessen die Schweizerische Eidgenossenschaft mit ihrem ganzen Vermögen
haftet. Auf Ende 1913 belief sich die gesamte konsolidierte Anleihensschuld
der Bundesbahnen, nach Abzug der Tilgungen pro 1913, auf Fr. 1 494 425 350.
') In diesem Fall würde die ungetilgte Eisenbahnschuld um 1962 nach
Rechnung des Departements anderthalb Milliarden betragen.
651
zu welchem Betrage nun noch das neue 4% Anleihen mit Fr. 60 000 000
hinzutritt, so dass sich ein Total von Fr. 1555 425 350 ergibt, welche eine
jährliche Zins- und Amortisationslast von zurzeit Fr. 61 130 646 repräsentieren.
Dazu kommt noch die Zinsenlast der schwebenden Schulden,
die 64,6 MiUionen Franken auf Ende 1912 betrugen.
Mit dem eben aufgenommenen 60 Miliionenanleihen steigt
die Schuldenlast der Bundesbahnen auf 1554 Millionen, ohne
die schwebende Schuld, woran Ende 1913 gegen 70 Millionen Fran-
ken amortisiert waren. Die jährliche Zinsen- und Amortisations-
last beläuft sich auf über 61 Millionen Franken, die in der Haupt-
sache aus den Betriebsüberschüssen gedeckt werden müssen.
Die aus Betriebsüberschuss und Zinsenlast sich ergebende
Marge ist, was den Bundesbahnen übrig bleibt, um unter anderm
Extraforderungen des Personals, Einbußen aus der Verstaat-
lichung unrentabler Bahnen oder auch aus der Konzessionierung
internationaler Konkurrenzbahnen usw. zu decken. Die Entwick-
lung der Marge in den letzten Jahren war folgende in Millionen
Franken:
Betriebs-
Zinsen- und
Ertrag verfüg-
überschuss
Amortisationslast
Marge
barer Kapitalien
1912
69,172
61,310
7,862
5,11
1911
71,864
58,564
13,300
4,83
1910
70,473
55,757
14,716
4,74
1909
53,980
51,779
2,211
3,037
1908
41,170
45,660
- 4,490
3,478
1907
46,495
46,628
- 0,144
4.073
Die Marge zwischen Betriebsüberschuss, Zinsen- und Amorti-
sationslast bildet einen zuverlässigen Gradmesser für die finanzielle
Lage der Bundesbahnen.
Um ein richtiges Bild der ungefähren disponibeln Mittel nach
erfolgter Verzinsung und Amortisation zu erhalten, muss zu den
oben genannten Beträgen für die Marge noch der Betrag der
verfügbaren Kapitalien hinzugerechnet werden, der sich nicht so
stark ändert. Je kleiner die Marge zwischen Betriebsüberschuss
und Zinsen- und Amortisationsbetrag wird, desto gespannter wird
die allgemeine Finanzlage. 1909 betrug die Marge nur noch
2,2 Millionen Franken, 1908 sogar /7z//?ü5 4,490 Millionen Franken,
1907 minus 0,i44, daher die scharfen Sparmaßregeln in den
Jahren 1909 und 1910.
652
Die Verstaatlichung der Gotthardbahn und die Besserung der
wirtschaftlichen Konjunktur haben dann 1910 und 1911 die Lage
verbessert, wobei besonders die Angestellten das Schäflein zu
scheren wussten. Es sind seit 1912 zirka 15 Millionen Franken
mehr an Besoldungen Ausgegeben worden. Das erklärt das Sin-
ken der Marge von 1911 auf 1912 um fünf einhalb Millionen.
Die Marge wird auf Ende 1913 noch mehr sinken. Der Be-
triebsüberschuss 1913 ist geringer als der von 1912, trotz Er-
weiterung des Bundesbahnnetzes durch die Jura-Neuchäteloisbahn
seit dem I.Juli und durch Genf-La Plaine seit 1. Januar 1913.
Es hat allen Anschein, als ob die Marge 1914 noch mehr
zusammenschrumpfe, denn der Januar verzeigt einen Ausfall des
Betriebsüberschusses von fast anderthalb Millionen.
Mit was für Mitteln will man unter solchen Umständen die
Einbußen decken, die sich aus dem Bau einer Ostalpenbahn, aus
den unmittelbar oder für später bevorstehenden weitern Verstaat-
lichungen von unrentablen Bahnen ergeben müssen? Die füh-
renden Politiker in Zürich, St. Gallen und Graubünden, die so
energisch für eine Splügenbahn eintreten, sollen doch zuerst ein-
mal diese Frage beantworten.
Man braucht die von den Bundesbahnen berechneten Ein-
nahmenausfälle im Falle der Erteilung einer Splügenkonzession
oder des staatlichen Baues lange nicht voll vorzurechnen, so steht
fest, dass die Marge infolge schwerer Ausfälle in der Betriebs-
rechnung durch die Splügenkonkurrenz bald aufgezehrt würde,
auch wenn die Bundesbahnen keinen roten Rappen für den Bau
der Splügenbahn ausgeben müssten.
Dass sich große Einbußen ergeben müssen, geht aus folgendem
hervor: die Strecke Basel-Chiasso beträgt rund 320 km, Chiasso-
St. Margrethen über die Greina 250 km; bis Buchs sind dann
etwa 212 km Bundesbahnstrecke zu rechnen. Anders beim Splügen.
Dort geht der Verkehr erst an der Grenze bei Andeer auf die
Bundesbahnen über; es sei denn, dass ein Staatsvertrag Campo-
dolcino oder Chiavenna als Übergangsstation bestimme. Von der
Grenze bei Andeer bis St. Margrethen sind rund 130 km, von der
Grenze bis Buchs, wo der Verkehr von Österreich abgenommen
werden kann, bloß 90 km, gegen 320 km Basel-Chiasso und 293 km
Schaffhausen-Chiasso! Wird die Splügenbahn von einer Privat-
653
gesellschaft gebaut, so gehen weitere zirka 50 km ab für die
Strecke Chur-Grenze ; es bleiben also 40 resp. 80 km gegenüber
320 km Basel-Chiasso. Dass das mit Rücksicht auf den Verkehr,
der dem Gotthard entzogen wird, einen Einnahmenausfall aus-
macht, der in die Millionen geht, ist für jeden Laien einleuchtend,
auch wenn sich keine bestimmten Beträge genau ausrechnen
lassen.
Auch die Greinabahn ergibt eine Einbuße, wenn auch nicht
so groß wie beim Splügen. Aber sie bietet wenigstens nationale
und nicht bloß legionale Vorteile. Sie schafft die Möglichkeit,
dass im Lauf der Zeit die ganze Ostschweiz und nicht bloß das
Rheintal und ein Teil von Graubünden an eine nach Süden führ-
ende Alpenbahn angeschlossen wird; sie verbindet das schweize-
rische Ende des Langensees mit dem Bodensee und eventuell
mit dem Zürichsee. Sie lenkt die italienischen Binnenschiffahrts-
bestrebungen nach dem Langensee hin; sie schließt den politisch
und wirtschaftlich so schwer gefährdeten Kanton Tessin besser an
die Schweiz an und ist uns strategisch von größtem Vorteil im
Gegensatz zur Splügenbahn. Die Splügenbahn dagegen stößt den
Kanton Tessin von uns ab und ladet Italien geradezu ein, seine
Binnenschiffahrt auf den ganz italienischen Comersee statt auf den
schweizerisch-italienischen Langensee zu richten.
Den Verkehr von Süd nach Nord und umgekehrt können
die Bundesbahnen bei der Greinabahn viel mehr in der Hand
behalten, die keine Staatsverträge benötigt, und die auf Schweizer-
boden die Gotthardbahn verlässt, und nicht auf italienischem Bo-
den wie die Splügenbahn bei Como. Man hat daher auch größere
Garantie, dass der Verkehr wirklich durch das Rheintal geht und
dass auch die schweizerischen Bodenseehäfen möglichst viel von
der neuen Entwicklung profitieren. Die Gefahr ist vorhanden,
dass die deutschen Bodenseehäfen den Löwenanteil davontragen.
Zu den Einbußen durch eine Ostalpenbahn, ganz besonders
durch eine Splügenbahn treten die Einbußen, die durch die Ver-
kehrsteilung zwischen Gotthardbahn und Berner Alpenbahn ent-
stehen und die sich erst noch entwickeln werden.
„Aber die nationale Politik ist nicht identisch mit den Fis-
kalinteressen der Bundesbahnen. Was vom Standpunkt der letzten
ein Passivum bedeutet, ist für die nationale Wohlfahrt unter Um-
654
ständen ein Aktivum," hat man in Altstätten gesagt. Das kann unter
Umständen wahr sein, aber erste Voraussetzung bleibt, wie gesagt,
stets die Amortisation und die Verzinsung unserer Staatschulden
und speziell unserer Eisenbahnschuld, und die ist nicht gesichert,
wenn man die Bundesbahnen gerade mit zwei Verkehrsab-
lenkungen belastet, der einen im Westen, die bereits besteht und
die auf Grund von erteilten Konzessionen und ausgeführten
Bauten mehr oder weniger freiwillig zugestanden werden musste,
und dann noch einer zweiten, viel gefährlicheren im Osten, deren
Vermeidung wir in der Hand haben.
Wir können nicht begreifen, wie man dem Bundesrat zu-
muten will, bei dieser Sachlage die Verantwortung zu übernehmen,
der Bundesversammlung die Konzessionierung der Splügenbahn
zu beantragen, welche mit Hilfe von schweizerischem, deutschem
und italienischem Geld eine Umgehungslinie um die Schweiz be-
wirken wird, von der die Schweiz wenig Nutzen hat und die das
finanzielle Gleichgewicht der Bundesbahnen und des Landes ernst-
lich gefährdet.
Es würde dies allem ins Gesicht schlagen, was Bundesrat
Forrer selbst vor nicht sehr langer Zeit im Ständerat in treffen-
der Weise ausgeführt hat: die erste Forderung für eine richtige
schweizerische Eisenbahnpolitik bestehe darin, dass alles getan
werde, um ihr auf den bestehenden Linien den Nord-Südverkehr
zu erhalten.
BERN J. STEIGER
DD D
Für die Produktion bedeutet die Fülle der Einfälle und Bilder gar
nichts — sie kann auch ein Fiebernder haben — nur die treffsichere Ein-
sicht in die Gestaltbarkeit und Ergibigkeit eines Einfalles entscheidet, vor-
ausgesetzt, dass es der Einfall eines Genies ist und aus der unergründ-
lichen Tiefe stammt, aus der die schönheitstrunkenen Ideen der ewigen
Kunst emportauchen.
LINA FREY
aon
655
MÄCEN UND KUNSTLER
EIN ERDACHTES GESPRÄCH VON PAUL ERNST
Personen: Konrad Fiedler, Hans von Maries, später Frau Fiedler
Ort: Das Arbeitszimmer Fiedlers
Fiedler (dozierend): Man nimmt gewöhnlich an, dass ohne
die Kunst (so gut wie ohne die Religion und andere geistige und
ethische Mächte) das Leben eine Einbuße erleiden würde; das
ist aber nebensächlich; das Wesentliche ist, dass das Weltbild
ohne die Kunst unvollständig sein würde.
Marees: Sie haben recht, lieber Fiedler, ich bin nun so weit
gekommen, dass ich das malen kann, was ich will. Aber ich
kann auch wohl sagen, dass ich diese ganzen Jahre hindurch
höchstens einmal minutenlang an anderes gedacht habe. Das
Schwierige ist, dass man überhaupt damit anfangen muss, erst
sehen zu lernen. Die Menschen können ja alle nicht sehen; ich
habe es früher auch nicht gekonnt.
Fiedler (weiter dozierend) : Die anschaulichen Vorstellungen der
Menschen sind nicht stichhaltiger als ihre Begriffe; es herrscht
in bezug auf sie dieselbe Macht des Herkommens, dieselbe Träg-
heit, die sich zufrieden gibt, wenn das Überlieferte nur hinreicht
zum Gebrauch des täglichen Lebens. Der Künstler tut in betreff
ihrer nichts anderes als der Denker, der sich in Opposition gegen
die Meinung seiner Zeitgenossen findet und ihnen eine neue
Wahrheit verkündet.
Marees: Richtig, sehr richtig! Wo haben Sie nur solche
Gedanken her! Das ist großartig gesagt, das eröffnet einem
ganz neue Gesichtspunkte! Als Maler, sehen Sie, da philosophiert
man ja nicht, dazu hat man nicht den Kopf; man malt seine
Bilder und denkt, nun sehen die Leute sie an. Aber das ist eben
der Fehler. Die Leute verstehen gar nicht, was man will!
Fiedler {immer noch dozierend): Eine künstlerische Individualität
zu verstehen ist weit schwerer als die eines Denkers und Forschers,
denn dieser spricht die Sprache, die jeder spricht, jener aber
unterscheidet sich gerade dadurch von andern, dass er eine an-
dere Sprache spricht.
656
Marees' Sprache spricht: . , . Sie meinen, wenn man malt?
Natürlich! Großartig! Das ist es ja eben, man malt, und die
Leute stehen davor und sagen: was soll denn das eigentlich
wieder einmal vorstellen?
Fiedler (auf dem Höhepunkt philosophischer Begeisterung): Das
Urteil eines Laien über Wahrheit eines Kunstwerkes bezieht sich
gar nicht auf die Vollkommenheit der Kunstform, sondern auf
Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seiner eigenen rohen
Vorstellungsform mit der gleichfalls rohen Vorstellungsform, die
ihm durch das Kunstwerk hervorgerufen wird.
Marees : Ich muss Sie umarmen, Fiedler! Sie sind der erste
Mensch, den ich treffe, der nicht selber Maler ist und der weiß,
was Kunst ist. Sie sprechen ja für unsereinen etwas schwer-
verständlich, aber ich habe Sie doch kapiert! Wundern Sie sich
nicht, dass Sie mich so gerührt sehen (er wischt sich eine Träne ab);
ich glaube, ich bin sonst nicht weichlich, ich habe meinen von
Haus aus elenden Kadaver so dressiert, dass er jetzt alles leisten
kann, was ich von ihm verlange; aber so lange Jahre habe ich
doch immer einsam leben müssen! Ohne ihre Unterstützung
wäre ich ja überhaupt krepiert. Mir liegt doch nichts daran, viel
Geld zu verdienen; was soll ich denn damit! Wenn ich zu essen
habe, und Modell, Atelier und Farben bezahlen kann, dann bin
ich ja zufrieden, alles andere ist ja für einen vernünftigen Men-
schen nur Belästigung. Aber sehen Sie, wenn man da nun ein
Bild verkaufen möchte, dass man einmal ein Jahr lang ruhig ar-
beiten kann, und man sieht dann, dass die Leute überhaupt nicht
wissen, um was es sich handelt . . . Wie glücklich sind Sie doch,
dass Sie hier sorgenlos leben können, nur mit ihrer Philosophie
beschäftigt . . .
Fiedler (denkt): Jetzt berechnet er im Stillen, was ich jährlich
ausgebe und findet, mindestens die Hälfte davon müsste ich
eigentlich ihm schicken . . . Aber es ist unanständig, dass ich so
etwas denke.
Marees: ich will Ihnen meinen Plan eröffnen. Eine Anzahl
Männer treten zusammen und geben mir die Summe, die ich für
ein Jahr brauche, als Darlehen. Ich muss mich jetzt etwas
rühren können; ich kann jetzt nicht als Diogenes leben; Sie ver-
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stehen, wenn ich einen großen Schlag führen will, so muss ich
weit ausholen können, und das kann ich nicht in einer kleinen
Bude, wo ich gleich an die Wand stoße. Dieses Jahr setze ich
dann alles ein, was ich kann; da schaffe ich etwas, das meinem
Vaterland ewig zu Ruhm und Ehre gereichen wird. Antworten
Sie noch nicht, ich bin noch nicht zu Ende, ich habe mein
Leben längst fortgeworfen. Gelingt mein Plan nicht — gut, dann
kann ich auch heute den Schauplatz verlassen, ohne mich zu
schämen, denn ich weiß, was an mir lag, das habe ich getan.
Fiedler: Lieber Marees, ich begreife ja ihre Stimmung; Sie
haben eben ein Werk vollendet, wie Sie sagen; ich bin auch
immer der Ansicht gewesen, dass ich Ihnen eine Gelegenheit
bieten müsse, das, was Sie sich in mühevoller Laufbahn errungen,
auf die höchste Probe zu stellen; aber ich würde mir sehr un-
aufrichtig vorkommen, wollte ich Ihnen verhehlen —
Marees: Dieses Mal ist es so; ich kann mich doch nicht
über mich selber täuschen!
Fiedler: Sie haben das schon oft gesagt, lieber Marees, und
gerade man selber täuscht sich am meisten über sich. Ich kenne
Leben und Menschen besser wie Sie, glauben Sie mir; nicht nur
die innere, auch die äußere Befreiung ist nur langsam, sehr lang-
sam möglich.
Marees (denkt): Du verdammter salbungsvoller Spießer, wenn
du vorsichtig in der Wahl deiner Eltern bist oder eine reiche
Frau heiratest, dann geht die äußere Befreiung bei dir nur sehr
langsam vor sich! Und der Mensch ist noch einer der besten;
schließlich bin ich ihm doch zu Dank verpflichtet!
Fiedler: Wie ich meinen Anteil an Ihrer äußeren Existenz
immer verstanden habe, wissen Sie; den Ansprüchen einer schöpfe-
rischen Natur an das Leben habe ich mit meinen doch nur be-
schränkten Mitteln allein Genüge zu tun doch nie unternehmen
können; ich wollte nur die Zeit der innern und äußern Kämpfe
erleichtern.
Marees: Dass ein einziger Privatmann die Opfer bringt, ist
ja unter keinen Umständen zu verlangen. Es handelt sich um
rund fünfzehnhundert Taler, und ich dachte, dass drei Männer
die Summe zusammenschießen könnten. Wenn Sie, wie das na-
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türlich wäre, als der Erste einträten, dann wäre der Zweite wohl
schon gefunden. Weshalb haben Sie damals nicht die paar Stun-
den Eisenbahnfahrt gemacht und sind nach Rom gekommen, als
Sie in Florenz waren? Ich hatte die Zähne zusammengebissen,
alle Kränkungen aus meinem Herzen, alle Beleidigungen aus
meinen Ohren entfernt, ich wurde meiner Kraft gewahr und malte
die Lebensalter, widmete ihnen das Bild als Hochzeitsgabe, und
Sie konnten nicht die paar Stunden Bahnfahrt machen, es sich
anzusehen! Sie wundern sich, dass es nicht fertig geworden ist?
Sie, der einzige Mensch, der damals das Bild verstehen konnte, und
der keine Lust hatte, es sich nur anzusehen? (innerlich: Was mache
ich denn, das verzeiht seine Eitelkeit mir ja nie — ach, ich kann
nicht anders!) Was will ich denn jetzt von Ihnen? Nichts, als die
Erlaubnis, Sie, meine Nation, die Welt beschenken zu dürfen!
Fiedler: Ich habe jahrelang mit einer Selbstüberwindung, die
mir nicht leicht geworden ist, jede Empfindlichkeit ihnen gegen-
über unterdrückt; ich wollte ein Verhältnis nicht zerstören, von
dem ich von vornherein wusste, dass es mir wichtige Verpflich-
tungen auferlegen würde . . .
Marees: Gut, gut, es bedarf der vielen Worte nicht. Ver-
zeihen Sie die Belästigung. Sie brauchen nicht zu fürchten, dass
Ihre Weigerung mich verzagt macht. Wer das erduldet hat, was
ich erduldet habe, der geht nicht feige aus einem Kampf. Ich
scheue nicht die Selbsterniedrigung, meine Arbeit muss fertig
werden, und so werde ich denn betteln gehen.
Fiedler: Sie haben selbst den Bann gebrochen. Sie verlangen
zu viel von anderen Menschen.
Marees: Nicht ein Hundertstel von dem, was ich von mir
selber verlange. Aber wie könnte ein Mann wie Sie das verstehen!
Fiedler: Wie?
Marees (denkt): Dieses triviale Vieh, diese Schreiberseele, welche
die gleichgültigen Aussprüche, die in meinem Atelier beim Malen
zufällig fallen, sorgfältig sammelt, in philosophischen Kauderwelsch
übersetzt und dann als tiefsinnige Weisheit von sich gibt — nein,
das darf ich dem armen Kerl nicht sagen, der ginge ja kaput,
wenn er das wüsste; schließlich: was kann er dafür, dass er ein
Spießer ist; man soll sich eben mit solchen Leuten nicht abgeben!
(Laut): Es war immer mein Bestreben, dankbar zu sein; denn
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Dankbarkeit ist eine Tugend, deren nur die paar anständigen
Menschen fällig sind, die es bis jetzt in der Welt gegeben hat.
Das war der Grund, dass ich zu Ihnen kam mit meiner Bitte:
ich wollte mich mit Ihnen noch mehr verpflichten.
Fiedler: Ich kann es meinem Stolz nicht abgewinnen, auf
Ihre Anklage zu antworten. Der Verpflichtung, die ich über-
nommen habe, werde ich nach wie vor nachkommen. Aber es
ist wohl für uns, beide besser, wenn wir unsern persönlichen Ver-
kehr nicht mehr fortsetzen, nachdem Sie die Bande des Zart-
gefühls, in denen er sich halten müsste, zerrissen haben.
Maries (draußen vor der Tür): Eigentlich kann er einem doch
leid tun. Was hat er nun von seinem Geld! Ich bin wohl zu
grob gewesen? Man kann schließlich von solchem Mann nicht
verlangen, dass er sich als Mittel für etwas Höheres fühlt, er hält
nun einmal sich selber für das Wichtigste auf der Welt; im Grunde
ist ihm die Malerei ja auch gleichgültig, was er sagt, ist ja nur
so Gerede; diese Leute müssen immer etwas denken und darüber
sprechen oder schreiben ; aber was sie denken, das ist schließlich
ganz gleichgültig.
Fiedler (allein): Ich habe ja natürlich nie auf Dankbarkeit ge-
rechnet — (tief, tief unten in seinem Bewusstsein): Ich bin damals aus
kindischem Hochmut, aus Machtgefühl nicht nach Rom gefahren.
(Es schießt ihm so schnell durch den Kopf, dass er gar nichts davon weiß):
Sollte ich Marees beneiden?
Marees (plötzlich auf der Straße stehen bleibend): Mit Fiedler ist
es also auch nichts. Die jungen Leute, die zu mir kommen,
glauben ja natürlich an mich; aber das ist eben Suggestion. Wo-
durch unterscheide ich mich eigentlich von einem Verrückten,
den man einsperrt? Wir tun Beide Dinge, die den andern Men-
schen als unsinnig vorkommen. Wie? Ist es denn möglich, dass
alle andern Menschen falsch urteilen und ich allein richtig? Bin
ich nicht vielleicht wahnsinnig? (Die Tränen steigen ihm auf.) Ach,
es ist ja so furchtbar schwer: ich bin allein.
Frau Fiedler (die inzwischen in das Zimmer ihres Gatten getreten
ist): Hat er dich wieder aufgeregt? Du Guter, denke doch nicht
so viel an andere, denke doch auch einmal an dich selbst und
was du deiner Familie schuldig bist. Du bist doch nicht allein.
aao
660
DIE TÜRKEI ZUR ZEIT IHRER
HÖCHSTEN MACHTENTFALTUNG
Nach längerer Pause haben wir im vorigen Jahr wieder einen
Türkenkrieg erlebt. Monatelang waren die Blicke ganz Europas
auf die Vorgänge auf dem Balkan geheftet, und alle Fragen der
auswärtigen Politik traten einen Augenblick vor dem Probleme
zurück, wie sich das künftige Schicksal der europäischen Türkei
gestalten werde.
Ähnliches war schon in früheren Zeiten öfter der Fall ge-
wesen. Aber wie ganz anders lagen damals die Verhältnisse!
In den letzten Monaten hat die Welt eine Zeit peinlicher Un-
gewissheit durchlebt, weil sie fürchtete, die Teilung der Beute, die
die christlichen Sieger der geschlagenen Türkei abgenommen,
könnte kriegerische Konflikte unter den Mächten zur Folge ha-
ben, in früheren Jahrhunderten bangten die Völker, wenn sie von
Kriegen der Türken hörten, um ihre eigene Existenz. Jeder neue
Feldzug des Sultans drohte den Tag näher zu rücken, an dem
auch das letzte Stück christlicher Erde seinem Joche unterworfen
würde. Es sind noch keine drei Jahrhunderte her, seitdem diese
Türkenpanik nachgelassen hat. Das ganze Zeitalter der Refor-
mation war von ihr erfüllt. Goethe lässt im Faust seine städti-
schen Philister sich darüber freuen, wenn sie hören, wie „hinten
weit in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen". Aber diese
Worte passen nur in die Zeit des Dichters, nicht in die Epoche,
in der das Drama spielt. Den Frankfurter Bürger seiner Jugend
hat Goethe sicherlich oft so reden hören, wie die klassischen
Verse es ausdrücken; der historische Faust aber, der Zeitgenosse
Luthers, hätte unter deutschen Stadtbürgern schwerlich einen ge-
funden, der zu den goetheschen Gestalten hätte Modell stehen
können.
Wenn das damalige Publikum die Nachrichten aus der Türkei
mit größerer Begierde verschlang als die aus irgend einem andern
Lande, so folgte es dabei nicht einem Zuge behaglicher Neugier
und fühlte sich durchaus nicht in der Rolle des uninteressierten
Zuschauers. Die Vorgänge in der Türkei griffen vielmehr nach
allgemeiner Auffassung an die Existenz der Christenheit selbst.
661
Es erschien nur noch als eine Frage der Zeit, wann der Groß-
türke den christlichen Reichen, die bisher seinen Heerscharen
noch hatten widerstehen können, ebenfalls den Garaus machen
würde. Nur ein Wunder, meinte man, könne die Christen retten.
Luther, dessen politisches Denken durch den Horizont des da-
maligen deutschen Kleinbürgers begrenzt ist, erhob sich mit don-
nernden Worten gegen die „läppische und lässige" Haltung der
Könige und Fürsten. Ob sie denn nicht 'wüssten, was für ein
mächtiger Herr der Türke sei, „dass Ihm kein König oder Land,
es sei welch es wolle, allein gnug widerzustreben, es wolle denn
Gott Wunderzeichen thun"? Das Beten gegen den Türken ge-
hörte zu den verbreitetsten Pflichten der Geistlichkeit; in Zürich
ist über drei Jahrhunderte lang — von 1455, dem dritten Jahre
nach der Eroberung Konstantinopels, bis 1780 — täglich die
große Glocke am Großmünster geläutet worden, um zum Mittags-
gebet gegen die Türken aufzufordern.
in einem merkwürdigen Gegensatz zu dieser Türkenpanik der
Massen steht nun aber die Haltung der damaligen christlichen
Regierungen. In ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Prokla-
mationen sprechen sie allerdings häufig genug von der türkischen
Gefahr. Geistliche und weltliche Regierungen wussten, dass es
kein populäreres Schlagwort gab, um die Opposition ihrer Unter- •
tanen gegen neue Lasten zu überwinden, als wenn sie darauf
hinwiesen, die Kriegssteuer diene dem Schutze des Landes vor
den Ungläubigen. Die offiziösen Publizisten verwandten den Groß-
türken in den hundert Jahren, die als die Zelt der höchsten
Machtentfaltung der Türkei gelten können, etwa in den Jahren
1460 bis 1560, ebenso häufig als Nothelfer wie ihre Nachfolger
im siebzehnten Jahrhundert den Konfesslonalismus oder im neun-
zehnten das Nationalitätsprinzip. Eine Regierung musste sich
schon In einer ganz verzweifelten Lage befinden, wenn sie sich
entschloss, offen mit dem Großtürken anzubinden. Nichts hat
dem internationalen Ansehen Frankreichs Im sechzehnten Jahr-
hundert so geschadet wie das Bündnis, das sein König Franz 1.
mit dem Erbfeinde der Christenheit, dem türkischen Sultan, ab-
schloss, um sich der Übermacht Kaiser Karls 1. zu erwehren.
Aber alle diese Tiraden der Regierungen waren nur für die
Galerie bestimmt. In Wirklichkeit dachten und handelten sie
662
ganz anders. Mochte das Volk noch so sehr vor dem Ansturm
der Türken zittern, die militärischen und politischen Praktiker
glaubten nicht an eine türkische Gefahr im populären Sinne des
Worts. Die Regenten der von dem Vorstoß der Osmanen zu-
nächst bedrohten Länder wie Ungarn, Polen, Österreich und
Venedig haben zwar vielfach die übrige Christenheit zu Hilfe ge-
rufen und dabei ihre Lage in den schwärzesten Farben geschildert.
Aber wenn man das tatsächliche Verhalten dieser Regierungen
untersucht, so sieht man rasch, dass sie weit davon entfernt
waren, ihren Kampf gegen die türkische Ausdehnungspolitik für
aussichtslos zu halten und dass sie auch für den Fall, dass sie
von Europa im Stiche gelassen würden, ihre Sache nicht für
verloren ansahen. Die Politik der übrigen Staaten vollends hat
auf die Türkengefahr so gut wie gar keine Rücksicht genommen.
Die Herrscher der europäischen Großstaaten haben nicht einmal
dafür gesorgt, dass die an die Türkei unmittelbar anstoßenden
Länder sich ungestört ihrer Hauptaufgabe, der Bekämpfung der
Ungläubigen, widmen konnten. Sie haben im Gegenteil das
stärkste Bollwerk der Christenheit, die Republik Venedig, durch
Angriffskriege und feindliche Koalitionen so sehr geschwächt und
in Atem gehalten, dass die Türken schließlich sogar Morea und
beinahe den ganzen westlichen Balkan haben erobern können.
Auch wenn die Existenz eines christlichen Staates auf dem
Spiele stand, haben sie immer nur lässig und ungenügend Hilfe
geleistet.
Welche Auffassung stand nun mit den Verhältnissen im Ein-
klang? Waren die Volksmassen im Recht, die im Sinne Luthers
die Bewahrung Europas vor dem türkischen Joch einem Wunder,
nach unserer Ausdrucksweise einem Zufall zuschrieben? Oder
haben die Regierungen die Lage richtig beurteilt, wenn sie nicht
einmal durch die türkische Gefahr zu einer Konzentration der
christlichen Machtmittel, zu einem antitürkischen Staatenbund zu
bewegen waren?
Eine Antwort kann nur durch eine eingehende Analyse des
türkischen Wehr- und Verwaltungswesens zur Zeit der höchsten
Machtentfaltung des osmanischen Reiches gegeben werden.
Jedermann weiß, dass die Türken ihre Eroberungen nur ihrem
Schwert zu verdanken haben. Der kriegerische Nomadenstamm
663
aus der turkmenischen Sandwüste um Bocharä, der das türkische
Weltreich gegründet, hat seine Herrschaft Völkern aufgezwungen,
die nicht nur in Religion und Kultur, sondern auch in ihrer mili-
tärischen und politischen Organisation auf einer höheren Stufe
standen. Es können also nur militärische Leistungen den Grund
zu den gewaltigen Erfolgen der Türken gelegt haben. Worin be-
standen nun diese und worin ist speziell die Erklärung dafür zu
finden, dass die türkischen Heerscharen im fünfzehnten und sech-
zehnten Jahrhundert der Schrecken christlicher Armeen waren
und große altchristliche Gebiete wie den Balkan und Ungarn für
Jahrhunderte dem christlichen Europa abgewannen?
Fragt man gewisse moderne Autoritäten, so ist die Antwort
auf diese Frage nicht schwer zu finden. Es heißt da etwa, der
Grund der militärischen Superiorität der Türken sei in den krie-
gerischen Eigenschaften der Rasse zu suchen. Der echte Türke,
genügsam, ausdauernd, militärisch gesinnt, sei, besonders mit dem
sonstigen Völkergemisch des nahen Orients verglichen, der ge-
borene Soldat. Seine angestammten kriegerischen Qualitäten
hätten ihm natürlicherweise die Herrschaft über die Griechen und
Slawen des Balkans verschafft; sein schlichter, vornehmer National-
charakter habe ihn dann befähigt, diese seine Herrschaft mit Ehre
und Würde zu führen.
Diese Theorie ist außerordentlich bequem und besticht durch
ihre Einfachheit; sie hat leider nur den Fehler, dass sie mit den
historischen Tatsachen durchaus im Widerspruch steht. Sie mag
Touristen und Gelegenheitshistorikern imponieren; wer nur eini-
germaßen in der türkischen Geschichte Bescheid weiß, kann sie
nicht anders als mit Lächeln aufnehmen. Denn gerade das Ge-
genteil ist wahr. Die großen Siege der Türken sind von Truppen
erfochten worden, die weder türkisch noch genügsam noch der
militärischen Qualität nach hervorragend waren.
Die Truppen, mit denen die Türken das christliche Europa
bedrohten , bestanden nicht aus Angehörigen des türkischen
Stammes.
Den Kern der Armeen, mit denen die Sultane von Konsta-
tinopel Ungarn eroberten und Wien belagerten, bildete nicht der
türkische Soldat der Legende; er bestand vielmehr ausschließlich
aus den von modernen Autoritäten als unkriegerisch verschrienen
664
christlichen Völkern des Balkans. Die Hauptmasse lieferten
Griechen, Slawen und Albanesen. Nur aus diesen wurden die
gefürchteten Janitscharen geformt, die Truppe, die in der Türkei
geschaffen wurde, als sich die überlieferte barbarische Kriegs-
organisation gegen europäische Armeen als unzureichend erwies.
Die Rekrutierung der Janitscharen, des einzigen ständigen
Teils der türkischen Armeen, erfolgte nach einer ebenso einfachen
wie wirkungsvollen Methode. Jedes fünfte Jahr unternahmen die
Agenten des Sultans eine Aushebungstour durch die christlichen
Bezirke, musterten die Söhne der Bauern und wählten aus diesen
den fünften Teil zum Dienst im Janitscharenkorps aus. Den Vor-
zug erhielten natürlich die Kinder, die sich durch kräftige Kon-
stitution und Schönheit auszeichneten. Die ausgehobenen Knaben,
die Blüte der griechischen und slawischen Bevölkerung, wurden
dann zwangsweise zu Muselmanen gemacht und unter der Ober-
leitung des Sultans im Waffenhandwerk erzogen. Das gemein-
same Leben und die einheitliche Schulung, der sie unterworfen
wurden, verfehlte nicht, sie rasch gänzlich ihren Volksgenossen
zu entfremden. Sie wurden in ihrer Mehrzahl ihrer Gesinnung
nach vollständig zu Türken; viele waren fanatischer als die Os-
manen selbst und sahen mit Verachtung auf ihre christlichen
Verwandten herab ; sie fühlten sich nicht mehr als Griechen oder
Serben; sie waren nur noch Janitscharen. Durch ihre künstliche
Zusammensetzung des Janitscharenkorps hatte es die türkische Re-
gierung erreicht, dass bei den Ausgehobenen keine Verbindung
mit einem bestimmten Land oder Volk mehr bestand. Der Janit-
schare, der weder heiraten noch ein Gewerbe ausüben durfte,
der nirgends anders als in seinem Zelt oder seiner Kaserne woh-
nen durfte, besass keine andere Heimat als das Lager, keinen
anderen Vorgesetzten als seinen Offizier. Er war in keinem ande-
ren Staate Bürger als in seinem Korps; er hatte keinen anderen
Beruf als den des Kriegers. Er war mit seiner ganzen Existenz an
das Janitscharenkorps gebunden; hätte er desertieren wollen, er
wäre zugrunde gegangen wie ein Fisch, den man auls Trockene setzt
Diese türkischen Truppen waren nun aber nichts weniger
als genügsam.
Die Janitscharen erhoben vielmehr stets Anspruch auf regel-
mäßige reichliche Verpflegung und haben es durchgesetzt, dass
665
ihre Ansprüche von der Regierung erfüllt wurden. Das ganze
türkische Staatsbudget war darauf zugeschnitten, den Lebens-
unterhalt der ständigen Armee sicherzustellen. Der regelmäßige
Sold war sehr hoch und wurde nach schweren Waffentaten durch
einen Anteil an der Beute noch erhöht; die Sätze übertrafen in
beiden Fällen die Normen, die damals der Bezahlung von Söld-
nern zugrunde gelegt wurden. Wichtiger war, dass dieser V^er-
pflegungsapparat in einer damals sonst unerhörten Art glatt funk-
tionierte. Es kam in den guten Zeiten des türkischen Reiches
nicht vor, dass Proviantlieferung und Soldauszahlung monatelang
aussetzten, wie es in den Söldnerheeren der christlichen Staaten
beinahe die Regel war. Schon die Ausrüstung und Dienstsprache
der Janitscharen deutete darauf hin, dass die osmanische Regie-
rung der Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse die größte Sorg-
falt zuwandte. Auf der weißen Filzmütze der Janitscharen Stack
statt eines Pompons ein Löffel, der die Mannschaft daran erin-
nern sollte, dass sie das Brot des Sultan esse. Der Regiments-
oberst hieß „Tschorbadschi-Baschi" dass heißt „Ober-Suppen-
macher", die Offiziere unter ihm wurden als „Aschti-Baschi"
(Oberkoch) und „Sakkabaschi" (Oberwasserträger) bezeichnet.
Den Sammlungspunkt der Truppen bildeten weniger die Fahnen
als die Töpfe, in denen die Truppen ihre Suppe und ihren „Pi-
laf" (Reis mit Fleisch) kochten. Diese Töpfe oder „Ortas" nach
der türkischen Bezeichnung wurden bei den Paraden zur Schau
getragen ; eine Truppe, die sie verlor, galt als entehrt und als
offenes Aufstandszeichen wurde es aufgefasst, wenn die Töpfe
umgestürzt wurden.
Die Truppen waren nicht einmal im Trinken genügsam, wo
sie doch als Muhamedaner Enthaltsamkeit hätten erwarten lassen.
Trotz des Koranverbotes und trotz ihrer Erziehung im Islam
waren sie starke Weintrinker und besaßen sogar eigene Wein-
schenken in Konstantinopel, in denen dem Becher tapfer zuge-
sprochen wurde. Sie taten übrigens damit nichts anderes als die
große Masse der Türken. Erst das Aufkommen des Kaffees, das
in die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu setzen ist,
und noch mehr das Eindringen des Tabaks, den die Türken um
1600 von den Europäern übernahmen, haben den trotz Muha-
med außerordentlich stark verbreiteten Genuß des Weines in den
666
muhamedanischen Ländern eingeschränkt. Konstantinopel war
zur Zeit der höchsten Machtentfahung der Türkei voll von be-
trunkenen Türken und die Zahl der türkischen Wirtshaushocker
war sehr groß. Die Versuche einzelner fanatischer Sultane, das
Weintrinken der Janitscharen zu beseitigen, endigten mit einem
kläglichen Misserfolge. Die Tatsache mag mit den Theorien
moderner Apostel der Hygiene im Widerspruch stehen; — aber
der wahrheitsliebende Historiker muss bekennen, dass der Nie-
dergang der türkischen Macht zeitlich mit dem Ersatz des Alko-
hols durch das Nikotin und zugleich mit dem partiellen Ersatz
des christlichen Soldatenmaterials durch türkisches zusammen-
fällt. Unbefangene Kenner des modernen Orients haben übrigens
auch sonst schon darauf hingewiesen, dass der Wechsel der Ge-
nussmittel den muhamedanischen Ländern nicht nur von Vorteil
gewesen ist. Sie haben mit Recht bemerkt, dass der Hang des
Orientalen zu beschaulichem Nichtstun durch die Pfeife in be-
denklicher Weise gefördert worden ist.
Diese Truppe verdankte schließlich ihre Erfolge nicht spezi-
fisch militärischen Qualitäten.
Die Janitscharen waren zuverlässiger bezahlt und besser ver-
pflegt als die Söldner der christlichen Fürsten; aber was taktische
Schulung betrifft, waren sie ihnen nicht gewachsen. Die kompe-
ten zeitgenössischen Beurteiler sind darüber einig, dass die tür-
kische Infanterie der Fechtart nach weniger ausgebildet war als
die christliche. Ein venezianischer Staatsmann jener Zeit, der
Konstantinopel aus eigener Anschauung kannte, hat dies so deut-
lich wie möglich formuliert: „Der Vorzug der türkischen Heeres-
macht, heißt es da, liegt darin, dass die Mannschaft nicht aus
Mietlingen besteht, das heißt aus dem Ausland für eine gewisse
Zeit in Sold genommen wird, gleich den Schweizern oder An-
gehörigen anderer Länder, die von einem Fürsten angeworben
werden, und dass sie auch nicht von einem ausländischen Herr-
scher auf Grund eines Bündnisvertrages geliefert wird. Truppen,
die man auf diese Weise erhält, sind sehr unbequem und man
riskiert mit ihnen Ungehorsam, Untreue und Betrügereien (das
heißt Soldhinterziehungen, unrichtige Angaben über die Höhe der
Mannschaftszahl und dergleichen). Mit der türkischen Armee
steht es ganz anders. Sie gehört dem Sultan zu eigen, ist nicht
667
regimentsweise aus dem Ausland bezogen, sondern aus den ver-
schiedensten Ecken des Reichs in früher Jugend zusammengelesen
und gehört dank der ununterbrochenen Soldzahlung (das heißt
dank dem Umstände, dass der Sold nicht nur für die Dauer
eines Feldzuges bezahlt wird) und ihrer eigentümlichen Disziplin
gänzlich dem Sultan zu. Daraus entspringt der große Vorteil,
dass sie gehorsam und treu sind und Mannschaft und Offiziere
sich kennen. Ferner sprechen sie nur eine Sprache, was eben-
falls recht bequem ist (der Venezianer denkt hier an die häufigen
Streitigkeiten, die in den christlichen Söldnerheeren zwischen
den Angehörigen verschiedener Nationalitäten auszubrechen
pflegten). Auf der andern Seite besitzen die Janitscharen weder
taktische Ausbildung noch Disziplin noch die den christlichen
Soldaten eigentümliche Verschlagenheit. Sollten gleichstarke Heere
von christlichen Söldnern und Türken miteinander zutun bekom-
men, so wären die Türken sicherlich im Nachteil."
Das Urteil, das der venezianische Staatsmann über die tür-
kischen Truppen abgab, ist mehr als die persönliche Meinung
eines einzelnen. Es wird durch die geschichtlichen Ereignisse
durchweg bestätigt und die Jahrhunderte, die seitdem dahinge-
gangen, haben keine Tatsache zu Tage gefördert, die geeignet
wäre, die Richtigkeit dieser Charakteristik in Zweifel zu ziehen.
Die militärische Superiorität der Türken beruhte letzten Endes
nur darauf, dass der Sultan über ein Korps verfügte, das wenig-
stens in Kriegeszeiten unbedingt gefügig war und durch ein vor-
treffliches Finanzwesen bei guter Laune erhalten wurde, während
die christlichen Fürsten mit unzuverlässigen fremden Truppen ar-
beiten mussten, die infolge der unregelmäßigen Soldzahlungen
beständig zur Meuterei geneigt waren. Es ergibt sich daraus auch
ohne weiteres, dass der Erfolg den Türken nur so lange treu
bleiben konnte, als die christlichen Staaten an der im fünfzehnten
und sechszehnten Jahrhundert üblichen Organisation des Wehr-
wesens festhielten. Ich denke dabei nicht nur an die Institution
der Söldnertruppen. Die Türken haben einen Teil ihrer Siege
auch dem Umstände zu verdanken, dass sie mit ihrem Janit-
scharenkorps zum ersten Male seit den Zeiten der Römer die
militärische Schwerkraft wieder auf die Infanterie verlegten; sie
668
haben noch früher als die Schweizer die mittelaherh'che Ritter-
taktik zugunsten der wirksameren modernen Fechtart aufgegeben.
Nun liegt allerdings der Einwand nahe, dass diese Auffas-
sung der Dinge dem militärischen Genie der türkischen Nation
Unrecht tue. Wenn auch die Mannschaft des türkischen Elite-
korps ausschließlich aus Nicht-Türken bestanden habe, so sei
doch wenigstens die Gründung der Janitscharen selbst als eine
große Leistung des türkischen Geistes zu bezeichnen und das
Oberkommando habe schließlich doch in türkischen Händen ge-
legen. Dieser Einwand ist zum Teil richtig, aber auch nur zum
Teil. Es trifft allerdings zu, dass die Organisation des Janit-
scharenkorps, soviel wir wissen, türkischer initiative entsprungen
ist, und dieses Verdienst wird niemand schmälern wollen. Man
könnte freilich darauf hinweisen, dass die Idee nahe lag und
gleichsam durch die Verhältnisse geboten wurde. Die Türken
bildeten in den eroberten europäischen Landstrichen nur einen
ganz geringen Bruchteil der Bevölkerung; sie konnten ihre herr-
schende Stellung nur behaupten, wenn sie ihre numerische Schwäche
durch einen Soldatentribut aus den unterworfenen christlichen
Massen ausglichen. Aber es war trotzdem eine große Tat, dass
der Gedanke, der diesem genialen Ausnutzungsprojekt zugrunde
lag, nun auch wirklich ausgeführt wurde. Der Fall, der durch die
Türkenherrschaft in Europa geschaffen wurde, war ja durchaus
nicht Singular. Es ist auch sonst mehrfach vorgekommen, dass
ein kleiner, nomadisierender Kriegerstamm ein großes, ihm in
der Kultur überlegenes und im Glauben abweichendes Volk unter
seine Botmäßigkeit gezwungen hat. Aber in keinem anderen Falle
hat das herrschende Volk durch eine so originelle Erfindung da-
für gesorgt, dass das zahlenmäßige Missverhältnis nicht zu einer
militärischen Dekadenz, zu einer Schwächung des Staates gegen-
über dem Auslande führte.
Weniger Gewicht kann man dem zweiten Einwand beilegen.
Zwar können selbst die Sultane, die aus dem Geschlechte Os-
mans stammen mussten, nur als Halbtürken gelten; denn unter
ihren Müttern finden sich Russinnen, Albaneserinnen, Cirkassie-
rinnen usw. Aber unter den höheren Beamten und Offizieren gab
es sicherlich eine ganze Reihe echter Türken. Nur waren diese
gerade zur Zeit der höchsten Machtenfaltung des Reiches viel
669
weniger zahlreich als man gewöhnlich annimmt. Die türkischen
Sultane haben, als sie den byzantinischen Verwaltungsmechanismus
übernahmen, auch den griechischen Amtsadel in großem Umfange
beibehalten. Viele christliche Familien haben damals ihren Glauben
abgeschworen, um der türkischen Regierung ihre Dienste anbieten
zu können. Ferner haben unter denen, die zuerst vor diesem
Schritte zurückschreckten, viele ihn später nachgeholt. Gerade
aufgeweckte, politisch und militärisch begabte Köpfe, die innerhalb
der den Griechen allein noch offen stehenden kirchlichen und
Handelskarriere nicht verharren mochten, haben sich in großer
Anzahl dem türkischen Regime zugewandt. Es war dazu nie zu
spät; denn die türkische Regierung kannte kein Misstrauen gegen
Renegaten. Sie hat sogar, wenn es nicht anders ging, Christen
bis zu den obersten Stellen zugelassen, wie in jener Zelt einmal
den natürlichen Sohn eines venezianischen Patriziers. Sie fragte
nie nach Abstammung oder Familie. Noch in höherem Grade
als unter Napoleon war jedem Talente freie Bahn geöffnet. Von
48 Großwesieren entstammten nur 12, also nur ein Viertel, muha-
medanischen Eltern, und dabei ist erst noch zu bedenken, dass
muhamedanisch nicht mit alttürkisch gleichgesetzt werden darf,
dass die muhamedanischen Eltern vielmehr zu einem guten Teile
ehemals griechischen oder slawischen Familien angehört haben
können. Gerade die bedeutendsten Wesiere des großen Sultans
Solimans des Prächtigen, des Zeit- und Bundesgenossen des
französischen Königs Franz 1., waren nicht türkischer Herkunft.
Drei waren Albanesen, zwei Dalmatiner und einer ein Bosniake;
noch als Großwesier hat dieser seinen slawischen Ursprung durch
seinen Beinamen „Sokol" oder der „Falke" deutlich bezeichnet.
Die türkische Flotte wurde damals nach einander von einem
Christen aus Kleinasien, einem Kroaten, zwei Lesbiern und einem
Albanesen kommandiert. Ebenso hielten sich die Wesiere und
die übrigen Würdenträger des Reiches mit Vorliebe christliche
Diener, von denen dann wieder ein Teil zu den höchsten Stellen
des Staates gelangte. Nicht die Reinheit des Blutes, sondern ganz
im Gegenteil die absolute Vorurteilslosigkeit der türkischen Re-
gierung in allem, was Abstammung und Rasse betraf, die sozu-
sagen demokratischen Grundsätze, die bei der Auswahl der Be-
amten obwalteten, sind für die Erfolge der Türken zu einem guten
670
Teile verantwortlich zu machen. Die Gefahr, dass wichtige Stellen
im Staate von unfähigen Mitgliedern privilegierter Familien er-
sessen wurden, war in der Türkei geringer als in den christlichen
Ländern.
Die Vorteile dieses liberalen Regierungssystems sind damit
noch nicht einmal erschöpft. Dank ihren toleranten Verwaltungs-
grundsätzen hat die Türkei auf alle freier gesinnten und in ihrer
Heimat zurückgesetzten Bevölkerungsschichten der Christenheit
eine nicht geringe Anziehungskraft ausgeübt. Moderne Türken-
schwärmer schätzen die Türkei wegen ihrer romantischen Behag-
lichkeit und der Poesie ihres ruinenhaften Staatswesens. Ihre
Freunde im sechzehnten Jahrhundert dachten ganz anders. Sie
fühlten sich durch ihre modernere, rationellere und auch huma-
nere Regierungspraxis zu ihr hingezogen. Liest man die Schriften
Luthers, so ist man verwundert, zu sehen, mit welcher Heftigkeit
der Reformator glaubt, gegen die zeitgenössischen Türkenschwärmer
losziehen zu müssen, und aus seinen vehementen Äußerungen
ergibt sich, dass er seine Gegner nur mit Scheingründen wider-
legen kann. Was ließ sich Beweiskräftiges einwenden, wenn die
Türkenfreunde die religiöse Toleranz des Großtürken der Inqui-
sition und den Glaubenskriegen des damaligen Europa vorzogen?
Und wenn Luther gegen das „münzerische Wesen" der Türken
wetterte, das heißt das türkische Regime mit den Projekten eines
wiedertäuferischen Bauernführers auf eine Stufe stellte, so lag ge-
rade darin, dass die Türkei die Kastenprivilegien deutscher Klein-
staaten nicht kannte, die Anziehung begründet, die sie auf dar-
niedergehaltene Existenzen ausübte.
Jedenfalls waren unter den christlichen Völkern, die der
Türkei zunächst wohnten, nur wenige der Ansicht Luthers, wenn
man von der Klasse der Herrschenden absieht. Auf dem Balkan
und in Ungarn zog die Bevölkerung die türkische Herrschaft der
habsburgischen im allgemeinen bei weitem vor, und selbst die
kluge Verwaltung der Republik Venedig hat es nicht verstanden,
populärer zu werden als das türkische Regime.
ZÜRICH E. FUETER
(Schluss folgt)
D Q D
671
PHILIPPE MONNIER
Si jamais vocation d'ecrivain fut imperieuse, c'est bien celle
de Philippe Monnier. II ne se croyait pas fait pour autre chose
que pour ecrire. Comme Flaubert dit de Bouilhet, il etait de ces
etres singuliers pour qui „les accidents du monde, des qu'ils sont
per<;us, apparaissent comme transposes pour l'emploi d'une Illu-
sion ä decrire, tellement que toutes les choses, y compris l'exis-
tence, ne semblent avoir d'autre utilite." 11 fut ainsi des son en-
fance et toujours considera le monde, la nature, la vie, l'homme
enfin, comme des choses qui sont faites pour l'art. Bref, il etait
artiste dans le sens le plus exclusif du terme.
Un tel etre devait detonner ä Geneve, ville d'austere labeur
oü l'art a toujours ete mis au Service des idees, et je crois bien
que les nombreux Zacharie qui vivent dans la cite consideraient
un peu le fils Monnier comme un hurluberlu. 11 ne dressait point,
en effet, de statistiques ou de bilans, ne reunissait point de
plantes dans un herbier, ne presidait aucun comite, ne dirigeait
pas de classe: il faisait des vers.
Poete, Monnier le fut jalousement. II faut l'avoir connu vers
ses vingt ans pour savoir tout ce que son äme recelait de poe-
sie. L'une de ses premieres oeuvres est une piece lyrique, Par les
bois, qu'il fit jouer ä une soiree d'etudiants, ä Belles-Lettres. Qui
ne se souvient de cette delicieuse fantaisie shakespearienne, ailee,
vibrante, rimee ä la Banville? Personne ne savait comme Philippe
Monnier claironner un beau vers. Je le vois encore, le beret
incline sur sa tete chevelue dont les longues boucles descen-
daient sur ses epaules ä la maniere d'un roi Merovingien. De
sa voix chantante, legerement emphatique, il lan^ait dans le ciel:
Un frais parfum sortait des touffes d'asphodele,
Les Souffles de la nuit flottaient sur Galgala . . .
ou encore:
Et Ruth se demandait
Que! Dieu, quel moissonneur de reternel ete
Avait, en s'en ailant, negligemment jete
Cette faucille d'or dans le champ des etoiles.
Tout ce passe revit dans le charmant volume de vers, Rimes
d'ecoliers (1891), qui fut son livre de debut. Et pourtant il pre-
tendait que c'etait l'adieu fait ä la poesie des vers:
672
Bruits de pipeaux qu'un souffle empörte
Pleurs de rosee et de printemps -^,
Mais les chansons ont fait leur temps
Mais l'ecole a ferme sa porte.
L'ecole avait peut-etre ferme sa porte, mais les chansons
n'avaient point fait leur temps. Philippe Monnier se contenta de
leur donner une autre forme. Dans les annees qui suivent, on le
voit publier deux volumes d'esquisses et de portraits, Vieilles
femmes (1895) et Jeunes menages (1899), oü, tour ä tour lyri-
que et sentimental, ironique, malicieux et gai, il cree ces deli-
cieuses figures, Fleur de Mauve, tante Luce, Sylvestre Lapalud,
Mademoiselle, La Cigale, qui sont parmi les plus delicates crea-
tions de son Imagination. Monnier n'avait peut-etre pas le don
d'inventer des histoires, mais il avait le don plus rare de voir
et de rendre les choses.
Combien y a-t-il de gens, disait Theophile Gautier, qui, en
entrant dans une chambre, savent voir la couleur du papier? Phi-
lippe Monnier savait toujours voir la couleur du papier et il sa-
vait voir bien autres choses encore. Ce myope etait un homme
pour qui le monde reel existe. Aucun detail n'echappait ä son
oeil penetrant. II avait le sens des nuances. En quelques traits il
fixait un lieu ou un paysage, le salon rococo de tante Luce, la
vieille ferme genevoise aux tuiles courbes, le verger fleuri apercju
ä travers la claire-voie. Et, se rendant compte que sa vocation
etait non de raconter, mais de peindre, il se mit ä peindre et
devint historien.
Ce fut par l'Italie qu'il commen^a et par la Renaissance. II
faisait un sejour ä Florence. II vit tout, les monuments, les Oeu-
vres d'art, les hommes. Curieux et fureteur il remonta dans le
passe et voulut connaitre l'origine des choses. Alors ä ses
yeux emerveilles se deroula le Quattrocento sur leque! il fit
un beau livre^). Philippe Monnier avait le goüt de l'erudition.
En toutes choses il fallait qu'il remontät aux sources, qu'il tou-
chät la date sure, le detail verifie, le document incontestable.
Mais quelle vie il savait donner ä cette matiere inerte! L'histoire
sous sa plume devenait, comme pour Michelet, une resurrection.
1) Le Quattocento. Essai sur Thistoire litt^raire du XV^c siöcle italien
2 volumes. Paris, Perrin, 1901.
673
Et comme il savait bien saisir l'essentiel, le significatif. En quel-
ques traits il campe ses personnages et nous fait de merveilleux
portraits du prince, du condottiere, du spadassin, du prelat, du
frere precheur, de la matrone, de rhomme du peuple. Dans des
tableaux curieusement fouilles, il fait revivre avec une rare
verite la Naples des Aragon, la Florence de Laurent le Magnifique,
la Rome des grands papes, Ferrare au temps des d'Este.
Et encore le Quattrocento n'etait pas l'epoque historique la
plus congruente au genie de Philippe Monnier. Sa nature plus
delicate que forte ctait moins attiree par les siecles de puissante
seve animale que par les siecles de civilisation raffinee et un
peu alanguie. A cet egard le XVII l"'^ siecle franq:ais avait tou-
tes ses preferences. 11 faut l'avoir entendu parier des poetae
minores de ce siecle ou de ses peintres comme Fragonard, Wat-
teau ou Chardin pour voir avec quelle intensite il sentait cet
art petri d'elegance et de gräce. A defaut du XVIII'"^ siecle fran-
^ais, sujet trop vaste pour qu'on püt l'embrasser dans un livre,
il se mit ä etudier la Venise du XVllI"'^ siecle.
Ce sujet qu'il devait traiter quelques annees apres son retour
d'ltalie, il le porta longtemps dans sa tete et dans son coeur^).
Je me souviens que la premiere idee lui en vint quand il etait
etudiant. Nous venions de lire le Theophile Gautier d'Emile
Bergerat oü en quelques lignes se trouve evoquee la prestigieuse
cite: „C'est le dix-huitieme siecle avec ses mille corruptions, ses
elegances, son esprit et son insouciance du lendemain, dans le
cadre le plus luxueux, sur le fond le plus feerique qui se soit
Jamals presente ä l'imagination d'un poete, qui ait defie la Pa-
lette d'un coloriste." Enthousiasme, il s'ecria: „C'est le livre que
je veux faire!" Et Ton sait avec quel art il a etoffe sa matiere.
Entre temps, rentre ä Qeneve et ressaisi par les choses ge-
nevoises, Monnier n'eut d'abord d'yeux que pour les affaires de
sa ville natale. Son sejour d'ltalie eut cela de bon qu'il lui fit
comprendre ä quel point il l'aimait. Comme Dickens qui ä Rome
regrettait ä Noel les brouillards de Londres, Monnier ä Florence
eut l'äpre nostalgie de la grise et austere cite qu'il appelle quel-
que part „l'exquise cite de Decembre, ä la bise aux aiguilles
^) L'ouvrage parut en 1907 ä Paris et ä Lausanne. II fut couronne en 1908
par rAcademie fran^aise.
674
coupantes, ä la robe de brume estompant les contours". Aussi,
plein d'allegresse des qu'il en foule le sol, il se met ä raconter
son histoire. II le fait dans trois livres qui restent ce qu'il a
ccrit de plus exquis, les Causeries genevoises (1902), oü est re-
trace l'histoire des moeurs de la cite, le Livre de Blaise (1904)
qui raconte l'histoire de l'Ecole, si caracteristique de la vie ge-
nevoise, Mon village (1910) qui est un tableau de la vie rustique.
Car Monnier genevois est ä la fois citadin et campagnard.
11 naquit dans la vieille ville, ce quartier de places tranquilles, de
rues decentes aux anciens hötels spacieux et calmes que bätirent,
voilä des siecles, des architectes qui etaient des homme de goüt.
Et revenu se fixer dans ce decor de solitude, de silence et de
regrets des choses passees, c'est dans cette elegance discrete des
vieux pignons, des rampes en fer forge delicatement ouvrage,
des hautes fenetres ä guillotine, des fontaines ä l'eau couleur de
mousse, des jardins clos etages en terrasse, qu'il decrivit les
moeurs de la cite nouvelle.
Et qu'on n'aille point croire qu'il vit ces moeurs au travers
d'un ideal suranne. Monnier, poete, est debordant de Sympathie
pour toutes les manifestations de la vie. Avec quelle joie d'ar-
tiste il peint les quartiers populaires aux maisons perimees et
richement culottees, les apprentis, les balandriers, les echoppes
et mansardes, les hotelleries aux enseignes multicolores, les trap-
pons de caves qui s'ouvrent ä fleur de terre. Par dessus tout
le ravit Saint-Gervais qu'il decrit „le faubourg laborieux, gouail-
leur, narquois, gourmand, grouillant de mioches, de commeres,
d'oiseaux, de fleurs, d'artisans et de petits chiens; le faubourg
des enfonces et des enfilades, des cours riches de suie; le fau-
bourg du bon peuple qui pousse le soufflet et la varloppe, manie
le burin ou la gouge, eleve des canaris et des capucines, fre-
quente l'estaminet et fait le change".
Puis, dans Mon village, Monnier evoque la vie campagnarde
des vieilles communes genevoises, nous decrit „sa vieille maison
de paysan plantee au milieu du pre, avec sa grange en plein
cintre, son soll de sapin rougi par les annees, son ecurie tour-
nee au couchant, son petit escalier exterieur sous l'auvent incline.
la robe de feuilles vertes, de rosiers et de dematites qui la re-
675
couvre, la cour oü picorent les poules, la pompe et le tilleul
dont les branches basses s'inclinent sur le banc de molasses
usees et scelle ä meme la paroi, ä cote de la porte." Et autour
de cette maison que reconnaissent tous ceux qui y ont trouve
une si cordiale hospitalite, il peint la vie rustique des hommes,
les betes qui rentrent de l'abreuvoir, le vitrier qui passe, le re-
mouleur qui va de porte en porte querir l'ouvrage et s'etablit
sous le tilleul, pres du lavoir, les femmes qui ä la tombee de
la nuit frappent dans leurs mains pour rappeler leurs poules;
ou bien le village lui-meme avec ses chemins bordes de ronces
et de chevre-feuille, son petit cimetiere envahi d'herbes qui se
blottit autour de l'eglise, sa gentilhommiere dechue, sa comman-
derie abandonnee, son marche qui remplit la grenette de cochons,
de cotonnades, de cages ä poulets, de terrailles de fromages et
d'odeurs. Dans tous ces tableaux on sent une äme de cam-
pagnard qui, force de vivre en ville, garde la nostalgie des grands
horizons et du calme des champs. „Au fond quand on y pense,
dit-il avec regret, si peu de chose suffit ä notre bonheur. On
va, on vient, on court; on cherche avidement des motifs ou des
spectacles; et Ton oublie que le bonheur est lä sous la fenetre
avec la grive qui y chante."
♦
Philippe Monnier n'avait pas seuiement la nostalgie des champs,
il avait aussi la nostalgie du passe. Cette äme de poete aimait ä
vivre avec les choses qui ont vecu. De la Geneve du present i!*
remontait volontiers ä la Geneve de l'histoire dont il con-
naissait les moindres recoins, la Geneve episcopale aux foires
frequentees par les Lombards, la Geneve de Calvin „l'homme
au serre-tete noir, ä la face jaune, ä la barbe longue comme
un fil", la Geneve du KVIl^"« siecle, active pepiniere de theolo-
giens et de juristes, la Geneve du XYIII"^^ siecle, bourdonnante
et fievreuse, passionnee de politique, la Geneve de la Revolution
et de l'Empire qui contre vents et marees sut maintenir intactes les
deux institutions vitales de la cite, l'Eglise et l'Ecole, et surtout
la Geneve de la Restauration pour laquelle Monnier avait un ve-
ritable culte.
S'il aimait tant cette Geneve, c'est qu'il croyait que lä
s'etaient le mieux affirmees les qualites de la race. Apres
676
la dure contrainte de la domination napoleonienne, la republique
se retrouve et veut jouir de son bonheur. Toutes les querelles
sont oubliees, il n'y a plus qu'une äme et qu'un coeur. „Avec
la liberte rendue, dit Monnier, il semble que plus d'air entre dans
les poltrines, que plus de sang se met ä courir dans les veines,
qu'un mouvement plus rapide et plus joyeux entraine la Repu-
blique vers des destinees nouvelles. Elle s'ingenie, s'industrie, s'ap-
plique, se developpe dans tous les sens, se Signale dans tous les
domaines, se distingue par tous les cötes."
C'est cette histoire que Philippe Monnier voulait ecrire quand
la mort le surprit. II la possedait ä fond, car eile avait ete la
grande passion de sa vie. On peut dire qu'il en avait tout lu et
tout scrute. 11 en connaissait les hommes, les monuments, les
livres, les portraits, les vieux meubles, les costumes et les gra-
vures. Dans ses mains avaient passe une foule de papiers jau-
nis, iettres, memoires, documents de familles. Et de tout cela i!
avait compose dans son cerveau le plus beau tableau qu'on püt
faire.
Heureusement que tout n'a pas ete perdu de ce tableau. Dans
riiiver de 1908 ä 1909, Philippe Monnier fit dix Conferences sur
la Geneve de Töpffer. Ceux qui les ont entendues en ont garde
un Souvenir inoubliable. Jamals l'ecrivain ne fut plus brillant,
plus seduisant, plus persuasif. Et s'il improvisait dans la joie, on
sentait derriere une documentation puissante. Ceux qui ont vu
travailler Monnier savent qu'il elaborait patiemment ses sujets
dans sa tete. De lä la forme definitive qu'il leur donnait quand
il prenait la plume. Ayant dicte ces Conferences ä son secretaire.
on les retrouva dans ses papiers et on put les publier^).
C'est la famille, aidee d'amis, deux pasteurs Iettres, MM. Gam-
pert et Genequand, qui a fait cette publication. On a donne le
manuscrit tel quel, et il se trouve que c'est une oeuvre tres litte-
raire. Ce n'est parfois qu'un crayon, mais combien expressif!
Monnier qui burinait tant son style, n'eüt sans doute rien ajoute
d'essentiel ä cette ebauche oü il se donne avec une fralcheur.
une spontaneite qui se serait peut-etre attenuee dans une a^uvre
plus travaillee. Je ne sais pas pourquoi ces fragments me fönt
songer aux pensees de Pascal. Je ne veux evidemment point
») La Geneve de Töpffer, Geneve, Jullien 1914.
677
etablir de parallele entre deux oeuvres si differentes; mais par
ses raccourcis puissants, Monnier fait souvent songer au grand
prosateur du dix-septieme siede.
Monnier nous a dit lui-meme pourquoi il appelait son livre
la Qeneve de Töpffer „C'est, dit-il, qu'il ne raconte ni l'histoire
politique ni l'histoire economique, ni l'histoire religieuse, sociale
ou litteraire, mais les mcEurs." Et il ajoute: „Ces moeurs, c'est
Töpffer, le vieux . mattre disparu, qui les a le mieux decrites, le
mieux aimees, en a fait le mieux aimer le charme modeste, la
douce honnetete, les vertus paisibles dans ses romans, ses nou-
velles, ses articles, et qui les a le mieux defendues dans son
Courrier: Mon bon peüt gouvernement, ecrivait-il en pleurant, le
22 novembre 1841, ä Auguste de la Rive".
Ce bon petit gouvernement de la Restauration, Monnier
l'adore aussi. 11 trouve qu'il y eut ä ce moment, pour servir la
Republique, une phalange incomparable d'hommes d'Etat, de sa-
vants, de penseurs, de lettres, tous ardemment patriotes et mus
par cet unique souci de rendre ä Geneve la place qu'elle occupait
autrefois dans le monde. On sait combien ils y reussirent. En
quelques annees la cite se metamorphose. Elle redevient la ruche
bourdonnante et active qu'admirait Voltaire et qu'il comparait ä
une cite de Myrmidons oü ergotent vingt-cinq mille raisonneurs.
Les institutions scientifiques ou Celles de bienfaisance s'y multi-
plient. 11 n'est obscur citoyen qui ne veuille avoir sa part ä la
täche. Et Geneve de nouveau cree et rayonne sur le monde.
C'est ce travail que Monnier etudie non en pages abstraites,
mais en tableaux vibrants de couleur. II fait d'abord le ta-
bleau de la ville. Elle est encore ceinte de remparts et garde
quelque chose de la rusticite de jadis. On bat et on refait les
matelas sur les places. On etend du linge sur la Treille. Des
poules picorent au Bourg-de-Four. A Rive, autour des hötelleries,
on voit des pataches du Faucigny, des berlingots crottes de hobe-
reaux, des paysans des Bornes ä cheveux ä queue et habit de
ratines, des ;faces rejouies de eures, des bonnets ronds de Sa-
voyardes, des bonnets de mousseline brod^s de Vaudoises. Des
multitudes d'etrangers passent ä ce moment ä Geneve, „Anglais
ä casquette de loutre, ä redingotes de serge blanche et longues
guetres de Casimir; carricks, spencers, palatines, chäles — quan-
678
tjte de chäles — rouges, bleus, jaunes ou bien vert clair avec
une petite bordure lilas."
Ce meme talent de peindre, Monnier le garde quand il etudie
la vie politique et ia vie intellectuelle de la cite. On voudrait
pouvoir citer ses portraits des grands hommes d'alors, Ami Lul-
lin, Sismondi, Pyramus de Candolle. Rietet de Rochemont, Guil-
laume Favre, Etienne Dumont, Lullin de Chäteauvieux, Bellot,
Pierre Huber, Auguste de la Rive, Adolphe Pictet. Tous ces
hommes, selon les paroles de M^"^ Necker de Saussure, sont des
noms europeens. 11s le sont meme si bien qu'ils ont cree
un Organe encyclopedique et cosmopolite, la Bibliotheque univer-
selle, chargee de faire connattre au monde les idees et les choses
de Tetranger. „Nos voisins Vaudois, dit Philippe Monnier, ont
souri quelquefois, sans mechancete d'ailleurs, de ce titre auda-
cieux la Bibliotheque universelle de Geneve. 11s ont eu tort. La
Bibliotheque universelle etait bien universelle et, etant universelle,
eile tut bien un jour de Geneve."
Nous ne pouvons suivre Philippe Monnier dans le tableau
qu'ii fait de la vie religieuse ou dans celui plus brillant encore
de la vie de societe. Ses pages sur l'aristocratie — incarnee sur-
tout par Bonstetten, böte de passage qui finit par s'incruster dans la
ville chere ä son coeur — ; sur les femmes genevoises qu'il de-
crit instruites, reflechies, mais denuees d'imagination; sur la
bourgeoisie, lettree, probe et gausseuse; sur le peuple qu'il retrouve
aussi ä Saint-Gervais, sont excellentes. Des gens qui ont mal lu
son livre, voudraient faire de lui un admirateur exdusif de l'aristo-
cratie. Quelle erreur, c'est bien plutöt avec le peuple qu'il sym-
pathise. Je me souviens de la joie qu'il manifestait, quand, etudiants.
nous faisions des tournees au Faubourg, chez la mere Tant-Pis ou
au cabaret Jacques. Cette joie on la retrouve dans le chapitre
grouillant de vie qu'il a ecrit sur Saint-Gervais et qui fait songer
pour la rutilance ä une Kermesse de Teniers. Oyez plutöt:
Au faubourg, dit-il, la vie est cordiaie, presque rurale. On vit en plein
air, loin des maisons trop sombres et trop tristes, dans la familiante de la
rue, devant les seuils oü les femmes s'installent, sur des chaises basses, ä
coudre, ä tricoter des bas, ä ^plucher des l^gumes pour leur soupe. Des
jeunes filles jouent sur les paves pointus au volant ou aux gräces. üevant
le trou noir d'une allee, des gamins discnt leur empro; des messagers,
leur boTte en fer blanc ä la main, s'arretent autour du chanteur de com-
679
plaintes, du joueur d'orgue de Barbarie, du saltimbanque, du montreur
d'ours. Des cabinotiers en blouse, l'abat-jour vert sur le front, traver-
sent la Chaussee. Des dialogues s'engagent avec les femmes du manche :
on s'assied sur une courge et Ton cause. Des polissons s'abadent au fil
du Rhone, du moulin Pelaz au pavillon de Sous-Terre, et, en plongeant,
ils poussent leur cri: Thiaou! Mon fond! Des cris retentissent: A la
greube! au raisson! aux chantemerles ! aux seraces! aux bonnes
tommes! aux heiles feras! Des rondes se tournent dans le crepuscule
qui tombe: celle du Rosier, du Rossignol, de l'Ane . . . Passent des
types connus qui profilent sur le mur leur Silhouette falote. Passe Rey,
de Cornavin, dit Trimolet, battant le briquet, dit Septante-sept, les jambes
en serpette, dit la Matoque, dit la Qriote, dit Babylone ... Et partout 11
y a des ribambelles denfants, ä crier, ä sauter, ä se pousser, ä suivre le
tambour de la garde soldee, ä escorter Francou, ä galavarder autour des
fontaines, ä s'amuser comme ils peuvent, avec den, avec leurs doigts, avec
leur joie, ä jouer au corbillon ou ä chanter ä l'escargot:
Escargot biborgne,
Montre-moi tes cornesi . .
Que nous voici loin de la Ville-Haute! Que nous voilä loin encore des
Rues-Basses ! U y a des estaminets, des debits de tabac ä l'enseigne de
la carotte, des boutiques de barbier ä l'enseigne du plat ä barbe. 11 y a
des caves. 11 y a des odeurs de victuailles et de mangeaille. 11 y a des
ecritaux oü c'est ecrit dessus: Ici on löge ä pled! Des hardes sont sus-
pendues ä des cordes. Des fleurs s'epanouissent dans des toupines, et dans
l'ombre des arriere-cours, sur les grisailles des balandriers, se profile la
gräce d'une balsamine . . . Tout grouille de mouvement, d'allegresse et
de vie. On sent un peuple plus pres de la nature et plus pres des origines,
un peuple instable, mobile, spontane, inquiet, tumultueux et turbulent; un
peuple ayant la tete pres du bonnet, l'enthousiasme, l'indignation, la colere
spontanee; un peuple qui s'en va ä la statue de Jean-Jacques comme ä
un lieu de pelerinage et qui, comme les Allobroges d'autrefois, semper nova
petentes, demande toujours des choses nouvelles, qu'aucune discipline ne
morigene et qu'aucune victoire ne satisfait; qui se cabre, puis qui s'aban-
donne; qui se revolte, puis qui s'oublie.
En face de la colline oü l'on prie, c'est la colline oü l'on travaille et
oü l'on s'insurge; quelque chose comme sous la Convention, le Faubourg
Saint-Antoine ä Paris, l'antithese, le correctif et le tourment de la Ville-
Maute.
J'ai tenu ä citer cette page car eile est bien expressive de
l'art de Philippe Monnier. Son style, toujours plastique, net et
direct, n'a rien de la grisaiile romande; par son vocabulaire con-
cret il se rattache ä la grande tradition fran^aise, ä celle de La
Bruyere, de Voltaire, de Fiaubert et d'Anatole France. Monnier
est un de nos grands ecrivains romands et, ä l'heure actueile, il
est, avec Ramuz, !e seul qui ait chance de durer.
680
Et ce qu'il faut souligner aussi dans cette oeiivre c'est le
haut esprit dont eile s'inspire. Warrant la Revolution de 1846,
Monnier ne cele point les fautes de raristocratie genevoise qui
tut aussi obtuse et fermee aux le^ons de l'experience que les
aristocraties des autres pays. Et, relevant le fait, il ajoute:
Les affaires pubiiques, oü eile temoigne, oü eile a temoigne de tout
temps un tel devouement et un tel patriotisme, qu'elle a faites siennes par
une longue tradition, sont regardees par eile comme des interets de fa-
mille. Et cela est tres beau. Mais il s'en suit qu'elle n'aime pas beaucoup
que les autres s'en occupent, qu'elle renie ä s'expliquer, que volontiers
eile decide et regle tout sous le manteau de la cheminee. — Et il y a
des gens qui pensent que les affaires pubiiques ne sont pas la chose d'un
seul mais le soin de tous.
Ainsi revitlagrande äme de Philippe Monnier qui pouvait avoir
ses preferences politiques mais qui sut toujours s'elever au-dessus
des disputes des partis. C'est la le^on qu'il tire de son etude et il
la donne ä mediter ä ses concitoyens. „J'ai pense, dit-il, qu'ä
i'epoque oublieuse et pressee qu'est la nötre, il ne serait peut-
etre pas tout ä fait inutile de faire le bilan de nos tresors. J'ai
pense qu'on y trouverait peut-etre non un exemple ä suivre —
car le passe est le passe et jamais rien ne se repete — mais
une source d'emotion salutaire, un contact tonifiant. des raisons
d'admirer et des raisons pour agir".
Les morts ont aussi ä faire entendre leur voix. Ecoutons
Celle de Philippe Monnier. Son livre est un acte.
ZÜRICH ANTOINE GUILLAND
Dan
Notre civilisation pressee, notre civilisation maussade et sans nuances
distingue le majeur du mineur, i'homme de l'enfant, l'etudiant du collegien ;
eile n'accorde point de place, eile ne reserve point d'espace ä Cherubin.
Nos lois, nos programmes et nos grammaires ont tue Cherubin. Sur quel
banc peut-il s'etendre et sous quel arbre peut-il rever? De l'adolescent
sveite et espiegle qui egrene sa petite chanson au.x ^chos bleus du bois,
nous avons fait un etre hybride et faux, deciasse et ridicule, surtout mal-
heureux puisqu'il n'est chez lui nulle part, qui a honte, se cache et se de-
peche. II se presse de sortir de son äge et de sa condition; il ioue ä
rhomme; il discute ou plutöt il ergote; il hausse la voix et se pavane ä
la Corra; il singe ses aines; il est insupportable. De Tage frais comme
une Idylle, de Tage neutre et ingenu et indecis comme un Avril, nous
avons fait Tage ingrat. He! aucun äge devrait-il etre ingrat, et chaque Sai-
son n'a-t-elle pas sa lumiere?
Le Livre de Blaise PHILIPPE MONNIER
681
HERMANN BURTE
Wer ein paar Seiten von Hermann Burte gelesen hat, wird
wissen, dass dieser Dichter ein ganz eigener ist. Die Probe mag
gefallen, sie mag aber auch befremden; sie wird sicher die Neu-
gier des unvoreingenommenen Lesers wach rufen. Über Hermann
Burte zu schreiben, ist leicht und verlockend, zugleich aber auch
schwer und abschreckend: leicht, weil über ihn so viel und so
Merkwürdiges zu sagen ist; schwer, weil man sich seiner Sache,
im Guten sowohl als im Bösen, nie ganz sicher fühlt. Je mehr
ich ihn studiere, desto mehr schwankt mein Urteil, desto heftiger
fühle ich mich sowohl angezogen als auch abgestoßen. Er ist
ein hochbegabter Dichter, dem die herrlichsten Sachen gelingen,
der aber darauf auszugehen scheint, seine aufrichtigsten Bewun-
derer irre zu machen.
Seine Werke bilden eine ebenmäßige Gruppe von fünf. Am
Anfang und am Ende steht je ein dramatischer Band, daneben
je ein Band Gedichte; das Mittelstück aber bildet ein Roman.
Hermann Burte nimmt also die drei Hauptsitze der Dichtkunst
für sich in Anspruch, will Dramatiker, Lyriker, Epiker sein. Dieses
Streben kennzeichnet ihn. Er ist von den Kühnen, Hochgemuten
einer, und jede Zeile, die er geschrieben hat, bezeugt und verrät
es. Weiter muss erwähnt werden, dass er im Hauptberuf als
Maler wirkt, und dass er allem Anschein nach auch in der Musik
kein Stümper ist. Das kann man Vielseitigkeit nennen.
Die Drei Einakter, mit denen Hermann Burte zuerst hervor-
trat, lesen sich ganz angenehm. Sie sind voll drolliger Einfälle,
gleichviel, ob der Stoff komischer oder tragischer Art ist. Das
zweite Stück, die „Liebestragödie" Donna Ines, vornehmlich ist
so geraten, dass man bis zum Ende unschlüssig bleibt, ob man
es mit einem Trauerspiel oder nur mit einer blutigen Posse zu
tun habe. Die Fabel ist allzu wild und unglaublich, und so
schauerlich, dass sie tatsächlich ins andere Extrem, die Posse,
überschlägt: man muss lachen, ob man will oder nicht.
Viel ernster zu nehmen sind Der kranke König, ein „Königs-
drama", und das Lustspiel Das neue Haus, in diesen gibt sich
der wahre Hermann Burte bereits deutlich zu erkennen. Sie sind
in Versen — das Lustspiel in gereimten — geschrieben, und das
682
verrät den Sucher der strengen, der höhern Form. Vor allem
aber verdienen sie Beachtung, weil sie die Grundzüge seiner Welt-
anschauung enthalten, im kranken König ist die Handlung durch-
aus symbolisch gedacht, und dadurch wird der übernatürliche
Zauber, auf dem sie sich aufbaut, erträglich. Das neue Haus ist
nichts als ein lustiger Schwank, worin ein reiches Mädchen ihre
falschen Freier entlarvt und den echten, rechten Mann findet. Ein
alter, bekannter Stoff, zudem mit den bekannten, althergebrachten
Mitteln bewältigt; aber anziehend durch die Frische der Gedanken
und des Ausdrucks. Es finden sich darin Stellen, die sich dem
Leser überaus anschaulich darbieten, mit einer gewissen Über-
legenheit in Ton und Gebärde; auf der Bühne müssten sie vor-
trefflich wirken. An übermütigen Seitensprüngen fehlt es aller-
dings auch hier nicht, und der Unvollkommenheiten sind viele.
Es kommt etwas zu oft vor, dass der Dichter seinen Gedanken
nicht zu Ende denkt, oder sich dessen, was er sagt, nicht ganz
bewusst zu sein scheint:
Sie wissen ja, stellt sich das Unglück ein,
Ist es anhänglich und kommt nie allein. -
Das „anhänglich" ist hübsch, aber nachher knackt's und klirrt's :
das Gefäß des klaren Sinnes geht in die Brüche. Und so könnte
man aus den letzten zwanzig Versen des Stückes einen ganzen
Strauß von Flüchtigkeiten pflücken.
Als Hermann Burte seine drei Einakter schrieb, war der
Künstler in ihm noch nicht ganz erwacht. Sie verraten mehr
Anlage als Können, und hohes Wollen mehr nur im Unternehmen
als im Ausführen.
Das Buch trägt die Jahrzahl 1907. Erst nach drei Jahren
trat Burte mit einem neuen Werk hervor, mit dem Sonettenzyklus
Patricia. Seine Form besingt der Dichter so:
Komm her, du freister der Gedankenrecken !
Ich will in strenggefügte Form dich kleiden.
Nicht, wie Prokrustes, was zu lang, beschneiden.
Noch, was zu kurz ist, auseinander strecken.
Doch soll dein Körper reinlich sich bescheiden I
Das Kleid wird seine Schöne nicht verdecken,
Vielmehr sie steigern, alle Kraft erwecken,
Bis Form und Stoff sich nimmer unterscheiden.
683
Tu' an die Stücke! Schwatze nicht von Freiheit! —
Der Panzer drückt, allein im Druck ist Haltung,
Er soll nicht locker sitzen, soll dich pressen.
Der bunten Menge wirre Vielerleiheit
Erliegt der Einform schlagenden Gestaltung,
Und wer dich sah, der kann dich nicht vergessen.
Er sucht sich unter allen die strengste, anspruchsvollste Form
aus; der herkömmliche Typus des Sonetts mit der Reimfolge abba
abba ist fast überall durch den schwerern mit abba baab ersetzt.
Dem Druck, der ihm Haltung geben soll, entwindet er sich etwa
durch gewaltsame Reime (umschmogen, von schmiegen), durch
Umgehung des Reims (wovon ein ungeheuerliches Beispiel das
Sonett an Nietzsche, durch unverständliche Neubildungen: „Sein
Soll dafür soll etwas Freude gaben . . . Bis der Verjährungstag
heran sich wählt"). Hermann Burtes Künstlerschaft steht auch in
diesem Buch noch auf schwachen Füßen. Er kann lang auf
seinen Wert pochen, indem er schreibt:
Des Menschen Wertmaß heiß ich: Was er wollte . . .
Wer so willig weicht und sich um die kleineren Schwierig-
keiten herumdrückt, hat nicht das Höchste gewollt. Mindestens
zwanzig von diesen Sonetten, die ein stärkerer Künstlerwille zu
prachtvollen Gedichten gezwungen hätte, sind durch Nachlässig-
keiten entstellt; das erneute Studium des Buches hat in mir eine
Art Unlust, eine bittere Enttäuschung hinterlassen. In der Erin-
nerung waren mir die Sonette immer schöner, glanzvoller ge-
worden, ihre Mängel blasser, ihre Herrlichkeiten umso leuchten-
der: das Wiedersehen hat das Bild zerstört. Nicht dass ich an
der dichterischen Gewalt große Abstriche zu machen hätte; nach
wie vor muss ich sie bewundern. Aber die, wie mich dünken
will, unnötigen Mängel sind mit erschreckender Deutlichkeit her-
vorgetreten. Besonders schlimm sind die wuchernden Binnenreime:
Bis mir das Herz vor Schmerz zu Erz geworden . . .
Bespeit die Zeit aus Neid mit feiler Tücke . . .
Dabei geschieht es oft, dass dem Klingklang der Sinn geopfert
wird. Weniger häufig finden sich Übertreibungen wie die folgen-
den Zeilen:
Doch oh! schon kommt vom Horizont gezogen
Der Donnerwolke schonungsloses Drohn ;
Beklommen kommen Schwäne von den Wogen,
684
Der Sonne hoher Bronnen stockte schon, —
Apoll zog voller Groll zum Ohr den Bogen
Und bot dem Hohn der Niobe den Lohn.
Steckt da wohl ein Sinn darin?
Wahrlich, es dürfte kaum eine zweite große Dichtung geben,
der sich solch ernste Mängel vorwerfen lassen. Aber sie bleibt
groß trotz allem, und man wird Hermann Burte nicht der (jber-
hebung zeihen, wenn man sieht, dass er mit dem Größten der
Großen wetteifert: mit Shakespeare selber. Als rein äußerliches
Zeichen dafür gibt er 154 Sonette, genau so viele als wir von
Shakespeare besitzen; als innere Beweise könnte man zahlreiche
Parallelen anführen. Auch bei Shakespeare gibt es gründlich ver-
fehlte Strophen, und wenn man vorläufig auch nicht behaupten
darf, der Deutsche könne sich mit dem Engländer messen : sicher
ist, dass man sie neben einander nennen darf, ohne zu erröten.
Burte besingt, wie sein Vorbild, eine große, aussichtslose, un-
glückliche Liebe — eine Liebe des niedrig gebornen Mannes zum
unerreichbar hohen Weib. In das Gewebe seines Dramas flicht er
seine Weltanschauung und alle Erlebnisse seiner Seele ein. Er über-
zeugt uns leicht von der Größe seines Stoffes. Sogar in seinen
verfehlten Teilen lässt uns das Gedicht über die Begabung des
Dichters nicht im Zweifel. Der Gedanke ist fast immer poe-
tisch, poetisch ist auch die Gebärde, der eigenartige Schwung
und Zug, der in den Sonetten herrscht. Wie tölpisch oder ge-
walttätig der Dichter gelegentlich seine Sprache handhaben mag,
er ist doch ihr Meister; es gelingen ihm wundervolle Wirkungen
des Wohlklangs und der Bildhaftigkeit. Als Beispiel des schlich-
ten Ernsts, der vielen dieser Vierzehnzeiler den reinsten Adel
verleiht, sei folgendes Gedicht angeführt:
Die Leiche, die der Rhein ans Ufer schwemmte.
Will Holbein, wie sie ist, zum Bild gestalten.
Des Dolches Pforte glutet aus dem kalten
Gelbgrauen Körper, den das Wasser schlämmte.
Er malt den Tod und lässt das Leben walten,
Das höhere, in tote Form gestemmte.
Er malt den Ernst: das rhythmisch ungehemmte
Geheime Spiel von Licht- und Raumgewalten.
So stellt er dar in reinlichem Gesetze
Der Wahrheit fürchterliche Majestät
Und fragt nicht, ob ein Weicher sich entsetze.
685
Erasmus kommt; um seine Lippen geht
Das Schlangenlächeln: „Dass es nicht verletze,
Schreib auf das Bild: Jesus von Nazareth."
Und nicht minder hoch sind Gedanken und Stil der fol-
genden Verse:
Der nächtge Himmel war ein ungeheuer
Weithin gebautes Erntefeld des Herrn.
Einst ging er aus und säte Stern an Stern,
Ein wurfgewohnter Weltensamenstreuer.
Der Böse sah den Himmlischen von fern,
In Neid und Missgunst brennend. In der Scheuer
Lag ihm das Giftkorn, und als ungetreuer
Unkrautverteiler warf er Kern an Kern . . .
Die Patricia-Sonette Hermann Burtes, das darf man kühn
verkünden, sind trotz ihrer Mängel das bedeutendste Sonetten-
buch der deutschen Literatur, auch wenn wir aus den 154 nur
fünfzig die Probe bestehen lassen.
Die Auslese könnte aus dem neuesten Qedichtband, der Die
Flügelspielerin heißt und 77 Sonette bringt, um eine Anzahl
Glanzstücke vermehrt werden. An Kraft und Schwung, an Wuchs
und Reichtum der Gedanken, an dichterischer Gewalt steht die
neue Sammlung nicht hinter der altern zurück. Was der Dichter
hier bietet, ist wiederum eine Offenbarung seines Wesens. Wer
bisher im Zweifel gewesen wäre, ob der Pa^nWß-Roman oder der
Wiltfeber auf wirkliche Erlebnisse gegründet seien, wird hier
Gewissheit finden. Diese Sonette geben den wogenden Gefühlen
und Gedanken Gestalt, die im Dichter beim Spiel einer großen
Klavierkünstlerin lebendig werden. Dabei steigen die Gestalten
jener beiden Bücher in sein Bewusstsein empor: „Es war ein-
mal, an einer weißen Küste" — geht auf Patricia:
Gedächte wohl mein Herz der Herrin heute.
Wenn über deiner Nase nicht erschiene
Die gleiche steile, mitleidlose Kerbe?
Diese und mehrere andere Stellen beziehen sich auf die blonde
Geliebte Wiltfebers. Hermann Burte lebt seine Gedichte, er dichtet
sein Leben. Von solchem Tun handelt das Sonett Seelensuche:
686
Was kann ein Mensch von seinem Wesen sagen?
Hat je der Spiegel selber sich gespiegelt?
Am letzten Tore, immerdar verriegelt,
Hat jeder Stirn und Fäuste wund geschlagen.
Die besten haben ihre Scham entsiegelt.
Gewagt, sich selber mutig auszufragen.
Gehofft, den Leichenstücken abzujagen.
Was lebend allzu tief lag eingetiegelt . . .
Aber auch in der neuen Gabe findet der Sucher nach Voll-
endung nicht seine Befriedigung. Der Dichter erfüllt nicht, was
er selber fordert:
Die Kunst ist Arbeit, Arbeit. Nie gelingt
Ein Werk im Schwung, im Schwall, im Lotterglücke:
Genie ist Fleiß, der in die Tiefe dringt.
Kein Dichter sang je, wie der Vogel singt.
Erst wer bezwang der Gegenstände Tücke
In Lust bewusst, ist Meister unbedmgt.
Hermann Burte hat nicht bewusst genug mit der Tücke der
Gegenstände gerungen. Er ist nicht wählerisch, nicht aufmerksam
genug im Gebrauch der Wörter. Das erste, sonst tadellose So-
nett, wird entstellt durch den Vers: „Gebiert aus Wüstenein sie
(die Musik) rein die Welt." Im eigentlichen wie im übertragenen
Sinne kann nur eins das andere, nie aber eins ein anderes aus
einem dritten gebären. Welcher Art die Mängel des Werkes sind,
möge eine Stelle zeigen, wo sie gehäuft auftreten: die Schilde-
rung, wie die Spielerin ihr Spiel beginnt:
Empor die Stirn! Hinab die Finger jetzt!
Und jene atemlose bange Stille
Des menscherfüllten Saales lag zerfetzt;
Denn siegreich drang durch jede Ätherrille,
Von keinem Gegenstande mehr verletzt,
Mit Sommersonnenkraft hervor ihr Wille.
„Menscherfüllt" ist eine unmöghche Bildung. Wenn das Bild
der „zerfetzten Stille" erträglich sein soll - und es kann es —
so dürfte es nicht heißen „lag" zerfetzt, weil das zu starke Verb
dem Bild Gewalt antut; „war" würde besser hineinpassen. Dann
die „Ätherrille". Rille muss unsereins schon im Wörterbuch nach-
schlagen. Das Wort scheint niederdeutsch zu sein und ungefähr
das zu bedeuten, was Rinne. Mit Äther verbunden, ergibt es —
was wohl? Und wie kommt der Äther in den menschenvollen
687
Konzertsaal hinein, was hat er mit dem Gegenstand zu schaffen?
Im gleichen Sonett findet sich noch die Wendung: „Du saßest
an den Flügel . . .", was gewiss bei vielen Lesern Anstoß er-
regen wird. Einmal schließt ein Sonett mit der gequälten Zeile:
„Dann ward ich erzen, fühllos wie die Stele." Andere Reimworte
dünken mich zu mindesten sehr gewagt.
Die Flossen scheinen knochenlose Stumpen . . .
Dann stürzt er sich in seinen tiefen Gumpen.
Ganz unnötig, durch keinen Reim erzwungen, verwendet
Burte zweimal „aben" für nieder:
. . . kauern zum Trinken aben am gewellten Bach . . .
Und schnoben aben durch den rauhen Wasen . . ,
Ist die Vermeidung eines Hiatus, n-n, ein solches Schicklich-
keitsopfer wert, wo ein gleichbetontes, gut deutsches, nicht un-
schönes „nieder" zur Verfügung steht?
So verdirbt Hermann Burte mutwillig, „mit Lust bewusst",
wie er so gern sagt, seine schönen Gedichte. Er will auch nicht
glauben, was seit Jahrhunderten in der Dichtkunst als Grundsatz
gilt, nämlich dass Binnenreime schlecht klingen und der Schön-
heit des Gedichtes nicht nützen sondern schaden:
Dein sanfter Gang, der weder knappt noch mähdert,
Nein, bebend, schwebend wiegewogig federt,
Erklang und schwang wie Sang der Eurydike. (4)
Binnenreime sind eine Art von Übertreibung; Übertreibung
aber ist ein Abweichen von der Wahrheit, und wo die Wahrheit
aufhört, bleiben auch Kunst und Schönheit aus.
Es ist leichter, die Mängel hervorzuzerren als die Schönheiten
aufzudecken. Jene drängen sich auf, diese muss man heraus-
fühlen. In diesen neuen Sonetten trifft man auf Schönheiten von
solch mannigfacher Art, dass man nicht daran denken kann, sie
einzeln anzuführen oder gar zu belegen. Meine Kritik bedeutet
nicht eine allgemeine Herabminderung des Werkes, sondern sie
ist eher eine Huldigung an den Dichter, dem wir damit sagen
wollen: du gibst uns so Vortreffliches, dass wir nicht an dein
Unvermögen glauben können; von dir wird uns nur das Vol-
lendete befriedigen.
im Mittelpunkt von Hermann Burtes Schaffen steht der Roman
Wiltfeber, der ewige Deutsche; die Geschichte eines Heimat-
688
Suchers. Dieses Buch ist, je nachdem, über oder unter aller Kritik.
Mit den gewöhnlichen Maßstäben darf man den Roman nicht
messen wollen. Es ist übrigens weder ein Roman noch eine
Geschichte, Man entdeckt darin weder eine fortschreitende Hand-
lung noch irgend welche Entwicklung. Der Stoff: ein Tag, ein
einziger, wohlverstanden, wenn auch von vollen vierundzwanzig
Stunden und zur Zeit der größten Tageslänge — ein Tag aus
dem Leben eines jungen Mannes. Ein Tag so furchtbar, so un-
erhört, dass es nicht Wunder zu nehmen braucht, wenn er dem
ewigen Deutschen das Leben kostet. Die Ewigkeit dieses Helden
ist wohl eben an einem andern Ort zu suchen. Diese Stoffwahl
ist von der Gewalttätigkeit Hermann Burtes nur ein kleines Bei-
spiel. Der Roman enthält so viele Ungeheuerlichkeiten, dass man
nicht begreift, wo für das Wohlgewachsene, Vernünftige, Gebän-
digte noch Raum bleiben soll. Aber man darf eben beides nicht
scheiden wollen. Auf Schritt und Tritt sieht man aus Missgestalt
Ebenmaß werden, Natürlichkeit sich zur Fratze verzerren. Auch
der Gehalt wirkt abwechselnd hinreißend und abstoßend, fordert
zum Widerspruch heraus und redet aus dem Herzen. Darf man
da tadeln, darf man da loben? oder auch nur den Versuch machen,
zu unterscheiden, was Natur und Kunst, was Übertreibung und
Grimasse sei? Eine große Zeitschrift hat in dem Roman nur die
verkörperte Nörgelei gesehen (kann das der Kunstwart gewesen
sein? dann war es wohl derselbe Kunstwart, der Alfred Huggen-
berger den typischen „Feld-, Wald- und Wiesendichter" genannt
hat; weiß der Himmel, mit was für einem Aufwand von Origi-
nalität); zahlreicher waren allerdings die Stimmen, die den Sieg
des Buches verkündeten, und die Kleist-Stiftung hat den Dichter
dafür mit ihrem Preise bedacht.
Der Wiltfeber ist nicht nur ein ungewöhnliches Buch, sondern
ganz sicher auch ein starkes, wirksames Buch. In meinem Ge-
dächtnis sind die großen Szenen unauslöschlich eingegraben: die
nächtliche Heimkehr Wiltfebers, die Stunden auf dem Friedhof,
die Morgenfrühe mit dem Abenteuer am Bach, dem Wiedersehen
mit der einstigen Geliebten; das Heidenhaus und der alte Wittich;
dann die sich jagenden Eindrücke des Tages: das Gauturnen, der
Gottesdienst, die Betstunde der Stündeier, die Szene am Fluss.
die in der Grotte mit der Geschichte des untergegangenen Bauern-
680
hofes, das Schulfest im Städtchen ; schh'eßlich der schwüle Abend,
wo Wiltfeber, von den Ereignissen des Tages übermannt, äußer-
lich und innerlich erschöpft, seinem Unstern folgt und um Mitter-
nacht, vom Blitz erschlagen, stirbt. Ja, alle diese Dinge leben in
mir; ich brauche sie nicht nachzulesen, aufzufrischen, um darüber
zu schreiben; ich kann mir nicht vorstellen, wie sie je verblassen
könnten. Was schadet es da, wenn ich von dem Gerede über
Nietzsche und den Reinen Krist keine Ahnung mehr habe? Dieser
Teil des Werkes war tot von Anbeginn. Da ist mir der beißende
Spott viel lieber. Und er verliert in der Erinnerung nichts von
seiner Schärfe. Über viele und vieles ergießt er sich; es dürfte
wenig Leser geben, die sich nicht getroffen fühlen müssten. Wilt-
feber ist ein aufbegehrerisches, aufweckerisches, aufrührerisches
Buch, darin es wie von einem Ungetüm tobt und brüllt und das
uns ahnen lässt, wie schlecht wir uns hinter unserer Gesinnung
und Gesittung verschanzt fühlen, wenn ein kühner Angreifer naht.
Wiltfeber ist nicht ein künstlerisches, nicht ein „schönes", viel-
leicht nicht einmal ein gutes oder ein wahres oder gesundes Buch,
aber ein starkes Buch und ein lebendiges. Es wurde aus der
Zeit für die Zeit geschrieben: überdauert es die Zeit, so wird es
einst als das Buch dieser Jahre gelten.
Ein Tendenzroman, und für die Zukunft geschaffen? Warum
nicht? Fast alle Romane, die am Leben geblieben sind, waren
Tendenzromane. Es gehört nur dazu, dass hinter der Tendenz
eine überragende Persönlichkeit stehe — ein Rousseau (den Burte
hasst), ein Pestalozzi, ein Gotthelf, um nur die größten zu
nennen - ein Mensch von wahrer Ursprünglichkeit, aus dem die
Natur unvermittelt zu uns spricht. Ich glaube, dass Hermann
Burte das ist. Nicht weil er sich so geberdet. Wenn er im
Prophetenton orakelt, ist man davon am wenigsten überzeugt;
seine allzugroße Sicherheit macht uns irre. Das Werk verdankt
seine Bedeutung andern Eigenschaften. Der krankhafte Held —
den uns der Dichter als einen wahrhaft gesunden Menschen glaub-
haft machen möchte — dieser Wiltfeber ist ein ergreifendes Bild
von dem gequälten Seelenzustand der Besten unsrer Zeit, in ihm
sind alle hohen Ziele, alle edlen Zweifel, all die tolle Überhebung,
all der nagende Unmut (aus dem Gefühl unserer Erbärmlichkeit
geboren) der Heutigen verkörpert. Er ist der Mensch, dem seine
690
Haut zu eng geworden ist und der sich notgedrungen wie ein
Erstickender benimmt, schnappt und überschnappt. Er will die
Zeit beschämen, und siehe, er selber trägt die Schandmale der
Zeit, ausgeprägter als irgend ein im Fleische Lebender. Darin
besteht der Reiz, die zwingende Gewalt seiner Erscheinung: er
spiegelt in voller Klarheit, was in vielen von uns vorgeht, was
uns beunruhigt. Solch ein Buch war Goethes Werther für seine
Zeit. Was verschlägt es, wenn wir auch beim besten Willen nicht
überall Schritt zu halten vermögen, wenn wir uns stellenweise
abwenden und das Haupt verhüllen möchten? Mir ist, als sähe ich
in diesem großen Prosagedicht eine Fahne entfaltet. Sollen wir
tun wie der Stier, vor dem das rote Tuch geschwungen wird,
oder lieber wie die Streiter, die ausziehen, wenn das Feld-
zeichen flattert?
Zwar ich möchte keinem zumuten, dem Wiltfeber durchweg
Heerfolge zu leisten. Er stürmt gegen alles an, was uns gewöhn-
licheren Menschen hoch und heilig ist. Von den politischen und
sozialen Anschauungen Hermann Burtes darf man fast nicht
reden; sie sind das äußerste, was man sich denken kann. Der
Roman und die Patricia stimmen darin überein. Ein Staatswesen,
das sich auf Volksrechte gründet, gibt es nach ihm nicht. Rechte
besitzt nur der Fürst, und der darf sie mit niemand teilen, son-
dern muss unbeschränkt herrschen. Wer ein Amt annimmt und
ein Staatsgehalt bezieht, ist von vornherein ein Schuft. Vom
Wählen und von Volksvertretungen weiß er folgendes:
Von allen Lügenspielen dieser Erden
Erscheint mir keines also schal und kläglich.
So schamlos tierisch, seelisch unzuträglich,
Wie die geheime Urnenwahl der Herden.
Bei Mächten, deren Dasein wir gefährden.
Die wir beneiden und bespein unsäglich.
Von denen wir Genüsse fordern täglich,
Soll uns ein Mensch zum Wünschvertreter werden.
Seit Gott erlag der keifenden Verneinung,
Fettfüttert man im Heiligtum ein zinnen
Rohblechgefäß, ergötzt, mit offner Meinung.
Mit feierlichen Mienen, wie bei Eiden,
Taucht hintern Vorhang Gleich und Gleich, sich drinnen
Für Esel oder Langohr zu entscheiden.
69 t
Die Behörden, die weltlichen wie die geistlichen, setzen sich
aus Fetzeln und Büffeln zusammen. Goethe war ein roher Mensch,
sein Faust ist eine Pfuscherei. Der Gedanke an Rousseau muss
einen anständigen Menschen mit Ekel erfüllen. Von Deutschland
heißt es in den Sonetten:
„Wie hieß es doch? Der Dichter und der Denker
Erlauchtes Volk? — Man soll es fürder heißen:
Mischmasch der Splitterrichter und der Stänker.'"
Das alles sind Übertreibungen; sie mindern den Wert der
Werke gewaltig; die Gedichte und die Stellen des Romans, die
uns solches bescheren, sind hässliche Entstellungen und zwingen
uns fast, an der Aufrichtigkeit des Dichters zu zweifeln.
Hermann Burte wird nicht bei diesen verzweifelten Ansichten
stehen bleiben; denn er ist ein Wahrheitsucher trotz allem. Die
spätem Gedichte lassen bereits einen Wandel erkennen, in der
Flügelspielerin spricht er wohl noch von den Menschen als von
„Bestien ohnegleichen" ; noch immer grollt und flucht er ihnen.
Aber es gibt doch Dinge der Gegenwart, die Gnade finden: er
besingt in mehreren Gedichten das elektrische Kraftwerk, die
Wunder der Technik. Und sehr auffallend dünken uns von ihm
die Sonette, die den Arbeitern gewidmet sind:
BRÜDER
Ihr Brüder, tief im Lärmen der Fabriken,
Im Steinbruch, auf der See, vor Grubenwänden,
Mit runden Rücken, Schwielen an den Händen,
Die Mörtel schleppen, Ofenglut beschicken ;
An Wehren, Schranken, auf den Führerständen,
An Kesseln müsst ihr nach Signalen blicken,
In Kellern frieren, bang in Gasen sticken.
Als wär't ihr Stoff, euch in den Stoff verschwenden.
An Hoffnung arm, zur Freiheit außer Stande,
Müsst ihr den Wechsel toter Dinge treiben.
Die Sorgen drohend über euch wie Schlingen.
Ihr Brüder, lieben Brüder, Volk im Lande,
Ich muss den Wandel deiner Seele schreiben:
Das Hohelied der Untern will ich singen.
Das sind die Brüder, die mit Wiltfeber zum Gauturnen an-
traten und dabei seinen Spott und Hohn herausforderten. Hier
dünkt uns der Dichter menschlicher und der Wahrheit näher.
692
Es bleibt uns noch übrig, das neue fünfaktige Schauspiel
Herzog Utz zu betrachten. Es entstand um dieselbe Zeit wie die
Flügelspielerin; dem Geiste nach aber gehört es zu den frühern
Büchern Burtes. Er hat uns hier den Qottesgnaderich nach seinem
Herzen geschaffen: der Herzog, der sein Land ins Unglück bringt
und in den Aufruhr hineintreibt, hat recht. Damit er Recht be-
halte, darf keiner der Menschen um ihn ein Ehrenmann sein.
Seine Räte: Schufte, soviele es ihrer sind; sein Busenfreund: ein
Schuft; das Weib, das ihn erlöste: ein Ungeheuer. Nur neben
Schuften und Ungeheuern erscheint der Qottesgnaderich erträglich.
Wenn je einer eine überspannte Idee durch die reine Darstellung
dieser Idee lächerlich gemacht hat, so ist es Hermann Burte
hier gelungen. Er geht so weit, dass er das Schauspiel, das sich
auf historische Tatsachen gründet, der Idee zuliebe auf eine Art
Lüge ausklingen lässt. Damit der Fürst von Gottesgnaden Recht
behalte, ist es notwendig, dass er siegreich aus jedem Konflikt
hervorgehe; darum steht der Herzog am Ende als triumphieren-
der Held da, gleich einem, der sich die Welt unterwerfen wird.
Aber der geschichtliche Utz verliert durch die im Drama dar-
gestellten Ereignisse Thron und Krone, vom eigenen Volk verjagt!
Aber auch wenn die Geschichte dem Dichter Recht gäbe,
könnten wir an seinen Herzog Utz nicht glauben. Er rührt unb
nicht, er überzeugt uns nicht. Und doch wäre, menschlich genom-
men, sein Fall außerordentlich dramatisch. Ein leidenschaftlicher
junger Mann wird von Staats wegen an ein Weib verheiratet, das
ihm widerwärtig ist; dabei liebt er die Tochter seines Marschalls,
die er seinem Busenfreund zur Frau gibt. Aber was tut er? Er
zwingt den alten Vater, ihm die Tochter, er fleht den Freund auf
den Knieen, ihm die Gattin zu verkuppeln. Die Sache soll ge-
schichtlich sein; man darf also nicht behaupten, sie sei an und
für sich unwahrscheinlich. Man wird nur feststellen, dass es dem
Verfasser nicht gelungen ist, sie glaubhaft zu machen. Dass der
Herzog sich so hinreißen lässt, erscheint nicht als ein Beweis von
der Gewalt seiner Liebesleidenschaft, sondern seiner sittlichen
Haltlosigkeit. Er tut es unvermittelt: noch ehe wir Ursula kennen,
bevor er weiß, was sie zu dem Antrag sagen würde. Er be-
handelt das Weib als eine Sache, und das setzt ihn von vorn-
herein ins Unrecht. Ebenso wenig überzeugt uns Ulrich nachher.
693
bei seiner Umwandlung zum weibgefeiten Selbstbezwinger. Die
Verachtung, womit er seine Umgebung nach seinem Fall behan-
delt, macht ihn geradezu iächerhch ; denn er tut fast nichts an-
deres, als um Verzeihung bitten und sich entschuldigen, wenn er
nicht gerade von seinem Gottesgnadentum redet. Auch die übri-
gen Personen befriedigen nicht. Warum muss Ursula sich im
Schlussakt so gemein machen (sie möchte sich dem Mörder ihres
Mannes an den Kopf werfen; sie fleht ihn förmlich an, sie gleich
zu besitzen!), und war doch vorher ein edles Weib? Was sollen
wir von dem alten Thumb halten? Er spielt eine Hauptrolle, aber
man kann sich nicht entscheiden, ob man sich ihn als edel oder
als lächerlich vorzustellen habe.
Kann man nach solchen Vorbehalten noch behaupten, der
Dichter besitze das Zeug zu einem Dramatiker? Das ganze Un-
glück des Stückes ist der unmenschlichen Auffassung von Fürsten-
recht und Fürstenart zuzuschreiben ; sie ist es, die alles andere
gefälscht hat. Hermann Burte sollte es sich zur Warnung nehmen
und von bewusster, erzwungener Übertreibung ablassen. Nirgends
wirkt sie so verhängnisvoll, wie im Drama.
Das Drama hat seine starken Seiten; sein Verfasser hat ge-
rettet, was zu retten war. Die Handlung hat Zug und Schwung,
und sie ist außerordentlich straff geführt. Schlag auf Schlag folgen
sich die wirksamen Szenen. Die Gliederung des Stoffes ist sehr
geschickt, so dass die Teilnahme nirgends ermattet. Ulrichs Re-
gierungsnöte, sein eheliches Unglück, der verhängnisvolle Knie-
fall vor Hütten füllen den ersten Akt. Im Mittelpunkt des zweiten
steht Ursula, Huttens Frau: sie vernimmt zuerst von ihrem Vater,
dann von ihrem Mann, was der Herzog von ihr verlangt; diese
Auftritte sind etwas zu breit geraten. Der dritte Akt bringt den
ersten Höhepunkt : Ursula begibt sich zu Utz, aber nicht, um ihm will-
fährig zu sein — trotzdem sie ihn liebt — sondern um ihn zur Besinnung
zu bringen, was ihr auch gelingt ; Hütten verrät der Herzogin und
diese gleich darauf dem schlimmsten Feind Ulrichs, wie dieser
sich erniedrigt hat. Im vierten Aufzug treten die Hauptpersonen
alle einander gegenüber: im vollen Rat macht Sabine das Ge-
schehene kund ; der Herzog vernimmt den Verrat seines Freundes.
Der letzte Akt zeigt, wie er sich an dem Verräter rächt: auf der
Jagd erschlägt er ihn; dann folgt leider die schmähliche Szene,
694
wo Ursula sich ihm angesichts der blutigen Leiche ihres Gatten
preisgeben möchte, und von ihm fortgejagt wird. Die Nachricht
von Sabinens Flucht bestärkt den Herzog in seinem Trotz; er
entlässt die Ritter, die ihm ihren Dienst künden — er behandelt
sie als Lumpen, wiewohl sie sich ehrenhaft benehmen — , und
mit der hochmütigsten Gebärde tritt er schließlich ab. Der Schluss
scheint mir ganz misslungen.
Das Stück füllt 200 Seiten ; man wird, um es bühnenfähig
zu machen, kürzen müssen. Wiewohl nicht behauptet werden
kann, dass der Dichter nicht streng bei der Sache bleibe, so ist
doch auch wahr, dass die Reden fast durchweg zu wortreich
sind. Gewiss, es steckt Gehalt darin, und die Sprache lässt
nichts zu wünschen übrig. Hermann Burte erweist sich hier als
vollendeter Meister der Rede. Je weiter man sich hineinliest,
desto eindringlicher empfindet man die Pracht, den Reichtum,
die Gewalt des Organs, zu dem der Dichter sein Deutsch aus-
gebildet hat. Das Schauspiel ist in gereimten Versen verfasst,
wie schon der Einakter Das neue Haus. Die Reime fließen dem
Dichter scheinbar mühelos. Stellen, wo dem Sinn Zwang angetan
wird, finden sich nicht häufig; höchstens dass manchmal etwas
hinzukommt, was ohne den erforderlichen Reim wohl ausgeblie-
ben wäre. Etwas anderes ist die Frage, ob nicht die Regelmäßig-
keit des Reims und der Verszeilen dem Ganzen verhängnisvoll
werden könnte. Die Reimwörter wirken wie Hammerschläge im
stetig gleichmäßigen Takt; der Sprecher wird geradezu gezwungen,
sie zu betonen.
Doch, wie dem auch sein mag: der Herzog Utz ist mit
allen seinen Mängeln ein bedeutendes Werk. Der Dichter hat es
sich so schwer als möglich gemacht durch die Wahrung der klas-
sischen drei Einheiten (eine kleine Verschiebung des Schauplatzes
im 5. Akt ist belanglos), durch die »Wahl der gebundenen Form
und durch den Reim. Es sei ihm hoch angerechnet.
Die Unvollkommenheiten in Hermann Burtes Werken sind
solcher Art, dass man sie verurteilen kann, ohne dem Dichter
allzu viel zu nehmen; das Vertrauen zu ihm besteht in voller
Kraft weiter. Er strebt nach dem Höchsten, er nimmt sich die
Größten zum Vorbilde. Großes ist ihm gelungen, Größeres wird
ihm gelingen, wenn sich seine Kunst erst geläutert hat.
69.S
Der Name ist ein Pseudonym. Der Rheinwini<e! hinter Basel,
Johann Peter Hebels Wiesenthai (Blankethal im Wiltfeber ist Bur-
tes Gegend, und er rechnet Holbeins toten Christus im Basler
Museum zu den Sieben Wundern seiner Heimat. Ein Basler ver-
legt seine Bücher. Von Basel sagt Wiltfeber nicht ohne Ergriffen-
heit, es sei seine geistige Vaterstadt. Von dem, was ihn und
sein Volk von uns scheidet, heißt es am gleichen Ort: „Nicht
nur im Boden geht die Grenze, stecken die Steine, trennt sich
Land von Land: sondern auch zwischen den Hirnen der Leute
gleicher Rasse und gleichen Glaubens ist eine Grenzscheide er-
richtet und vertieft, und sie geht wie alle Grenzen senkrecht bis
ins Unendliche."
Gewiss, wir diesseits teilen nicht alle Gedanken dieses Ale-
mannen von jenseits. Und doch heimelt es uns aus seinen
Büchern an. Wir fühlen die alte Verwandtschaft heraus, und wir
sind umso eher geneigt, zu ihnen zu stehen. Bei Hermann Burte
gilt es sich zu entscheiden, Partei für oder wider zu nehmen:
wir sind für ihn.
BASEL ERNST DICK
ODD
Alle Werke Hermann Burtes sind im Verlag von Karl Gideon Sarasin
in Leipzig erschienen.
u n
THEATER UND KONZERT
D D
D a
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Von
unserem Theater ist nichts zu ver-
melden. So mag es gestattet sein,
zur Abwechslung einmal von zwei
andern Schauspielen zu sprechen, die
zur Zeit viel Beachtung bei uns fin-
den. Von den Marionetten und dem
Kinetophon.
Im Rahmen der Theaterkunstaus-
stellung hat man dem Marionetten-
theater Münchner Künstler einen
reizenden Raum eingerichtet. Drei-
mal im Tag wird gespielt. Und siehe
dal wir erleben, dass diese Vorstel-
lungen außerordentlich gut besucht
sind, so gut, dass es sich — wie bei
dem Puppenspiel Faust — empfahl.
im Voraus die Billette zu bestellen.
Und vor einigen Jahren, als derselbe
Herr Paul Brann da war mit den-
selben Marionetten, in einem großen
Saal des Baur-en-ville, da wollte in
die Frequenz kein Zug kommen, allen
Bemühungen der Presse zum Trotz.
Die Zeit scheint damals für diese
Kunstgattung noch nicht reif gewesen
zu sein, eine Beobachtung, die man
ja auch bei andern Gelegenheiten
macht. Mieux vaut tard que jamais.
Es liegt nicht in meiner Absicht, im
Einzelnen auf die Stücke, die gegeben
wurden, einzugehen. Dass Pocci
wieder zu Ehren gekommen ist, ver-
steht sich von selbst. Die Zauber-
696
THEATER UND KONZERT
geige, das Eulenschloss, Kasperl als
Porträtmaler gehören zum eisernen
Bestand des Puppentheaters; schon
dass sie der Jugend sich treffend
anpassen, macht sie wertvoll. Ein
besonderer Genuss war das Faust-
Puppenspiel. Unbezahlbar ist hier
die Zauberweit, die Welt der Drachen
und Teufel anschaulich gemacht. Ein
Fabelwesen wie der Teufel Auerhahn
ist ein wahrer Fund. Die Szene, da
Hans Wurst als Diener bei dem
Teufelsbeschwörer Faust die Höllen-
wesen durch Aussprechen des Ber-
ücke, Berlacke erscheinen und ver-
schwinden lässt, gehört zu den ko-
mischten Dingen, die man auf der
Bühne überhaupt erleben kann.
Ein immer neues Erstaunen be-
reitet die Ausdruckskraft der an dem
System der Fäden zur Aktion ge-
brachten Puppen. Man erlebt da
etwas sehr Wichtiges: die Bedeutung
des Gestus als solchen. Diesem
Qestus sind durch die Art des
Mechanismus gewisse komplizierte
Bewegungen versagt; dafür wirken
die einfachen um so intensiver, ja so
intensiv, so völlig klar und lebendig,
dass man an die Abweichungen von
der strengen Naturwahrheit gar nicht
denkt, noch mehr: dass man über
der Ausdrucksenergie der Bewegun-
gen die völlige Passivität oder besser
die absolute Unveränderlichkeit des
Gesichtsausdrucks, der Mimik, ganz
vergisst. Eine Anzahl Schlüsse er-
gibt sich daraus: es kann etwas —
in der Kunst — wahr wirken, was
nicht im Wald- und Wiesensinne na-
turgetreu ist, ja es kann diese Wahr-
heit sogar noch stärker, noch über-
zeugendersein: weil eben dasWesent-
liche, das Entscheidende gerade durch
diesen Verzicht auf die differenzie-
rende Einzelheit, auf das Wechselnde,
auf die Übergänge, auf das individuell
Bedingte weit schärfer herausgetrie-
ben; weil das Konstante, das Typi-
sche zum Bewusstsein gebracht wird.
Es will uns oft nicht einleuchten, wie
die Griechen zu der alle Mimik aus-
schaltenden Maske für ihre Bühne
greifen konnten. Im Marionetten-
theater können wir sehen, dass der
Komple.x der Bewegungen des Schau-
spielers reich und sprechend genug
ist, um auf die Künste des das iimere
Elleben und die Wirkung der äußern
Geschehnisse spiegelnden und kom-
mentierenden Gesichtsausdrucks zu
verzichten; ja, um die Illusion zu
wecken, als ob sich mit der Lebhaf-
tigkeit und typischen Wahrheil des
Gestus auch die leblose Maske (der
Puppenkopf) belebe.
Noch eins : wenn die Kunst gewisse
Wirkungen (der unbedingten Deut-
lichkeit, der klar und stark sprechen-
den Konturen, der besondern Wucht
eines Bewegungsmotivs) erreichen
will, darf sie auch vor Übertreibungen,
vor Abweichungen von der dem Phi-
lister (und Zeichnungslehrer) so heili-
gen Exaktheit nicht zurückschrecken.
Sie muss den Mut zu einer Synthese
haben, die sie aus ihrer eigenen
Formphaniasie bezieht, und die ihr
keine Naturkopie bieten kann. An
der öden Momentaufnahme hat man
kontrollieren können , wie schlecht
es etwa mit der Darstellung bewegter
Pferde in der Kunst bestellt ist, und
von der Wiedergabe des Schreitens
zum Beispiel gilt dasselbe. Und doch
gibt der Künstler das Lebendige, der
Momentphotograph das Leblose. (In
Rodins Kunstunierhaltungen mit Gsell,
die man französisch lesen sollte, aber
auch deutsch lesen kann, findet man
wertvolle, entscheidende Hinweise
auf diese Tatsache ; und Rodins Kunst
ist gerade in ihren Synthesen so groß,
wie die Hodlers, dem Kunstkinds-
köpfe nachrechnen, dass eni wirk-
licher Mäher nicht genau so mähe,
697
KWO
THEATER UND KONZERT
>OK>
wie der von dem Künstler gezeichnete
und gemalte. Man denke!)
So kann uns das Marionetten-
theater in mancher Hinsicht von
einem öden Naturalismus in der Kunst
heilen. Für das wirkliche Theater
ist bedeutsam die Einsicht, dass der
Gestus stets das Wichtigste für die
Bühnenwirkung bleiben wird, Gestus
im Sinn der ausdrucksvollen Sprache
des ganzen Körperlineaments (wenn
man diesen Ausdruck gestatten will).
The Mask ist die Zeitschrift Gordon
Craigs betitelt. Kein Wunder, dass
dieser gedankenreiche enthusiasti-
sche Reformator der Bühne für die
Marionetten so viel übrig hat. Flo-
renz, wo er arbeitet und seine Schule
errichtet hat, ließ ihn die Berührung
mit den Marionetten nie verlieren.
Auch im Kinetophon sieht man
wie im Marionettentheater Menschen
agieren, die so tun, als ob die Sprech-
oder Singstimmen oder die Musik-
laute von ihnen hervorgebracht wür-
den. Und doch -ist das alles etwas
ganz anderes. Statt der Puppe, die
einen runden Menschen darstellt und
sich in einem messbaren Räume dreht,
zeigt uns der Film auf der Fläche
das Bild von Menschen und Räu-
men undSachen. Keinen Moment wird
man sich einbilden, dass das Wirk-
lichkeit sei. Und nun fangen, dank
dem neuesten Erfinderstück des
genialen Edison diese auf die Fläche
projizierten Menschen und Tiere an
zu sprechen, zu singen, zu musi-
zieren, zu bellen ; diese bewegte
Bildwelt wird laut. Das Grammophon
hat eine Allianz mit dem Kinema-
tographen eingegangen. In Zukunft
brauchen also in den blödsinnigen
Kino-Dramen nicht mehr Legenden
unter dem Bild zu erscheinen, auf
denen man etwa einen in dem Dra-
ma eine wichtige tragische Rolle
spielenden Brief lesen kann: die be-
treffende Person , die diesen Briet
schreibt oder erhält, wird ihn laut
zum besten geben. Das wäre ent-
schieden ein Vorteil. Unkünstlerisch
bis in die Knochen ist natürlich auch
diese neue Erfindung. Die schon jetzt
erreichte Präzision im Zusammen-
gehen von Bild und Laut, von Au-
gen- und Ohrenschmaus (welch letzte-
rer freilich inbezug auf Orchester-
wiedergabe zurzeit noch eine raffi-
nierte Marter bedeutet) — diese
Präzision sei willig anerkannt. Aber
wie gähnend langweilig ist das alles.
Es wird freilich gesagt: man denke
sich, welch wertvolle Dokumente
— zum Beispiel für die Orientierung
der Nachwelt über berühmte Red-
ner, Schauspieler, Sänger — mit
dieser Erfindung beigebracht werden
können. Meinetwegen! Nur von
Kunst soll man uns nicht sagen.
Denn Kunst ist Auswahl, Extrakt,
Steigerung, Ordnung, Klarheit, Not-
wendigkeit. Der ingeniöse Mecha-
nismus das Kinetophon ist von alle-
dem das Gegenteil; denn er ist platt
und glatt ein Abklatsch der Wirk-
lichkeit, was aber die wahre Kunst
nie ist, auch die der Marionetten nicht.
H. TROG
ZÜRCHER SCHAUSPIEL. Ge-
statten Sie mir, die Ausführungen
Dr. Trogs, welche unter diesem Titel
in der ersten Februarnummer Ihrer
Zeitschrift erschienen sind, durch ein
paar Feststellungen ins richtige Licht
zu rücken.
Im zweiten Teil seines Artikels
beschäftigt er sich mit meinem Wald-
mann-Drama und entwickelt einen
schematischen Gedankenorganismus
für „ein Waldmann-Drama, wie ER
es sich etwa vorstellt", nachdem er
in der Neuen Zürcher Zeitung vom
15. Januar mit aller Bestimmtheit,
als handle es sich um eine unum-
stößliche Tatsache, behauptet hat:
698
»o»o
THEATER UND KONZERT
„Hans Waldmann lässt sich nicht
dramatisieren".
Damit straft er seine erste Kritik
selber Lügen.
Wer sodann „seinen" Gedanken-
organismus mit dem Inhalte meines
Werkes vergleicht, gibt ohne weiteres
zu, dass derselbe nicht einen einzigen
Gedanken enthält, der in meinem
Werke nicht zur Darstellung gelangt
wäre.
Endlich: die leitenden Gedanken
in Trogs Aufsätzchen (zweiter Teil)
sind nichts als recht freundliche
Erinnerungen an einen im Archiv der
Neuen Zürcher Zeitung ruhenden
Auszug aus einem von Prof. Andreas
Heusler in der Basler Aula gehaltenen
Vortrag über Hans Waldmann Einer
dieser Gedanken Heuslers stehe hier:
„Solche Kraftnaturen sind überall am
Missbrauch ihrer überschwellenden
Kraft, an ihrer Hybris zugrunde ge-
gangen." ADOLF VÖGTLIN
L'ANNONCE FAITE A MARIE
ä Geneve. La destinee litteraire de
.VI. Paul Claudel est singuliere. Con-
sidere comme un poete de genie par
les lettres, il est inconnu — ou pres-
que — du public. M. Paul Claudel,
il est vrai, n'a jamais recherche les
suffrages de la foule ; il n'a rien fait
pour attirer sur son oeuvre, dejä
considerable, l'attention des critiques
influents. Un d'entre eux, M. Paul
Souday a confesse que les repre-
sentations de l' Annonce faite ä Marie
au theätre de l'Oeuvre ont ete „pour
la plupart des spectateurs. peut-etre
meme pour quelques critiques, une
veritable revelation . . ."
Certainement l'Annonce faite ä
Marie n'est point une oeuvre banale,
certainement eile est lourde de sens,
certainement eile n'est point de la
famille des pieces de M. Wolf ou de
M. Capus. En la presentant au pu-
blic de Gen&ve, le Theätre de la
Comedie avait assum^ une lache trfes
lourde. 11 est juste de dire qu'il
en a ete r^compense . . . L'Annonce
faite ä Marie est la seconde version
dune CEuvre plus ancienne et plus
simple: La jeune fille Violaine.
Voici quelques mots sur cette pre-
miere forme du chef-d'oeuvre de
Claudel:
Par bonte, parce qu'il a du cha-
grin, Violaine Vercors a donn^ un
baiser ä Pierre de Craon. l'archi-
tecte. Mara Vercors l'a surprise, eile
va raconter ce qu'elle a vu ä Jacques
Hury qui doit epouser Violaine ä la
St-Michel. Mara agit par Jalousie,
car eile aime Jacques Hury. Vio-
laine ne se defend pas; par faiblesse
et par bonte eile laisse ä Mara son
droit d'atnesse et son fiance. Elle
se retire dans la foret de Chinchy,
apres que sa sceur l'a aveuglee d'une
poignee de cendres. Elle est agrea-
ble ä Dieu par ses vertus, eile a le
pouvoir de faire des miracles. Elle
rend la vue ä l'enfant de Mara. mais
celle-ci, croyant que son mari pense
toujours ä sa premiere fiancöe, la
tue, et Violaine meurt en pardon-
nant ä ses ennemis.
L'Annonce faite ä .Warie est une
oeuvre plus riche, plus touffue, plus
profonde. D'abord nous ne som-
mes plus dans les temps modernes,
mais ä la fin du quinzidme si&cle.
„Tout le drame, dit S\. Claudel,
tout le drame se passe ä la fin d'un
moyen-äge de Convention, tel que
les podtes du moyen-äge pouvaient
se figurer l'antiquit^ . . ."
Le rideau se löve sur une des gran-
ges de Combernon, ferme d'Anne
Vercors, lequel est un paysan libre.
relevant du seul couvent de Mon-
sanvierge. Pierre de Craon, le c6\b-
bre „Magon", l'admirable construc-
teur de cath(*drales, a voulu forcer
699
THEATER UND KONZERT
»Of.
Violaine, et Dieu pour le punir lui
a donne la lepre. Ce ne fut pour
lui qu'un instant de folie, et il s'est
profondement repenti. Violaine ne
lui en veut pas; eile lui a pardonne,
et c'est pour le lui dire qu'elle l'at-
tend, au petit jour, car il doit pren-
dre ä cheval la Route Royale qui
mene ä Reims, oü il construit la
cathedrale de Sainte Justice. Elle
lui apprend en meme temps qu'elle
va devenir la femme de Jacques
Hury qu'elle aime. Et Pierre de Craon
s'exalte: il dit la beaute de ses ca-
thedrales, lasplendeur de ses oeuvres
futures. Mais au moment de se se-
parer, Violaine, voyant Pierre cSJ
malheureux, s'approche de lui et
lui donne un baiser sur la bouche . . .
Mara Vercors, la „noire" Mara, sur-
prend ce baiser . . .
Le second tableau nous conduit
dans la cuisine de Combernon. La
mere allume le feu, et, assis pres
d'elle, le vieux et riebe paysan Anne
Vercors lui parle du mariage de
Violaine. 11 la donne ä Jacques Hury
qui sera ä la place du gar^on qu'il
n'a pas eu. Cette affaire reglee, Anne
Vercors confie ä sa femme son grand
projet. „Je pars" s'ecrie Vercors,
„je pars pour Jerusalem, chez le
Roi des Rois". Anne Vercors se
sent trop heureux, ii ne se sent point
assez meritant pour gagner le roy-
aume de Dieu. Alors que tout est
misere autour de lui, tout prospere
dans sa maison. Et apres avoir
presente Jacques Hury aux servi-
teurs, et distribue une derniere fois
le pain, Anne Vercors prend sa be-
sace de pelerin et s'en va. Le pere
parti, le malheur s'abatsurla maison.
Mara a raconte ä Jacques Hury le
baiser de Violaine ä Pierre de Craon.
Jacques apprend d'ailleurs la verite
de la bouche de Violaine. Non seu-
lement eile a baise Pierre sur la
bouche — „il etait si triste, et j'etais
si heureuse . . ." Mais encore eile
est lepreuse ä son tour ... Le
„mafon" lui a communique sa ma-
ladie. Violaine se retire ä la lepro-
serie de Geyn, et c'est lä que nous
la retrouvons huit ans plus tard la
nuit de Noel. Les gens de Chevoche
frayent une route pour le Roi qui
doit passer par lä pour se rendre ä
Reims, conduit par une pastou-
relle. — Mara survient avec son en-
fant mort dans les bras, et demande
ä Violaine de lui rendre la vie. Vio-
laine Proteste qu'elle n'est point une
sainte. Elle prend cependant l'en-
fant dans ses bras. Les cloches de
Noel sonnent, et Mara lit les trois
Nocturnes de l'Office de Noel. A ce
moment les trompettes sonnent, et
l'on entend des cris: „Vive le Roi!"
Et Mara continue ä lire; l'enfant
bouge, il est ressuscite, et sa mere
le prend dans ses bras, mais, s'ecrie-
t-elle „ses yeux etaient noirs, et
maintenant ils sont devenus bleus
comme les tiens ... Et quelle
est cette goutte de lait que je vois
sur ses levres . . ."
Puis nous sommes de nouveau
transportes ä Combernon, dans la
grande cuisine. Quelqu'un appelle
et entre, c'est Pierre de Craon, qui
rapporte Violaine mourante. 11 l'a
trouvee ensevelie sous une charre-
tee de sable dans une carriere. Une
main criminelle a prepare cela . . .
Pierre de Craon explique ä Jacques
Hury qu'il n'est plus lepreux, „que
le mal s'est reduit d'annee en annee,
et qu'il a disparu . . ."
On etend Violaine sur la table,
et Jacques Hury s'agenouille en lui
demandant pardon. II comprend tout
maintenant, et le sacrifice de Vio-
laine, et sa maladie, et la haineuse
Jalousie de Mara. Elle se tait et
Pierre de Craon I'emporte ... La
7C0
»OK>
THEATER UND KONZERT
scene reste vide; la porte du fond
s'ouvre, et dans Taube grise, appa-
rait, vieilli, courbe, tout blanc, Anne
Vercors qui revient de Palestine.
Le dernier tableau est d'une ad-
mirable serenite. Anne Vercors a
tout appris, et pourtant il ne se
revolte point. Tout vient de Dieu,
et tout doit etre accepte comme
venant de Dieu. Jacques Hury, le
paysan naif et borne, s'abandonne
ä sa douleur et ne comprend point
le calme de son beau-pere. Mais
Anne, sur le seuil de la mort, rend
gräces au Dieu Tout-Puissant.
Ce dernier tableau, que quelques
critiques ont trouve un peu long,
est cependant le plus beau du dra-
me, celui oü se revele la doctrine
supreme de Claudel: croire et re-
noncer. Anne Vercors sur le seuil
du Grand Mystere ne songe qu'ä
Dieu, et qu'ä sa Patrie retrouvee;
Jacques Hury pardonne bien ä Ma-
ra, mais il ne se soumet point et
pleure; Pierre de Craon, l'esprit pur,
le bätisseur aux conceptions subli-
mes, exalte ä nouveau son oeuvre.
Je ne sais rien de plus grandiose
que ce dernier acte de l'Annonce
faite ä Marie, non point seulement
par la force de la pensee, mais encore
par la magique beaute du verbe.
Et tandis que Pierre de Craon
dit son reve sublime, Anne Ver-
cors se loue de la Patrie sauvee
Et l'Angelus du soir sonne main-
tenant ä la fin de la piece, comme
l'Angelus du matin a sonne au de-
but de la piece et „fait ä Marie
l'annonce accoutumee . . ." Les trois
notes de l'Angelus sont „recueillies
dans le Sein de la Vierge sans pe-
chel"
*
Une analyse, si consciencieuse
füt-elle, de l'Annonce faite ä Marie,
ne saurait en exprimer la grandeur,
la puissance et l'emotion. C'est une
Sorte de mystere ecrit par un au-
teur aussi croyant que les auteurs
de mysteres du Moyen-äge, c'est
une oeuvre d'art et une CEuvre de
foi. Evidemment tous les episodes
de l'Annonce ont un sens profond
et mystique, et trouvent leur expli-
cation dans la doctrine catholique.
II est un reproche que les gens
superficiels — et parmi ces gens su-
perficiels, il faut helas compter quel-
ques critiques — fönt au theätre de
Claudel, comme ä d'autres oeuvres
dramatiques d'une Inspiration elev^e
et noble, et qui est de n'etre point
ä proprement parier du theätre,
c'est-ä-dire, de manquer de qualites
dramatiques. 11 est assez etrange
que l'on ait pu adresser ce repro-
che ä Claudel. L'annonce faite ä
Marie, est, techniquement, de l'excel-
lent theätre. Le Prologue, le depart
de Vercors pour la Palestine, son
retour, l'adieu de Violaine sont, ä ce
point de vue, admirables. Les per-
sonnages ne sont point des entit^s,
ni des machines chargees de repe-
ter les paroles de l'auteur, ils vivent
d'un^ vie intense et humaine. Hury,
le paysan simple et borne, Anne
Vercors le riche metayer, instruit.
et maitre chez lui comme un sei-
gneur sur sa terre, Pierre de Craon,
qui rappelle quelque peu le Solness
d'lbsen, Mara la fille tetue et me-
chante, Elisabeth la m&re devouee
et faible, et Violaine, si humaine, si
pure, si emouvante . . ■
M. Paul Claudel est un animateur
autant qu'un lyrique, et il faut bicn
se garder de laisser s'accrtl'diter ce
renom d'obscurite et de difficult^
qu'on a voulu lui faire. L'Annonce
faite ä Marie est une oeuvre pro-
fondement catholique et fran^aise,
mais largement humaine . . •
GLORüES OOLAY
701
a
D
D
a
a
D
a
MITTEILUNGEN
DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS (S.E.S.)
COMMUNICATIONS DELASOCIETE DES ECRIVAINS SUISSES (S.E.S.)
Hauptversammlung. Sonntag, den
15. Februar fand die Jahresversamm-
lung in Zürich statt. Das Belvoir
erwies sich mit seinem vornehmen
und ruhigen Hause, der ehemaligen
Villa Alfred Eschers, die jetzt durch
die Stadt als beliebte Restauration
zugänglich gemacht worden ist, und
mit dem wundervollen Park als ein
passender und angenehmer Zusam-
menkunftsort. Schade, dass nicht
mehr Kollegen von auswärts, nament-
lich aus der französischen Schweiz,
sich die Gelegenheit zu nutze mach-
ten, die Stätte, an die sich ja durch
Karl Stauffer und Lydia Escher denk-
würdige Erinnerungen aus dem Kunst-
leben knüpfen, kennen zu lernen.
Übrigens war die Versammlung
dennoch stattlich besucht, ja bei
ihren 31 anwesenden Mitgliedern, die
bisher best frequentierte Zusammen-
kunft des Schriftstellervereins. Außer
den Vorstandsmitgliedern: den Her-
ren Ernst Zahn, Paul Seippel, Jakob
Bosshart, Robert Faesi, Frau Maja
Matthey, hatten sich eingefunden die
Damen : Lilly Haller, Clara Holz-
mann-Forrer, Käthe Joel, Berthe
KoUbrunner-Leeman, Johanna Sie-
bel, Maria Waser-Krebs, Lisa Wen-
ger; die Herren: Albert Baur, Hans
Blösch, Hans Bodmer, Ernst Bovet,
Jakob Bührer, Ernst Eschmann,
Heinrich Federer, Max Geilinger.
Otto von Greyerz, Jakob Hartmann,
Alfred Huggenberger, Adolf Keller,
Eduard Korrodi, Meinrad Lienert,
Fritz Marti, Alfred Schär, Hans Trog,
Conrad Uhler, Adolf Vögtlin.
Ernst Zahn leitete die Geschäfts-
sitzung; sein ausführlicher Jahres-
bericht, der über die Tätigkeit des
Vorstands eingehend referierte und
das abgeschlossene Geschäftsjahr
die Periode der Vorarbeiten und des
Unterbauens nannte, wurde geneh-
migt, ebenso die Jahresrechnung der
Kassiererin Frau Matthey. Das Ver-
einsvermögen ist seit der General-
versammlung vom 17. Mai 1913 um
700 Fr. gestiegen. Der Großteil der
Ausgaben fällt auf Drucksachen, Porti
und Reiseentschädigungen für die
Vorstandsmitglieder. Das Budget für
1914 wird sich ungefähr gestalten wie
das des Vorjahres, wenn nicht, wie
zu erwarten ist, durch Anstellung
eines Sekretärs und Erschließung
neuer Einnahmequellen eine wesent-
liche Änderung eintritt. Zu Rech-
nungsrevisoren wurden ernannt : Ernst
Eschmann und Th. Aubert.
Da die Bestimmungen unsrer
Statuten, die nicht schweizerischen
Schriftstellern den Beitritt nur als
außerordentliche Mitglieder gestat-
ten, diese jedoch sehr beschränkte
Rechte genießen, von mancher Seite
als etwas zu rigoristisch und unbillig
empfunden wurden, brachte der Vor-
stand einen Abänderungsvorschlag
ein. Aus einer langen und interes-
santen Diskussion, die sich daran
knüpfte, ergab sich die einmütige
Überzeugung, die nationale Grund-
lage des Vereins sei wie bisher zu
wahren, doch wurde der Antrag des
Vorstandes mit einigen Modifikatio-
nen fast einstimmig angenommen.
§ 5 wird von jetzt an lauten:
„Als ordentliches Mitglied kann
in den Verein aufgenommen werden,
wer Schriftsteller ist. In der Regel
ist der Bewerber durch ein Mitglied
einzuführen. Die Aufnahme erfolgt
durch Beschluss des Vorstandes, ge-
stützt auf einen zu erbringenden
Qualifikationsausweis, bestehend in
gedruckten Werken, welcher bei den
702
«ora
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS
Bewerbern in Wegfall kommen kann,
die schon durch ihre Veröffentlichun-
gen vorteilhaft bekannt sind.
„Schweizerbürger werden durch
Mehrheitsbeschluss des Vorstandes
aufgenommen. Für Schriftsteller
fremder Nationalität, die sich um
schweizerische Eigenart verdient ge-
macht haben, oder sonst in engen
Beziehungen zum schweizerischen
Schrifttum stehen, und die obigen
Anforderungen erfüllen, ist Einstim-
migkeit des Vorstandes erforderlich.
Die Zahl der Schriftsteller fremder
Nationalität, die aufgenommen wer-
den dürfen, bleibt auf ein Zehntel
des Bestandes an ordentlichen Mit-
gliedern beschränkt ; das passive
Wahlrecht steht ihnen nicht zu."
Der Vorstand erhielt Vollmacht
zur Weiterführung der Verhandlungen
in der Sekretariatsfrage.
Seine bisherige Stellung zum
„Schutzverband schweizer. Schrift-
steller" wurde gutgeheißen.
Man beschloss den Eintritt in die
„Schweizerische Schillerstiftung" mit
einem Jahresbeitrag von 100 Fr., die
in höchst verdankenswerter Weise
z^um großen Teil von unserm Mit-
glied, Frau Lisa Wenger, aufgebracht
werden.
Nach mehr als dreistündiger Ar-
beit setzte man sich mit einigen
Gästen zu Tisch. Die Wegverhält-
nisse hatten den Ausflug nach Meilen
nicht erlaubt, doch heiterte der Him-
mel auf und die Gesellschaft schöpfte
auf der aussichtsreichen Terrasse im
Park eine Weile frische Luft, bis sie
sich beim schwarzen Kaffee wieder
vereinigte, um den Vortrag von Ro-
bert Faesi über Geld unp Geist im
Schrifttum, das heißt über das Zu-
sammenspiel und Widerspiel der
materiellen und ideellen Mächte in
der heutigen Literatur zu hören.
Ein ansehnlicher Teil der Gesell-
schaft fand sich um fünf Uhr im
Kunstgewerbemuseeum zusammen,
wo Albert Baur mit seiner sachkun-
digen Führung durch die Theater-
kunstausstellung dem anregenden
harmonisch gestimmten Schriftsteller-
tag einen würdigen Abschluss gab.
«
Assemblee generale. L'assembl^e
annuelle a eu lieu le dimanche 15 fe-
vrier ä Zürich. On n'aurait pu choi-
sir un lieu de r^union plus agr^able
que le parc magnifique et la maison
tranquille et distinguee de Belvoir,
qui fut autrefois la r^sidence d'Alf red
Escher, achetee par la ville et trans-
formee en un restaurant assez fre-
quente. C'est dommage qu'un plus
grand nombre de nos collegues
des autres cantons, notamment de
la Suisse fran(;aise, n'ait pas profite
de cette occasion de voir des lieux
auxquels se rattachent avec le Sou-
venir de Karl Stauffer et de Lydia
Escher les evenements les plus tra-
giques de la vie artistique de la Suisse.
L'assemblee fut cependant la plus
nombreuse qu'on ait vue; 31 niem-
bres etaient presents. Outre le co-
mite, compos^ de Messieurs Ernst
Zahn, Paul Seippel, Jakob Bosshart,
Robert Faesi, et de Madame A\atthey,
etaient presents: Mesdames Lilly
Haller, Clara Holzmann-Forrer, Käthe
Joel, Berthe Kollbrunner-Lehmann,
Johanna Siebel, Maria Waser-Krebs,
Lisa Wengei ; Messieurs Albert Baur,
Hans Blösch. Hans Bodmer, Ernest
Bovet, Jakob Bührer, Heinr. Federer,
Ma.x Geilinger. Otto von Greyerz,
Jacob Hartmann, Alfred Huggen-
berger, Adolf Keller, Edouard Kor-
rodi, Meinrad Lienert, Fritz Marti.
Alfred Schär, Hans Trog, Conrad
Uhler, Adolf Vögtlin.
M. Ernest Zahn prösida la s^ance.
II fit un rapport dclaillc sur l'aciivit^
du comite durant l'annc^e pröcödente,
(03
MITTEILUNGEN DES SCHWEIZ. SCHRIFTSTELLERVEREINS «w©
qu'il appela „periode de preparations
et de fondations". Ce rapport, ainsi
■que celui de la caissiere, Madame
Matthey, sur les comptes de I'annee
derniere ont ete adoptes.
La fortune de la Societe s'est
augmentee de 700 francs depuis l'as-
semblee generale du 17 mai 1913.
La plus grande partie des depenses
consiste en imprimes, en frais pos-
taux et en indemnites de route pour
les membres du comite. Le budget
de 1914 sera ä peu pres semblable
ä celui de I'annee derniere, si la nomi-
nation d'un secretaire et de nouvelles
ressources n'yapportent aucun chan-
gement. Messieurs Ernst Eschmann
und Th. Aubert ont ete nommes
verificateurs des comptes.
Plusieurs personnes furent d'avis
que nos Statuts se montraient bien
rigoureux ä l'egard des ecrivains
etrangers en ne les admettant que
comme membres extraordinaires, qui
n'ont que des droits tres limites.
Aussi le comite proposa-t-il quelques
modifications, qui donnerent lieu ä
une longue et interessante discussion.
Tout le monde fut d'avis que la So-
ciete devait garder le caractere na-
tional qu'elle a eu jusqu'ä present.
Cependant la proposition du comite
fut adoptee presque ä l'unanimite.
Desormais le § 5 sera con^u :
„Pour faire partie de la Societe
comme societaire, il faut etre ecri-
vain. Dans la regle, le candidat doit
etre presente par un membre de
l'association. Le comite decide de
l'admission du nouveau membre sur
l'examen de ses titres, consistant en
Oeuvres publiees. Le candidat qui
s'est acquis une notorite litteraire
peut etre admis sans autre examen.
„Pour les citoyens suisses le co-
mite decide ä la majorite; pour les
ecrivains d'origine etrangere, qui
s'interessent ä notre esprit national,
qui ont des affinites avec la iittera-
ture suisse, et remplissent d'autre
part les conditions stipul^es ci-des-
sus, une decision unanime du co-
mite est necessaire. Le nombre des
ecrivains de nationalite etrangere qui
peuvent etre admis comme membres
de la S. E. S., ne doit pas depasser
le dixieme du chiffre total des mem-
bres ordinaires. Ils ne sont pas eli-
gibies au comite."
Puis le comite reijut de pleins
pouvoirs pour regier la question du
secretariat.
Son attitude vis-ä-vis du „Schutz-
verband schweizerischer Schriftstel-
ler" fut approuvee.
On decida d'entrer dans la „fon-
dation Schiller" avec une contri-
bution annuelle de 100 francs, que
l'on doit en grande partie ä ia ge-
nerosite de Madame Lisa Wenger.
Apres un travail de plus de trois
heures, on se mit ä table avec quel-
ques convives. Le temps n'avait pas
permis l'excursion ä Meilen. Pour-
tant le ciel s'eclaircit et la compa-
gnie put aller prendre le frais et ad-
mirer la vue sur la terrasse, jusqu'ä
ce qu'elle s'assemblät de nouveau
pour le cafe et la Conference de
Robert Faesi, intitulee Geld und
Geist in Schrifttum qui traita de
l'influence qu'exercent la puissance
de l'Argent et la puissance de l'ldee
sur la litterature actuelle.
Une partie considerable de la So-
ciete se reunit ä cinq heures au mu-
s^e des Arts et Metiers, oü eile vi-
sita l'exposition du theätre sous la
conduite d'un guide competent,
M. Albert Baur. Ce fut une fin digne
d'une reuion aussi animee et aussi
cordiale.
Verantv^ortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
704
DIE LAUTE
Von KONRAD FALKE
Weilt, liebes Mädchen, still auf dir mein Blick,
Träumt sich der Sinn in alte Zeit zurück:
Als ob einst zu den Ufern der Garonne
Du schrittest leicht durch Feld und Morgensonne;
Hoch hinten ragte deiner Väter Schloss,
Schimmernd vor dir die Flut zum Meere floss.
Braun war dein Haar, das lichte Schläfen kränzte,
Braun auch dein Augenpaar, das schelmisch glänzte;
Du wandeltest in feinem Takt und Schritt,
Und traulich flog dein Lieblingsvogel mit;
Leis übers grüne Gras hinschleifend wallten
Des braunen Kleides goldgestickte Falten.
Vom Hals hing dir die Laute vor die Brust,
Rosig das Band wie deiner Wangen Lust:
In Ahnung lächelnd regtest du die Hände,
Ob lieblich sich der Ton zum Liede fände;
Dein Finger prüfte bald der Saiten Klang,
Bald strich er ordnend Stirn' und Lock' entlang.
705
Schon der Akkord, das Spiel von schlanken Armen,
War Aug' und Ohren wie ein Liebeskarmen ;
Du lauschtest selig, süßer Sänge voll,
Der Laute und dem Ruf, der ihr entquoll,
Dieweil in Knie und Fuß aus dem Gewände
Der holde Rhythmus sprach, der dich entwandte.
Sanft tratest du, von der Musik gewiegt.
Ans Bord, wo sich des Wassers Fülle schmiegt:
Der goldne Reif, den du durchs Haar gezogen.
Sah spiegelnd zu dir auf aus glatten Wogen;
Mit zarten Nüstern sogst du Blütenhauch,
Den Ruch der weißen Pracht auf Baum und Strauch.
Und hell dann in das Rauschen der Garonne
Sangst du des Freundes Lied von Lenz und Wonne.
Wie klang es doch im Garten und im Tal?
Wie drang es jubelnd in den Rittersaal?
So klang es: „AI entrant del douz termine,
Del tans nouvel que naist la flours d'espine . . .**
Lass gut sein, Kind, wir leben jetzt im Norden,
Und Welt und Tag sind winterlich geworden!
Doch liegt im Gärtchen Nacht und tiefer Schnee,
Hell ist's und warm in deinem Atelier:
Rot glänzt der Ampelschein auf Helm und Schildern
Und auf den rings gestellten Frühlingsbildern.
Als rost'ger Schmuck beschirmt den Liebespfühl,
Was einstens Wunden schlug im Schlachtgewühl;
706
Das süße Licht, das damals du genossen,
Ist farbig wieder deiner Hand entflossen:
Zur Kunst erhoben lebt um uns die Zeit,
Da ich als Troubadour um dich gefreit.
Was sich auch tausendfach seither begeben,
Die Masken wurden alt, jung blieb das Leben!
Es singt ein Lied, das ewig neu ertönt
Und jedem sanft sein Pilgerleid versöhnt:
Rührt Liebe uns mit leichten Silberschwingen,
So Kuss wie Lachen hold zusammenklingen.
Du bist kein vornehm Ritterfräulein mehr
Und ich kein Lehensmann mit Schwert und Speer;
Ein Traum nur führt dich in die alten Zeiten,
In die mein Vers und Reim dich heimgeleiten.
Doch horch — wenn unser Jubelruf sich fand,
Was klingt? Es ist die Laute an der Wand.
Mein tiefer Ton weckt ferner Wälder Rauschen,
Und deinem hör' ich helles Echo lauschen.
Ja, nimm sie sanft, die einstmals dir gefiel,
Und schmieg dich an zu neuem Saitenspiel !
Zweistimmig, und doch wie aus Einem Munde,
Beginnen wir: „In einem kühlen Grunde . . ."
707
la question de la
rEforme Electorale
Le peuple suisse est ä la veille de prendre une decision
touchant le mode d'election du Conseil national. Depuis treize
ans, les points de vue opposes se sont suffisamment rapproches,
du moins dans une grande partie du pays, pour que Ton puisse
esperer aboutir cette fois ä une Solution mürie et definitive du
Probleme, qui commence ä devenir encombrant pour notre vie
politique, le travail de nos representants devant nous interesser
davantage, semble-t-ii, que le mode de leur election. Si nous
voulons nous delivrer du byzantinisme, eviter de sacrifier le fond
ä la forme, et nous attaquer ä des problemes plus urgents parce
que vitaux, nous nous emploierons ä trouver une Solution po-
sitive, consistant dans la reforme du Systeme electoral actuel.
Mais par que) moyen? direz-vous. C'est ici que se pose une
question de methode fort importante, decisive peut-etre. Pouvons-
nous borner notre etude ä l'examen de deux systemes electoraux
opposes, chevaux de bataille des doctrinaires? Ou, laissant piutöt
ä l'arriere-plan les considerations aprioristiques, ne devons-nous
pas plutot etendre notre investigation, sans parti-pris, ä tous les
systemes electoraux connus? Alors que les cantons nous four-
nissent un precieux et merveilleux laboratoire d'experiences socio-
logiques, allons-nous faire oeuvre de Philosophie doctrinaire ou
de science experimentale? A-t-on vraiment tout dit sur ce su-
jet? II nous semble que dedaigner les conclusions de la pratique
equivaudrait pour le peuple suisse ä renier une de ses meilieu-
res traditions et ä priver notre Systeme federatif d'un de ses avan-
tages les moins contestes.
I. LE SYSTEME MAJORITAIRE
. - Or, si nous nous pla^ons au point de vue de la sociologie
experimentale, comme des conditions politiques presentes, on doit
convenir que les jours du Systeme majoritaire pur, tei que nous
le connaissons en Suisse, sont comptes.
A vrai dire, nous aurons garde de meconnattre les grands
Services qu'il a rendus ä notre pays. Le regime majoritaire per-
708
met le gouvernement d'un parti, c'est ä-dire donne ä celui-ci les
assises necessaires pour realiser des desseins d'une certaine por-
tee. II obvie au grand defaut des democraties, qui est de vivre
au jour !e jour. Ses adversaires oublient trop souvent qu'un
parlement n'est pas une academie, encore moins une parlote, et
que s'il doit recueillir les avis les plus divers, il a aussi besoin
de la faculte d'agir.
Le Systeme majoritaire pur convient excellemment aux perio-
des de revolution pacifique, oü les passions sont dechainees
dans la rue, oü les partis politiques, cantonnes dans des princi-
pes irreductibles, sont separes les uns des autres par des cloi-
sons etanches, par des fosses infranchissables, oü le plus fort doit
s'assurer le pouvoir ä tout prix, coüte quecoüte, oül'Etatenfin ne
doit pas craindre de se personnifier dans un parti, qui accaparebru-
talement tous les mandats, toutes les fonctions, tous les honneurs. II
fautetrealorsd'un cöte de la barricade. Ades epoques et dans des
pays moins troubles, quand les discussions paisibles ont succede ä la
tourmente, on peut medire de ce Systeme politique, que Ton a
appele jacobinisme, et plus recemment combisme. II n'en reste
pas moins que sans le jacobinisme aucun progres serieux, ä cer-
laines epoques, n'est possible, et que si, notamment, nous n'y
avions eu recours dans la periode qui a suivi 1848, notre de-
mocratie aurait ete loin de realiser tous les progres qui ont ete
accomplis depuis 64 ans. Nous devons meme songer ä la ne-
cessite ineluctable qui pourrait nous obliger ä recourir de nou-
veau ä des moyens de gouvernement qui meritent le nom de
„radicaux".
Neanmoins, on est force de reconnaitre qu'ä une epoque
oü les groupements politiques s'operent selon des jugements
variant d'apres le temps et le lieu, oü la vie politique est faite
de nuances, oü les traditions de famille et de parti en arrivent
ä jouer un röle presque aussi considerabie que les convictions,
le jacobinisme, et par consequent aussi le Systeme majoritaire pur
qui l'incarne, ne laissent pas de presenter de graves inconvenients.
Dans les regions rurales, en effet, ce Systeme aboutit sou-
vent ä rendre impuissantes ou meme ä annihiler les minorit^s
et, avec elles, la lutte des idees sans laquelle on ne saurait con-
70Q
cevoir de vie politique veritable. Dans les regions industrielles
ou commercjantes, au contraire, l'apaisement tend ä favoriser
Teclosion de nouveaux partis, et Ton voit frequemment les par-
tis extremes, estimant les faveurs plus haut que les principes, se
coaliser contre le parti le plus fort. Nous assistons aux tentati-
ves et, le cas echeant, ä la victoire de coalitions qualifiees non
Sans raison „d'immorales". Le Systeme electoral dit majoritaire
peut ainsi aboutlr ä l'instauration du regne des minorites, tandis
que le parti le plus fort en est reduit ä la portion congrue.
II est deux moyens pour le parti le plus fort d'ecarter sem-
blable eventualite. 1° II peut chercher ä absorber insensiblement
le moins vivace des partis de minorite qui, generalement, ne s'y
prete que trop volontiers. C'est ainsi que, en Suisse, la moitie
de l'ancien centre est passee insensiblement avec armes et baga-
ges dans les rangs du parti radical. Mais cette absorption ne
manque pas de deplacer fortement Taxe du parti de majorite,
au risque de le faire devier de ses principes et de lui faire per-
dre l'equilibre. 2° Sans absorber la moins vivace des minorites,
il peut se resigner ä lui faire des concessions volontaires, en
esperant etre paye de retour. On attend de cette minorite qu'elle
soit bien sage, qu'elle ne critique plus qu'avec des menage-
ments infinis la politique du gouvernement. La majorite n'admet
ses candidats que s'ils ont fait preuve d'une certaine complaisance
envers eile. Une fois nommes, eile les menace incessamment de
decheance s'ils disent trop crüment ce qu'ils pensent. On anemie
et l'on fausse ainsi la vie politique.
A ceux qui doutent encore de la necessite d'accorder aux
minorites une representation legale, il nous suffit de rappeler
deux faits. D'abord, que le Systeme majoritaire pur est sorti des
moeurs ä tel point qu'il n'est presque plus pratique integrale-
ment. Le parti de majorite qui voudrait aujourd'hui accaparer
une deputation tout entiere serait accuse d'intransigeance au point
de s' aliener une partie de l'opinion publique. Ensuite, de par la loi
federale du 30 mars 1900, qui admettait au second tour de scru-
tin le choix ä la majorite relative, on a dejä fait un serieux
accroc ä ce Systeme majoritaire pur. On est ainsi entre dans la
voie des accommodements et des temperaments. Depuis treize
710
ans Torthodoxie majoritaire est morte, nous n'avons donc plus ä
nous inquieter d'elle pour lui preferer un Systeme plus rationnel.
II. LA REPRESENTATION PROPORTIONNELLE
On sait que les partisans les plus actifs d'une representation
legale des minorites ont le plus souvent cru trouver la Solution
dans la R. P., qu'ils considerent volontiers comme une panacee.
Je renonce ä exposer ici les differents systemes en presence.
ceux qui sont appliques jusqu'ici en Suisse ne differant que par
des nuances, et persone ne songeant ä introduire chez nous le
Systeme beige, qui annihile l'independance des electeurs au profit
des comites de partis. On peut faire ä la R. P., teile que nous
la connaissons chez nous, deux genres d'objections:
1°. Objecüons de principe.
En Premier lieu je ne crois pas que la R. P. accorde aux
differents partis une representation equitable, c'est-ä-dire propor-
tionnelle ä la force reelle de leurs adherents. Mon sentiment est
que M. Louis Dumur, ancien directeur du Jura-Simplon, docteur
es Sciences et en Philosophie, est dans le vrai en affirmant que
la R. P. donne au parti de majorite une representation de 9,5 °'o
trop faible, tandis que le Systeme majoritaire ne lui accorde qu'un
Supplement de 7 7o. S'il m'est impossible de refaire ici l'argu-
mentation de M. Dumur, qui necessite un arsenal d'arguments
de mathematicien, je puis toutefois indiquer sur quel point essen-
tiel il se separe nettement des proportionalistes. Ceux-ci, ä
l'exemple de la plupart des citoyens, ne prennent pas garde ä
une anomalie propre ä tous les systemes de scrutin de liste.
Cette anomalie consiste ä croire qu'il est indifferent, pour un
electeur, de porter sa voix sur un seul depute, tandis que dans
l'arrondissement voisin, il exercerait son pouvoir electoral sur
vingt deputes. Supposons deux circonscriptions voisines de cha-
cune cent electeurs, ayant ä elire chacune un depute. Le pou-
voir electif de chaque electeur est de Vioo. En toute equite 51
electeurs peuvent designer un depute. La r^union des deux cir-
conscriptions en une, elisant deux deputes, a pour effet pratique
d'augmenter ou de diminuer ce pouvoir electif, ce qui, en ad-
mettant le principe de l'egalite des citoyens entre eux, est une
711
absurdite. II faut donc admettre avec M. Dumur^) que si le
scrutin de liste accorde ä l'electeur le droit de porter sur son
bulietin de vote autant de candidats qu'il y a de delegues ä elire,
c'est uniquement dans le dessein de preciser les intentions du Col-
lege, qui, Sans cela, resteraient insuffisamment definies.
Or, lorsque l'electeur emet un second suffrage, apres en
avoir dejä inscrit un premier sur son bulietin, son pouvoir elec-
tif n'est plus intact, et la valeur de ce second suffrage, equiva-
lente au pouvoir electif restant ä l'electeur ä ce moment et qui
ne porte plus que sur un seul delegue, au lieu de deux, est
evidemment egale ä la moitie de la valeur du premier suffrage.
„Au point de vue pratique, il suffit evidemment de compter
chaque suffrage en tete de liste ou de premier rang pour un,
tandis que ceux de second rang le seront seulement pour un
demi-süf frage.'' 11 en resulte que, pour qu'un parti ait droit ä
un siege sur deux, il faut qu'il recueille les '/? des suffrages, et
non le Vs seulement comme le veut la R. P.
Des que Ton suit M. Dumur sur ce terrain, ce qui neces-
site, je le reconnais, une reflexion prolongee et la connaissance
des mathematiques, on peut lire tout au long sa brochure, qui
n'a Jamals ete refutee, et pour cause! Malheurement, le „Systeme
rationel" que nous propose M. Dumur, pour etre mathematique-
ment parfait, est trop complique pour etre applique aisement.
En second lieu, il est un principe proportionalste que l'on
ne peut admettre sans de serieuses reserves, celui qui veut que
toute minorite disposant du quotient ait un droit moral ä etre
representee. On raconte qu'ä Geneve ceux qui pratiquent profes-
sionnellement ce que l'on designe, par un gracieux euphemisme,
le vagabondage special, ont failli une fois etre representes au
Grand Conseil. En tous cas, la R. P. ne rend pas la chose im-
possible. De meme, surtout avec l'avenir que nous reserve l'en-
vahissement du pays par les etrangers, il peut se former dans
nos centres frontieres des groupements pratiquement antipatriotes,
pangermanistes, irredentistes, pangallistes etc. Or seuls sont
dignes d'etre representes les partis prets ä assumer les respon-
sabilites du pouvoir. II ne faut pas craindre d'obliger les grou-
^) Louis Dumur, La Reforme e'lectorale, Lausanne, 1910, page 7.
712
pements nouveaux ä faire antichambre avant de penetrer dans
les Parlements. S'ils portent en eux-memes une destinee, ils ne
redouteront pas cette periode d'attente au cours de laquelle ils
ne peuvent que se mürir et se fortifier s'ils subissent victorieu-
sement Tepreuve. S'il est des partis nouveaux dont on puisse
exiger en quelque sorte une periode de carence, d'autre part il
peut en etre d'autres vieillis, tombes en pourriture, qui se sur-
vivent en quelque sorte ä eux-memes, et dont la disparition de
la scene ne peut etre qu'un bienfait. M. Brüstlein disait autre-
fois que la „R. P. est la bequille que reclament les partis mo-
ribonds." II y a beaucoup de vrai dans ce propos.
2o. Objections d'ordre pratique.
Nous groupons sous ce titre quelques reflexions que nous
inspirent les experiences faites jusqu'ici en Suisse.
1^ Le resultat d'une election effectuee selon la R. P. manque de
clarte. Avec le scrutin majoritaire, on sait au moins ä quoi s'en tenir
sur les sentiments du peuple ä l'egard des programmes electoraux
et des questions du jour. Mais quand, ä la suite d'une election
au Grand Conseil genevois, je lis que les ddmocrates (conser-
vateurs protestants) ont perdu un siege, les radicaux officiels
deux, tandis que les radicaux de droite et les socialites en ont
gagne chacun un, je cherche vainement dans ce resultat une
indication serieuse pour le legislateur.
2^ Le grief fait ä la R. P. d'etre un agent de morcellement
des partis n'est que trop justifie. Ce defaut est apparu d'abord
dans la Suisse romande, ä Qeneve oii l'esprit est peut-etre plus
prompt qu'ailleurs. Mais l'exemple de Bäle montre que tot ou
tard il intervient avec l'application de la R. P. Ce n'est qu'une
affaire de temps et de circonstance, chaque grand parti reunis-
sant des Clements divers, que seule soude la necessite de lüttes
en commun. Bien plus, la R. P. est un agent de desagregation
nationale; car, tandis qu'ä l'heure actuelle ceux qui mettent au
Premier plan les visees des petits groupements sont condamnes
ä l'impuissance, avec la R. P. ceux qui seront le mieux ecoutes
seront sans doute les particularistes les plus violents. Par exem-
ple, avec la R. P. et la formation de partis agrarien radica! ou
713
conservateur, les chefs du mouvement agrarien actuel ne man-
queraient pas d'etre taxes rapidement de moderantisme et d'etre
remplaces par de plus purs. Autre exemple: A Geneve, sous le
regime majoritaire, il y avait certes dans le parti radical un cen-
tre et deux alles; un jeune radical se sentait tout d'abord radi-
cal et ensuite seulement membre de son aile gauche; avec ia
Constitution d'un parti jeune-radical independant, cet electeur se
sent tout d'abord jeune-radical et ensuite seulement membre du
parti radical.
3°. La R. P. ne realise une equite apparente qu'avec un seul
College, les „restes" de plusieurs Colleges n'etant pas pris en
consideration. C'est ainsi qu'en Belgique, depuis un certain nom-
bre d'elections, le bloc de gauche obtient une fois sur deux la
majorite absolue des suffrages, ce qui n'empeche pas la majo-
rite clericale de se maintenir. De meme aux dernieres elections
saint-galloises, les conservateurs ont obtenu deux deputes de plus
que les radicaux, bien que ceux-ci eussent reuni plusieurs mil-
liers de suffrages de plus que leurs adversaires.
4^ Avec la R. P., l'ordre dans lequel les deputes d'un parti
sont elus est moins fixe par ses adherents que par ceux du
parti adverse. Par exemple X. radical, perd dans son propre
parti trente voix, ce qui le ferait echouer, mais comme il obtient
les suffrages de cinquante socialistes, il passe haut la main.
5". La R. P. offre libre jeu ä quantite de manoeuvres louches
et deloyales ä I'interieur meme des partis. Comme il suffit sou-
vent d'une voix pour faire passer ou echouer un candidat, le
rang de ceux-ci prend une importance abusive. Dans un cas
que nous connaissons, on avait decide, par exemple, de porter
deux candidats en vue de satisfaire une certaine categorie de ci-
toyens, mais en donnant un mot d'ordre en sous-main en vue
de les faire biffer au grand jour de l'election. Ajoutez ä ces in-
trigues perfides l'intervention des partis adverses, et Ton voit
quelle somme de gächis peut representer une election selon la
R. P. : Ce n'est plus la Photographie du corps electoral, c'en est
la caricature grima^ante! Si, dans nos cantons, le Systeme pro-
portionnel a generalement ete applique honnetement par les par-
tis politiques, on n'en reste pas moins expose, sous ce regime,
ä des pratiques inquietantes.
714
6*^. Mentionnons l'influence deplorable de la R. P. concer-
nant la qualite intellectuelle et morale des elus. Avec la R. P., il
taut se garder de choquer une categorie considerable de citoyens.
II devient dangereux de s'attaquer aux abus que pourraient com-
mettre les mastroquets, les proprietaires d'immeubles, les automo-
bilistes, les tenants de Industrie höteliere etc. Ainsi peut-on
constater que la plupart du temps ceux qui viennent en tete de
liste sont des prudents, dont le plus grand art consiste ä me-
nager la chevre et le chou, tandis que les hommes de valeur et
de caractere descendent au rez-de-chaussee ou a la cave, ä
moins qu'ils ne soient rejetes dans le grand panier des black-
boules.
Signaions enfin que si Ton ne retablit que difficilement le
scrutin majoritaire lä oü il a ete remplace par la R. P., ce n'est
point un argument peremptoire en faveur de ce dernier Systeme.
Car la R. P., avec laquelle un parti ne risque que le gain ou la
perte de quelques sieges, est sans contredit le regime du moin-
dre effort, et une fois qu'il est passe dans les moeurs, il devient
difficile de reaccoutumer le corps electoral ä des lüttes plus ris-
quees, mais aussi plus nettes et plus glorieuses.
III. AUTRES SYSTEMES DE REPRESENTATION DES MINORIT^S
Mais la R. P. n'est pas le seul Systeme de representation legale
des minorites. Laissons de cote le vote limite et le vote cumu-
latif qui presentent aussi, ä cote d'avantages incontestables. des
inconvenients signales.
Restent, ä notre sentiment, deux systemes trop peu etudies
jusqu"ici: le vote supplementaire et le vote gradue.
1°. Vote supplementaire.
Ce Systeme se trouve formule de la fa^on suivante dans un
amendement presente ä la commission parlementaire fran<;aise,
le 20 mai dernier par le ministre Barthou: „Chaque electeur
dispose d'autant de suffrages qu'il y a de deputes ä eure dans
la circonscription. 11 peut souligner par un trait le nom d'un
candidat auquel il est alors compte un suffrage de plus.
„Si plusieurs noms sont soulignes sur une meme liste, seul
entre en compte le suffrage supplementaire attribue au premier
nom."
715
Mais il faut admettre, pour le cas, frequent en Suisse, de
vastes arrondissements, que Ton pourrait souligner un nom par
six deputes ä elire.
Exemples: 6 deputes ä eure:
V. Sup. R. P.
(2 '/14) A 3500 suffrages 3600 3500 6950 (2) 3 2
(2 2/iJ B 3000 „ 3050 6000 {2) 2950 2 2
(1 8/14) C 2000 < „ 4200 (2) 1 2
Ici le parti le plus fort, le parti A, obtient la moitie des
Sieges, bien que n'ayant pas la majorite absolue. Avec la R. P.
les trois partis auraient obtenu chacun trois deputes. Sous le
Systeme majoritaire, le parti A aurait pu succomber sous une
coalition de B et de C. Ce Systeme est donc particulierement
favorable au parti le plus fort au-dessous de la majorite absolue.
Prenons le cas oü le parti A possede la majorite absolue:
V. Sup. R. P.
(3,4) A 5500 suffr. 5600 5500 5500 10900 (2) 4 3
(1,9) B 3000 „ 3050 6000(2) 2950 1 2
(1,2) C 2000 <„ 4200(2) 2000 1 1
Ici, avec la R. P., le parti qui groupe la majorite absolue
des electeurs n'aurait pas la majorite absolue des elus. Avec le
vote supplementaire, il obtient quatre deputes sur six, les trois partis
principaux sont representes sans que les minorites aient eu be-
soin de recourir ä des coalitions. On voit combien ce Systeme
est ä la fois simple et sage.
2". Le vote gradue.
Un autre Systeme fort presentable de representation legale
des minorites consiste dans le vote gradue. Dans ce Systeme,
on multiplie le chiffre des voix obtenues par le candidat en tete
de liste par le nombre des deputes ä elire, celui du suivant par
ce nombre moins un, et ainsi de suite jusqu'ä un. Lorsque cinq
Sieges sont vacants, les multiplicateurs sont ainsi 5, 4, 3, 2, 1.
Exemple: 5 deputes ä elire:
V. Grad. R. P.
A 450 2250 1800 1350 900 450 3 2
B 300 1500 1200 900 600 300 l 2
C 250 1250 1000 750 500 250 11
716
V. Grad.
R P.
4
(3)
2
(2)
0
(1)
V. Sup.
4
1
1
Le parti A, bien que n'ayant pas la majorite absolue des
electeurs, obtient celle des Sieges; neanmoins les trois partis sont
representes. Le resultat se rapproche sensiblement de celui du
vote supplementaire. Le vote gradue est toutefois un peu
molns favorable au troisieme parti.
ExempLe: 6 deputes ä eure:
A 1500 9000 7500 6000 4500 etc.
B 1000 6000 5000 4000 3000 etc.
C 700 4200 3500 etc.
A 1500 1600 1580 1500 2900(2)
B 1000 1100 2050(2) 950 900
C 700 1400(2) 700
On voit qu'avec le vote gradue le quorum, pour six de-
putes est presque de 23 Vo, ce qui permet, ä vrai dire, de repre-
senter les courants importants de l'opinion et engage les partis
ä ne pas se fractionner.
Remarquons que ces deux systemes, entre lesquels il est
permis d'hesiter, assurent une representation legale aux minori-
tes, suppriment ainsi le cote le plus choquant du Systeme actuel.
tout en n'offrant aucun des inconvenients de la R. P. que nous
avons signales plus haut. Ici, les fractions des grands partis
n'ont pas d'interet ä entrer en lice isolement. Donc absence du
virus de desagregation et mise en evidence, comme dans le Sys-
teme majoritaire pur, des grands courants nationaux. D'autre
part, comme le calcul est base non sur l'ensemble des suffrages
afferent ä chaque parti, mais sur le nombre de voix obtenues
par les candidats, l'ordre dans lequel ceux-ci sortent de l'election
ne prend pas cette importance excessive qui encourage des ma-
noeuvres suspectes.
Dans ces conditions, ces deux systemes fort ingenieux ne
solliciteront-ils pas I'attention des citoyens qui desirent sinc^re-
ment une reforme electorale, sans se laisser hypnotiser par une
pretendue panacee dont M. Jules Dcstree a dejä demontre, ici
meme, les graves inconvenients? Les etats-majors des grands
partis ne manqueront pas de se dire que ces esprits indepen-
dants sont peut-etre plus nombreux qu'on se l'imagine et que
ce sont eux qui decideront le jour du scrutin.
BERNE RICHARD BOVET
717
WALDECK - ROUSSEAU
11 a l'intelligence trop ouverte, Tarne
trop haute pour pretendre enfermer la
France dans les frontieres d'un groupe.
A. MILLERAND
Der Name Waldeck-Rousseau wird von den Franzosen mit
Ehrfurcht und Stolz genannt. Er war der Besten einer, den das
moderne Frankreich hervorbrachte. Und das will etwas heißen
in einem Lande, wo die politischen Talente am Wege blühen. Er
hatte vor allem Eins, was den wahren Staatsmann ausmacht: den
Sinn für das Mögliche und die Bravour, es aufrecht und furchtlos
durchzukämpfen. Ein Politiker großen Stils, keine schwächliche
Kompromissnatur, wie sie so häufig sind in einem Zeitalter, wo
die materiellen Interessen die politischen Ideale verdunkelt haben.
Dabei ein Mann von auserlesener juristischer, sozialer und literari-
scher Bildung. Im Jahre 1908 hat Henri Leyret ein großange-
legtes Werk über das politische Wirken des Staatsmannes ver-
öffentlicht, ein Buch, das zum Besten gehört, was die politische
Literatur der letzten Jahre hervorgebracht hat, und nun ist bereits
wieder eine Würdigung Waldeck-Rousseaus erschienen^). Das
Buch von Paul-Reynaud will keine minutiöse Darstellung der
Politik Waldecks geben, es stellt den Menschen in den Vorder-
grund, von dem Milleraud in dem Vorwort sagt: „Ce Breton me-
ditatif et timide, qui jusqu'au bout vecut replie sur lui-meme, ja-
loux de derober au dehors l'intimite de ses sentiments . . ."
Paul-Reynaud verfügt über alle Künste einer feinen, wirk-
samen Personendarstellung. Er schildert warm, lebenswahr und
plastisch, hebt die Persönlichkeit wirksam aus dem chaotischen
Durcheinander der Tatsachen ab, die ihrer Wirksamkeit zu Grunde
lagen. In jedem einzelnen Falle kommt ein fein abgewogenes
subjektives Urteil heraus. Alles zieht in raschen Bildern vorüber:
die Kindheit, die Jugend- und Studentenjahre, der Advokat, der
Minister in den Kabinetten Gambetta und Ferry, der Abgeordnete,
Senator, der Ministerpräsident. Die Gliederung des Stoffes hält
nicht allen Einwänden Stand, aber eines muss an dem Buche
1) Paul-Reynaud: Waldeck-Rousseau. Verlag Bernard Grasset, Rue
des Saints Peres, Paris.
718
bewundert werden: die weise Beschränkung, die souveräne Meiste-
rung des Materials. Bietet uns also Paul-Reynaud zu wenig Tat-
sächliches, das die wahre Bedeutung des Staatsmannes erkennen
ließe, so entschädigt dafür die frische, von Unabhängigkeit und
Wohlwollen zugleich getragene Schreibweise.
Waldeck-Rousseau erreichte in seiner politischen Wirksamkeit
dreierlei: er brachte die Gewerkschaftsgesetze durch, schuf das
Vereinsgesetz, nahm den Kampf mit den religiösen Kongregationen
auf und trat in der Schicksalsstunde der dritten Republik an
die Spitze der Geschäfte. Was er damals in der großen Politik
leistete, gereicht ihm zum unvergänglichen Ruhm: in der Zeit der
Dreyfus-Wirren machte er furchtlos die Pläne der Jesuiten und
Generalstäbler zu schänden. Von der Dreyfus-Affäre geht ein
neues Frankreich aus. Die entlarvte Reaktion zieht sich in den
Schmollwinkel zurück, sie ist gleichsam zur parlamentarischen
Ohnmacht verurteilt. Das Zentrum, politisch, religiös und
wirtschaftspolitisch in verschiedene Gruppen gespalten, wird zu
einem höchst unsichern Faktor im politischen Leben des Landes.
Die in ihm vor allem vertretene Großbourgeoisie ist durch allerlei
Rücksichten gebunden, wagt nicht für eine in letzter Linie ihre
materiellen Interessen berührende Volkspolitik einzutreten und
möchte doch auch nicht ganz im Fahrwasser der Reaktion segeln.
Unterdessen rafft die demokratische Linke alle ihre Kräfte zu-
sammen, weist den Klerikalismus in die Schranken zurück und
bietet schließlich der Welt das grandiose Schauspiel der Trennung
von Staat und Kirche.
Pierre Marie Waldeck-Rousseau war kein Radikaler, ein .Anti-
klerikaler mit beschränkter Haftpflicht; da, wo er mit der Kirche
zusammentraf nahm er den Kampf auf. weniger aus Hass gegen
die Kirche, sondern als Regierungsmann, der nicht dulden wollte,
dass Kirche und Möncherei im modernen Staat besseres Recht
für sich in Anspruch nehmen. Das waren die Erwägungen, von
denen sein Vereinsgesetz ausging, das die Orden den Vorschriften
des gemeinen Rechtes unterstellte. Die Union republicaine, der
er zugehörte und die auch die sogenannten „Progressistes". ein
Konglomerat von Leuten, die alles beim Alten lassen wollen,
umschließt, ist Waldeck-Rousseaus Politik nur zögernd, zum Teil
gar nicht gefolgt. Er musste sich auf die Linke und die äußerste
719
Linke stützen, wollte er die Gefahr beschwören, die dem Lande
drohte. Etwas anderes gab es nicht, denn die Dreyfus-Affäre ließ
keine Zweifel, nach welchem Ziel die Reaktion marschieren wollte.
Das Schlagwort des biederen ängstlichen Thiers: „entweder So-
zialismus oder Katechismus" übte auf einen Waldeck-Rousseau
nicht die geringste Wirkung aus. Obwohl gemäßigter Republi-
kaner, neigte er doch lieber zum sozialen Republikanismus, der,
wie Albert Thomas im Februarheft der Revue poUtique interna-
tionale ausführt, seine Tradition aus der französischen Revolution
herleitet und eine Solidarität mit den ökonomisch gedrückten Volks-
schichten betätigt.
Dem Radikalismus war Waldeck-Rousseau innerlich wohl so
wenig zugetan wie dem Klerikalismus. Die Befähigung der radi-
kalen Partei, sich durch praktische Politik auf längere Dauer die
Macht zu erhalten, erschien ihm zweifelhaft. Aus seiner Abnei-
gung gegen lärmenden Antiklerikalismus, gegen alle Sektiererei
und lautes Demagogentum machte er nie einen Hehl. Die Politik
Clemenceaus, sein verblendeter Kampf gegen Qambetta, der hals-
starrige Doktrinarismus dieser Sorte Radikaler war ihm im Inner-
sten zuwider. Er wollte für die Republik vor allem eine richtige
Schonung ihrer Kräfte, ein weises Maßhalten beanspruchen. Aus
diesem Geiste heraus sprach er die Worte (1885): „11 y a pour
la Republique un droit superieur ä tous les autres: le droit de
vivre, et un devoir qui est au-dessus de tous les devoirs, celui
de se defendre." Und im Jahre 1900: „Est-ce que pour tout
regime, quel qu'il soit, il n'y a pas des regles communes, des
principes de l'ordre public et de conservation sociale superieurs
ä tous les regimes?"
Was bewog Waldeck im Jahre 1897 die Zügel der Regierung
zu ergreifen? Er erkannne, dass nur heroische Anstrengungen
aus der unheilvollen Krise herausführen konnten, die durch die
Dreyfus-Affäre über die Republik hereingebrochen war. Die enge-
ren Gesinnungsgenossen Waldecks sahen zögernd seiner Mission
entgegen, während Radikale und Sozialisten mit Ruhe sich seiner
Führung anvertrauten. War er auch nicht einer der Ihrigen, so
hatten sie doch keine Ursache, in die republikanishe Gesinnungs-
treue des Staatsmannes den mindesten Zweifel zu setzen.
720
Nie hatte Waldeck-Rousseau um persönlicher Ambitionen
willen seine politische Vergangenheit entehrt. Sein Republikanis-
mus war nie laut, nie phrasenhaft, aber dafür um so echter. Noch
unter dem Kaiserreich schrieb er dem Komitee zur Organisation
der republikanischen Partei von St. Nazaire, er wünsche eine
Vereinigung aller Republikaner ohne Unterschied des Standes:
„Je n'admets pas, je ne puis voir sans douleur cette division des
republicains lettres et des republicains ouvriers. Je ne reconnais
aucune aristocratie, pas plus celle de l'opinion que celle de la
naissance, et je crois que la plaie la plus vive de notre parti est
cette defiance soigneusement entretenue par l'Empire entre les
classes bourgeoises et les classes ouvrieres . . . J'ai tout autant
d'horreur pour la defiance du paletot que pour celle de la blouse."
Waldecks Rede war einfach und schmucklos; vor allem
von wunderbarer Klarheit. Feind aller Phrase führte er die Hörer
stets ohne Umschweife auf den Kern der Dinge. Eine subtil ab-
wägende Gescheitheit verband sich mit elegant schmiegsamer
Ausdrucksform. Er sprach gemessen, kühl, leidenschaftslos. Paul
Reynaud sagt von dem Redner: „11 descend par les grandes ave-
nues de la pensee vers la Solution qu'il propose; ses auditeurs
sont surpris et charmes d'avoir eprouve le plaisir exceptionnel de
penser, tant il est vrai qu'on se lasse de tout sauf de comprendre."
Und Maurice Barres: „Ceux qui n'aiment pas l'eloquence goütent
sa fa^on de parier. 11 est superieur ä Jules Favre, Gambetta et
Jaures, en ce que, les choses mediocres, il les dit ä mi-voix."
Barres fügte bei: „Waldeck-Rousseau abuse des periphrases."
Wozu Reynaud bemerkte: „C'est vrai. On ne parle pas la langue
d'Anatole France; on arrive ä l'ecrire quand on a sa patience et
son genie. Un orateur, appele ä monter ä la tribune ä l'impro-
viste, a besoin d'avoir ä sa disposition un certain nombre de
moules dans lesquels il coule sa pensee. L'abondance de Waldeck-
Rousseau etait nourrie de ces formules abstraites qui sont les
elegances toutes faites du langage."
Waldeck-Rousseau schrieb seine Reden nie; er hielt sich an
Stichworte und um diese herum kristallisierte sich die Form. Aus
dem Beifall machte sich der Redner anscheinend nichts. Er über-
raschte Anhänger und Gegner durch die Reserve, die er auch
dem Erfolf gegenüber bewies. Der Staatsmann durchschritt stets
721
rasch die Couloirs und zeigte sich zeremoniell und gemessen.
Er wollte weniger die Menschen als vielmehr ihre Ideen kennen
lernen. Dieser kühle Schweiger war im Innersten sicherlich
Menschenverächter; er konnte weder feierlich noch pathetisch
werden. Halbwegs ist er's doch einmal geworden. In einer Rede
bei Anlass der Katastrophe von Saint-Mande verfiel er in leichtes
Pathos: „L'inegalite est un fait de nature et de civilisation, l'hu-
manite l'a trouvee dans son berceau; eile accompagne l'homme
collee ä ses flancs et jusque dans la mort tantot cruelle et tantöt
demente, tantöt glorieuse et tantot obscure; eile met son sceau
impitoyable sur sa destinee."
Ein totkranker Mann — Krebskrankheit zermürbte seinen
Organismus — focht er die letzten Kämpfe mit den Kongre-
gationen aus; er wusste, dass es für ihn keine Rettung mehr gab.
Das große gesetzgeberische Werk des Ministeriums Waldeck-
Rousseau kam so am I.Juli 1901 zum Abschluss. Eine staats-
männische Tat ersten Ranges! Nach dreijähriger Tätigkeit trat
Waldeck freiwillig von der Macht zurück. Als Vollstrecker der
von ihm geschaffenen Gesetze schlug er dem Präsidenten der
Republik den radikalen Senator Combes vor. Die ungeschickte
Politik des Vatikans verstärkte die antiklerikalen Strömungen und
führten zur Trennung zwischen Kirche und Staat. So weit wollte
Waldeck nicht gehen, das verstieß gegen sein Programm; allein
die Kampfeslust der Radikalen und Sozialisten war so mächtig,
die Provokationen der Kirche so schwerwiegend, dass der Bruch mit
Rom nicht mehr aufzuhalten war, sondern auf der Linie der
logischen Weiterentwicklung der Dinge lag. Im Senat erhob sich
der Schwerkranke gegen die Politik seines Nachfolgers, doch die
Wogen des Kampfes waren längst über den Mann mit dem kränk-
lichen gelben Gesicht hinweggegangen, über den Philosophen,
der einsam in den Couloirs rauchend sich erging. Ein Kurauf-
aufenthalt am Kap d'Ail brachte vorübergehende Erleichterung.
Waldeck-Rousseau schrieb von dort aus seinem ehemaligen Mi-
nister des Auswärtigen Delcasse und beglückwünschte ihn zur
französisch-englichen Verständigung. In diesem Briefe bewegte
ihn die Erinnerung an Gambetta. Dann trat wieder eine Ver-
schlimmerung im Befinden des Staatsmannes ein. Am Morgen
des 10. August 1904 machte seine Familie einen letzten verzwei-
722
feiten Versuch, das kostbare Leben zu retten. Eine chirurgische
Autorität Deutschlands sollte auf operativem Wege dem Patienten
Erleichterung bringen, in seinem Landhause zu Corbeil verbrachte
der Kranke auf der Chaise-longue ausgestreckt die letzten Tage
im Zustande einer schleichenden Agonie. Ein müdes Lächeln
spielte um die Lippen und das Feuer in den Augen war beinahe
erloschen. Der Patient nahm Abschied von Personen und Sachen.
Der Chirurg erschien an der Türe: „Herr Präsident, wenn es
Ihnen beliebt." Waldeck-Rousseau legte die Cigarette weg und
sprach: „Allons, c'est pour le grand voyage."
Man trug in weg. Er fiel in Bewusstlosigkeit und wachte
nicht mehr auf.
ZÜRICH PAUL GYGAX
DDD
Dilettantismus und Mittelmäßigkeit sind übrigens symptomatisch nicht
unwichtig und schon darum nicht aus dem Auge zu lassen. Denn nicht
an Liebe zur Sache, um die er doch den Fluch verlorener Arbeit und der
Lächerlichkeit auf sich nimmt, nicht einmal an Begabung, nur am formen-
den Talent und der Möglichkeit, sich mit den Kunstregeln zu stellen, fehlt
es dem Dilettanten. Er zeigt den herrschenden Geist in seiner Verzerrung
und wirkt darum so peinlich und fratzenhaft. Was ihm aber bei aller ur-
sprünglichen Begabung unzugänglich ist, eben das eignet sich die Atittel-
mäßigkeit mühelos an und übt es mit der glücklichen Gedankenlosigkeit
der in sich und in ihrem Gott Befriedigten. Sie verwässern das vorhandene
Gedankenmaterial; ein Schauspiel, das demjenigen unter Umständen sogar
ein Ergötzen sein kann, der sich seine eigenen Verdienste um Findung
und Aufschürfung weiß. Sie trägts aber auch dahin, wo es in seiner ursprüng-
lichen Härte und Herbheit niemals hätte aufgenommen oder verdaut wer-
den können. Das sind die Misteldrosseln und die Krametsvögel der Kunst.
Freilich, ob die Vermehrung der Mistel notwendig ist, mag der Forstwirt
sagen.
Vom Schaffen J. J. ÜAVIÜ
□ DD
723
DIE TÜRKEI ZUR ZEIT IHRER
HÖCHSTEN MACHTENTFALTUNQ
(Schluss)
Der letzte Entscheid über die Zugehörigkeit eines Gebietes
lag freilich nie bei solchen Gefühlen. Kehren wir daher zur Be-
sprechung der realen Machtmittel der Türken zurück.
Wir kennen die türkische Infanterie und ihre Kerntruppe, die
Janitscharen. Wie stand es nun mit den übrigen Teilen der tür-
kischen Militärorganisation ?
Es ist da zu sagen, dass die türkische Armeeverfassung eine
der einseitigsten gewesen ist, die die Geschichte kennt. So gut
wie alle Kräfte des Staates und der Finanz waren auf die Unter-
haltung einer starken Infanterie konzentriert. Alle andern Ge-
biete der Kriegstechnik wurden nur ungenügend oder gar nicht
kultiviert. Es ist hier nicht der Ort, auf die Gründe einzugehen,
die dieses Missverhältnis herbeigeführt haben mögen. Sicher ist
nur das eine, dass auf allen Gebieten, die eine höhere technische
Ausbildung voraussetzten, die türkische Armeeverwaltung nur ge-
ringes geleistet hat. Der niedrige Kulturzustand des alten No-
madenstammes zeigt sich nirgends deutlicher als in der mangel-
haften Fürsorge für Artillerie und Flotte. Die Türken haben das
Geschütz- und Marinewesen nicht grundsätzlich vernachlässigt. Sie
haben sogar verhältnismäßig große Summen dafür verwendet
und eigneten sich die Errungenschaften der europäischen Tech-
nik wenigstens so weit an, dass sie im Kampfe mit anderen
orientalischen Staaten wie Ägypten, Syrien und Persien damit
Erfolge erzielen konnten. Aber europäischen Armeen waren sie
nicht gewachsen. Sie verstanden es zum Beispiel nicht, Mauern
kunstgerecht aufzuführen, und für ihre Minen und Kanonen muss-
ten sie Ausländer heranziehen. Ihr technisches Verständnis reichte
nicht einmal so weit, dass sie sich dabei an die rechte Schmiede
wandten. Die Periode der größten türkischen Machtentfaltung
fällt in eine Zeit, da die französische Belagerungsartillerie der
aller anderen Völker überlegen war. Damals haben die Franzosen
die raschen Eroberungszüge unternommen, in denen ihre ausge-
zeichneten Geschütze die feindlichen Städte und Festungen in
724
unerhört kurzer Zeit zur Übergabe zwangen, während die Ein-
fälle fremder Armeen in Frankreich in der Regel schon an dem
ungenügendem Artilleriematerial der Angreifer scheiterten. Es war
die Zeit, da die Republik Venedig ihre Geschützmeister anwies,
ihre Kanonen genau so anzufertigen, wie sie für den König von
Frankreich fabriziert würden. Die türkische Regierung war weniger
gut informiert. Unter ihren Artilleristen treffen wir die Namen
deutscher Büchsenmacher, griechischer und italienischer Minierer,
aber keinen Franzosen. Es kann darnach auch nicht Wunder
nehmen, dass die Türken als Belagerer immer nur mittelmäßiges
geleistet haben; es ist jedermann bekannt, das ihre Angriffe auf
Österreich regelmäßig schon an den festen Mauern der Stadt
Wien zerschellt sind.
Kaum anders stand es mit der Flotte. Die Türken haben
zwar große Mittel dafür aufgewendet, und Staaten, die nur über
eine geringe Marine verfügten, wie Frankreich oder auch Spanien,
haben nicht ganz mit Unrecht auf die türkischen Streitkräfte zur
See mit Besorgnis hingeblickt. Aber mit den großen Seestaaten
der Christenheit konnten es die Türken nie aufnehmen. Nur in-
kompetente Staatsmänner ließen sich durch die große Zahl der
türkischen Schiffe über die innere Schwäche der türkischen Flotte
täuschen. Cervantes bemerkt allerdings an einer berühmt geworde-
nen autobiographischen Stelle des Don Quij'ote, dass erst die Schlacht
bei Lepanto, der bekannte große Sieg der vereinigten christlichen
Flotten über die türkische im Jahre 1571, den allgemeinen Glau-
ben an die türkische Unbesiegbarkeit zur See zerstört habe. Aber
dieser Ausspruch ist unrichtig. Die spanischen Militärs und Di-
plomaten mögen erst durch die Schlacht bei Lepanto über die
Stärke der türkischen Flotte eines besseren belehrt worden sein;
sachverständige Beurteiler wie die Staatsmänner, die die Republik
Venedig in Konstantinopel vertraten, haben schon lange vorher
die Unbrauchbarkeit der türkischen Flotte in den grellsten Far-
ben geschildert. Und ebenso gut wie die Venezianer wussten die
Türken selbst, wie es mit ihrer Flotte bestellt war. Ihre Admi-
rale hatten schon lange vor Lepanto strenge Ordre, sich mit
den Venezianern in keinen offenen Kampf einzulassen, und nur
diese vorsichtige Haltung dürfte verhindert haben, dass die Kata-
strophe von Lepanto nicht viel früher eingetreten ist.
725
Dazu war die Türkei für die Marinestreitkräfte, die sie be-
saß, noch ganz von Fremden abhängig. Weder türkische See-
soldaten für die Bemannung noch türkische Handwerker für die
Ausrüstung der Schiffe waren aufzutreiben. Die türkische Regie-
rung hat nie den Versuch gewagt, aus den unterworfenen christ-
lichen Völkern, speziell den seegewohnten Griechen, ein Schiffs-
truppenkorps zu bilden, das den Janitscharen hätte an die Seite
gestellt werden können. Nun bestand allerdings in dieser Be-
ziehung zwischen ihr und den meisten christlichen Großstaaten
kein so starker Unterschied, wie ein moderner Beurteiler meinen
könnte. Über eigentliche Kriegsflotten verfügten damals nur
Handelsstaaten wie Venedig und Genua, die der Korsaren wegen
ihre Waarentransporte von kriegsmäßig ausgerüsteten Schiffen
begleiten lassen mussten: andere Staaten wie vor allem Frank-
reich griffen im Falle eines Krieges mit einer überseeischen Macht zu
demselben Notbehelfe wie die Türkei und nahmen Piraten in
ihre Dienste. Aber ein Unterschied bestand doch. Die Türkei war
in viel größerem Umfange als europäische Staaten auf die An-
werbung landesfremder Elemente angewiesen. Sie konnte nicht
wie die Könige von Frankreich und Spanien auf dem Umwege
eines militärischen Protektorats über Genua die Verfügbarkeit
über eine große Flotte erlangen. Auch ging es immerhin noch
über die Usancen christlicher Regierungen hinaus, wenn sogar
das Oberkommando über die türkische Flotte einem ausländischen
Potentaten wie dem berüchtigten algerischen Korsarenfürsten
Barbarossa überlassen werden musste. Wenn der türkische Sul-
tan bei den Eroberungszügen zu Land seinen christlichen Geg-
nern dadurch überlegen war, dass er sich auf eine ständige In-
fanterie verlassen konnte, so war das Verhältnis bei den Kämp-
fen zur See gerade umgekehrt. Hier konnten wenigstens einige
christliche Staaten dem Großtürken eigene Flotten entgegenstellen,
während der Sultan von ausländischen Mietlingen abhängig war.
Es ist wohl nur diesem Umstände zuzuschreiben, dass die Re-
publik Venedig trotz der Inferiorität ihrer militärischen Macht-
mittel mehrere Jahrhunderte lang den Türken den Besitz Moreas
und des dalmatinischen Küstenlands hat streitig machen können.
Man kann noch weiter gehen und behaupten, dass neben
der mangelhaften artilleristischen Ausrüstung die Schwäche der
726
Türken zur See schließlich allein Europa davor bewahrt hat, den
öfter befürchteten Existenzkampf mit der Türkei aufnehmen zu
müssen. Es ist gewiss nur der geringen Leistungsfähigkeit der
türkischen Flotte zuzuschreiben, wenn der häufig prophezeite
türkische Eroberungszug nach Italien nie über bescheidene Ver-
suche hinausgekommen ist. Es war der begreifliche Wunsch der
Türken, das Land in ihren Besitz zu bringen, in dem sich der
Sitz des christlichen Kalifen befand. Jeder neue Sultan rief,
wenn die feierliche Zeremonie der Säbelumgürtung vorbei war,
den Janitscharen die Worte zu! „Wir sehen uns wieder beim
roten Apfel", was die türkische Bezeichnung für die Stadt Rom
war. Aber die Sultane wussten viel zu gut, wie wenig ihre Flotte
für eine solche Expedition vorbereitet war, als dass die ewige
Stadt je vor einem Angriff der Janitscharen hätte zittern müssen.
Aus diesem Grunde haben die Türken ihre Ausdehnungs-
politik auch viel mehr nach Osten und Süden als nach Westen
orientiert. Nur die Phantasie der europäischen Volksmassen bil-
dete sich ein, dass der Sultan von Konstantinopel Tag und Nacht
auf die Unterwerfung der Christenheit sinne. In Wirklichkeit
haben die Feldzüge gegen Venedig und Ungarn nur einen ge-
ringen Teil der türkischen auswärtigen Politik in Anspruch ge-
nommen, und viel ausgedehnter als die Gebiete, die den Osmanen
in Europa zufielen, waren die Eroberungen, die in Syrien und
Persien, in Ägypten und Tripolis gemacht wurden. In diesen Ge-
genden, in denen ihnen keine modern ausgerüstete europäische
Macht gegenüberstand, haben die Türken die gewaltigen Erfolge
errungen, die ihr Reich zur ersten Großmacht der Zeit erhoben haben.
Die türkische Regierung wusste also wohl, warum sie ihre
ganze Kraft auf die Landarmee konzentrierte. Es bleibt nun nur
noch die Frage zu beantworten, auf welche Weise sie die Mittel
für den Unterhalt ihrer Infanterie aufbrachte.
Wir bekommen dabei ein Meisterstück türkischer Staatskunst
und Ausnützungspolitik zu sehen. Das osmanische Herrschervolk
hat es ebenso gut verstanden, seinen Untertanen das Gut wie
das Blut zum Ersatz für die eigene Untätigkeit abzunehmen.
Am wichtigsten waren die finanziellen Leistungen der
Griechen.
121
Es gehört zu den Fables convenues der modernen öffent-
lichen Meinung, dass die Griechen der Neuzeit keine anderen
Tugenden als die eines Krämervolkes besäßen. Dieselben Euro-
päer, welche die zu einem guten Teile griechischen oder von Grie-
chen abstammenden türkischen Beamten und Soldaten als Muster
türkischer Vornehmheit und politischer Weisheit preisen, dem
Islam also eine beinahe magische Umwandlungskraft zutrauen,
— dieselben Europäer können sich in Herabsetzung der griechi-
schen Nation nicht genug tun. Es ist nun hier nicht der Ort, auf
eine Diskussion über den Charakter der modernen Griechen ein-
zutreten; wohl aber muss vom historischen Standpunkt aus be-
tont werden, dass gerade die abstoßenden Züge, die man mit Recht
oder Unrecht den Griechen der Neuzeit vorwirft, als eine natürliche
Folge der türkischen Oberherrschaft bezeichnet werden müssen. Die
Griechen wurden durch die türkische Eroberung in eine ganz ähnliche
Lage gedrängt wie die Juden im christlichen Europa des Mittel-
alters. Der Grieche war, wenn er Christ bleiben und sich nicht
der kirchlichen Karriere widmen wollte, von jeder anderen als
einer erwerbenden Tätigkeit ausgeschlossen. Es stand ihm in
diesem Falle keine Stelle im Staat, in der Armee, in der offiziell
gepflegten Wissenschaft offen. Wer vorwärts kommen wollte,
sah sich allein auf den Handel angewiesen. Anderseits wurde
dank der Vorurteilslosigkeit, mit der die türkische Regierung Re-
negaten behandelte und mit Rücksicht auf die numerische Schwä-
che der türkischen Bevölkerung behandeln musste, dem Griechen-
tum durch Bekehrungen zum Islam beständig von seinen besten
Kräften entzogen. Während die staatliche Aushebung zu dem
Janitscharenkorps der griechischen Landbevölkerung den kräftig-
sten Teil ihres Nachwuchses raubte, nahmen die Ehrenstellen
und finanziellen Vorteile, die den zum Muhamedanismus Über-
tretenden erwarteten, den wohlhabenden städtischen Schichten
fortwährend einen Teil ihrer strebsamen, politisch oder militärisch
begabten jungen Generation weg. Es ist nicht merkwürdig, dass
die Griechen unter diesen Umständen in der Hauptsache zu einem
Krämervolk geworden sind; es ist im Gegenteil erstaunlich, dass
die griechische Nation trotz dieses ununterbrochenen Aderlasses
die Lebenskraft bewahrt hat, von der die letzten hundert Jahre
in so glänzender Weise Zeugnis ablegen.
728
Diese Umbildung der Griechen ist ferner dadurch befördert
worden, dass die türkische Herrschaft die Handelstätigkeit der
Griechen sehr wirksam unterstützt hat. Die Griechen genossen
dank der osmanischen Mihtärmacht wieder den Schutz eines
starken Staatswesens. Die türkischen Beamten mochten im ein-
zelnen noch so oft erpresserisch gegen die christlichen Untertanen
vorgehen; die türkische Verwaltung als solche hat sich in ihrer
guten Zeit nie dem Gedanken verschlossen, dass nur unfähige
Staatsmänner die Henne schlachten, die die goldenen Eier legt.
Da der regelmäßige Betrieb des Staatshaushaltes vor allem auf
den Steuern und Zöllen der Griechen beruhte, so hatte die Pforte
einen unmittelbaren Vorteil daran, den griechischen Kaufmann zu be-
günstigen. Vorzugszölle schützten ihn gegen seinen gefährlichsten
Konkurrenten, den italienischen Geschäftsmann; der Ausländer
hatte in der Türkei bis zum vierfachen der Taxe zu bezahlen,
die dem Griechen für Ein- und Ausfuhr der Waren auferlegt
war. Dazu kam die relativ große Sicherheit des Verkehrs, die
durch die Vereinigung großer Landstriche in eine Hand herbei-
geführt worden war und die sich vorteilhafl von der Kleinstaaterei
der späteren byzantinischen Zeit unterschied, und der Schutz, den
die türkische Flagge den griechischen Handelsschiffen verlieh.
Der griechische Kaufmann in Konstantinopel, Saloniki und Smyrna,
der zu byzantinischen Zeit von Venezianern, Genuesen und Pi-
sanern an die Wand gedrückt worden war, konnte unter der os-
manischen Herrschaft sein Haupt wieder erheben. Der Verkehr war
in den griechischen Häfen so belebt, wie es seit vier Jahrhunder-
ten nicht mehr der Fall gewesen war. Die Kaufleute des Abend-
landes haben seit der Türkenherrschaft nie mehr die dominierende
Stellung in der Levante einnehmen können, die die Italiener im
Mittelalter besaßen.
Neben den Abgaben der Griechen bildete den wichtigsten
Einnahmeposten im türkischen Budget die Steuersumme, die von
der jüdischen Bevölkerung abgeliefert wurde. Auch hiebei darf
man den Türken nicht nur das Verdienst zuschreiben, dass sie
es verstanden haben, ihre Untertanen besonders raffiniert auszu-
plündern. Man wird im Gegenteil ihnen nachrühmen müssen,
dass sie zum Unterschied von den christlichen Fürsten der Zeit
ihre Juden mit kluger, staatsmännischcr Milde gcschr()pft haben.
729
Die überlieferte Toleranz des Islam vereinigte sich mit nüchter-
nen finanziellen Erwägungen. Weil die türkische Regierung die
Juden besser behandelte als es die christlichen Mächte taten,
wurde ihr Reich zur Zeit seiner höchsten Machtentfaltung ganz
eigentlich zum Zufluchtsort der in den christlichen Ländern ver-
folgten wohlhabenden Israeliten. Die reichen und arbeitsamen
Juden, die in Spanien von Königtum und Inquisition vertrieben
wurden, flüchteten in Massen nach der Türkei. Gegen 30 bis
40000 Juden aus Spanien sollen sich damals in Konstantinopel
und 15 bis 20000 in Saloniki niedergelassen haben. Der türkische
Staat hat dabei sicherlich kein schlechtes Geschäft gemacht. Schon
christliche Zeitgenossen haben sich in diesem Sinne ausgespro-
chen und sogar behauptet, der Sultan habe die jüdische Ein-
wanderung geradezu begünstigt; es wird erzählt, er habe die
spanische Regierung verlacht, die durch die Ausweisung dieser
wertvollen Untertanen ihr Land schwer geschädigt habe. Die Er-
zählung wird kaum historisch sein; aber sie dürfte beweisen, dass
bereits damals christliche Staatsmänner die türkische Toleranz als
eine der Quellen betrachtet haben, aus denen der türkische
Staatsschatz gespeist wurde.
Natürlich erhob die türkische Regierung noch andere Ab-
gaben neben denen, die von Griechen und Juden gezahlt wurden.
Aber es kann trotzdem kaum bezweifelt werden, dass die Steuern
dieser beiden Völkerschaften den größten und sichersten Teil der
türkischen Staatseinnahmen bildeten und dass es vor allem der
griechischen und jüdischen Erwerbstätigkeit zuzuschreiben ist,
wenn der Sultan für den reichsten Fürsten Europas galt und sein
Einkommen das Karls V., der sich doch auf die handeltreibenden
Niederlande stützen konnte, um das doppelte übertroffen haben
soll. Diese nie versagende Geldquelle hat aber dem Janitscharen-
korps die sichere finanzielle Basis geschaffen, die den Söldner-
armeen der christlichen Staaten in der Regel abging.
Im übrigen darf man die Toleranz der Türken nicht über-
schätzen oder an modernen Zuständen messen. Wenn Griechen und
Juden das türkische Regiment dem christlichen vorzogen, so be-
weist dies mehr gegen die damaligen christlichen Staaten als für
die türkische Verwaltung. Die andersgläubige Bevölkerung, also
vor allem die Mitglieder der griechisch-orthodoxen Kirche, wur-
730
den in der Türkei kaum besser behandelt als bei uns im sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhundert die Juden. Sie wurden ge-
duldet, aber verachtet und zum Teil auf skurrile Weise ausgenutzt.
Er erinnert an Anekdoten, die von aufgeklärten Despoten im
Verkehr mit jüdischen Untertanen erzählt werden, wenn man
liest, dass der Patriarch von Konstantinopel verpflichtet war, die
— echten oder falschen — christlichen Reliquen um hohen Preis
zu kaufen, die der Sultan von seinen Kriegszügen mitzubringen
die Gnade hatte. Es war den Griechen verboten, Pferde zu
halten, die mehr als vier Dukaten Wert hatten; vor jedem Mus-
lim mussten sie absteigen und es kam dabei vor, dass ihnen der
Muslim das Pferd einfach fortnahm. Wer als Grieche auf einem
Maulesel ritt, um dieser Unannehmlichkeit zu entgehen, durfte
von türkischen Straßenjungen ungestraft mit Steinwürfen und
Schmähworten verfolgt werden. Wenn im Hause eines Christen
Feuer ausbrach, wurde der unglückliche Geschädigte noch mit
einer horrenden Geldstrafe belegt. Aber so sehr Griechen und
Juden auch unter den Maßregeln der türkischen Behörden zu
leiden hatten, — wie wenig hatte dies doch zu bedeuten, wenn
sie an die Verfolgungen und Bedrückungen dachten, die ihrer in
christlichen Ländern gewartet hätten! In der Türkei gab es weder
Zwangsbekehrungen noch Inquisitionsgerichte noch offiziell ge-
duldete Pogroms, weder Hexenprozesse noch Ketzerverbren-
nungen.
Das Leben und Treiben war in der Türkei im übrigen von
dem in den christlichen Staaten nicht so verschieden, wie Unkundige
meinen könnten. Vieles von dem, was die Gegenwart als spe-
zifisch türkisch empfindet, war damals in den christlichen Staa-
ten ebenso zu finden. Der Begriff der orientalischen Türkei
existierte damals noch nicht. Leben und Verkehr wickelten sich
in der Türkei nicht in langsamerem Tempo ab als in Europa.
Die Rechtspflege war in der Türkei nicht grausamer; sie zeich-
nete sich nur zu ihrem Vorteil durch ein rascheres Verfahren
aus. Die Anzahl der Sklaven war kaum größer als in andern
südeuropäischen Ländern. Das theologisch gebundene Unterrichts-
wesen und die Geltung des heiligen Rechts im Staatsleben der
Türken hatte seine genauen Analogien im damaligen Europa.
Die türkischen Hochschulen glichen ihrem Studienbetrieb und
731
ihrer Methode nach den europäischen Universitäten wie ein Ei
dem anderen. Der einzige tiefer greifende Unterschied dürfte in
dem Institut der Polygamie zu finden sein. Und auch den darf
man nicht überschätzen. Der Moslem aus dem Volk begnügte
sich schon damals meist mit einer Frau und die vornehmen
Kreise in Europa huldigten in der Praxis kaum weniger der Poly-
gamie als die türkischen Sultane und Wesiere. Sie gingen nur
etwas weniger offen vor.
Vergleicht man mit dem soldatisch einfachen Zuschnitt des
konstantinopolitanischen Hofhaltes die Zustände im damaligen
Frankreich, wo der ganze Hof Franz I. kaum etwas anderes als
ein illegitimer Harem war, so werden auch geschworene Vor-
kämpfer der Monogamie nicht ohne weiteres den Hang zur Üppig-
keit bei dem orientalischen Volke stärker ausgeprägt finden.
Auch darf in diesem Zusammenhange darauf hingewiesen werden,
dass manche wenig erbauliche Affären der damaligen Christen-
heit wie die chronischen Ehescheidungen des Königs Heinrichs VIII.
und die Doppelehe des hessischen Landgrafen vermieden worden
wären, wenn die christlichen Fürsten ebenso wie ihr Kollege in
Konstantinopel das Recht gehabt hätten, mehrere Frauen in ihrem
Serail zu vereinigen, anstatt im Falle der Absetzung einer Sul-
tanin zu dem umständlichen Mittel einer Hinrichtung greifen zu
müssen.
Ich denke, die am Anfange aufgeworfene Frage lässt sich
nach allem, was seither ausgeführt worden ist, leicht beantwor-
ten. Das Volk war sicherlich im Irrtum, wenn es die Existenz
der Christenheit durch den Großtürken bedroht glaubte. Auf der
anderen Seite aber waren seine Proteste gegen die Uneinigkeit
der Mächte durchaus am Platze. Es lag nur an den Streitig-
keiten der europäischen Großstaaten, wenn der türkische Sultan
die Fortschritte machen konnte, die der Christenheit einen be-
deutenden Teil ihres Gebietes kosteten. Die temperamentvollen
Strophen, mit denen Ariost im Rasenden Roland zur gemein-
samen Vertreibung der Türken aus Europa auffordert, waren
ebenso berechtigt wie sie ungehört verhallten.
Der Fall des türkischen Reiches ist daher weniger von Eu-
ropa, als von innen gekommen. Es hat sich dort ereignet, was
in militaristischen Staaten gerne einzutreffen pflegt: die Armee, von
732
der der Staat abhing, hat sich schließhch allmächtig gemacht und
alle Gewalt an sich gezogen. Die Janitscharen haben wie die
Prätorianer im alten Rom ihrem Kaiser die Herrschaft aus den
Händen genommen, und was dem Staate dienen sollte, hat den
Staat egoistischen Tendenzen zuliebe vernichtet. Palastrevolution
folgte auf Palastrevolution, bis zuletzt der Großwesier zu einer
Kreatur des allmächtigen Korps wurde. Das türkische Regime
hatte von jeher auf einer seltenen Personalunion beruht. Es
setzte voraus, dass der oberste Regent zugleich auch der höchste
General sein konnte. Diese Bedingung konnte in der Türkei
besser erfüllt werden als anderswo, weil eine Erblichkeit der
Krone in dem schematischen Sinne der modernen Zeit nicht
existierte. Aber sie schuf doch schwierige Situationen und sobald
es einem Intriganten gelang, einen schwachen, das heißt einen
militärisch unbegabten Herrscher auf den Thron zu setzen, so
war das Unglück da. Zwischen legitimer und militärischer Macht
brach ein Konflikt aus, der zur Anarchie führen musste. Dies
vor allem, noch mehr als das Erstarken der europäischen Staa-
ten, hat schließlich das türkische Reich in die Defensive gedrängt,
in der es sich seit mehr als hundert Jahren befindet.
ZÜRICH E. FUETER
n D n
Wie könnte ich, für den es einzig auf Kultur oder Barbareien an-
kommt, wie könnte ich eine Nation hassen (die französische) die zu den
kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner
eigenen Kultur verdanke!
Zu Eckermann OOrTUn
Die natürlichen Gesetze werden wir nimmer einschränken, mögen
sie uns noch so unbequem sein; aber es liegt doch ein Wertmesser in der
edlern oder unedleren Haltung mit der wir ihre Schicksalsverkettung ver-
folgen.
Renaissance ^ PATER
DDD
733
GRUNDBEGRIFFE
DER WANDMALEREI
Die Wandmalerei hatte von jeher im Norden einen schweren
Stand. Von Italien, wo sie am längsten und eifrigsten gepflegt
worden war, holte man sich Anschauung und Begriff ihrer Formen
und Zwecke. Aber der Bereich ihrer Möglichkeiten war einge-
schränkt, seit die Renaissancetheorie und die glänzende Entfaltung
namentlich der vatikanischen Kunst feste Grenzen für ihre Normen
aufgestellt hatte. Man vergaß, dass gerade die Raffaelsche Praxis
nur einen Teil der Prinzipien, die für ihr Wesen gelten, befolgt hat
und dass durch sie im Grunde nur die Lösung eines einseitigen
Gedankens gebracht wurde. Ein großer, weiter Bereich ihrer Kunst
war durch die römischen Werke der großen Meister ausgeschaltet
und verbannt.
Laienwelt und Kritik leben aber bis heutigen Tages von der
Kenntnis und Bewunderung nur dieses einen glänzenden Kapitels.
Alles andere ist kaum erkannt und nur wenig in die lebendige
Vorstellung eingedrungen.
Deshalb sei versucht, hier den Grundbegriffen nachzugehen
und das Doppelreich der Monumentalmalerei auch in dem fast
vergessenen Teil des Flachstiles zurückzugewinnen.
Die Wandmalerei ist Wandschmuck. Es ist für unsere Be-
trachtung ganz gleichgültig, ob dieser Schmuck in Frescotechnik,
Mosaik, Plattenbelag, in gewirkten Teppichen oder sonst einer
zeichnerischen und malerischen Form erfolgt, wenn wir auch
hauptsächlich die Malerei auf nassem Kalkbewurf im Auge be-
halten werden.
Immer aber hängt der Wandschmuck, wie das Wort 'richtig
bezeichnet, von der Wandfläche der Mauer ab. Diese ist entweder
ein Teil der raumumschließenden Mauer beim Innenraum oder die
Außenfläche eines raumgestaltenden Bauwerkes beim Außenbau.
Auf jeden Fall gehört die Mauerfläche als Raumgrenze zum Raum
selbst, mag er nun ein künstlich geschaffener Innenraum sein
oder der allgemeine Raum, gegen den sich das Bauwerk mit
seiner plastischen Form abhebt und isoliert.
734
Das Wandgemälde ist also auf die Wand aufgetragen und
bildet einen integrierenden Teil ihrer Erscheinung, wobei der
konstruktive Zweck der Mauer einstweilen außer Betracht bleiben
soll. Die Hauptsache ist, dass die Mauerebene die erste Daseins-
bedingung und den materiellen Grund des Wandgemäldes bildet.
Nun ist der Zweck der Mauer ein doppelter: einmal der der
Raumumfassung, wobei sie die äußere Form, gleichsam die Haut
des Mauerkörpers bildet.
Dann aber ist sie der stützende und tragende Teil der auf-
lagernden Deckenkonstruktion, also des Balken- und Sparren-
werkes für ein Dach oder der Träger einer Flachdecke oder eines
Gewölbes.
Aus diesem konstruktiven Zweck der Mauer ergeben sich
zwei Richtungsmomente für die Kräfte, die die Ausdehnung der
Fläche bezeichnen und die Wirkungslinien der statischen und
mechanischen Kräfte: die horizontale Breitenrichtung und die
vertikale Höhenrichtung.
Die künstlerische Logik wird daher auf diese Funktion der
Kräfte auch bei der illusionären Aufgabe der Wandbemalung
oder -Bekleidung Rücksicht nehmen müssen, wenn nicht ein be-
sonderer Dispens vorliegt.
Es ist der natürliche Zwang zur Flächengestaltung und
Flächenbewahrung, der sich aus dieser primären Aufgabe der
Mauer- und Wandbemalung ergibt. Da die Flächenbegrenzung
der Mauer nichts anderes ist als eine Ebene, so hat die Wand-
malerei nichts anderes zu erfüllen als den konstruktiven Zweck
der Mauer in dem Charakter ihrer Malereien festzuhalten. Der
Sprachgebrauch selbst erkennt diesen ursprünglichen Zweck an.
indem er den einfachen Überzug der Mauer mit einer einzigen
Farbe oder Tünche und die lediglich dekorativen Verzierungen
der Wand durch Ornamente als „Flachmalerei" bezeichnet.
Es ist selbstverständlich, dass die gestaltende Kunst bei dieser
einfarbigen, monotonen und gleichmäßigen Übermalung nicht be-
harren kann, sondern dazu übergeht, sowohl die Kichtungsmomente
der Höhe und Breite zu markieren als auch das Auf und Nieder
des Kräftespiels im Sinne der stützenden und lastenden Funktionen
wie das Weite und Breite der fortlaufenden Wandfläche zum Aus-
druck zu bringen. Dabei kommt es nicht darauf an. ob das ge-
735
schiebt in der Form der Abstrai<tion durch Ornamente, die sich
in der Vertikale und Horizontale bewegen, oder durch symboli-
sierende Verkörperungen wie der Säule oder der Karyatide, die
sich recken und strecken. Wie dem auch sei, so berührt die Wand-
malerei mit diesem Anfang ihrer Aufgabe den Formenschatz der
Architektur und wird wohl auch gelegentlich von ihm Entlehnungen
machen oder ihn ausbeuten.
Für unsere Betrachtung ist es wichtig, das Eine festzustellen:
dass nämlich in dieser primären Sphäre der Flachcharakter, der
sich aus der Mauerstruktur ergibt, wirksam bleibt auch für die
Wandbemalung. Selbst wenn sie also körperliche und räumliche
Gebilde darstellt, wie Stämme, Säulen oder sonst irgend welche
Träger- und Stützenformen, so wird der optische Eindruck des
Flächenhaften darin doch immer obwalten müssen.
Der Flachcharakter ist zwar ein abgeleitetes Prinzip; aber er
hat, einmal angenommen, bindende Kraft für die ganze Welt, die
auf der Wandfläche unter dem Pinsel des Malers entsteht. Figuren
und Tiere und alles Sachliche und Dingliche, ebenso alles Land-
schaftliche und Räumliche unterliegt ihm. Er ist ein Tyrann. Er
hat aber auch schöpferische Kräfte eigner Art. Wenn er auch
alle Erscheinungen der Frische und Unmittelbarkeit des Lebens
beraubt, verleiht er ihnen dafür eine Kraft und Allgemeingültig-
keit, die ein überindividuelles Dasein zur Folge hat. In gewissem
Sinne schließt er den Individualismus aus. Er nähert alles Leben-
dige dem Schemen. Ebensoviel als er der Körperlichkeit nimmt,
legt er der linearen Kontur zu. Der Umriss spricht fast allein.
Aber da alle Umrisszeichnung eine Tendenz zur Abstraktion hat,
so ist es nur folgerichtig, wenn sie dem natürlichen Eindruck
immer mehr entzogen wird und einer eigenen, gleichsam über-
sinnlichen Rechnung unterliegt. Um ihrer selber willen erhält die
Linie als schemenhafte Kontur ein Eigenleben, das in der ab-
strakten Region bleibt und an das natürliche Urbild eine immer
schwächere Erinnerung bewahrt. Sie kann stilisiert werden wie
ein Ornament, wenn der Maler beherzt genug ist, um einer be-
grifflichen Klarheit willen abstrakt zu bleiben und Sinn und Wesen
seiner Darstellung auf den gedanklichen Kern zurückzuführen. Auch
die Abstraktion ist eine Leidenschaft, die schließlich alles Leben
tötet und alles Geschehen leugnet. Aus den Flächenkräften der
736
Wanddarstellung gewinnt sie den Vorrat von Ausdrucksmitteln,
dessen sie bedarf, um begrifflich eindringlich zu wirken. Sie lebt
in dem Hadesbereich, wo alles, was erscheint, unter der Schwelle
des Natürlichen bleibt, aber alles, was gedacht und abgeklärt ist,
über der zeitlichen Bedeutung des Einzelfalles steht. Sie ist der
Vampyr, der dem Lebendigen Blut und Seele aussaugt. Aber die
Auferstehung, die unmittelbar folgt, trägt das Moment der Ewig-
keit in sich, weil das Zufällige, Momentane und Persönliche wie
ein Niederschlag verloren gegangen ist. Es bleibt nur eine For-
mel übrig, die die gesamte Potenz der Willens- und Seelenkräfte
ausdrückt. Das Scheinleben dieser zweidimensionalen Existenz
ist doch kein ohnmächtiges Schattenbild.
Das Flächenprinzip ergibt sich aber auch als eine natür-
liche Folge nicht bloß der Mauer, sondern des Raumes, dessen
Hülle und Begrenzung sie ist und dem sie daher erst Form und
Gestalt gibt. Denn der Raum gewinnt erst Körper nicht durch
eine organische Entwicklung von innen heraus, sondern durch
eine Abgrenzung von außen her. Freilich ist es ebenso klar, dass
der Raum als eine geformte Einzelexistenz nur begriffen werden
kann von innen heraus, niemals von außen. Es ist gleichsam ein
kristallinisches Gebilde, dessen Wesen und Gestalt sich nur dem
Blick vom Mittelpunkt aus erschließt, obgleich es als plastischer
Körper und begrenzte Form ein Ding im allgemeinen Räume ist
und daher auch durch seine Außenform Gestalt und Bedeutung hat.
Es gibt also für die Wandbemalung außer der Höhen- und Breilen-
richtung noch ein drittes Richtungsmoment von einem optischen
und funktionellen Werte, das seinerseits ebenfalls wirksam ist in
dem Kräftespiel, aus dem sich der Funktionenkomplex der Wand
zusammensetzt. Dieses dritte Moment ist die Beziehung zu dem
Raum selbst, eine Relation nach innen, gleichsam auf den wirk-
lichen oder gedachten Mittelpunkt des Raumes hin. wobei gleich
gesagt sei, dass dieses Richtungsmoment, das aus den gegenseitig
sich bedingenden Höhen- und Breitenrelationen der Ebene her-
austritt und die Tiefenbewegung anschlägt, durch die Wandebene
in seiner Bewegung nicht aufgehalten zu werden braucht, infolge-
dessen ebensogut diesseits wie jenseits derselben Spielraum hat
und denselben ausnützen kann. Es ist das eigentliche Moment
der Unendlichkeit. Denn während die Wandfläche durch ihre
737
Begrenzung als Mauer auch die Höhen- und Breitenrichtung der
Bemaiung begrenzt, kann für die Tiefenbewegung keine Begren-
zung gedacht werden, wenn nur der Raum hinter der Mauer durch
die illusionistischen Mittel der Perspektive ins Ewigferne er-
weitert wird.
Aber der von den Mauern umfasste und durch sie gebildete
Raumkörper, also seine architektonische Form, bestimmt selbst
über die Raumgrenzen hinaus die Bewegung der Tiefenachse.
Es ist nämlich leicht einzusehen, dass immer dann, wenn
das Raumgebilde als solches in seiner klaren Begrenzung und
scharf abgesetzten Form der Hauptwert in der künstlerischen Rech-
nung ist, wie etwa bei den Innenräumen der antiken Tempel und Basi-
liken, die Wandbemalung die Grenzwerte um so schärfer betonen
muss und den Flachcharakter um so strenger bewahren wird.
Wenn aber durch weite Raumfluchten und unbestimmte Perspek-
tiven der gestaltete Raum sich annähert der Unendlichkeit und
Unbestimmtheit des allgemeinen Raumes, wie bei den Raumge-
staltungen des Barock, dann ist auch die Wandmalerei der Ver-
pflichtung enthoben, klare und nicht durchbrochene Grenzen
zu schaffen ; sie kann dann den Bewegungsdrang in die Tiefe, der
häufig genug schon durch die Architektur, durch Säulenstellungen,
Wandvertiefungen und raumüberhöhende Mittel sein Genüge findet,
sich voll ausleben lassen. Sie ist alsdann völlig frei, die Illusion
so weit zu treiben, dass sie den Raum diesseits und jenseits der
Wand, also Innen- und Außenraum — von denen der erste archi-
tektonisch real, der zweite nur illusionistisch vorhanden ist — in
Eins verbindet. Sie kann die Ebene der Wandfläche wegmalen;
sie vollzieht damit einen in der Kunst immer wiederkehrenden
Prozess der optischen Täuschung, indem sie die Materialität der
Mauer- und Wandfläche durch die malerischen Mittel der Perspek-
tive und Illusion verschleiert und wie auf der Bühne den wirk-
lichen Raum nach allen Seiten hin erweitert, wobei es ihr über-
lassen bleibt, die Übergänge und Grenzen zwischen Raumkern
und Raumferne in jedem beliebigen Grade der Deutlichkeit zu
behandeln.
Es sind also zwei wesentlich verschiedene Prinzipien, die die
Wandmalerei beherrschen: das erste ist bestimmt durch die
Flächenkräfte, die die konstitutiven Elemente der Ebene sind und
738
einen konservativen Charakter haben, da sie den Pragmatismus
der architektonischen Raumgrenzen durch ihre realen oder sym-
bolischen Darstellungsmittel zum Ausdruck bringen. Wir wollen
es das Stabilitätsprinzip nennen. Es ist ein konstantes Prinzip.
Das andere ist bestimmt durch das Richtungsmoment der
Tiefe, sowohl zum Raumkern hin, als von ihm weg. In dieser
schwankenden, unbestimmten und nicht einmal bestimmbaren
Begrenzung liegt das Moment der Bewegung. Alle Beziehungen
der Aufmerksamkeit und des Interesses werden von dem Raum-
kern bis zu der begrenzenden Wandfläche oder darüber hinaus
in die Tiefe gezogen. Das Stabilitätsprinzip ist damit durch-
brochen.
Man kann sich den Raum aus lauter Schichten zusammen-
gesetzt denken, die eine hinter der andern in unendlicher Folge.
Durch das Stabilitätsprinzip wird eine von diesen Schichten
materialisiert und optisch fassbar; alle Schichten davor und da-
hinter sind dadurch ausgeschlossen. Anders bei der Tiefenbe-
wegung des zweiten Prinzipes. Durch die Raumerweiterung dies-
seits und jenseits der Stabilitätsschicht werden alle übrigen Schichten,
so weit die Tiefenachse reicht, in die malerische Rechnung mit
hineingezogen. Je nach der Form der Raumerweiterung kann
die optisch festgelegte Schichtenfolge verschiedenartig abgestuft
sein, ihre Mächtigkeit ist eine relative. Man kann bei ihr Vorder-,
Mittel- und Hinterbühne unterscheiden, wenn es sich um archi-
tektonische oder landschaftliche Prospekte handeli; schließlich
folgen die Ausblicke ins Unbegrenzte, auf Ebene, Meer und Him-
mel weit hinaus Diese Folge von Schichten, die man übrigens
gewöhnlich gleichsam im Grundriss betrachtet und als Vorder-,
Mittel- und Hintergrund bezeichnet, kann zwar durch stabile Formen
dargestellt werden, durch Architekturglieder oder durch landschaft-
liche Elemente wie Bäume, Felsen, Berge, schließen aber dennoch
das Moment der Ruhe aus, da die vor- oder rückwärts schrei-
tende Aufmerksamkeit in der Tiefe hin- und hergeführt wird. Das
Charakteristikum der Bewegung ist für dieses Prinzip das Ent-
scheidende. Wir wollen es daher das Prinzip der j-lukiuation
nennen. Es ist ein motorisches Prinzip.
Dieses zweite Prinzip hat sich neben der eigentlichen Flächen-
bemalung der Vertikalwände noch eigens ein Ausdrucksorgan gc-
739
schaffen in der Kuppel- und Deckenmalerei; und in diesem Be-
reich ihrer eigensten Aufgabe ein oft sehr lebhaftes Tempo der
Bewegung angeschlagen und die Raumerweiterung bis in die Un-
endlichkeit der Himmelshöhen getrieben. Die motorischen Kräfte
der Wandmalerei haben sich dabei zu einer Aktivität außerordent-
licher Art entfalten können.
Bisher sind nur die Richtungsmomente der Wandmalerei be-
trachtet worden. Es blieb dabei außer Betracht, durch welche
Formen der Ornamentation architektonischer, figuraler oder
räumlicher Art diese Richtungsmomente sich verkörperten und
zur Darstellung gelangten. Es gibt aber außer ihnen noch geistige
Momente, die die Wandmalerei bestimmen. Jeder architektonisch
gestaltete Raum ist nämlich nie inhaltsleer oder geistig tot. Er
hat vielmehr, wie schon das Kräftespiel der Funktionen deutlich
macht, ein inneres Leben. Er umschließt eine Seele. Wie er
nur von innen her fassbar ist in seinem Plan, seinem Bau und
all seinen konstitutiven Mitteln und illusionären Wirkungen, so
haben auch alle seine Formen, die realen Glieder, wie die Funk-
tionen derselben alle insgesamt eine Beziehung zu dem schöpferi-
schen Bewusstsein, das gleichsam mit dem mathematischen Mittel-
punkt oder Wirkungszentrum identisch ist.
Jeder Raum hat seinen praktischen und ästhetischen Zweck
nur in Beziehung auf ein Individuum, das in ihm lebt und dessen
künstlerische Bewusstseinserweiterung eben der Raum ist. Es ist
gleich, ob dieses Individuum ein Einzelwesen oder Kollektivwesen
ist, eine Menge, eine Gemeinde oder auch nur eine Idee, etwa
das Göttliche ist — die Hauptsache bleibt, dass in diesem geistigen
Zentrum sich alle Achsen des architektonischen, des räumlichen
und linearen, des perspektivischen und planimetrischen Systems
schneiden. Alle Flucht-, Kraft- und Funktionslinien streben darauf
zu, wie sie auch davon ausgehen. Am deutlichsten kommt dieser
geistige Wirkungsmittelpunkt zur Darstellung in den Zentralbauten,
weil er bei ihnen stabil ist. Aber auch bei allen Longitudinal-
bauten, wo dieses Zentrum sich gleichsam in der Hauptachse
fortbewegt und damit die Relationen zu dem Gesamtsystem sich
immerfort verschieben, ist doch diese zentrale Geistigkeit die
eigentlich raumgestaltende Macht.
740
Von ihr aus finden Projektionen des Bewusstseins. des Willens
der geistigen Haltung, der Zweckbestimmung, der persönlichen
Bedeutung, des repräsentativen Anspruches, kurz der gesamten
Machtsphäre auf die Wände statt. Form und Inhalt werden nur
von hier aus klar, weil sie auf diesem Zentrum beruhen. Alle
Energien, die in dem System ausgespielt sind, haben in diesem
geistigen Bewusstsein ihren Brennpunkt.
Welcher Art nun auch immer die Formen sein mögen, in
denen das Stabilitäts- und das motorische Prinzip der Wand-
malerei dargestellt sind, so bekommen sie doch erst ihren Sinn
durch dieses dritte Prinzip, das wir das dynamische nennen wollen,
denn es begreift die geistige Macht, die den ganzen Organis-
mus beseelt.
In der einfachsten Ornamentation einer Wandfläche ebenso
wie in der kühnsten Flächenmalerei einer weiten Perspektive ist
das dynamische Prinzip wirksam, freilich auf verschiedene Weise.
Es tritt zurück, wenn die Flächenkräfte sich hervordrängen; es
wächst mit der Energie des motorischen Prinzips, es triumphiert,
wenn die figurale Malerei im Dienste der historischen Verherr-
lichung oder der gedankenreichen Symbolik und Allegorie den
Plan beherrscht. Dann spiegelt sich das Wesen der geistigen
Macht, die den Raum bewohnt, in mannigfachen Brechungen und
vervielfältigt damit die Idee, die den Raum erfüllt.
Untersuchen wir im Einzelnen das Verhältnis des dynamischen
Prinzipes zu den beiden andern, so ergibt sich im Wesentlichen
folgendes: die rein architektonischen Grundkräfteder Raumgestaltung,
die am wirksamsten in der Raumharmonie des Zentralraumes, wie
etwa im Pantheon, erscheinen, sind so überlegen, dass nur die
Flächenkräfte sich in ihrem Dienste, freilich auch nur gedämpft, ent-
falten können. Man kann sagen, dass die kristallinische Raumform
mit ihrem Bedürfnis nach harten Grenzen und scharfen Konturen
auch das dynamische Prinzip für das figurale Wandbild einengt,
wenn nicht völlig ausschließt. Je unumschränkter der Architekt
ist und je mehr er auf sich und seine Arbeit hält, desto schwerer
hat es das dynamische Prinzip, sich Geltung zu verschaffen. Die
Räume, die die dynamischen Kräfte am schönsten haben erblühen
sehen, wie die sixtinische Kapelle und die vatikanischen Stanzen,
sind räumlich durchaus gleichgültige Werke. Die sixtinische Ka-
741
pelle ist ein toter Raum voll hochgespannten Lebens. Wände
und Decken reden und erzählen von höchsten und letzten Dingen;
aber selbst die Kraft Michel Angelos hätte versagen müssen, wenn
die Architektonik der Kapelle über diese einfachsten Formen der
Maurer- und Zimmermannsleistung auch nur ein Weniges hin-
ausgegangen wäre.
Die dynamischen Kräfte der Ideenmalerei und Gedanken-
kunst vertragen sich sehr wohl mit den Flächenprinzipien der
Stabilität und mit den motorischen Kräften der weitgetriebenen
Raumfluchten. Gerade der Flachcharakter in der Wandmalerei,
verbunden mit der ornamentalen Rhythmik des Umrisses, hebt
die abstrakte Allgemeingültigkeit der Darstellung, wie sie beson-
ders für religiöse Stoffe vom Mittelalter gewählt wurden. Giottos
Kunst ist die klar umrissene Flachmalerei, in der sich reine Ge-
dankentiefe und demütige Herzenswärme ohne Verlust an Kraft
und Bedeutung einer naturfremden Abstraktion der Wirklichkeil
unterordnen. In ihr waltet eine metaphysische Eindringlichkeit
der Bildwirkung, die die Schwelle der Naturwahrheit kaum be-
rührt. Ihr unerschöpflicher Gehalt an echter und ewiger Wahr-
heit beruht auf dem Gleichgewicht, das zwischen der weltfernen
Deutlichkeit des Natürlichen und der körperlosen Klarheit des
Gedanklichen hergestellt ist und in der flachen Räumlichkeit seiner
Bilderscheinung wie in einem eigensten Medium erhalten bleibt.
Die Welt der religiösen Kunst hat immer dann, wenn sie die
übernatürliche Schlichtheit ihrer Gedanken und Empfindungen
darbieten will, sich dieser Urform der Darstellung bedient. Indem
sie das Irdische und Reale unter dem Druck der Flächenkräfte
auf beinahe symbolische Formen zurückführte, blieb ihr die volle
Dynamik zur Verfügung für den hehren Inhalt, den sie offen-
barte. Diese Beziehung zwischen Abstraktion und Flächendar-
stellung ist eine so enge, dass sie sich mit dem Korrelat Ge-
dankenkunst und Flachmalerei beinahe identifiziert. Wer in der
modernen Kunst die Namen Carstens, Cornelius, Genelli, Puvis
de Chavannes, Marees und Hodler mit einander verbindet, wird
finden, dass sich in diesen neuesten Beispielen jene alte kunst-
geschichtliche Erfahrung, von der eben die Rede war, wieder-
holt. Die dynamischen Kräfte der geistigen Macht werden die
psychische Steigerung in dem ideenerfüllten Raum um so höher
742
treiben, je mehr die Darstellung unter der natürlichen Schwelle
des Plastischen und Räumlichen bleibt. Treten aber alle Ausdrucks-
formen des Wirklichen an ihre Stelle: die vollrunde Körperlichkeit.
die räumliche Tiefe, die perspektivische Illusion kurz Menschen
von Fleisch und Blut auf der Mutter Erde, leibhaftig und seelen-
stark — dann können nur jene übersinnlichen Mächte der Ideali-
tät, wie sie an der volta Ereignis geworden sind, die Abstraktions-
fähigkeit der Flächenkräfte entbehrlich machen.
In Verbindung mit den motorischen Kräften der Raumfluchten
verfügt das dynamische Prinzip über eine ergiebige Unterstützung
zur Steigerung des Illusionismus. Die einfachste Lösung auf
diesem Gebiet ist die bühnenmäßige Wirkung des Proszenium.s.
So sind die quattrocentistischen Wandgemälde von Masaccios
Zinsgroschen bis zu Rafaels Schule von Athen durchgeführt.
Unter dem Einfluss der nordischen Interieur-Malerei des Alt-
niederländischen Rahmenbildes nimmt zwar auch das italienische
Fresco bei Ghirlandajo und anderen den Charakter der Stuben-
heimlichkeit an; aber die allgemeine Tendenz führt zur Prachlhalle
und zur großräumigen Kirchenweite, wobei die Renaissancearchi-
tektur in der Wandmalerei Triumphe vorwegnimmt, die ihr in
Wirklichkeit noch vorenthalten waren. Aber selbst die Fernbilder
hoher Kircheninterieurs genügen nicht dem Tiefenzwang, so dass
meist noch Durchblicke in den offnen Himmel als letzter Flucht-
punkt sich anschließen.
Eine große Sorge für die Ausstattung der Bühnenszene mit
ihren großen Hallen und Säulengängen bildet die Vermittlung
zwischen dem gemalten Proszenium und dem wirklichen Itmen-
raum. Im Laufe der Barockkunst schwindet allmählich die Scheu
vor groben Täuschungen. Hinter der gemalten Balustrade auf
dem Parkprospekt, von dem aus die Sommerlüite in den Saal
zu dringen scheinen, spinnt sich ein gesellschaftliches Leben zwi-
schen den Salongästen hüben und den gemalten Komödianten
drüben ungezwungen an. Oder es drängen sich in den Kirchen
auf Kuppel- und Deckenprospekten die Wolkenmassen über die
Marmorgesimse der Kuppelfassung auf die Altargiebel herab und
bilden dann den natürlichen Boden für himmlische Heerscharen,
deren Massen bis zum Zenit in unabsehbare Höhe aufsteigen.
Die motorische Phantasie kennt keinen Anfang und kein Ende
74.?
und verbindet in schrankenloser Folge das Fernste mit der naiven
Optik des lebendigen Zuschauers inmitten all der Illusionsmagie.
Die Wände fliehen, die Decke hebt sich, Geisterhände reißen die
Schranken nieder zwischen diesseits und jenseits. Nachdem erst
einmal die gesamte Maschinerie der Erd- und Himmelsbühne in
Bewegung geraten ist, setzt nicht selten ein Sturmwehen ein, das
Himmelfahrten, Auferstehungen und Krönungsakte zu einem hals-
brecherischen Unternehmen macht. Die Dynamik der motorischen
Illusion arbeitet vornehmlich gern mit dem Grenzenlosen, auch
darin, dass sie ungezählte Figurenmassen auf die Bühne bringt,
die schon durch ihre Menge verwirren und in die Vorstellung
des Unbegrenzten fortreißen; überall Drang, Flucht, Bewegung,
Auflösung im Unendlichen.
Das dynamische Prinzip steht in unmittelbarer Beziehung zum
Kulturinhalt der Zeit. Sind die künstlerischen und literarischen
Kräfte hoch entwickelt, so kann wohl das gesamte geistige Leben
in bedeutsamen Repräsentanten von der Kunst auf einer Bühne
versammelt werden. Geschichte und Gegenwart, die geistigen,
rechtlichen und politischen Grundlagen der Macht können sich
als historisch repräsentative Gestalten um die geistige Figur des
Stifters stellen, der den künstlerischen Werken durch seinen Be-
fehl Dasein gegeben hat. In den Stanzen wohnt nicht der Me-
diceer Leo X., sondern das Papsttum der Renaissance. Die Ge-
stalten- und Gedankenwelt der Sixtinischen Decke ist ausgespannt
nicht über der Hauskapelle im Vatikan, sondern über dem reli-
giösen Bewusstsein, das sich aus der Verbindung von Humanis-
mus und Christentum gebildet hat. In den Wandgemälden Wil-
helm von Kaulbachs spiegelt sich die bürgerliche Bildung des
deutschen Volkstums, wobei die Nähe von Universität, Kunst-
sammlung und Berliner Intelligenz sowohl bei der historischen
Weite der Auffassung wie bei der frostigen Pose mitgewirkt haben,
in den Malereien Ferdinand Hodlers liegt die dynamische Funktion
in der Gemeinsamkeit und Schicksalsnotwendigkeit des Erlebnisses,
das die persönliche Einzelexistenz nur als ein paralleles Glied in
der Gesamtheit auffasst. Kein Moderner hat so viel Gewalt des
Ausdruckes entwickelt als er, indem er mit Hilfe von Symmetrie
und Eurhythmie das allgemeine Schicksal als die fortreißende Ge-
walt schildert, in der das Einzelwesen als Individualität untergeht.
744
In diesen drei Prinzipien gehen alle Beispiele der Wand-
malerei aller Zeiten auf. Es sind damit wie ich glaube, (lesichts-
punkte gewonnen, die jedes Denkmal verständlich machen in
seinem Verhältnis zu den Grundfragen der Kunst, unabhängig
von Schulzusammenhängen, biographischen Voraussetzungen und
allgemeinen Kulturströmungen.
BERN ARTUR WEESE
DOD
PERSEPHONE
Holdselige Nymphe, du gleichest den blühenden Blumen
Im rötlichen Lichte der untersinkenden Sonne
Auf den herrlichen Auen der nysischen Gefilde.
Für deine Mutter den duftigsten Strauß zu pflücken,
Brächest du alle die herbstlichen Wiesenblüten
In einem seltsam unwiderstehlichen Drange.
Du wähntest die gelb und lila gefärbten Blumen
in voller Pracht des frühlingartigen Glanzes
Auf grünende Fluren gestreut von der lieblichen Göttin.
Du sogst an den giftigen gilbenden Blütensternen
Und hauchtest tief in die Kelche den reinen Atem.
Geschlossenen Auges in unseligem Wahne.
Du fühltest das Blut in heißen Händen schwellen
Und deine Glieder in fiebrigem Schauer ermatten
Und eine Betäubung den schwächlichen Leib durchdringen.
Langsam, in letzter Erstarrung erbleichte dein Antlitz,
Die gewelkten Narzissen entfielen ins Wasser.
Umschwimmend alsdann die ertrunkene Nymphe.
CASI'AR WIl.l.V STRKirP
D D D
745
HEINRICH FEDERER
Heinrich Federer gehört mit in die erste Linie der Schrift-
steller, die das heutige schweizerische Schrifttum charakterisieren.
Gerade weil er über das typisch Schweizerische hinauswächst.
Wohl wurzelt er fest und unverkennbar in seinem Heimatboden,
aber seine Bedeutung und seine Wirkung erstreckt sich weit über
die Grenzpfähle. Wir dürfen stolz sein, dass er einer der Unsern
ist und dies auch immer wieder betont, aber wir dürfen
ihn nicht für uns beanspruchen. Wir haben auch nicht nötig,
ihn mit patriotischem Maßstab zu messen, um ihn als einen
wackern Mitkämpfer am großen Kulturwerk des deutschen Schrift-
tums zu lieben und zu rühmen. Seine Meisternovelle Sisto e
Sesto wiegt eine mehrfache Jahresausbeute des ganzen deutschen
Büchermarktes auf, und wir müssen schon auf Mörikes Mozarts
Reise nach Prag zurückgreifen, um dem schmalen Bändchen ein
Werk von ebenso fein ziselierter liebenswürdiger Kunst an die Seite
zu stellen. Es ist unstreitig das Beste, was Federer bisher ge-
schrieben hat und charakterisiert seine künstlerische Eigenart wohl
am treffendsten : sein außerordentlich fein kultiviertes Sprach-
und Stilgefühl, sein warmes, aller Kreatur entgegenschlagendes
Herz, seine durch innere Kämpfe geläuterte Weltanschauung, seinen
goldenen Humor, diese feinste Blüte inneren Reichtums.
Gleich das erste Buch, mit dem Federer spät erst hervortrat,
seine Lachweilergeschichten, ließen alle diese Vorzüge erkennen
und wiesen ihm den Platz an, den andere schwer erkämpfen
müssen und den er seitdem so unbestritten sich zu behaupten
wusste. Es sind nur einige kleine Erzählungen, nicht alle gleich-
wertig, nicht alle einwandfrei, nicht außerordentlich, nicht ver-
blüffend, aber überzeugend. Man las aus dem Buch heraus die
liebenswerten und sympathischen Züge eines Mannes, der uns
einlud, in seinen wohlbestellten Garten einzutreten. Man wusste,
hier würde einem keine tropisch überhitzte Treibhausluft engegen-
schlagen; hier wartete kein wildes Chaos aufgerissenen Bodens,
dichten Gestrüpps und sumpfiger Tümpel, aus denen man sich
die Blüten zusammensuchen musste. Man würde an sorgsamer
Hand auf wohlgepflegten Wegen und weislich angelegten Weglein
herumgeführt zwischen den Blumenbeeten und den Heckensträu-
746
ehern. Ein munterer Gärtner hatte hier mit kluger Hand die
Farben verteilt, aus reichem Überfluss den kräftigen Samen aus-
gestreut, hatte da und dort mit der Schere barocke Formen zu-
gestutzt, launige Irrgärtlein angelegt, da und dort auch ragende
Schattenbäume gepflanzt, und auf all die Herrlichkeit schien aus
heiterem Himmel die wärmende Sonne.
Solche Erwartungen weckten der Nachtwächter Prometheus,
Der gestohlene König von Belgien, und Die Manöver. Die nach
folgenden Romane entsprachen ihnen nicht ganz. Man fand darin
alle diese Dinge wieder, aber aus einer andern Perspektive ge-
schaut. Der anmutig plaudernde Erzähler wuchs zum ernsten
Schilderer. Die kleinen Geschichten, von denen man noch reichen
Nachschub erwartete, genügten Federer nicht mehr. Wohl zer-
sprang ihm beim großen Guss mitunter die Form, weder tierge
und Menschen noch Pilatus sind von der einwandfreien, abge-
rundeten Geschlossenheit, die die kleinen Erzählungen auszeichnet;
aber wenn das dem Künstler in vieler Augen vielleicht etwas
Abbruch tat, so wuchs dafür der Mensch. Hier offenbarte sich
dafür etwas Großes und Ganzes von beneidenswerter innerer
Fülle. Man mochte Pilatus als Kunstwerk ablehnen, als einen
Rückgang zu dem voi angegangenen Roman empfinden; aus beiden
trat einem die liebenswürdige, festgegründete Persönlichkeit ent-
gegen. Man mochte mit ihr hadern, man musste sie lieben. Zur
Bewunderung zwang dann das kleine Meisterwerk Sisto e Sesto.
Eine frei schaltende Künstlerphantasie hat hier auf einem histori-
schen Hintergrund ein Kulturbild gezeichnet, mit wenigen meister-
haften Strichen umrissen und mit einer Überfülle feinster Klein-
arbeit ausgemalt zu einer überzeugenden Lebendigkeit und Wahr-
heit, die von einem überragenden Künsilerwillen Zeugnis ablegten.
Hätte Federer nur dies eine schmale Bändchen geschrieben, man
müsste ihn den Besten zuzählen.
Mit seinem neuesten Buch der Jungfer Therese knüpft Federer
wieder an seine ersten Erzählungen an. Er nennt das Werk eine
Erzählung aus Lachweiler. Aber es ist ein neuer, ein anderer
Geist, der daraus sprüht. Die Erzählung spielt sich auf dem
gleichen liebenswürdig schweizerischen Hintergrund ab wie seine
ersten Geschichten. Der Unterton ist derselbe: köstliche Daseins-
freude und goldener Humor; aber sind die Lachweilergeschichlen
747
einer munteren Erzählerfreude entsprungen, so strömt aus der
Jungfer Therese der schwerere Atem eines Bei^enntnisbuches;
aus der beruhigenden und wohligen Perspektive einer objeictiven
Distanz, die mit versöhnendem Lächeln auf durchgerungene
Kämpfe zurückschaut. So will und so verlangt es die künstleri-
sche Eigenart Federers. Dass er sich dadurch um die zündende
Gewalt bringt, die ein miterlebtes Herzensdrama ausübt, das mag
man bedauern; man kann und wird es nicht von ihm verlangen.
Federer ist keine Kampfnatur, die einen mit unerbittlicher Konse-
quenz durchgeführten Tendenzroman als Fehdehandschuh hinwirft.
Seine sonnige Daseinsfreude verlangt nach einem Ausgleich mit
dem Bestehenden, das Leben und die hehre Natur der Schweizer-
berge sind zu schön, als dass sich darin nicht sollte zufrieden
leben lassen, und so wirft er sein reformatorisches Buch ins Feuer.
Man kann dem Verfasser dieses Ausklingen des Buches als
schwächliches Paktieren verübeln, man kann aber darin auch
einen Ausdruck gesunder bodenständiger Kraft erblicken, je nach
dem Standpunkt des Beschauers. Wer selber nicht zum Fanatiker
geboren ist, wird sogar Federer beistimmen, wenn er seinen
Kaplan, in dem es jugendlich modernistisch gärt, besiegt werden
lässt von der derben gesunden Menschlichkeit der Jungfer Therese,
die unangefochten von des Gedankens Blässe ihren Weg gradaus
geht und dabei einen schlichten, heldenhaften Seelenadel beweist,
der das Herz erobert. Man hat das Gefühl, dass sich Federer
in diesem Buch eigene innere Kämpfe von der Seele geschrieben
habe und liest die Geschichte deshalb mit doppeltem Interesse und
Anteil. Dass dabei nicht nur eine objektivierende Distanz, sondern
auch die Federer eigenen Einzelschönheiten in kräftigen Verglei-
chen, klugen Beobachtungen und stimmungssatten Landschafts-
schilderungen einen goldenen Schein über die Erzählung breiten,
mag ihrer unmittelbaren Wirkung vielleicht etwas Abbruch tun;
wir sind dafür dankbar, denn um so reiner weht dafür darin die
reine Luft absoluter Kunst. Diese künstlerischen Vorzüge heben
das Buch auch aus dem konfessionellen Nährboden in das lichte
Reich des künstlerisch Schönen. Die katholische Schweiz hat
bisher nur wenige literarische Führer hervorgebracht; um so mehr
freut es uns übrige Schweizer, dass sie uns neben Meinrad Lienert
noch Heinrich Federer geschenkt hat. HANS BLOESCH
D D a
748
KIRCHGANG IN ITALIEN
Von GUSTl SCHMIDINGER
Auf einem der tausend Hügel, die das Vorrecht haben, in
die toskanische Landschaft hineinzuschauen und eine einzigartige
Ansicht tausendmal zu wiederholen, ohne dass sie den Beschauer
je ermüdet, steht eine von den vierzehn Kirchen der Markgräfin
Mathilde von Tuszien, eines der vierzehn Gebete, die diese glau-
bensstarke Frau in Stein verewigen ließ. Über die Gründung des
Kirchleins geht eine bedeutsame Sage. Als unter inbrünstigen
Gebeten der erste Stein in den Grund gesenkt wurde und der
Bischof mit dem Weihwasser das Kreuzzeichen darüber machte,
wurde ein lautes Seufzen vernehmbar, das sich dreimal wieder-
holte; dabei hob sich der Stein dreimal ein wenig, genau so.
als wäre es eine menschliche Brust gewesen, aus welcher das
Seufzen kam. Worauf der Bischof und all die Andächtigen nicht
wenig erstaunt und erschrocken gewesen, jener aber bald die
Erklärung gefunden hatte: es sei dies das Seufzen eines Vorfahren
der frommen Gräfin, einer armen Seele, die durch die gottgefällige
Stiftung von ihrer Pein erlöst und in die Versammlung der Seli-
gen berufen worden sei. Diese Deutung fand viel Beifall und
die Bewohner des kleinen Dorfes unter dem Hügel schätzten sich
glücklich, dass gerade ihre Kirche zu dem Wunder auserkoren
worden war.
Es liegt noch heute ein Dorf an der Stelle, obwohl wenig
mehr von den alten Mauern übrig geblieben ist. Rings herum
sind andre Ortschaften aufgeblüht, der Berg jenseits des Tales
ist mit weißen Häusern gesprenkelt und jeder einzelne dieser
weißen Punkte entsendet am Sonntag jemand zur Kirche, die
noch ebenso licht und einladend ihre Loggien dem Tal entge-
genstreckt wie zwei offene Arme: so kommt doch!
Und sie kommen, des Sonntags. Mehrere Herrschaftskutschen
von den umliegenden Villen fahren da die gewundene Straße
hinauf; die Bauern, die den kürzeren Weg gerade durch das
Dorf nehmen, wissen genau, wie viele es sein müssen und wt-r
wegbleibt.
Das Dorf besteht aus einer einzigen steilen Gasse, und aus
749
den Haustoren zu beiden Seiten strömen die Kirchgänger hier
zusammen. Es ist unheimh'ch, wie viel Seelen ein Haus oder
vielmehr eine solche Höhle beherbergen kann. Der Kinder ist
kein Ende. Sie wackeln fröhlich mit, hinter den größeren Mäd-
chen drein, die, mit Vorliebe die ganze Breite der Gasse ver-
sperrend, zu dritt oder, wo es angeht, zu viert Arm in Arm da-
hinziehen und beständig vor Lachen zu bersten scheinen. Warum
auch sollen sie nicht vergnügt sein in ihrem Sonntagsstaat? Er
beschränkt sich ja im Grunde auf sehr wenig; aber desto mehr
Aufmerksamkeit wird dem Wenigen geschenkt. Zum Beispiel dem
wollenen Halstuch! Diesem Toilettengegenstand, den der Italiener
für unentbehrlicher hält als den Handschuh; er trägt das Halstuch
schon lange vor Allerheiligen, trotz des prachtvollen Oktober-
wetters, und mit fortschreitender Kälte wird der Schal immer
breiter, rückt immer höher hinauf, bis das neue Jahr kaum noch
die Nasenspitze zu sehen bekommt; im Mai erst wird er wieder
abgelegt. Was den Frauen im Sommer der Fächer bedeutet, das
ist ihnen im Winter dieser Halsstreifen, zum Kirchgang besonders
ganz unentbehrlich. Da bewundert man eine Ausstellung von
Farben, wie sie schreiender nicht vorkommen kann: grellrosa,
lichtblau, rot und dunkelviolett werden bevorzugt und lassen auch
herrliche Kombinationen zu. Wer's hat, schmückt sich außerdem
noch mit einem Endchen Band im Haar, das beileibe nicht dazu
passen darf, und eines der Mädchen ist sogar glückliche Besitzerin
eines Paares knopfloser, weißer Glaceelederschuhe — weiß? tempi
passati I Aber sie bilden dennoch den Höhepunkt des Erreichten,
den Zielpunkt des Neides und vieler Seufzer und jeder Sonntag
sieht sie pünktlich wieder.
Je höher es geht, desto stärker schwillt der Zug an, desto
schwieriger wird das Ausweichen. Und auszuweichen gilt es mehr
als einmal, wenn die schweren runden Käse in kräftigem Schwung
heruntergesaust kommen, mit denen die Burschen oben Diskus
werfen, höchst unbekümmert um die Beine ihrer Nebenmenschen.
Sie langweilen sich, sie sind schon lange oben. Langsam füllt
sich der offene Säulengang, der die Kirche umgibt; es ist ein
prächtiger Schutz bei schlechtem Wetter und eine Art Dorfkorso,
wo mehr als eine Ehe — ist man doch hier nicht weit vom
Himmel — beschlossen worden ist. Die Loggia bildet den Stolz
750
des Dorfes; man weist sich immer wieder gegenseitig die pracht-
volle, alles beherrschende Aussicht, und die Markgräfin hatte auch
die Kirche nicht ohne Absicht auf einen Punkt gestellt, wo. wie
sie meinte, angesichts von so viel Lieblichkeit der Gottesnatur
die guten Absichten des Schöpfers eine besonders eindringliche
Sprache zu den Menschen führen müssten und sie günstig stim-
men, so dass die Gnade leichter in ihre Herzen Eingang fände.
Die Glocken rufen energisch. Die Messe will beginnen. In
der Kirche ist die Teilung in eine Männer- und Frauenseite streng
durchgeführt. Die Mädchen haben eine ausgesprochene und be-
greifliche Vorliebe für das Chor. Um hinauf zu gelangen, muss
man durch die Wohnung des Pfarrers gehen und kann sich von
den Vorbereitungen für das Sonntagsmahl überzeugen — dann
kommt eine dunkle Treppe, auf der man — ganz zufällig natür-
lich und ein bisschen polternd — hinfällt. Endlich ist man hier
der gefährlichen Nähe des Pfarrers entrückt, was zwar der An-
dacht nicht abträglich, aber auch der Unterhaltung nicht ganz zu-
träglich ist. Mit einem Wort, das Chor bietet mannigfache Vor-
teile; unter anderm kann man von dort aus die ganze Kirche
übersehen und sich ausrechnen, wie viel der Messner an Stuhl-
geldern einnimmt.
Die Stuhlgelder bilden in den unmöblierten italienischen Kir-
chen eine reiche Einnahmequelle für den Messner. An der Ein-
gangswand unweit der Tür sind die Sitzgelegenheiten übereinander
aufgestapelt: eine wahre Stuhlburg. Der Strom der sich von
außen herein Ergießenden stößt alsbald auf das wohlvorbereitele
Hindernis der Mieter, die sich vor den Stühlen stauen. Der Mess-
ner reicht sie gegen zehn Rappen einzeln herunter. Dies gibt
natürlich reichlich Anlass zu Verkehrsstörungen, wobei die Leute
Zeit haben, sich zu überlegen, ob sie nicht auch einen Stuhl
mieten sollen.
Ursprünglich waren die Stühle wohl als ein oder mehrere
ruhende Pole in dem heftig kreisenden All der italienischen Kir-
chen gedacht. Jetzt ist man von dieser Auffassung abgekommen.
Nicht jeder Platz ist zur Andacht günstig und infolgedessen ar-
beiten sich die Stuhlbesitzer, ihre Beute nachschleifend, mit viel
Lärm und wenig Rücksicht durch die Menge. Das Geräusch der
rückenden und schleifenden Stuhlbeine bildet aber nicht nur so-
751
zusagen das Introltus der feierlichen Handlung; in der Kirche
gibt es kein: „Bitte, die Saaltüren werden geschlossen"; folglich
dauert der Stuhlverkauf und ein mehr oder minder lebhafter Ver-
kehr während der ganzen Messe weiter. Der Stuhl unterstützt
wirkungsvoll die Orgel, leiht ihr gleichsam seine harmonischen
Untertöne und markiert alle Hauptpunkte der heiligen Handlung
durch rechtzeitige Platzveränderung und entsprechendes Geräusch.
Der Stuhl bildet mit seinem Besitzer ein eigentümliches Doppel-
wesen, das sich bald zu einander verhält wie Kind und Kinder-
mädchen (er wird nachgeschleift), bald wie Schaukel und Insaße,
oder wie Betschemei und Betender, wie Balkonbrüstung und der
sich darüber Lehnende, wie Wippbrett und wippende Person, wie
Steckenpferd und Reiter und noch eine Reihe anderer Kombi-
nationen — aber nur selten so, wie Stuhl und Mensch sich ge-
wöhnlich zu einander verhalten. Es kommt darauf an, wie er
eben gebraucht wird: ob die Person hinter dem Stuhl steht,
ein Knie irgenwo auf der Lehne und die Arme oben hin gestützt,
wobei der Stuhl in eine schaukelnde Bewegung versetzt wird;
oder vor dem Stuhl, der, in dem Fall auf den Vorderbeinen ba-
lanzierend, seine Sitzfläche für das Knie hergeben muss, während
sich die Lehne den Ellbogen als Stütze darbietet; das klingt sehr
kompliziert und ist es auch; genug, es wippt leise auf und ab,
aber es erweckt den Eindruck großer Inbrunst. Wenigstens nach
vorne hin, denn — derriere moi le deluge! Was macht es aus,
ob jemand dahinter durch die wenig anmutende Silhouette des sich
herausreckenden Körperteils in seiner Andacht gestört wird? Sie
ist für jeden gleich schwierig zu behaupten — sicher schwierig
zum Beispiel angesichts der vielen improvisierten Betschemel, auf
denen die Frauen mitleidlos dem andächtigen Hintermann ihre
Füße ins Gesicht strecken, der zugleich verblüfft auf eine reiche
Ausstellung von Unterwäsche blickt — denn die Stühle eignen
sich natürlich mit ihrer hohen Sitzfläche ebensowenig zum Knien
als ein Betschemel sich zum Sitzen eignen würde. Oder der Stuhl
gebärdet sich als Steckenpferd; sein dicker Reiter sitzt rittlings
oben, die Beine weit auseinandergespreizt. Diese Stellung ist bei
den Männern sehr beliebt.
Der Anfang der Messe wird in ziemlicher Ordnung hinter
den Stühlen stehend angehört; nur einige eifrige Seelen knien
752
schon. Nach dem Evangelium setzt man sich auf kurze Zeit, um
schon beim Offertorium den Stuhl schnell wieder um sich herum-
zuwirbeln. All diese Unruhe und der Umstand, dass die Stühle
so selten wirklich als Sitzfjelegenheit benützt werden, hat seinen
guten Grund. Diese Stühle sind so unbequem, kantig, steil und
spitzig, als hätten sie nie an ihre eigentliche Bestimmung gedacht.
Die Sitzfläche aus Stroh wird durch die zwei herausragenden
Vorderbeine tückisch unterbrochen, so dass der dem mensch-
lichen Behagen zugemessene Teil auf ein unmögliches Minimum
beschränkt ist. Wer für dieses Marterwerkzeug noch dazu zehn
Rappen bezahlt hat, kann sich darauf den schönsten Aussichten
auf sein wohlverdientes Seelenheil hingeben, und es scheint, als
habe die Stuhlfabrik, welche die Kirchen Italiens versorgt, mit
Bewusstsein auf dieses Endziel hingearbeitet. Wer „Nerven" be-
sitzt, zieht hier den einzigen Vorteil aus seiner sonst wenig be-
neidenswerten Lage, denn er fühlt nicht nur die Qualen des Sitzens
doppelt, sondern das Minus der Lustgefühle, welches das Kratzen
und Schleifen der Stuhlbeine bei jeder der oben angeführten Meta-
morphosen in ihm erregt, muss gerechterweise wieder ein Sün-
denplus aufheben.
Aus dieser Berechnung wäre vielleicht abzuleiten, dass das
italienische Volk mit entsprechend mehr Sicherheit auf sein einsti-
ges Seelenheil rechnen kann als andere Nationen ; ist doch seine
Andacht allein schon so verdienstvoll ! Die, welche darin eine
Bevorzugung der Halbinsel erblicken, mögen sich trösten. Die
Folgerung stolpert unbedingt über drei verhängnisvolle f-uß-
angeln; sie sind genau in die drei Worte zu fassen: die Orgel —
der Halsstreifen oder Fächer, je nach der Jahreszeit - und die
Kinder.
Zwischen Orgel und Stühlen besteht ein geheimnisvolles Ein-
verständnis, so nämlich, dass sich, was sonst als Verdienst er-
scheinen müsste, genau in das Gegenteil verkehrt Es ist nicht
festzustellen, ob dem Organisten im Augenblick, wo er zu spielen
beginnt, vielleicht die Tortur auf einem der Stühle so eindringlich
vorschwebt, dass er in einer Kegung menschlichen .Mitleids sich
bemüßigt fühlt, die Marter zu versüßen; gewiss ist. dass er sein
Talent statt in den Dienst der Erhebung, der Loslösung vom
Irdischen, in den Dienst ganz gemeiner Unterhaltungslust stellt.
753
Der Satan kitzelt ihm die Finger und ein Dreivierteltakt hüpft
heraus, stolpert über die widerstrebenden Tasten, fällt, rafft sich
wieder auf und rollt weiter — und es wird wahrhaftig ein alter
Walzer daraus, ein wenig ungeschickt, ein wenig stößig, und
schauerlich falsch; aber hier nimmt man es nicht genau, der
Gelenkigkeit der hölzernen Tanzbeine unten ist der Takt immer-
hin angemessen. Es rückt, es scharrt da unten — es sind nicht
mehr die qualvollen Schreie gepeinigter, sich windender Seelen, es
ist ein Tanz — es geht im Takt — es kommt Methode in das
Rücken, das Scharren — es kommt, wie man zu sagen pflegt,
Zug hinein. O weh, der Zug trägt alles Verdienst fort, und
Satan kann sich ins Fäustchen lachen, während der Organist zu
einem Mozartschen Menuett übergeht. Mag sich der Orgelkünstler
in ein paar angstvollen, quiekenden Lauten — die dem gebildeten
Zuhörer unwillkürlich das Todesstöhnen des Jochanaan ins Ge-
dächtnis rufen — plötzlich auf die ungeheure Verantwortung be-
sinnen, die er auf sich geladen hat, die Stimmung ist trotzdem
hin: wem während des Offertoriums Don Giovanni erschienen
ist, dem nützt die Wandlung nicht mehr. Die Wandlung . . .
Der Pfarrer hat das Glockenzeichen abgeschafft, um seine
Gemeinde zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Er soll es büßen!
Satan stellt sich auf den Hebel des Blasebalgs, und maestro Puc-
cini tritt zu dem Organisten, flüstert ihm etwas ins Ohr. Der
scheint wie entrückt. Wer — wer hat gesagt, dies sei ein Altar?
Flattern dort nicht Kulissen — unterhalten sich dort nicht Pinker-
ton und Sharpless in angeregtem Wechselgespräch . . .
Und schon ertönt von der Orgel das Zwitschern der Geishas,
Madame Butterfly taucht auf, einen Sturm der Bewunderung er-
regend! Da — eine Verwirrung. Die Wandlung überrascht den
Künstler und bringt ihn aus dem Text. Er kann sich nur noch
schnell auf den ergreifenden Schmerzensausbruch des betrogenen
Pagliaccio besinnen, um den feierlichen Moment halbwegs würdig
einzuleiten. Aber um seine Sammlung ist es nun geschehen —
Madame Butterfly und Toska liegen einander beständig in den
Haaren, Motive aus der Boheme, Aida und Cavalleria rusticana
schwimmen bunt durcheinander, unterbrochen — oder zusammen-
gesetzt? — von Cantilenen; die Serva Padrona tischt zwischen-
durch ein wenig Pergolese auf — alles bis zur Unkenntlichkeit
754
verstümmelt. Doch eines hört man heraus: der Mann besitzt ein
Opernpotpourri.
Satan tritt den Blasebalg.
Besitzt er die Gabe, sich zu vervielfältigen? Der Katechismus
klärt uns darüber nicht auf, aber es ist sehr wahrscheinlich. Unter
den Frauen ist eine verdächtige Bewegung, die mit Andacht nicht
viel zu tun hat. Wo Boa, Ketten, Muffe, Lorgnons und Krausen
fehlen, da lässt sich auch mit einfacheren Mitteln Unheil anrichten:
mit dem Halsstreifen. — O, Ihr glaubt, er ließe sich nicht eben-
sogut verwenden als ein Blaufuchs? Da seht einmal her. wie ihn
die Braune dort über die Schulter wirft! Ob es kostbares Fell
ist, das da durch die Finger gleitet, oder grobe Wolle, bleibt sich
für die Geste gleich. Man lässt den Streifen wie liebkosend durch
die Finger gleiten — so — und schwenkt ihn mit einer eleganten
Bewegung des Handgelenks nachlässig nach rückwärts (das kurze
Endchen zappelt dabei jämmerlich und möchte gerne wieder nach
vorne kriechen; aber das tut nichts, die Geste war vollendet, und
bis man wieder genötigt ist, sie zu wiederholen, kann man sich
der süßen Täuschung hingeben, es hingen Biaufuchsschwänze auf
den Rücken hinab). Das ist ein Nesteln, ein Zupfen, ein An- und
Ablegen; bald ist die Hitze unerträglich, bald stellt sich Frieren
ein, immer rechtzeitig, um eine Veränderung vornehmen zu kön-
nen, Aufmerksamkeit zu erregen und vielleicht - beneidet zu
werden! Dies ist das geheime Endziel, das in den koketten Fin-
gern lauert und die kleinen und kleinsten Mädchen schon an-
spornt, die wichtige Bewegung zu üben, als wäre die ganze Ge-
meinde ein einziger großer Spiegel.
Die Kleinen machens täppisch: sie sehen sich herausfordernd
um, ob ihnen auch genügend Beachtung geschenkt worden ist.
Sie tun furchtbar wichtig, diese kleinen Mädchen. Wie sie im
Sommer nur eben hereinkommen, um den l'ächer zweimal vor
dem Hochaltar auf- und zuzuklappen, so gibt es auch jetzt ein
ewiges Kommen und Gehen; sie knixen. wirbeln den Halsstreifen
einmal herum, besprengen sich mit Weihw:isser und laufen nnt
dem also gewonnenen Segen befriedigt wieder hinaus: man tritt
eilig in ein Postamt, kauft eine Marke und gehl. Auch die Tür.
welche jedesmal dröhnend ins Schloss fällt, erinnert lebliaft an
diese Einrichtung bei Postämtern.
!:>:>
Der Eingang sollte in der Nähe des Hochaltars sein, das
wäre praktischer; denn jeder will sich bis dorthin durchdrängen,
besonders die Kinder. Dieser Platz gehört ihnen und wird hart-
näckig von ihnen behauptet. Sie sind augenscheinlich über die
Folgen des pfarrherrlichen Zornes noch nicht so genau unter-
richtet; sonst würden sie sich nicht so vertrauensvoll dort zu-
sammendrängen, um — Unfug zu stiften. Wer ihrem gottlosen
Treiben zusieht, muss von den schlimmsten Befürchtungen für
das Seelenheil der Gemeinde befallen werden. Wenn dies am
grünen Holze geschieht . . .
„Dominusse vobiscumeh !"
Die Kinder sind sich darüber einig, dass es beim Hochaltar
am interessantesten ist. Sie bedrängen den wehrlosen Priester,
so gut es Kinder eben verstehen, umgeben in dichten Scharen
die schützende Balustrade, die niemand vor etwas schützt, denn
so weit Umfang und Altar es zulassen, kriecht man eben zwischen
den gewundenen Säulchen durch; auch dem Übersteigen bietet
sich kein erhebliches Hindernis. Jenseits der Balustrade tun sich
die Knaben, ihres bevorzugten Geschlechts bewusst, besonders
hervor, während sich die Mädchen auf den Raum vor und auf
der Balustrade beschränken müssen. Es erweckt von ferne den
Eindruck rührendster Unschuld, die Knaben so vertrauensvoll auf
den Altarstufen hocken zu sehen, die Hüte in der Hand. Bei
näherer Betrachtung macht diese Illusion einem tiefen Erstaunen
über die Fülle der Einfälle Platz, die hier im Dienste der Neckerei
verpufft werden.
Man rückt scheinheilig immer höher hinauf. Der Ministrant kann
sich zuletzt kaum mehr rühren. Er ist überhaupt der unglück-
liche Gegenstand der Neckereien, die sich an den Priester denn
doch nicht so offenkundig heranwagen. Man zupft ihn, räuspert
sich mächtig gerade an den wichtigen Stellen, wo seine Antwor-
ten einsetzen sollen, so dass er sein „ammeneh !" falsch an-
bringt. Man vergnügt sich auch sonst auf mannigfache Weise:
die Jungen entreißen einander die Hüte und gehen dabei ungeniert
vom Flüsterton zu lautem Zank über, bis eine drohende Hand-
bewegung des Priesters dieser Unterhaltung ein Ende macht. Die
Balgerei wird stiller weitergeführt, und endlich schlägt die Idee
eines Preisspuckens alles andere siegreich aus dem Felde.
756
Die Mädchen gehen nicht ganz so weit. Hier ist im allge-
meinen mehr Kichern, Deuten, Tuscheln, Klappern der Holz-
schuhe und Halsstreifenunruhe. Aber sie haben inzwischen doch
auch schon ein Wettspringen auf den Stufen des Altars veran-
staltet und den Knaben einiges mit Erfolg abgelauscht; Püffe setzt
es auch hier reichlich ab. Die Ruhigsten beschäftigen sich damit,
untereinander die Heiligenbildchen auszutauschen oder spazieren
zu gehen. Ein ganz Kleines hat der Mutter den Rosenkranz ent-
rissen und läuft triumphierend damit umher. Endlich zwingt sie
der Verlust eines ihrer Holzpantoffeln auf die Balustrade zur Ruhe
nieder; da entdeckt sie ein Becken, das die Reinmachefrau dort
wie ein Opiergefäß stehen gelassen hat. Die Kleine fühlt sich
von dem schmutzigen Wasser mächtig angezogen und schon rückt
eine kleine Kolonne entschlossen dorthin vor, als die Besendame
noch zu rechter Zeit erscheint, um ein Unheil zu verhüten.
„In nomine patrisse, fillisse e spiriti sanctisse ammeneh!"
„Oremusseh — Pater nobisseh — "
Der Rest geht in ein eilfertiges Murmeln über, während der
Priester seine Messgeräte zusammenpackt. Seine Messe ist nicht
umsonst als die Zwanzigminuten-Messe berühmt. Da bleibt keine
Zeit zu langsamem Beten und zum Niederknien auch nicht. Wie
ein Wasserfall gleiten die Worte von seinen Lippen ; noch ein
Kniefall, eine scharfe Wendung, ein paar unverständliche — sseh
— neh — und meh und — den Rest kann in der Sakristei hören,
wer will.
Der Baronin ist es zu schnell gegangen. Sie bewegt noch
die ganze Zeit mechanisch die Lippen im Ave Maria, als der
Priester schon längst in der Sakristei verschwunden ist. und be-
wacht durch ihr Lorgnon den Ausgang, um den neuen Mantel
der Marchesa nicht zu versäumen. Sie schwärmt für Puccini.
Der Organist hat eben ausgeschwelgt. Da lösen sich ihre Lippen
endlich vom Lateinischen los und: „Bäilah. 'sta messah!" klingt
es im Brustton der Überzeugung. Dann geht sie dicht hinter dem
neuen Mantel dem Ausgang zu, und der Sonntag ist besorgt.
Ob der Stein vor achthundert Jahren nicht vielleicht nur einen
Blick in die Zukunft getan hatte, als ihn das Seufzen beschlich:''
an a
757
g g THEATER UND KONZERT
D D
D D
SCHAUSPIEL in ZÜRICH. Frank
Wedekinds dramatisches Gedicht
Simson ging über die Bühne des
Pfauentheaters. Ende Januar hatte
es im Lessingtheater in BerUn seine
erste Aufführung erlebt. Es lohnte
sich, auch unsere Literaturfreunde so
rasch mit diesem neuen Werk Wede-
kinds bekannt zu machen; denn an
echt dichterischen Zügen ist es reich,
so reich, dass gewisse skurrile Ele-
mente in dem Drama diesen Eindruck
des Bedeutsamen und Wertvollen
wohl zu stören, nicht aber zu zer-
stören vermögen.
Man kann sich leicht denken, was
Wedekind an dem alttestamentlichen
Stoffe gereizt hat : der Mann, der
vom Weibe, das seine Sinne erfüllt,
nicht loskommt, ob er wohl weiß,
dass es ihn betrügt, dass er nur ein
Spielzeug seiner Begehrlichkeit ist.
Auch der Stärkste gerät in diese
Knechtschaft. Und seine Sinnenliebe
ist stärker als seine Verachtung —
c'est un peu fort, que le mepris ne
puisse pas tuer l'amour, heißts klas-
sisch einfach in der Arlesienne; aber
es ist nun einmal so. Wedekind
zeigt es im zweiten Akte seines
Dramas, dem gelungensten, tiefsten,
ergreifendsten seiner Dichtung. Noch
der durch Delilas Verrat Geblendete
lässt nicht von ihr ab, und er
bettelt um Liebe, um wahre Liebe,
und er entblößt sein Innerstes, sein
blutendes Herz vor ihr, und sie macht
aus seinem Lebenstragik-Sang einen
Sinnenkitzel für ihren neuen Lieb-
haber, den Philisterfürsten Og von
Basan. Das ist die furchtbarste Tra-
gödie Simsons: seine Seele hat er
entblößt, ausgeschüttet im dumpfen
dunkeln Lied von der narrenden
Liebeslockung und ist damit zum
Gespötte einer schändlichen Buhlerin,
eines geilen Königs geworden. Eine
Szene wie diese findet nur ein Dich-
ter; und die Worte, die er geprägt,
die lyrischen Klänge, die aufrauschen,
tragen die Färbung stärksten Mit-
empfindens, schmerzvollsten Miter-
lebens.
Von diesem Akte schweift das
Erinnern zu der Dichtung eines Fran-
zosen. In den Destinees Alfred de
Vignys, die erst nach des Dichters
Tode an die Öffentlichkeit traten
aus der vornehmen Abgeschlossen-
heit seiner iour d'ivoire, steht das
Gedicht La colere de Samson
(von 1839), Auf Simsons Knien ist
Delila (oder Dalila, wie die Franzo-
sen sagen) eingeschlummert, riante
et bercee par la puissante main sous
sa tete placee. Da ringt sich ein
düster-trauriger, schmerzlicher Ge-
sang aus seiner Kehle, in hebräischen
Lauten, den Delila nicht versteht.
Er hebt an mit den Worten: „Ein
ewiger Kampf, jederzeit und überall
spielt sich ab auf Erden, in Gegen-
wart Gottes, zwischen der Güte des
Mannes und der List des Weibes, car
la femme est un etre iinpur de corps
et d'äme . . . Der Mann bedarf
immer der Liebkosung und der Liebe,
überall hin verfolgt ihn dieses Be-
dürfnis, und er gerät in der Stadt ohne
weiteres ins Netz der Vier ges f olles:
plus fort il sera ne', mieux il sera
vaincu ... Et, plus ou moins, la
Femme est toujours Dalila: „Sie
lässt sich lieben, ohne selbst zu lie-
ben." Müde von diesem ewigen
Kampf, wissend, was ihm bevorsteht
von Delila, beschließt Simson, das
Verhängnis herankommen zu lassen,
Ce qui sera, sera! Und er entschlum-
mert an Delilas Seite, und die Phi-
lister kommen über ihn, und sie
blenden ihn, und sie stellen ihn, in
Fesseln, vor ihren Gott Dagon. Das
Fest entfaltet sich lärmend. Und De-
758
THEATER UND KONZERT
lila, die bleiche Buhlerin, ist, bekränzt
und angebetet, die Königin des Mah-
les; aber zitternd spricht sie: Er
kann mich nicht sehen!
Von dem, was in dem Drama
höhnische Satire ist gegen die Heu-
chelei derer, die aus der Niedertracht
ein Idol machen, die ihre innere Ge-
meinheit nach außen anständig mas-
kieren möchten; was nach der Kari-
katur hin geht, auf die zu verzichten
gerade Wedekind um so schwerer
hatte fallen müssen, als ja die Feinde
Simsons und die Anstifter und Aus-
nützer Delilas — Philister sind, die
sich von selbst zur Porträtierung als
Feiglinge, Dummköpfe, Neidlinge,
Gäuche empfehlen : davon soll hier
weiter nicht die Rede sein. Wie
schon gesagt: diese Elemente stören,
aber sie zerstören nicht den dichte-
rischen Kern dieses Dramas, dem im
Oeuvre Wedekinds ein ehrenvoller
Platz sicher ist.
Die Anwürfe des Volksdrama-
tikers ignoriere ich. Lemaftre hat
einst einem Schriftsteller, der Tor-
heiten und Beleidigungen über ihn
geäußert hatte, nur die vier Worte
zugerufen: Vous etes an malheureux !
Deutsch könnte man das so aus-
drücken: Armer Kerl!
H. TROG
•
ZÜRCHER OPER. Dr. Lothar
Kempter, unser verdienter Opern-
kapellmeister feierte vor einiger Zeit
seinen siebzigsten Geburtstag. Wer
nur einigermaßen um das Musik-
leben von Zürich sich kümmert, den
muss dieses Jubiläum mit Genug-
tuung erfüllen. Denn was ein Mensch
in dieser Stellung in nahezu vierzig
Jahren leistet, muss sich an den
Früchten zeigen: am Einfluss auf das
Musikempfinden zweier Generationen
und am Ruf unserer Stadt als Musik-
stätte. .Auf seinem Programm stand
Wagner, und Wagner ist heute un-
umstrittenes Gemeingut unserer
Stadt. Was unsern Ruf nach außen
betrifft, so ist die Zürcher Oper
in ganz Deutschland bekannt als
vorzügliche Wagnerschule, wodurch
wir immer stimmlich erstklassige
Eleven bekommen. Somit hat Kemp-
ter sein Programm in allen Teilen
durchgeführt. Die Aufgabe war groß
und gipfelt in der eminenten Fä-
higkeit, mit wenig Mitteln Großes und
Größtes aufzuführen und schließlich
sogar das Gesamtoeuvrc Wagners
bezwungen zu haben. Diese Fähig-
keit des Zusammenfassens imd Zu-
sammenhaltens ist für Kern-" -■ gei-
stige Persönlichkeit das pr;.,. >te
und wertvollste, während er uns von
der menschlichen Seite Bewunde-
rung abringt durch seine unent-
wegte Gewissenhaftigkeit und Be-
scheidenheit. Und schließlich dürfen
wir seine künstlerische Gestaltungs-
kraft nicht vergessen, die oft Höhe-
punkte zeitigte, wie sie nnt größeren
Mitteln kaum größer hervorgebracht
werden können: ich erinnere nur an
die Leonorenouverture, an Parst/al,
an den Schliissderf; ■ ' ' ■.rning.
um nur einiges he' i So
kann LotharKempter auf inhaltsreiche
70 Jahre zurückblicken und des
Dankes der Besten sicher sein.
Während die letzten Jahre immer
mitten in der Spielzeit ihr Saison-
glanzstück brachten, ""'n wir
dies Jahr lange und ui.. J, war-
ten, und kommen nun endlich im März
zum musikalischen H' " "^t der
Saison: zu Gustav D' rnrifn,
die die deutsche Uraufführung hier
erlebten. Doret hat damit " ck
schweizerischen Niitionalc.., -ns
auf die Bühne gebracht: eine freu-
dige, frische Alpenlandschalt mit
ihren großen, freien Tonen ; die brü-
759
»OK>
THEATER UND KONZERT
ro>o
tende, stille, und doch so warme,
schirmende Stimmung einer Senn-
hütte bei Nacht, und viellticht am
wenigsten charakteristisch das dörf-
liche Fest, die Kilbi. Das ist nach
meinem Dafürhalten das Schöne an
der Oper, dieses empfundene Ein-
geben in Naturstimmungen, in die
Herbheit und Größe des Gebirges,
in die Lieblichkeit und Einfachheit
der Alpweiden und Sennereien. Do-
ret verwendet dazu hauptsächlich
zwei Motive, die den Grundton bil-
den zu seinem Gemälde: den Ranz
des vaches und das Emmenthaler-
lied, und wechselt in diesen sehr
reizvoll das Kolorit je nach Stim-
mung und Beleuchtung. Daneben
geht die Handlung des Sennen Köbi
vorrüber, der aus Eifersucht den Ka-
meraden Hansli erwürgt und ob
dessen gespensterhaften Erscheinung
in der Gewitternacht nach der Kilbi
zu Tode fällt. Auch dies ist einfach
und volkstümlich in Erfindung und
Empfindung. Nun hat Doret im dra-
matischen Teil seiner Musik die Ge-
stalt des Köbi derart gesteigert, dass
er seine Einfachheit verliert und
etwas Dämonisches kriegt, das sich
dann am Schluss des zweiten Aktes
steigert zu Bejahung von Leben und
Liebe trotz Schuld. Dadurch erhält
der Senn etwas Heldenhaftes — im
Sinne von Nietzsche — und die
Musik des Mittelaktes einen kraft-
vollen, markanten Höhepunkt.
In der motivistischen Verwertung
der Themen, mehr aber noch in der
Instrumentierung und der farben-
satten Stimmungs-Schattierung ist
Doret ganz im Banne von Wagners
Ring. Das ist kein Vorwurf, wenn
dadurch so viel Schönes und Großes
entsteht. Sie beweist nur die virtuose
Beherrschung des Technischen. Eine
andere Frage ist die, ob der Schwei-
zerbauer Köbi in sie hineinpasst oder
ob nicht Doret nur sich selbst wieder-
gibt, den modernen Menschen im
Widerstreite der Gefühle. Ich glaube
nun, dass Doret diese Klippe glück-
lich umgangen hat und in Köbi wohl
einen Sturm von Leidenschaften und
Gewissensbissen schildert, äußerlich
aber die Ruhe des Bauern gänzlich
wahrt. Mit der Darstellung dieser
Rolle hat sich übrigens Herr Janesch
verdiente Lorbeeren geholt. Gegen-
über seiner früheren Fassung hat
das Stück durch seine Dreiteilung
entschieden gewonnen. Der neue
zweite Akt gibt einen wohltuenden
ruhigen Akzent in die leidenschaft-
liche Handlung hinein und vertieft
dieselbe in wesentlichem Maße. Wir
sehen drei charakteristische, stim-
mungsvolle Bilder aus unserer Alpen-
welt und unserem Älplerleben, wir
sehen wahre Menschen und nicht
Opernschemen vor uns handeln, und
wir werden auch durch die Musik
nicht allzuweit aus der Sphäre dieser
Menschen fortgetragen, sondern hören
ihre Weisen, die auch die unsern sind
und uns vertraut und lieb vorkommen.
Deshalb werden wir Schweizer vor
allem diese Oper pflegen müssen,
die so viel Eigenart enthält, und da
die Aufführung in Zürich mit aller
Sorgfalt vorbereitet war und beson-
ders landschaftlich prachtvolle Bilder
gibt, so ist zu hoffen, dass der Er-
folg nicht hinter demjenigen der Gen-
fer Aufführung zurückstehe.
Vor Neujahr versuchte man ein
Stück eines anderen Schweizers an
der Oper einzuführen: Das heilige
Käppiein von Erich Fischer. Leider
ohne Erfolg. Das vom Komponisten
verfasste Libretto ist eine jener Ritter-
schauergeschichten nach der Schab-
lone mit vielen grotesken und oft
auch witzigen Situationen, die einer
Fuchsenproduktion gewiss zur Ehre
gereichen würden, aber für die Bühne
760
K>K>
THEATER UND KONZERT
doch zu ungeschickt sind. Die Mu-
sik dazu macht mehr den Eindruck
von Gelegenheitsmusik, die hier ohne
inneren Zusammenhang aneinander-
gehängt wurde. Der Abend brachte
manchem Verlegenheit, manchem
Langeweile und man bedauerte nur,
dass ein unleugbares Können nicht
von mehr künstlerischer und bühnen-
technischer Einsicht geleitet wurde.
Von Operetten hörten wir wieder
einmal eine, die der Erwähnung wert
ist: Polenblut von Nebdal. Hinter
einer derben, flachen Handlung ver-
steckt sich eine so feine und emp-
fundene Musik, dass man entzückt
diesen Klängen lauscht, die sich so
angenehm leise fortspinnen und die
Phantasie mitnehmen, während auf
der Bühne die Handlung weiler-
schreitet. Man staunt oft über die
Inkongruenz zwischen dieser voll-
blütigen, gar nicht opereitenhaft-
sentimentalen Musik des berühmten
Böhmen, und den verstandesmälSigen
Platiitüden des Librettos, das im
schlimmsten Berlin entstanden zu
sein scheint. Da man sich über solche
Kleinigkeiten aber heuzuiage nicht
mehr wundern darf, kann man sich
wenigstens an den musikalischen
Schönheiten schadlos halten, die hier
zu einem so reichen Straulie zu-
sammengebunden sind.
OTTO HUü
D
D
□
NEUE BÜCHER
D
a
a
ALBERT STEFFEN. Die Erneue-
rung des Bundes. Roman. Mit einer
Zeichnung von VValo von Mav. S. Fi-
scher, Berlin 1913.
Gleich einem alten Runenzauber
hält uns dieser feierliche Titel in ge-
heimnisvollem Banne — : als ob aus
Sphärenharmonien ein tiefster Ton
herüberdringe, in unsern Seelentiefen
fest sich ankernd und wundersam zu
einem immer mächtiger fortklingen-
den Orgelpunkte werdend, auf dem
der Dichter — in gewaltiger Steige-
rung der Innern wie der äußern
Mittel — eine Symphonie ersteilt, die
sich gleich einer heiligen Domes-
kuppel wölbt und schlieUl. Anfang
und Ende sind zuhöchst in eins
gefriedet; Vergangenheit und Zu-
kunft traumhaft in verewigte Gegen-
wart gerückt.
Dem Blick der Sage in urfrühe
Zeiten folgend, schauen wir im An-
beginne einen Mann mit seinen bei-
den Söhnen aus dem ungewissen
Norden kommen, bestimmt: ein Reich
zu gründen, wo Tag und Nacht, wo
Moor- und Maienland sich vonein-
ander scheiden. In dieser sagen-
haften Vorzeit bildet sich der Schick-
salsknoten aus den Fäden, die Karma
spinnt im Wellenwerden. Wie er sich
löst, in höherm Lichte neu sich
knüpft, das zeigt uns in der Folge
die Erzählung, die als eine Wicder-
spiegelung kosmischen Vorgangs in
der Erdenalltagssphäre sichtbar wird.
Das ewig heilige Gesetz des Opfers
höherer, geläuierier Geisiesmachle
an der Schwelle in das ihnen zuer-
kannte Land — : als ein Verzicht
zum Heil zurückgebliebener, niedriger,
nachtumfangner Kreaturen — erfüllt
sich hier. Bei diesen Abgefallenen
in der l'insieinis zu bleiben, ihr Lei-
den lindernd und als Lehrende
und Leitende zu verharren, bis
selbst der Mörder unter ihnen, nach
Erkenntnis und Bekennlnis ringend,
an das Licht gelangen kann — : das
ist der Sinn des alten Bundes^, der
sich ewiglich erneuert Christus be-
761
NEUE BUCHER
totsy
siegelt ihn, am Schluss des Werkes
unter seine jüngsten Jünger tretend
und die überirdischen Worte spre-
chend: „Lasset mich mit in eurem
Bunde sein. Niemals wollen wir uns
trennen von jenen, die unsertwegen
in der Tiefe weilen. Nie wollen wir
uns von der Erde wenden; wenn nicht
der Letzte mit uns kommen kann.
Nie wollen wir geliebt sein, wenn
nicht diese Liebe von uns selber aus-
geht und alle erlöst und den Er-
lösten wiederum entströmt, bis sich
die Erde selbst in lauter Liebeslicht
verwandelt hat." — So stehen wie-
derum drei Menschen, wie am Ein-
gang, so am Ausgang dieses Dichter-
baues; und was aus grauer, sagen-
hafter Zeit herüberkam, das geht —
verwandelt durch ein inneres Licht
— den Weg hinaus in Ewigkeit, ge-
folgt von einem unabsehbaren Zuge
derer, die durch dieses Licht er-
leuchtet wurden.
So hat Albert Steffen in seinem
dritten Romanwerk — zu dem die
vorangehende Bestimmung der Ro-
heit gleichsam als Präludium er-
scheint — in Wort und Bild, in
Gleichnis und Gedanke den tiefern
Weg der Menschheit vorzuzeichnen
versucht. Und ist ihm dies durch
Inspiration denn auch gelungen. Mit
der Sicherheit eines Nachtwandlers
folgt er ihr; und fast möchte man
sagen, dass er nur da, wo ihn die
laute Wirklichkeit zu jähem Erwa-
chen zwingt, zuweilen strauchelt oder
seinen äußern Pfad verliert. — „Voll
feiner Gedanken, nur etwas locker
zusammengehalten", schrieb mir
jüngst eine aufhorchende Leserin
nach beendeter Lektüre dieses stillen
Buches. „Locker" vielleicht in dem
Sinne, wie Anton Brückner (ein gei-
stiger Ahnherr Steffens) seine Sym-
phonien konzipiert und gliedert, die
wir — trotz gelegentlicher Ökonomie-
fehler, scheinbarer Zufälligkeiten und
Naivetäten — als lebendige Gebilde
liebend erleben. In diesem Sinne
dürfen wir auch Jeremias Gotthelf
als Steffens vorbildlichen, väterlichen
Meister bezeichnen. Auch hier ein
erstaunliches Beobachten, Erfühlen
und Ausdeuten der feinsten, verbor-
gensten Regungen der Seele und der
Natur rings um uns her: ein unauf-
hörliches Zwiegespräch mit dem Ich
und dem All; ein schier scheues Auf-
und Nachzeichnen innerer Erlebnisse
in Vers und Prosa.
Aus einem dringlichen Bedürfnis:
sich mitzuteilen, von dämonischen
Zwiespältigkeiten sich zu befreien,
ist Steffens unbekümmertes Erstlings-
werk Ott, Alois und Werelsche ent-
standen — : ein Roman, in dem sich
des Dichters Wille und Bestimmung
wohl am rückhaltlosesten äußert.
Hier wird auch gegen Schluss das
glückleuchtende Hauptthema, das
sich in Steffens zweitem und dritttem
Werke wesentlich erweitert, vertieft
und vergeistigt hat, zum ersten Male
feierlich angeschlagen. Mildmahnend
klingt es mitten hinein in unsere
durch materialistischen Egoismus ver-
feindete und verödete Zeit — : „Ich
weine nicht für mich, sondern
für die andern. Meine Muskeln
spannen sich nicht für mich — für
andere, für andere — . O, unendliches,
herrliches Gefühl!"
Wer so des Dichters innere Ent-
wicklung in diesen drei Stufen mit-
erlebt hat, wer Zeuge des Aufblühens
einer himmlischen Blüte inmitten der
Wildnis unseres Alltagsgartens ge-
wesen ist, der wird auch erkannt
haben, dass Steffens Größe und Be-
- deutung nicht allein nur in einem
liebevollen Nachbilden der Umwelt
besteht, worin ihn unsere „Heimat-
künstler" leicht erreichen können.
Man nimmt es vielmehr als ein wun-
762
0*04
NEUE BÜCHER
dersames Naturgeschehnis hin, wenn
dieser junge Dichter durch die Liebe
auch zu solch ungeahnter Schönheit
gelangt, wie zum Beispiel in der
Schilderung des Aquariums, des
herbstlichen Jagdmorgens und vor
allem der überirdischen Szene, in der
die gefallene Dienstmagd ihr neu-
geborenes Kindlein — von heiligem
Wahnsinn übermannt — durchs Fen-
ster hinaus dem Mondschein hingibt,
meinend: die seligen Strahlen trügen
es dahin. Man muss über Gottfried
Keller bis zu Jean Paul oder noch
älteren Meistern zurückgreifen, um
poetische Reliquien von solcher Rein-
heit und Lieblichkeit zu finden. Nur
einer, der durch Ehrfurcht zurGottes-
fuicht (die eben keine Furcht mehr
ist) gelangte, vermochte solche Werte
umzuwandeln ins lebendige Wort.
Voll Inbrunst langen wir nach
dem Mantelsaume eines Dichters,
dessen Falten eine sehnsüchtige
Seele bergen, die sich in Einsamkeit
und Stille langsam aber unablenkbar
vorbereitet auf eine kommende
Gottes-Zeit; und traumbeglückt ver-
ehren wir in Albert Steffen den
Dichter, der — einem Heiligen ähn-
lich — seine Menschlichkeit so ganz
aus sich herausgestellt hat, dass der
Geist wie in ein klares Kristall-Gefäß
einfließen kann, auf dass es uns der-
einst als Gral erleuchte und erlabe.
HANS REINHART
«
DIE KINDER- UND HAUSMÄR-
CHEN. (Ein Gedenksblatt an die
erste Ausgabe im Jahr 1812).
Wenn man große Ereignisse und
große Persönlichkeiten jeweils nach
hundert Jahren zu feiern pflegt, so
geschieht dies zweifellos aus dem
Bestreben, die Erinnerungen an be-
deutsame Leistungen der Mensch-
heit von Zeit zu Zeit wieder aufzu-
frischen und für die Gegenwart
fruchtbar zu machen, sowie aus
Dankbarkeit für das. was Bleiben-
des und Fortwirkendes unter uns
noch lebendig ist. Die Vorbilder sind
es, die stets zur Nachahmung ge-
reizt haben, und die Kenntnis der
Taten unserer Väter und Großväter
ist stets ein treffliches A\inel gewe-
sen, uns bescheiden zu machen, in-
dem wir uns fragten, wie weit wirs
ohne sie gebracht hätten.
Aber heute ist es etwas anderes, was
ich den Lesern ins Gedächtnis rufen
möchte; nicht eine Großtat des Gei-
stes oder ein Heldentum auf dem
Schlachtfelde oder sonst ein Ereig-
nis oder ein Menschenleben, das in
dem Sinne als groß bezeichnet wer-
den kann, wie etwa Napoleon und
sein Zug nach Russland, dessen ja
heute allgemein gedacht wird. Und
doch — welch' dankbare Gefühle
erfüllen uns alle, wenn wir uns daran
erinnern, und mit welcher Liebe
hängen wir an dem, was vor hundert
Jahren zwei schlichte Gelehrte uns
allen geschenkt haben. Denn ohne
dieses Geschenk köimen wir, soueit
die deutsche Zunge klingt, uns die
verflossenen Jugendtage gar nicht
vorstelliMi. Ich meine die Kinder- und
Hausmärchen der Brüder Jakob und
Wilhelm Grimm, deren erster Band
im Verlage der Realschulbuchhand-
lung in Berlin im Herbst 1912 er-
schienen ist, und wozu Wilhelm seine
ganz herrliche Einleitung am Ift. Ok-
tober 1812. gerade im Jahr vor der
Leipziger Schlacht, wie sein Bruder
Jakob im Hande.xemplar hinzugefügt,
in Cassel abgeschlossen und unter-
zeichnet hat.
Warme Dankbarkeit erfüllt uns
jedesmal beim Anblick dieser pi äch-
tigen Sammlung volkstümlicher Pro-
saerzählungen, der ersten, die mit
zarter Hand und möglichster Genau-
igkeit aus den Quellen geschöpft
763
NEUE BUCHER
»9*9
wurden, worin diese Volksdichtung
sprudelt, und die uns nichts anderes
bieten will, als was das Volk selber den
beiden Sammlern während der sechs
Jahre geboten hatte, die über dem
Suchen nach diesem alten schönen
Gemeingut verstrichen, ehe die erste
Sammlung zustande gekommen war.
Und auch einen Schatz hat uns das
Brüderpaar in diesen Büchern ge-
schenkt! Wie viel reines, edles Gut,
das die Phantasie des naiven Kindes
belebt und beseelt wie selten etwas
anderes, haben sie vor dem drohenden
Untergang gerettet! Wilhelm sagt
in seinem Vorwort: „Es war vielleicht
gerade Zeit, diese Märchen festzu-
halten, da diejenigen, die sie be-
wahren sollen, immer seltener wer-
den, denn die Sitte darin (im Mär-
chenerzählen) nimmt selber immer
mehr ab, wie alle heimlichen Plätze
in Wohnungen und Gärten einer
leeren Prächtigkeit weichen, die dem
Lächeln gleicht, womit man von ihnen
spricht, welches vornehm aussieht
und doch so wenig kostet".
Bekanntlich haben die Roman-
tiker in Deutschland die Grundlage
zur neueren Literaturgeschichte und
germanischen Sprachforschung ge-
legt; sie haben die Aufmerksamkeit
weiter Kreise auf das Mittelalter ge-
lenkt, das sie verherrlichten und des-
sen Kunst ihnen als Ideal erschien,
das in der Gegenwart nicht erreicht
worden sei; sie fanden darin das
Nationale besser ausgedrückt als in
der späteren Zeit, und einer der
Führer dieser Epoche, Friedrich
Schlegel, hat dieser ehrfurchtvollen
Betrachtung der Vergangenheit be-
sonders deutlichen Ausdruck ver-
liehen. Aus dieser Anschauunggingen
die ersten germanistisch-fachwissen-
schaftlichen Arbeiten eines von der
Hagen und Anderer hervor.
Aber auch die Liebe zur Volks-
dichtung, die ja bekanntlich schon
im Herzen Goethes durch Herders
Arbeiten geweckt worden war, fand
in den Kreisen der Romantiker ihre
begeistere Pflege. So gaben 1806—08
Achim V. Arnim und Clemens Bren-
tano Des Knaben Wunderhorn her-
aus, jene Sammlung von Volkslie-
dern, die Goethe freudig willkommen
hieß, und die auf die Lyrik des neun-
zehnten Jahrhunderts so befruchtend
eingewirkt hat, dass man sich diese
ohne jene Sammlung fast nicht den-
ken könnte. Im Jahre 1807 folgten
Göwes Volksbücher, eine Sammlung
von Romanen, Arzneibüchern, Reise-
beschreibungen etc., die als wert-
voller Beitrag zur volkstümlichen
Literatur betrachtet werden durfte;
alles Werke, dieeinen starken Ansporn
für die Brüder Grimm bildeten, sich
— wenn auch mit wissenschaftlich
besserem Rüstzeug — ähnlichen For-
schungen hinzugeben, ihr Interesse
drehte sich zunächst ausschließlich
um die Geschichte der Poesie, und
von dieser war es wieder die Volks-
oder „Naturpoesie", welche sie — die
Unterscheidung, die Herder aufge-
bracht, zu der ihrigen machend —
der Kunstdichtung weit vorzogen.
Sie betonten den nationalen Cha-
rakter dieser volkstümlichen Poesie
als deren großen Vorzug der höfi-
schen Dichtkunst gegenüber, der
besonders Wilhelm eine ungerechte
Geringschätzung entgegenbrachte.
Jakob hat maßvoller geurteilt; aber
die Vorliebe für die Volksdichtung
teilte er damals unzweifelhaft mit
seinen Bruder.
Eine Sammlung von Volksliedern
lag also im Wunderhorn vor. Aller-
dings eine Sammlung, die trotz ihrer
Bedeutung, die sie gewann und die
ihr nicht abgesprochen werden darf,
als Volksliedersammlung nicht alles
so bot, wie wir es heute von einer
764
NEUE BÜCHER
solchen Ausgabe erwarten müssien.
Vieles darin war wertlos, vieles durch
die Überlieferung und durch Über-
arbeitung von der Hand der Her-
ausgeber entstellt, manches Stück
hätte nicht unter die Volkslieder ge-
hört etc. Aber sie war da — und
die Bücher, die auch dem Volksge-
sang ein entschiedenes und liebe-
volles Interesse entgegenbrachten,
wollten wohl nicht gern Arnim und
Brentano Konkurrenz machen, als sie
sich anschickten, nach Überresten
alter volkstümlicher Poesie zu suchen.
Herder, der in so vielen Dingen als
Anreger und Bahnbrecher gewirkt
hatte, war auch ihnen ein guter
Ratgeber. Seiner Forderung gehor-
chend, gingen sie diesen Resten nicht
bloß in altern Drucken und Perga-
menten nach, sondern sie wandten
sich an das Volk selber, ließen sich
von den Landleuten die Prosage-
schichten, wie sie sich von Mund zu
Mund festgepflanzt und von Gene-
ration zu Generation vererbt hatten,
erzählen und zeichneten sie auf, be-
strebt um Echtes und Unverdorbe-
nes zu sammeln und der Nachwelt
aufzubewahren. Und je nachdem
diese Erzählungen an einen Ort oder
an eine Zeit gebunden waren, oder
aber vollkommen davon losgelöst im
Reiche der Phantasie zeit- und ortlos
erschienen, wurden sie den Sagen
oder den Märchen zugeteilt.
So ist allmählich die wunderbare
Sammlung der Kinder- und Haus-
märchen entstanden, deren erster
Band in dem denkwürdigen Jahre
1812 herauskam, dem schon 1814 der
zweite folgen konnte, und 1816-18
sandten die beiden emsigen Forscher
dieser Publikation die Deutschen
Sagen nach, zwei Bände, wovon der
erste die „mehr örtlich", der zweite
die „mehr geschichtlich (zeitlich) ge-
bundenen" Sagen enthielt, und die
- wie die Märchen fast durch-
wegs aus mündlicher Überlieferung
geschöpft waren.
Aber die unmittelbarere und be-
glückendere Wirkung hat die Mär-
chensammlung auf die deutsche. N'ation
ausgeübt. Sie ist ein Gemeingut nicht
nur des deutschen Volkes, sondern
der Völker überhaupt geworden, und
es tut ihrem Werte keinen Eintrag,
wenn die Brüder vielleicht in der
Vermutung gemeinindogermanischen
Erbgutes, mythologischer Ein- und
Nachwirkungen etc. etwas zu phan-
tasiereich vorgegangen sein mögen.
Das wissenschaftliche Verdienst der
beiden Gelehrten, die Märchenfor-
schung begründet zu habef). tileibt
ebenso bestehen, ob ihre Hypothesen
in der Auslegung der Märchenbeute
noch allgemein anerkannt seien oder
nicht. Und zum allermindcsten so
groß wie jenes ist das Verdienst,
den Kindern einen unendlich teuren
Schatz erhalten und überliefert zu
haben, der - gerade weil sie in der
Überarbeitung der Märchen so be-
hutsam und mit feinstem Verständ-
nis der Volks- und Kinderseele vor-
gegangen — jedem Kinderherzen lieb
wird und für uns Erwachsene unlös-
lich verknüpft bleibt mit der Erinne-
rung an die märchenfernen Kinder-
tage, da wir mit leuchtenden .Augen
zum erstenmal die Geschichten vom
Dornröschen u. vom Schneewiiichen,
vom Aschenbrödel und vom Rot-
käppchen, vom Hans im Glück und
vom Tischlein deck' dich und wie
sie alle heißen mögen, erzählen ge-
hört oder selber gelesen haben.
HANS MCLLI;R BIKTELMA.SN
FRITZ MÜLLER. Atltans^eschich'
ten. Verlag von Huber & Co , Frnuen-
feld 1914.
Wir zählen Fritz Muller linjjst
ein wenig zu den schweizerischen
765
*OK>
NEUE BÜCHER
K>«0
Autoren. Dass er sein neuestes Buch
in einem schweizerischen Verlag er-
scheinen lässt, soll doch wohl seiner-
seits diese Zugehörigkeit dartun.
Fritz Müller ist unerschöpflich im
Herausschütteln seiner geistreichen,
scharf pointierten Geschichten, die
sich alle auf ungefähr der selben
Linie bewegen, innerhalb der selben
Grenzen sich tummeln, aber hier
reich von einer meisterhaften Virtu-
osität Zeugnis ablegen. Selten bleibt
eine dieser Alltagsgeschichten im
Anekdotischen stecken, fast immer
spürt man aus den witzigen Plaude-
reien den nachdenklichen Ernst einer
gefestigten und ehrlichen Persönlich-
keit, der es nicht ausschließlich ums
Amüsieren zu tun ist. Dass die Ge-
schichten alle gleichwertig seien, kann
wohl niemand verlangen, aber durch
Geist und übersprudelnden Humor
zeichnen sie sich alle aus, und wenn
man nun schon die vierte dieser
Sammlungen mit dem selben Ver-
gnügen, das man bei der ersten
empfand, aus der Hand legt, so ist
das sicherlich ein nicht alltägliches
Lob. BLOESCH
FRIDOLIN HOFER. Im Feld und
Firnelicht. Neue Gedichte. 1914. Ver-
lag der Jos. Köselschen Buchhand-
lung, Kempten und München.
Diese Sammlung enthält in der
Tradition verwurzelte Gedichte und,
geringer an Zahl, solche von un-
verkennbar neuem Ton. Sie bezeugt
die Überwindung der Literatur und
den Durchbruch zum Leben.
Die große deutsche Lyrik, wie sie
Goethe schuf und wie sie von sei-
nen Nachfahren aufgenommen, va-
riiert und bereichert wurde, ist, kurz
gesagt, der Sang des Menschen, der
in Friede und Unruhe, in Seligkeit
und Hast, beglückt oder stürmend
über die Erde, die feste, eingesetzte,
unverrückbare, die alte und sich ver-
jüngende Erde geht.
Die Ahnung einer gewaltigen Zu-
kunft, verbunden mit dem durch die
Naturwissenschaft gesteigerten kos-
mischen Gefühl, dehnt heute unsern
Blick ins Weite, Unermessne, gran-
dios Chaotische, und die Gegenwart
bekommt das Elementare, Epochen-
hafte der Urzeit.
Diese Horizontverschiebung be-
trifft bei Hofer zunächst die Land-
schaft. Das Feld wandelt sich zum
Meer.
Spätes Pflügen:
Frühdämmerung umgarnt die Welt.
Unter aschfahlem Himmelsbogen
Mühsam, schwer
Stößt ein Pflug noch durch herbstliches Feld.
Dicht und dichter der Nebel fällt;
Nun seh ich kein Land mehr: ich schaue
ein Meer:
Pechschwarze, starrende Flut — die Schollen,
Der Pflug — ein Schiff,
Von wasserstampfenden Rossen gezogen,
Und manchmal geht durch der Dämmerung
Wehen und Wogen
Wie unterirdisch ein Schüttern und Rollen,
Als streife das Fahrzeug ein Felsenriff.
Im Einzelnen verspricht viel Aus-
drucksvolles die Erfüllung. — Ich,
Flamme, die in Erdendunkel zündet.
— Seliger Sommer blüht und wogt
durch mein Haus. — Ihr kahlen Gip-
fel des Urgesteines, Von Stürmen um-
braust, von Gestirnen umhellt, Einst
werdet ihr Land, lichtgrüne Welt.
— Wald und atmender Halm, Wol-
ken und Moorgeschwele. — Freilich
finden sich in den neu orientierten
Stücken oft schwerfällige, schlechte
und tote Verse^ während die epigo-
nischen Gedichte des Bandes meist
untadelig sind, — wieder ein Beleg,
dass formale Gewandtheit noch
lange nicht Stil heißt. Seinen Stil
durchzubilden, ist nun die ernste
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NEUE BÜCHER
Aufgabe des Dichters. Dann wird er
das Vorzügliche, das er besitzt, rein
geben können. Landschaften I.:
Grauschlammiges Land, wie Meerestiefen
entstiegen.
Nur hier und dort auf Feldern noch Furchen
von Schnee,
Wie weißer Wellenstrich der brandenden See,
Darüber Bäume, die Ächzend im West »Ich
wiegen.
Ackergründe, strotzend von gärenden Stoffen,
Aus Banden toter Erstarrung gelöst noch
kaum
Und den gesegneten Schoß dem unendlichen
Raum
Schon hingegeben — weit, weltoffen
JOSEF HALPERIN
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TAGEBUCH
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DAS ORGANiSATIONSWESEN
DER GEGENWART. Unser wirt-
schaftliches Zeitalter steht im Zeichen
der Organisation. Der Organisation
der Arbeiter ist die der Unterneh-
mer gefolgt. Auch die Kartellierung
läuft in letzter Linie auf eine Orga-
nisation hinaus. Der Organisations-
gedanke drückt unserem Zeitalter
den Stempel auf; er hat eine Mächte-
gruppierung herbeigeführt, die für die
Volkswirtschaft von schwerwiegender
Bedeutung ist. In die Sinnlosigkeit
des wirtschaftlichen Geschehens
wurde Sinn gebracht, in die Anarchie
der Produktion ein Element der Aus-
gleichung getragen, den Auswüchsen
einer allzuoft mit den konkreten
Faktoren des ökonomischen Lebens
nicht mehr rechnenden Arbeiteror-
ganisation hat die Koalition der Un-
ternehmer da und dort Halt geboten.
Die Organisation kittet Menschen
und Verbände enger zusammen,
steigert das wirtschaftliche Denken
und stählt die Energie im. wirtschaft-
lichen Kampfe. Allein überall tritt
uns die Organisation noch als etwas
Unfertiges entgegen, als etwas, das
noch im Flusse der Entwicklung ist.
Das Arbeiten an dem neuzeitlichen
Organisationswesen, so betont der
ehemalige österreichische Justiz-
minister Dr. Franz Klein, ein her-
vorragender Rechtslehrer, in einem
soeben erschienen Buche Das ür-
ganisationswesen der Gegenwart,
Verlag von F. Wahlen, Berlin, kann
jetzt nur ein Momentbild bieten.
Jede wissenschaftliche Tätigkeit in
sozialen Dingen der Gegenwart sei
derselben Beschränkung unterwor-
fen, sofern sie mehr sein wolle als
das Ersticken farbenfrischer und duf-
tender Pflanzen zwischen den Papier-
blätiern eines Herbarium ..
Klein sucht in seinem Werke auch
die Politik und die Wirkungen des
modernen Organisationswesens ins
Licht zu rücken. Die Einzelpersön-
lichkeit verschwindet hinter dem
Kollektiven, beide schaffen geistige
Einheiten, hier wie dort fühlen, den-
ken und handeln die einzelnen in
ihrer Vereinigung vielfach anders als
isoliert, und ihre Ideen und Gefühle
gehen in der Vereinigung nach der-
selben Richtung, so dass man bild-
lich im einen wie im anderen l'allc von
einer Kollektivseele sprechen kann.
Die bloße .Ansammlung wie die Or-
ganisationen geben ihren Mitgliedern
AAachtbewusstsein und ermutigen sie
zu Äußerungen und Akten, zu denen
sie als einzelne sich nicht ermannt
hätten. Beide setzen ihre .Mitglieder
in einen Zustand höherer Empfäng-
lichkeit, indem sie zu jeder mora-
lischen Hingebung fähig snid und
ihr persönliches Interesse freudig
dem kollektiven opfern.
Klein findet wie so manche So-
zialpolitiker, dass in allen Schichten
wo Organisationen vorkommen, die
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TAGEBUCH
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Organisierten sehr häufig den ande-
ren an Urteilsfähigkeit, Aufgeweckt-
heit, Klugheit und Gewandtheit vor-
anstehen. Sie sind das kritische, vor-
wärts strebende Element in der
Menge. Wenn in den Organisationen
einzelne Gruppen ihr Schicksal oder
Fragen ihres Gedeihens selbst in die
Hand nehmen, wächst auch in der
Gemeinschaft Willens- und Tatkraft,
und zwar ist es zum großen Teile
über das Überlieferte und Gegebene
empor- oder von ihm wegstrebendes
Wollen und Tun. Es dürfte, meint
Klein, durchaus nicht zutreffen, dass
die Organisationen den Unterneh-
mungsgeist beeinträchtigen, voraus-
gesetzt, dass Unternehmungsgeist all-
gemein als Wille verstanden wird,
für das private oder öffentliche Le-
ben nutzbringende Veranstaltungen
zu schaffen und nicht technisch ge-
rade auf die mit Kapitalrisiko ver-
bundene wirtschaftliche Produktion
bezogen wird.
Das anregende Werk des öster-
reichischen Juristen dürfte ohne
Zweifel die Auffassungen über das
Wesen und die Zulässigkeit der Or-
ganisation erheblich beinflussen.
CIVIS
ERKLÄRUNG. Aus dem Artikel
von Ernst Dick in Nr. 11 von Wis-
sen und Leben erfuhr ich, und ich
überzeugte mich daraufhin, dass
Hermann Burte in seinem Drama
Herzog Utz eine Szene stehen
hat, die in der äußeren Situation
Ähnlichkeit mit einer Szene meines
bisher unveröffentlichten, jedoch
schon im Jahre 1907 konzipierten
Dramas Ulrich von Hütten aufweist :
Herzog Utz, Ulrich von Württem-
berg, der das Weib seines Marschalls
(historisch: seines Jägermeisters Hans
von Hütten) leidenschaftlich liebt und
besitzen möchte, wird dabei betrof-
fen und belauscht, als er sich ent-
würdigte, den Marschall kniefällig
um Überlassung der verräterisch
schönen Frau zu bitten.
Diese Szene steht als „erregendes
Moment" im ersten Akte meines Hut-
tendramas. Sie ist einem anderen
Stoffe, einem gänzlich anderen Zu-
sammenhange, einer durchaus ande-
ren Problemstellung dienstbar und
stimmt selbstverständlich in keinem
Worte mit Burte überein. Wie oben
gesagt, nur die Situation ist dieselbe.
Ich fand diese wirksame Szene
dort, wo auch Burte geschöpft haben
dürfte, bei David Friedrich Strauß,
dem daran lag, den Ausgangspunkt
und die Berechtigung von Huttens
Querelen gegen Herzog Ulrich ein-
gehend klarzustellen, um das pfäffi-
sche Lügengewebe zu zerstören, als
habe der beleidigte Herzog (der den
Vetter Ulrichs von Hütten meuchelte)
seinen Jägermeister, der die Augen
zur Herzogin erhoben haben sollte,
gerichtet.
In einer Zeit, in der sowohl der
dichtende Famulus als der gewiegte
literarische Hochstapler in die Tasche
des Dichter-Mitmenschen greift und
unauffällig und frivol sich bereichert;
in einer Zeit, die aber auch ebenso
frivol sogenannte Abhängigkeitchen
feststellen möchte : lege ich, durch Er-
fahrung belehrt und gewitzigt, auf dies
Faktum der Duplizität nachdrücklich
Gewicht, um bei der Veröffentlichung
meines Huttendramas nicht in den
Verdacht zu geraten, mit Hermann
Burtes Taschenuhr die Zeit festge-
stellt zu haben.
CARL FRIEDRICH WIEGAND
Verantwortlicher Redaktor Dr. ALBERT BAUR in ZÜRICH. Telephon 7750
Redaktor in Bern Dr. HANS BLÖSCH, Bümpliz.
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