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Full text of "Neueste Geschichte des jüdischen Volkes"

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SCHRIFTEN 

herausgegeben  von  der 

Gesellscliaft  znr  YMmm  der  WisscDSctiall  des  JnJenlnnis. 


GRUNDRISS 

der 

Gesamtwissenschaft  des  Judentums. 


NEUESTE  GESCHICHTE 

DES 

JÜDISCHEN  VOLKES 


PROFESSOR  D^-  MARTIN  PHILIPPSON. 


Band  III. 


LEIPZIG. 

BUCHHANDLUNG  GUSTAV  FOCK,  G.  m.  b.  H. 

1911. 


Neueste  Geschichte  des  jüdischen  Yoli[es 


Professor  Dr.  Martin  Philippson. 


Band  III. 


LEIPZIG. 

BUCHHANDLUNG   GUSTAV   FOCK,  G.  m.  b.  H. 

1911. 


Die  Gesellschaft  zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentums 

überläßt    den    Herren    Autoren    die    Verantwortung    für    die    von 

ihnen  ausgedrückten  wissenschaftlichen  ]\Ieinuugen. 


Druck  von  August  Pries  in  Leipzig. 


Vorwort  zum  dritten  Teil. 

Die  Neueste  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  schließt  mit 
diesem  dritten  Bande  ab,  der  die  Geschichte  der  Juden  in  Ruß- 
land und  Polen  von  1830  bis  1910  umfaßt:  eine  Geschichte 
selten  unterbrochener  Leiden,  aber  zuorleich  der  heldenmütigen 
Standhaftigkeit  von  Millionen  Israeliten. 

Es  ist  die  erste  umfassende  Darstellung  dieser  Verhältnisse 
in  deutscher  Sprache,  noch  erschwert  durch  den  Umstand,  daß 
das  Material  dafür  weit  zerstreut  und  zum  Teil  in  Deutschland 
gar  nicht  zugänglich  war.  Die  Arbeit  ist  mir  tatsächlich  nur 
durch  die  Beihilfe  kundiger  Persönlichkeiten  ermöglicht  worden : 
wie  des  Herrn  Direktor  D.  Feinberg  und  ganz  besonders  der 
jungen  Historikerin,  Fräulein  Dr.  Salomea  Krynska  (jetzt  Frau 
Levite)  in  Warschau.  Ich  sage  ihnen  hiermit  auch  öffentlich 
herzlichen  Dank.  Der  verehrliche  Hilfsverein  der  deutschen 
Juden  stellte  mir  in  liebenswürdigster  Weise  seine  reichen  hand- 
schriftlichen Sammlungen  zur  neuesten  Geschichte  der  Juden 
in  Rußland  zu  Gebote.  So  hoffe  ich  ein  einigermaßen  ge- 
nügendes Material  zusammengebracht  zu  haben.  Immerhin 
muß  ich  für  die  unvermeidlichen  Mängel  eines  ersten  Versuches 
um  Nachsicht  bitten,  der  überdies  von  einem  mit  dem  Lande 
und  dessen  Einwohnern  nicht  direkt  Bekannten  unternommen 
worden  ist.  Herr  Dr.  Schermann  in  BerUn  hat  es  freund- 
hchst  übernommen,  die  Rechtschreibung  der  russischen  Namen 
zu  prüfen. 

Die  beiden  ersten  Bände  meines  Werkes  sind  im  ganzen 
von  der  Kritik  —  ich  sehe  natürlich  von  derjenigen  ab,  die 
lediglich  vom  Partei  Standpunkte  ausging  —  freundlich  ge- 
würdigt worden,  indem  sie  die  Schwierigkeiten  der  Arbeit  wohl 
in  Betracht  zog.  Aus  ihren  Bemerkungen  glaube  ich  viel  ge- 
lernt zu  haben  und  bin  ihr  für  diese  sehr  eFkenntlich.  Ich  möchte 


2114279 


VI  Vorwort  zum  dritten  Teil. 

nur  auf  ein  doppeltes  Mißverständnis  noch  einmal  aufmerk- 
sam machen,  obwohl  ich  vor  solchem  schon  im  Vorworte  zum 
ersten  Bande  gewarnt  hatte.  Erstens,  mein  Buch  sollte  ein  ent- 
sprechender Teil  des  ,,Grundrißes  der  Gesamtwissenschaft  des 
Judentums"  sein  und  deshalb  weder  den  Gegenstand  nur 
annähernd  erschöpfen  noch  das  größere  Publikum  durch  Vor- 
führung des  gesamten  Arbeitsapparates  in  zahlreichen  und  aus- 
führlichen Anmerkungen  abschrecken.  Es  genügte,  die  haupt- 
sächlichen Quellen  zur  Nachprüfung  oder  Weiterforschung 
anzugeben.  Und  zweitens:  die  Darstellung  mußte  sich  um  die 
Hauptsachen  gruppieren,  konnte  und  durfte  keine  National- 
und  noch  weniger  Lokalgeschichte  bieten.  Nur  die  leitenden 
Erscheinungen  und  Entwicklungen  konnten  geschildert  werden. 
Es  ist  also  ungerecht,  wenn  man  mich  öfters  beschuldigt  hat, 
versehentlich  einige  Länder  oder  Tatsachen  vernachlässigt  zu 
haben.  Hätte  ich  ,, vollständig"  sein  Avollen,  so  würde  ich  ein 
ganz  anderes,  vielbändiges,  für  ein  der  Zahl  nach  beschränktes 
Publikum  bestimmtes  Werk  haben  verfassen  müssen,  das 
dann  auch  der  Hunderte  oder  Tausende  von  Anmerkungen 
nicht  entbehrt  hätte:  was  alles  erheblich  leichter  gewesen 
wäre,  als  die  sorgfältige  und  planmäßige  Selbstbeschränkung, 
die  zu  üben  ich  genötigt  war.  Ich  habe  die  neueste  Ge- 
schichte des  jüdischen  Volkes  weiteren  Kreisen  verständlich 
machen  wollen  —  weiter  ging  weder  meine  Aufgabe,  wie  icli 
sie  auffaßte,  noch  mein  Ehrgeiz. 

Berlin,  im  Oktober   1911. 

Martin  Philippson. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Vorwort I 

Inhaltsverzeichnis V 

Achtes  Buch.    Zar  Nikolaus  I i 

Kapitel  Eins.    Die  Zeit  des  reinen  Zwangsystems 3 

Charakter  Nikolaus  I.,  S.  3.  —  Sein  Regierungssystem,  S.  5.  —  Feind- 
schaft gegen  die  Juden,  S.  6.  —  Grundgesetz  von  1835,  S.  8.  —  Miß- 
trauen der  Juden  gegen  die  Regierung,  S.   10. 
Kapitel  Zwei.    Staatliche  Aufklärungsversuche 13 

Beabsichtigte  Umgestaltung  des  jüdischen  Unterrichts,  S.  13.  —  Die 
Aufklärung,  S.  16.  —  Opposition  unter  den  Juden,  S.  18.  —  Feind- 
selige Maßregeln  des  Zaren,  S.  20.  —  Scheitern  der  Reform  des 
Unterrichts,  S.  26.  —  Unterdrückung  aller  nichtrussischen  Nationa- 
litäten, S.  27.  —  Aufhebung  des  Kahals.  S.  30.  —  Gegenseitige 
Feindschaft  zwischen  Regierung  und  Juden,  S.  32.  —  Kulturfeind- 
liche Elemente  unter  diesen,  S.  41. 
Kapitel  Drei.    Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  1 44 

Gegensatz  der  Polen  zu  den  Juden,  S.  44.  —  Die  polnische  Emigra- 
tion den  Juden  günstiger,  S.  47.  —  Bildungsbestrebungen,  S.  49. 
—  Schatten-  und  Lichtseiten,  S.  52. 

Neuntes  Buch.    Alexander  II.  der  Befreier 57 

Kapitel  Eins.    Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  11.  .     59 

Wesen  ixnd  Anschauungen  Alexanders  II.,  S.   59.   —  Absichten  be- 
treffs der  Juden,  S.  61.  —  Wohltätige  Reformen,  S.  63.  —  Für- 
sorge für  Begünstigung  der  jüdischen  Intelligenz,  S.  68.  —  Jüdische 
Journalistik.  S.   73.   —  Zustände  unter  den  Juden,  S.   74. 
Kapitel  Zwei.    Alexander  11.  und  die  Juden  Polens 76 

Gunst  für  das  Polentum,  S.  76.  —  Wielopolski  und  die  Juden,  S.  79.  — 
Die  Chassidim,  S.  81.  —  Die  ,, Fortgeschrittenen",  S.  73.  —  Ver- 
brüderung zwischen  diesen  und  den  Polen,  S.  85.  —  Aufstand  von 
1863,  S.  86.  —  Seine  Folgen,  S.  88.  —  Wiederaufleben  des  Anti- 
semitismus, S.  90. 


VIII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 
Kapitel   Drei.    Das   Ende  der   Regierung   Alexanders   III.  und  die  Juden 

in   Rußland      94 

Die  Altrussen  Gegner  der  Juden,  S.  94.  —  Juden  und  Nihilisten,  S.  99. 

—  Anwachsen  des  Antisemitismus,  S.  100.  —  Reaktionäre  Wen- 
dung Alexanders  II.,  S.  102.  —  Gegen  die  Juden,  S.  103.  —  Zar 
abermals  liberaler,  S.  106.  —  Seine  Ermordung,  S.  108.  —  Unfertige 
Zustände  unter  den  Juden,  S.  108. 

Buch  Zehn.    Zar  Alexander  III 113 

Kapitel  Eins.    Die  ersten  Pogrome 115 

Persönlichkeit  Alexanders  III.  und  sein  Vertrauter  Pobjedonoszew, 
S.  115.  —  Unterdrückung  der  nichtrussischen  Nationalitäten, 
S.  117.  —  Ignatiew  und  die  Pogrome  von  1881,  S.  119.  —  Anti- 
semitische Unruhen  in  Warschau,  S.  128.  —  Pogrome  von  1882, 
S.  129  —  Ignatiew  und  seine  Maigesetze,  S.  130.  —  Entlassung 
Ignatiews,  Ersetzung  durch  Dimitri  Tolstoi,  S.  139. 
Kapitel    Zwei.    Stete    Bedrängnisse 143 

Neue  Verfolgung  der  Nichtrussen,  S.  143.  —  Abermalige  Verfolgungen 
gegen  die  Juden,  S.  140.  —  Wiederholte  Judenhetzen,  S.  149.  — 
Aushungerungssystem,   S.    151.   —  Auswanderung,   S.    157. 
Kapitel  Drei.    Innere  Zustände  der  russischen  Juden 160 

Kampf  der  Regierung  gegen  die  jüdische  Intelligenz,  S.  160.  —  Stand 
der  Bildung  unter  den  Juden,  S.  162.  —  Sprachen  Verhältnisse, 
S.  166.  —  Zudrang  zu  den  Städten,  S.  167. 

Buch  Elf.    Revolution  und  Reaktion.    Zar  Nikolaus  II 169 

Kapitel  Eins.    Friedliche  Zeiten 171 

Nikolaus  II.  den  Juden  zunächst  wohlwollend,  S.  171.  —  Allmähliches 
Überwiegen  des  Antisemitismus  im  Beamtentum,  S.  175. 
Kapitel  Zwei.    Revolution  und   Krieg 178 

Widersprüche  der  äußeren  und  inneren  Politik,  S.  178.  —  Juden  als 
Revolutionäre  behandelt,  S.  180.  — Pogrom  von  Kischinew,  S.  182. 

—  Von  Homel,  S.  185.  —  Der  Krieg  mit  Japan,  S.  188.  —  Revolu- 
tion, S.  188.  —  Verfassung  vom  17.  Okt.  1905,  S.  191.  —  Die  Juden 
im  Kriege,  S.  192.  —  Begeisterte  Freiheitsfreunde,  S.  196.  —  Der 
sozialistische  „Bund",  S.  197.  —  Die  große  Masse  der  Juden  apa- 
thisch, S.  201. 

Kapitel  Drei.    Die  Oktoberpogrome 203 

Das  reaktionäre  Beamtentum  imd  die  Juden  als  Prügelknaben,  S.  203. 

—  Vorspiele  zu  den  Pogromen,  S.  205.  —  Pogrome  in  Kischinew, 
S.  207;  sonst  in  Bessarabien,  S.  207;  in  Odessa,  S.  208;  in  dessen 
Bezirk,  S.  213;  in  der  Krim,  S.  214;  in  Jekaterinoslaw,  S.  214;  in 
PoltaAva,  S.216;  in  Tschernigow,  S.216;  in  Kiew,  S.219;  inPodolien, 
S.  222;  in  Wolhynien,  S.  223;  in  Rostow  usw.  S.  224.  —  Ergebnisse, 
S.  225.  —  Die  Urheber,  S.  226.  —  Pogromorganisation,  S.  230. 


Inhaltsverzeichnis.  IX 

Seite 
Kapitel   Vier.     Die   Reaktion   und  die  Juden 23G 

Das  russische  Volk  und  die  Reaktion,  S.  236.  —  Niederlage  der  Revolu- 
tion, S.  240.  —  Kabinette  und  Duma,  S.  241.  —  Verband  echt 
russischer  Leute,  S.  242.  —  Verfolgung  aUer  freiheitlich  Gesinnten, 
S.  245.  —  Verfolgung  der  Juden,  S.  248.  —  Mütärpogrom  in  Homel, 
S.  250.  —  Mlitärpogrom  in  Bialystok,  S.  255,  und  in  Siedice,  S.  257. 
—  Gegnerschaft  der  Regierung  wider  die  Juden,  S.  258.  —  An- 
feindung der  jüdischen  Intelligenz,  S.  262.  —  Stimmung  unter  den 
Juden,  S.  265.  —  Aufsch\vung  unter  den  Juden  und  dessen  Gegner, 
S.  267.  —  Karäer,  S.  269.  —  Rabbinerkommission,  S.  270.  —  Armut 
der  Juden,  S.  272.  —  Ackerbau,  S.  275.  —  Handwerk,  S.  276.  — 
Arbeiter,  S.  277.  —  Die  Jewish  Colonization  Association,  S.  278.  — 
Volksschulen  und  Darlehnskassen,  S.  279. 
Kapitel  Fünf.  Die  Juden  Polens  unter  Alexander  III,  und  Nikolaus  II.  .  281 
Ökonomischer  Gegensatz  zwischen  Polen  und  Juden,  S.  281.  —  Poli- 
tischer Gegensatz,  S.  283.  —  Handel  und  Handwerk,  S.  286.  — 
Stimmung  der  Juden,  S.  287.  —  Einwanderung  russischer  Juden. 
S.  289. 

Anhang.   Der  jüdische  Arbeiterbund  in  Rußland  und  Polen.  ...  291 

Anmerkungen 3lo 

Alphabetisches  Personen  Verzeichnis  für  alle  drei  Bände 315 


Achtes  Buch. 

Zar  Nikolaus  I. 


Kapitel  Eins. 

Die  Zeit  des  reinen  Zwangsystems. 

Ljie  dreißigjährige  Regierungszeit  des  Zaren  Nikolaus  I. 
macht  eine  der  interessantesten  Epochen  im  Leben  der  russischen 
Juden  aus.  So  widerspruchsvoll,  so  grausam  auch  die  Versuche, 
die  der  Kaiser  zur  Lösung  der  jüdischen  Frage  anstellte,  zumeist 
ausfielen,  so  schmerzlich  sie  in  Existenz  und  Wesen  der  russischen 
Judenlieit  eingriffen  — sie  trugen  doch  dazu  bei,  diese  aus  ihrer 
Dumpfheit  und  Bewegungslosigkeit,  aus  ihrer  physischen  Schlaff- 
heit und  geistigen  Lethargie  aufzurütteln. 

Nikolaus,  der  zweite  Bruder  seines  Vorgängers  Alexander  L, 
hatte  eine  sehr  einseitige  Erziehung  empfangen.  Von  der 
geistigen  Bildung,  die  er  erhalten,  war  am  wirksamsten  die  ge- 
schichtliche, durch  den  französischen  Emigranten  Dupuguet, 
der  ihm  gründlichen  Haß  gegen  die  französische  und  jedwede 
Revolution  beibrachte.  In  dem  Liberalismus  aber  sah  Nikolaus, 
wie  sein  Altersgenosse,  der  spätere  König  und  Kaiser  Wilhelm  I., 
die  Vorfrucht  und  nur  eine  besondere  Spielart  der  Revolution 
und  haßte  ihn  deshalb  ingrimmig.  Sein  Jugendleben  bestärkte 
ihn  in  dieser  Richtung.  Alexander  I.  hatte  ihn  eifersüchtig  von 
Politik  und  Staatsgeschäften  fern  gehalten.  So  wurde  Nikolaus 
mit  Leib  und  Seele  Soldat.  Er  sagte  später  zu  einem  preußischen 
Hof  manne:  ,,Ich  betrachte  das  ganze  menschliche  Leben  nur 
wie  einen  Dienst.  Im  Soldatenstand  ist  Ordnung,  strenge,  rück- 
sichtslose Gesetzlichkeit,  kein  Besser  wissen  und  Widersprechen, 
hier  fügt  sich  alles  aneinander  und  ineinander.  Hier  allein  sind 
keine  Phrasen,  ist  also  auch  keine  Lüge,  die  sonst  überall  ist." 
Man  sieht,  M''orin  die  staatlichen  Ideale  dieser  harten  und  be- 
schränkten,  aber  starken  und  festen  Natur  bestanden  haben : 

1* 


4  Die  Zeit   des  reinen  Zwangsystems. 

Einförmigkeit,  unbedingte  Unterordnung  jedes  einzelnen  unter 
die  absolute  Macht,  Ertötung  der  Individualität  und  Spontanei- 
tät. Diese  Stimmungen  ^\'urden  gekräftigt  durch  die  abschrecken- 
den Eindrücke,  die  einerseits  die  durch  die  schwankende  Un- 
sicherheit seines  Vorgängers  herbeigeführte  Zerrüttung  des 
Reiches,  anderseits  der  konstitutionell  gerichtete  Dekabristen- 
aufstand  in  den  ersten  Tagen  seiner  Regierung  auf  ihn  hervor- 
gebracht hatten.  Natürliche  Anlage,  Erziehung  und  Erlebnisse 
führten  ihn  zur  Aufrichtung  eines  durchaus  selbstherrlichen 
Regimentes,  das  sich  ausschließlich  auf  Heer  und  Beamten- 
schaft stützte,  dem  Untertan  nur  die  Betätigung  unbedingten 
Gehorsams  übrig  ließ,  überall  tote  Gleichmäßigkeit  anstrebte. 
Seiner  Vorliebe  für  den  Soldatenstand  entsprechend,  stellte  er 
sogar  die  Zivilverwaltung  unter  militärische  Aufsicht.  Er  be- 
trachtete sich  als  Hort  der  Legitimität  gegen  die  ,, Revolution", 
wozu  er  jede  Äußerung  des  modernen  Geistes  auf  politischem, 
sozialem  und  religiösem  Gebiete  rechnete,  und  schloß  deshalb 
Rußland  gegen  den  Westen  ab.  Um  das  Eindringen  ,, revolu- 
tionärer" Ideen  zu  verhindern,  beschränkte  er  den  Verkehr  mit 
dem  Auslande  tunlichst,  gestattete  Reisen  dorthin  nur  gegen 
hohe  Paßgebühren,  unterwarf  Bücher  und  Zeitschriften  einer 
willkürlichen  Zensur. 

Nikolaus  hegte  instinktiven  Verdacht  und  Widerwillen 
gegen  alle  höhere  Bildung,  die  schon  an  sich  ihm  undisziplinier- 
bar,  revolutionär,  erschien.  So  hob  er  die  Universitäten  in 
Warschau  und  Wilna  auf,  setzte  über  die  noch  bleibenden 
strenge  Aufsicht,  beschränkte  die  Zahl  der  Studierenden.  Deut- 
licher konnte  die  Feindschaft  gegen  die  Intellektualität  sich 
nicht  aussprechen !  Um  so  größer  war  Nikolaus'  Ergebenlieit 
für  die  griechisch-orthodoxe  Kirche,  in  der  er  zugleich  die  cha- 
rakteristische Offenbarung  des  wahren  Russentums  erblickte. 
Wie  einst  Ludwig  XIV.  von  Frankreich  erschien  es  ihm  als  eine 
unerträgliche  Unordnung,  als  eine  strafbare  Auflehnung  gegen 
den  Herrscher,  daß  in  seinem  Reiche  sich  Millionen  erkühnten, 
einen  anderen  Glauben  zu  bekennen,  als  der  Monarch.  Sein 
Wahrspruch  lautete :  Prawosläwie,  Samodershawie  i  Narodnost : 
,, Orthodoxer  Glaube,  Selbstherrschaft,  Volkstum".  Wie  er 
die    verschiedenen    Nationalitäten    des    Reiches   gewaltsam    zu 


Die  Zeit  des  reinen  Zwangsystems.  5 

russifizieren  suchte,  so  strebte  er  auch  mit  systematischem 
Zwange  die  Bekehrung  der  Protestanten,  Katholiken  und  Juden 
zur  russischen  Glaubensgemeinschaft  an.  Er  nötigte  im  Jahre 
1840  die  griechisch-unierte  Kirche  in  Litauen  zur  Vereinigung 
mit  der  orthodoxen. 

Auch  im  Auslande,  zumal  im  Orient,  betrachtete  Nikolaus 
sich  als  Beschützer  der  gesamten  griechischen  Kirche.  Von 
übertriebenem  BeA\'ußtsein  seiner  persönlichen  Herrschaft  und 
der  Macht  des  russischen  Reiches  erfüllt,  eine  Despotennatur 
in  vollstem  Sinne,  hielt  er  das  absolute  Kaisertum  für  fähig, 
das  russische  Volk  zur  höchsten  Entfaltung  seiner  Kräfte  zu 
führen.  Nach  innen  war  er  redlich  bemüht,  der  Verlotterung 
der  Verwaltung  abzuhelfen.  Aber  das  konnte  ihm  trotz  allem 
Fleißes  und  gelegentlicher  Gewaltmaßregeln  nicht  gelingen. 
Es  hemmten  ihn  dabei  die  klaffenden  Lücken  seiner  Bildung 
und  die  übermäßige  Wichtigkeit,  die  er  den  äußerlichen  Formen 
beilegte:  in  Gleichartigkeit,  in  Uniformität  sah  er  allein  das  Heil. 
Die  höheren  Bildungsanstalten  und  damit  das  Beamtentum 
sollten  dem  Adel  vorbehalten  sein,  Kleinbürger  und  Bauern 
im  Gewerbe  ihrer  Eltern  verbleiben.  So  herrschten  überall 
Zwang  und  Formelwesen.  Das  Beamtentum,  unterwürfig  nach 
oben,  war  hochfahrend,  und  gewalttätig  nach  unten,  dabei 
träge,  unredlich  und  bestechlich.  Nichts  wollte  in  diesem  Staate 
der  rohen  Unfähigkeit  gedeihen.  Die  Finanzen  blieben  in 
schlechtem  Stande;  Landwirtschaft,  Industrie  und  Handel  lagen 
gleichmäßig  darnieder.  Es  fehlte  am  Wollen  und  Verstehen, 
um  den  Übeln  abzuhelfen. 

Zwang  war  allerorten  die  Losung:  am  10.  Juni  1826  war  das 
Zensuredikt  ergangen,  das  jede  Regung  eines  freien  Geistes 
zu  unterdrücken  bestimmt  war.  Nikolaus  hatte  die  berüchtigte 
dritte  Abteilung  der  kaiserlichen  Kanzlei  geschaffen,  die  hohe 
Geheimpolizei,  die  sich  fast  ausschließlich  auf  politischem  Ge- 
biete betätigte.  Seitdem  herrschte  in  ganz  Rußland  eine  uner- 
trägliche Spionage. 

Die  leichten  Siege  über  das  ganz  zerrüttete  Türkenreich 
in  den  Jahren  1828  und  1829  erhöhten  noch  das  Selbstgefühl 
des  Zaren,  bestärkten  ihn  in  dem  Vertrauen  auf  sein  despotisches 
System    und    ließen    die    herrischen    Anlagen    in    ihm    immer 


6  Die  Zeit  des   reinen  Zwangsystems. 

mehr  in  den  Vordergrund  treten.  Seitdem  behandelte  er  seine 
Minister  wie  Bediente,  entschied  er  die  wichtigsten  Angelegen- 
heiten ohne  sie  zu  befragen,  verhängte  er  selbständig  Strafen, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Gerichte  und  sonstigen  kompetenten 
Behörden. 

Um  sein  Vorgehen  gegen  die  Juden  im  besonderen  zu  ver- 
stehen, muß  man  betrachten,  wie  er  auch  gegen  die  anderen 
nichtrussischen  Nationalitäten  und  Religionsgemeinschaften 
verfuhr.  Zumal  die  lutherischen  Deutschen  in  den  Ostsee- 
provinzen hatten  seine  offene  Feindschaft  zu  erfahren.  Die 
deutsche  Universität  Dorpat  wurde  nach  russischem  Muster 
streng  diszipliniert,  ihr  Sparfonds  von  400  000  Rubel  zugunsten 
des  allgemeinen  russischen  Unterrichtsfonds  rechtswidrig  ein- 
gezogen —  ganz  wie  es  mit  der  Koscherfleischsteuer  der  Juden 
geschehen  ist.  Binnen  dreier  Jahre  sollten  alle  in  den  baltischen 
Provinzen  geborenen  Dorpater  Professoren  in  russischer  Sprache 
vortragen;  ja  1836  ward  verordnet,  daß  nur  der  russischen 
Sprache  Mächtige  immatrikuliert  w^erden  dürften;  damit  waren 
alle  ausländischen  Studenten,  die  gefürchteten  Träger  westlicher 
Anschauungen  und  Ideen,  ausgeschlossen.  Seit  dem  Jahre 
1845  begann  der  Generalgouverneur  Eugen  Golowin  einen 
brutalen  Kampf  gegen  das  Deutschtum  in  den  Ostseeprovinzen. 
Allerdings  hatte  ihm  eine  kaiserliche  Instruktion  die  Aufhebung 
ihrer  staatsrechtlichen  Privilegien,  die  Unterstützung  der  let- 
tischen Bauern  gegen  die  deutschen  Gutsbesitzer,  Förderung 
der  griechischen  Kirche  gegen  die  protestantische  vorgeschrieben. 
Dem  handelte  Golowin  nach.  Unter  trügerischen  Verheißungen 
materiellen  Nutzens  wurde  der  Massenübertritt  der  dortigen 
Letten  und  Esten  zum  ,, Glauben  des  Kaisers"  betrieben.  Man 
gründete  in  den  baltischen  Provinzen  zu  den  schon  reichlich 
vorhandenen  griechisch-katholischen  Kirchen  noch  fünfund- 
zwanzig neue  und  besetzte  sie  mit  Geistlichen.  Im  Jahre  1850 
wurde  außer  der  medizirüschen  auch  die  evangelisch-theolo- 
gische Fakultät  in  Dorpat  aufgehoben;  und  in  der  juristischen 
und  philosophischen  sollten  zusammen  nur  300  Studenten 
bleiben.  Der  Zar  sagte,  die  Söhne  des  deutschen  Adels  und 
Beamtentums  täten  besser  daran,  in  das  russische  Heer  ein- 
zutreten. 


Die  Zeit  des  reinen  Zwangsystems.  7 

Kann  es  da  wundernehmen,  wenn  Nikolaus  I.  ein  ent- 
schiedener Feind  auch  des  Judentums  und  des  eigenartigen 
jüdischen  Wesens  war  ?  um  so  mehr,  als  hier  noch  das  Vorurteil 
hinzukam,  die  Juden  seien  lediglich  Aussauger,  Schädlinge, 
Schmarotzer  am  Baume  des  russischen  Volkes.  Mit  Gewalt 
sollten  sie  zu  Russentum  und  orthodoxer  Kirche  hinübergeführt 
oder  aber  vernichtet  werden.  Gerade  weil  er  eine  hohe  Meinung 
von  der  Bedeutung  und  der  eventuellen  Nutzbarkeit  des  jüdi- 
schen Intellektes  besaß,  wollte  er  die  Juden  durchaus  in  sein 
System  hineinz^^•ingen.  Er  liebte  es,  sich  persönlich  mit  den 
Angelegenheiten  der  Juden  zu  beschäftigen  —  nicht  zu  ihrem 
Heile. 

Wir  haben  bereits  die  ersten  gegen  die  Juden  gerichteten 
Maßregeln  Nikolaus  I.  geschildert^):  die  Förderung  der  Taufe 
und  die  mit  besonderer,  systematischer  Grausamkeit  aus- 
geführte Älilitärpflichtigkeit  der  Juden,  die  sogar  auf  deren 
Kinder  erstreckt  wurde,  seit  dem  Jahre  1827.  Kein  Wunder, 
daß  die  Juden  von  tiefstem  Mißtrauen  gegen  die  Absichten  dei 
Regierung,  selbst  solche,  die  an  sich  ihnen  nützlich  waren,  erfüllt 
wurden.  Sie  sahen  in  allem  nur  das  Bestreben,  sie  ihrer  Reli- 
gion abwendig  zu  machen,  sie  erblickten  überall  nur  Übelwollen 
und  Feindschaft.  Daß  der  Zar  und  seine  höchsten  Beamten 
sich  öffentlich  zu  der  Ansicht  von  der  absoluten  Schädlichkeit 
des  —  ihnen  doch  gänzlich  unzugänglichen  —  Talmuds  be- 
kannten, erhöhte  die  Mißstimmung  der  Juden  gegen  die  Re- 
gierung. So  schloßen  sie  sich  nur  desto  ängstlicher,  desto  be- 
harrlicher in  ihrer  Eigenart  und  Bildungsfeindschaft  ab.  ,,So 
lange",  sprachen  sich  die  altorthodoxen  Juden  in  Älinsk  aus, 
,,den  Juden  nicht  die  bürgerlichen  Rechte  gewährt  werden,  so 
lange  bedeutet  für  sie  die  Bildung  nur  ein  Unglück.  Ungebildet 
und  unmssend,  verschmäht  der  Jude  nicht  das  erniedrigende 
Brot  eines  kleinen  Maklers  und  Wucherers  und,  indem  er  seinen 
Trost  und  Freude  in  der  Religion  sucht  und  seine  ungezählte 
Familie  der  göttlichen  Vorsehung  anvertraut,  begnügt  er  sich 
mit  seiner  ärmlichen  Habe;  aber  gebildet  und  aufgeklärt  in 
neuem    Geiste,   von   der   Beteiligung   an   bürgerlich-politischen 


Bd.  I  S.  136ff. 


8  Die  Zeit  des  reinen  Zwangsystems. 

Rechten  ausgeschlossen,  verläßt  der  Jude,  im  Gefühl  der 
bitteren  Unzufriedenheit,  unvermeidlich  seinen  Glauben  —  und 
ein  anständiger  jüdischer  Vater  Avird  es  wohl  in  keinem  Falle 
zulassen  wollen,  daß  man  ihm  seinen  Sohn  in  dieser  Richtung 
bearbeitet." 

So  haben  die  Maßregeln  Nikolaus'  I.  notwendigerweise 
gerade  zu  dem  Gegenteil  der  Assimilation  geführt,  die  er  be- 
absichtigte: zu  immer  stärkerer  Entfremdung  der  Juden,  zu 
deren  immer  größerer  Vertiefung  in  ihre  überlieferte  Art.  zu 
immer  schärferer  Scheidung  zwischen  ihnen  und  der  über- 
wiegenden  Mehrheit   der  sonstigen  Bevölkerung. 

Maßgebend  für  die  Juden  ^\Tirde  das  ,, Grundgesetz  für  die 
Hebräer  Rußlands"  vom  13.  Mai  1835.  Es  beschränkte  deren 
Ansiedlungsrayon  —  abgesehen  von  Polen  —  auf  die  litauischen 
Provinzen  Bialystok,  Grodno,  Wilna,  Wolhynien,  Podolien, 
Älinsk,  das  Gouvernement  Kiew  mit  Ausnahme  seiner  ,, heiligen" 
Hauptstadt;  auf  die  südrussischen  Provinzen  Bessarabien, 
Cherson  —  mit  Ausnahme  der  Stadt  Nikolajew  —  und  Taurien, 
mit  Ausnahme  der  Festung  Sebastopol.  In  den  Gouvernements 
Mohilew  und  Witebsk  durften  sie  nur  in  den  Städten  leben, 
in  den  Gouvernements  Tschernigow  und  Poltawa  mit  Ausnahme 
der  Krön-  und  Kosakendörfer;  in  den  baltischen  Provinzen 
lediglich  die  dort  schon  eingeschriebenen  Hebräer.  Ganz  jNIittel-, 
Nord-  und  Ostrußland  waren  ihnen  nur  zu  vorübergehendem 
Aufenthalt  mit  besonderer  Erlaubnis  gestattet.  Sie  dürfen 
Immobilien  mit  Leibeigenen  nicht  erwerben,  da  sie  überhaupt 
keine  christlichen  Dienstboten  halten  sollen.  Juden  auf  dem 
flachen  Lande  dürfen  dort  keine  Schenken  besitzen.  In  den 
Militäransiedelungen  wurden  gediente  jüdische  Soldaten  nur 
dann  zum  Wohnsitze  zugelassen,  wenn  ihre  sämthchen  minder- 
jährigen Söhne  als  Kantonisten  einberufen ,  das  heißt  dem 
Judentume  entzogen  würden.  Kaufleute  erster  und  zweiter 
Gilde,  also  die  reichsten,  köimen  in  Geschäften  nach  Moskau 
und  Riga  frei  zu  den  großen  Jahrmärkten,  wie  Nishnij- 
Nowgorod,  reisen,  dürfen  dort  aber  nur  durch  christliche  Be- 
vollmächtigte Verkäufe  abschließen. 

So  waren  die  Juden  in  einen  verhältnismäßig  engen  Kreis 
nach   wie    vor    zusammengepfercht.     Die    russische    Regierung 


Die  Zeit  des   reinen  Zwangsystems.  9 

wollte  nicht  verstehen,  daß  sie  durch  diese  Maßregel  die  Juden 
erst  recht  zu  einer  kompakten  Masse  vereinte,  widerstands- 
fähiger machte,  den  einzelnen  der  Aufsicht  durch  die  anderen 
unterwarf  und  somit  die  von  ihr  angestrebte  Assimilierung  be- 
deutend erschwerte.  Die  Aufrechterhaltung  des  Ansiedlungs- 
rayons  ist  somit  ein  materielles  und  geistiges  Unglück  für  die 
Juden,  aber  auch  für  die  übrigen  Russen,  mit  denen  die  Kräfte 
der  Juden  nicht  in  Zusammenhang  sondern  in  Gegensatz  ge- 
bracht wurden.  Der  Zar  wie  die  Mehrheit  des  Reichsrates 
forderten  diese  verderbhche  Maßregel  ,, wegen  der  Abneigung 
des  christhchen  Volkes  gegen  die  Andersgläubigen"  —  eine 
Abneigung,  die  von  oben  her  künsthch  hervorgerufen  und 
genährt  wurde  —  und  weil  die  Juden  infolge  ihrer  Be- 
dürfnislosigkeit den  christhchen  Kaufleuten  ökonomisch  über- 
legen seien.  Man  machte  also,  und  das  findet  bis  auf  den 
heutigen  Tag  statt,  den  Juden  ihre  Tugenden  zum  Vorwurf! 
In  Betreff  der  inneren  Organisation  wurden  in  den  Dörfern 
die  jüdischen  Gemeinden  von  den  christlichen  getrennt,  wahr- 
scheinlich um  die  letzteren  vor  der  ,, Ausbeutung"  durch  jene 
zu  schützen.  In  den  städtischen  Gemeinden,  die  ohne  die  zahl- 
reichen, zum  Teil  sogar  die  Mehrheit  der  Bürger  bildenden 
Juden  der  finanziellen  Kraft  entbehrt  hätten,  sollen  die  Juden 
Mitglieder  sein,  wählen  aber  zur  Verwaltung  ihrer  besonderen 
Angelegenheiten  und  Abgaben  je  drei  bis  fünf  Bevollmächtigte, 
den  Kahal,  der  mit  unumschränkten  Gewalten  ausgestattet  ist. 
Er  sollte  vorzugsweise  zur  Eintreibung  der  stets  sich  steigernden 
Steuern  auf  die  Juden,  zur  Vermittlung  bei  der  Volkszählung  der 
Hebräer  und  besonders  zur  Regelung  der  Rekrutenaushebung 
unter  ihnen  dienen.  Denn  in  allen  diesen  Beziehungen  galt  die 
jüdische  Gemeinde  als  eine  kompakte  Einheit:  die  staatlichen 
Leistungen  waren  nicht  den  einzelnen  Juden,  sondern  den 
jüdischen  Gemeinden  auferlegt,  die  solidarisch  für  die  Ansprüche 
der  Regierung  haftbar  waren.  Dagegen  ließ  man  die  früher 
bestehenden  ,,Gouvernementskahals"  zerfallen,  damit  die  Juden 
keinerlei  gemeinsames  Organ  zur  Geltendmachung  ihrer  An- 
sprüche dem  Staate  gegenüber  besäßen.  Die  Errichtung  von 
Bethäusern  hing  von  der  Genehmigung  der  Regierung  ab;  sie 
mußten  in  einer  gewissen  Entfernung  von  den  Kirchen  liegen. 


10  Die  Zeit   des  i'einen  Zwangsystems. 

Es  schien  die  Juden  zu  höherer  Bildung  anregen  zu  sollen, 
wenn  das  Grundgesetz  weiter  verfügte,  daß  ihnen  alle  Unter- 
richtsanstalten, mit  Einschluß  der  Universitäten,  geöffnet  sein 
sollten.  Hebräer,  die  akademische  Grade  erworben  haben, 
dürfen,  allerdings  nur  mit  Genehmigung  des  Kaisers,  auch  in 
den  Lehr-  und  Verwaltungsdienst  berufen  werden,  wodurch 
sich  ihnen  der  Aufenthalt  in  ganz  Rußland  eröffnet. 

Dieses  Gesetz  brachte  den  Juden  manches  Gute:  die  Zu- 
lassung zu  höheren  Schulen  und  dem  Staatsdienste;  ferner  den 
Schutz  vor  Zwangsbekehrung,  an  der  sie  bisher  schwer  zu  leiden 
gehabt  hatten,  und  die  zugleich  ihre  heiligsten  Gefühle  ver- 
letzte. Allerdings,  der  ,,freiTvillige"  Übertritt  zur  russischen 
Kirche  ^^alrde  noch  wie  frülier  durch  verschiedene  Vorteile  und 
Vorrechte  nach  Kräften  gefördert.  Und  anderseits  verkürzte 
das  Grundgesetz  den  Ansiedlungsrayon  der  Juden  um  zwei 
Gouvernements,  in  denen  sie  bisher  hatten  wohnen  dürfen: 
Astrachan  und  Kaukasus.  Es  schrieb  ferner  vor,  daß  jüdischen 
Kindern  ausschließlich  in  den  Wohnbezirken  ihrer  Eltern,  also 
überhaupt  nur  innerhalb  des  Ansiedlungsrayons,  Aufnahme  in 
die  mittleren  und  höheren  Schulen  gewährt  werden  solle.  Um 
die  Kosten  des  Unterrichts  der  jüdischen  Kinder  zu  bestreiten, 
wurde  die  Steuer  auf  koscheres  Fleisch  reorganisiert,  das  heißt 
erhöht  (1839).  Sie  wurde  nicht  nur  auf  den  Fleischverbrauch 
sondern  auch  auf  den  Mietzins  von  Häusern  und  Schänken 
sowie  auf  die  rituellen  Bäder  angelegt  und  der  Aufsicht  und 
Willkür  der  nichtjüdi sehen  Stadt dumas  überlesen.  Das  war 
freilich  eine  sonderbare  Art,  den  ,, Hebräern"  die  Unterrichts- 
freiheit schmackhaft  zu  machen ! 

Die  Juden  betrachteten  allem  dem  zufolge  das  neue  Grcsetz 
nur  mit  Mißtrauen.  Sie  sahen  in  ihm  lediglich  die  neuen  er- 
höhten Beschränkungen  und  Abgaben  sowie  die  Verwandlung 
der  Gemeindevertretung  in  ein  Organ  zur  Vollstreckung  der 
gegen  die  Juden  gerichteten  Strafexekutionen  und  wollten  von 
den  darin  enthaltenen  Fortschritten  nichts  wissen,  denen  sie 
keine  ehrhche  Absicht  zuschrieben.  In  der  Tat,  die  ,, Hebräer" 
blieben  der  rechtlose  Spielball  der  Launen  des  Zaren.  Entgegen 
dem  soeben  erlassenen  Grundgesetze  schloß  eine  kaiserliche 
Verordnung  vom  21.  Juni  1838  die  jüdischen  Ärzte  vom  Staats- 


Die   Zeit  des  reinen  Zwangsystems.  1 1 

dienste  aus.  Wie  konnte  man  da  an  die  Wahrheit  der  den 
IsraeHten  von  der  Regierung  getanenen  Zusicherungen  überhaupt 
noch  glauben?  Ein  Ukas  vom  27.  November  1836  unter\\arf 
die  hebräischen  Bücher  einer  doppelten  Zensur  durch  Rabbiner 
und  kaiserUche  Beamte,  befahl,  alle  nicht  amtlich  abgestempel- 
ten hebräischen  Druckwerke  der  Ortsbehörde  abzuliefern,  und 
hob  zu  leichterer  Beaufsichtigung  kurzer  Hand  und  ohne  jede 
Entschädigung  alle  hebräischen  Druckereien  mit  Ausnahme 
von  je  einer  in  Kiew  und  Wilna  auf.  Konnte  man  die  rechts- 
verachtende Willkür,  dem  einzelnen  wie  der  Gesamtheit  gegen- 
über, und  die  Feindschaft  gegen  das  Wesen  des  Judentums 
deutlicher  bekunden  ? 

In  der  Besorgnis,  daß  man  ihre  Kinder  durch  den  Unter- 
richt nur  zum  Abfalle  von  der  väterlichen  Religion  verleiten 
wolle,  machten  die  jüdischen  Eltern  von  dem  ihnen  1835  ge- 
gebenen Rechte,  jene  in  die  öffentlichen  Unterrichtsanstalten 
senden  zu  dürfen,  nur  in  geringem  Umfange  Gebrauch.  Noch 
im  Jahre  1840  finden  wir  unter  den  2866  russischen  Studenten 
nicht  mehr  als  15  Juden,  unter  den  80  017  Schülern  der  Elemen- 
tar- und  IMittelschulen  48  jüdische !  Daß  an  diesen  traurigen 
Tatsachen  nicht  Mangel  an  Bildungstrieb  unter  den  Israeliten, 
sondern  nur  Mißtrauen  die  Schuld  trug,  \\drd  durch  den  Ujii- 
stand  erwiesen,  daß  zu  gleicher  Zeit  gute,  von  tüchtigen,  be- 
sonders deutschen  Glaubensgenossen  geleitete  Privatlehran- 
stalten von  russischen  Juden  zahlreich  besucht  waren:  so  die 
in  Odessa  unter  dem  bekannten  Direktor  Stern,  die  in  Kisohinew 
unter  Dr.  Goldenthal  und  dann  Eichenbaum,  die  in  Riga  unter 
Dr.  Lilienthal,  dem  es  beschieden  war,  bald  eine  bedeutende 
Rolle  in  den  Aufklärungsbestrebungen  für  die  Juden  zu  spielen. 

Einstweilen  schien  diese  Aufklärung  nicht  einen  russischen, 
sondern  einen  deutschen  Charakter  anzunehmen.  Die  An- 
regungen dazu  kamen  von  dem  benachbarten  Deutschland 
herüber,  wo  die  Israeliten  sich  immer  mehr  mit  modernem 
Geiste  erfüllten  und  den  Ausgleich  zwischen  diesem  und  den 
Ideen  und  Lehren  ihrer  väterlichen  Religion  durchführten. 
Lilienthal  selber  war  auf  Anregung  Ludwig  Philippsons  von  der 
israelitischen  Gemeinde  in  Riga  als  Prediger  und  Schuldirektor 
berufen  worden.    In  Warschau  hielt  zum  ersten  Male  Dr.  Gold- 


12  Die   Zeit   des  reinen  Zwangsystems. 

Schmidt,  ein  Preuße,  am  16.  April  1838  eine  deutsche  Predigt, 
und  er  führte  dort  im  selben  Monate,  gleichfalls  zum  ersten 
Male,  eine  Konfirmation  in  der  gleichen  Sprache  durch. 

Eine  solche  Wendung  war  der  auf  die  Russifizierung  der 
Juden  bedachten  Regierung  selbstverständlich  sehr  unan- 
genehm. Sie  mußte  erkennen,  daß  ihr  Versuch,  die  Hebräer 
mit  Gewalt  zu  Russen  zu  machen,  an  der  Festigkeit  und  der 
religiösen  Treue  dieser  Gemeinschaft  kläglich  gescheitert  war. 
Der  Zar  selber  mußte  sich  von  diesem  Mißlingen  überzeugen, 
und  er  beschloß,  es  mit  der  Regenerierung  der  Juden  von  innen 
heraus,  auf  jüdischem  Boden  und  mit  Beihilfe  der  Juden  selbst 
zu  versuchen,  Nikolaus  I.  sprach  sich  plötzlich  in  ganz  juden- 
freundlichem Sinne  aus:  ,,Ich  will,  daß  in  meinem  Reiche  die 
Freiheit  der  verschiedenen  Konfessionen  in  ihren  besonderen 
Gebräuchen  geachtet  werde,  und  erkläre  hiermit,  daß  ich  alle 
meine  Untertanen,  welcher  Religion  sie  auch  angehören,  gleich 
schätze."  Eine  neue  bessere  Ära  schien  für  die  geplagten  rus- 
sischen Juden  anzubrechen.  In  Wahrheit  hatten  die  Gegen- 
sätze sich  allzu  sehr  verschärft,  als  daß  ein  Ausgleich  noch 
möglich  gewesen  wäre. 


Kapitel  Zwei. 

Staatliche  Aufklärungsversuche. 


INikolaus  I.  ließ  nicht  leicht  von  den  einmal  gefaßten  Be- 
schlüssen ab.  Da  die  direkte  Assimilierung  der  Juden  mit  dem 
Russentum  nicht  gelungen  war,  versuchte  er  es  mit  deren 
„Aufklärung"  auf  der  eigenen,  jüdischen  Grundlage.  Er  bildete 
im  Jahre  1840  in  Petersburg  selbst  zu  diesem  Behuf e  eine 
,, Kommission  zur  Feststellung  der  Maßregeln  zur  gründlichen 
Reformierung  der  Juden  in  Rußland".  Diese  Behörde  erkannte 
die  Sachlage  offen  an,  indem  sie  sich  äußerte:  ,,Da  unsere 
Gesetzgebung  durch  Maßregeln  polizeilicher  Beschränkungen 
und  Begünstigungen  verfährt,  erreicht  sie  nicht  die  gewünschten 
Ergebnisse."  Sie  beschloß  also,  den  Juden  entgegen  zu  kommen, 
ihnen  erst  Vertrauen  zu  den  staatlichen  Maßregeln  einzuflößen : 
es  sollten  für  sie,  ohne  ihnen  den  Zutritt  zu  den  allgemeinen 
Schulen  zu  verschließen,  besondere  jüdische  Schulen  in  allen 
bedeutenden  Orten  des  ganzen  Ansiedlungsrayons  errichtet 
werden.  Zugleich  wollte  sie  die  Absonderung  der  Juden  in  der 
Gemeindeverwaltung  aufheben  und  ihnen  einen  Anteil  an  der 
Leitung  der  allgemeinen  städtischen  Angelegenlieiten  gewähren, 
um  sie  dergestalt  den  Interessen  des  russischen  Volkes  näher 
zu  führen. 

Das  dringendste  war    die  Umgestaltung  des  Unterrichts. 

Der  Zar  legte  sie  in  die  Hände  des  Ministers  für  Auf- 
klärung (Unterricht),  des  Grafen  Uwarow,  eines  wahrhaft 
liberal  denkenden,  von  den  Ideen  Westeuropas  erfüllten  Staats- 
mannes, der  sofort  seine  Aufgabe  mit  großem  Eifer  angriff. 
Er  berief  einen  in  Rußland  mit  Erfolg  wirkenden  deutsch- 
jüdischen   Theologen    und    Schulmann,    Dr.    Lilienthal,    nach 


14  Staatliche  Aufkläningsversuche. 

Petersburg  zur  gemeinsamen  Ausarbeitung  der  für  die  neu  zu 
errichtenden  jüdischen  Schulen  erforderhchen  Pläne.  Im  Auf- 
trage Uwarows  trat  Lilienthal  in  Briefwechsel  mit  den  hervor- 
ragendsten deutschen  Juden,  der  zwei  Jahre  anhielt  und  sich 
hauptsächlich  um  die  Fragen  drehte,  wie  die  Unterrichtspläne 
einzurichten  seien,  und  welche  Lehrkräfte  die  Regierung  aus 
Deutschland  an  die  jüdischen  Schulen  in  Rußland  zu  berufen 
habe.  Diese  Schreiben  Uwarows  entfesselten  unter  den  west- 
europäischen Israeliten  helle  Freude  und  Begeisterung;  sie 
meinten,  nun  endlich  nahe  die  Zeit,  wo  ihre  unglücklichen 
russischen  Glaubensgenossen  aus  materieller  und  geistiger 
Knechtschaft  erlöst  und  zu  wahrem  Menschentum  erhoben 
würden.  Zumal  die  deutsche  Judenheit  erging  sich  in  ihren 
angesehensten  Vertretern  in  Danksagungen  und  Sympathie- 
bezeugungen für  den  ,, hochherzigen,  frei  denkenden"  Zaren  und 
seinen  ,, großen  Minister".  Jost,  Geiger,  Philippson,  Man- 
heimer  beeilten  sich,  dem  Grafen  Uwarow  in  warmen,  tief 
empfundenen  Worten  ihre  lebhafte  Anerkennung  für  seine 
Reformbestrebungen  auszudrücken,  und  der  Minister  zögerte 
nicht,  dem  Kaiser  diese  Zustimmungen  zu  seinen  Absichten 
zu  übermitteln.  ,,Der  Wille  des  großen  Monarchen,"  schreibt 
der  Berliner  Prediger  Auerbach,  ,, unsere  Glaubensgenossen 
durch  so  energische  und  sichere  Maßnahmen  zu  reformieren, 
erscheint  uns  allen  wie  eine  unerwartete,  wohltätige  Himmels- 
botschaft. Die  Ausführung  dieser  hohen  Absicht  wird  eine  neue 
Ära  in  der  Geschichte  Israels  bedeuten,  und  selbst  die  Hoffnung 
unserer  Glaubensgenossen  auf  die  später  zu  erfolgende  Er- 
teilung der  bürgerlichen  Rechte  bedeutet  nichts  im  Vergleich 
mit  der  moralischen  Wohltat,  welche  ihnen  die  Gründung  von 
Schulen  verheißt.  So  mannigfaltig  auch  die  Ursache  der  ärm- 
lichen Lage  der  Juden  in  Rußland  sein  mögen,  ihr  größtes 
Unglück  besteht  in  ihrer  rohen  Unbildung,  in  ihrem  Fernhalten 
von  der  europäischen  Bildung.  Und  ist  es  demnach  nicht  ein 
erhabener  göttlicher,  eines  großen  Monarchen  würdiger  Ge- 
danke, mit  einem  Schlage  sozusagen  die  moralische  Umfor- 
mung eines  Volkes,  das  viele  Jahrhunderte  hindurch  in  dem 
niedrigsten  Zustande  versank,  zu  bewirken  und  das  tiefe  Elend 
einer  Million  Menschen  in  Freude  und  Hoffnung  zu  verwandeln  ? 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  15 

In  der  Ausführung  des  Willens  des  großen  Monarehen  sehe  ich 
die  Erfüllung  der  mesianischen  Verheißungen:  die  Kenntnisse 
werden  die  Erde  bedecken,  wie  die  Wasser  die  Seetiefen.  Die 
Schulen  werden  Besseres  bewirken  als  alle  anderen  Verordnungen, 
indem  sie  die  geistige  Wiedergeburt  auf  Grund  der  Moral,  ohne 
die  im  allerfreisten  bürgerlichen  Dasein  der  aufgeklärte  Ge- 
dankengang nicht  reifen  kann,  basieren  wird." 

Philippson,  der  sich  der  Arbeit  für  die  große  russische 
Aufgabe  mit  dem  ihm  eigenen  Feuereifer  hingab,  schrieb  unter 
anderem:  ,,Was  für  ein  kaiserlicher  Gedanke,  was  für  eine  er- 
habene, in  den  Überlieferungen  unseres  Glaubens  und  in  der 
Geschichte  der  Völker  einzig  dastehende  Maßnahme !  Sie  wird 
selbstverständlich  auf  manche  Schwierigkeiten  stoßen,  aber 
dafür  dem  großen  Monarchen  eine  Million  treuer  und  ver- 
nünftiger Untertanen  einbringen.  Die  Geschichte  der  deutschen 
Juden  zeigt,  wie  rasch  ihre  Erfolge  sind,  wenn  sie  nur  einmal 
das  Gebiet  der  Bildung  betreten;  was  kann  man  nicht  alles 
von  ihnen  erwarten,  wenn  der  Weg  dorthin  ihnen  durch  die 
kaiserliche  Hand  und  seine  beispiellose  Milde  gezeigt  sein  wird." 
Er  arbeitete  eingehende  Pläne  für  die  Neugestaltung  aus. 

Inzwischen  wurden  im  Einverständnis  und  auf  den  Rat 
der  von  Lilienthal  befragten  deutsch-jüdischen  Autoritäten 
zweihundert  jüdische  Lehrer  Deutschlands  bezeichnet,  um  in 
den  neu  zu  gründenden  Schulen  in  Rußland  Stellungen  zu  er- 
halten. Lilienthal  aber  wurde  zunächst  vom  Grafen  Uwarow 
der  Auftrag  gegeben,  eine  Reise  in  den  Ansiedlungsrayon  zu 
unternehmen,  um  sich  persönlich  von  der  Lage  der  Juden  zu 
überzeugen,  ihre  Bedürfnisse  und  Wünsche  kennen  zu  lernen 
und  seine  Glaubensgenossen  für  die  Reformpläne  der  Regierung 
zu  gewinnen;  achthundert  Werst  sollte  die  erste  Rundfahrt 
umfassen.  Der  Kaiser  genehmigte  diesen  Plan  am  22.  Juli 
1842  mit  dem  eigenhändigen  Vermerk:  ,,Mit  Vergnügen  ein- 
verstanden." 

Lilienthal  fand  zunächst  zu  seiner  freudigen  Überraschung 
den  Boden  für  seine  Bemühungen  viel  besser  vorbereitet,  als 
er  befürchtet  hatte.  Die  russischen  Juden  schienen  nach  den 
ersten  Erfahrungen,  die  er  machte,  nicht  jene  undurchdring- 
liche, einheitliche  Heeresmasse  der  Verfinsterung,  der  Bildungs- 


16  Staatliche  ATifklärungsversuche. 

feindschaft  und  des  Fanatismus  zu  bilden,  als  welche  sie  \ielfach 
betrachtet  A^'urden. 

Die  Wellenbewegung  der  jüdischen  xA.ufklärung  in  Deutsch- 
land hatte  sich,  wenn  auch  im  stillen,  unaufhaltsam  nach  Ruß- 
land fortgesetzt.  Viele  dortige  Israeliten,  vom  Streben  nach 
Bildung  ergriffen,  hatten  sich  mit  deutschem  Geiste  erfüllt, 
um  so  mehr,  als  schon  die  Verwandtschaft  der  deutschen 
Sprache  mit  dem  ihnen  anerzogenen  Jargon  ihnen  das  Studium 
deutscher  literarischer  und  A^issenschaftlicher  Werke  erleichterte. 
Dem  Russischen  dagegen  standen  sie  fremd,  ja  feindlich  gegen- 
über. Die  russische  Gesellschaft  anderseits  kam  zu  wenig  mit 
den  Juden  in  Berührung,  als  daßzAvischen  ihr  und  den,, Hebräern" 
irgendein  Verständnis  sich  hätte  ergeben  können,  und  die  frei- 
lich noch  gering  entwickelte  russische  Presse  war  direkt  juden- 
feindlich. Die  natürliche  Folge  dieser  Umstände  war,  daß  die 
bildungsbedürftigen  Juden  Rußlands  ihre  sehnsüchtigen  Blicke 
dahin  wandten,  von  wo  ihnen  neues  strahlendes  Licht  und 
ein  frischerer  Lufthauch  zu  kommen  schien.  Es  bildete  sich 
eine  eigene  Partei  der  deutschen  Aufklärung,  hier  wie  in  Gali- 
zien,  ,,Maskilim"  genannt,  meistenteils  junge  Leute,  denen  die 
Jeschiboth,  die  höheren  Talmudschulen,  zu  enge  und  das 
Talmudstudium  zu  trocken  A^'urden,  die  aus  dieser  Buchstaben- 
welt sich  nach  freier,  lebendiger  Natur  und  nach  den  erquicken- 
den Strömen  des  weltlichen  Wissens  sehnten,  die  alle  neuen, 
allgemein  menschlichen  Kenntnisse  begierig  aufsaugten.  Je 
größer  die  Hindernisse  waren,  die  ihnen  die  Familien-  und 
Gemeindeüberlieferungen,  die  Gebundenheit  ihrer  Umgebung, 
die  starren  Einrichtungen  ihres  Vaterlandes  entgegenstellten, 
um  so  fieberhafter  war  der  Eifer,  mit  dem  sie  sich  auf  dem 
neuen  Wege  weiter  arbeiteten.  Die  strengen  Orthodoxen,  die 
die  große  Mehrheit  ausmachten,  sahen  freilich  in  ihrem  Vor- 
haben einen  Frevel,  eine  Gotteslästerung,  und  bedrohten  sie  mit 
tätlicher  Verfolgung.  So  taten  sie  sich  im  geheimen  in  kleinere 
und  größere  Kreise  zusammen,  die  über  das  ganze  Ansiedlungs- 
rayon  zerstreut  waren,  untereinander  in  regem  Verkehre  standen 
und  einander  mit  Rat  und  Tat  aushalfen.  Diese  jungen  Leute, 
wahre  Märtyrer  für  Bildung  und  geistige  Freiheit,  waren,  um 
jeden  Verdacht  von  sich  abzulenken,  gez^^^lngen,  ein  doppeltes 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  17 

Leben  zu  führen:  die  Tage  verbrachten  sie,  wie  in  ihrer  Um- 
gebung üblich,  mit  Talmudforschung  und  religiösen  Übungen; 
die  Nächte  dagegen,  unter  strengem  Geheimnis,  in  Dach- 
stübchen oder  Kellern,  beim  Scheine  der  Talgkerze,  gehörten 
dem  Studium  der  Schriften  Mendelssohns  und  seiner  Nach- 
folger. Aber  das  noch  so  ängstlich  gehütete  Geheimnis  ließ  sich 
selten  auf  die  Länge  bewahren.  Die  neuernden  Bücher  wurden 
entdeckt  und  verbrannt ;  heftige,  erschütternde  Szenen  zwischen 
Jüngeren  und  Alten  spielten  sich  ab,  und  oft  war  der  endgültige 
Bruch  zwischen  den  beiden  so  entgegengesetzten  Elementen 
der  Ausgang.  Häufig  genug  mußte,  seinem  inneren  Wissens- 
drange folgend,  der  ,,Maskil"  sein  behagliches  Leben  im  schwieger- 
elterlichen Heim  verlassen  —  die  jungen  Leute  heirateten  da- 
mals mit  fünfzehn  oder  sechzehn  Jahren  und  wurden  dann 
vertragsmässig  während  einer  bestimmten  Anzahl  von  Jahren 
im  schwiegerelterlichen  Hause  ausgehalten  —  und  sich  von  Frau 
und  Kindern  trennen,  um,  ganz  mittellos,  einer  unbestimmten 
Zukunft  voll  Not  und  Hunger  entgegen  zu  gehen.  Nichts  hielt 
ihn  aufrecht,  als  der  brennende  Wunsch,  an  einer  höheren 
Lehranstalt  ein  vollständiges  und  abgeschlossenes  Wissen  zu 
gewinnen. 

Ein  Führer  und  Leiter  wurde  dieser  suchenden  Schar  der- 
jenige, den  man  nicht  ganz  zutreffend  den  russischen  Mendels- 
sohn genannt  hat,  Isaak  Ber  Levinsohn  (geboren  1788  in  Kre- 
menetz,  gestorben  1860).  Er  stellte  in  seinen  hebräischen 
Schriften  für  seine  jüdischen  Brüder  ein  vollständiges  Auf- 
klärungsprogramm auf.  Sein  tiefdurchdachtes  und  geistvolles 
Werk  ,,Bet  Jehuda"  enthielt  eine  erhabene  Religionsphilosophie 
des  Judentums;  und  während  Mendelssohn  seine  Ideale  in  der 
außerjüdi  sehen  Welt  suchte  und  damit  dem  Judentum  nicht 
geringen  Abbruch  in  den  Anschauungen  seiner  Bekenner  tat, 
hat  Isaak  Ber  Le\nnsohn  das  seinige  im  Judentum  selbst  ge- 
funden. Um  ihn  gruppierte  sich  eine  ganze  Anzahl  jüdischer 
Schriftsteller,  wie  der  gelehrte  Bankier  Matthias  Straschun, 
der  eminentes  hebräisches  Wissen  mit  Sprachkenntnis,  Mathe- 
matik und  Philosophie  vereinte ;  Mordechai  Günzburg,  der  halb 
auf  Mendelssohns,  halb  auf  altorthodoxem  Boden  stand;  der 
Dichter  und   Gelehrte  Abraham  Lebensohn;  Abraham  Mapu, 

Philippson,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  2 


18  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

der  erste  hebräische  Romandichter;  und  viele  andere  —  alle 
Autodidakten  im  strengsten  Sinne  des  Wortes.  Den  konserva- 
tivsten Volksschichten  entstammend,  widmeten  sie  ihre  schrift- 
stellerische und  oft  auch  publizistische  Tätigkeit  der  Förderung 
aller  Ideale  der  Aufklärung. 

Auf  die  Unterstützung  durch  diese  Männer,  mit  denen 
einige  russische  Staatsmänner  und  zum  Teile  der  Zar  selbst  in 
Beziehung  getreten  waren,  rechnete  selbstverständlich  die  Re- 
gierung von  vornherein.  Aber  sie  und  vorher  schon  Lilienthal 
waren  freudig  überrascht  über  die  zahlreichen  bis  dahin  ver- 
borgenen Freunde  der  Aufklärung,  von  deren  Dasein  und  Tun 
früher  nichts  verlautet  hatte,  und  die  nur  auf  den  Beistand 
von  außen  gewartet  zu  haben  schienen,  um  ein  neues  Leben 
führen  zu  können. 

Schon  damals  trat  eine  Familie  hervor,  die  nunmehr  sieben 
Jahrzehnte  lang  unermüdlich  und  mit  glänzendem  Opfersinn 
für  die  materielle  und  geistige  Förderung  der  russischen  Juden- 
heit  tätig  gewesen  ist :  die  Familie  Günzburg.  Vater  und  Sohn, 
Gabriel  Jakob  und  Joseph,  begründeten  in  Gemeinschaft  mit 
dem  hebräischen  Gelehrten  Salomon  Salkind  1841  in  Wilna  eine 
Schule,  die  ganz  nach  Lilienthals  Anschauungen  eingerichtet 
wurde,  wo  die  Bibel  nach  Mendelssohns  Sinn  und  den  neueren 
deutschen  Übersetzungen,  ferner  hebräische  Grammatik,  Tal- 
mud, Religion,  aber  auch  russische  und  deutsche  Sprache, 
Arithmetik  und  Schönschreiben  gelehrt  wurden.  Es  war  das  in 
dem  damaligen  Russisch-Litauen  eine  vollkommene  Neuerung. 
Mit  diesem  reformatorischen  Eifer  blieben  die  Günzburg  und 
Salkind  nicht  vereinzelt.  Als  damals  der  Generalgouv.erneur 
von  Litauen  ein  Komitee  einberief,  das,  aus  Abgesandten  der 
jüdischen  Gemeinden  bestehend,  die  Juden  zur  Bildung  und  zur 
russisch-nationalen  Kultur  zu  führen  bestimmt  war,  liefen  bei 
diesem  aus  Wilna  und  Brzesc  (Brest)  zustimmende  und  ein 
förmliches  Programm  für  die  zukünftige  Entwicklung  enthal- 
tende Denkschriften  ein. 

Aber  das  waren  doch  nur  die  Stimmen  der  geistigen  Elite. 
Bei  der  großen  Masse  der  Juden  fand  Lilienthal  bald  zu 
seinem  großen  Schmerze,  zu  seiner  bitteren  Enttäuschung  um 
so  stärkeren  Widerstand.     Ihr  Mißtrauen  gegen  die  Absichten 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  19 

der  Regierung  ging  tief;  man  blieb  der  festen  Überzeugung,  daß 
diese  es  nur  auf  die  Untergrabung  des  jüdischen  Glaubens  und 
des  jüdischen  Lebens  abgesehen  habe.  Zu  brennend  war  noch 
der  Schmerz  der  alten  Wunden,  als  daß  man  an  die  Aufrichtig- 
keit des  so  plötzlichen  Umschwunges  in  den  höchsten  Sphären 
des  Staatswesens  hätte  glauben  können.  Lilienthal  suchte  auf 
alle  Weise  die  Gemüter  zu  beruhigen  und  entwickelte  die  herr- 
lichsten Aussichten  auf  die  Zukunft,  wenn  nur  die  Juden  den 
wohlwollenden  Absichten  der  Regierung  keine  Hindernisse  be- 
reiten würden.  Es  kam  zu  heftigen  Wortgefechten,  zu  er- 
schütternden Szenen,  bis  endlich  Lilienthal  sich  genötigt  sah, 
in  die  Hand  der  Wilnaer  Juden  das  feierliche  Gelöbnis  abzu- 
legen, daß  er,  bei  Strafe  sich  der  Verachtung  aller  russischen 
Glaubensgenossen  auszusetzen,  Rußland  in  dem  Augenblicke 
verlassen  werde,  wo  er  die  Überzeugung  von  der  Richtigkeit 
ihrer  Voraussetzungen  erlangen  würde. 

Noch  schärfer  und  allgemeiner,  als  in  Wilna,  war  die  Oppo- 
sition, der  Lilienthal  in  Minsk  begegnete.  Trotz  der  eifrigsten 
Bemühungen  gelang  es  ihm  hier  nicht,  die  Mehrzahl  der  Juden 
von  der  Aufrichtigkeit  der  Verheißungen  der  Regierung  zu  über- 
zeugen. Sie  sahen  überdies  durch  die  von  dieser  beabsichtigten 
Reformen  ihre  Orthodoxie  oder  ihren  Chassidismus  bedroht. 
Unverrichteter  Dinge  und  in  großer  Erbitterung  kehrte  er  nach 
Petersburg  zurück  und  berichtete  dem  Grafen  Uwarow  getreu- 
lich von  der  schlimmen  Lage  der  Dinge  und  von  den  Ursachen 
des  endlichen  Mißlingens  seiner  Sendung.  Er  drang  auf  ent- 
scheidende und  klare  Schritte,  die  die  jüdische  Bevölkerung 
in  unzweifelhafter  Weise  von  der  Aufrichtigkeit  der  guten  Ab- 
sichten der  Regierung  zu  überzeugen  imstande  seien. 

Der  Minister  erkannte  sehr  wohl,  daß  die  Juden  sich  nur 
dann  beruhigen  würden,  wenn  aus  deren  eigener  Mitte  die 
reformatorischen  Maßregeln  hervorgingen,  wenn  solche  ihnen 
nicht  von  außen  her,  vom  Staate  und  von  christlichen  Behörden 
auferlegt  würden.  Er  faßte  also  den  Plan,  eine  ,, Rabbiner- 
kommission für  jüdische  Angelegenheiten"  einzuberufen,  die, 
aus  Rabbinern  und  jüdischen  Gelehrten  bestehend,  Hand  in 
Hand  mit  der  Regierung,  die  häusliche  und  Schulerziehung 
der  Juden  regeln  und  überwachen  solle. 

2* 


20  StaatKche  Aufklärungsversuche. 

Froh  der  ihm  hier  von  neuem  erwachsenden  Hoffnungen, 
ging  Lihenthal  mit  Zustimmung  des  JNIinisters  Uwarow  im  Herbst 
1842  abermals  auf  die  Reise,  und  zwar  nach  Südrußland,  wo 
die  Kultur  unter  den  Juden  bedeutend  höher  stand,  als  in 
Litauen;  zumal  in  Odessa,  dessen  jüdische  Bevölkerung  zum 
großen  Teile  aus  Einwanderern  aus  den  größeren  galizischen 
Städten  sieh  zusammensetzte.  Er  besuchte  vornehmlich  Kiew, 
Odessa,  Berditschew.  Seine  Fahrt  gestaltete  sich  zu  einem 
wahren  Triumphzuge.  Er  wurde  überall  als  Bote  einer  besseren 
Zeit,  als  jüdischer  Vertreter  einer  wohlwollenden  Regierung 
mit  freudiger  Begeisterung  aufgenommen.  Die  südrussischen 
Juden  bewiesen,  daß  sie  ein  volles  Verständnis  für  die  Be- 
strebungen der  Aufklärung,  der  geistigen  und  sozialen  Befreiung 
besaßen,  und  es  wurden  an  mehreren  Orten  Einrichtungen  ge- 
troffen, um  in  diesem  Sinne  vorzuarbeiten. 

Kaum  war  Lilienthal  nach  Petersburg  zurückgekehrt,  so 
berief  Uwarow  die  Rabbinerkonferenz  zusammen,  deren 
Sitzungen  mit  großer  offizieller  Feierlichkeit  eröffnet  wurden. 
Allein  es  blieb  bei  dem  verheißungsvollen  Anfange. 

Daß  es  dem  Grafen  Uwarow  ernstlich  darum  zu  tun  war, 
die  russischen  Juden  auf  einen  höheren  Kulturgrad  zu  erheben, 
und  der  modernen  Zivilisation  zuzuführen,  worauf  dann  ihre 
mehr  oder  minder  vollständige  Gleichstellung  erfolgen  sollte, 
ist  nicht  zu  bezweifeln.  Allein  es  gab  in  der  Umgebung  des 
Zaren  einflußreichere  Elemente,  die  an  der  grundsätzlichen 
Feindschaft  gegen  die  ,, Hebräer"  festhielten,  sie  nicht  als 
gleichwertige  Bestandteile  der  Reichsbevölkerung  anerkannten 
und  in  ihrer  Pariastellung  belassen  wollten.  Nikolaus  I.  selber, 
der  uniformierende  Despot,  der  —  gleich  einem  Philipp  IL  von 
Spanien  und  LudAvig  XIV.  von  Frankreich  —  nur  in  der  Über- 
einstimmung der  Nationalität  und  des  Glaubens,  hier  also  im 
orthodoxen  Russentum,  das  Heil  seines  Staates  erblickte, 
konnte  wohl  in  einer  gewissen  Richtung  von  einem  einsichtigen 
und  wohhvollenden  Minister  zu  einer  den  Juden  günstigen  Maß- 
regel bestimmt  werden,  weil  er  von  ihr  die  Hinüberfülirung  der 
Juden  zur  christlichen  Religion  erhoffte,  beharrte  aber  sonst 
in  seiner  Abneigung  gegen  diese  Gemeinschaft.  Es  erfolgte 
gerade  damals  eine  Reihe  von  Tatsachen,  die  dies  nur  allzu 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  21 

deutlich  er\yiesen.  Es  war  ein  verhängnisvoller  Zirkelschluß: 
die  russischen  Juden  widerstrebten  jeder  Beeinflussung  durch  die 
Regierung,  auch  zu  ihrem  Wohle,  weil  sie  dieser  mit  Recht 
mißtrauten;  und  die  Regierung  war  entrüstet  über  die  Wider- 
setzlichkeit der  Juden  und  wurde  dadurch  in  ihrer  Feindselig- 
keit gegen  dieselben  bestärkt. 

Der  Ansiedlungsrayon  der  Juden  wurde  noch  mehr,  und 
zwar  auf  die  allerempfindlichste  Weise  beschränkt.  Im  Jahre 
1843  erging  ein  kaiserlicher  Ukas  —  er  war  gegen  die  Meinung 
der  Mehrheit  des  Mnisterkollegs  erlassen,  also  ein  unmittelbarer 
Ausfluß  des  kaiserlichen  Willens  —  daß  die  Juden  das  Gebiet 
in  Breite  von  50  Werst  von  der  preußischen  und  österreichischen 
Grenze  verlassen  müßten;  es  wurde  ihnen  nur  ein  Jahr  zum 
Verkaufe  ihrer  dortigen  Häuser  und  Liegenschaften  gestattet. 
Als  Gründe  wurden,  in  einer  für  die  Juden  doppelt  kränkenden 
Weise,  einmal  das  Übermaß  des  von  ihnen  betriebenen  Schmug- 
gels, dann  auch  der  zu  fürchtende  Verrat  bei  Kriegsfällen 
angeführt. 

Diese  grausame  Maßregel  machte  die  Israeliten  in  33  Ge- 
meinden, die  meist  5 — 6000  Seelen  zählten,  im  ganzen  etwa 
30  000  Familien  mit  150000  Menschen,  zu  heimatlosen  Flücht- 
lingen. Die  betroffenen  Gemeinden  wandten  sich  sofort  an  den 
Zaren:  sie  wiesen  nach,  daß  sie  keinen  Schmuggel  getrieben 
hatten,  daß  die  Mehrzahl  ihrer  Mitglieder  Handwerker,  Fuhr- 
leute, Floßknechte,  Tagelöhner  waren.  Sie  verpflichteten  sich 
feierlich,  allen  Schmuggelhandel  in  ihrer  eigenen  Mitte  selbst- 
tätig zu  unterdrücken,  wenn  man  sie  nur  in  ihren  Wohnsitzen 
belasse.  Wie  sollten  sie  in  der  kurzen  Frist  eines  Jahres  ihre 
Häuser  und  Mobilien  preiswert  veräußern,  ihre  Schulden  ein- 
treiben ?  Die  Judenschaft  in  Königsberg  petitionierte  in  dem 
gleichen  Sinne  an  Nikolaus,  wurde  aber  von  vornherein  zurück- 
gewiesen. Sämtliche  Rabbiner  in  den  Grenzgouvernements  be- 
legten jeden  Schmuggel  mit  dem  religiösen  Bann  und  verpflich- 
teten alle  Juden,  ihnen  zur  Kenntnis  kommende  Fälle  des 
Schmuggels  den  kaiserlichen  Behörden  anzuzeigen.  Auch  die 
Minister  stellten  dem  Herrscher  vor,  daß  die  Ausweisung  der 
jüdischen  Steuerzahler  aus  den  Grenzdistrikten  für  die  Krone 
einen  jährlichen  Verlust  von  1  460  000  Rubel  bedeute.    Es  war 


22  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

alles  vergebens.  Der  finstere  Judenhaß  Nikolaus'  I.  ließ  sich 
weder  von  der  Stimme  des  Mitleids  noch  von  der  der  Staats- 
raison  beeinflussen.  Höchstens  verlängerte  er  die  Frist  für  den 
Abzug  um  zwei  weitere  Jahre,  befreite  die  Auszutreibenden 
auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  von  jeder  Steuer  und  versprach 
ihnen  freies  Holz.  Dieses  berüchtigte  Fünf  zig- Werst- Gesetz  ließ 
den  Juden  keinen  Zweifel  über  die  Feindschaft,  die  das  Staats- 
oberhaupt gegen  sie  hegte.  Eine  ganze  Bevölkerung  wurde 
plötzlich  aus  ihren,  wenn  auch  noch  so  bescheidenen,  Lebens- 
und Erwerbsbedingungen  gerissen,  ohne  irgendeine  Entschädi- 
gung dafür  beanspruchen  zu  dürfen.  Wohin  die  Auswandernden 
sich  wandten,  sie  waren  überall  die  Überflüssigen,  die  lästigen 
Mitbewerber  für  ihre  ohnehin  so  eng  und  drückend  zusammen- 
gepferchten Glaubensgenossen  im  Ansiedlungsrayon.  Tiefe 
Niedergeschlagenheit  bemächtigte  sich  aller  russischen  Israe- 
liten; mit  Hohn  zeigten  die  Altgläubigen  und  Konservativen 
auf  die  Berechtigung  ihres  Mißtrauens  gegen  die  Beglückungs- 
versuche des  Unterrichtsministers  hin.  Wer  hätte  ihnen  noch 
Unrecht  geben  können  ?  Es  war  der  Todesstoß  für  die  Be- 
mühungen Uwarows  und  Lilienthals. 

Diese  mllkürliche  Mißhandlung  der  Juden,  und  zwar  ohne 
jede  Veranlassung  von  ihrer  Seite,  machte  sich  auch  auf  dem 
Gebiete  der  inneren  Koloiusation  geltend. 

Ein  kaiserlicher  Ukas  vom  13.  April  1835  hatte  die  Juden 
zur  Begründung  von  neuen  Ackerbaukolonien  in  Südrußland 
aufgefordert,  unter  Verheißung  mannigfacher  Begünstigungen 
für  sie  und  ihre  Kinder.  Allerdings  waren  die  Israeliten  diesem 
Aufrufe  nicht  nachgekommen,  und  zwar  aus  ganz  natürlichem 
Mißtrauen  gegen  die  kaiserlichen  Beamten,  die  die  unter 
Alexander  I.  im  Gouvernement  Cherson  begründeten  jüdischen 
Kolonien  aus  Habsucht  und  Fahrlässigkeit  fast  ganz  zugrunde 
gerichtet  hatten.  Da  erging  auf  Vorschlag  des  Finanzministers 
Kankrin  am  31.  Oktober  1836  ein  neuer  Ukas,  der  in  den  sibi- 
rischen Gouvernements  Omsk  und  Twersk  15  154  Desjatinen 
Land  (gleich  ungefähr  16  500  Hektar)  behufs  Gründung  jüdischer 
Ackerbaukolonien  zur  Verfügung  stellte.  Dieses  Mal  griffen 
die  Juden  zu;  binnen  kurzem  meldeten  sich  1467  Familien, 
die  durch  die  Ansiedlung  in  Sibirien  aus  ihrem  jammervollen 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  23 

Elend  befreit  zu  werden  wünschten.  Aber  inzwischen  hatten 
die  Ratgeber  des  Zaren,  zumal  Bludow  und  Benckendorf ,  ihn 
bewogen,  die  ganze  Maßregel  zurückzunehmen :  die  Juden  seien 
weder  körperlich  geeignet  für  das  rauhe  sibirische  Klima  noch 
moralisch  hinreichend  widerstandsfähig,  um  neben  einer  großen- 
teils aus  verbannten  Verbrechern  bestehenden  Bevölkerung  zu 
leben.  Man  solle  sie  lieber  in  West-  und  Südrußland  an- 
siedeln. Am  5.  Januar  1837  erschien  der  Ukas,  der  die  An- 
setzung  der  Juden  in  Sibirien  zurücknahm  —  selbst  die- 
jenigen, die  schon  in  diesem  Lande  angelangt  waren,  mußten 
es  wieder  verlassen ! 

Es  war  ein  schändlicher  Vertrauensbruch  gegen  die  sechs- 
tausend Individuen,  die  schon  alles  Ihrige  verkauft  hatten,  ja 
zum  großen  Teile  mit  Weib  und  Kind  bereits  auf  der  Wanderung 
nach  dem  ihnen  vom  Zaren  angebotenen  Lande  begriffen  waren. 
Viele  von  diesen  fielen  dem  furchtbaren  nordischen  Winter  zum 
Opfer  oder  wurden,  nach  der  Sinnesänderung  des  Kaisers,  von 
den  Behörden  ins  Gefängnis  geworfen,  da  man  mit  ihnen  nichts 
anzufangen  wußte.  Schließlich  wurden  sie,  auf  direkten  Befehl 
aus  Petersburg,  mit  blutigem  Hohne  als  „Vagabunden"  nach 
dem  Gouvernement  Cherson  transportiert,  zusammen  mit  den 
an  Ketten  angeschlossenen   Gefangenen. 

Nicht  viel  besser  erging  es  738  jüdischen  Kolonistenfami- 
lien, die  1837  in  Cherson  angesetzt  werden  sollten.  Auch  hier 
verlief  die  Sache  zunächst  im  Sande;  erst  1839  wurden  863 
jüdische  Familien  in  jenem  Gouvernement  angesiedelt.  Aus 
Kurland,  aus  Litauen,  folgten  zahlreiche  Juden  dem  Wege  zu 
einem  erhofften  besserem  Schicksale.  Aber  schon  im  Anfang 
1840  erschien  ein  Ukas,  der  diese  Kolonisten  fast  aller  ihnen 
verheißenen  Vorrechte  wieder  beraubte.  Die  Beamten  benutzten 
sofort  die  abermalige  Sinnesänderung  der  Zentralregierung:  sie 
mißhandelten  und  beraubten  die  Kolonisten  auf  der  Hinreise, 
und  als  diese  endlich  am  Orte  ihrer  Bestimmung  eintrafen, 
fanden  sie  dort  keinerlei  Vorsorge  für  ihre  Aufnahme  noch 
irgendwelchen  Bestand  an  Wohnungen,  Ackergerät  und  Vieh. 
Erst  später,  als  (1846)  das  ehemalige  Mitglied  des  freisinnigen 
russischen  ,, Tugendbundes",  der  den  Bauern  und  den  Juden 
freundlich    gesinnte     Graf    Paul    Kisselew    Domänenminister 


24  Staatliche  Aufklärungs versuche. 

wurde,  hat  er  sich  der  jüdischen  Kolonien  angenommen  und 
ihnen  eine  günstigere  Ent^^•icklung  ermöglicht. 

Ebenso  grausame  Enttäuschung  stellte  sich  bald  ein,  als 
der  Zar  den  Juden,  die  sich  in  Litauen  selbst  und  in  Polen  als 
Ackerbauer  ansiedeln  würden.  1839  bedeutende  Vorteile  ver- 
hieß. Tausende  von  Familien  drängten  sich  dazu,  von  dieser 
kaiserlichen  Zusage  Gebrauch  zu  machen.  Die  Israeliten  Polens 
hielten  Versammlungen  ab.  um  den  Ackerbau  unter  ihren 
Glaubensgenossen  tätig  zu  fördern;  im  Gouvernement  Kaiisch 
zeichneten  die  jüdischen  Gemeinden  zu  diesem  Behufe  (1843) 
eine  jährliche  Beihilfe  von  500  000  polnischen  Gulden.  Allein 
die  Provinzialbehörden  verstanden  es,  die  ganze  Bewegung 
durch  unendliche  Plackereien  zu  ersticken.  Man  warf  die  leben- 
den Juden  wie  empfindungslose  Steine  durcheinander.  Und 
dann  schrieb  man  dem  Kaiser  gegenüber  die  Schuld  \\'ieder 
den  Juden  zu  und  erweckte  so  von  neuem  gegen  sie  seine  Ver- 
achtung und  seinen  Zorn ! 

Den  Juden  war  im  Jahre  1837  das  Recht  gegeben  worden, 
in  Riga  Wohnsitz  zu  nehmen:  fünf  Jahre  darauf  wurde  es  ihnen 
wieder  entzogen,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die  sich  dort  schon 
niedergelassen  hatten,  aber  auch  diesen  blieb  das  Bürgerrecht 
vorenthalten. 

Die  gleiche  rechts-  und  menschenverachtende  Willkür 
wurde  den  Juden  gegenüber  auf  dem  militärischen  Gebiete 
betätigt.  Kaiser  Alexander  I.  hatte  ihnen  versprochen,  die 
Militärpflicht  ihnen  nur  dann  aufzuerlegen,  wenn  sie  das  volle 
Bürgerrecht  erhielten.  Trotzdem  hatte  Nikolaus  I.  sie  in 
härtester  Weise  zum  Heeresdienste  herangezogen,  ohne  jene 
vorläufige  Bedingung  zu  erfüllen.  So  gab  es  im  Jahre  1840  in 
Rußland  bereits  über  10  000  jüdische  Soldaten  und  4000 
Matrosen  der  Kriegsmarine,  die  in  Kronstadt  einen  eigenen 
Rabbiner  und  Sabbatgottesdienst  besaßen.  Da  wurden  plötz- 
lich für  die  polnischen  Gouvernements,  um  die  Landbebauung 
durch  die  Juden  zu  fördern,  deren  Einstellung  in  das  Heer 
1843  aufgehoben.  Aber  schon  nach  wenigen  Monaten  erfloß 
ein  neuer  Ukas,  der  sie  vom  1.  Januar  1844  T^deder  für  heeres- 
pflichtig  erklärte;  \sürden  Juden  desertieren,  so  müßten  deren 
Gemeinden    andere    stellen.     L'nd    fortwährend    wurde    dieses 


Staatliche  Avifklärungsversuche.  25 

Blutopfer  erschwert.  Zuerst  hatte  die  Regierung  den  jüdischen 
Soldaten  die  Beförderung  wenigstens  zu  Unteroffizieren  ver- 
sprochen. Die  Juden  erwiesen  sich  in  der  Tat  als  tüchtige 
Soldaten  und  -«-urden  vielfach  von  ihren  Offizieren  ausgezeichnet 
und  amtlich  belobt.  Vergebens:  ohne  jeden  besonderen  Grund 
verbot  der  Zar  alle  Beförderung  von  Hebräern  im  Heere.  ]\Ian 
hob,  laut  Ukas  vom  18.  Januar  1850,  schon  Kinder  von  zwölf 
Jahren  aus,  um  sie  desto  sicherer  ihrem  Glauben  zu  entfremden. 
Später  (1854)  nahm  man  die  jüdischen  Kinder  sogar  schon  zu 
neun  Jahren.  Sie  wurden  als  Qiristen  erzogen.  Erwachsene 
jüdische  Soldaten  führte  man  zwangsweise  zur  Taufe,  ohne 
jeden  vorhergehenden  Unterricht,  aber  mit  einem  Schmerzens- 
geld von  25  Rubel  auf  den  Kopf.  Andere  Juden,  die  sich 
taufen  ließen,  MTirden  vom  Militärdienst  befreit.  So  offen 
betrieb  der  Zar  die  Taufpropaganda.  1851  erging  der  Be- 
fehl, für  jeden  bei  dem  Gestellungstermin  fehlenden  Juden 
deren  vier  aus  der  betreffenden  Gemeinde  zu  nehmen  und  für 
jede  2000  Rubel  fehlender  Abgaben  einer  jüdischen  Gemeinde 
einen  Erwachsenen  aus  ihr  auszuheben;  1852  \^'urde  verordnet, 
daß  die  Juden  zehn  Rekruten  auf  tausend  Seelen  zu  stellen 
hätten,  die  Christen  nur  sieben.  So  sprang  man  in  grausamster 
Willkür  mit  den  Juden  um. 

Der  Zar  zeigte  ihnen  Abneigung  und  Geringschätzung  auf 
alle  Weise.  Er  verordnete  am  26.  Juni  1844,  daß  ihre  Bethäuser 
von  jeder  orthodoxen  Kirche  mindestens  fünfzig  Faden  (ca. 
95  m)  entfernt  sein  müßten,  und  hundert  Faden  (ca.  190  m), 
wenn  das  Bethaus  auf  eine  Straße  oder  einen  freien  Platz  aus- 
ginge. 

Eine  viel  einschneidendere  Maßregel  war  die  begirmende 
Vertreibung  aller  Juden  im  eigentlichen  Rußland  —  mit  Aus- 
nahme der  Bewohner  der  Ackerbaukolonien  —  vom  flachen 
Lande  in  die  Städte  (1845).  So  wurden  abermals  Hundert- 
tausende erbarmungslos  in  ihrer  ganzen,  ohnehin  so  be- 
schränkten, wirtschaftlichen  Existenz  vernichtet.  Und  doch 
mußte  bald  die  Regierung  eingestehen:  ,.Die  Juden,  die  aus 
den  Dörfern  und  Flecken  ausgewiesen  wurden,  gingen  zu- 
grunde; die  Lage  der  Dorfbewohner  besserte  sich  nicht." 
Denn   man  hatte   zwar   den  Wucher  der  Juden   als   Vorwand 


26  Staatliche  Aiifklärungsversuche. 

genommen,  aber  die  christlichen  Wucherer,  des  jüdischen 
Mitbewerbs  entledigt,  plagten  und  ruinierten  die  ihnen  hilflos 
überantworteten  Bauern  nur  um  so  schlimmer. 

Es  war  unmöglich,  daß  bei  solcher  Mißhandlung  der  Juden 
durch  die  höchste  Staatsgewalt  sie  noch  irgend  etwas  Gutes  von 
dieser  erwarten  konnten.  Selbst  die  wirklich  kulturell  fördern- 
den Schritte  der  Regierung  mußten  den  Juden  als  nur  zur 
Untergrabung  ihres  Glaubens  und  zur  Herbeiführung  des  Ab- 
falls berechnet  erscheinen,  nachdem  der  Zar  ganz  offen  die 
Taufpropaganda  unter  ihnen  betrieb.  Die  fünf  israelitischen 
Elementarschulen,  die  in  ganz  Rußland  bestanden  —  in  Odessa, 
Kischinew,  Wilna,  Uman  und  Riga  —  zählten  nur  noch  270 
(1844)  bis  273  (1845)  Zöglinge.  So  groß  war  die  Abneigung 
gegen  alles,  w^as  den  Wünschen  der  Regierung  entsprach.  Aber 
auch  auf  das  Ausland  wirkten  diese  Maßregeln  betäubend, 
niederschmetternd,  wie  ein  Blitz  aus  heiterem  Himmel.  War 
man  doch  gerade  auf  dem  Punkte  gewesen,  das  bei  dem  be- 
kannten Maler  Professor  Oppenlieim  in  Frankfurt  am  Main 
bestellte  Bild  ,,Das  Heraufsteigen  der  neuen  Zeit  für  das  rus- 
sische Judentum"  eine  Apotheose  Nikolaus'  I.,  diesem  dank- 
erfüllt zu  überreichen.  Davon  konnte  nun  die  Rede  nicht 
mehr  sein. 

Und  plötzlich  verschwand  der  jüdische  Vertrauensmann 
der  Regierung,  verschwand  Lilienthal  in  heimlicher  Flucht, 
ganz  mittellos,  aus  Rußland  und  tauchte  dann  an  der  freien 
Küste  der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  wieder  auf 
(1844).  Man  hat  damals  über  die  Beweggründe  dieses  über- 
raschenden Vorgangs  die  mannigfachsten  Vermutungen  gehegt 
und  geäußert.  Die  einen  meinten,  Lilienthal  habe  sich  ge- 
schämt, weil  die  Regierung  die  zweihundert  deutschen  Lehrer, 
die  er  engagiert  hatte,  nicht  habe  kommen  lassen,  sondern  ein- 
heimische Lehrkräfte  vorgezogen  habe;  die  anderen,  daß  er 
daran  verzweifelte,  mit  den  retrograden  Elementen  der  Rab- 
binerkonferenz etwas  Ersprießliches  zu  erreichen.  Der  wahre 
Grund  aber  ist  der  gewesen,  daß  Lilienthal  die  Unmöglichkeit 
erkannt  hatte,  zwischen  der  Feindschaft  des  Zaren  und  seiner 
einflußreichsten  Ratgeber  gegen  das  Judentum  auf  der  einen 
und  dem  Mißtrauen  der  Juden  gegen  die  Absichten  der  Re- 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  27 

gierung  some  der  Kulturfeindschaft  vieler  unter  ihnen  auf 
der  anderen  Seite,  eine  Vermittlung  zu  finden.  Lilienthal 
schrieb  damals  an  seinen  Freund  Dr.  Rottenberg  in  Berditschew : 
„Ich  verlasse  meine  elenden  beklagenswerten  Glaubensgenossen, 
denen  ich  nicht  zu  helfen  vermag,  um  nach  dem  Freistaate  zu 
meinen  freilebenden  Brüdern  überzusiedeln."  Jedenfalls  war 
seine  Flucht  eine  Katastrophe  für  alle  die  Hoffnungen,  die  sich 
an  das  Wirken  Uwarows  geknüpft  hatten,  ein  schlimmer  Bruch 
zwischen  der  russischen  Regierung  und  der  jüdischen  Gemein- 
schaft. 

Das  Streben,  das  jüdische  Element  mit  Verlockungen  und 
Gewalt  zur  griechisch-orthodoxen  Kirche  und  zur  Russifizierung 
hinüber  zu  bringen  war  durchaus  nichts  Vereinzeltes  in  dieser 
Periode  der  Regierung  Nikolaus'  I.  Von  einem  etwaigen  mora- 
lischen und  politischen  Verschulden  der  Juden,  das  so  häufig 
von  russischen  und  nichtrussischen  Judenfeinden  zur  Ent- 
lastung dieses  Regimentes  angeführt  wurde,  kann  die  Rede 
nicht  sein.  Vielmehr  handelte  es  sich  um  ein  systematisches 
Vorgehen  der  russischen  Staatsgewalt  gegen  alle  nichtrussischen 
Nationalitäten  und  Gemeinschaften  des  weiten  Reiches,  eine 
Richtung,  die  schon  von  der  großen  Katharina  datierte.  Sie 
hatte  an  den  Generalprokurator  des  Senats ,  Fürsten  Wja- 
sesmky,  geschrieben:  Die  Ostseeprovinzen  ,, müssen  auf  die 
sanfteste  Weise  dahin  gebracht  werden,  daß  sie  verrussen  und 
nicht  mehr  umherschauen  wie  die  Wölfe  im  Walde."  Aber  nie- 
mals war  die  Russifizierung  so  umfassend,  dauernd  und  gewalt- 
sam betrieben  worden,  wie  unter  Nikolaus  I.  Mit  seiner  Billigung 
verbreitete  der  Oberprokurator  der  Heiligen  Synode,  General 
Graf  Protassow,  die  orthodoxe  Kirche  und  mdmete  sich  mit 
ebenso  vielem  Fanatismus  wie  militärischer  Brutalität  der  Be- 
kehrung der  Andersgläubigen.  Vierundeinhalb  Millionen  der 
mit  der  katholischen  Kirche  unierten  Griechisch-katholischen 
in  Litauen  und  Weißrußland  mußten  zur  russischen  Kirche 
übertreten.  Am  schlimmsten  aber  wütete  diese  Regierung  gegen 
Deutschtum  und  Luthertum  in  den  Ostseeprovinzen.  ,, Niko- 
laus I.",  sagt  ein  baltischer  Historiker,  ,,ist  darauf  ausgegangen, 
die  deutsche  Nationalität  und  die  evangelisch-lutherische  Kirche 
in  den  baltischen  Provinzen  zu  vernichten."  Der  geistige  Mittel- 


28  Staatliche  Auf klärungs versuche. 

punkt  dieser  Landschaften,  die  Universität  Dorpat,  wurde  nach 
russischem  Muster  streng  diszipliniert  und  nach  Möglichkeit 
verstümmelt.  Und  nicht  minder  ging  man  gegen  die  lutherische 
Kirche  vor,  die  zugleich  das  wirksamste  Mittel  und  das  Symbol 
des  Deutschtums  in  den  Ostseeprovinzen  war.  Bisher  hatten 
die  nach  Intelligenz  und  sozialer  Hebung  strebenden  Letten, 
die  den  Hauptteil  der  dortigen  Bevölkerung  bildeten  und  die 
lutherische  Religion  ihrer  deutschen  Herren  angenommen 
hatten,  sich  einfach  germanisiert.  Aber  das  Kirchengesetz  des 
Jahres  1832  beraubte  die  lutherische  Kirche  der  baltischen 
Provinzen  ihres  gesetzlichen  Charakters  als  Landeskirche  und 
machte  sie  zu  einer  nur  geduldeten  neben  der  im  ganzen  Reiche 
herrschenden  griechisch-russischen  Kirche.  Selbst  in  der  Haupt- 
stadt Riga  mit  ihrer  rein  deutschen  Bevölkerung  ward  ein  ortho- 
doxes Bistum  errichtet.  Während  der  Hungerjahre  1839 — 1841 
spiegelte  man  den  Bauern  vor :  wer  zum  Griechentum  übertrete, 
werde  vom  Militärdienst  befreit  und  erhalte  unentgeltlich  Land- 
besitz. Über  hunderttausend  Bauern  in  Livland  ließen  sich 
damals  zum  Abfalle  verleiten.  Als  sie  sich  bald  in  ihren  Hoff- 
nungen getäuscht  sahen  und  zum  Luthertum  zurück  zu  kehren 
wünschten,  wurden  sie  mit  Gewalt  zurückgehalten  und  diejenigen 
lutherischen  Geistlichen,  die  ihnen  in  ihrer  Gewissensnot  zu  Hilfe 
kommen  wollten,  mit  Verbannung  nach  Sibirien  bedroht. 

Am  heftigsten  entbrannte  der  Unterdrückungskampf  seit 
dem  Jahre  1845,  als  Eugen  Golowin  Generalgouverneur  des 
baltischen  Gebietes  wurde.  Die  kaiserliche  Instruktion  trug 
ihm  unverblümt  die  Bekämpfung  der  baltischen  Sonderrechte, 
die  Unterstützung  der  lettischen  und  estnischen  Bauern  gegen 
deren  deutsche  Gutsherren,  die  Förderung  der  griechischen 
Kirche  auf.  So  betrieb  er  von  neuem  unter  trügerischen  Ver- 
heißungen den  Massenübertritt  der  Letten  und  Esten  zum 
,, Glauben  des  Kaisers".  Das  deutsche  und  protestantische 
Element  sollte  in  Religion  und  Sprache  von  dem  russischen 
zurückgedrängt  werden. 

Diese  allgemeinen  Gesichtspunkte  muß  man  im  Auge  be- 
halten, um  das  Vorgehen  des  Zaren  und  seiner  Ratgeber  auch 
gegen  die  in  Abstammung,  Sitte  und  Sprache  von  den  Russen 
so  verschiedenen  Israeliten  zu  verstehen. 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  29 

Im  Jahre  1840  hatte  Nikolaus  I.  in  Petersburg  aus  hohen 
Regierungsbeamten  ein  „Komitee  zur  Beschlußfassung  über 
Maßnahmen  für  eine  gründliche  Reorganisation  der  Juden  in 
Rußland"  eingesetzt.  Drei  Jahre  später  hat  es  eine  Denk- 
schrift vollendet,  die  die  amtliche  Billigung  des  Kaisers  erhielt. 
Sie  schilderte  die  Sonderstellung  der  Juden  in  den  schwärzesten 
Farben  unter  Berufung  auf  angebliche  Vorschriften  des  Talmuds, 
die  gänzlich  aus  der  Luft  gegriffen  sind.  Die  Juden  haben  kein 
Vaterland  und  gehen  auf  die  Knechtung  der  anderen  Völker 
aus,  mit  allen  Mitteln  der  List  und  des  Betruges,  wozu  sie  in 
sämtlichen  Ländern  eine  eigene  Gemeinschaft  bilden.  Sie  er- 
kennen nur  ihre  eigenen  Rechtsnormen  und  Obrigkeiten  an 
und  gestatten  sich  jede  Art  von  Rechtsbeugungen  zum  Schaden 
der  Christen.  Daraus  zog  die  Kommission  die  Folgerungen,  daß 
man  den  Juden  ihre  Sonderschulen  und  ihre  Gemeindeverwal- 
tung (Kahal)  sowie  ihre  unterscheidende  eigene  Tracht  nehmen, 
dagegen  staatliche  Schulen  und  staatlich  ausgebildete  und  an- 
gestellte Rabbiner  geben  müsse.  Ferner  solle  man  die  Juden 
zur  Ansässigmachung  sowie  zur  Wahl  eines  festen  Berufes  zwin- 
gen und  den  Ackerbau  unter  ihnen  fördern.  Es  war  also  das 
System  des  Zwanges,  das  die  Kommission  mit  Billigung  des 
Zaren  abermals  anpries  —  von  einer  Erteilung  der  bürgerlichen 
und  staatsbürgerlichen  Rechte  an  die  Millionen  von  Israeliten 
verlautete  aber  nichts. 

Mit  Recht  antwortet  darauf  ein  neuerer  Kritiker,  ,,daß  es 
im  Munde  der  russischen  Regierung  sonderbar  klingt,  wenn  sie 
den  Juden  Aberglauben,  Voreingenommenheit  usw.  vorwirft, 
während  gleichzeitig  die  autochthone  Bevölkerung  in  finsterster 
Knechtschaft  niedergehalten  wurde,  der  Bauernstand  in  Leib- 
eigenschaft schmachtete  und  von  irgendwelchen  erheblichen 
Versuchen  der  Regierungskreise  zur  Hebung  des  zivilisatorischen 
Niveaus  ihrer  Untertanen  nicht  die  Rede  sein  kann.  Warum 
also  dieser  Eifer,  gerade  die  Juden  aufzuklären  ?  Sie  halten 
sich  vom  bürgerlichen  Leben  fern,  antwortete  die  Regierung, 
d.  h.  sie  passen  nicht  in  das  Schema  des  offiziellen  Nationalis- 
mus, der  alles  russifizieren  wollte.  Und  diesen  Zweck  hatte  die 
Regierung  zunächst  im  Auge.  Sie  wollte  die  Juden  jener  streng 
vorgezeichneten   Schablone   des   Russentums   anpassen.    Nicht 


30  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

um  ideelle  Bestrebungen  irgendwelcher  Art  handelte  es  sich, 
sondern  einfach  darum,  die  Juden  zu  russifizieren.  Mögen  sie 
Analphabeten  werden,  wenn  sie  nur   ,, Russen"   sind. 

,,Man  hatte  vergessen,  daß  die  Juden  Rußlands  nur  darum 
nicht  an  der  ,, Aufklärung"  partizipiert  hatten  (wie  in  den 
übrigen  Ländern  Europas),  weil  die  autochthone  Bevölkerung 
eine  derartige  Entwicklung  ebenfalls  nicht  durchmachte.  Aber 
zugegeben,  daß  die  ,, Aufklärung"  im  Sinne  der  Regierung  not 
tat,  wie  hätte  sie  ihr  Ziel  erreichen  können,  da  doch  alle  Maß- 
nahmen von  dem  Geiste  drakonischer  Polizeivorschriften  er- 
füllt waren  ?  Neben  den  Vorschlägen  zur  Errichtung  staatlicher 
jüdischer  Schulen,  Einführung  des  Institutes  der  Gouvernements- 
rabbiner und  Bekämpfung  des  jüdischen  Fanatismus  läuft  die 
ganz  sonderbare  Einteilung  der  Juden  in  nützliche  und  schäd- 
liche, und  den  letzteren  ^vurde  das  ganze  jüdische  Proletariat 
beigezählt,  das  durch  die  völlig  abnormen  historischen  und 
ökonomischen  Bedingungen  auf  die  tiefste  Stufe  der  sozialen 
Nomenklatur  herabgedrückt  worden  war." 

Die  Denkschrift  wurde  auf  Befehl  des  Kaisers  allen  General- 
gouverneuren des  Ansiedlungsrayons  mitgeteilt.  Nur  einer  von 
ihnen,  der  von  Südrußland,  Woronzow,  der  in  London  abend- 
ländische Bildung  empfangen  hatte,  protestierte  gegen  den  Geist 
und  die  Vorschläge  der  Denkschrift,  indem  er  den  Handel  und 
das  Handwerk  der  Juden  als  nützlich  und  für  die  russische  Be- 
völkerung notwendig  erklärte  und  vor  Zwang  und  Polizei- 
willkür warnte.  Man  dürfe  die  Juden  um  so  weniger  zur  Ver- 
zweiflung treiben,  als  die  Schuld  der  bei  ihnen  herrschenden 
Mißstände  am  wenigsten  an  ihnen  liege.  Man  solle  diesen 
Heber  durch  Errichtung  von  Schulen  und  Gewährung  von 
Staatsunter  Stützung  abhelfen. 

Aber  seine  Stimme  verhallte  ungehört.  Schon  am  19.  De- 
zember 1844  erfolgte  die  Aufhebung  der  jüdischen  autonomen 
Gemeindeverwaltungen,  der  sogenannten  Kahals,  und  die  Unter- 
werfung des  jüdischen  Gemeindelebens  unter  die  städtischen 
Vertretungen  und  in  letzter  Instanz  unter  die  Staatsbehörden. 
Die  Verwaltung  der  geistlichen  und  rituellen  Angelegenheiten 
ward  der  von  jeder  Bethausgemeinschaft  zu  wählenden  Ver- 
tretung übergeben.     Das  Verschwinden  des  Kahals  als  solche 


Staatliche  Auf klänings versuche.  31 

war  allerdings  von  einigen  günstigen  Folgen  begleitet.  Mit  ihm 
fiel  ein  Grund  des  Mißtrauens  der  christlichen  Bevölkerung 
gegen  die  jüdische  fort,  weil  jene  hinter  der  spanischen  Wand 
des  Kahals  die  tiefsten  und  ruchlosesten  Geheimnisse  verborgen 
geglaubt  hatte,  während  nun  das  jüdische  Gemeindeleben  in 
seiner  politischen  und  sozialen  Harmlosigkeit  offen  vor  aller 
Augen  lag.  Der  Kahal  hatte  sich  überdies  jeder  Reform  mit 
Macht  widersetzt,  da  seine  Mitglieder  von  zähem  Konservatis- 
mus erfüllt  waren  und  in  allen  Neuerungen  nur  Eingriffe  in  seine 
tatsächliche  Allmacht  über  die  Gemeindemitglieder  erbhckten. 
Der  Regierung  gegenüber  hatte  der  Kahal  gar  keinen  Nutzen 
gebracht,  da  diese  ihn  nur  als  eine  Steuer-  und  Rekrutenaus- 
hebungsmaschine betrachtete  und  behandelte.  Die  Mitglieder 
des  Kahals,  zum  großen  Teile  Steuerpächter,  hatten  die  Steuer- 
erhebung meist  zu  eigener  Bereicherung  und  zur  willkürlichen 
Unterdrückung  aller  derjenigen  Glaubensgenossen  benutzt,  die 
nicht  ihre  Verwandten  oder  Werkzeuge  waren.  Anderseits  aber 
fiel  nun  jede  Selbständigkeit  der  jüdischen  Gemeindeverwaltung 
hinweg,  und  die  übelwollenden  christlichen  Obrigkeiten  konnten 
mit  den  Interessen  und  Einkünften  der  jüdischen  Gemeinden 
nach  Belieben  und  zumeist  im  Sinne  der  Auflösung  und  Zurück- 
drängung des  Judentums  schalten.  Die  Behörden  benutzten 
das  Recht  der  Steuererhebung,  um  die  reichen  Juden  durch 
übermäßige  Brandschatzung  zu  Bestechungen  zu  nötigen. 
Ebenso  ging  die  Rekrutenaushebung  unter  den  Juden  auf  die 
staatlichen  Obrigkeiten  über,  die  solche  in  schamloser  Weise 
mißbrauchten  und  noch  heute  mißbrauchen.  Gesetzwidrige 
Handlungen  der  städtischen  Behörden  gegen  die  Juden  bleiben, 
sogar  in  den  offenbarsten  und  schreiendsten  Fällen,  oft  längere 
Zeit  in  Kraft  und  können  von  der  jüdischen  Gemeinde  nicht 
angefochten  werden,  da  diese  kein  gesetzliches  Organ  besitzt. 
Da  ferner  die  städtischen  Vertretungen  in  jüdischen  Ange- 
legenheiten ganz  unerfahren  sind,  müssen  sie  zu  ihrer  Beratung 
in  diesen  aus  der  jüdischen  Gemeinde  seßhafte  und  wohlhabende 
Mitglieder  heranziehen,  und  diese  benutzen  ihren  Einfluß  dann, 
um  in  den  Gemeindeangelegenheiten  wiederum  —  wie  früher 
innerhalb  des  Kahals  —  eine  engherzige  Klassen-  und  Familien- 
politik wider  die  Interessen  der  großen  Masse  der  jüdischen  Be- 


32  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

völkerung  durchzuführen.  Die  machtlose  jüdische  Gemeinde 
aber  ist  außerstande,  den  stets  komplizierter  werdenden  Be- 
dürfnissen des  jüdischen  Lebens  nachzukommen.  So  wurde  die 
Aufhebung  des  Kahals  zum  Fluche  für  die  russischen  Israeliten, 
anstatt  daß  an  Stelle  des  Kahals  eine  anderweite,  rationellere 
und  zweckdienlichere  Selbstverwaltung  der  jüdischen  Gemeinde 
getreten  wäre.  Überdies  blieb  die  Solidarität  der  jüdischen 
Gemeinde,  diese  schreiende  Ungerechtigkeit,  den  Anforderungen 
der  Regierung  gegenüber  bestehen. 

Mit  gleicher  Tatkraft  ging  die  Regierung  gegen  die  äußeren 
Eigentümlichkeiten  der  Juden  vor,  um  sie  hier  mit  der 
andersgläubigen,  so  weit  besser  gestellten  Bevölkerung  auszu- 
gleichen. Im  Jahre  1846  erfloß  die  Verordnung,  die  allen  Juden 
Rußlands  und  Polens  unter  dem  Alter  von  sechzig  Jahren  an- 
befahl, ihre  eigentümliche  Tracht  ab-  und  die  Landestracht 
anzulegen.  Nur  den  schon  im  Amte  befindlichen  Rabbinern 
—  aber  nicht  ihren  Nachfolgern  —  ward  die  alte  Kleidung  aus- 
nahmsweise gestattet.  Da  die  Juden  passiven  Widerstand 
leisteten,  ergriff  die  Polizei  immer  strengere  Maßregeln.  1851 
erschien  das  Verbot,  daß  den  neuvermählten  Jüdinnen  das 
Haupthaar  nicht  mehr  abrasiert  und  durch  einen  künstlichen 
,,  Scheitel"  ersetzt  werden  dürfe.  Man  konnte  Soldaten  auf  der 
Straße  Juden  und  Jüdinnen  zusammentreiben  sehen,  wobei 
öffentlich  jenen  Bart  und  Seitenlocken  abrasiert,  diesen  der 
Scheitel  entrissen  wurde,  so  daß  sie  mit  nackten  Kopfe,  vom 
Hohne  der  Christen  verfolgt,  einliergehen  mußten.  Am  20.  Juli 
1853  erfloß  eine  neue  Verordnung,  die  allen  Rabbinern  und 
jüdischen  Lehrern  bei  der  exorbitanten  Strafe  von  drei  Jahren 
Zuchthaus  oder  zehn  bis  zwölf  Jahren  öffentlicher  Zwangs- 
arbeit befahl,  dafür  zu  sorgen,  daß  keinem  jüdischen  Mädchen 
bei  der  Heirat  das  Haar  abgeschnitten  werde.  Das  waren  im 
Grunde  vielleicht  wohlgemeinte,  wenn  auch  barbarische  Maß- 
regeln. Aber  die  verbitterten  Juden  sahen  in  ihnen  nur  Angriffe 
auf  ihre  Religion,   Vorbereitungen  zur  Taufe.   — 

Der  schnelle  und  umfassende  Aufschwung  des  Liberalismus 
in  Westeuropa  während  der  vierziger  Jahre  machte  auf  den 
Zaren  und  seine  Umgebung  einen  tiefen,  und  zwar  abschrecken- 
den Eindruck.    Es  erfaßte  sie  und  die  ganze  russische  Bureau- 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  33 

kratie  eine  große  Angst  vor  allem,  was  der  Masse  Aufklärung  und 
Denkfreiheit  bringen  könne;  die  Untertanen  sollten  in  tiefster 
Unwissenheit  und  Roheit  und  damit  in  sklavischer  Gesinnung 
erhalten  werden.  Hierhin  gehören  alle  zu  damaliger  Zeit  er- 
lassenen Gesetze  über  die  Volksbildung.  Man  verbot  die  Auf- 
nahme von  Bauernkindern  in  die  Elementarschulen,  der  Kinder 
von  Kleinbürgern  in  die  mittleren  und  höheren  Schulen.  Da 
der  größte  Teil  der  Juden  zu  letzterer  Kategorie  der  Be- 
völkerung gehörte,  so  traf  diese  Maßregel  wieder  einmal  am 
stärksten  die  Israeliten  und  stellte  ihrer  geistigen  Entwick- 
lung neue  Hindernisse  in  den  Weg, 

Die  nach  den  Vorschlägen  des  Judenkomitees  1844  er- 
öffneten jüdischen  Elementarschulen  erfüllten  nicht  die  Hoff- 
nungen der  Regierung,  geschweige  denn  die  der  Juden.  Ihr 
Programm  war  denen  der  allgemeinen  Schulen  angepaßt,  ohne 
besondere  Beziehung  zum  Judentume.  Im  Gegenteil,  der 
Lehrplan  war  aus  offenbarer  Feindschaft  gegen  das  überlieferte 
Judentum,  zumal  gegen  Talmud  und  Rabbinismus,  entstanden. 
Die  Leiter  und  Inspektoren  der  Schulen  waren  Christen,  zum 
Teil  sogar  ausgesprochene  Judenfeinde  —  meist  der  Abhub 
der  KronschuUehrer,  Offiziere  außer  Diensten,  abgewirtschaftete 
Polizeibeamte,  kurz  Leute,  die  man  versorgen  wollte  auf  Kosten 
der  Juden.  Das  waren  Umstände,  die  alle  Israeliten,  und  zumal 
deren  große  konservative  Masse,  mit  lebhaftem  Mißtrauen  gegen 
diese  Schulen  erfüllen,  solche  als  Werkzeuge  zur  Konvertierung 
der  jüdischen  Kinder  erscheinen  lassen  mußten.  Die  im  Auf- 
trage der  Regierung  von  Mandelstamm  tendenziös  ausgearbei- 
teten Lehrbücher  für  den  gesamten  jüdischen  Unterricht,  auch 
in  den  Chedarim,  nebst  Auszügen  aus  Bibel,  Talmud  und 
Maimonides  waren  ausschließlich  auf  religiöse  Aufklärung  be- 
rechnet. Diese  Art  offizieller,  staatlich  geprüfter  und  gesichteter 
Religion  rief  im  ganzen  strenggläubigen  russischen  Judentum 
einen  Sturm  der  Entrüstung  hervor;  sie  war  um  so  größer, 
als  die  Kosten  der  Bücher  aus  der  Sondersteuer  der  Juden, 
der  von  den  Sabbatkerzen  zu  entrichtenden  Lichtsteuer  be- 
stritten wurde.  Nur  dem  Zwange  gehorchend,  schickten  die 
Juden  ihre  Kinder  in  die  Schulen;  die  Wohlhabenden  mieteten 
häufig  arme  Kinder,  die  sie  an  Stelle  der  eigenen  in  die  Schule 

Philippson,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  "^ 


34  Staatliche  Aufklänxngsversuche. 

sandten,  um  ihre  eigenen  Sprößlinge  durch  Hauslehrer  oder  selbst 
in  einem  Cheder  unterrichten  zu  lassen.  In  Nord-Litauen  kam 
nur  ein  Schüler  auf  190  jüdische  Seelen,  in  Kiew  gar  nur  einer 
auf  272.  Nur  in  den  Ostseeprovinzen  (ein  Schüler  auf  30  Seelen) 
und  in  Südrußland  (einer  auf  66)  war  der  Besuch  der  Kronschulen 
ein  besserer  —  zugleich  ein  Maßstab  für  die  größere  Kultur 
der  dortigen  Juden.  Die  Kosten  dieser  schlecht  besuchten 
Regierungsschulen  waren  sehr  hoch,  jedes  Kind  kam  jährlich 
auf  55  Rubel,  während  es  bei  dem  Melammed  nur  5 — 6  Rubel 
erforderte ;  und  diese  Beträge  —  zusammen  200  000  Rubel  — 
wurden  mederum  aus  der  Lichtsteuer  bestritten.  Die  Last, 
die  damit  die  Juden  bedrückte,  war  um  so  schwerer,  als  die 
indirekten  Steuern  an  Privatunternehmer  verpachtet  waren,  die, 
um  möglichst  viel  bei  dem  Geschäfte  herauszuschlagen,  die  Ab- 
gaben mit  brutaler  Willkür  und  Rücksichtslosigkeit  eintrieben. 
Und  dennoch:  hätten  die  Regierungsschulen  irgendwelche, 
wenn  auch  noch  so  bescheidene  Erweiterung  der  bürgerlichen 
und  politischen  Rechte  verheißen,  sie  hätten  auf  Erfolg  rechnen 
können.  Aber  die  Regierung  Nikolaus' I.  war  viel  zu  reaktionär, 
um  auf  solche  wohl  begründeten  und  sogar  von  einzelnen  hohen 
russischen  Beamten  befürworteten  Wünsche  der  Juden  einzugehen. 

Wie  sollte  man  auf  die  Absichten  eines  Herrschers  Ver- 
trauen setzen,  der  einerseits  die  Judentaufen  in  jeder  Weise 
begünstigte  —  1850  wurden  allen  Juden,  die  zum  Christentum 
überträten  und  Ackerbau  trieben,  alle  aus  ihrer  Niederlassung 
herrührenden  Zahlungsreste  und  Schulden  erlassen  — ;  der 
anderseits  sich  in  jeder  Weise  als  Feind  der  Bildung  und  der 
Intellektualität  bewährte?  Am  11.  Mai  1849  verordnete  er, 
daß  auf  jeder  der  russischen  Universitäten  die  Zahl  der  freien, 
das  heißt  nicht  von  Staatsstipendien  lebenden  Studenten  auf 
dreihundert  beschränkt  werde.  Zahllose  angehende  Studierende 
wurden  rücksichtslos  abgewiesen.  Die  Söhne  des  Adels  und  der 
Beamtenschaft,  sagte  Nikolaus  selber,  täten  besser  daran,  ins 
Heer  zu  treten  als  auf  die  Universität  zu  gehen. 

Auch  die  damals  in  Schitomir  und  AYilna  neu  gegründeten 
Rabbinerschulen  waren  weit  davon  entfernt,  ihrem  eigent- 
lichen Zwecke  zu  entsprechen.  Zunächst  sollten  sie  überhaupt 
weniger  der  Ausbildung  von  Rabbinern  als  von  Lehrern  für  die 


Staatliche  Auf klärungs versuche.  35 

Kronselementarschulen  dienen:  eine  unglückliche  Verquickung 
zweier  ganz  verschiedener  Bildungsziele  und  Aufgaben,  worunter 
zumal  die  Ausbildung  von  Rabbinern  sehr  litt.  Die  Direktoren 
der  Schulen  mußten  nach  der  Bestimmung  des  Gesetzes  Christen 
sein,  auch  die  meisten  Lehrer  waren  Christen,  Juden  nur  die- 
jenigen für  die  spezifisch  jüdischen  Fächer.  Die  Zöglinge  dieser 
Schulen  gingen  zum  großen  Teile  mit  der  den  Juden  eigenen 
Überschwang]  ichkeit  in  radikaler  Weise  auf  die  Assimilations- 
wünsche der  Regierung  und  der  Schulleiter  ein,  sahen  mit 
Geringschätzung  auf  die  ungebildete  Masse  ihrer  Glaubens- 
brüder hinab  und  verletzten  geflissentlich  deren  religiöse  Emp- 
findungen. Es  entbrannten  innerhalb  der  Gemeinden  zwischen 
den  Aufklärungsfreunden  und  deren  Gegnern  heftige  Kämpfe, 
bei  denen  sich  die  Regierung  selbstverständlich  auf  die  Seite 
der  ersteren  stellte  und  damit  der  großen  Mehrheit  der  jüdischen 
Bevölkerung  einen  neuen  Grund  der  Klage  und  des  Haßes  gab. 
Es  galt  der  Regierung,  der  Assimilationspartei,  trotz  des  Gegen- 
satzes der  überwiegenden  Masse,  einen  festen  Halt  zu  geben. 
Sie  entzog  deshalb  die  Wahl  des  Rabbiners  den  Gemeinden 
und  behielt  sie  sich  selbst  vor.  Es  erging  das  Gesetz  (1855), 
daß  kein  Rabbiner  oder  Lehrer  mehr  angestellt  werden  solle, 
der  nicht  in  der  Rabbiner-  oder  avif  höheren  Mittelschulen 
studiert  und  die  Schlußprüfung  abgelegt  habe.  So  entstand 
die  Masse  der  sogenannten  Kronsrabbiner.  Aber  gerade  weil 
diese  aus  den  staatlichen  Unterrichtsanstalten  hervorgegangen, 
mit  moderner  Bildung  ausgerüstet  und  von  der  Regierung  er- 
nannt waren,  wollte  die  ungeheure  Mehrheit  der  Gemeinde- 
mitglieder nichts  von  ihnen  wissen.  Neben  die  offiziellen 
Rabbiner  stellten  sich  also  die  von  der  Gemeinde  bevorzugten 
nicht-amtlichen,  deren  es  1866  über  5000  gab.  Diese  Doppel- 
position fand  sich  bald  an  zahllosen  Orten.  Der  Kronsrabbiner 
wurde  mehr  und  mehr  staatlicher  Angestellter,  Standesbeamter, 
der  die  Register  führte  und  den  äußeren  Schein  des  geistlichen 
Amtes  aufrecht  erhielt,  während  der  wahre  geistliche  Führer 
und  Berater  der  Gemeinde  der  nicht-offizielle,  von  ihr  erkorene, 
allein  anerkannte  und  verehrte,  aus  der  Jeschiwa  hervor- 
gegangene und  ausschließlich  talmudisch  gebildete  Rabbi  war ; 
Zustände,  die  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  und  zu 


36  Staatliche  Aufklärungsversucbe. 

der  chaotischen  Ver\^drrung  der  Zustände  der  jüdischen   Ge- 
meinden ein  Bedeutendes  beigetragen  haben. 

Noch  in  der  Epoche  Uwarows  hatte,  wie  erwähnt,  der 
Kaiser  selber  den  Gedanken  gefaßt,  zur  geistigen  Umgestaltung 
der  in  seinem  Reiche  lebenden  Juden  eine  Rabbinerkonferenz 
einzuberufen.  Es  war  immer  wieder  die  Auffassung,  die  Seelen- 
zustände  von  Millionen  durch  Befehl  von  oben  herab  willkür- 
lich zu  revolutionieren.  Durch  allerhöchstes  Dekret  vom 
4.  Juli  1842  war  aus  jedem  der  von  Juden  bewohnten  General- 
gouvernements je  ein  Rabbiner  in  das  Komitee  berufen  worden. 
Dieses  kam  indes  mit  seinen  Arbeiten  nicht  recht  vorwärts. 
Endlich  im  Jahre  1848  wurde  es  neu  konstituiert;  die  Rabbiner 
und  Kaufleute  der  verschiedenen  Gouvernements  hatten  zu- 
sammen 18  Kandidaten  zu  erAvählen,  von  denen  die  Regierung 
fünf  zu  Mitgliedern  des  Komitees  ernannte.  Seine  Bestimmung 
war  eine  doppelte:  auf  der  einen  Seite  sollte  es  das  innere 
Leben  der  Juden  zu  höherer  Kultur  entwickeln,  auch  als  Be- 
rufungsinstanz von  den  religiösen  Entscheidungen  der  Rabbiner 
dienen;  anderseits  als  Organ  des  Ministeriums  des  Inneren 
dessen  Anordnungen  den  Juden  gegenüber  fördern  und  unter- 
stützen. Dabei  war  es  als  eine  Nachahmung  des  Napoleonischen 
Sanliedrin  gedacht,  als  eine  höchste  religiöse  Instanz,  die  Vater- 
landsliebe und  russischen  Nationalsinn  in  die  jüdischen  Massen 
trage.  AUein  die  wohlgemeinte  Absicht  schlug  vollkommen 
fehl.  Die  Regierung  scheiterte  hier  wie  überall  bei  ihren  auf  die 
Juden  berechneten  Maßnahmen  durch  ihr  ausschließlich  bureau- 
kratisches  Verfahren.  Sie  wählte  zu  dem  sogenannten  Rab- 
binerkomitee, in  dem  nur  wenige  Rabbiner  saßen,  nicht  Ver- 
trauensmänner der  Juden,  sondern  einige  Notable,  Anhänger 
der  Aufklärung,  die  viel  guten  Willen  aber  wenige  jüdische 
Kenntnisse  besaßen  und  schon  deshalb  bei  den  eigenen  Glaubens- 
genossen kein  Ansehen  und  keinen  Einfluß  hatten.  Diese 
Männer  standen  auch  viel  zu  sehr  unter  dem  Einflüsse  der 
Regierung,  um  nicht  vorlegend  deren  Wünschen  Rechnung 
zu  tragen,  ohne  der  Stimmung  der  Juden  zu  achten,  für  die 
ihnen  überdies  nur  geringes  Verständnis  zu  Gebote  stand. 
Von  ihren  Glaubensbrüdern  dementiert  und  zurückgestoßen, 
wurden  sie  in  Ärger  und  Enttäuschung  häufig  zu  Denunzianten 


Staatliche  Avifklärungsversuche.  37 

gegen  jene  bei  der  Regierung.  So  schlug  durch  ein  wahres 
Verhängnis,  man  muß  sagen,  durch  beiderseitiges  Verschulden, 
alles  fehl,  was  die  Regierung  zur  Reform  der  Juden  zu  tun 
sich  bemühte.  Bureaukratie  auf  der  einen  Seite,  Mißtrauen  und 
Kulturfeindschaft  auf  der  anderen  machten  jede  Versöhnung 
unmöglich,  den  Riß  immer  größer,  die  Verwirrung,  das  Chaos 
in  den  jüdischen  Angelegenheiten  immer  furchtbarer  und  un- 
heilbarer. Der  tiefste  Grund  des  IMißlingens  aber  war  der: 
während  die  Regierung  nach  ihren  Versicherungen  den  Juden 
aufzuhelfen  sich  bestrebte,  erhielt  sie  dieselben  in  Unter- 
drückung, Beschränkung  und  Rechtlosigkeit,  behandelte  sie 
mit  rücksichtsloser  Willkür  und  "wiederholtem  schreienden 
Wortbruch.  Und  noch  schlimmer  als  die  Regierung  miß- 
handelten ihre  Beamten  die  Juden.  Der  Ministerrat  hat  am 
27.  Oktober  1906  in  einem  amtlichen  Berichte  an  den  Zaren 
ausdrücklich  eingestanden:  ,, Unter  Nikolaus  I.  mißbrauchten 
die  unteren  Polizeibeamten,  die  die  Beobachtung  der  Gesetze 
zu  beaufsichtigen  hatten,  ihre  Gewalt  und  benutzten  die  Dehn- 
barkeit der  Deutung  der  mannigfaltigen  jüdischen  Bestim- 
mungen als  Mittel  zur  Erpressung."  Wie  arg  müssen  diese 
Zustände  gewesen  sein,  wenn  die  russischen  Minister  selber 
solche  Anklagen  erheben ! 

Das  war  die  wahre  und  natürliche  Quelle  des  bitteren 
Mißtrauens,  mit  dem  die  Juden  jede  angeblich  zu  ihrem  Wohle 
bestimmte  Maßregel  der  Regierung  aufnahmen,  das  sie  in  jedem 
von  deren  reformatorischen  Unternehmungen  nur  einen  Schritt 
zur  Zerstörung  des  Judentums,  zur  Vorbereitung  zur  Taufe  er- 
blicken ließ.  Es  zeigte  sich  wiederum,  daß  der  Weg  zur  geistigen 
und  sozialen  Hebung  lediglich  an  der  Hand  der  Freiheit  und  der 
Gleichberechtigung  zu  finden  ist.  Diese  ewige  Wahrheit,  die 
sich  ja  in  den  Ländern  des  europäischen  Westens  durchaus  be- 
stätigt hat,  wäre  auch  für  Rußland  maßgebend.  Man  darf  nicht 
das  Mittelalter  aus  den  Geistern  auszutreiben  hoffen,  indem 
man  die  Leiber  dem  Mittelalter  unterworfen  hält;  nur  wenn 
der  Staat  selber  auf  das  Mittelalter  verzichtet,  kann  er  die 
Seelen  diesem  entziehen.  Es  ist  ein  furchtbares  Unglück,  daß 
die  leitenden  Kreise  Rußlands  solche  Wahrheit  noch  heute 
nicht  erkennen  wollen. 


38  Staatliche  Aufklärungsversuehe. 

Und  doch  ist  auch  in  Rußland  der  Beweis  für  sie  schon 
geführt  worden.  Als  unter  Alexander  II.  der  schreckliche  Druck, 
der  auf  den  Juden  lastete,  erleichtert,  als  ihnen  wahres  Wohl- 
wollen, ohne  Hintergedanken,  erwiesen,  als  sie  wie  Menschen 
behandelt  und  ihnen  verheißungsvolle  Rechte  verliehen  wurden, 
da  empfanden  sie  die  ihnen  gebotenen  Freiheiten  als  Wohl- 
taten und  machten  von  ihnen  ausgiebigen  Gebrauch.  Damals 
gingen  Aufklärung  und  Vaterlandsliebe  unter  ihnen  reißend 
voran  —  die  beste  Bezeugung  der  Tatsache,  daß  die  russischen 
Juden  eben  nur  des  belebenden  Hauches  der  Freiheit  zu  geistiger 
und  sittlicher  Entfaltung  bedürfen.  Aber  der  eisige  und  be- 
schränkte Despot  Nikolaus  I.  hatte  davon  keine  Ahnung,  und 
deshalb  mußten  seine  ,, Reformen"  mißlingen. 

Der  Fluch  lastete  auch  auf  der  mit  so  vielem  Eifer  unter- 
nommenen ländlichen  Kolonisation  der  Juden  im  Gouvernement 
Cherson.  Das  war  zum  großen  Teil,  wie  gesagt,  durch  die  Nach- 
lässigkeit und  die  Raubsucht  des  ausfülirenden  und  beauf- 
sichtigenden russischen  Beamtentums  verschuldet.  Die  Schäden 
lagen  aber  noch  tiefer,  an  den  Wurzeln  des  ganzen  Unternehmens 
selbst.  Das  zur  Kolonisierung  berufene  Element  bestand  aus- 
schließlich aus  städtischen  Kleinhändlern  und  Kleinliand- 
werkern  —  körperlich  schwächlichen  Menschen,  die  nicht  nur 
keine  Vorstellung  von  den  Bedingungen  und  Aufgaben  des 
Ackerbaues  besaßen,  sondern  auch  nicht  die  physischen  Kräfte, 
die  dieser  Beruf  unbedingt  erfordert.  Die  Regierung  war  so 
leichtsinnig  und  töricht,  den  improvisierten  Ackerbauern  auch 
nicht  die  mindeste  Vorbereitung  für  ihren  neuen  Beruf  zuteil 
werden  zu  lassen;  ja  von  den  benachbarten  christlichen  Kolo- 
nisten, bei  denen  sie  sich  noch  Rat  und  Belehrung  hätten  holen 
können,  waren  sie  durch  drakonische  Strafbestimmungen  im 
Falle  der  Übertretung  durchaus  abgeschnitten.  Diesen  armen, 
ungeübten  und  kraftlosen  Menschen  stellte  man  nun  einen 
noch  ganz  wüsten  Boden  zur  Verfügung,  den  sie  erst  roden, 
reinigen,  urbar  machen  sollten,  ehe  nur  die  Bebauung  beginnen 
konnte.  Natürlich  standen  sie  rat-  und  hilflos  vor  einer  Auf- 
gabe, zu  deren  Bewältigung  sie  in  keiner  Weise  in  der  Lage 
waren.  Wovon  sollten  die  Mittellosen  mit  ihrer  Familie  über- 
haupt leben,  bis  die  erste  Ernte  auf  diesem  wilden  Lande  ein- 


Staatliche  Aufklärungsversuche.  39 

gebracht  werden  konnte  ?  Die  Kolonisten  standen  vor  der 
schlimmsten  Not,  dem  Hungertode;  sie  suchten  ihm  natur- 
gemäß zu  entgehen,  indem  sie,  trotz  des  strengsten  Verbots, 
heimlich  \^aeder  zu  ihrem  alten  Gewerbe  des  Schacherns  und 
Hausierens  griffen  und  darüber  den  Ackerbau  vollends  ver- 
nachlässigten. Um  diesen  ungesunden  Zuständen  abzuhelfen, 
sandte  die  Regierung  dreißig  jüdische  Kolonistenjünglinge  auf 
Musterfarmen  und  Ackerbauschulen  —  aber  dieses  Verhältnis 
der  Schüler  zu  der  gesamten  Seelenzahl  der  Kolonisten  war  viel 
zu  geringfügig. 

Der  Zar  war  entrüstet  über  das  Scheitern  aller  seiner  Pläne 
gegenüber  den  Juden,  die  sich  nicht  für  seine  Art  der  Zwangs- 
aufklärung, geschweige  denn  für  das  Aufgehen  in  das  russische 
Volks-  und  Kirchentum  gewinnen  lassen  wollten.  Nicht  einen 
Augenblick  legte  er  sich  die  Frage  vor,  ob  die  Schuld  nicht 
an  ihm,  seinem  System  und  seinem  Beamtentum  liege.  Die 
Juden  gehorchten  nicht,  bewahrten  ihre  Selbständigkeit  und 
Eigentümlichkeit,  ließen  sich  nicht  von  der  Allmacht  des  Ge- 
waltherrschers zermalmen  —  also  waren  sie  Verbrecher.  Im 
Jahre  1846  erließ  er  eine  haßsprühende  Bekanntmachung  an 
die  Juden:  der  Kaiser  hat  sie  mit  Wohltaten  überhäuft,  indem  er 
sie  der  allgemeinen  Bevölkerung  näher  zu  führen  suchte.  Aber 
die  Juden  schließen  sich  hartnäckig  ab;  auch  die  Auflösung 
der  Kahals  hat  da  nichts  gefruchtet.  Sie  fahren  fort,  die  übrige 
Bevölkerung  schändlich  auszubeuten.  Wenn  sie  sich  nicht 
noch  ändern,  sollen  die  strengsten  Strafen  sie  treffen. 

Dieser  allerhöchste  Wutausbruch  hatte  weiter  keine  un- 
mittelbaren Folgen.  Aber  er  wirft  doch  ein  erschreckend 
blendendes  Licht  auf  die  Gesinnung  des  Zaren  gegen  die  Juden. 

Nur  ein  Stand  unter  diesen  hatte  von  der  Regierung 
dauernde  Gunst  und  Förderung  erfahren:  der  der  Handwerker. 
Und  er  entwickelte  sich  tatsächlich  in  erfreulicher  Weise,  weil 
er  den  städtischen  Gewohnheiten  der  Juden  entsprach  und, 
in  seinen  meisten  Zweigen,  an  ihre  körperlichen  Kräfte  nicht 
allzu  hohe  Anforderungen  stellte.  Den  Juden  wurde  die  Betrei- 
bung jedes  Handwerkes  gestattet  und  ihnen  sogar  bei  dessen 
Ausübung  wichtige  Vorrechte  verliehen.  Die  Petitionen  christ- 
licher Handwerkerzünfte,  in  ihrem  selbstischen  Interesse  den 


40  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

jüdischen  Konkurrenten  deren  Privilegien  wieder  zu  beschränken, 
blieben  unbeachtet.  Vielmehr  ward  den  Juden  in  denjenigen 
Ortschaften,  wo  sie  das  Wohnrecht  besaßen,  1852  gestattet, 
eigene  Zünfte  zu  bilden,  wie  die  der  Wegearbeiter,  Steinhauer, 
Schreiner,  Fuhrleute,  Gärtner,  Fabrikarbeiter,  Tagelöhner  —  ein 
Beweis,  daß  sie  auch  die  schwersten  Arbeiten  nicht  scheuten.  Jü- 
dische Handwerkermeister  durften  christliche  Untermeister  und 
in  diesem  Falle  auch  christliche  Lehrlinge  und  Gesellen  halten. 

Allein  einen  vollen  Erfolg  zugunsten  der  israelitischen  Be- 
völkerung konnten  auch  diese  Maßregeln  nicht  bringen.  Die 
Juden  waren  in  dem  Ansiedlungsrayon  zu  dicht  aufeinander 
gedrängt,  als  daß  neben  dem  Kleinhandel  das  Handwerk  sie 
alle  hätte  ernähren  können.  Die  Zahl  der  Wander bettler  und 
der  ,, Luftmenschen"  (die  von  der  Luft  lebten)  war  deshalb  ge- 
waltig groß.  Gegen  sie  erging  im  Jahre  1847  eine  Verordnung, 
wonach  binnen  fünf  Jahren  alle  Juden,  die  keine  feste  Be- 
schäftigung noch  hinreichenden  Lebensunterhalt  nachweisen 
können,  sich  ein  Handwerk  oder  einen  anderen  dauernden 
Beruf,  mit  Ausnahme  des  Hausierens  und  Schankwesens, 
wählen  müssen.  Alle  anderen  sind  als  Landstreicher  zu  be- 
handeln; diejenigen,  die  dann  dem  Ukas  nicht  nachgekommen 
sind,  sollen  zwangsweise  zu  öffentlichen  Arbeiten  verwandt 
werden.  Über  dieses  Dekret  entstand  unter  den  Juden  zu- 
nächst ein  panischer  Schrecken;  allein  man  überzeugte  sich 
bald,  daß  auch  hier  der  Rubel  mächtiger  sei  als  der  Zar;  die 
meisten  der  Schnorrer  und  Luftmenschen  entgingen  durch  Be- 
stechung der  Polizeiorgane  dem  traurigen  Schicksale,  arbeiten 
zu  müssen. 

Indessen,  man  darf  die  russischen  und  polnischen  Juden 
nicht  als  gleichartige  Masse  behandeln;  sie  waren  nach  den 
Landschaften,  in  denen  sie  wohnten,  verschieden.  In  den  nörd- 
lichen Gegenden  des  Rayons  hatten  ,,die  Juden  mehr  Sinn  für 
Feld  und  Garten,  als  für  das  Bethaus  und  die  Mikwe."  Viele 
von  ihnen  waren  Viehhändler  und  Fleischer,  stämmige  und 
kräftige  Gesellen,  die  sich  gegen  tätliche  Angriffe  übelwollender 
Christen  sehr  wohl  zu  wehren  wußten.  ,, Unter  den  Juden  dort 
findet  man  die  berühmten  Fischer  der  Lodzer  Teiche,  die  Lodz 
und  die  Umgebung  mit  Fischen  versorgen." 


Staatliche  Auf klärungs versuche.  41 

So  tief  auch  der  allgemeine  Bildungsstand,  bei  den  Juden 
war,  sie  blieben  doch  immer  „das  Volk  des  Buches",  und  ihre 
leidenschaftliche  Verehrung  für  ihre  religiöse  Literatur  hat  ihnen 
vor  allem  die  Kraft  gegeben,  den  Angriffen  und  Kränkungen 
ihrer  übermächtigen  Gegner  siegreich  zu  widerstehen.  Die 
Achtung  vor  der  religiösen  Gelehrsamkeit  war  so  groß  bei  ihnen, 
daß  die  reichsten  von  ihnen  sich  unter  den  Talmudbeflissenen 
einen  Schwiegersohn  wählten,  dem  sie  sagten:  ,,Du  hast  bei 
mir  dein  Essen  und  Trinken,  deinen  Schabbesanzug  und  dein 
Taschengeld.  Du  sollst  nur  die  heilige  Lehre  studieren."  Den 
Schwiegersöhnen  ,,mit  den  großen  Talmudfolianten  erwies  der 
Jude  eine  solche  Ehrfurcht,  daß  er  in  ihrer  Gegenwart  nicht 
anders  als  auf  den  Zehenspitzen  ging;  das  Teuerste  und  Beste 
bewahrte  er  für  sie  auf.  Und  wenn  in  der  Stube  die  Worte  der 
Thora  widerhallten,  dann  vergoß  der  alte  Jude  stille  Freuden- 
tränen" (Schalom  Asch). 

Es  gab  und  gibt  noch  heute  Städte,  die  fast  ausschließlich 
von  Juden  bewohnt,  die  ganz  und  gar  Judenorte  sind,  wo  das 
jüdische  Leben  sich  ungestört  entfaltet.  So  mrd  das  Zusammen- 
pferchen im  Ansiedlungsrayon  zur  Stärkung  des  besonderen, 
intransigenten  jüdischen  Lebens  —  ganz  gegen  die  Absicht 
der  judenfeindlichen  Gesetzgebung.  Die  Besorgnis  vor  einer 
übermächtigen  Kraft  der  jüdischen  Intelligenz,  die  zum  großen 
Teile  die  Einschnürung  der  Judenheit  in  die  engeren  Grenzen 
des  Rayons  veranlaßte,  diente  zur  Stärkung  des  spezifisch 
jüdischen,  dem  Russentume  entgegengesetzten  Geistes. 

Es  waren  besonders  drei  Kategorien  unter  den  Juden,  die 
von  innen  heraus  den  Kulturbestrebvingen  Widerstand  leisteten. 
Die  erste  war  die  der  Armen,  die  nicht  die  Geldmittel  besaßen, 
um  sich  oder  ihre  Kinder  der  Bildung  zu  mdmen,  da  die  Re- 
gierung nichts  tat,  um  letztere  den  Juden  unentgeltlich  zu- 
kommen zu  lassen.  Die  Armut  unter  den  Juden  war  ungeheuer. 
Sie  wird  durch  die  Tatsache  illustriert,  daß  am  Ende  der  Re- 
gierung Nikolaus  I.  die  Steuerrückstände  in  den  jüdischen  Ge- 
meinden 747  907  Rubel  betrugen.  —  Die  zweite  Kategorie  war 
die  der  Orthodoxen,  die  von  jeder  Art  der  Bildung  eine  Locke- 
rung der  jüdischen  Gemeinschaft  besorgten,  in  jeder  Reform 
einen  Abfall  von  der  ,, Jüdischkeit"  erblickten.    Die  panische 


42  Staatliche  Aufklärungsversuche. 

Angst,  die  sie  vor  der  kleinsten  Neuerung,  ja  vor  jeder  Art  welt- 
lichen Studiums  empfanden,  kann  man  nur  verstehen,  wenn  man 
sich  das  russische  Ghettoleben  vergegenwärtigt.  Von  Fremden, 
ja  Feinden  umringt,  fühlten  sie  sich  nur  in  ihrer  Gemeinschaft 
stark,  um  so  stärker,  je  größer  der  Abstand  zwischen  ihnen 
und  ,,Esau"  war.  Die  Frau  und  Tochter  ließ  man  in  der  Butike 
schachern,  ohne  daß  sie  überhaupt  etwas  lernten;  der  Mann 
saß  inzwischen  im  Bethamidrasch,  im  Lehrhause.  Die  Reichen 
und  Gebildeten  wagten  aus  Furcht  vor  der  Menge  nicht,  den 
mindesten  reformatorischen  Einfluß  auszuüben.  Denn  jeder 
Gebildete  galt  als  Abtrünniger,  die  Anliängerschaft  an  die  Auf- 
klärung als  ,, Volksunglück".  Diese  Männer  und  diese  Richtung 
zu  bekämpfen,  darauf  verwandten  Rabbis  und  Gläubige  den 
Hauptteil  ihrer  Tatkraft. 

Das  dritte  kulturfeindliche  Element  bildeten  die  Chassidim. 
Ihr  Einfluß  war  ungeheuer  groß,  selbst  über  die  Reihen  ihrer 
unmittelbaren  Anhänger  hinaus.  Wenn  ein  chassidischer  Wunder- 
täter, ein  ,,Rebbe"  nahte,  zog  die  ganze  Ortschaft  ihm  feierlich 
entgegen  und  nötigte  den  eigenen  Rabbi,  der  sofort  alle  Ein- 
wirkung verlor,  sich  der  Prozession  anzuschließen.  Der  ,,Rebbe" 
war  während  seiner  Anwesenheit  der  unbedingte  Beherrscher 
der  Stadt.  Die  ganze  Judenheit  derselben  versäumte  sogar  den 
Gottesdienst  in  der  Synagoge,  um  den  Konventikeln  des  Rebbe 
beizuwohnen. 

Und  doch  gab  es  in  dieser  fanatischen,  abergläubigen  Be- 
völkerung zahlreiche  begeisterte,  wenn  auch  meist  heimliche 
Freunde  des  Lichtes,  der  Aufklärung,  nicht  nur  unter  den  Wohl- 
habenden, sondern  auch  unter  den  armen  Jüngern  der  Talmud- 
gelehrsamkeit. Es  war  in  erster  Reihe  Ludwig  Philippsons 
,, Allgemeine  Zeitung  des  Judentums",  die  ,,die  Strahlen  der 
deutsch-israelitischen  Zivilisation  in  die  entferntesten  Winkel 
Rußlands  verbreitete."  — 

Die  letzten  Jahre  der  Regierung  Nikolaus'  I.  waren  haupt- 
sächlich von  den  Sorgen  der  auswärtigen  Politik  erfüllt,  von  diplo- 
matischen Konflikten  mit  der  Türkei,  Frankreich,  England, 
Österreich,  die  schließlich  zu  der  großen  Katastrophe  des  Krim- 
krieges fülirten.  Hier  zeigten  sich  die  traurigsten  Folgen  eines 
geistig  tief  stehenden  Despotismus,  wie  ihn  Nikolaus  geübt  hatte, 


Staatliche  Atifklärungs versuche.  43 

im  hellsten  Lichte:  die  Truppen  waren  schlecht  ausgerüstet 
und  ungenügend  geübt,  unter  den  Beamten  und  Generalen 
herrschten  Unordnung  und  Korruption,  das  Heer  ward  bei 
jedem  Kampfe,  selbst  von  den  verachteten  Türken,  geschlagen. 
Diese  herben  Erfahrungen  bereiteten  dem  stolzen  Selbstherrscher 
den  tiefsten  Kummer  und  untergruben  seine  Gesundheit.  Er 
starb  am  2.  März  (18.  Februar)  1855  und  hinterließ  die  traurige 
Erbschaft  seinem  Sohn  und  Nachfolger  Alexander  II.  Die 
Strafe  der  Geschichte  hatte  sich  an  ihm  spät  aber  gründlich 
vollzogen,  er  hatte  sein  ganzes  Lebenswerk  von  ihr  verurteilt 
sehen  müssen. 


Kapitel  Drei. 

Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I. 


JL)ie  Lage  der  Juden  in  Polen  war  von  der  der  russischen 
Israeliten  von  Grund  aus  verschieden.  Im  eigentlichen  Ruß- 
land waren  die  Juden  Fremde;  sie  waren  überhaupt  erst  seit 
der  Vereinigung  polnischer  Provinzen  mit  dem  Zarenreiche 
unter  die  Zahl  von  dessen  Untertanen  getreten.  Ihr  gesamtes 
Leben  war  gänzlich  von  dem  russischen  abweichend  und  getrennt. 
Anders  in  Polen,  wo  die  Juden  seit  mehr  als  sieben  Jahrhunderten 
ansässig  und  mit  den  Schicksalen  und  Zuständen  des  Landes 
auf  das  engste  verwachsen  waren.  Als  das  eigentliche  Bürger- 
tum, als  die  einzigen  Finanziers,  als  geschäftliche  Vertrauens- 
männer der  Szlachta,  des  Adels,  waren  die  Juden  wichtige  Fak- 
toren des  nationalen  politischen  Lebens  geworden.  Trotzdem 
entsprach  ihre  soziale  Stellung  keineswegs  ihrer  ökonomischen 
Bedeutung.  Der  Dünkel  des  Adels  und  die  kirchliche  Ausschließ- 
lichkeit und  Unduldsamkeit  des  ganzen  Volkes  hatten  ihnen 
vielmehr  drückende  und  kränkende  Ausnahmegesetze  auferlegt 
und  umgaben  ihr  ganzes  Dasein  mit  dem  verpestenden  Dunst- 
kreis antisemitischen  Wesens.  Die  vornehme  Gesellschaft  stand 
völlig  unter  dem  Banne  der  katholischen  Geistlichkeit.  Die 
Bauern  kannten  die  Juden  fast  nur  als  Gutspächter  und  Ab- 
gabenerheber und  verfolgten  sie  deshalb  mit  dem  ganzen  Haße 
des  materiell  Ausgebeuteten  gegen  den  Ausbeuter,  ohne  sich 
zu  erinnern,  daß  der  Jude  nur  im  i^uftrage  und  auf  Geheiß  des 
adligen  Gutsbesitzers  sie  bedrückte.  Wenn  der  Bauer  durch 
die  Habgier  des  Herrn  oder  durch  eigene  Trägheit  und  Lieder- 
lichkeit in  bedrängte  Lage  geriet,  so  schrieb  er  sie  dem  jüdischen 
Blutsauger  und  Wucherer  zu. 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  45 

Die  Gesetzgebung  des  im  Jahre  1815  neu  geschaffenen, 
durch  Personalunion  mit  dem  Zarenreiche  verbundenen  König- 
reiches Polen  war  nicht  duldsamer  als  die  des  alten,  unab- 
hängigen. Das  auf  dem  Landtage  des  Jahres  1825  angenom- 
mene Bürgerliche  Gesetzbuch  bestimmte  im  Paragraphen  16: 
„Die  Juden  können  diejenigen  bürgerlichen  Rechte  genießen, 
von  deren  Anwendung  die  königlichen  Dekrete  sie  nicht  aus- 
schließen." Das  hieß,  daß  die  alten  Vorstellungen  von  der  Gefahr, 
die  die  Juden  angeblich  dem  Lande  bereiteten,  auch  weiter  auf- 
recht erhalten,  daß  die  Juden  von  der  Branntweinfabrikation, 
der  Pachtung  von  Schenken,  dem  Erwerbe  von  ländlichen 
Grundstücken  und  der  Ansiedlung  in  30  Städten  ausge- 
schlossen blieben.  In  31  anderen  Städten,  unter  denen  die 
Hauptstadt  Warschau,  ferner  Lodz,  Lowicz,  Skierniewice  sich 
befanden,  war  ihm  das  Wohnen  in  bestimmten,  vornehmen 
Straßen  verboten.  Freilich  vermochten  Reichtum,  Besitz  und 
Bestechung  in  diese  Ausnahmegesetze  Bresche  zu  legen.  Sonst 
aber  trugen  die  freiheitsdurstigen  und  freiheitsstolzen  Polen 
kein  Bedenken,  die  Juden  zu  Zehntausenden  in  alte  enge 
und  krumme  Gassen  einzupferchen,  wo  überdies  die  Luft 
durch  die  Miasmen  aller  Arten  von  Warenlagern  verpestet 
wurde;  sie  erwogen  nicht,  daß  die  in  dieser  verdorbenen 
Atmosphäre  ausgebrüteten  Krankheiten  sich  auch  auf  die 
benachbarten,  nur  von  Christen  bewohnten  Stadtteile  ver- 
breiten mußten. 

Auch  die  Revolution  des  Jahres  1830  brachte  in  diesen 
traurigen  Verhältnissen  keine  Änderung  hervor.  Die  Freiheits- 
liebe der  Polen  vermochte  den  von  der  Geistlichkeit  genährten 
Judenhaß  nicht  zu  überwinden.  Die  Juden  sahen  sich  mit 
ihren  Anerbietungen  zum  Kampfe  für  das  Vaterland  höhnisch 
zurückgemesen.  Nur  wenige  der  aristokratischen  Führer  des 
Aufstandes  hegten  menschlichere  und  aufgeklärtere  Anschau- 
ungen, wie  Senator  und  General  Graf  Ostrowski  und  General- 
stabschef Czynski.  Der  erstere,  übrigens  ein  eifriger  Katholik, 
schrieb  dem  letzteren:  ,,Wir  sind  die  ersten  Ursachen  der  Unzu- 
friedenheit der  Juden.  Man  hat  deren  Gleichgültigkeit  über- 
trieben. Diejenigen  von  ihnen,  die  unter  meinen  Befehlen 
standen"  —  der  Graf  kommandierte  die  Warschauer  National- 


46  Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I. 

garde  —  „haben  sich  in  untadelhafter  Weise  geführt.  So  viel 
ich  weiß,  hat  nicht  ein  einziger  Warschauer  Jude  sich  des 
Spionierens  schuldig  gemacht;  dagegen  kenne  ich  eine  große 
Anzahl,  die  den  Wunsch  bezeugten,  in  das  aktive  Heer  ein- 
zutreten." 

Dieser  Ausspruch  eines  unabhängigen,  ehrenhaften,  in  hoher 
Stellung  befindlichen  und  mit  den  Dingen  genau  vertrauten 
Militärs  ist  die  beste  Widerlegung  der  Verleumdungen,  die  die 
späteren  polnischen  Geschichtsschreiber  der  Revolution  von 
1830  gegen  die  Juden  auszusprechen  liebten,  um  die  Unduld- 
samkeit ihrer  Mitbürger  zu  beschönigen.  Allerdings  ist  es  wahr 
und  auch  verständlich  genug,  daß  die  von  den  polnischen 
Führern  zurückge^^desenen  Juden  sich  in  ihrer  großen  Mehrheit 
neutral  verhielten.  Haben  doch  die  polnischen  Kämpfer  bei 
den  verschiedensten  Gelegenheiten  die  Juden  unter  der  An- 
schuldigung, daß  diese  den  Russen  als  Spione  dienten,  ge- 
schlagen und  gröblich  mißhandelt.  Die  Russen  ihrerseits  er- 
hoben dieselben  Anklagen  und  hingen  zahlreiche  Juden  ohne 
vorhergehende  Untersuchung  auf  oder  prügelten  sie  mit  ihren 
Peitschen  zu  Tode.  Am  schlimmsten  erging  es  den  Juden  in 
der  Stadt  Lublin,  die,  mehrmals  hintereinander,  bald  von  den 
Russen,  bald  von  den  Aufständischen  eingenommen  wurde. 
Die  Sieger  kühlten  jedesmal  ihr  Mütchen  an  den  Juden,  die 
sich  persönlich  mißhandelt,  ihr  Vermögen  konfisziert,  ihre 
Häuser  niedergebrannt  sahen. 

Ein  besseres  Einverständnis  zwischen  Polen  und  Juden 
schien  sich  durch  Graf  Ostrowski  anzubahnen,  als  dieser  vor- 
urteilslos denkende  Edelmann  zum  Befehlshaber  der  Warschauer 
Nationalgarde  ernannt  worden  war.  Er  veröffentlichte  einen 
Aufruf,  der  den  Juden  eine  glücklichere  Zukunft  verhieß  und 
sie  zu  gemeinsamer  Tätigkeit  für  das  Wohl  des  Vaterlandes 
aufforderte.  Dieser  Appell  an  die  Juden  verhallte  nicht  unge- 
stört: eine  beträchtliche  Anzahl  israelitischer  Jünglinge  trat 
sofort  in  die  Nationalgarde  der  Hauptstadt  ein.  Leider  dauerte 
diese  Episode  nicht  lange:  Ostrowski  verzweifelte  an  der  Mög- 
lichkeit des  Erfolges  des  Aufstandes  und  zog  sich  von  den 
öffentlichen  Angelegenlieiten  zurück.  Seinen  Verheißungen  an 
die  Juden  blieben  also  ohne  Erfüllung. 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  47 

Am  8.  September  1831  ergab  sich  Warschau  dem  russischen 
General  Paskewitsch ;  wenige  Wochen  später  -wurden  die  letzten 
polnischen  Heerhaufen  über  die  österreichische  und  die  preußische 
Grenze  gedrängt  —  der  Aufstand  war  niedergeschlagen  und 
damit  die  Selbständigkeit  Polens  vernichtet,  das  von  dem 
Despotismus,  dem  fanatischen  Russentum  und  der  kalten  Rach- 
sucht Nikolaus'  I.  keinerlei  Schonung  zu  erwarten  hatte.  Er 
hob  die  Verfassung  von  1815  auf  und  setzte  an  ihre  Stelle  das 
„Organische  Statut"  vom  26.  Februar  1832,  das  die  russische 
Gouvernementsverwaltung  einführte  und  alles  nationale  Leben 
unterdrückte.  Die  russische  Bureaukratie  wurde  aucli  in  dem 
bisherigen  Königreiche  Polen  allmächtig  und  verwirklichte  dort 
ihre  so  traurig  bewährten  kultur-  und  bildungsfeindlichen,  jede 
geistige  und  ökonomische  Bewegung  erstickenden  Gepflogen- 
heiten. 

Es  begann  eine  allgemeine  Auswanderung  der  kräftigen 
und  selbstbewußten  Persönlichkeiten  aus  Polen,  die  sich  nach 
London,  Brüssel  und  besonders  Paris  wandten.  Hier  hatte 
der  Führer  der  Aristokraten,  der  ,, Weißen",  Fürst  Adam 
Czartoryski,  der  ,, König",  im  Hotel  Lambert  sein  Haupt- 
quartier aufgeschlagen.  Ihn  klagten  die  Demokraten,  die 
,, Roten"  an,  durch  seine  übergroße  Vorsicht  und  die  Beschränkt- 
heit seiner  Politik  und  Taktik  das  ganze  Unlieil  des  Vaterlandes 
herbeigeführt  zu  haben.  Der  Leiter  der  Roten  war  der  Ge- 
schichtschreiber Joachim  Lelewel,  der  nur  kurze  Zeit  in  Paris 
blieb  und  dann  in  Brüssel  seinen  Wohnsitz  nahm,  einer  der 
schlimmsten  Judenfeinde.  Aber  die  Führung  der  polnischen 
Emigration  und  der  nationalen  Bestrebungen  blieb  doch  dem 
Fürsten  Czartoryski  und  seiner  Umgebung.  Unter  diesen 
kam  allmählich  eine  andere  Auffassung  der  Judenfrage  zur 
Geltung.  Indem  sie  die  Ereignisse  der  Revolutionszeit  von 
höherem,  gewissermaßen  historischem  Standpunkte  aus  betrach- 
teten und  sich  überdies  von  der  vorurteilslosen  Gesinnung  ihrer 
Pariser  Umgebung  unwillkürlich  beeinflussen  ließen,  erkannten 
sie  den  schweren  Fehler,  den  sie  durch  die  Zurückweisung  der 
Millionen  polnischer  und  litauer  Juden  begangen  hatten  — 
einer  Bevölkerung,  die  so  leicht  für  die  Sache  der  Freiheit  zu 
begeistern  gewesen  wäre.    Besonders  Major  Beniowski  trat  in 


48  Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I. 

diesen  Kreisen  in  wärmster  Weise  für  die  Emanzipation  der 
Juden  ein,  nicht  als  Forderung  der  Gerechtigkeit,  sondern  im 
eigensten  Interesse  des  Polentums.  Er  fand  zumal  bei  den 
jüngeren  Elementen  der  Emigration  lebhafte  Zustimmung.  Nur 
Lelewel  widersprach  in  der  schärfsten  Weise.  Es  entspann  sich 
ein  literarisches  Duell  zwischen  Lelewel  und  Beniowski,  der 
endlich  durch  den  Nachweis,  sein  Gegner  sei  ein  Renegat,  der 
selber  von  Juden  stamme  und  nunmehr  seinen  Ursprung  durch 
deren  Beschimpfung  vergessen  machen  wolle,  diesen  zum 
Rückzug  und  zum  Stillschweigen  nötigte.  Die  polnische  Emi- 
gration erließ  darauf  an  die  Juden  einen  offiziellen  Aufruf,  der 
sie  ermahnte,  ihren  christlichen  Landesgenossen  bei  der  Wieder- 
herstellung des  Königreichs  Polen  behilflich  zu  sein.  Aber 
auch  in  diesem  Dokumente,  wo  zum  ersten  Male  die  leitenden 
polnischen  Kreise  amtlich  mit  den  Juden  in  Verhandlungen 
traten,  konnte  man  sich  nicht  dazu  aufraffen,  dieselben  wirk- 
lich als  IMitbürger,  als  Brüder,  als  Söhne  desselben  Vaterlandes 
zu  betrachten.  Die  Juden  blieben  immer  noch  Fremde.  Man 
wandte  sich  an  sie  nicht  als  an  Verteidiger  des  polnischen  Volks- 
und Staatstums,  sondern  man  berief  sich  auf  ihren  eigenen 
innersten  Wunsch,  das  Reich  Palästina  wieder  herzustellen. 
Dazu  würden  die  Polen  ihnen  behilflich  sein,  wenn  die  Juden 
zuvor  sie  bei  der  Wiederaufrichtung  der  Unabhängigkeit  Polens 
unterstützt  hätten !  So  kindisch  auch  diese  Kombination  uns 
erscheint,  sie  machte  damals  einen  bedeutenden  Fortschritt 
aus.  War  doch  noch  nach  den  Ereignissen  von  1830  und  1831 
der  Ton  der  polnischen  Presse  ein  durchaus  antisemitischer 
geblieben,  hatte  doch  selbst  ein  so  erlesener  Geist,  wie  der  große 
nationale  Dichter  Mickiewdcz,  in  seinem  bekannten  ,, Pilger- 
buche" von  ,,der  schmutzigen  Seele  der  Juden",  von  ,, ihrer 
niedrigen  Gesinnung"  gesprochen.  Aber  auch  INIickiewicz 
konnte  sich  in  Paris  der  Überzeugung  nicht  entziehen,  daß 
Polen  der  Hilfe  seiner  jüdischen  Bevölkerung  bedürfe,  und 
verteidigte  sie  sogar  gegenüber  einem  getauften  Juden,  dem 
bei  Czartoryski  sehr  einflußreichen  Klaczko.  Ja,  unter  Füh- 
rung von  Berüowski  und  Czynski,  der  nicht  müde  wurde,  die 
Sache  der  polnischen  Juden  in  der  deutschen  und  französischen 
Presse  zu  verfechten,  wurde  in  Paris  ein  polnisches  ,, Komitee 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  49 

zur  Erlangung  der  Emanzipation  der  Juden"  gebildet,  dessen 
Ehrenvorsitz  der  greise  General  Lafayette  übernahm.  Es  be- 
stand freilich  nicht  lange,  da  Czynski  sich  in  demokratischen 
Umtrieben  nicht  genug  tun  konnte  und  deshalb  von  der 
ängstlichen  Regierung  des  Königs  Ludmg  Philipp  ausge- 
wiesen wTirde;  mit  seinem  Fortgange  erlosch  das  von  ihm 
ins  Leben  gerufene  Komitee.  Er  veröffentlichte  dann  einen 
Roman  ,,Der  Bauernkrieg",  der  sich  auch  mit  der  Juden- 
frage befaßte.  Es  muß  Czynski  besonders  hoch  angerechnet 
werden,  daß  er  nicht  nur  theoretisch,  daß  er  vielmehr  auch 
praktisch  sich  in  judenfreundlichem  Sinne  betätigte,  indem 
er  sich  der  nach  Paris  gekommenen  israelitischen  Emi- 
granten annahm  und  sie  dem  Schutze  des  Fürsten  Czarto- 
ryski  warm  empfahl. 

Die  tiefgehende  politische  und  soziale  Bewegung  übte  auch 
auf  das  innere  Leben  der  polnischen  Judenheit  eine  aufregende 
und  zerrüttende  Wirkung.  Mit  großer  Erwartung  hatte  man 
dem  Ergebnis  der  ersten  Entlassung  von  Zöglingen  des  1826 
begründeten  Warschauer  Rabbinerseminars  entgegen  gesehen, 
des  Stolzes  der  Aufgeklärten  unter  den  polnischen  Israeliten, 
auf  das  auch  die  Regierung  große  Hoffnungen  gesetzt  hatte. 
Unglücklicherweise  fiel  jene  in  das  Jahr  1831,  und  die  Prüflinge 
wandten  sich  allen  möglichen  Bestrebungen  zu,  nur  nicht  dem 
Berufe,  für  den  sie  bestimmt  gewesen.  Freilich  war  dieses  Er- 
gebnis auch  die  Folge  der  ungeordneten,  dilettantenhaften  Art, 
in  der  das  Lehrprogramm  des  Seminars  aufgestellt  worden  war : 
man  hatte  hier  eine  theologische  Akademie,  eine  Lehrerbildungs- 
anstalt und  ein  Gymnasium  in  eins  verbunden,  und  selbstver- 
ständlich hatte  die  Zusammenschweißung  so  verschiedener  Auf- 
gaben in  die  Schüler  eine  große  Unsicherheit  und  Zerfahrenheit 
gebracht.  Der  erste  Direktor,  Eisenbaum,  der  diese  Stellung 
fünfundzwanzig  Jahre  hindurch  bekleidete  und  sich  übrigens 
große  Verdienste  um  die  Organisation  und  äußere  Leitung  des 
Seminars  erwarb,  war  Laie  in  der  Wissenschaft  des  Judentums 
und  dabei  eifriger  Anhänger  und  Verfechter  der  westeuropäischen 
Kultur.  Als  solcher  führte  er  einen  unausgesetzten  Kampf  mit 
der  Orthodoxie  der  jüdischen  Masse,  einen  Krieg,  bei  dem  er 
mit  rücksichtsloser  und  verletzender  Schärfe  vorging.    Er  be- 

Philippson,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  * 


50  Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I. 

ging  unter  anderem  den  Mißgriff,  die  Zöglinge  seiner  Anstalt 
in  eine  Kleidung  zu  stecken,  die  der  der  katholischen  Semi- 
naristen glich  —  was  ihn  und  das  Seminar  in  den  Verdacht  der 
Verleitung  zum  Abfalle  brachte.    Die  Orthodoxen  haßten  des- 
halb ihn  und  seine  Anstalt  auf  das  bitterste  und  brachten  ihre 
Klagen  wiederholt  an  die  Regierung.    Sein  Nachfolger  wurde 
1852  sein  langjähriger   Gegner,   Tugendhold,   ein  bedeutender 
jüdischer  Gelehrter,  der  auch  in  deutscher  Sprache  ein  Buch 
gegen  ,,den  alten  Wahn  über  den  Blutgebrauch  der  Israeliten" 
(Berlin    1856)    geschrieben   hatte.     Ebenso    hervorragend    war 
Tugendhold  als  Organisator  und  Pädagog,  als  welcher  er  sich 
in  der  Begründung  und  Leitung  der  ersten  von  der  Regierung 
in  Warschau  gestifteten  jüdischen  Elementarschule,  einer  zehn- 
klassigen  Anstalt,  bewährt  hatte.    Merkwürdigerweise  änderte 
Tugendhold,   als   er  endlich   den  lange   ersehnten   Posten   des 
Seminar direktors  erlangt  hatte,  wenig  an  dem  von  ihm  so  bitter 
kritisierten  allgemeinen  Charakter  der  Anstalt.    Allein  er  ver- 
besserte deren  innere  Organisation  in  rationeller  Weise,  indem 
er  die  drei  verschiedenen  Zwecke  der  Anstalt  besser  auseinander 
hielt.     Er   behandelte   die    allgemeine    Bildung   in   einem   ein- 
jährigem, grundlegenden  Kursus;  daran  fügten  sich  einerseits 
ein  einjähriger  Kursus  für  Lehrer  und  andernteils  ein  zwei- 
jähriger für   Rabbiner.     Damit   wurde   die   allgemeine   Unter- 
weisung geschlossener  und  vollständiger,  wurde  dann  dem  weiter- 
strebenden Schüler  die  Wahl  des  Berufes  freigestellt.  Allerdings, 
wirksam  und  befruchtend  ist  nur  der  allgemeine  Bildung  ge- 
währende Grundkursus  geworden.  Man  kann  ohne  Übertreibung 
sagen,  daß  keine  gebildete  Familie  in  Warschau  ohne  Mitglie- 
der gewesen  ist,   die  ihre  Kenntnisse,   ihr  Streben  nach  Auf- 
klärung und  Fortschritt,  ihre  gesellschaftliche  Stellung  mittel- 
bar oder  unmittelbar    der  Rabbinerschule  verdankten.       Die 
Zahl  ihrer  Zöglinge  betrug  im  Jahre  1853:  einhundertundzehn. 
Nur  eines  hat  diese  nicht  erreicht:  während  der  ganzen  sechs- 
unddreißig  Jahre  ihres  Bestehens  ist  kein  einziger  Rabbiner 
aus  ihr  hervorgegangen.   Die  Schuld  an  dieser  auffallenden  Tat- 
sache liegt  indes  weniger  an  dem  Rabbinerseminar  als  an  dem 
Unabhängigkeitsdrange  der  jüdischen   Gemeinden,   die  keinen 
von   der   Regierung   ihnen   aufgedrängten,   sondern   nur   einen 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  51 

Rabbiner  ihrer  eigenen  freien  Wahl  haben  wollten.  In  den 
jüdischen  Gemeinden  des  Ostens  ist  der  Rabbiner  eben  kein 
Beamter,  sondern  der  Vertrauensmann,  der  durch  die  Ge- 
meindemitglieder als  solcher  erkoren  und  aufrecht  erhalten 
wird.  Deshalb  hat  im  eigentlichen  Rußland,  wo  die  Regierung 
den  Gemeinden  einen  Kronsrabbiner  aufdrängte,  dieser  niemals 
Einfluß  gewonnen,  in  Polen  aber,  wo  sie  sich  nicht  direkt  in 
die  Gemeindeverhältnisse  einmischte,  der  auf  der  Regierungs- 
schule gebildete  Rabbiner  überhaupt  keine  amtliche  An- 
stellung gefunden.  Das  Mißtrauen,  das  die  Juden  allem  ent- 
gegenbrachten, was  von  den  ihnen  feindlichen  Staatsbehörden 
ausging,  war  eben  unüberwindlich. 

Es  war  in  der  Tat  nicht  verwunderlich,  daß  die  Juden 
jede  angebliche  Bildungsförderung  der  Regierung  mit  Entsetzen 
und  Trauer  aufnahmen,  denn  sie  bedeutete  für  die  armen  darben- 
den, von  der  Hand  in  den  Mund  lebenden  Menschen  immer 
neue  Belastung.  Für  die  erst  noch  zu  errichtenden  Elementar- 
schulen wurden  1844  die  Beträge  nicht  etwa  dem  allgemeinen 
Staatssäckel  entnommen,  sondern  in  Gestalt  einer  Korb-  und 
Lichtsteuer  den  ohnehin  schon  schwer  geplagten  Juden  auf- 
erlegt. Im  Jahre  1853  gab  es  zu  Warschau  unter  116  Schulen 
aller  Art  vier  jüdische  Elementarknabenschulen  und  eine  Mäd- 
chenschule. Aber  sie  waren  schwach  besucht:  die  ersteren 
zählten  zusammen  nur  238,  die  Mädchenschule  nur  96  Zög- 
linge. Und  das  bei  einer  jüdischen  Bevölkerung  von  mehr  als 
hunderttausend  Seelen !  Jedenfalls  mußte  man  für  diese 
Schulen  auch  jüdische  Lehrer  haben.  So  war  1844  den  pol- 
nischen Israeliten,  die  Gymnasialbildung  besaßen,  der  Besuch 
russischer  Universitäten,  der  ihnen  bisher  untersagt  gewesen, 
gestattet  worden;  sie  durften  ebenfalls  die  Lehrerprüfung  be- 
stehen und  dann  jüdische  Kinder  auch  in  anderen  Fächern  als 
in  der  Religion  unterrichten.  Damit  aber  die  Bildung  der  Juden 
sich  nicht  allzu  sehr  entmckele,  legte  die  Regierung  auf  alle 
jüdischen  Bücher,  die  inländischen  ebensowohl  wie  die  aus- 
ländischen, einen  hohen  Zoll  —  eine  neue  Bedrückung  der 
Armen  gerade  in  dem,  was  ihnen  das  Heiligste  war  und  den 
einzigen  Trost  in  ihrem  Unglück  bedeutete.  Und  da  sollten  sie 
in  der  Regierung  etwas  anderes  sehen  als  ihre  unbarmherzige, 

4* 


52  Das  Judentum  in  Polen  luiter  Nikolaus  I. 

stets  auf  neue  Bedrückungen,  Ausbeutungen  und  Demütigungen 
ausgehende  Feindin ! 

Einige  Jahre  nach  Unterdrückung  des  Aufstandes  —  1837  — 
wurde  die  in  Polen  bestehende  ,,Altgläubigen-Kommission", 
das  heißt  die  Zentralkommission  für  Judensachen,  aufgelöst 
und  die  Entscheidung  aller  die  polnischen  Israeliten  betreffenden 
Angelegenlieiten  der  ,, Kommission  zur  Ausarbeitung  der  Gesetz- 
gebung" in  St.  Petersburg  übertragen.  Diese  faßte  dann  Be- 
schlüsse, die  ganz  der  Gesinnung  Nikolaus'  I.  würdig  waren. 
Zunächst  schloß  sie  die  polnischen  Israeliten  von  allen  Arten 
öffentlicher  Ämter  aus,  und  zwar  mit  der  tiefsinnigen  Begrün- 
dung, daß  sie  ja  den  von  allenBeamten  abzulegenden  christlichen 
Eid  nicht  leisten  könnten,  daß  man  aber  einem  jüdischen  Eide 
keinen  Glauben  schenken  dürfe.  Ebenso  untersagte  man  ihnen 
die  Berufe  des  Rechtsanwalts,  Apothekers  und  Architekten,  um 
ihnen  merk-w^rdigerweise  den  des  Arztes  zu  gestatten.  Selbst- 
verständlich ward  dieser  Erwerbszweig  bald  von  Juden  über- 
füllt. Wenn  man  ihnen  den  Betrieb  des  Handels  und  des  Hand- 
werks erlaubte,  so  wurde  doch  auch  er  wesentlich  eingeschränkt. 
Unter  anderem  war  es  ihnen  verboten,  Spirituosen  zu  fabrizieren 
oder  zu  verkaufen.  Wenn  man  ihnen  später  (1844)  das  Schank- 
recht  in  den  Städten  —  nicht  in  den  Dörfern  und  Flecken  — 
einräumte,  so  geschah  es  unter  der  Bedingung,  daß  diese  Er- 
laubnis jedes  Jahr  bestätigt  werden  müsse.  Wirklich  wurde 
ihnen  im  Juni  1850  jeder  Einzelverkauf  geistiger  Getränke  in 
Schenken  oder  im  Handel  wiederum  verboten,  nur  der  Engros- 
handel blieb  ihnen  gestattet,  von  einer  Tonne  aufwärts.  So 
willkürlich  schaltete  die  Regierung  mit  dem  Broterwerb  auch 
der  polnischen  Israeliten !  Die  jüdischen  Handwerker  waren 
von  den  Zünften  ausgeschlossen.  Und  doch  gab  es  Handwerke, 
die  fast  gänzlich  in  den  Händen  der  Juden  lagen,  \\ie  die  der 
Glaser,  Klempner,  Schuhmacher  und  Schneider.  Die  Juden 
hatten  außer  den  allgemeinen  Steuern  und  Abgaben  noch  be- 
sondere zu  entrichten,  wie  die  Billett-  und  Koscherfleisch-,  die 
Licht-  und  die  Korbsteuer.  Während  die  Schulen  der  Griechisch- 
Unierten  und  der  Evangelischen  aus  den  staatlichen  Fonds 
bezahlt  "v^-urden,  mußten  die  Juden  ihre  Staatsschulen  selber 
unterhalten.   Was  aber  die  Juden  besonders  schmerzte  und  von 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  53 

ihnen  als  tiefste,  unverdiente  Demütigung  bitter  empfunden 
wurde,  war  das  Gesetz,  das  ihnen  verbot,  gegen  Christen  in 
Kriminalsachen  und  in  notariellen  Akten  als  Zeugen  aufzu- 
treten; auch  durften  sie  die  Vormundschaft  über  christliche 
Kinder  nicht  übernehmen.  Ein  weiterer  Akt  der  Feindseligkeit 
gegen  das  Judentum  war  die  besondere  Gunst,  deren  sich  ge- 
taufte Juden  seitens  der  Regierung  erfreuten,  wozu  gehörte, 
daß  sie  vom  Militärdienste  befreit  waren  —  eine  Bevorzugung, 
die  erst  im  Jahre  1870  ihnen  genommen  worden  ist.  So  wurde 
der  Jude  grundsätzlich  als  ein  Mensch  niederer  Ordnung  be- 
handelt und  nur  mit  Unmllen  geduldet,  da  man  ihn  nicht  ge- 
radezu ausrotten  konnte.  Es  ist  wahrlich  nichts  Geringes,  daß 
die  polnische  Judenheit  dieser  systematischen  Herabsetzung 
und  Bedrückung  Widerstand  geleistet  und  sich,  trotz  einzelner 
Abtrünniger,  doch  im  ganzen  fest  und  unerschütterlich  be- 
hauptet hat. 

Die  Angelegenheiten  der  jüdischen  Gemeinde  Avurden  in 
Polen  durch  den  sogenannten  Gebethausvorstand  geleitet,  der 
später  den  Namen  Jüdische  Gemeindeverwaltung  erhielt. 
Während  also  im  eigentlichen  Rußland  diese  von  den  Staats- 
behörden an  sich  gerissen  war,  bewahrte  sie  in  Polen  den 
Charakter  der  Selbständigkeit.  Sie  bestand  aus  einem  Rabbiner 
und  drei,  in  je  drei  Jahren  neu  zu  wählenden  Gemeindemit- 
gliedern. Es  geschah  zumal  in  der  Warschauer  Gemeinde 
manches  Gute  und  Nützliche:  so  1840  die  sehr  notwendige 
Gründung  einer  ,, Handwerker  schule  für  unvermögende  Juden". 
Allein  im  ganzen  Tvoirde  die  öffentliche  Tätigkeit  durch  die 
stete  Fehde  zwischen  den  Aufklärern  und  den  Orthodoxen 
brach  gelegt,  die  unausgesetzt  wütete  und  die  besten  Kräfte 
in  unfruchtbarster  Weise   aufbrauchte. 

Das  Bild  des  jüdischen  Lebens  in  Polen  würde  unvoll- 
ständig bleiben  ohne  Anführung  der  Ackerbaukolonien,  die  sich 
von  jeher  der  Gunst  und  Förderung  seitens  der  polnischen  und 
später  der  russischen  Regierung  erfreut  haben.  Schon  unter 
dem  letzten  nationalen  König  Stanislaus  Poniatowski  wurde 
eine  solche  Kolonie,  Pschikalety,  gegründet.  Die  Konstitution 
des  Jahres  1775  traf  dann  die  grundsätzliche  Verfügung,  daß 
die  Juden  im  ganzen  Reiche  sich  auf  königlichen  und  kirch- 


54:  Das  Judentum  in  Polen  tmter  Nikolaus  I. 

liehen  Grundstücken  ansiedeln  dürften,  wobei  ihnen  der  Boden 
zu  ewigem  Besitztum  überlassen  und  auf  drei  bis  sechs  Jahre 
Steuerfreiheit  bewilligt  wurde.  In  Übereinstimmung  hiermit 
erließ  der  Statthalter  für  das  Königreich  Polen  1823  ein  Gesetz, 
wonach  die  Juden  behufs  des  Ackerbaues  Grundstücke  in  Erb- 
pacht nehmen  dürften,  mit  unbeschränkter  Steuerfreiheit.  Alle 
diese  Begünstigungen  blieben  leider  ohne  erwähnenswerten  Er- 
folg —  die  Juden  konnten  sich  zu  der  ihnen  ungewohnten  Land- 
arbeit nicht  entschließen.  Hochherzige  Glaubensgenossen 
suchten  durch  eigene  Initiative  und  durch  Wohltätigkeit  dem 
Mangel  abzuhelfen:  so  siedelte  Leib  Sper  jüdische  Familien 
auf  von  ihm  gepachteten  Boden  an,  so  S.  Posner  31  Familien 
auf  seinem  Gute  Kuchary.  Indes  größeren  Umfang  nahm  die 
Kolonisation  erst  durch  den  Ukas  vom  Jahre  1843  an,  der  den 
Juden  freistellte,  sich  auf  den  dem  Staate  gehörenden  Grund- 
stücken niederzulassen  und  denjenigen,  die  dort  wirklich  Acker- 
bau trieben,  Militärfreiheit  gewährte.  Freilich  waren  daran, 
wie  immer  in  Rußland,  gewichtige  Bedingungen  geknüpft :  jede 
jüdische  Familie  erhielt  nur  so  viel  Land,  wie  sie  selber  zu  be- 
bauen vermochte,  im  Verhältnis  zu  den  Geldmitteln,  die  sie 
ihrer  Wirtschaft  zu  widmen  imstande  war;  auch  durften  die 
Kolonisten  ihre  Anteile  in  keiner  Weise  parzellieren  oder  ver- 
äußern, und  ebensowenig  andere  Gehilfen  als  aus  ihren  Glaubens- 
genossen anstellen  oder  beschäftigen.  Wenn  die  Kolonien  aus 
mindestens  vierzig  Seelen  bestanden,  lief  die  Militärfreiheit 
fünfzig  Jahre;  w^enn  aus  mindestens  zwanzig,  fünfundzwanzig 
Jahre.  Vorzüghch  diese  Aussicht  auf  Befreiung  von  der  im  da- 
maligen Rußland  so  furchtbaren  und  für  die  Israeliten  noch  be- 
sonders schweren  Last  des  Soldatentums  bewog  eine  Anzahl 
von  Juden,  sich  dem  Ackerbau  zu  widmen.  Um  das  Jahr  1860 
enthielten  die  jüdischen  Ackerbaukolonien  345  Familien  mit 
1927  Seelen  —  allerdings  eine  verhältnismäßig  recht  geringe 
Menge,  die  an  der  allgemeinen  sozialen  und  ökonomischen 
Lage  der  polnischen  Judenlieit  nichts  Wesentliches  zu  ändern 
vermochte. 

So  sah  es  mit  dem  jüdischen  Leben  in  Polen  unter  Nikolaus  I. 
aus  —  leider  auch  mit  mehr  Schatten-  als  Lichtseiten.  Unter 
der  schweren  Last  der  Unduldsamkeit  der  christlichen  Bevölke- 


Das  Judentum  in  Polen  unter  Nikolaus  I.  55 

rung,  unter  steten  Bedrückungen  und  Demütigungen  seitens 
der  Regierung,  unter  dem  Vorherrschen  eines  dumpfen  Fana- 
tismus und  einer  durch  das  Mißtrauen  gegen  jede  reformatorische 
Maßregel  gewährten  Bildungsfeindschaft  vegetiert  diese  Masse 
dahin,  immer  mehr  körperlicher  und  auch  seelischer  Depression 
verfallend. 

Da  trat  die  Regierung  Alexanders  II.  ein,  Licht  und  Wärme 
verbreitend,  der  trüben  Vergangenheit  eine  hellere  Zukunft 
entgegenstellend.  Sie  regte  auch  die  Juden  Polens  zur  Tätig- 
keit, Bewegung,  Fortschritt  an;  sie  eröffnete  auch  für  diese 
eine  neue  Ära. 


Neuntes  Buch. 

Alexander  II.  der  Befreier. 


Kapitel  Eins. 

Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung 
Alexanders  11. 


J\.\s  Alexander  II.  den  russischen  Thron  bestieg,  stand  er 
in  der  Vollkraft  des  Lebens;  er  zählte  siebenunddreißig  Jahre. 
Er  bedurfte  großer  Stärke  des  Charakters  und  der  Intelligenz, 
um  die  schlimmen  Folgen  des  väterlichen  Regimentes  zu  be- 
seitigen, das  im  Inneren  einen  völligen  Verfall  des  Staates,  des 
Beamtentums,  des  Wohlstandes,  nach  außen  die  schlimmste 
Demütigung,  den  Sturz  von  der  erträumten  Höhe  gezeitigt  hatte. 

Nun  fehlte  es  Alexander  weder  an  der  Einsicht  in  die  Ur- 
sachen, die  jene  traurigen  Ergebnisse  herbeigeführt  hatten, 
noch  an  dem  aufrichtigen  Willen,  ihnen  abzuhelfen.  Was  ihm 
mangelte,  war  die  Schärfe  des  Denkens  und  die  unbeugsame 
Kraft  des  zielbewußten  Willens. 

Der  Zar  hatte  in  seiner  Jugend  die  Unterweisung  und  die 
Anregungen  des  edlen  und  frei  denkenden  Dichters  Schukowski 
erfahren;  auf  zahlreichen  Reisen  hatte  er  seinen  Gesichtskreis 
erweitert,  die  Leiden  des  russischen  Volkes  und  die  üblen  Wir- 
kungen des  Nikolaischen  Zwangssystems  kennen  gelernt.  So 
war  er  im  Verhältnis  zu  seiner  Zeit  und  seinen  Umgebungen 
ein  wahrhaft  liberaler  Fürst  geworden,  der  es  zu  seiner  Aufgabe 
machte,  sein  weites  Reich  zum  besseren  umzugestalten,  ihm 
Leben  und  Bewegung  zu  verleihen,  die  Übel  des  russischen 
Staates  und  Wesens  an  der  Wurzel  zu  fassen  und  durch  an- 
gemessene Reformen  zu  beseitigen.  Aufrichtig  fromm,  hegte  er 
doch  starke  Abneigung  gegen  den  ,, Pfaffenzopf",  die  kirchliche 
Unduldsamkeit.  Er  war  ein  gemütvoller,  wohlwollender,  nach 
innen  gerichteter  Mensch  —  aber  nicht  in  sich  gefestigt,  viel- 
mehr allen  inneren  und  äußeren  Affekten  und  augenblicklichen 


60         Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

Anregungen  zugänglich.  So  gab  es  bei  ihm  keine  Bürgschaft 
für  eine  dauernde  konsequente  durchgreifende  Ausführung 
der  von  ihm  als  richtig  und  notwendig  erkannten  Reformen. 
Alexander  II.  war  auf  die  Länge  der  ungeheuren  Last,  mit  der 
Rußland  auf  ihn  drückte,  nicht  gewachsen. 

Zunächst  ging  er  mit  frischem  Wollen  an  das  Werk  der 
grundstürzenden  Umänderungen.  ,,Die  Revolutionen  von  oben", 
sagte  er,  ,,sind  fester  und  dauerhafter  als  die  von  unten".  Er 
gedachte,  die  Zustände  seines  Reiches  den  in  Westeuropa  und 
zumal  im  damaligen  Frankreich  herrschenden  nachzubilden. 
Er  verminderte  sogleich  nach  seiner  Thronbesteigung  und  nach 
dem  Abschlüsse  des  Pariser  Friedens  das  Heer,  so  daß  zwei- 
malhunderttausend  Soldaten  dem  bürgerlichen  Leben  zurück- 
gegeben wurden,  befreite  sein  Volk  auf  vier  Jahre  von  der 
Rekrutierung,  erließ  24  Millionen  Steuerrückstände,  erteilte 
eine  Amnestie  für  die  wegen  des  Aufstandes  von  1825  Ver- 
urteilten, milderte  die  Strenge  der  Zensurvorschriften,  so  daß 
eine  russische  Presse  sich  entwickeln  konnte,  und  förderte  das 
tief  daniederliegende  Volksschulwesen.  Er  ließ  zahlreiche 
Eisenbahnen  bauen,  nicht  nach  der  Schnur,  wie  sein  Vorgänger, 
sondern  mit  sorgfältiger  Berücksichtigung  der  wichtigeren 
Städte.  Die  Anlage  dieser  Bahnen,  für  die  man  der  Ingenieure, 
Eisen-,  Waggon-  und  ähnlicher  Manufakturen  bedurfte,  rief 
eine  große  materielle  und  geistige  Bewegung  hervor.  Sein 
größtes  Verdienst  aber  war  die,  im  Gegensatze  zu  Adel  und 
Beamtentum,  im  Jahre  1861  durchgeführte  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  der  Bauern;  23  Millionen  Menschen  wurden  so 
mit  einem  Schlage  aus  Sklaven  zu  Freien  gemacht  —  eine 
herrliche  Tat,  die  ihresgleichen  nicht  in  der  Weltgeschichte 
besitzt,  und  die  allein  genügen  würde,  um  diesem  Herrscher 
die  ewige  Dankbarkeit  der  ]Menschheit  zu  sichern.  Dann  kamen 
weitere  freiheitliche  Maßregeln:  1862  die  regelmäßige  Veröffent- 
lichung des  bisher  sorgsam  geheim  gehaltenen  Reichsbudgets, 
das  seitdem  der  öffentlichen  Kritik  unterlag;  1864  und  1870 
die  gründliche  und  volkstümliche  Reform  der  Rechtspflege. 
Die  richterliche  Gewalt  wurde  von  der  Verwaltung  vöUig  ge- 
trennt und  unabhängig  gestellt.  Der  Zar  führte  Friedensrichter 
und  für  die  Kriminalfälle  Geschworenengerichte  ein  mit  öffent- 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  61 

lichem  Verfahren  und  mündlicher  Verhandlung  —  ein  unge- 
heuerer Fortschritt  gegenüber  der  bisherigen  Willkür  nach  unten 
tyrannischer,  nach  oben  durchaus  abhängiger  Beamten.  Auch 
die  lokale  Selbstverwaltung  erhielt  ihren  Anteil.  Das  Gesetz 
schuf  freie  städtische  und,  in  den  Kreistagen,  ländliche  Selbst- 
verwaltungskörperschaften. Darüber  standen  die  Provinzial- 
semstwos,  die  aus  Delegierten  der  Kreistage  sowie  den  Ver- 
tretern der  Großgrundbesitzer,  der  Bürger  und  Bauern  sich 
zusammensetzen ;  freilich  galten  diese  freiheitlichen  Institutionen 
nur  für  das  eigentliche  Rußland,  die  großrussischen  Gouverne- 
ments. 

Die  nationalistische  und  unduldsame  Politik  Nikolaus'  I. 
ward  bewußt  verlassen.  Bei  dem  Eingehen  gemischter  Ehen 
fiel  das  bisher  obligatorische  schriftliche  Versprechen,  die  Kinder 
in  dem  griechischen  Bekenntnis  zu  erziehen,  fort.  Ebenso  das 
Verbot  an  lutherische  Prediger,  Rücktritte  von  bekehrten 
Lutheranern  zu  ihrem  früheren  Glauben  anzunehmen;  die 
deshalb  verurteilten  Prediger  wurden  amnestiert. 

Die  allgemeinen  Reformen,  die  Alexander  II.  einführte, 
mußten  selbstverständlich  auch  auf  die  Lage  der  russischen 
Juden  einen  günstigen  Einfluß  ausüben.  Der  Zar  wandte  diesem 
Teile  der  Bevölkerung  sogar  sein  besonderes  Augenmerk  zu, 
da  er  dessen  Bedeutung  für  die  gesamten  Zustände  seines  Reiches 
sehr  Avohl  erkannte.  Freilich  eine  Gleichstellung  der  Juden 
beabsichtigte  er  zunächst  nicht.  Auch  er  befand  sich,  der  An- 
schauungen selbst  der  Liberalen  unter  den  damaligen  Russen 
entsprechend,  in  dem  verhängnisvollen  Irrtume,  man  müsse 
die  Juden  zuerst  aufklären  und  geistig  und  moralisch  heben, 
ehe  man  ihnen  dieselben  Rechte  verleihen  dürfe,  wie  den  übrigen 
Staatsbürgern.  Sein  Minister  des  Innern,  Graf  Lanskoi,  stellte 
als  Ziel  hin,  daß  die  russischen  Israeliten  sich,  wie  in  West- 
europa und  zumal  in  Frankreich,  in  Sitten  und  Gewohnlieiten 
der  anderen  Bevölkerung  völlig  assimilieren  müßten,  Avie  denn 
in  Frankreich  die  Bezeichnung  ,,Jude"  verschwunden  sei  und 
man  dort  nur  von  ,, Franzosen  jüdischen  Glaubens"  spreche. 
Der  Minister  vergaß,  ebenso  wie  der  Zar,  daß  diese  Anpassung 
der  Juden  an  die  übrigen  Franzosen  nicht  die  Ursache,  sondern 
die  Folge  ihrer  gänzlichen  Emanzipation  gewesen  war ! 


62         Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

Sonst  begannen  bald  nach  dem  Ende  des  Krimkrieges  die 
Verbesserungen  in  der  Lage  der  Juden.  Alexander  II.  ernannte 
einen  feingebildeten  Staatsmann,  der  früher  Gesandter  in  Paris 
gewesen  war  und  dort  die  westeuropäische  Zivilisation  gründ- 
lich kennen  gelernt  hatte ,  den  Grafen  Nikolai  Kisselew ,  zum 
Vorsitzenden  der  ,, Kommission  zur  Organisierung  des  Juden- 
wesens", die  man  kurz  als  ,, Judenkommission"  bezeichnete. 
Kisselew  erstattete  1856  dem  Kaiser  einen  Bericht,  der  hervor- 
hob, daß  dem  schon  von  Nikolaus  angestrebten  Ziele  der  An- 
passung der  Juden  an  die  russische  Bevölkerung  nichts  mehr  im 
Wege  stehe,  als  die  zahllosen  Ausnahmegesetze,  die  häufig  mit- 
einander in  Widerspruch  sich  befänden  und  zu  zahllosen  Mißver- 
ständnissen und  Mißbräuchen  Anlaß  gäben.  Die  Presse  forderte 
nachdrücklich  die  Errettung  der  Juden  aus  ihrer  gedrückten 
Lage.  Als  eine  Zeitung,  die  ,,Illustrazya",  die  russischen  Israe- 
liten heimtückisch  angriff,  veröffentlichten  die  angesehensten 
russischen  Schriftsteller  einen  lebhaften  Protest  gegen  ,, diese 
empörende  Tatsache",  im  Namen  ,, aller  gebildeten  Christen". 
Zu  den  Unterzeichnern  gehörten  auch  Aksakow  und  Katkow, 
die  später  aus  nationalistischen  Rücksichten  grundsätzliche 
Gegner  der  Juden  geworden  sind. 

Der  Zar  entsprach  lediglich  den  Gesichtspunkten,  die  Kis- 
selew aufgestellt  hatte.  Er  befahl  der  Kommission,  ,,alle  die 
die  Juden  betreffenden  Bestimmungen  einer  neuen  Sichtung 
zu  unterwerfen,  damit  sie  der  allgemeinen  Absicht  der  Assimi- 
lierung dieses  Volkes  mit  den  Ureinwohnern  entsprächen,  soweit 
der  moralische  Zustand  dieses  Volkes  es  erlaube."  Hierunter 
verstanden  der  Zar  und  seine  Ratgeber  den  vermeintlichen 
religiösen  Fanatismus  der  Juden  und  ihre  angebliche  ökono- 
mische   Schädigung   der   christlichen   Bevölkerung. 

Auf  diese  Weise  waren  aber  von  vornherein  der  Tätigkeit 
der  Kommission  enge  Grenzen  gezogen;  es  konnte  sich  nicht 
um  eine  umfassende  Reform,  sondern  nur  um  einzelne  Ver- 
besserungen für  das  Leben  der  Juden  handeln.  Als  der  General- 
gouverneur von  Neu-(Süd-)Rußland,  Stroganow,  in  einem 
Berichte  an  den  Minister  des  Innern,  Lanskoi,  für  die  Not- 
wendigkeit einer  völligen  Emanzipation  der  Juden  eintrat  und 
sich  dabei  mit  Recht  auf  das  schlagende  Beispiel  von  West- 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.         63 

europa  berief,  wurde  sein  Vorschlag  von  der  Judenkommission 
zurückgewiesen  (1859).  Diese  Gleichstellung  mit  der  übrigen 
Bevölkerung,  ermderte  sie,  könne  nur  allmählich  geschehen, 
in  dem  Maße,  wie  die  echte  Aufklärung  bei  den  Hebräern  Platz 
greife,  ihr  inneres  Leben  umgestalte  und  ihre  Tätigkeit  auf 
nützliche  Berufe  lenke;  und  der  Kaiser  schrieb  eigenhändig  an 
den  Rand:  ,, Vollständig  richtig". 

Es  war  im  Grunde  dasselbe  verhängnisvolle  Mißverständnis, 
das  schon  unter  Nikolaus  I.  vorgewaltet  hatte:  daß  man  eine 
unterdrückte  und  mißhandelte  Volksklasse  durch  Zwang  zur 
inneren  Freiheit  erziehen  könne.  Nur  der  wahrhaft  Freie  kann 
die  Tugenden  der  Freiheit  erlernen. 

Immerhin  gab  es  den  Unterschied,  daß  Alexander  II., 
Kisselew  und  Lanskoi  keine  finsteren  Despoten  waren,  wie 
Nikolaus  I.,  sondern  wohlwollende  und  gütig  empfindende 
Menschen.  Und  so  besserte  sich  doch  die  Lage  der  Juden  in 
wichtigen  Einzelheiten. 

Tief  einschneidend  waren  zunächst  die  Änderungen  in  dem 
Rekrutierungswesen,  durch  das  Nikolaus  I.  die  Juden  in  aus- 
gesucht grausamer,  unmenschlicher  Weise  gepeinigt  hatte. 
Man  hatte,  wie  erwähnt,  anstatt  7  auf  1000  Seelen  bei  den 
Christen,  bei  den  Juden  10  auf  1000  ausgehoben,  auch  nicht 
aller  zwei  Jahre  wie  bei  jenen,  sondern  jedes  Jahr.  Unmündige 
Juden  waren  zu  Soldaten  genommen,  was  bei  den  Christen 
nicht  geschah.  Für  nicht  einlaufende  Steuern  wurden  von  den 
Juden  überzählige  Rekruten  eingezogen.  Für  jeden  fehlenden 
jüdischen  Militärpflichtigen  A\Tirden  drei  in  das  Heer  gesteckt. 
Die  Juden  konnten  normalerweise  eine  so  hochgeschraubte  Zahl 
von  Rekruten  gar  nicht  liefern  und  stellten  dafür  häufig  Kinder 
und  Krüppel.  Um  diesem  Mißstande  abzuhelfen,  hatte  Niko- 
laus ein  neues  Gesetz  erlassen,  wonach  es  den  Juden  erlaubt 
wurde,  als  Ersatz  sogenannte  ,, Gefangene"  zu  stellen,  das  heißt 
ohne  Paß  lebende  Glaubensgenossen.  So  bildete  sich  in  jener 
Zeit  eine  besondere  Kategorie  von  Juden,  die  sogenannten 
„Fänger",  die  sich  damit  beschäftigten,  die  des  Passes  ent- 
behrenden Israeliten  aufzuspüren  und  so  lange  zu  jagen,  bis  sie 
solche  aufgriffen  und  für  gewichtige  Belohnung  an  die  Interes- 
sierten  ablieferten.     Außerdem   wurde   es    den   jüdischen    Ge- 


64  Verheißvings voller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

meinden  gestattet,  diejenigen  ihrer  Mitglieder,  die  sie  für  „laster- 
haft" hielten,  ohne  jedes  gerichtliche  Verfahren  zur  Rekrutierung 
abzuschieben;  hierfür  bekamen  sie  oft  noch    eine    Belohnung 
bis   zu    150   Rubel  für   den  Mann.    Dieses  ganze  System,   für 
das  Heer    selbst   schädhch    und  entehrend,   mußte    selbstver- 
ständlich auf   die   Juden    eine  äußerst    demoralisierende  Wir- 
kung   ausüben,     Niedrigkeit    der    Gesinnung,    Denunzianten- 
tum,   Gewaltsamkeit,    Selbstsucht    hervorbringen    und    ent- 
%A'ickeln.     Zumal   die    Vorsteher    der    Gemeinden,    meist    ver- 
mögende und  einflußreiche  Männer,  mißbrauchten  ihre  Macht, 
um  ihre  Verwandten,  Freunde  und  Klienten  durch  den  Fang 
solcher  Ersatzleute  vor  demjenigen,  was  mit  Recht  von  den 
Juden  als  das  schrecklichste  Übel  angesehen  -svurde,  nämlich 
dem   damaligen  langjährigen  russischen  JNIilitärdienst,   zu   be- 
wahren.  Die  ganze  furchtbare  Last  fiel  demnach  auf  die  ärmste 
und  deshalb  wehrlose  Klasse  der  jüdischen  Bevölkerung.    Allen 
diesen   empörenden   Ungerechtigkeiten   machte    Alexander   II. 
schon  im  Jahre  1856  durch  Aufhebung  aller  gegen  die  Juden 
in    Betreff    der   Heerespflicht    bestehenden    Ausnahmebestim- 
mungen ein  Ende.    Auch  die  Unterbringung  jüdischer  Kinder 
in  die  Soldatenschulen,  wo  sie  ihren  Familien  und  dem  väter- 
lichen Glauben  entzogen  worden  waren,  fiel  fort.    Damit  war 
von  den  Juden  der  schwerste  und  am  schmerzlichsten  emp- 
fundene Druck  genommen.    Sie  atmeten  erleichtert  auf,  unend- 
liche Freude  und  Dankbarkeit  gegen  den  ,, Zar-Befreier"  erfüllte 
sie.    Achtzehn  Jahre  später  WTirde  dann  die  allgemeine  Wehr- 
pflicht   und    der    kurz  jährige    Heeresdienst    eingeführt,    wobei 
vollends  die  jüdische  Bevölkerung  der  übrigen  in  dieser  Hin- 
sicht dauernd  gleichgestellt  ward. 

Inzwischen  (1860)  war  den  Israeliten  auch  der  Eintritt  in 
die  Garde,  aus  der  sie  —  wie  in  Preußen  unter  Friedrich  Wil- 
helm III.   —  ausgeschlossen  gewesen,  gestattet. 

Eine  mindestens  ebenso  x^ichtige  Frage  war  die  des  Nieder- 
lassungsrechtes der  Juden.  Kein  Umstand  behinderte  so  den 
Aufschwung  ihrer  ökonomischen  und  geistigen  Tätigkeit  sowie 
ihrer  sozialen  Geltung,  wie  ihre  erbarmungslose  Einpferchung 
in  die  Enge  des  Ansiedlungsrayons.  Das  einfachste  und  segens- 
reichste wäre  die  Gewährung  voller  Freizügigkeit  an  die  Israeliten 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  65 

gewesen.  Allein  zu  einer  so  umfassenden  Maßregel  konnten  sich 
Leute  nicht  aufschwingen,  die  der  Ansicht  waren,  man  dürfe 
den  Juden  nur  insoweit  Menschenrechte  bewilligen,  wie  sie 
solche  ,, verdienten".  Alexander  II,  selber  wollte  gerade  hier 
nur  von  einzelnen  Verbesserungen,  nichts  von  einer  durch- 
greifenden Umgestaltung  hören.  Er  befürchtete  die  Ausbeutung 
des  trägen  und  geistig  beschränkten  russischen  Volkes  durch 
die  gewitzteren  und  tätigeren  Juden.  Als  der  Generalgouverneur 
von  Neurußland,  Stroganow,  den  wir  schon  als  aufgeklärten 
Verfechter  der  Emanzipation  kennen,  in  einem  Berichte  an  den 
Kaiser  die  Gewährung  der  Freizügigkeit  als  die  Grundbe- 
dingung für  jede  wahre  Hebung  der  Lage  der  Juden  bezeichnete, 
bemerkte  jener  dazu  eigenhändig  (1863):  ,,Ich  bin  damit  absolut 
nicht  einverstanden."  Er  hielt  noch  an  der  Sonderung  der 
Juden  in  , »nützliche"  und  ,, unnütze"  fest;  nur  die  ersteren 
dürfe  man  fördern  —  eine  Anschauung,  die  sogar  von  ein- 
zelnen Juden  geteilt  und  leider  in  einer  Eingabe  an  die 
Regierung   1856  betont  wurde. 

Allein  die  hberale  Richtung  und  die  assimilatorischen  Be- 
strebungen der  leitenden  Kreise  gewährten  doch  einzelnen 
Kategorien  unter  den  Juden  wichtige  Zugeständnisse.  Zunächst 
hob  der  Zar  den  Ukas  auf,  der  den  Juden  den  Aufenthalt  in 
dem  Grenzdistrikte  von  fünfzig  Werst  Breite  verboten  hatte, 
und  erweiterte  dadurch  den  Ansiedlungsrayon.  Bisher  war  es 
den  Hebräern  ohne  allen  Unterschied  verwehrt  gewesen,  außer- 
halb dieses  Rayons  sich  dauernd  niederzulassen  oder  selbst  nur 
längere  Zeit  hindurch  Aufenthalt  zu  nehmen;  sie  durften  im 
übrigen  Rußland  nur  kurze  Reisen  zu  einem  ganz  bestimmten 
Zwecke  und  mit  ausdrücklicher  polizeilicher  Erlaubnis  unter- 
nehmen. Das  wurde  nunmehr  anders,  als  dies  Verbot  für  be- 
stimmte ,, nützliche"  Klassen  der  jüdischen  Bevölkerung  auf- 
gehoben ward. 

Zunächst  für  die  Kaufleute  erster  Gilde.  Es  gibt  nämlich 
in  Rußland  drei  ,, Gilden"  (Klassen)  von  Kaufleuten:  solche, 
die  tausend  Rubel  jährlicher  Patentsteuer  zahlen,  gehören  zur 
ersten;  die  fünfhundert  Rubel,  zur  zweiten;  die  zweihundert, 
zur  dritten.  Der  Finanzminister  Reitern  hatte  die  Zulassung 
aller  jüdischen  Kaufleute  in  ganz  Rußland  gefordert.     Aber 

Philippson,  Xeuest©  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  ^ 


66         Verheißvmgsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

Alexander  II.  war  nur  für  eine  beschränkte  Zulassung  zu 
haben.  Die  jüdischen  Kaufleute  erster  Gilde  sollten  fürderhin 
in  ganz  Rußland  wohnen  dürfen,  mitsamt  ihren  Familien,  Be- 
diensteten und  Handelsangestellten  (1859);  ihnen  wurden  die 
ausländischen  Großkauf leute  gleichgesetzt,  allerdings  nur  mit 
jedesmaliger  Genehmigung  des  Älinsters  des  Innern.  Zwei- 
tens erhielten  dasselbe  Recht  die  Doktoren  der  Medizin  und 
Chirurgie  so\A'ie  sämtliche  akademisch  Gebildete  mit  Doktor- 
und  Magistertitel.  Diese  Begünstigung  wurde  später  auf  die 
Absolventen  der  technischen  Hochschulen  sowie  auf  die  Ärzte 
ohne  Doktortitel  ausgedehnt,  und  alle  diese  Kategorien  durften 
selbst  nebenbei  auch  Handelsgeschäfte  treiben  —  eine  Be- 
stimmung, die  von  großer  Bedeutung  wurde,  da  viele  Juden 
das  Universitäts-  oder  polytechnische  Studium  absohierten, 
um  dann  außerhalb  des  Rayons  sich  dem  Handel  oder  der  In- 
dustrie widmen  zu  können.  —  Die  dritte  und  zahlreichste 
Kategorie  der  Bevorrechteten  bildeten  die  Handwerker.  Die 
meisten  Generalgouverneure  und  auch  die  Minister  Reitern 
und  Waluwjew  verlangten  die  Freizügigkeit  für  die  jüdischen 
Handwerker.  Es  gäbe  jüdische  Meister,  die  ganz  ausgezeich- 
nete Arbeit  heferten;  nur  die  übermäßige  Konkurrenz  inner- 
halb des  Rayons  zwänge  die  überwiegende  Mehrzahl  der 
jüdischen  Handwerker  zu  bilhger  Schleuderarbeit.  Die  ge- 
waltige Anhäufung  der  Juden  in  einigen  Gouvernements  sei 
überhaupt  die  eigentliche  Ursache  ihres  materiellen  Elends 
und  ihrer  seehschen  Schäden.  Gerade  für  die  christHche  Be- 
völkerung werde  die  Heranziehung  der  unternehmenden  Juden 
segensreich  wirken.  Diese  ganz  richtigen  und  zutreffenden 
Darlegungen  veranlaßten  den  Zaren  zu  Verfügungen  zu 
gunsten  wenigstens  der  jüdischen  Handwerker.  Sie  erhiel- 
ten 1865  das  Recht,  ihren  Beruf  in  ganz  Rußland  frei  aus- 
zuüben. Die  Beweggründe,  aus  denen  der  Gesetzgeber  diese 
Verfügung  traf,  finden  sich  in  deren  Motivierung  klar  aus- 
gedrückt: nicht  nur  sollte  der  Abzug  zahlreicher  Handwerker 
aus  dem  Rayon,  wo  deren  Zusammenpferchung  mit  christlichen 
wie  jüdischen  Berufsgenossen  durch  die  übergroße  Konkurrenz 
schwer  geschädigt  und  den  Arbeitslohn  wie  die  Preise  auf  ein 
Minimum  herabgedrückt  hatte,  hierin  eine  Besserung  herbei- 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  67 

führen,  sondern  es  sollte  auch  dem  Mangel  an  Handwerkern 
in  mehreren  innerrussischen  Gouvernements  abgeholfen  werden. 
Um  das  Können  unter  den  jüdischen  Handwerkern  zu  heben, 
sie  zur  Anfertigung  guter  und  solider  Erzeugnisse  zu  befähigen, 
wurden  jüdische  Handwerkerschulen  in  Schitomir  und  Odessa 
begründet.  Leider  war  die  Wirkung  aller  dieser  wohlgemeinten 
Maßregeln  nur  eine  sehr  beschränkte.  Der  großen  INIehrheit  der 
jüdischen  Handwerker  fehlten  die  materiellen  Mittel,  um  nach 
einem  neuen  Wohnorte  überzusiedeln  und  dort  sich  einen 
Wirkungskreis  zu  schaffen.  Ferner  gewährte  das  Gesetz  den 
jüdischen  Handwerkern  nur  einen  ,, zeit  weiligen"  Aufenthalt 
in  den  Gouvernements  des  Innern  und  verbot  ihnen  den  end- 
gültigen Übertritt  in  die  Gemeinde  ihres  neuen  Wohnortes. 
Sie  waren  also  jeden  Augenblick  in  Gefahr,  wieder  in  ihre  alte 
Heimat  abgeschoben  und  damit  geschäftlich  zugrunde  gerichtet 
zu  werden.  Diese  Betrachtung  hielt  die  ungeheure  Mehrheit 
der  jüdischen  Handwerker  des  Rayons  davon  ab,  durch  Über- 
siedelung in  das  Innere  ihrer  traurigen  Lage  aufzuhelfen.  So 
blieben  bei  weitem  die  meisten  in  ihrem  bisherigen  Wohnorte 
sitzen  und  fuhren  fort,  sich  für  eilige  Schleuderarbeit  mit  dem 
geringsten  Lohn  zu  begnügen,  sich  und  andere  elend  zu  machen. 
Durch  die  materielle  Lage  der  Juden  und  durch  die  Schuld 
des  Gesetzes  selbst  verlor  dieses  den  größten  Teil  der  erhofften 
Wirksamkeit.  Im  ganzen  gründeten  die  Juden  bis  zum  Ende 
der  Regierung  Alexanders  II.  außerhalb  des  Rayons  682  Werk- 
stätten. Die  unter  Alexander  III.  eintretende  Reaktion  mit 
ihren  polizeilichen  Quälereien  der  Juden  hat  dann  die  Bewegung 
fast  ganz  zum   Stillstande  gebracht. 

Eine  vierte  Kategorie  der  Bevorrechteten  waren  die  aus- 
gedienten Soldaten  unter  den  Juden,  denen  nunmehr,  im  Gegen- 
satze zu  den  Zeiten  Nikolaus'  I.,  gestattet  wurde,  in  jedem  be- 
liebigen Teile  Rußlands  ihren  Wohnsitz  zu  nehmen  (1867). 
Allerdings  hatte  Alexander  IL  erst  nach  einigem  Zögern  sich 
zu   dieser   Maßregel  verstanden. 

Der  liberale  Zug  zeigte  sich  auch  in  Einzelbestimmungen 
aus  dieser  Zeit.  Die  Ghettos  in  Kowno,  Schitomir,  Kamenietz- 
Podolski,  Wilna  wurden  beseitigt.  Bisher  war  den  Juden 
sogar  der  vorübergehende  Aufenthalt   in   der   ,, heiligen"    Stadt 

5* 


68  Verheißiongsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

Kiew  verboten  gewesen.  Im  Dezember  1861  stellte  ein  be- 
sonderes Gesetz  den  unbestraften  jüdischen  Kaufleuten  aller 
drei  Gilden  die  ständige  Niederlassung,  den  übrigen  Juden 
den  zeitweiligen  Aufenthalt  in  Kiew  frei,  wenn  letztere  da- 
selbst Geschäfte  zu  betreiben  oder  ärztlichen  Rat  in  An- 
spruch zu  nehmen  hatten.  Selbst  das  noch  ,, heiligere" 
Moskau,  der  Sitz  des  Altrussentums,  wurde  bereits  1856  den 
jüdischen  Reisenden  zu  geschäftlichen  Zwecken  eröffnet.  In 
Petersburg  petitionierten  die  christlichen  Kaufleute  erster 
Gilde  in  ihrem  eigenen  Interesse  und  dem  des  Verkehrs  um 
Zulassung  der  jüdischen  Händler  und  um  die  Genehmigung, 
daß  sie  selber  jüdische  Kommis  anstellen  dürften.  Die  jü- 
dischen Verschickten  nach  Sibirien  durften  sich  dort,  seit 
1860,  niederlassen.  Auf  der  anderen  Seite  wurde  auf  Ver- 
anlassung der  ,, Judenkommission"  den  Juden  gestattet,  christ- 
liche Arbeiter  und  Handlungsgehilfen  zu  beschäftigen;  frei- 
lich, christliche  Dienstboten  durften  sie  nicht  halten.  Endlich 
stellte  man  es  1862  den  Juden  frei,  von  Adligen  Landgüter 
anzukaufen  und  Großgrundbesitzer  zu  werden.  Auf  Ver- 
anlassung Kisselews  wurde  sogar  den  akademisch  gebildeten 
Juden  der  Staatsdienst  unbeschränkt  eröffnet:  ein  Fort- 
schritt, dessen  ihre  preußischen  Glaubensgenossen  noch  nicht 
teilhaftig  geworden  waren.  Mehrere  Juden  gelangten  in  hohe 
Stellungen.  Auch  jüdische  Ingenieure  durften  bald  in  den 
Staatsdienst  eintreten.  Ebenso  erhielten  Juden  die  Bestallung 
als  Konsuln  auswärtiger  Staaten.  Jüdischen  Ärzten  wurde  ,,zur 
Belohnung  ihrer  aufopfernden  Tätigkeit"  der  Stanislausorden 
dritter  Klasse  verliehen.  Israeliten,  die  ein  Lehramt  ausübten, 
wurden  steuerfrei  und  für  dekorationsfähig  erklärt. 

Überhaupt  war  es  das  rühmliche  Bestreben  Alexanders  II. 
und  seiner  Ratgeber,  der  jüdischen  Intelligenz  die  Wege  zu 
ebnen.  Eine  Verfügung  der  Judenkommission  vom  Jahre 
1859  verpflichtete  die  jüdischen  Gildekauf leute  und  Ehren- 
bürger, ihre  Kinder  in  Staatsschulen  ausbilden  zu  lassen.  Es 
wurden  im  selben  Jahre,  um  Juden  zum  Eintritte  in  das  Tecli- 
nologische  Institut  zu  veranlassen,  dort  fünf  Stipendien  für 
solche  gestiftet ;  und  ähnliche  Einrichtungen  wurden  dann  über- 
haupt von  den  höheren  Staatsschulen  getroffen.    Die  Regierung 


Verheißtmgs voller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  69 

begriff  auch  endlich  den  wahren  Grund  des  geringen  Erfolges, 
den  ihre  jüdischen  Elementarschulen  bei  dieser  Glaubens- 
genossenschaft gehabt  hatten;  daß  er  nicht  sowohl  in  deren 
Abneigung  gegen  die  Bildung,  als  in  dem  meist  durchaus  gerecht- 
fertigten Mißtrauen  lag,  das  sie  den  von  der  Nicolaischen  Ver- 
waltung ernannten,  gänzlich  ungeeigneten  christlichen  Direk- 
toren und  Inspektoren  entgegenbrachten.  Man  ersetzte  deshalb 
die  letzteren  zum  großen  Teile  durch  Juden,  deren  Wahl  man 
überdies  den  betreffenden  israelitischen  Gemeinden  anvertraute. 
Diese  Maßregel  bewährte  sich  in  unerwartetem  Maße:  die 
jüdischen  Kinder  füllten  bald  in  Menge  die  bisher  verödeten 
Schulräume. 

Allgemein  ergriff  die  starke  Sehnsucht  nach  Bildung  und 
Aufklärung,  die  sich  damals,  unter  dem  Hauche  eines  liberalen 
Geistes  in  den  höchsten  Regionen  des  Staatslebens,  bei  der 
ganzen  städtischen  Bevölkerung  geltend  machte,  auch  die 
intelligente  russische  Judenheit.  Ihre  Kinder  drängten  sich 
nicht  nur  in  die  jüdischen,  nein  noch  mehr  in  die  allgemeinen 
Staatsschulen,  sobald  ihnen  dies  in  ausgiebiger  Weise  gestattet 
war.  Im  Jahre  1853  hatte  es  auf  den  Gymnasien  und  Pro- 
gymnasien nur  159  Juden  gegeben;  1863  waren  ihrer  schon 
423;  1864  aber  1561  und  1873  gar  6521.  Die  Regierung  war 
von  diesen  Ergebnissen  um  so  mehr  befriedigt,  als  die  in  gleichem 
Maße  anwachsende  Zahl  jüdischer  Schülerinnen  den  Beweis  er- 
brachte, daß  es  den  jüdischen  Eltern  mrklich  um  die  geistige 
Entwicklung  ihrer  Kinder,  nicht  aber  ausschließlich  um  die 
mit  den  höheren  Bildungsgraden  verbundenen  materiellen  Vor- 
teile zu  tun  war  —  ein  Vorwurf,  der  ihnen  freilich  in  späterer 
Zeit,  als  die  Regierung  anderen  Tendenzen  huldigte,  nicht  er- 
spart blieb.  In  jener  Auf  klär  ungsepoche  aber  hielten  die  maß- 
gebenden Kreise  die  Assimilierung  der  Juden  schon  für  so  weit 
vorgeschritten,  daß  sie  die  besondereren  jüdischen  Schulen  als 
überflüssig  betrachteten  und  im  Jahre  1874  aufhoben.  Das  war 
allerdings  ein  Irrtum,  da  weite  Kreise  unter  den  russischen 
Israeliten  noch  ihre  Kinder  nur  von  Glaubensgenossen  unter- 
richtet sehen  wollten,  und  so  mußten  die  besonderen  jüdischen 
Schulen  allmählich  wieder  eingeführt  werden.  Die  Juden  blieben 
eben  nach  wie  vor  Gegenstand  unaufhörlichen  und  rücksichts- 


70  VerheißxingsvoUer  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

losen  Experimentierens,  das  ihre  Zustände  und  Empfindungen 
jeder    Stätigkeit  beraubte. 

Schon  unter  Nikolaus  I.  waren  die  ,,Chedarim"  und  die 
Talmud-Thora-Institute  ein  Dorn  im  Auge  der  Regierung  ge- 
wesen, und  so  blieb  es  unter  Alexander  II.  Man  kann  ihr  darin 
nicht  unrecht  geben,  und  doch  entsprechen  diese  Anstalten 
allzu  sehr  den  Bedürfnissen  und  Neigungen  der  armen,  nur  in 
ihrer  Religion  lebenden  jüdischen  Volksklassen,  als  daß  man 
sie  hätte  beseitigen  dürfen,  ohne  dafür  einen  entsprechenden 
Ersatz  zu  schaffen.  Der  Glieder  war  eine  elementare  Religions- 
schule, wo  die  Kinder  vom  Alter  von  vier  Jahren  an  in  Religion, 
Hebräisch  und  einiger  Bibelkenntnis  unterrichtet  wurden.  Die 
Schüler  wurden  am  Morgen  dorthin  gebracht,  mittags  nach 
Hause  geholt  und  dann  für  den  Nachmittag  wieder  dahin  ge- 
führt. So  blieben  sie  beinahe  den  ganzen  Tag  im  Cheder,  und 
die  Eltern  aus  den  schwer  für  ihr  Brot  arbeitenden  Ständen 
waren  glücklich,  ihre  Kinder  sicher  aufgehoben  zu  wissen.  Sie 
kümmerten  sich  herzlich  wenig  um  die  pädagogischen,  \\dssen- 
schaftlichen  und  moralischen  Qualifikationen  der  Lehrer,  der 
sogenannten  Melamdim,  die  auch  wirklich  das  ihnen  entgegen- 
gebrachte Vertrauen  meist  wenig  verdienten,  da  sie  zum  großen 
Teile  aus  Persönlichkeiten  bestanden,  die  in  anderen  Berufen 
und  Beschäftigungen  Schiffbruch  gelitten  hatten.  Daß  ihre 
Bezahlung  eine  ganz  geringfügige  war  —  vier  bis  sechs  Rubel 
pro  Jahr  und  Kind  —  war  den  ärmlichen  Eltern  ein  hinreichen- 
der Grund,  über  solche  Mängel  hinwegzusehen.  Die  Regierung 
aber  brachte  von  dem  ersten  Augenblicke  an,  wo  sie  sich  mit 
der  jüdischen  Frage  beschäftigte,  den  Chedarim  und  Melamdim 
eine  starke  Feindschaft  entgegen,  da  sie  mit  Recht  in  ihnen 
die  gefährlichsten  Vertreter  und  Förderer  der  jüdischen  Eigen- 
art sowie  des  Aberglaubens  und  Fanatismus,  die  schlimmsten 
Widersacher  der  Assimilationsbestrebungen,  erkannte.  Sie  ver- 
langte also  im  Jahre  1873,  daß  jeder  jüdische  Lehrer  ein  Zeug- 
nis des  absolvierten  Lehrganges  der  Rabbinerschule  beibringe. 
Allein  diese  an  sich  weise  und  gerechte  Bestimmung  war  un- 
durchführbar. Die  klägliche  Bezahlung  des  Melammed  ent- 
sprach in  keiner  Weise  den  bescheidensten  Bedürfnissen  eines 
Mannes  von  irgend  höherer  Bildung,   sie  genügte  nur  schiff- 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  71 

brüchigen  Proletariern.  Andererseits  war  es  den  in  bitterer  Armut 
schmachtenden  Juden  unmöglich,  ein  höheres  Schulgeld  auf- 
zubringen oder  auch  nur  ihre  Kinder  außerhalb  der  gesetzlichen 
Schulstunden  im  Hause  zu  beaufsichtigen.  So  lebten  und  ge- 
diehen die  alten  Chedarim  trotz  der  neuen  Verordnungen  weiter, 
wenn  auch  in  Heimlichkeit  und  durch  Bestechung  der  Polizei- 
organe. Nur  die  Zerstreuung  und  materielle  Besserstellung  der 
jüdischen  Masse  durch  Aufhebung  des  Rayonzwanges  oder  auch 
die  Erlassung  des  Schulgeldes  für  ärmere  Kinder  hätte  hierin 
einen  durchgreifenden  Wandel  schaffen  können. 

Größeren  Erfolg  hatte  die  Regierung  mit  den  Talmud- 
Thoras,  wo  der  Unterricht  in  den  allgemeinen  Bildungsfächern 
obligatorisch  wurde  und  damit  das  intellektuelle  Niveau  der 
Lehrer  sich  bedeutend  hob.  Es  gab  übrigens  in  St.  Petersburg 
eine  Gesellschaft,  die  der  Sache  der  geistigen  Hebung  der  Juden 
große  Dienste  hätte  leisten  können,  wenn  nicht  äußere  und 
innere  Ursachen  ihre  Tätigkeit  gelähmt  hätte:  nämlich  die 
,, Gesellschaft  zur  Verbreitung  der  Aufklärung  unter  den  Juden", 
die  1863  von  dem  verdienten  Baron  Horaz  Günzburg  begründet 
worden  war,  und  deren  Aufgaben  darin  bestanden,  die  Bildung 
unter  den  Juden  zu  fördern,  die  jüdische  Literatur  zu  unter- 
stützen und  der  lernenden  israelitischen  Jugend  moralische  und 
materielle  Hilfe  zu  leisten.  Es  wurde  ihr,  in  bureaukratischem 
Geiste,  leider  untersagt,  Elementarschulen  zu  begründen,  und 
so  ihre  Wirksamkeit  von  vornherein  auf  ein  enges  Gebiet  be- 
schränkt. 

Der  humane  Geist,  der  die  Regierung  Alexanders  II.  be- 
lebte, erwies  sich  auch  in  der  Bestimmung,  daß  fernerhin 
jüdische  Kinder  nur  mit  Zustimmung  der  Eltern  getauft  werden 
dürften,  in  der  Abschaffung  der  Geldprämien  für  solche  jüdische 
Soldaten,  die  zum  Christentum  übertraten,  und  in  der  Auf- 
hebung des  Gesetzes,  das  nichtchristlichen  Verbrechern,  die  das 
Christentum  annähmen,  eine  Herabsetzung  der  Strafe  gewährte. 
Damit  wurde  eine  der  schändlichsten  und  unsittlichsten  Seiten 
der  Nikolaitischen  Religionspolitik  beseitigt. 

Die  Förderung  der  jüdischen  Intelligenz  durch  die  Re- 
gierung, die  Eröffnung  der  Schranken  für  den  Bildungshunger 
der   Hebräer   trug   reiche   Früchte.     Nach   Durchstechung   der 


72  Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

hemmenden  Dämme  ergoß  sich  der  Strom  jüdischen  Geistes  in 
die  Hberalen  Berufe:  es  gab  bald  eine  große  Anzahl  ausgezeich- 
neter israelitischer  Ärzte,  Rechtsanwälte,  Pädagogen,  Profes- 
soren. Sogar  der  Handel  der  Juden,  befruchtet  von  höherer 
Bildung,  nahm  weitere  und  großzügigere  Formen  an.  In 
St.  Petersburg  selbst  begründete  1866  Rabbiner  Dr.  Neumann 
mit  Hilfe  der  Familie  Günzburg  eine  Schule,  mit  zunächst 
siebzig  Zöglingen,  die,  neben  einem  rationellen  Unterricht  in 
jüdischer  Religion  und  Hebräisch,  auch  das  profane  Wissen 
lehrte.  Auch  in  Moskau  wurde  endlich,  1871,  den  Juden  die 
lange  versagte  Eröffnung  einer  Religionsschule  und  eines  Waisen- 
hauses gestattet.  Allerdings  waren  es  nur  die  besser  situierten 
Stände  unter  ihnen,  denen  diese  neuen  Errungenschaften  zugute 
kamen,  denn  die  jüdische  Masse  lebte  in  allzu  gedrückten 
ökonomischen  Verhältnissen,  um  die  neu  eröffneten  Wege  nach 
oben  beschreiten  zu  können.  Und  es  gab  noch  einen  anderen 
Grund,  aus  dem  die  Mehrzahl  der  russischen  Juden  von  der 
Bildung  nichts  wissen  wollten.  Die  Orthodoxen  und  die  Chassi- 
dim  wiesen  darauf  hin,  daß  die  meisten  Juden,  die  sich  höheres 
Wissen  angeeignet  hätten,  sich  mit  Geringschätzung  von  ihrer 
Glaubensgenossenschaft  abwendeten.  Diese  leider  nicht  zu 
bezweifelnde  Erscheinung,  die  an  ähnliche  Vorgänge  in  Deutsch- 
land seit  der  Mendelssohnschen  Zeit  erinnerte,  erklärt  sich 
aus  dem  Umstände,  daß  die  gebildeten  Israeliten  in  ihrer  Heimat 
das  Judentum  nur  in  einer  für  sie  geradezu  abschreckenden 
Gestalt  kannten.  Das  neue,  vom  Geiste  der  Zivilisation  erfüllte 
Judentum,  wie  es  sich  in  Westeuropa  herausgebildet  hatte, 
blieb  in  Rußland  so  gut  wie  unbekannt.  Es  war  eine  Ausnahme, 
wenn  in  Minsk  Rabbiner  Minor  am  Chanukkafeste  des  Jahres 
1861  deutsch  predigte,  selbstverständlich  unter  lauten  Protesten 
der  Orthodoxen  gegen  solche  gottlose  Neuerung. 

Merkwürdigerweise  war  die  Assimilation  am  meisten  in 
Sibirien  durchgeführt.  Dort  gab  es  1872  etwa  10  000  Juden, 
teils  Sträflinge,  teils  entlassene  Sträflinge,  teils  freiwillige  An- 
siedler, die  alle  zumeist  kleine  Gemeinden  bildeten,  sich  durch- 
gehends  russisch  kleideten  und  russisch  sprachen. 

Aus  der  eigenen  Mitte  der  Juden  wollte  die  Regierung  für 
sie  die  Reform  entwickeln,    Sie  berief  deshalb  im  August  1856 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  73 

von  neuem  eine  ,, Rabbinerkonferenz"  zur  Neuregelung  der 
jüdischen  Verhältnisse  ein.  Aber  diese  Rabbinerkonferenz  ent- 
sprach sehr  wenig  ihrem  Namen :  nur  der  Vorsitzende,  Dr.  Neu- 
mann aus  Riga,  war  Rabbiner,  die  übrigen  vier  Mitglieder  Groß- 
kaufleute ohne  eingehendere  Kenntnis  der  jüdischen  religiösen 
Dinge.     Sie  hat  nichts  Wesentliches  geschaffen. 

Dagegen  entstand  aus  dem  reich  sich  entfaltenden  geistigen 
Leben  auch  eine  umfassende  jüdische  Journalistik  in  der  Zeit 
Alexanders II.  Es  machten  sich  in  ihr  zwei  Strömungen  geltend: 
die  in  russischer  Sprache  erscheinenden  Blätter  widmeten  sich 
vorzugsweise  der  Verfechtung  der  bürgerlichen  und  staats- 
bürgerhchen  Gleichberechtigung  der  Juden,  während  die 
hebräisch  geschriebenen  die  Aufklärung  und  die  westliche 
Kultur  zu  verbreiten  sich  bemühten.  Das  erste  russisch- 
jüdische Organ  war  der  1860  begründete  ,,Raswjet",  dessen 
Redakteur  der  durch  glänzende  Verteidigung  seiner  Glaubens- 
genossen und  soziale  Erzählungen  bekannte  Schriftsteller 
Ossip  Rabinowitsch  und  dessen  vorzüglichster  Mitarbeiter  der 
noch  bekanntere  Publizist  und  Novellist  Lewanda  waren, 
letzterer  damals  ein  eifriger  Anhänger  der  Assimilation,  die  er 
später  leidenschaftlich  bekämpfen  sollte.  Der  ,,Raswjet",  der 
die  beiden  obengenannten  Richtungen  verfolgte,  übte  zunächst 
eine  bedeutende  und  anregende  Wirkung  aus ;  war  es  doch  zum 
ersten  Male,  daß  die  russischen  Juden  ihre  Angelegenheiten 
selber  in  der  Öffentlichkeit  verhandelten.  Aber  bald  büßte  er 
die  ihm  entgegengetragenen  Sympathien  ein.  Man  fand,  daß 
er  mit  den  Gegnern  der  Emanzipation  in  den  christlichen 
Kreisen  allzu  glimpflich  verfahre  und  dafür  die  Mißstände 
innerhalb  der  russischen  Judenheit  allzu  schroff  aufdecke  und 
tadle;  dadurch  gebe  er  den  äußeren  Feinden  nur  neue  Waffen 
in  die  Hand.  So  hatte  der  ,,Raswjet"  schwer  zu  kämpfen  und 
mußte  schon  nach  dem  ersten  Jahre  seines  Bestehens  sein  Er- 
scheinen einstellen.  Sein  Nachfolger  ^vurde  das  Blatt  ,,Zion", 
das,  aus  dem  Mißgeschick  seines  Vorgängers  lernend,  die  Er- 
örterung der  öffentlichen  Angelegenheiten  sehr  einschränkte 
und  sich  besonders  auf  geschichtliche  und  wissenschaftliche  Ab- 
handlungen legte.  Indes  sogar  die  bescheidenste  Behandlung 
der  politischen  Vorgänge  und  zumal  die  Polemik  mit  russischen 


74  Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II. 

Zeitungen  mißfiel  der  Zensur,  die  unbarmherzig  alle  solche 
Artikel  des  ,,Zion"  unterdrückte.  Dieses  Organ  mußte  also 
auch  die  schärfsten  Angriffe  der  Gegner  ohne  Antwort  belassen, 
und  solche  erzwungene  Entsagung  lähmte  die  Arbeitsfreudig- 
keit seiner  Mitarbeiter  und  schwächte  ihr  Interesse  an  der 
publizistischen  Tätigkeit.  Und  doch  war  bis  gegen  Ende  der 
sechziger  Jahre  die  Stimmung  der  meisten  russischen  Zeitungen 
keine  judenfeindliche. 

Aber  die  humanen  Bestrebungen  der  Regierung  Alexan- 
ders II.  hatten  wenig  zur  eigentlichen  Lösung  der  Judenfrage 
getan,  da  sie  eben  für  die  Masse  den  Ansiedlungsrayon  nicht 
erweitert  hatte.  Es  gab  damals  im  eigentlichen  Rußland 
1  829  000  Juden,  von  denen  56  Prozent  auf  dem  Lande,  44  Pro- 
zent in. den  Städten  lebten.  Dazu  kommen  noch  über  20  000 
Juden  im  asiatischen  Rußland:  in  Sibirien,  im  Kaukasus,  in 
den  zentralasiatischen  Pro\änzen.  Die  vornehmste  Stellung 
nahmen  70  Ehrenbürger  ein.  Dann  kamen  30  000  Gildekauf- 
leute, etwa  siebzehn  Prozent  aller  Russen  dieser  Kategorie. 
An  Handwerkern  zählte  man  im  eigentlichen  Rußland  etwas 
über  1^/2  Millionen,  von  denen  der  dritte  Teil,  504  000,  aus 
Juden  bestand.  Dieser  dritte  Teil  war  aber  fast  ausschließlich 
in  den  Ansiedlungsrayon  gebannt,  und  man  kann  sich  daraus 
von  seiner  traurigen  Lage  einen  Begriff  machen.  Ja,  die  Fort- 
schritte dieser  Zeit  hatten  in  manchen  Beziehungen  die  materielle 
Not  der  Juden  noch  vergrößert,  indem  sie  einige  Beschäftigungen 
derselben  überflüssig  machten.  Die  Abschaffung  der  Leibeigen- 
schaft der  Bauern,  deren  Ausstattung  mit  Grundbesitz,  die 
daraus  erfließende  Verarmung  des  Adels  beendeten  die  Tätig- 
keit der  Juden  als  ,, Faktoren",  das  heißt  Kommissionäre  für 
jede  Art  von  Bedürfnissen  der  Grundbesitzer,  der  sie  besonders 
auf  dem  Lande  sich  vorzugsweise  ge^Aidmet  hatten.  Eines  Teiles 
seiner  Ländereien,  sowde  der  kostenlosen  Arbeit  der  Leibeigenen 
beraubt,  mußte  der  russische  Grundbesitzer  sich  ökonomischer 
einrichten,  eine  bedeutend  mäßigere  Lebensweise  als  früher 
führen.  Um  billigen  Kredit  zu  schaffen,  wurden  Agrarbanken 
begründet,  von  denen  man  den  Juden  ausschloß,  und  die  seine 
private  Tätigkeit  als  Geldvermittler  unnötig  machten.  Der 
Bauer    wurde    durch    die    Freiheit    selbständiger,    eifriger    auf 


Verheißungsvoller  Anfang  der  Regierung  Alexanders  II.  75 

seinen  Vorteil  bedacht,  umsichtiger  im  Ankauf  von  Waren. 
Die  Rolle  des  „Juden",  ohne  den  man  in  den  früheren  Zu- 
ständen gar  nicht  hatte  auskommen  können,  verlor  an  Wichtig- 
keit und  Einträglichkeit.  So  wurden  zahlreiche  jüdische  Fami- 
lien geradezu  brotlos,  ohne  daß  sich  für  sie  eine  neue  Beschäfti- 
gungsart  zeigen  wollte.  Das  Elend  spottete  an  \äelen  Orten 
jeder  Beschreibung. 

Eine  fernere  Beeinträchtigung  der  Juden  führte  die  Aus- 
bildung des  russischen  Eisenbahnnetzes  herbei.  Bisher  hatten 
jene  den  gesamten  Warentransport  als  Spediteure,  Fuhrunter- 
nehmer, Fuhrleute,  Gastwirte,  Kommissionäre  fast  ausschließ- 
lich in  Händen  gehabt.  Jetzt  nahm  ihnen  die  Eisenbahn  bei- 
nahe das  gesamte  Geschäft  dieser  Art  ab.  Wiederum  sahen 
sich  Tausende  jüdischer  Familien  des  Erwerbes  hilflos  beraubt. 

Der  Jammer  wurde  noch  vergrößert  durch  die  Hungersnot, 
die  in  mehreren  aufeinander  folgenden  Jahren  das  nordwest- 
liche Rußland  heimsuchte  und  auch  die  ohnehin  darbenden 
Juden  auf  das  schwerste  betraf.  Die  Beihilfe  der  glücklicher 
gestellten  russischen  Glaubensgenossen  würde  diese  Ärmsten 
nicht  vor  dem  Hungertode  zu  bewahren  imstande  gewesen  sein. 
Glücklicherweise  brachten  ihnen  die  westeuropäischen,  und 
zumal  die  deutschen,  Israeliten  reichliche  Unterstützung.  Es 
wurden  zu  diesem  Behufe  Zentralkomitees  in  Memel  und 
Königsberg,  Lokalkomitees  in  Berlin,  München,  Frankfurt  am 
Main,  Köln,  Aachen,  Koblenz  begründet.  Der  jüdische  Bruder- 
geist und  Wohltätigkeitssinn  bewährte  sich  auf  das  segensreichste 
zugunsten  der  ärmsten  russischen  Glaubensbrüder. 

Die  neue  Zeit  stellte  diesen  auch  auf  dem  ökonomischen 
Gebiete  Aufgaben,  die  sie  nicht  sobald  zu  bewältigen  ver- 
mochten. Es  bedurfte  langer  Bemühungen,  bis  sie  sich  den  ver- 
änderten Lebensbedingungen  anpassen  konnten.  Und  in- 
zA^ischen  fielen  der  Übergangsepoche  zahllose  Opfer,  am  meisten 
unter  den  russischen  Juden. 

Ganz  anders  lagen  die  Verhältnisse  in  Polen. 


Kapitel  Zwei. 

Alexander  IL  und  die  Juden  Polens. 


LJie  milde  Gesinnung  Alexanders  II.  veranlaßte  ihn,  auch 
in  Polen  das  Schreckenssystem  seines  Vaters  aufzugeben  und 
eine  Versöhnung  mit  diesem  wichtigen  Teil  seines  Reiches  zu 
suchen.  Sogleich  nach  seiner  Thronbesteigung  verkündete  er 
eine  Amnestie  für  alle  Polen,  die  wegen  Teilnahme  an  dem  Auf- 
stande von  1830 — 31,  sei  es  in  das  Ausland  geflüchtet,  sei  es 
nach  Sibirien  verbannt  worden  waren.  Hunderte  von  Männern 
beider  Kategorien  kehrten  nunmehr,  nach  einer  Trennung  von 
einem  Vierteljahrhundert,  in  die  Heimat  und  zu  ihren  Familien 
zurück.  Auch  auf  dem  kulturellen  Gebiete  wurden  wohltätige 
Verordnungen  getroffen.  Man  errichtete  in  Warschau  eine  Aka- 
demie der  Medizin  sowie  eine  Agrarische  Gesellschaft,  die  leider 
bald,  nach  alter  Gepflogenheit,  der  Mittelpunkt  politischer, 
gegen  die  Regierung  gerichteter  Intrigen  wurde.  Man  milderte 
beträchtlich  die  Zensurvor Schriften.  Diese  Tatsachen  gaben  die 
Anregung,  daß  das  geistige  Leben  Polens  aus  dezennienlangem 
Schlummer  erwachte.  Sofort  machten  sich  unter  den  russischen 
Polen  die  ausschweifendsten  Hoffnungen  geltend,  zumal  seit- 
dem der  Triumph  der  italienischen  Einheits-  und  Befreiungs- 
bestrebungen in  den  Jahren  1859  und  1860  den  Sieg  des  Nationa- 
litätsprinzipes  allerwärts  zu  verheißen  schien.  Die  Umwälzung 
aller  inneren  Verhältnisse  durch  das  Gesetz  Alexanders  II.,  das 
—  entsprechend  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  in  dem 
eigentlichen  Rußland  —  auch  die  polnischen  Bauern  zu  freien 
Menschen  machte,  indem  es  die  bäuerlichen  Fronen  in  Geld- 
leistungen verwandelte,  erregte  eine  allgemeine  soziale  und 
politische  Bewegung.    Der  Zar  war  gewillt,  ihr  bis  zu  einem 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  77 

gewissen  Punkte  Rechnung  zu  tragen,  zwar  den  Zusammen- 
hang Polens  mit  seiner  Krone  unbedingt  zu  wahren,  aber  diesem 
Lande  doch  eine  weitgehende  Selbstverwaltung  zuzugestehen. 
Sein  vertrauter  Helfer  bei  der  Durchführung  dieser  Absichten 
war  ein  polnischer  Aristokrat,  übrigens  ehemals  Teilnehmer  an 
dem  1830er  Aufstande  und  bis  1855  Emigrant,  der  Marquis 
Alexander  Wielopolski,  ein  durchaus  wohlwollender  und  ein- 
sichtiger Mann,  der  in  reiferem  Alter  aus  den  Erfahrungen  der 
jüngsten  Geschichte  Polens  die  Lehre  gezogen  hatte,  daß  nicht 
durch  Gewalt,  sondern  nur  durch  allmähliche  Fortentwicklung 
die  Besserstellung  seines  Vaterlandes  erreicht  werden  könne. 
Er  arbeitete  ein  großes  Reformgesetz  aus,  das  Zar  Alexander  am 
27.  März  1861  veröffentlichte,  und  das  den  Polen  eine  weit- 
gehende Selbständigkeit  sowie  besonders  umfassende  Förderung 
aller  Lehr-  und  Bildungsanstalten  in  nationalem  Sinne  verhieß. 
Wielopolski  selber  wurde,  zuerst  als  polnischer  Kultusminister, 
dann  als  Chef  der  polnischen  Zivilverwaltung,  mit  der  Durch- 
führung dieser  Maßregeln  betraut.  Er  gestaltete  die  ganze  Ver- 
waltung des  ehemaligen  Königreichs  in  nationaler  Weise  um, 
der  polnische  Adel  nahm  wieder  von  den  höheren  Ämtern 
Besitz.  Die  polnische  Sprache  wurde  bei  den  Behörden  als  die 
offizielle  von  neuem  eingeführt.  Wielopolski  eröffnete  dann  die 
Warschauer  Universität  abermals,  die  bald  zum  geistigen 
Mittelpunkte  des  nationalen  Lebens  wurde. 

Es  war  hier  den  Polen  die  Möglichkeit  gegeben,  mit  kluger 
Benutzung  der  günstigen  Umstände  nach  und  nach  alles  das 
wieder  zu  gewinnen,  was  sie  seit  dem  Unglücksjahre  1831  ver- 
loren hatten.  Allein  sie  waren  zu  ungeduldig,  eine  solche  all- 
mähliche Entwicklung  abzuwarten.  Sie  sahen  in  den  Kon- 
zessionen des  Zaren  nur  ein  Eingeständnis  der  Schwäche,  in 
dem  klugen  Zögern  Wielopolskis  nur  Verrat.  Überdies  war  die 
sehr  starke  demokratische  Partei  mit  dem  aristokratischen 
Charakter  der  neuen  Regierung  unzufrieden.  Man  forderte  also 
gänzliche  Trennung  von  Rußland,  auf  das  man  als  auf  ein 
Barbarenland  mit  Verachtung  herabsah.  Man  erging  sich  bereits 
in  phantastischen,  in  der  Wirklichkeit  ganz  unrealisierbaren 
Träumereien  von  der  Wiederaufrichtung  des  ganzen  großen 
polnischen  Reiches.    Und  die  katholische  Geistlichkeit,  die  in 


78  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens. 

dem  Lande  einen  so  ungeheuren  Einfluß  besaß,  ging  mit  dem 
Eifer  der  Herrschsucht  auf  diese  Pläne  ein.  Der  Zmespalt 
zwischen  der  nationalen  Strömung  und  dem  Zi-\41gouverneur 
"vvurde  immer  schroffer,  immer  gewaltsamer. 

Viel  dankbarer  waren  dem  Marquis  die  Juden  Polens, 
für  die  er  nicht  nur  Mitleid  und  gütige  Teilnahme  liegte,  sondern 
die  er  tatsächlich  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden  jMitteln 
aus  ihrer  unsagbaren  materiellen  und  moralischen  Kotlage  zu 
erretten  bestrebt  war.  Die  800  000  Juden,  die  es  damals  in 
Polen  gab,  und  von  denen  zwei  Dritteile  in  den  Städten  lebten, 
erstickten  unter  der  Last  der  gesetzlichen  Ausschließungen  und 
Mißhandlungen.  Ihre  Bildungsstufe  war  eine  sehr  niedrige. 
Mit  Ausnahme  Warschaus  war  im  ganzen  Polen  keine  einzige 
öffentliche  jüdische  Schule,  und  die  christlichen  Elementar- 
schulen durften  sie  nicht  besuchen.  Nur  Chedarim  waren  vor- 
handen. In  Warschau  selbst  ^^drkten  (1857)  —  abgesehen  von 
der  Rabbinerschule  mit  163  Zöglingen  —  nur  \'ier  jüdische 
Knabenschulen  mit  im  ganzen  334  und  eine  Mädchenschule 
mit  139  Schülern,  die  allesamt  von  elf  Lehrern  unterrichtet 
wurden.  Dagegen  genossen  9313  christliche  Kinder  öffentliche 
Unterweisung.  Es  kam  also  in  Warschau  ein  jüdischer  Schüler 
erst  auf  14%  christliche,  während  die  jüdische  Bevölkerung 
der  Hauptstadt,  70  000  Seelen,  beinahe  ein  Drittel  der  220  000 
Seelen  betragenden  Gesamtbevölkerung  ausmachte,  ein  Ver- 
hältnis wie  1  :  2.  Relativ  gab  es  demnach  dort  siebenmal 
weniger  jüdische  Schüler  als  christliche.  Allerdings  hatte  die 
jüdische  Gemeinde  Warschaus  die  Regierung  wiederholt  um 
die  Erlaubnis  gebeten,  aus  eigenen  Mitteln  öffentliche  Schulen 
zu  errichten,  war  aber  immer  abschlägig  beschieden  worden. 
Der  Statthalter  Fürst  Paskiewitsch  hatte  mit  brutaler  Offenheit 
verfügt:    ,,Wir   brauchen  keine  gelehrten   Juden". 

Die  Judenfeindschaft,  die  sich  in  diesem  Verfahren  aus- 
sprach, wurde  auch  nach  der  Thronbesteigung  Alexanders  II. 
zunächst  von  den  russischen  Machthabern  in  Polen  betätigt. 
Sie  ahmten  in  keiner  Weise  die  auf  diesem  Gebiete  in  Rußland 
begonnenen  Reformen  nach,  und  es  bedurfte  erst  einer  dringen- 
den Aufforderung  aus  Petersburg,  um  die  Warschauer  Behörden 
in  Bewegung  zu  setzen.   Und  doch  forderte  eine  Adresse  hervor- 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  79 

ragender  christlicher  Polen  von  dem  Staatsrate  die  völlige 
Gleichstellung  der  Juden.  Endlich  entstand  den  Bedrängten 
in  Wielopolski  der  Retter  aus  dem  Elend. 

Zunächst  wurde  die  Bestimmung  des  berüchtigten  Dekretes 
von  1808  aufgehoben,  die  ihnen  den  Pfandbesitz  von  Grund- 
stücken untersagte.  Viel  wichtiger  noch  war  die  Verordnung 
Wielopolskis(1861),  die  den  Juden  das  aktive  und  passive  Wahl- 
recht zu  allen  öffentlichen  Vertretungskörperschaften  verlieh. 
Zum  ersten  Male  in  der  gesamten  polnischen  Geschichte  nahmen 
die  Juden  teil  an  den  Wahlen  zu  den  Stadt-,  Distrikts-  und 
Gouvernementsräten;  und  in  der  Tat  wurden  bei  den  im  Jahre 
1862  stattfindenden  Distriktswahlen  mehrere  Juden  Mitglieder 
dieser  Körperschaften.  Ja,  als  der  Statthalter  Großfürst  Kon- 
stantin einen  Ständerat  ernannte,  berief  er  in  diesen  auch  einen 
Juden,  den  durch  seine  eifrige  und  segensreiche  Tätigkeit  für 
die  Warschauer  Gemeinde  rühmlichst  bekannten  Matthias  Rosen. 

Das  waren  aber  alles  nur  Vorbereitungen;  das  bedeut- 
samste war  der  am  5.  Juni  1862  veröffentlichte  kaiserliche  Ukas 
über  die  bürgerliche  Gleichstellung  der  Juden  in  Polen,  der 
sogenannte  Emanzipationsakt.  Er  bedeutete  noch  nicht  die 
völlige  Gleichstellung,  bereitete  sie  aber  vor.  Die  Juden  erhielten 
hier  die  Erlaubnis,  jede  Art  von  Grundstücken  und  Häusern 
zu  erwerben,  im  ganzen  Lande  in  sämtlichen  Städten  und  Dörfern 
und  zwar  in  jeder  beliebigen  Straße  zu  wohnen.  Sie  konnten 
als  gleichwertige  Zeugen  in  Kriminalsachen  und  bei  notariellen 
Urkunden  auftreten,  und  der  schimpfliche  Eid  more  judaico 
wurde  beseitigt.  Alle  Aktenstücke  im  gewerblichen  Leben  der 
Juden,  die  bisher  meist  in  jüdisch-deutscher  oder  rein  deutscher 
Sprache  verfaßt  w^urden,  sollten  nur  noch  polnisch  oder  russisch 
ausgefertigt  werden  —  eine  in  kultureller  Beziehung  sehr  ^vich- 
tige  Maßregel.  Der  Zutritt  zu  den  allgemeinen  Schulen  ward 
den  jüdischen  Kindern  eröffnet  und  die  Beschränkung  des 
jüdischen  Buchdrucks  aufgehoben.  Alle  diese  Bestimmungen 
waren  von  segensreichster  Bedeutung.  Außerdem  aber  trug 
der  Emanzipationsakt  der  höchsten  Verwaltung  des  Landes  auf, 
sich  mit  einer  Abschaffung  der  auf  den  Juden  lastenden  Sonder- 
steuer sowie  der  sie  beeinträchtigenden  Vorschriften  über  Aus- 
übung des   Handels  und  des  Handwerks  zu  befassen. 


80  .  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens. 

Diese  Gesichtspunkte  entsprachen  zu  sehr  den  Anschau- 
ungen Wielopolskis  und  seiner  Ratgeber,  als  daß  ihnen  nicht 
sehr  schnell  Rechnung  getragen  worden  wäre.  Schon  im  Januar 
1863  wurden  die  beiden  jüdischen  Sonderabgaben,  die  ,,Tag- 
zettel"  und  die  Steuer  auf  Koscherfleisch,  aufgehoben.  Sämt- 
liche Einschränkungen  im  Handel  und  Handwerk  fielen  fort, 
so  daß  die  Juden  volle  Gewerbefreiheit  genossen,  während  die 
Aufhebung  der  Tagzettel  ihre  Freizügigkeit  vollendete.  Sie 
durften  auch  Apotheken  gründen  oder  käuflich  erwerben.  Sie 
konnten  zu  Obermeistern  der  Zünfte,  Kaufmannsältesten  und 
Börsenvorständen  erwählt  werden,  auch  Mitglieder  des  Auf- 
sichtsrates der  polnischen  Bank  werden,  endlich  zu  Richter- 
ämtern kandidieren.  Ein  ganz  neues  Leben  eröffnete  sich  für 
die  polnischen  Israeliten.  Die  Tore  des  materiellen  und  geistigen 
Ghettos  hatten  sich  geöffnet,  es  stand  ihnen  frei,  sich  an  dem 
nationalen  Dasein  in  jeder  Weise  zu  beteiligen.  Der  lange  brach- 
liegende Tätigkeitsdrang  erwachte,  sie  verbreiteten  sich  in  den 
Städten  und  durch  das  ganze  Land,  warfen  sich  mit  neuem 
Mute  und  frischer  Zuversicht  auf  alle  Zweige  der  Industrie 
und  des  Handels. 

Später  (1866)  erteilte  die  Regierung  denjenigen  Juden 
Polens,  die  akademische  Studien  mit  Erfolg  vollendet  hatten, 
das  Recht  des  Eintrittes  in  alle  Abteilungen  des  Staatsdienstes 
—  eine  Gleichstellung,  die  freilich  mehr  in  der  Theorie,  als  in 
der  Praxis  Geltung  erhalten  hat. 

Im  Gegensatze  zu  den  früheren  Assimilationsfanatikern 
an  den  höchsten  Stellen  des  Staates  erkannten  die  damaligen 
Leiter  des  polnischen  Landes  die  Tatsache  und  nahmen  sie 
ohne  Bitterkeit  hin,  daß  die  große  Mehrzahl  der  polnischen 
Israeliten  noch  allzu  sehr  an  ihren  Besonderheiten  hing  und 
ein  allzu  großes  Mißtrauen  gegen  jede  nicht  speziell  jüdische 
Einrichtung  hegte,  um  ihre  Kinder  in  die  allgemeinen  Schulen 
zu  senden.  Obwohl  man  ihnen  letztere  geöffnet  hatte,  beließ 
man  ihnen  also  das  Recht,  besondere  Elementarschulen  zu 
gründen,  ja  man  stellte  solchen  —  um  nur  die  Chedarim  zu 
bekämpfen  —  eine  Unterstützung  aus  Staatsmitteln  in  Aus- 
sicht und  befreite  die  Eltern,  die  ihre  Kinder  den  jüdischen 
Elementarschulen  zusenden  würden,  von  den  Abgaben  für  all- 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  81 

gemeine  Unterrichtszwecke.  Freigebiger  hat  der  Staat  sich 
wohl  selten  religiösen  Sonderschulen  gegenüber  verhalten  — 
jüdischen  gegenüber  nirgends.  Von  derselben  liberalen  Ge- 
sinnung zeugte  es,  wenn  diejenigen  Kinder,  die  in  den  all- 
gemeinen Schulen  den  Unterricht  nahmen,  das  Recht  auf  be- 
sondere jüdische  Religions-  und  hebräische  Sprachstunden  er- 
hielten. 

Die  jüdische  Intelligenz  machte  mit  Begeisterung  von  der 
Möglichkeit  Gebrauch,  nun  regelmäßige  Unterweisung  in  der 
so  innig  ersehnten  europäischen  Bildung  zu  erhalten,  sich  aus 
den  erstickenden  Fesseln  des  einseitigen  Talmud-,, Lernens"  zu 
befreien.  Die  polnischen  Schulen  waren  bald  mit  jüdischen 
Kindern  überfüllt,  und  zahlreiche  jüdische  Jünglinge  gehörten 
zu  den  ersten  Studenten  der  neu  eröffneten  Warschauer  Uni- 
versität. 

Gegen  diese  fortschrittlichen,  nach  weltlicher  Bildung 
strebenden  Elemente  erhoben  sich  allerorten  und  besonders 
in  der  großen  Warschauer  Gemeinde  die  Chassidim. 

Die  Sekte  der  Chassidim,  der  ,, Frommen",  der  Mystiker, 
war  in  der  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  unter  den  armen 
Juden  der  litauischen  Provinz  Podolien  entstanden,  die  an 
dem  trockenen  Formelwesen  des  damaligen  Rabbinismus  kein 
Genüge  fanden.  Ihr  Stifter  war  einer  dieser  Armen  an  Geist 
und  Besitz  gewesen,  Israel  ben  Elieser,  Baal-Schem-Tob  ge- 
nannt, ,,Der  gütige  Wundertäter".  Er  lehrte,  daß  nicht  talmu- 
dische Gelehrsamkeit,  sondern  innige  Liebe  zu  Gott,  verbunden 
mit  festem  Vertrauen  auf  die  Kraft  des  Gebetes  die  wahre 
Religion  ausmache,  und  daß  ein  einfacher  Mann,  dem  das  Gebet 
aus  dem  Herzen  komme,  vor  Gott  mehr  gelte,  als  der  Rabbi, 
der  seine  Zeit  mit  dem  Studium  und  mit  der  Erfüllung  klein- 
licher Gebräuche  zubringe.  Es  war  eine  Vertiefung  und  zu- 
gleich Demokratisierung  der  Religion,  die  dem  Baal-Schem-Tob 
zahlreiche,  auch  gelehrte,   Schüler  und  Anhänger  zuführte. 

Der  Chassidismus  entwickelte  sich  aber  bald  zum  Mystizis- 
mus in  Lehre  und  Leben.  Gott  ist  nach  ihm  überall  und  in 
aUem  —  rein  pantheistische  Anschauungen  —  und  der  Mensch 
kann  sich  derart  mit  Gott  verbinden,  daß  er  dessen  Entschlüsse 
wirksam  zu  beeinflussen  vermag.    Eine  der  Kabbala  entnom- 

Philippsoii,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  " 


82  Alexander  II.   und  die  Juden  Polens. 

mene  Anschauung,  die  schon  Baal-Schem-Tob  und  noch  mehr 
dessen  Nachfolger  zu  den  krassesten  Wundertaten  veranlaßte. 
Visionen,  Prophezeiungen,  Heilungen,  Bereicherung,  Kinder- 
segen, alles  dies  kann  der  wahrhaft  Fromme  von  Gott  durch 
glühendes  Gebet  erzwingen,  das  durch  heftige  Körperbewegungen 
noch  wirksamer  gemacht  wird. 

Dieses  System  verbreitete  sich  schnell  unter  den  armen, 
un^vissenden  und  abergläubigen  Juden  von  Podolien,  Litauen 
und  Galizien.  Ihre  Führer  \ATirden  die  Zaddikim,  die  ,, Ge- 
rechten, Heiligen",  die  professionellen  Lehrer  und  Wunder- 
täter. Der  Enkel  des  Begründers,  Baruch  von  Tulschin,  sowie 
Elimelech  von  Lizianka,  entwickelten  die  Theorie  der  Zaddi- 
kim oder  Rebbes,  die  durch  ihr  Gebet  jeden  Wunsch  des  Chassid 
zur  Erfüllung  bringen  können,  dafür  aber  auch  das  Recht  be- 
sitzen, von  den  Gläubigen  beliebige  Geldopfer  zu  fordern.  So 
wurde  der  Chassidismus,  zumal  im  Süden,  ein  reines  Plünde- 
rungs-  und  Ausbeutungssystem  auf  Kosten  der  Gläubigen  und 
zugunsten  des  Rebbes,  die  in  fürstlicher  Fülle  und  Pracht  lebten. 

Im  Nordwesten,  besonders  im  eigentlichen  Polen,  wo  die 
theologische  Bildung  und  das  soziale  Wesen  unter  den  Juden 
immerhin  auf  höherer  Stufe  standen,  nahm  der  Chassidismus 
eine  rationellere  Gestalt  an,  unter  der  Führung  Salmans  von 
Liozna  (1747—1812). 

Trotz  des  eifrigen  Widerstandes  der  Orthodoxen  oder 
Rabbinisten,  der  sogenannten  Misnaggedim  {,, Widersacher") 
gewann  der  Chassidismus  infolge  seines  volkstümlichen  Wesens 
eine  immer  größere  Ausdehnung,  fand  1804  die  Anerkennung 
der  russischen  Regierung  und  umfaßte  etwa  die  Hälfte  der 
galizischen,  polnischen  und  russischen  Juden.  Seine  Masse 
zerfiel  in  Anhängerschaften  der  verschiedenen  Zaddikim,  die 
sich  oft  auf  das  bitterste  befehdeten.  Der  Chassidismus  war  zu 
etwas  ganz  anderem  geworden,  als  sein  wahrhaft  frommer 
Stifter  beabsichtigt  hatte:  zum  habsüchtigen  Gaukelspiel,  und 
seine  Führer  zu  bewußten  Charlatanen  und  Betrügern.  Jeder 
von  ihnen  besaß  in  einem  Städtchen  seine  Residenz,  wo  er  um- 
geben von  einem  weitläufigen  Hofstaate  prunkend  lebte.  Der 
berühmteste  von  ihnen  war  Israel  von  Luschin,  der,  von  der 
russischen    Regierung    ausgetrieben,    sich    in    dem    galizischen 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  83 

Orte  Sadagura  niederließ.  Vergebens  bekämpfte  die  Haskalah, 
die  Mendelssohnsche  Aufklärung,  den  Chassidismus,  sie  ver- 
mochte die  blindergebene  Masse  seiner  Anhänger  nicht  zu 
erschüttern.  Pilgerten  schon  während  des  ganzen  Jahres  die 
Gläubigen  rat-  und  hilfeflehend  mit  reichen  Geschenken  zu  dem 
„Rabbe",  zu  dem  ,, guten  Jid",  so  füllten  sich  an  den  Feier- 
tagen die  Städtchen,  wo  solche  sich  aufhielten,  mit  Tausenden, 
denn  da  war  es  Pflicht  für  jeden  Chassid,  zu  der  geheiligten 
Stätte  seines  Zaddi^s  zu  wallfahren.  Die  Chassidim  waren 
weit  heftigere  und  hartnäckigere  Gegner  der  Aufklärung  als 
die  Orthodoxen,  da  ihr  mystisches  Gebahren  keinerlei  Kritik 
vertragen  konnte. 

Bis  zu  den  vierziger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
hatten  die  Chassidim  sich  nicht  im  mindesten  um  die  Ange- 
legenheiten der  Warschauer  Gemeinde  bekümmert.  Der  da- 
malige Oberrabbiner,  der  große  Gelehrte  Salomon  Lipschitz, 
war  ein  duldsamer  Mann,  der  den  Chassidim  keinen  Stein  in 
den  Weg  legte.  Aber  sein  Nachfolger,  Chaim  Davidsohn,  war 
ein  eifriger  Misnagged,  von  dem  die  Chassidim  heftige  Gegner- 
schaft befürchteten.  Sie  ergriffen  deshalb  die  Initiative,  und 
es  gelang  ihrer  eifrigen  Agitation,  zum  ersten  Male  einen  der 
ihrigen  bei  der  Wahl  des  ,, Gebethausvorstandes"  in  diese 
leitende  Körperschaft  der  Gemeinde  zu  bringen  (1840).  Dieser 
erste  Erfolg  öffnete  ihnen  die  Augen  über  den  selbst  von  ihnen 
ungeahnten  Umfang  ihrer  Macht.  Sie  setzten  es  schließlich 
durch,  daß  einer  der  bekanntesten  und  geachtetsten  ihrer  Zaddi- 
kim,  Reb  Mayer  Alter,  als  Oberrabbiner  dem  Warschauer 
Rabbinat  beigegeben  wurde,  so  daß  die  Chassidim  dort  auf 
gleicher  Stufe  mit  den  Orthodoxen  sich  befanden.  Damit 
war  einstweilen  der  Friede  in  der  Warschauer  Gemeinde 
hergestellt. 

Inzwischen  aber  machten  sich  im  polnischen  Judentum 
ganz  neue  Gedanken  und  Richtungen  bemerkbar,  die  von  den 
beiden  einander  bekämpfenden  Parteien  gar  nicht  beachtet 
worden  waren;  denn  jene  befanden  sich  ganz  außerhalb  des 
einen  wie  des  anderen  Lagers,  unter  den  mit  der  westlichen 
Bildung  erfüllten  Israeliten,  den  ,, Fortgeschrittenen",  wie  man 
sie  nannte.    Diese  Elemente  wollten  den  Rechten,  die  die  Juden 

6* 


84  Alexander  II.  vmd  die  Juden  Polens. 

verlangten  und  unter  Wielopolski  endlich  erhalten  hatten,  auch 
die  entsprechende  Pf  lichterfüllung  gegenüberstellen.  Sie  wünsch- 
ten vollwertige  Mitglieder  des  polnischen  Volkes  zu  werden, 
Sie  durchdrangen  sich  mit  der  Überzeugung,  daß  sie  einerseits 
treue  Israeliten  aber  zugleich  patriotische  Polen  sein  könnten 
und  müßten.  Sie  waren  entschlossen,  an  allen  Kämpfen, 
Triumphen  und  Leiden  des  Vaterlandes  sich  mit  aller  Kraft  zu 
beteiligen,  aber  auch  die  volle  Ebenbürtigkeit  mit  den  Polen 
christlichen  Glaubens  zu  beanspruchen.  Bisher  wurde  die 
Predigt  in  den  beiden  Warschauer  Synagogen  in  deutscher 
Sprache  gehalten,  denn  das  Deutsche  war  das  Idiom  des  reli- 
giösen Fortschritts  gewesen.  Die  patriotischen  Israeliten  er- 
öffneten eine  lebhafte  Agitation  gegen  die  fremdsprachliche 
Predigt,  und  im  Jahre  1857  setzten  sie  es  zu  ihrer  großen  Be- 
friedigung durch,  daß  von  nun  an  in  beiden  Gotteshäusern 
polnisch  gepredigt  wurde.  Einige  Jahre  später  —  1861  — 
erschien  die  erste  jüdische  Zeitschrift  in  polnischer  Sprache, 
das  von  Daniel  Neufeld  begründete  Wochenblatt  ,,Jutrzenka 
(Morgenröte)".  Sein  Programm  war :  Klärung  der  inner  jüdischen 
Angelegenlieiten,  Versöhnung  von  Orthodoxie  und  Fortschritt 
auf  sozialem  Gebiete,  Förderung  der  produktiven  Kräfte  im 
Judentume,  Verbreitung  richtiger  Anschauungen  über  diese 
Religion  unter  den  Christen.  Das  war  alles  etwas  unbestimmt 
und  mehr  phrasenhaft  als  wirksam.  Es  kam  auch  in  Wirk- 
lichkeit anders,  als  jenes  Programm  lautet.  Die  Jutrzenka 
wurde  im  Grunde  die  Vorkämpferin  des  engen  Anschlusses  der 
polnischen  Juden  an  ihre  christlichen  Mitbürger.  Sie  erweckte 
damit  helle  Begeisterung  unter  den  ,, Fortgeschrittenen";  diese 
Avaren  glücklich,  endlich  ein  Organ  gefunden  zu  haben,  wo  sie 
ihre  Anschauungen  öffentlich  aussprechen  und  diskutieren 
konnten.  Sie  gaben  dort  ihrer  Hoffnung  auf  eine  glückliche 
Zukunft  des  polnischen  Israel,  auf  dessen  Verbrüderung  mit 
dem  polnischen  Volke  offenen  und  zuversichtlichen  Ausdruck. 
Aber  auch  bei  den  gebildeten  Christen  trafen  diese  Bestrebungen 
auf  einen  fruchtbaren  Boden.  Der  Aufstand  in  Galizien  im 
Jahre  1848  hatte  die  Polen  über  die  Bedeutung  des  jüdischen 
Elementes  für  ihre  nationale  Sache  gründlich  aufgeklärt.  Als 
mit  dem  Jahr  1861  die  Vorbereitungen  zu  einer  neuen  gewalt- 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  85 

Samen  Empörung  gegen  die  russische  Herrschaft  begannen, 
gab  eine  in  Paris  erscheinende  Flugschrift  ,,Przeglad  naszych 
stanowisk"  („Betrachtung  über  unsere  Lage")  den  Polen  den 
Rat,  sich  an  die  Vaterlandsliebe  ihrer  Brüder  mosaischen 
Glaubens  zu  wenden,  zunächst  die  jüdische  Kaufmannschaft 
um  Beihilfe  bei  dem  Einschmuggeln  von  Gewehren  in  das  pol- 
nische Gebiet  anzugehen.  Es  haben  sich  dann  tatsächlich 
Juden  an  diesem  gefährlichen  Unternehmen  beteiligt:  Markus 
Kohn  in  Warschau  durch  seine  Filiale  in  Danzig,  Rafael  Kohn 
in  Breslau,  Julius  Reichstein  und  andere.  In  allen  Synagogen 
Warschaus  wurden  Predigten  gehalten,  um  die  Juden  an  ihre 
Bürgerpflichten  gegenüber  dem  polnischen  Vaterlande  zu 
mahnen.  Die  jüdische  Geistlichkeit,  mit  dem  Nachfolger  David- 
sohns, dem  Oberrabbiner  Dob  Berusch  Meiseis  an  der  Spitze, 
ahmte  dem  katholischen  Klerus  nach,  indem  sie  sich  mit  diesem 
lebhaft  an  den  Straßendemonstrationen  des  Winters  und  Früh- 
jahrs 1861  beteiligte,  die  bald  zu  blutigen  Zusammenstößen 
mit  den  russischen  Soldaten  führten.  Bei  der  großen  Massen- 
manifestation, die  zu  Ehren  der  fünf  ersten  Opfer  jener  Kämpfe 
stattfand,  schritt  Meiseis  neben  dem  katholischen  Erzbischof 
einher  und  wurde  Zeuge  des  Blutbads,  das  die  Soldaten  unter 
den  wehrlosen  Manifestanten  anrichteten.  Als  sich  eine  Deputa- 
tion von  Notabein  zu  dem  Statthalter  Fürsten  Gortschakow 
begab,  um  der  allgemeinen  Empörung  über  diese  Gewalttat 
Ausdruck  zu  geben  und  zugleich  die  Gefahren  der  Lage  zu 
schildern,  ging  Meiseis  zur  Seite  des  Paters  Wyszinski  an  der 
Spitze  dieser  Abordnung.  Dafür  ist  er  später  verhaftet  und  auf 
einige  Monate  aus  dem  Lande  verbannt  worden. 

Die  patriotische  Haltung  der  Juden  wurde  von  den  Polen 
laut  anerkannt  und  gepriesen.  Noch  kurz  vor  seinem  Tode  hielt 
am  3.  Mai  1861  der  von  den  ,, Weißen"  zum  polnischen  Throne 
ausersehene  Fürst  Adam  Czartoryski  in  Paris  eine  Art  Thron- 
rede, in  der  er  sagte:  ,, Unter  den  Söhnen  Polens,  die  durch 
Liebe  und  Opferfreudigkeit  sich  vereint  fühlen,  gibt  es  auch 
Israeliten.  Mit  uns  verknüpft  durch  Bande  gemeinsamer 
Leiden,  haben  sie  aufgehört,  eine  Nation  in  der  Nation  zu 
bilden  und  haben  sich  in  die  Arme  des  sie  so  lange  ernährenden 
Mutterlandes  geworfen." 


86  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens, 

Es  war  eine  Zeit  für  die  Juden  Polens,  \Aae  sie  später  nie 
wiederkehren  sollte,  sie  standen  in  harmonisclier  Verbrüderung 
mit  ihren  christlichen  Mitbürgern  zur  Erkämpfung  der  Freiheit 
und  Selbständigkeit  ihres  Landes.  Man  darf  sich  indes  kein 
allzu  rosiges  Bild  von  diesem  Verhältnisse  vorstellen:  im  Grunde 
haben  die  Polen  ihren  jüdischen  ,, Brüdern"  keinerlei  wichtige 
und  verantwortungsvolle  Tätigkeit  anvertraut,  sondern  sie 
dieses  wie  jedes  Mal  für  die  eigenen  Zwecke  ausgenutzt.  Nur 
gaben  sie  sich  damals  Mülie,  ihre  Selbstsucht  und  nationalen 
Hochmut  durch  geschickte  und  klingende  Phrasen  zu  verdecken, 
die  den  bisher  verachteten  und  mißhandelten  Juden  svie  liebliche 
Musik  erklangen  und  sie  über  die  wahre  Sachlage  vöUig  täusch- 
ten. Man  sprach  ihnen  vom  gemeinsamen  Vaterland,  von  der 
Gleichheit  aller  seiner  Söhne,  und  man  öffnete  ihrem  sozialen 
Ehrgeize  die  Tore  der  polnischen  Gesellschaft,  wo  sie  mit  be- 
zaubernder Liebenswürdigkeit  empfangen  und  behandelt  wur- 
den. Sie  erfuhren  die  große  moralische  Genugtuung,  daß  bei 
den  Eröffnungsfeierlichkeiten  der  ,, Hauptschule"  oder  Aka- 
demie —  eines  Werkes  des  Marquis  AVielopolski,  der  noch  immer 
in  unerschütterlichem  Optimismus  nach  Versöhnung  der  Polen 
mit  Rußland  strebte  —  auch  ihre  Geistlichkeit  in  den  Personen 
des  wieder  zurückgerufenen  Oberrabbiners  Meiseis  und  zweier 
Prediger  vertreten  war  (1862).  Auch  zu  den  ersten  Professoren 
gehörte  ein  Jude,  Jakob  Nathanson,  der  den  Lehrstuhl  der 
Chemie  bekleidete.  Daß  die  ,, fortgeschrittenen"  Juden  sich 
nicht  Genüge  tun  konnten,  um  den  Polen  für  diese  Gnade  ihre 
Dankbarkeit  zu  bezeugen,  ist  selbstverständlich  bei  Menschen, 
die  sich  wie  aus  der  Hölle  erlöst  fühlten  und  sich  der  Erreichung 
ihrer  glühend  erstrebten  Ziele  nahe  glaubten.  Schon  in  den 
ersten  Zeiten  der  Vorbereitung  des  Aufstandes,  als  die  pol- 
nischen Patriotinnen  für  die  in  den  Straßendemonstrationen 
Gefallenen  Trauer  anlegten,  ahmten  ihnen  die  Damen  der 
jüdischen  ,, Fortgeschrittenen"  nach,  und  lange  schwarze  Schleier 
umgaben  ihre  Gestalten. 

Die  furchtbare  Enttäuschung  ließ  nicht  lange  auf  sich 
warten. 

Im  Januar  1863  brach  in  Polen  und  Litauen  der  Aufstand 
aus.    Aber  die  Polen  hielten  wie  1830  die  Juden  möglichst  von 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  87 

ihrem  Heere  entfernt  und  gebrauchten  sie  lieber  in  Verwaltungs- 
stellungen. Trotzdem  gab  es  viele  Juden,  die  ihr  Leben,  noch 
mehrere,  die  ihr  Vermögen  und  ihre  Laufbahn  der  polnischen 
Sache  zum  Opfer  gebracht  haben.  Einer  der  hervorragendsten 
Führer  Avar  Leon  Franko wski,  der  sogar  zum  Kriegsminister 
des  Aufstandes  designiert  war,  aber  verwundet  und  gefangen 
wurde.  In  dem  Treffen  bei  Warschau  (April  1863)  waren  unter 
den  71  auf  polnischer  Seite  Gefallenen  sieben  Juden.  Auch  aus 
Galizien  zogen  viele  Juden  zum  Kampfe  nach  Polen,  obwohl 
es  gleichzeitig  in  Lemberg  Pöbelexzesse  gegen  die  Juden  gab. 
Das  revolutionäre  Zentralkomitee  legte  den  Juden  starke 
Kriegssteuern  auf,  die  bereitwillig  gezahlt  "«oirden.  Und  doch 
war  das  ganze  Unternehmen  von  vornherein  aussichtslos.  Die 
Polen  hatten  nur  10  000  meist  ungeübte  und  schlechtbewaffnete 
Streiter  und  400  000  polnische  Gulden  den  ungeheuren  Macht- 
mitteln des  russischen  Reiches  entgegenzustellen.  Das  Land- 
volk, von  dem  Zaren  befreit,  ließ  sie  zumeist  im  Stiche.  Bald 
erlitten  sie  allerorten  vernichtende  Niederlagen.  Ebensowenig 
glückte  es  ihnen,  die  tätige  Unterstützung  der  fremden  Mächte 
zu  erlangen.  Zwar  sandten  England,  Frankreich.  Österreich 
scharfe  Noten  nach  Petersburg,  aber  das  bekümmerte  die 
dortigen  Staatsleiter  um  so  weniger,  als  sich  Preußen  entschieden 
auf  ihre  Seite  stellte  und  sie  sicher  waren,  daß  die  anderen 
sich  mit  leeren  Worten  begnügen  würden.  So  erteilte  ihnen 
die  russische  Regierung  schroff  abweichende  Antworten  —  und 
die  drei  Mächte  verhielten  sich  still. 

Die  ,, Undankbarkeit"  der  Polen  seinen  versöhnlichen  Ab- 
sichten gegenüber  und  ihr  augenscheinlicher  Wille,  sich  ganz 
von  ihm  und  Rußland  loszulösen,  brachte  den  Zaren  Alexanderll . 
zu  dem  Entschlüsse,  mit  dem  Systeme  der  Güte  und  der  Zu- 
geständnisse in  Polen  zu  brechen  und  vielmehr  zu  dem  Zwangs- 
regime seines  Vaters  zurückzukehren.  Wielopolski  und  der 
Statthalter  Großfürst  Konstantin  mußten  im  August  1863 
Warschau  verlassen.  An  ihre  Stelle  traten  Generale:  für  das 
eigentliche  Polen  Graf  Berg,  für  Litauen  —  wo  sich  übrigens 
die  Juden  viel  weniger  für  die  polnische  Sache  erwärmt  hatten  — 
Graf  Murawjew,  ,,der  Hänger",  beide  mit  unbeschränkten  Voll- 
machten,   mit   wahrhaft   diktatorischer    Gewalt.     Noch    einige 


88  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens. 

Monate  hindurch  leistete  in  Warschau  selbst  die  „geheime  Re- 
gierung" Widerstand.  Die  „Weißen",  die  Aristokraten,  waren 
völlig  aus  ihr  entfernt  zugunsten  der  ,, Roten",  der  Radikalen, 
die  nun  dem  zarischen  Schrecken  den  revolutionären  Schrecken 
entgegensetzten  und  durch  ihre  ,, Hängegendarmen"  mit  Mord 
gegen  alle  der  Sache  Feindlichen  oder  auch  nur  Verdächtigen 
wüteten.  Der  zunächst  gemäßigte  Graf  Berg  wandte  nunmehr 
auch  die  schärfsten  Maßregeln  an,  und  er  blieb  der  Stärkere. 
Als  dann  auch  Österreich,  erschreckt  von  dem  unter  den  Auf- 
ständischen herrschenden  Radikalismus  und  von  der  schwachen 
Haltung  Englands  und  Frankreichs  enttäuscht,  sich  mit  Ruß- 
land und  Preußen  über  gemeinsame  Maßregeln  gegen  die  Em- 
pörer einigte,  verloren  diese  jede  Möglichkeit  des  Erfolges. 
1864  wurden  in  der  Warschauer  Zitadelle  der  letzte  polnische 
Diktator  und  vier  seiner  Direktoren  gehängt.  Der  Aufstand 
war  zu  Ende. 

Wie  drei  Dezennien  vorher,  hatte  die  Phantasterei  und 
Verblendung  der  Polen,  ihre  absolute  Verkennung  der  realen 
Verhältnisse  einer  vielversprechenden  Entwicklung  ihres  natio- 
nalen Lebens  und  Staatswesens  ein  Ende  bereitet.  Es  war 
selbstverständlich,  daß  Alexander  II.  über  die  seinen  Ver- 
söhnungsversuchen zuteil  gewordene  Abweisung  äußerst  ent- 
rüstet und  überzeugt  war,  daß  Milde  den  Polen  gegenüber 
nur  Anstachelung  ihrer  Begehrlichkeit  bedeute.  So  wurde 
das  alte  Repressivsystem  Nikolaus'  I.  wieder  hervorgeholt  und 
mit  unerbittlicher  Strenge  angewendet.  Furchtbare  Strafen, 
Verbote,  Beschränkungen  sollten  den  Polen  die  Erhebung  von 
Aufständen  gegen  Rußland  für  immer  verleiden,  und  sie  haben 
in  der  Tat  ihr  Ziel  besser  erreicht,  als  alles  Entgegenkommen 
und  alle  Zugeständnisse:  seit  1864  haben  die  Polen  sich  nicht 
mehr  gegen  ihre  Unterdrücker  zu  erheben  gewagt ;  nicht  einmal 
deren  klägliche  Niederlagen  im  Japanischen  Kriege  haben 
ihnen  dazu  Mut  gemacht.  Alles,  was  irgend  dem  national- 
polnischen Leben  entsprechen  konnte,  wurde  nunmehr  in  rück- 
sichtsloser Weise  unterdrückt  und  beseitigt ;  dagegen  diente  eine 
Reihe  von  Gesetzen  dem  Prozesse  der  Assimilierung  der  Polen 
mit  russischem  Wesen,  und  eine  andere  beförderte  die  Befreiung 
der  Landleute  und  ihre  ökonomische  Stärkung,  um  diese  zahl- 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  89 

reiche  Klasse  gegen  den  russenfeindlichen  Adel  vollends  an  die 
Sache  des  Zaren  zu  knüpfen. 

Auch  die  Juden  in  Polen  und  Litauen  hatten  den  Zorn  der 
russischen  Sieger  zu  fühlen.  Murawjew  „der  Hänger"  vertrieb 
zahlreiche  Juden  aus  den  litauischen  Dörfern,  weil  sie  die  Revolu- 
tion begünstigt  hätten.  Auf  sein  Verlangen  hob  die  Regierung 
in  Litauen  die  Erlaubnis  wieder  auf,  daß  Juden  von  Adligen 
Landgüter  erwerben  könnten.  Und  dann  klagte  man  über  die 
ausschließliche  Hinneigung  der  Juden  zum  Handel.  Im  heiligen 
Kiew  ward  den  Juden  abermals  der  erst  vor  wenigen  Jahren 
gestattete  Aufenthalt  verboten,  um  den  ausschließlich  russischen 
Charakter  der  Stadt  zu  wahren;  mit  unglaublicher  Grausamkeit 
zwang  man  die  Juden,  die  im  Vertrauen  auf  das  kaiserliche 
Wort  in  Kiew  Geschäfte  begründet  und  Häuser  angekauft  hatten, 
diese  Stadt  in  der  Frist  von  drei  Tagen  zu  verlassen.  Im  eigent- 
lichen Polen  wurden  im  Herbst  1863  zahlreiche  Juden  als  Re- 
volutionäre verhaftet,  darunter  der  Prediger  Kramstyck.  Das 
Trachtenedikt  vom  Jahre  1853  wurde  1864  erneuert;  abermals 
sah  man  in  den  Straßen  der  polnischen  Städte  die  Soldaten, 
mit  Messer  und  Scheere  bewaffnet,  den  vorübergehenden  Juden 
Bart  und  Seitenlocken  abschneiden.  Noch  schlimmer  war  die 
gleichzeitige  Wiedereinführung  der  Sonderabgabe  von  Koscher- 
fleisch, allerdings  nur  zu  zwei  Dritteln  der  früheren  Höhe,  aber 
doch  mit  dem  Gefolge  der  alten  Plackereien.  Und  dann  war 
sie  ja  eine  Verletzung  der  erst  vor  wenigen  Jahren  den  Israeliten 
verliehenen  Gleichstellung.  Ein  Lichtblick  dagegen  war  es, 
daß  die  Eröffnung  des  Staatsdienstes  für  die  Juden,  die  in 
Rußland  stattgefunden  hatte,  am  13.  Februar  1866  auch  den 
Juden  Polens  ausdrücklich  gewährleistet  wurde. 

Die  Unterdrückung  der  polnischen  Bewegung  ließ  in  der 
jüdischen  Gemeinde  Warschau  für  die  inneren  Streitigkeiten 
Raum.  Oberrabbiner  Meiseis  war  nach  Warschau  zurück- 
gekehrt, aber  zu  sehr  mit  der  revolutionären  Partei  verbunden, 
als  daß  er  nach  deren  Niederlage  sein  Amt  hätte  weiter  ver- 
walten können  —  er  ist  erst  1870  in  Warschau  gestorben.  Auf 
religiösem  Gebiete  war  er  ein  versöhnlicher  Mann  gewesen,  der 
zwischen  Chassidim  und  Misnaggedim  den  Frieden  aufrecht 
erhalten  hatte.  Zu  seinem  Nachfolger  jedoch  ernannte  der  Gebet- 


90  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens. 

haus  vorstand  den  Jakob  Gesundheit,  eine  der  größten  talmu- 
dischen Autoritäten,  zugleich  aber  einen  der  erbittertsten 
Gegner  der  Chassidim.  Diese  boten  deshalb  alles  auf,  um  die 
Bestätigung  Gesundheits  durch  die  Regierung  zu  hintertreiben. 
Allein  trotz  jahrelanger  Bemühungen  unterlagen  sie  endlich; 
1868  bestätigte  der  Statthalter  Graf  Berg  den  neuen  Ober- 
rabbiner. Ein  Feldzug  der  Verleumdung  und  Intrigen,  den 
dann  die  Chassidim  gegen  Gesundheit  unternahmen,  blieb 
gleichfalls  erfolglos.  In  ihrem  Haße  gegen  Gesundheit  und 
aus  Furcht  vor  seiner  religiösen  Macht  verbanden  sie  sich 
darauf  mit  ihren  grundsätzlichen  Widersachern,  den  ,, Fort- 
geschrittenen", und  verhalfen  diesen  zum  Siege  im  Wahl- 
kampfe in  den  Gebethausvorstand.  Ihre  Berechnung  war  eine 
richtige  gewesen:  der  streng  orthodoxe  Oberrabbiner  konnte 
sich  auf  die  Länge  mit  den  freiheitlichen  und  assimilatorischen 
Ideen  der  zum  Teile  dem  überlieferten  Judentume  geradezu 
abgeneigten  neuen  Vorstandsmitglieder  nicht  vertragen.  Nach 
drei  Jahren  eines  auf  allen  Seiten  große  Aufregung  und  Er- 
bitterung erregenden  Kampfes  mußte  Gesundheit  sein  Amt 
niederlegen  (1874).  An  seiner  Stelle  wurde  ein  mehrköpfiges 
Rabbinerkollegium  gebildet,  von  dem  immer  ein  Mitglied  je 
einen  Monat  lang  den  Vorsitz  führen  und  an  den  Sitzungen 
des  Gemeindevorstandes  Anteil  nehmen  sollte.  Allein  der  durch 
die  Chassidim  den  ,, Fortgeschrittenen"  erwachsene  Vorteil  war 
nur  ein  vorübergehender,  denn  diese  hatten  in  der  jüdischen 
Masse  keinen  Boden,  die  vielmehr  ausschließlich  in  dem  zähesten 
Konservatismus  beharrte. 

Die  ,, Fortgeschrittenen"  standen  also  im  Gegensatze  zu 
der  weit  überwiegenden  Menge  ihrer  eigenen  Glaubensgenossen. 
Und  dabei  verloren  sie  auch  den  Halt,  den  ihnen  die  Sympathien 
der  polnischen  Nationalgesinnten,  denen  sie  sich  mit  Begeiste- 
rung anschlössen,  hätte  gewähren  sollen  und  können.  Die  Polen, 
die  einen  Sündenbock  für  ihr  selbstverschuldetes  Unglück 
suchten,  fanden  ihn  auf  bequemste  Weise  in  der  angeblichen 
Gleichgültigkeit  ihrer  jüdischen  Landesgenossen.  Und  doch 
entsprach  solcher  Vorwurf  durchaus  nicht  der  Wahrheit,  wie 
wir  gesehen  haben.  Aber  so  erging  es,  Avie  gewöhnlich, 
den   Juden:   die  russische  Regierung   benachteiligte  sie  wegen 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  91 

revolutionärer  Gesinnung,  und  die  Polen  beschuldigten  sie  der 
Indifferenz  gegenüber  der  Revolution.  Der  Antisemitismus, 
der  in  der  nationalen  Ausschließlichkeit  der  Polen  so  tief  be- 
begründet war,  machte  sich  von  neuem  mehr  und  mehr  fühlbar. 
Der  Konservatismus  der  jüdischen  Masse  und  der  zähe  Wider- 
stand, den  sie  allen  Assimilations versuchen  entgegensetzte,  er- 
regten den  lebhaften  Unwillen  der  leitenden  polnischen  Kreise, 
die  sich  in  ihren  angeblichen  Sympathien  für  ihre  ,, israelitischen 
Brüder"  bitter  getäuscht  zu  haben  behaupteten.  Zu  diesem 
politischen  und  sozialen  Gegensatze  kam  ein  ökonomischer. 
Indem  die  russische  Regierung  bewußt  darauf  hinarbeitete, 
das  alte  feudal-aristokratische  Regiment  in  ein  kapitalistisches 
umzuformen  und  damit  die  Macht  des  nationalgesinnten  Adels 
zu  brechen,  kräftigte  sie  den  Einfluß  des  städtischen  Bürger- 
tums. Dieses  aber  sah  in  den  Juden  die  gefährlichsten  Kon- 
kurrenten, um  so  mehr,  als  die  diesen  gewährte  Gewerbefreiheit 
die  Zahl  und  Bedeutung  der  jüdischen  Kaufleute  beträchtlich 
vermehrt  hatte.  Es  erhob  also  gegen  die  Juden  den  schweren 
Vorwurf,  daß  ihre  Tätigkeit  die  Produktivkraft  des  Landes 
herzlich  wenig  fördere,  indem  sie  den  Handel  der  Industrie, 
dem  Handwerke  und  Ackerbau  vorzögen  —  kurz,  man  begann 
wieder,  die  Juden  als  ein  schädliches  Element  im  Volkskörper 
zu  betrachten.  Der  Nachfolger  der  ,,Jutrzenka",  der  ,,Izraelita" 
(seit  1866),  hatte  über  die  Abneigung  der  polnischen  Gesell- 
schaft zu  klagen;  und  anderseits  beschuldigte  das  polnische 
Blatt  ,,Przeglad"  die  Juden  separastischer Tendenzen,  weil  der 
,,Izraelita"  —  aus  guten  und  zutreffenden  Gründen  —  für  die 
Israeliten  die  Errichtung  besonderer  Elementarschulen  forderte. 
Die  russischen  Behörden  in  Polen  waren  aber  noch  juden- 
feindlicher als  die  Gesellschaft  und  Intelligenz.  Das  sprach 
sich  in  dem  interessanten  Berichte  der  Provinzialgouverneure 
über  die  Wirkung  der  seit  zehn  Jahren  bestehenden  Emanzipa- 
tion der  Juden  offen  aus.  Er  war  mit  einem  zusammenfassenden 
Vorworte  des  Statthalters  Grafen  Berg  versehen.  Dieser  höchste 
Beamte  in  Polen  führte  aus,  daß  die  jüdische  Bevölkerung, 
trotz  der  Gleichstellung,  genau  wie  früher  ihre  für  Volk  und 
Regierung  gleich  schädliche  Tätigkeit  beibehalten  habe  und  die 
ihr  erteilten  Rechte  einzig  und  allein  zu  eigennützigen  Zwecken 


92  Alexander  II.  und  die  Juden  Polens. 

ausbeute.  Keine  von  der  Regierung  zugunsten  der  Juden  ein- 
geführte Maßnahme  habe  die  unter  ihnen  eingewurzelten 
Irrtümer  zu  erschüttern,  ihre  inneren  Zustände  und  den  ver- 
derbhchen  Charakter  ihrer  Betätigung  zum  Besseren  zu  wenden 
vermocht.  Diese  Betätigung  sei  nach  wie  vor  von  brutalem 
Eigennutze,  talmudischem  Aberglauben  und  fanatischem  Wider- 
willen gegen  jeden  Ausgleich  mit  den  Christen  beherrscht. 

Tatsächlich  lag  diesen  Vorwürfen,  so  gehäßig  übertrieben 
sie  auch  waren,  eine  ge^^ässe  Wahrheit  zugrunde.  Aber  Graf 
Berg  und  seine  Gouverneure  übersahen,  oder  wollten  übersehen, 
daß  eine  einhundertjährige  Unterdrückung,  ]\Iißhandlung  und 
Ehrloserklärung  einer  großen  Volksschicht  in  ihren  notwendigen 
Rück\^irkungen  auf  diese  selbst  nicht  in  zehn  Jahren  meder 
wettgemacht  werden  konnten.  Hier  hätte  es  einer  verständnis- 
vollen, liebreichen  und  in  sich  gleichmäßigen  Geduld  und  Aus- 
dauer bedurft.  Nur  so  hätte  man  hoffen  und  fordern  können, 
daß  die  von  der  Sklaverei  und  dem  instinktiven  Kampfe  gegen 
solche  erzeugten  Fehler  in  dem  Charakter  der  polnischen  Juden 
—  Fehler,  denen  doch  auch  große,  aber  unbeachtete  Vorzüge 
gegenüberstanden  —  allmählich  unter  der  belebenden  Sonne  der 
Freiheit  verlöschen  würden.  Es  ist  das  der  große  Irrtum  nicht 
nur  der  russischen  Beamten  und  Politiker,  sondern  auch  zahl- 
reicher Elemente  außerhalb  des  Zarenreiches,  daß  sie  meinen, 
der  emanzipierte  Jude  müsse  sofort  von  allen  Schlacken  einer 
nicht  selbst  verschuldeten  unglücklichen  Vergangenheit  ge- 
reinigt sein.  Die  christliche  Unterdrückung  hat  den  Juden 
nicht  allein  materiell,  sondern  auch  moralisch  geschädigt.  Sie 
hat  mehr  als  ein  Jahrtausend  angedauert  —  und  in  wemgen 
Jahren  soll  ihre  Einwirkung  wie  fortgeblasen  sein  ?  Das  ist  eine 
Unmöglichkeit.  Nicht  daß  die  Juden  nicht  besser,  daß  sie 
nicht  schlechter  geworden  sind,  daß  sie  sich  eine  so  große 
Reihe  persönlicher  Tugenden  gewahrt  haben,  müßte  hervor- 
gehoben werden. 

Aber  diese  Gerechtigkeit  und  Geduld  den  Juden  gegenüber 
ist  nur  bei  wenigen  Einsichtigen  zu  finden;  und  so  war  es  auch 
im  damaligen  Polen.  Vielmehr  nahm  dort  der  Antisemitismus 
bald  brutalere  Formen  an.  Dazu  trug  vor  allen  bei  der  Literat 
Jan   Jelenski,   bei   dem  sich  die  Abneigung  gegen  die   Juden 


Alexander  II.  und  die  Juden  Polens.  93 

allmählich  bis  zum  Fanatismus  steigerte,  und  der  durch  seine 
Schriften  der  eifrige  und  erfolgreiche  Verbreiter  des  schlimmsten 
Antisemitismus  wairde.  In  seiner  ersten,  in  der  Mitte  der 
siebziger  Jahre  erschienenen  Broschüre  ,, Juden,  Deutsche  und 
wir"  erklärt  er  offen  und  geradezu  den  Juden  zugleich  mit 
den  Deutschen,  in  deren  Händen  sich  die  mächtigsten  Zweige 
der  Industrie  und  des  Handels  befanden,  auf  ökonomischen 
Gebiete  den  Krieg  und  fordert  die  Polen  auf,  die  gesamte 
produktive  Tätigkeit  auf  sich  selbst  zu  nehmen.  Seine  publizi- 
stische Wirksamkeit  schlug  aber  allmählich  einen  immer  schär- 
feren Ton  speziell  gegen  die  Israehten  an.  Zuerst  erregte  sie 
in  der  polnischen  Gesellschaft  einiges  Befremden,  aber  seine  An- 
schauungen bahnten  sich  bei  ihr  allmählich  den  Weg,  und  zwar 
um  so  mehr,  als  der  von  dem  benachbarten  Deutschland  ver- 
kündete und  betätigte  Antisemitismus  die  Polen,  trotz  ihrer 
grundsätzlichen  Abneigung  gegen  alles  Deutsche,  schließlich 
in  hohem  Maße  beeinflußte.  Sollte  es  doch  auch  in  dem  sich 
mit  seiner  Freiheitsliebe  und  Modernität  brüstenden  Polen  end- 
lich zu  einer  Nachahmung  der  unter  Alexander  III.  in  Rußland 
wütenden  Pogrome  kommen !  So  ging  die  von  Jelenski  und 
seinen  Gesinnungsgenossen  ausgestreute  Saat  blutig  auf.  Ihre 
Sprößlinge  wuchern  bis  zum  heutigen  Tage. 


Kapitel  Drei. 

Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II. 
und  die  Juden  in  Rußland. 


JL/ie  geistige  Bewegung  unter  den  Juden  Rußlands  hatte, 
wenn  auch  nur  bei  einer  Minderheit  von  ihnen,  doch  schnell 
eine  verhältnismäßig  bedeutende  Ausdehnung  gewonnen,  seit- 
dem Alexander  II.  ihrem  Lerneifer  alle  Toren  geöffnet  und  ihrem 
Ehrgeiz  die  Verwaltungs-  und  Lehrämter  aller  Grade  in  Aus- 
sicht gestellt  hatte.  Es  hätte  wenig  gefehlt,  so  würden  Juden 
die  höchsten  Staffeln  der  sozialen  Leiter  erklommen  haben. 
Allein  baldigst  trat  auch  bei  einem  beträchtlichen  Teile  der 
russischen  Intelligenz  —  yde  in  Deutschland  —  die  Besorgnis 
vor  dem  mächtigen  Wettbewerb  des  jüdischen  Geistes  hervor, 
und  leider  wußten  gerade  diese  Elemente  einen  bestimmenden 
Einfluß  auf  die  Regierung  zu  gewinnen.  Denn  sie  hüllten  sich 
in  den  Mantel  der  Bauernfreundlichkeit,  die  damals  oben  das 
entscheidende  Motiv  ausmachte.  Man  behauptete,  ohne  nur 
einen  Schatten  hinreichenden  Beweises,  daß  die  Juden,  wenn 
sie  in  den  Besitz  aller  bürgerlichen  und  staatsbürgerlichen 
Rechte  gelangten,  eine  absolute  materielle  und  gesellschaftliche 
Herrschaft  über  die  Bauern  ausüben,  diese  gänzlich  von  sich 
abhängig  machen  würden.  Bald  fand  der  Antisemitismus  des 
Eigennutzes  aber  ein  noch  Anrksameres  Feld  der  Betätigung  in 
der  sich  wieder  neu  bildenden  Partei  der  Altrussen,  die,  gleich- 
wie Nikolaus  I.  und  dessen  L^mgebung,  das  Zarenreich  auf 
den  alleinigen  Boden  desRussentums  und  seiner  alten  Überliefe- 
rung zu  stellen  bestrebt  waren. 

Diese  Altrussen  wollten  von  Freiheit,  Verfassung,  Re- 
formen nichts  wissen.    Das  seien  Erzeugnisse  der  ,, verfaulten" 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.     95 

westlichen  Kultur,  deren  Anhänger,  die  ,, Westler"  —  Sapadniki 
—  sie  als  Verräter  an  der  heiligen  Sache  des  eigenen  Volkes 
betrachteten  und  brandmarkten.  Der  Aufstand  der  Polen  be- 
lebte diese  Chau\inistenpartei  Rußlands  von  neuem,  gewann 
ihr  Anhänger,  stachelte  ihren  Fanatismus  an.  Nur  das  echte 
Russentum  und  die  orthodoxe  Kirche  dürften  herrschen,  alle 
anderen  ethnischen  und  religiösen  Sonderheiten  müßten  unter- 
drückt werden.  Selbstverständlich  erschien  dieser  Partei  kein 
Fremdkörper  gefährlicher  und  bekämpfenswerter,  als  die  semi- 
tischen, nichtchristlichen  Juden:  und  Judenfeindschaft  wurde 
eines  der  Avichtigsten  Paniere  der  altrussischen  Partei.  Sie  wurde 
aber  von  Jahr  zu  Jahr  in  Volk  und  Regierung  einflußreicher. 
An  ihre  Spitze  traten  hervorragende  Männer,  wie  der  Historiker 
Kirjakow,  der  Nationalökonom  Samarin  —  der  übrigens  vor 
allem  ein  grimmiger  Deutschenhaßer  war  — ,  der  bisher  demo- 
kratisch gesinnte  Fürst  Tscherkasky,  vor  allem  aber  Michael 
NikiforowitschKatkow,  der  hervorragendste  Publizist  Rußlands, 
einst  ein  begeisterter  Prophet  der  Freiheit  und  Selbstregierung, 
auch  der  Gleichstellung  der  Juden,  aber  seit  dem  polnischen 
Aufstande  durchaus  für  die  nationalistische  Sache  gewonnen. 
Sein  in  allen  Kreisen  der  Nation  mit  Andacht  gelesene  und 
einflußreiche  ,, Moskauer  Zeitung"  predigte  die  gewaltsame 
Russifizierung  Polens,  Litauens  und  der  Ostseeprovinzen,  die 
kriegerische  Verbreitung  der  russischen  Herrschaft  als  Vor- 
macht aller  Slawen,  streng  absolutistisches  und  reaktionäres 
Regiment  im  Innern.  Wurde  Katkow  seinen  früheren  juden- 
freundlichen Tendenzen  nur  durch  die  notwendigen  Folgen 
seiner  neuen  Parteinahme  ungetreu,  so  trat  die  Judenfeindschaft 
in  den  Vordergrund  bei  dem  frühesten  der  Altrussen  und 
Slawophilen,  Iwan  Sergej e witsch  Aksakow.  Schon  inmitten  der 
Befreiungszeit,  1862,  hatte  er  in  seinem  Blatte  ,,Djen"  gegen 
die  Zulassung  der  Juden  zu  Staatsämtern  Protest  erhoben, 
und  seitdem  hatte  sein  Antisemitismus  eine  immer  gefähr- 
lichere Gestalt  angenommen.  Es  sprach  den  Juden  und 
ihrer  Religion  geradezu  die  Existenzberechtigung  ab;  sie 
müßten  eben  alle  zum  Christentum  übertreten,  einen  an- 
deren Ausweg  gebe  es  nicht.  Diese  Artikel  erregten  all- 
gemeines Aufsehen. 


96     Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

Solche  Angriffe  durften  aber  von  den  geschmähten  und 
bedrohten  Israeliten  nicht  zurückge^^iesen  werden  —  das 
duldete  die  Zensur  nicht.  Der  ,,Zion"  mußte,  da  ihm  über 
die  alle  Juden  erregenden  Angelegenheiten  nicht  zu  sprechen 
erlaubt  war,  sein  Erscheinen  einstellen.  Erst  sieben  Jahre 
später  begründete  der  bekannte  Schriftsteller  Smolenski  den 
,,Haschachar",  eine  hebräisch  geschriebene  Zeitschrift,  die  sich 
zumeist  mit  den  inneren  Fragen  der  russischen  Judenheit  be- 
schäftigte, in  der  Absicht,  den  zähen  Konservatismus  der 
jüdischen  Masse  zu  bekämpfen. 

Inzmschen  hatte  der  Antisemitismus  in  der  russischen 
Presse,  gefördert  durch  die  Ansteckung  von  Deutschland  aus, 
immer  bedrohlicheren  Umfang  angenommen.  Der  Preßstimmen, 
die  die  Juden  verteidigten,  wurden  immer  weniger.  Auch  an- 
geblich liberale  Blätter  MÜlilten  gegen  die  Israeliten,  wie  der 
"vielgelesene  ,,Golos";  vergebens  widersprach  ihm  der  ,,Westnik 
Ewropi",  vergebens  erhielt  er  sogar  eine  amtliche  Verwarnnng 
wegen  seiner  Hetzereien  gegen  Juden  und  Deutsche  —  er  stand 
ganz  unter  dem  Baime  der  slawophilen  Richtung.  Als  an  den 
Ostertagen  des  Jahres  1871  die  Griechen  in  Odessa,  deren  kom- 
merzielle Tätigkeit  in  lebhaftem  Wettbewerb  mit  der  der  Juden 
stand,  eine  Judenverfolgung  in  Szene  setzten,  wurde  sie  von 
vielen  russischen  Zeitungen  nicht  allein  nicht  mißbilligt,  sondern 
geradezu  verteidigt.  Die  Behörden  Odessas  hatten  die  Meuterer 
zwei  Tage  lang  ungehindert  die  Judenliäuser  plündern  und 
verwüsten  lassen;  erst  am  dritten  waren  sie  eingeschritten, 
hatten  zehn  Aufrührer  niedergeschossen,  20  verA^Tindet,  1159 
verhaftet.  Aber  für  den  unermeßlichen  ihnen  zugefügten 
Schaden  erhielten  die  Israeliten  Odessas  keinen  Ersatz.  Man 
erblickte  plötzlich  schlimme  Gefahren,  die  den  Völkern  Europas 
von  den  Juden  drohten ;  man  erzählte  sich  mit  stillem  Schauder 
von  dem  Bande,  das  die  ,,Alliance  israelite  universelle"  um 
alle  Juden  schlinge,  in  der  Absicht,  deren  Macht  über  alle 
christlichen  Nationen  zu  erhöhen,  was  um  so  bedenklicher  sei, 
als  diese  furchtbaren  Pläne  ganz  im  geheimen  ausgedacht  und 
verfolgt  würden.  In  jenen  Zeiten  übte  das  von  dem  Rene- 
gaten Braffmann  1869  veröffentlichte  Buch  ,,Über  den  Kahal" 
die  verderblichste  Wirkung,  indem  es  nicht  nur  für  die  russische 


Das  Ende  der  Regierixng  Alexanders  II.  vmd  die  Juden  in  Riißland.     97 

Gresellschaft,  sondern  auch  für  die  Regierung  eine  unerschöpf- 
liche Quelle  judenfeindlicher  Argumente  wurde.  Es  suchte  die 
große  Schädlichkeit  des  Talmuds  zu  beweisen,  mit  diesem  Werke 
selbst  entnommenen  Belegen,  die  freilich  ^Wllkürlich  aus  dem 
Zusammenliange  gerissen  und  schamlos  entstellt  waren,  aber 
auf  lange  Jahre  hinaus  den  schlimmsten  Einfluß  übten.  Der 
Talmud,  legte  Braffmann  dar,  schließt  nicht  nur  die  Juden 
fest  zusammen  und  macht  jeden  Ausgleich  zwischen  ihnen 
und  der  anderweiten  Bevölkerung  unmöglich,  sondern  er  ent- 
hält auch  die  dem  Sittengesetz  und  dem  Staatswohl  gefähr- 
lichsten Lehren.  Die  judenfeindlichen  Zeitungen  forderten  nun- 
mehr eine  durchgreifende  Revision  der  talmudischen  Gesetz- 
gebung und  die  Unterdrückung  aller  jener  Mißbräuche  und 
Unsitten,  die  die  Abschließung  des  israelitischen  Lebens  gegen 
die  Außenwelt  und  zumal  die  Zurückweisung  der  modernen 
Zivilisation  zur  Folge  hätten.  Erst  nachdem  diese  Säuberung 
des  Judentums  vollbracht  sei,  sollten  die  Ausnahmegesetze 
gegen  die  Israeliten  abgeschafft  und  diese  zu  Vollbürgern  des 
russischen  Reiches  erhoben  werden. 

Noch  schlimmer  wairde  das  Geschrei  gegen  die  Juden  nach 
Verkündigung  des  Gesetzes  über  die  allgemeine  WehrpfHcht, 
das  jene  ebenso  betraf  wie  alle  anderen  Bewohner  Rußlands 
(1874).  Man  muß  sagen,  daß  die  damals  ihnen  gemachten 
Vorwürfe  nicht  unbegründet  waren.  Den  schwächlichen  jü- 
dischen jungen  Leuten,  zumal  den  des  Talmudstudiums  in 
stiller  Klause  beflissenen,  war  die  Vorstellung  des  Militärdienstes 
mit  seinen  körperlichen  Anstrengungen  und  seinem  Leben  in- 
mitten der  gefürchteten  ,,Gojim"  entsetzlich.  Früher  konnte 
man  sich  freikaufen,  Stellvertreter  mieten  —  das  sollte  nun  auf- 
hören. Vergebens  versammelten  sich  die  Rabbiner,  des  Ernstes 
des  Augenblicks  bewußt,  in  Kiew  und  ermahnten  die  Gläubigen 
zur  Ableistung  der  Heerespflicht.  Die  Juden  entzogen  sich 
ihr  nichtsdestoweniger  in  Masse.  Es  fand  sich,  daß  hier  und 
da  in  die  Bevölkerungslisten  kaum  ein  Drittel  der  jungen 
jüdischen  Leute  eingeschrieben  war;  auch  sonst  wurden  die 
Listen  vielfach  gefälscht,  um  jene  als  ,, einzige  Söhne"  dienstfrei 
zu  machen.  Solche  Vorkommnisse  wurden  von  der  Presse 
weidlich    ausgebeutet.     Auch   die   Regierung   schritt   ein.     Zu- 

Philippson,  Xeuest©  Geschiebte  der  Juden,  Bd.  III.  ' 


98     Das  Ende  der  Regiening  Alexanders  II.  vind  die  Juden  in  Rußland. 

nächst  schloß  sie  die  Juden  grundsätzlich  von  der  Mitglied- 
schaft der  Aushebungskommissionen  aus.  Dann  erließ  sie  eine 
Reihe  von  Ausnahmegesetzen,  um  die  Durchführung  der  Wehr- 
pflicht bei  den  Juden  zu  sichern.  Es  WTirde  eine  genaue  Zählung 
aller  Israeliten  veranstaltet.  Der  Senat  richtete  an  die  Gou- 
verneure ein  Rundschreiben  mit  eingehender  Darstellung  der 
sämtlichen  Kniffe,  die  Juden  je  angewendet  hatten,  um  sich 
dem  Heere  zu  entziehen.  Das  erregte  allerorts  gegen  diese 
letzteren  große  Mißstimmung. 

Die  Zahl  der  Judenfeinde  A^Tirde  dann  durch  einen  Mann 
vergrößert,  dessen  Gegnerschaft  die  gebildeten  Israeliten 
ganz  besonders  schmerzlich  berührte:  es  war  Dostojewsky, 
der  berühmteste  russische  Romandichter  jener  Zeit.  Der  große 
Schriftsteller  hielt  sich  selber  für  keinen  Antisemiten.  Aber  er 
schilderte  doch  in  sehr  eingehender  Weise,  wie  —  vermeint- 
lich —  die  Juden  ihre  ökonomische  Herrschaft  über  die  unteren 
Schichten  des  russischen  Volkes  immer  weiter  ausdehnten,  wie 
sie  sich  immer  tiefer  und  fester  in  die  europäische  ]Menschheit 
einbohrten,  mit  der  unerschütterlichen  Absicht,  ihr  eigenes 
Wesen  und  ihre  eigene  Art  der  Menschheit  aufzunötigen.  Er 
sprach  sich  für  die  Erweiterung  der  den  Juden  gewährten 
Rechte,  ja  für  ihre  völlige  Gleichstellung  aus,  indes  er  stellte 
zugleich  die  Folgen  einer  solchen  Emanzipation  derart  ab- 
schreckend dar,  daß  man  deutlich  zu  erkennen  vermochte,  wde 
wenig  ernst  es  ihm  mit  seinen  angeblich  wohlwollenden  Ab- 
sichten sei.  Er  schrieb  auch  die  Schuld  an  der  beklagenswerten 
Tatsache,  daß  die  Verständigung  zTvischen  Christen  und  Juden 
noch  nicht  zustande  gekommen  sei,  ausschließlich  dieser  letz- 
teren Volksklasse  zu,  die  in  ihrem  Rassenhochmut  jeden  Nicht- 
juden  mit  Geringschätzung  betrachte.  Die  Gleichberechtigung 
der  Israeliten  sei  an  und  für  sich  eine  Forderung  der  Gerechtig- 
keit, aber  tatsächlich  sei  sie  nur  wünschenswert,  wenn  die 
Juden  den  Beweis  erbrächten,  daß  solche  dem  russischen 
Volke  keinen  Schaden  zufügen  ^^•ürde  —  eine  Nachweisung,  die 
wohl  kaum  durchzuführen  sei,  da  die  Juden  der  Verbrüderung 
mit  Menschen,  die  an  Abstammung  und  Glauben  von  ihnen 
ab^wichen,  kaum  fähig  erschienen. 

Allerdings    war  Dostojewsky    zu    jener  Zeit    bereits    dem 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.     99 

wirren  und  intoleranten  Mystizismus  verfallen,  der  seine  letzten 
publizistischen  Schriften  zu  minderwertigen  gemacht  hat. 
Trotzdem  brachte  sein  Feldzug  gegen  die  Juden  diesen  in  der 
christlichen  Gesellschaft  und  in  ihrem  eigenen  Bewußtsein 
großen  Schaden. 

Endlich,  seit  dem  Jahr  1880,  trat  auch  in  der  russischen 
Presse  die  für  die  Juden  so  überaus  verhängnisvolle  Bahauptung 
auf,  daß  sie  die  hauptsächlichen  Verbreiter  des  Nihilismus, 
der  anarchistischen  Revolution  seien. 

Es  ist  sehr  natürlich,  daß  die  intelligenten  Bestandteile 
der  jüdischen  Bevölkerung,  die  auf  das  schwerste  den  Druck 
der  sie  nicht  allein  in  ihrer  ganzen  Betätigung  beschränkenden, 
sondern  ihr  Wesen  und  Volkstum  beschimpfenden  Ausnahme- 
gesetze empfanden,  sich  mit  Abneigung,  ja  mit  Haß  gegen 
eine  Staatsordnung  erfüllten,  die  ihnen  solches  Unglück  auf- 
erlegte, gegen  eine  Regierungsgewalt,  die  ihnen  heute  die 
Pforte  öffnete,  um  sie  plötzlich  ohne  besonderen  Grund,  wieder 
zuzuschlagen,  und  sie  damit  in  eine  unhaltbare  Lage  versetzte. 
Daß  viele  junge  Juden  auf  diese  nichtsnutzige  Mißhandlung 
mit  fanatischen  Umsturzbestrebungen  antworteten,  war  ent- 
schuldbar; ja  es  war  das  gerade  ein  Beweis,  daß  die  russischen 
Israeliten  nicht  jenes  feige,  kraftlose,  knechtische  Gesindel  sind, 
als  welches  ihre  Gegner  sie  darzustellen  pflegten  und  noch  pflegen. 
Es  hätte  nur  von  der  russischen  Regierung  abgehangen,  alle 
diese  schwärmerischen  jungen  Menschen  zu  nützlichen  und 
treuen  Staatsbürgern  umzugestalten.  Welcher  blutiger  Hohn 
oder,  im  besten  Falle,  welche  Torheit,  dem  Sklaven  vorzuwerfen, 
daß  er  mit  allen  Mitteln  die  Ketten  zu  brechen  versucht,  mit 
denen  man  ihn  belastet  hat ! 

Und  doch  erA^iesen  eben  damals  die  offiziellen  Unter- 
suchungen und  deren  amtlich  bekannt  gemachten  Ergebnisse, 
daß  die  Beteiligung  der  Juden  an  den  nihilistischen  Verbrechen 
der  siebziger  Jahre  nur  um  ein  Weniges  ihr  Verhältnis  zu  der 
Gesamtbevölkerung  übertraf.  Der  Aufruf,  den  die  Nihilisten 
im  Jahre  1877  gerade  an  die  jüdische  Jugend  erließen,  hatte 
also  damals  keinen  besonderen  Erfolg  gehabt.  Auch  haben 
später  die  Nihilisten  sich  niemals  der  Juden  irgendwie  an- 
genommen.   Allein  die  Wirkung  dieser  Anschuldigung,  die,  wie 

7* 


lüü   Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

gesagt,  in  ihrer  Schroffheit  der  Wahrheit  nicht  entsprach, 
war  eine  sehr  große.  Also  nicht  allein  auf  wirtschaftlichem, 
sondern  auch  auf  politischem  und  sozialem  Gebiete  wären  die 
Juden  die  geborenen  Feinde  des  russischen  Volkes  und  seiner 
echt  nationalen,  absolutistischen  Staatsordnung !  Niemand 
dachte  daran,  daß  die  Befreiung  der  Juden  aus  der  ihnen  auf- 
erlegten Knechtschaft  das  einzige  IMittel  sein  würde,  die  revolu- 
tionären Gelüste  unter  ihnen  zu  beseitigen.  Nein,  im  Gegenteil, 
es  hieß,  man  müßte,  weit  davon  entfernt,  die  Rechte  der  Juden 
zu  erweitern,  solche  noch  mehr  einengen,  ihnen  so  die  Macht 
nehmen,  Schaden  anzurichten.  Ein  anderer  Überläufer  aus  dem 
Lager  des  Liberalismus  in  das  der  Reaktion.  Suworin.  ^^oirde 
in  seinem  Blatte  ,,Nowoje  Wremja"  der  Bannerträger  des 
Antisemitismus. 

Dieser  fand  bald  ein  weiteres  Feld  für  Angriffe  auf  die 
wehrlose  israelitische  Minderheit.  Er  brachte  von  neuem  die 
schändliche  Verleumdung  in  Umlauf,  daß  die  Juden,  oder  doch 
einige  Sekten  unter  den  Juden,  Christenblut  zu  religiösen 
Zeremonien  gebrauchten.  Bald  wurde  diese  ungeheuerliche 
Lüge  in  der  russischen  Presse  ganz  ernsthaft  behandelt.  Anlaß 
dazu  gab  ein  Buch  von  Hippolyt  Ljutostanski  ,,r)ie  Frage,  ob 
jüdische  Sektierer  Christenblut  zu  religiösen  Zwecken  ver- 
wenden, in  Verbindung  mit  dem  Verhältnis  des  Judentums 
zum  Christentum  überhaupt."  Diese  Schrift  wurde  von  allen 
Schichten  des  Volkes  mit  Begier  gelesen.  Die  auf  Erdichtung 
und  Fälschung  beruhenden  angeblichen  Beweise,  die  sie  für  die 
Behauptung  vom  jüdischen  Ritualmorde  beibrachte,  wirkten 
auf  die  voreingenommenen  Leser  mit  um  so  überzeugenderer 
Gewalt,  je  weniger  diese  von  dem  religiösen  Leben  der  sich 
sorgsam  abschließenden  Juden  überhaupt  wußten.  Und  von 
den  Gebildeten  sickerte  diese  haßerfüllte  Beschuldigung  un- 
widerstehlich, oft  absichtlich  verbreitet,  in  die  unteren  Schichten 
des  russischen  Volkes,  das  sie  mit  Begier  aufnahm,  zumal  da, 
wo  es  mit  national  griechischen  Bestandteilen  vermischt  war, 
wie  in  Südrußland.  Eine  tiefe  gegenseitige  Erbitterung  griff 
Platz  zwischen  Christen  und  Juden ;  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  diese,  die  Schwächeren,  die  Opfer  dieses  Haßes  -v^iirden, 
und  jene,  die  Stärkeren,  seine  Henker.    Der  Umstand,  daß  in 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.    101 

den  Prozessen  wegen  Ritualmordes  die  Angreifer  sich  stets 
auf  die  Argumente  des  Buches  von  Ljutostanski  beriefen,  die 
Verteidiger  sie  vor  allem  zu  widerlegen  suchten,  beweist  hin- 
länglich den  überaus  verderblichen  Einfluß  jener  perfiden 
Schrift,   der  Urheberin  unsäglichen  Unlieils. 

Der  berühmte  Orientalist  Daniel  Chwolson,  der,  um  Pro- 
fessor an  der  Petersburger  Universität  zu  werden,  sich  äußer- 
lich zum  Christentume  bekehrt  hatte,  aber  im  Herzen  stets 
ein  warmer  Anhänger  der  väterlichen  Religion  geblieben  ist, 
unternahm  in  gründlichen  und  wissenschaftlichen  Schriften  die 
Verteidigung  der  Juden  gegen  die  ungereimte  Anschuldigung 
des  Ritualmordes.  Allein  er  fand  hartnäckige  Gegner,  zumal 
in  der  vielgelesenen  ,,Nowoje  Wremja",  wo  der  Historiker 
Kostomarow  die  Schuld  der  Juden  von  neuem  darzulegen  ver- 
suchte. Ein  anderes,  gleichfalls  weit  verbreitetes  Blatt,  der 
,,Golos",  übertrug  die  Satzungen  des  deutschen  Antisemiten- 
bundes in  das  Russische  (1879)  und  bemühte  sich,  die  deutsche 
Bewegung  in   vollem   Maße   nach   Rußland  zu   verpflanzen. 

Besonders  der  Krieg  gegen  die  Türkei  (1877—78),  der  die 
religiösen  Leidenschaften  in  Rußland  wieder  anregte,  wandte 
diese  auch  gegen  die  heimischen  Juden  —  ähnlich  wie  so  viele 
Jahrhunderte  früher  die  Kreuzzüge;  und  die  zahlreichen  Miß- 
erfolge dieses  Kampfes  verbitterten  das  Nationalgefühl,  das 
sich  um  so  mehr  gegen  die  fremden  Volksbestandteile  im  Zaren- 
reiche kehrte.  Zumal  den  Juden  schrieb  man,  ohne  auch  nur 
den  Schatten  eines  Grundes,  die  Schuld  an  den  Niederlagen 
des  Heeres  zu.  Viele  Ortsgemeinden  reichten  Petitionen  bei 
der  Regierung  ein,  das  Recht  der  Ansiedlung  bei  ihnen  den 
Juden  nicht  zu  gewähren.  In  Archangel  begründeten  die 
christlichen  Kaufleute  eine  gegenseitige  Hilfskasse,  von  der  die 
Juden  grundsätzlich  ausgeschlossen  wurden.  Schlimmer  war 
es,  daß  an  verschiedenen  Orten,  wie  in  Kiew,  Unruhen  gegen 
die  Juden  ausbrachen.  In  Trentelburg  im  Livland  war  es  ge- 
radezu die  Beschuldigung,  die  von  einem  Gassenjungen  auf- 
gebracht wurde,  die  Juden  hätten  zum  Passahopfer  ein  Christen- 
kind geschlachtet,  die  am  Ostermontag  1879  einen  Aufruhr, 
Niederreißung  der  Synagoge,  Mißhandlung  der  Israeliten  herbei- 
führte, bis  die  Polizei  den  gräulichen  Vorgängen  ein  Ende  be- 


102    Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

leitete.  Älmliche  Vorfälle,  wenn  schon  in  geringerem  Umfange, 
fanden  damals  in  Samara  an  der  Wolga  statt. 

Hier  hatten  rohe  Pöbelhaufen  sich  zu  Rächern  des  angeb- 
lichen Ritualmordes  der  Juden  gemacht.  In  Tiflis,  der  Haupt- 
stadt des  Generalgouvernements  Kaukasien,  waren  es  gar  die 
Behörden,  die  dem  schändlichen  Wahnglauben  huldigten.  Neun 
Juden  wurden  beschuldigt,  zu  Ostern  1878  ein  christliches 
Mädchen,  Sara  Modebadze  aus  Satschery,  abgeschlachtet  zu 
haben.  Das  Kind  war  erst  sieben  Jahre  alt  gewesen  und  auf 
einem  Gebirgswege  an  einem  nebligen  Tage  abgestürzt.  Der 
Vater  aber  klagte  die  Juden  an,  indem  er  von  ihnen  eintausend 
Rubel  als  Ersatz  für  die  ihm  durch  den  Tod  des  kleinen  Mädchens 
entgangene  Arbeitskraft  verlangte.  Dieser  Umstand  kenn- 
zeichnet bereits  die  Beweggründe  der  Bezichtigung.  Der  Prozeß 
wurde  im  März  1879  vor  dem  Kreisgericht  in  Kutais  verhandelt. 
Die  langwierigen  Debatten,  in  denen  die  ganze  Ritualmordfrage 
von  Staatsanwalt  und  Verteidigern  aufgerollt  \\airde,  endete 
mit  der  glänzenden  Freisprechung  aller  Angeklagten.  Das 
machte  auf  die  Kaukasier  einen  tiefen  Eindruck:  die  Grund- 
losigkeit der  Anschuldigung  war  so  offenbar  geworden,  daß 
die  Bewohner  von  Kutais  in  hellen  Jubel  ausbrachen  und  ein 
rührendes  russisch-jüdisches  Verbrüderungsfest  veranstalteten. 

Leider  nahm  sonst  die  antisemitische  Bewegung  keinen  so 
harmlosen  Verlauf. 

Kaiser  Alexander  IL  selbst  sah  sich  durch  den  polnischen 
Aufstand  und  bdsonders  durch  die  zahlreichen  Attentate  auf 
seine  Person ,  deren  Untersuchung  das  Dasein  umfassender 
revolutionärer  Geheimbünde  erwies ,  in  seinen  Hoffnungen 
auf  die  versöhnende  und  heilende  Kraft  der  freiheitlichen 
Reformen  getäuscht.  Die  sich  häufenden  trüben  Erfahrun- 
gen trieben  ihn  immer  mehr  seiner  reaktionären  Umgebung, 
dem  Hochadel  und  der  hohen  Bureaukratie,  in  die  Arme. 
Dazu  kam,  daß  seine  Gemahlin,  Maria  Alexandrowna,  eine 
darmstädtisohe  Prinzessin,  von  ihrem  Gemahl  zugunsten  einer 
jüngeren  und  schöneren  Nebenbuhlerin  verlassen,  in  der  eifrig- 
sten und  bigottesten  griechisch-katholischen  Orthodoxie  ihren 
Trost  suchte  und  iliren  bedeutenden  Einfluß,  auch  auf  den 
durch  Gewissensbeunruhigung  gefügig  gemachten  Gatten,   für 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.    103 

die  mitleids-  und  rücksichtsloseste  Propaganda  zur  ausschließ- 
lichen Herrschaft  der  Kirche  verwandte.  Der  Zar  stellte 
die  Zensur  in  voller  Strenge  wieder  her  und  dehnte  über 
sein  ganzes  Reich  ein  drückendes  politisches  Überwachungs- 
system aus. 

Auch  die  Juden  hatten  diese  Reaktion  schmerzlich  zu 
fühlen.  Ein  Vorzeichen  dafür  war,  daß  schon  im  Jahre  1863 
allen  Bevölkerungsklassen  der  Ankauf  von  Kronländereien  ge- 
stattet wurde,  ,,Krome  Jewrejew",  ,,mit  Ausnahme  der 
Hebräer".  So  erschien  diese  verhängnisvolle  Formel  A^ieder, 
die  einst  unter  Nikolaus  den  Israeliten  so  viel  Leid  gebracht 
hatte.  Im  Heere  wurden  die  Juden  vor  dem  Kriege  lediglich  zu 
Unteroffizieren  befördert ;  nur  ein  Jude,  Freymann  aus  Odessa, 
wurde  damals  (1875)  vom  Kaiser  selbst  zum  Offizier  ernannt. 
Jüdische  Soldaten  durften  in  Gemäßheit  eines  Nikolaischen 
Gesetzes  wieder  nach  Vollendung  ihrer  Dienstzeit  nur  im  An- 
siedlungsrayon  ihren  Wohnsitz  nehmen.  Die  Israeliten  blieben 
nicht  nur  von  der  Wählbarkeit,  sondern  auch  vom  aktiven 
Wahlrecht  zum  Posten  des  Bürgermeisters  ausgeschlossen. 
Sonst  besaßen  sie  theoretisch  das  aktive  und  passive  Wahl- 
recht zu  den  Gemeindebehörden;  aber  trotz  ihrer  großen 
Anzahl  ließ  man  zumeist  nur  je  einen  Juden  in  die  Ge- 
meinderäte zu. 

Vergeblich  ermahnte  Geheimer  Staatsrat  Posteis  den 
Kaiser,  die  Einschränkung  der  Juden  in  Aufenthalt  und  Beruf 
aufzuheben,  wenn  er  eine  gedeihliche  Entwicklung  der  Staats- 
schulen für  diese  Volksklasse  wünsche.  Vergeblich  sprach  sich 
ein  großer  Teil  der  Mitglieder  des  im  Jahre  1872  unter  Vor- 
sitz des  Fürsten  Lobanow-Rostowski  neugebildeten  ,, Komi- 
tees für  Einrichtung  des  Lebens  der  Juden"  in  amtlichen 
Gutachten  dringend  für  Gewährung  des  freien  Niederlassungs- 
rechtes im  ganzen  Reiche  an  die  Juden  als  eine  Vorbedingung 
für  deren  Assimilierung  mit  dem  russischen  Volkstum  aus. 
Obwohl  diese  Denkschriften  von  dem  berühmten  Kriminalisten 
N.  A.  Nekludow  sowie  von  dem  hervorragenden  Ministerialrat 
W.  Karpow  verfaßt  waren,  blieben  sie  bei  dem  Zaren  ohne 
Wirkung.  Seit  dem  Jahre  1867  triumphierte  die  Reaktion 
in  den  leitenden  Kreisen  vollständig ;  die  neu  ernannten  Minister 


104    Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

gehörten  der  entschiedenen  kirchlichen  Orthodoxie  an.  Das 
gegen  Polen  neuerdings  ^\deder  aufgenommene  System  der 
Russifizierung  M^rde  auch  auf  die  loyalen  deutschen  Ostsee - 
pro^inzen  ausgedehnt.  Um  so  weniger  schonte  man  die  Juden. 
Der  Minister  der  ,, Volksauf klärung"  erließ  ein  geheimes  Rund- 
schreiben, das  die  Juden  von  den  Universitätsprofessuren  aus- 
schloß. Und  dies,  obwohl  großer  Mangel  an  tüchtigen  Dozenten 
herrschte;  obwohl  man  vorher  jüdische  Akademiker  auf  Staats- 
kosten ins  Ausland  geschickt  hatte,  um  sich  dort  für  eine  Pro- 
fessur vorzubereiten ;  obwohl  der  Staat  25  000  Rubel  zu  Stipen- 
dien für  jüdische  Studierende  ausgesetzt  hatte.  Mit  solcher 
Willkür  behandelte  man  abermals  die  Israeliten.  Ebenso  schloß 
das  Justizministerium  die  Juden  wieder  von  jeder  richterlichen 
Anstellung  aus.  Schon  ließen  sich,  um  diese  Schwierigkeiten 
zu  überwinden,  viele  jüdische  Aspiranten  taufen.  Die  alt- 
russische, panslawistische  Bewegung  griff  immer  mehr  in  den 
höchsten  Behörden  des  Staates  um  sich,  die  die  Stichwörter 
aufgriffen,  die  ihnen  Aksakow  in  seiner  Zeitung  ,, Moskwa" 
erteilte.  Ein  amtliches  Rundschreiben  des  Generalgouverneurs 
von  Litauen,  Grafen  Baranow,  enthielt  die  schärfsten  Angriffe 
auf  die  Selbstsucht,  Herrschbegier  und  Ausbeutungslust  der 
Juden,  befahl  die  Aufhebung  aller  jüdischer  Sonderbehörden 
in  Stadt-  und  Landgemeinden  und  beschränkte  dabei  das 
Stimmrecht  der  jüdischen  Gemeinde  Vertreter  auf  das  empfind- 
lichste. Dann  wurde  den  Juden  überhaupt  jeder  Güterankauf 
untersagt.  In  Kiew  woirden,  1873,  die  Israeliten  aus  dem 
schönsten  Stadtteile,  dem  Podolskischen,  einfach  ausgewiesen, 
entgegen  einem  ausdrücklichen  allgemeinem  Gesetze  aus  dem 
Beginne  der  Regierung  Alexanders  II.  So  waren  die  Ausnahme- 
bestimmungen derart  ver^^^ckelt  und  widerspruchsvoll,  daß 
sie  den  Beamten  jede  Handhabe  zum  Quälen  und  Bedrücken 
der  Juden  lieferten.  Auf  solche  Weise  schufen  sie  sich  auch 
die  Möglichkeit,  von  diesen  immer  neue  Bestechungen  zu  er- 
pressen. Dieser  Umstand  erklärt  überhaupt  die  Gegnerschaft 
des  russischen  Beamtentums  gegen  die  Judenemanzipation. 
Eine  solche  würde  ihnen  eben  eine  fortwährend  und  reichlich 
fließende  Quelle  von  ungesetzlicher  Bereicherung  verstopfen. 
Die  Bestechung  ist  hier  die  einzige  Waffe  der  L^nterdrückten 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.     105 

gegen  ihre  Peiniger,  allerdings  eine  zweischneidige  Waffe,  da 
die  Beamten  die  INIißhandlungen  häufen,  um  sich  durch  Schmier- 
gelder besänftigen  zu  lassen. 

Weitere  Schritte  gegen  die  Juden  folgten.  Vom  1.  Januar 
1875  an  durfte  kein  Jude  außerhalb  des  Ansiedlungsrayons 
geistige  Getränke  ausschenken;  innerhalb  des  Rayons  wurde 
es  den  Juden  nur  im  eigenen  Hause  und  mit  jüdischen  Gehilfen 
gestattet.  Das  bedeutete  wieder  den  wirtschaftlichen  Unter- 
gang vieler  Familien,  die  sich  auf  diesen  Erwerbszweig  ein- 
gerichtet hatten.  Aber  was  kümmerte  das  die  von  antisemi- 
tischen Ideen  ergriffene  Regierung,  die  fast  die  gesamte  heimische 
Presse  auf  ihrer  Seite  wußte !  Allen  fremden  Israeliten  wurden 
(1876)  sogar  der  vorübergehende  Aufenthalt  in  dem  fünfzig 
Werst  breiten  Grenzdistrikte  untersagt.  Auch  in  Petersburg 
erhielten  zahlreiche  hervorragende  ausländische  Juden,  trotz 
der  Vorstellungen  ihrer  Gesandten,  Ausweisungsbefehle,  an- 
geblich wegen  Verletzung  der  Paß  vor  Schriften.  Dann  ging  es 
an  die  inländischen  Hebräer.  In  Wilna  woirden  die  Talmud- 
Thora- Schulen,  obwohl  dort  die  ärmsten  Kinder  auch  im  Rus- 
sischen und  im  Handwerk  unterrichtet  wurden,  sowie  die  seit 
126  Jahren  bestehende  jüdische  Druckerei  der  Gebrüder  Romm 
geschlossen.  Im  gesamten  Gebiete  der  Donischen  Kosaken 
untersagte  man  den  Juden,  mit  Ausnahme  der  promovierten 
Doktoren,  den  Aufenthalt;  ebenso  in  mehreren  Grenz di strikten. 
Aus  Riga  wurden  auf  einmal  150  nicht  wohnberechtigte  Juden 
mit  gefesselten  Händen,  wie  gefährliche  Verbrecher,  aus  der 
Stadt  vertrieben,  den  übrigen  Israeliten  ohne  Ausnahme  der 
Besuch  von  Restaurationen  und  Kaffeehäusern  verboten.  Und 
dies  war  nur  die  Schuld  der  Regierung,  nicht  —  wie  früher  — 
der  Unduldsamkeit  des  Stadtrates,  der  vielmehr  den  Juden 
erlaubt  hatte,  in  der  ganzen  Stadt  zu  wohnen.  Einige  Jahre 
darauf  (1875)  mußten  mehr  als  zweihundert  jüdische  Familien, 
die  sich  mit  ausdrücklicher  Erlaubiüs  der  Regierung  in  Kur- 
land niedergelassen  hatten,  diese  Provinz  A^eder  verlassen, 
ohne  jede  Schuld  ihrerseits,  aber  auch  selbstverständlich  ohne 
irgendeine  Entschädigung  für  die  ruinösen  Verluste,  die  solche 
empörende  Willkür  ihnen  zufügte.  Und  da  bürdete  man  dem 
Judentume  die  Verantwortung  auf,  wenn  derartige  Grausam- 


106    Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

keiten  Hunderte  von  jüdischen  Jünglingen  in  die  Reihen  der 
Nihilisten  drängten !  Die  Regierung  begegnete  dieser  natür- 
lichen Folge  ihres  eigenen  Verfahrens  durch  die  Anordnung, 
alle  Juden,  die  in  politische  Prozesse  verwickelt  waren,  un- 
weigerlich hinzurichten,  während  deren  Genossen  mit  ver- 
hältnismäßig leichteren    Strafen  davonkamen. 

Trotz  der  allgemeinen  Hinneigung  zum  Antisemitismus 
waren  die  Mitglieder  der  ,, Judenkommission"  in  ihrer  großen 
Mehrheit  dem  Gedanken  der  vollständigen  Gleichstellung  der 
Hebräer  treu  geblieben,  freilich  ohne  damit  bei  den  höchsten 
Stellen  des  Staates  Anklang  zu  finden.  Diese  Kommission 
konnte  ja  nur  beraten,  nicht  beschließen.  Aber  allmählich 
bereitete  sich  gerade  an  jenen  höchsten  Stellen  eine  bedeut- 
same Wendung  vor.  Die  Mißerfolge  des  Türkenkrieges  sowie 
die  sich  häufenden  Attentate  auf  ihn  und  auf  seine  höchsten 
Beamten  hatten  schließlich  das  Selbstvertrauen  des  Kaisers 
Alexanders  II.  tief  erschüttert.  Ohnehin  kein  starker  Cha- 
rakter, war  er  durch  das  Alter  und  mancherlei  sinnliche 
Genüsse  vollends  in  seiner  Kraft  gebrochen.  Er  meinte  sich 
und  der  zarischen  Gewalt  eine  Stütze  in  der  Mitwirkung  des 
Volkes  bei  der  Leitung  des  Staates  sichern  zu  müssen.  Kon- 
stitutionelle Verfassung  und  Liberalismus  schienen  aber  da- 
mals gleichbedeutende  Begriffe  zu  sein,  und  so  kehrte  er 
allmählich  aus  Furcht  zu  den  liberalen  Entwürfen  seiner 
ersten  Regierungs jähre  zurück. 

Diese  Wendung  kam  auch  den  Juden  zugute.  Ihr  Be- 
nehmen während  des  Krieges  hatte,  im  Gegensatze  zu  den 
verleumderischen  Behauptungen  der  Zeitungschreiber  und 
Hetzer,  einen  ausgezeichneten  Eindruck  bei  der  Staatsleitung 
gemacht.  Es  hatte  sich  gezeigt,  daß,  wenn  sie  die  Plackereien 
des  Soldatenlebens  im  Frieden  fürchteten,  sie  nicht  des  Patrio- 
tismus und  des  kriegerischen  Mutes  entbehrten.  Bei  den  Aus- 
hebungen für  den  Türkenkrieg  verrieten  die  jüdischen  Rekruten 
großen  Eifer;  in  Odessa  fehlte  nicht  ein  einziger.  Viele  Juden 
rückten  während  des  Kampfes  zu  Offizieren  auf,  sogar  in  der 
aristokratischen  Kavallerie;  sehr  zahlreich  waren  die  jüdischen 
Unteroffiziere.  Mehrere  Israeliten  wurden  wegen  der  vor  dem 
Feinde  bewiesenen  Tapferkeit  mit  dem  St.  Georgsorden  deko- 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders II.  und  die  Juden  in  Rußland.    107 

riert.  Um  so  mehr  zeigte  sich  ihnen  jetzt  die  Regierung  günstig. 
So  erließ  am  3./15.  April  1880  der  Minister  des  Innern,  Markow, 
an  die  Gouverneure  ein  Rundschreiben,  das  ihnen  anbefahl, 
diejenigen  Juden,  die  sich  ohne  gesetzliche  Berechtigung  außer- 
halb des  Ansiedlungsrayons  niedergelassen  hätten,  nicht  zu 
beunruhigen,  da  hierdurch  nur  Verwirrung  und  großer  kommer- 
zieller Ruin  hervorgerufen  werden  würde.  Dieses  Zirkular  er- 
kannte zum  ersten  Male  offiziell  den  ökonomischen  Nutzen 
der  Tätigkeit  der  Juden  an.  Aber  noch  mehr.  Es  konnte  nur 
als  eine  Einleitung  zur  Gewährung  vollkommener  Freizügigkeit 
für  die  Juden,  als  Aufforderung  an  diese,  sich  unbekümmert 
um  die  bestehenden  Gesetze  außerhalb  des  Rayons  nieder- 
zulassen, aufgefaßt  werden.  Kurz,  die  Aufhebung  der  schlimm- 
sten Beschränkung  des  jüdischen  Wesens  in  Rußland  schien 
unmittelbar  bevorzustehen. 

Eine  neue  Periode  war  für  das  Zarenreich  zu  hoffen,  als 
im  August  1880  ein  überzeugter  Vorkämpfer  gemäßigt  frei- 
heitlicher Anschauungen,  Graf  Loris-Melikow,  zum  Älinister 
des  Innern  und  leitenden  Staatsmann  ernannt  wurde;  zumal 
Alexander  II.  in  ihn  ein  unbegrenztes  Vertrauen  setzte.  Der 
Graf  nahm  sich  sofort  auch  der  Juden  an.  Er  suspendierte  die 
Ausweisung  der  Juden  aus  dem  durch  den  Berliner  Vertrag  an 
Rußland  zurückgegebenen  Teile  von  Bessarabien.  Er  gründete 
einen  Fonds  zur  Förderung  von  Landbau  und  Gewerbe  unter 
den  Juden,  eröffnete  Handwerkschulen  für  deren  Söhne  sowie 
in  verschiedenen  Städten  jüdische  Volksküchen,  die  täglich 
warme  Speisen  zu  Hunderten,  ja  in  Kowno  zu  Tausenden  von 
Portionen  an  die  Bedürftigen  abgaben.  Er  sammelte  Beträge 
für  ausgediente  jüdische  Lehrer  und  stiftete  in  Petersburg  und 
Odessa  jüdische  Bibliotheken.  Nunmehr  konnte  die  ,, Juden- 
kommission" mit  frischem  Eifer  an  ihre  Arbeit  gehen  und  be- 
absichtigte eine  große  grundsätzliche  Annäherung  an  die  voll- 
ständige Gleichstellung  der  russischen  Israeliten. 

Da  machte  ein  schändlicher  Frevel  allen  diesen  frohen 
Hoffnungen  ein  Ende. 

Auf  den  Rat  seiner  hervorragendsten  Beamten,  des  Grafen 
Loris  Melikow,  des  Kriegsministers  Miliutin  sowie  des  Finanz- 
ministers Abasa  hatte  Alexander  ein  Manifest  unterzeichnet, 


108   Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

das  aus  Abgeordneten  aller  Provinzial-Semstwos  eine  Reichs- 
versammlung zu  bilden  befahl.  Aber  ehe  diese  geAvichtige  Ver- 
kündigung noch  veröffentlicht  worden,  fand  er  am  1./13.  März 
1881  durch  die  Bomben  der  Revolutionäre  ein  grausames  Ende. 
Es  war  der  schwerste  Schlag,  der  die  Entwicklung  des  russischen 
Staates  und  Volkes  je  getroffen  hat! 

Am  verhängnisvollsten  ^\^lrde  das  entsetzliche  Ereignis 
für  die  Israeliten.  Die  russische  Judenlieit  stand  mit  tiefer 
Trauer  an  der  blutigen  Bahre  Alexanders  II.,  der  ja  auch  für 
sie  der  ,, Zar-Befreier"  gewesen  war,  der  ihre  Leiden  wesent- 
lich erleichtert  und  auf  dem  Punkte  gestanden  hatte,  ihnen 
völlig  ein  Ende  zu  machen,  soweit  das  ein  Mensch  vermochte. 
In  jedem,  auch  dem  bescheidensten  jüdischen  Hause  hing  sein 
Bildnis.  Tiefste  Dankbarkeit  hat  ihm  die  jüdische  Bevölkerung 
Rußlands  bis  auf  den  heutigen  Tag  bewahrt. 
Schlimme  Zeiten  standen  ihr  bevor. 

In  ihrem  eigenen  Innern  war   alles  in  Übergang,  in  Gäh- 
rung  begriffen. 

Der  Zustand  der  jüdischen  Kronschulen  war  ein  sehr 
unbefriedigender  gewesen.  Infolge  des  Mißtrauens  der  Eltern 
gegen  die  angeblichen  Christianisierungsbestrebungen  der  Re- 
gierung war  der  Schulbesuch  schwach,  und  selbst  die  Schüler, 
die  sich  einfanden,  kamen  recht  unregelmäßig,  blieben  oft  zwei 
bis  drei  Monate  aus  der  Schule  fort.  Alles  das,  obwohl  die  Re- 
gierung durch  Ernennung  jüdischer  Schulinspektoren,  neben 
den  christlichen,  seit  dem  Jahre  1862  den  gerechten  Wünschen 
der  Juden  entgegen  gekommen  war.  1868  zählten  die  fünf 
jüdischen  Schulen  zweiten  Ranges  in  Berditschew,  Altkonstanti- 
now,  Odessa,  Winniza  und  Kischinew  zusammen  nicht  mehr 
als  220  Schüler,  die  25  ersten  Ranges  4726;  die  21  allgemeinen 
Elementarschulen  gar  nur  782;  die  beiden  Mädchenschulen  in 
Odessa  und  Kertsch  260  Zöglinge.  Das  war  die  ganze  weibliche 
Elementarbildung  unter  den  russischen  Juden.  Es  war  daher 
nur  natürlich,  daß  die  Regierung  im  Jahre  1873  alle  jüdischen 
Kronschulen  zweiten  Ranges  aufhob  und  die  Zöglinge  an  die 
allgemeinen  Schulen  ver^Wes.  Die  Kronschulen  ersten  Ranges 
sollten  nur  da  bestehen  und  in  jüdische  Elementarschulen  ver- 
wandelt werden,  wo  ein  dringendes  Bedürfnis  dazu  vorlag. 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.    109 

Auch  die  Rabbinerschulen  als  solche  hörten  auf,  da  aus 
ihnen  tatsächlich  kein  angestellter  Rabbiner  hervorgegangen 
war.  Sie  wurden  1873  in  Lehrerseminare  verwandelt,  und  es 
blieb  den  Juden  überlassen,  sich  selbst  Rabbiner  heranzubilden. 

Diese  traurigen  Zustände  der  elementaren  Bildung  Märkten 
verderblich  auf  die  Entwicklung  des  russischen  Judentums. 
Die  weggelaufenen  Jeschiwe-Bachurim,  die  als  regellose  Auto- 
didakten sich  in  allen  möglichen  Wissenschaften  dilettantenhaft 
herumtrieben,  wurden  mit  dem  Überschwang  der  Halb-  und 
Ungebildeten  die  schlimmsten  Gegner  ihrer  Religion  und  Glau- 
bensgenossenschaft und  schreckten  anderseits  die  Altgläubigen 
von  echter  Bildung  ab.  Die  Regierung  suchte  dem  Übel  nach 
Möglichkeit  zu  steuern.  Die  Melamdim  sollten  jüdische  Kinder 
nur  in  religiösen  Dingen  unterrichten,  und  zwar  nur  diejenigen 
sollten  dazu  Erlaubnis  erhalten,  die  dafür  ein  Zeugnis  von 
der  Polizei  erlangt  hätten,  wofür  sie  jährlich  fünfzig  Kopeken 
zahlen  mußten.  Der  religiöse  Unterricht  durfte  nur  am  Nach- 
mittag stattfinden,  damit  die  Kinder  am  Vormittage  die  all- 
gemeinen Schulen  besuchen  könnten.  Wohlgemeinte  Vor- 
schriften, die  leider  so  gut  wie  gar  nicht  beobachtet  Avurden, 
und  gegen  die  bei  der  Polizei  der  Fünf -Rubel- Schein  ein  un- 
trügliches Gegenmittel  war. 

Der  Aberglaube  der  Chassidim  grassierte  in  ungemindertem 
Umfange  fort.  Ein  Rebbe  Malbim  in  Mobile w  organisierte 
fromme  Wallfahrten  zu  sich  selbst,  die  ihm  wahre  Reichtümer 
einbrachten,  segnete  unfruchtbare  Frauen  oder  versprach  ehe- 
verlassenen Weibern  ihnen  den  ungetreuen  Gatten  zurückzu- 
führen. Er  wurde  von  der  Regierung  vertrieben  und  auf  immer 
des  Rabbinats  für  unfähig  erklärt.  Aber  es  half  wenig,  wenn 
so  ein  Wundertäter  unter  vielen  bestraft  und  ihm  das  Hand- 
werk gelegt  wurde. 

Um  so  eifriger  arbeiteten  die  ,, Fortgeschrittenen"  an  der 
Hebung  des  Bildungszustandes  ihrer  Glaubensgenossen  von  innen 
heraus.  Leider  w^aren  es  nicht  religiöse  Ideale,  die  sie  bewegten, 
sondern  das  Streben  nach  Gleichberechtigung,  nach  Toleranz, 
nach  möglichster  Assimilierung  mit  dem  russischen  Volkstum. 
Ihren  Höhepunkt  erreichten  diese  bis  zur  Verneinung  des 
Judentums  gehenden  Richtungen  in  den  siebziger  Jahren.    Die 


110    Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

Zurückweisung,  der  damals  die  Juden  in  steigendem  Maße 
gerade  von  Seiten  der  russischen  Intelligenz  begegneten,  hatte 
nur  die  Folge,  daß  sie  das  jüdische  Wesen  immer  mehr  opferten, 
um  sich  der  Verzeihung  von  selten  der  Russen  würdig  zu  zeigen ! 

Auf  jüdischem  Boden  stand  aber  die  schon  erwähnte 
Petersburger  Bildungsgesellschaft,  unter  dem  unermüdlichen 
Baron  Günzburg,  der  übrigens  Stadtrat  in  der  Kapitale  ge- 
worden war,  und  dem  Philanthropen  Bankier  Brodsky,  Sie 
unterstützte  arme  jüdische  Studierende,  subventionierte  jü- 
dische Schriftsteller,  und  besonders  solche,  deren  Werke  die 
allgemeine  und  spezifisch  israelitische  Bildung  beförderten. 
Freilich  war  die  Beteiligung  gering;  1875  zählte  sie  nur  207 
Mitglieder.  Wenn  sie  es  trotzdem  zu  einem  Jahresbudget  von 
17  000  Rubel  brachte,  so  war  das  hauptsächlich  den  Opfern 
einzelner,  wie  Günzburgs  und  Leo  Rosenthals,  ihres  Kassierers, 
zu  danken.  Allmählich  nahm  das  Interesse  der  ,, Fortgeschritte- 
nen" an  diesem  Vereine  zu.  1881  war  er  auf  552  Mitglieder 
gewachsen.  Der  Kreis  seiner  Aufgaben  erweiterte  sich.  Nach 
Aufhebung  der  Rabbinerschulen  hatte  er  einen  Rabbinats- 
kandidaten  am  Breslauer  Seminar  studieren  lassen  —  das  wurde 
ihm  aber  1879  von  der  Regierung  untersagt.  Es  gab  sonst  ein 
Jahrbuch  in  russischer  Sprache,  eine  Zusammenstellung  der 
religiös-sittlichen  Lehren  des  Judentums,  eine  russische  Über- 
tragung mehrerer  Bände  der  Geschichte  von  Grätz,  mit  An- 
merkungen des  gelehrten  Harkawi,  sowie  ein  russisch- jüdisches 
Archiv  heraus.  Im  ganzen  war,  bei  dem  immerhin  geringen  Um- 
fange seiner  Teilnehmer  und  Mittel,  seine  Wirksamkeit  auf  die 
große  Masse  der  Juden  gering. 

Dagegen  strömten  die  Kinder  gebildeter  Familien  mit 
Eifer  in  die  höheren  allgemeinen  Unterrichtsanstalten.  Im 
Jahre  1881  machten  die  Juden  8^/4  Prozent  der  Gesamtbevölke- 
rung aus,  die  jüdischen  Gymnasialschüler  dagegen  12  Prozent 
(also  mehr  als  das  Dreifache)  mit  7413  unter  60  242.  1877  waren 
die  jüdischen  Gymnasiasten  sogar  20  Prozent  der  ganzen  Schüler- 
zahl solcher  Anstalten.  Später,  bei  wachsender  Ausschließung 
der  Juden  von  den  liberalen  Berufen,  ist  dann  das  Verhältnis 
wieder  schwächer  geworden  als  in  den  Jahren  der  Hoffnung. 
Die  Regierung  trug  diesem  Anwachsen  der  Zahl  jüdischer  Zog- 


Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland.    ]  11 

linge  an  der  höheren  Schule  Rechnung,  indem  sie  an  diesen 
israelitischen  Religionsunterricht  einzuführen  beabsichtigte. 
Allein  das  gelang  ihr  nur  an  wenigen  Orten  und  zwar  aus 
Mangel  an  geeigneten  Lehrkräften.  Die  Jeschiwe-Rebbes 
mit  ihrer  gänzlichen  Unbildung,  ihrem  schrecklichen  Sprach- 
mischmasch und  ihrem  vernachlässigten  Äußeren  waren  dazu 
ganz  ungeeignet.  —  Auch  der  akademische  Unterricht  zog 
zahlreiche  Juden  an.  An  der  Petersburger  Universität,  die 
(1876)  500  Studenten  zählte,  waren  40  Juden,  gleich  8  Prozent, 
die  sich  besonders  dem  Rechts-  und  dem  Medizinstudium 
widmeten.  Viele  Jüdinnen  folgten  dem  in  St.  Petersburg  er- 
richteten medizinischen  Kursen  für  Frauen. 

Die  Zahl  der  Juden  in  den  beiden  Hauptstädten  Moskau 
und  St.  Petersburg  nahm  fortwährend  zu,  trotz  gelegentlicher 
Austreibungen.  In  Moskau  allein  wohnten  zwischen  15  000  und 
20  000  Hebräer.  Aber  es  gelang  ihnen  nicht,  eine  Gemeinde 
zu  bilden,  da  die  Regierung  im  Inneren  des  Reiches  keine 
stabilen  Judengemeinden  dulden  wollte;  die  Israeliten  sollten 
dort  nur  unstet,  \ne  der  Vogel  auf  dem  Zweige,  bleiben.  In 
Petersburg  hatten  sich  einzelne  Juden  seit  dem  Jahre  1855 
niedergelassen.  Sie  hielten  vonZeit  zu  Zeit  Gottesdienst  ab,  mit 
Soldatenrabbinern  und  in  Soldatenbethäusern.  Der  liberale  und 
hochgebildete  General gouverneur  Fürst  Suworow  gestattete 
ihnen  dann  im  Jahre  1867,  einen  eigenen  Rabbiner  zu  berufen, 
den  bisher  in  Riga  amtierenden  Dr.  A.  Neumann,  mit  einem 
Jahresgehalt  von  3000  Rubel;  aber  eine  förmliche  Gemeinde 
durften  sie  nicht  bilden.  Bald  brach  auch  hier  der  Streit 
zwischen  Fortgeschrittenen  und  Altgläubigen  aus,  und  so  unter- 
blieb sogar  der  Bau  einer  Synagoge,  für  die  die  Mittel  schon 
gezeichnet  waren.  Die  20  000  Israeliten  Petersburgs  mußten 
sich  mit  gemieteten  Betlokalen  begnügen.  Endlich  erfolgte 
am  29.  Juni  1877  ein  provisorisches  Statut  für  das  ,, Bethaus 
der  Hebräer"  —  der  Name  Gemeinde  war  sorgfältig  vermieden. 
Alle  Juden,  die  das  Recht  besitzen,  in  Petersburg  zu  wohnen, 
und  mindestens  25  Rubel  jährlich  für  das  ,, Bethaus"  steuern, 
sind  Wähler  für  dessen  Verwaltung.  Aber  es  dauerte  noch  ein 
volles  Jahr,  bis  ihnen  der  Ankauf  eines  Platzes  für  eine  Synagoge 
genehmigt  w^irde. 


112    Das  Ende  der  Regierung  Alexanders  II.  und  die  Juden  in  Rußland. 

Die  jüdischen  Ackerbaukolonien  hatten  sich  unter  einer 
wohlwollenden  und  einsichtigen  Regierung  einigermaßen  ge- 
hoben. Es  waren  ihrer  1879  in  Südrußland  —  Gouvernement 
Cherson  —  21  mit  21  828  Seelen,  39  Gebethäusern,  10  Schulen 
mit  2600  Pferden,  5100  Rindern  und  3100  Schafen:  allerdings 
ein  geringfügiger  Viehstand,  der  beweist,  daß  die  Kolonisten 
sich  zumeist  mit  Getreidebau  beschäftigten.  In  Westrußland 
waren  etwa  ebenso  viele  jüdische  Ackerbauer :  20  665  in  56 
Kolonien.  Mehr  noch  in  Polen:  28  391.  Das  waren  immerhin 
erfreuliche  Ergebnisse. 

Die  Zustände  der  russischen  Juden  bei  dem  traurigen  Be- 
schluß der  Herrschaft  Alexanders  II.  waren  verworren,  unfertig, 
gährend  —  aber  doch  in  \äeler  Beziehung  verheißungsvoll;  es 
bedurfte  nur  des  Fortschreitens  auf  den  zuletzt  -wieder  ein- 
geschlagenen Bahnen,  um  sie  einer  günstigen  Gestaltung  zu- 
zuführen. Wie  sie  aber  sich  weiter  entwickeln  sollten,  ob  zum 
Guten  oder  zum  Schlimmen,  das  hing  zum  größten  Teile  von 
der  Regierung  des  jungen  Zaren  ab,  der  jetzt  den  Thron  seines 
unglücklichen  Vaters  bestieg. 


Buch  Zehn. 

Zar  Alexander  III, 


Philippson.   Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  Iir. 


Kapitel  Eins. 

Die  ersten  Pogrome. 


J\\s  Alexander  III.  den  mit  Gefahr  umgebenen  Thron  der 
Zaren  bestieg,  hatte  er  sein  seclisunddreißigstes  Lebensjahr  be- 
schlossen. Er  war  ein  wohlmeinender,  eifriger,  aber  geistig 
beschränkter  Fürst,  der  eben  deshalb  die  wenigen  Ideen,  die 
sich  in  seinem  Gehirne  festgesetzt  hatten,  mit  äußerster  Zähig- 
keit beibehielt.  Diese  Anschauungen  aber  waren  ihm  ein- 
geflößt durch  den  Moskauer  Universitätsprofessor  Konstantin 
Petro witsch  Pobjedonoszew,  einem  gründlich  gebildeten,  ehr- 
lichen, aber  finsteren  und  asketischen  Fanatiker  des  Alt- 
russentums,  der  den  Zarensohn  seit  dem  Jahre  1865  mit  den 
Grundlagen  des  russischen  Staats-  und  Verwaltungsrechtes  be- 
kannt machte.  Je  hochstehender  der  Lehrer  in  moralischer 
Hinsicht,  je  gründlicher  sein  Wissen,  je  beredter  seine  Sprache 
und  besonders  je  einfacher  seine  Ansichten  waren,  um  so  fester 
und  ausschließlicher  gruben  diese  sich  dem  beschränkten 
Thronfolger  ein.  Sein  System  war  logisch  in  sich  geschlossen: 
Selbstherrschaft  und  Rechtgläubigkeit  waren  dessen  Grund- 
lagen und  Pfeiler.  Da  der  Großfürst  ohne  eigenes  Urteil  war, 
ohne  jegliches  Talent,  ohne  staatsmännische  Anlagen,  so  ent- 
behrte er  jeder  Selbständigkeit  und  schwor  auf  die  Worte 
seines  hochbegabten  Professors.  Damit  geriet  er  bald  in  Wider- 
spruch mit  den  Tendenzen  seines  kaiserlichen  Vaters,  und  zu 
den  politischen  gesellten  sich  persönliche  Gegensätze.  Die 
Vernachlässigung  der  Mutter  seitens  des  Vaters  und  dessen 
Liebschaft  mit  einer  jüngeren  und  schöneren  Frau  kränkte  die 
kindliche  Pietät  und  die  Frömmigkeit  des  Sohnes;  und  als 
Alexander  II.  1880  nach  dem  Tode  der  Zarin  die  Geliebte, 
Fürstin  Katharina  Dolgoruki,  trotz  des  schärfsten  Widerstandes 

8* 


116  Die  ersten  Pogi'ome. 

des  Thronfolgers  heiratete,  hielt  sich  dieser  ganz  von  dem 
Herrscher  entfernt.  Er  zeigte  seitdem  offen  seine  Vorliebe  für 
die  Orthodoxen,  Altrussen  und  Panslawisten. 

Und  so  wurde  Alexander  III.  Kaiser.  Er  besaß  alle  Tugen- 
den des  Privatmannes,  war  ehrlich,  wahrhaftig,  ein  vortreff- 
licher Gatte  und  Familienvater,  einfachen  Wesens,  aber  zum 
Herrschertum  unfähig.  ,,Der  Kaiser",  so  schilderte  eine  hohe 
und  wohlunterrichtete  Persönlichkeit  den  Zaren  dem  Fürsten 
Chlodwig  von  Hohenlohe,  ,,ist  mißtrauisch  und  ohne  jedes 
Selbstvertrauen,  dabei  vollkommen  ungebildet  und  beschränk- 
ten Geistes.  Dazukommt  eine  große  Trägheit  und  Indolenz." 
Gerade  sein  Mißtrauen  gegen  sich  und  gegen  andere  machte 
ihn  streng  und  rücksichtslos,  unbedingt  autokratisch;  und 
endlich  führte  ihn  das  Bewußtsein  der  inneren  Schwäche  oft 
bis  zu  leidenschaftlicher  Grausamkeit,  die  eigentlich  seinem 
innersten  Wesen  widersprach.  Das  furchtbare  Ende  seines 
Vaters  schien  ihm  ein  warnender  Beweis,  zu  welchem  traurigen 
Ergebnisse  der  Liberalismus  führe,  und  daß  das  Heil  nur  von 
der  Rückkehr  zu  der  Einfalt  und  Frömmigkeit  des  orthodoxen 
Altrussentums  zu  erwarten  sei.  Als  Kaiser  und  als  Sohn  glaubte 
er  sich  zum  rächenden  Vernichtungskriege  gegen  die  Nihilisten 
berufen;  und  zu  diesen  rechnete  er  auch  alle  liberal  Gesinnten. 
Die  Selbstherrschaft  wurde  wieder,  me  einst  unter  Nikolaus, 
ihr  eigener  Zweck  —  das  war  die  Frucht,  die  Rußland  zunächst 
den  Geheimbündlern  und  Verschwörern  zu  danken  hatte. 
,,E  i  n  Zar,  ein  Glaube,  eine  Sprache,  e  i  n  Recht,"  das 
^vurde  der  Wahrspruch  des  neuen  Herrschers.  Voll  Mißtrauen 
gegen  die  eigenen  Untertanen,  verlegte  er  seine  Residenz  von 
Petersburg  nach  dem  benachbarten  Städtchen  Gatschina  in 
das  von  prächtigen  Gärten  umgebene  Schloß,  wo  der  Eintritt 
streng  überwacht  und  er  selber  ganz  seiner  reaktionären  Um- 
gebung überliefert  war.  Von  der  durch  seinen  Vater  ent- 
worfenen Verfassung  war  nicht  mehr  die  Rede.  Am  1,  Mai 
1881  entließ  er  deren  Urheber,  den  Grafen  Loris-Melikow,  und 
setzte  an  dessen  Stelle  als  Minister  des  Innern  und  leitenden 
Ratgeber  den  gewissenlosen  Intriganten  Nikolaus  Pawlowitsch 
Ignatiew,  der  selbstverständlich  auf  die  Anschauungen  des 
neuen  Monarchen  mit  grenzenlosem  Eifer  einging  und  zu  deren 


Die  ersten  Pogrome.  117 

Ausführung  seine  ganze  unsittliche  Schlauheit  und  brutale 
Gewaltsamkeit  zu  verwenden  entschlossen  war.  Dem  Zaren 
aber  war  dieser  in  ganz  Europa  berüchtigte  Staatsmann  von 
seiner  Umgebung  als  „genial"  gepriesen  worden,  und  er  glaubte 
es,  bis  er  sein  blindes  Vertrauen  völlig  getäuscht  sah. 

Jede  andere  Nationalität,  jeder  andere  Glaube  sollte  unter- 
drückt werden  —  das  war  die  Ansicht  wie  Pobjedonoszews  so 
auch  Ignatiews.  Die  Deutschen  in  den  Ostseeprovinzen  be- 
kamen die  schwere  Hand  der  neuen  Regierung  zuerst  zu  fühlen. 
Diese  hob  das  Toleranzedikt  Alexanders  II.  vom  Jahre  1865 
auf,  dessen  Gleichstellung  des  Luthertums  mit  der  orthodoxen 
Kirche  Pobjedonoszew  als  ,,eine  Kränkung  für  ganz  Rußland" 
bezeichnete.  Eine  Bittschrift  der  livländischen  Ritterschaft 
um  Aufrechterhaltung  der  Glaubensfreiheit  ^\des  Alexander  III. 
1885  zurück,  mit  den  harten  Worten:  ,, Solche  Gesuche  sind 
nie  mehr  vorzubringen."  Aber  nicht  nur  gegen  das  Luthertum, 
auch  gegen  das  Deutschtum  wurde  vorgegangen,  die  Russi- 
fizierung  in  beider  Hinsicht  systematisch  betrieben.  Die- 
jenigen, die  zur  russischen  Kirche  übertraten,  wurden  von  den 
kirchlichen  Reallasten  befreit  und  mit  Landzuweisungen  be- 
dacht; hatten  sie  sich  Kriminalstrafen  zugezogen,  so  wurden 
diese  erleichtert  oder  ganz  erlassen.  Regierung  und  heiligster 
Synod  unterstützten  die  neu  begründete  ,, Baltische  Brüder- 
schaft" zur  Überfülirung  der  Letten  zur  Orthodoxie  —  gerade 
wie  die  Glaubensgenossen  der  baltischen  Lutheraner  in  Preußen 
durch  König  und  Kirche  die  Judenmission  unterstützten. 
Lutherische  Kirchen  durften  —  ein  blutiger  Hohn !  —  nach  der 
Vorschrift  des  Ministers  des  Innern  vom  13.  Oktober  1885  nur 
mit  Genehmigung  des  orthodoxen  Bischofs  gebaut  werden. 
Gegen  200  Pastoren,  die  sich  ihrer  Pfarrkinder  gegen  den  Druck 
der  orthodoxen  Propaganda  angenommen  hatten,  wurden  pein- 
liche Prozesse  erhoben.  Mit  dem  Jahre  1886  begann  die  völlige 
Russifizierung  der  baltischen  Volksschule,  als  deren  Ziel ,, Hebung 
der  russischen  Sprachkenntnisse  und  Einbürgerung  der  vor- 
schriftsmäßigen Gesinnung"  hingestellt  wurde.  Ebenso  durften 
die  baltischen  Behörden  aller  Art  nur  noch  die  russische  Sprache 
anwenden,  die  die  ungeheure  Mehrheit  der  Bevölkerung  nicht 
verstand.    Es  kümmerte  die  Regierung  nicht,  daß  eine  Folge 


118  Die  ersten  Pogrome. 

dieser  Maßregeln  vollkommene  Lahmlegung  von  Polizei  und 
Gericht  wurde  und,  da  die  Verbrechen  straffrei  blieben,  deren 
Zahl  sich  in  wenigen  Jahren  verdoppelte.  Recht  und  Ver- 
fassung galten  den  Vertretern  des  Despotismus  nichts,  wie 
Alexander  III.  selber  den  Livländern  am  20.  Oktober  1885 
erklärte:  ,,Ich  sehe  auf  die  baltischen  Provinzen  als  einen  Teil 
von  Rußland  und  erstrebe  mit  allen  Kräften  eine  Vereinigung 
auf  dem  Boden  des  russischen  Gesetzes,  nicht  der  Privilegien", 
das  heißt  der  besonderen,  beschworenen  Verfassung  jener  Pro- 
vinzen. Den  Widerstand  der  Letten  gegen  die  Deutschen 
förderte  die  Regierung  Alexanders  III.  als  russisch  und  kaiser- 
treu. Der  ,,Golos"  hetzte  nach  Kräften  die  Letten  auf,  mit 
Hilfe  der  Regierung  und  der  russischen  Gerichtshöfe,  die  seine 
schmutzigen  Beleidigungen  des  Deutschtums  schützten.  Seit- 
dem begannen  in  den  Ostseeländern  die  Agrarunruhen  und 
Brandstiftungen,  die  die  Regierung  ebenso  ungestraft  beließ, 
wie  die  offenen  Aufreizungen  der  estnischen  und  lettischen 
Presse  zum  Abbrennen  und  Totschlagen  der  Deutschen.  D  i  e 
Deutschen  sollten  aus  dem  Reiche  gedrängt 
werden,   nicht   minder  als  die   Juden. 

Zu  diesem  Zwecke  sollte  die  Revisionsreise  des  Senators 
Manassein  dienen,  mit  der  dieser  Würdenträger  im  Januar 
1882  in  den  Gouvernements  Livland  und  Kurland  betraut 
wurde.  Er  umgab  sich  mit  den  wildesten  lettischen  und  estni- 
schen Agitatoren,  während  —  von  ihm  ermutigt  —  die  russischen 
Geistlichen,  vom  Bischof  abwärts,  den  Kreuzzug  gegen  die 
Deutschen  predigten.  Manassein  verheimlichte  nicht,  daß  seine 
Revisionsreise  gegen  die  Deutschen  gerichtet  sei.  Sozialistische 
Verschwörer  lettischen  Stammes  ließ  er  von  der  russischen 
Staatsanwaltschaft  in  Freiheit  setzen  und  die  Untersuchung 
gegen  sie  niederschlagen.  Durch  solche  Vorfälle  ermutigt  und 
aufgehetzt,  faßte  das  lettische  Landvolk  Hoffnung  auf  Ver- 
treibung der  Deutschen,  und  einstweilen  nahmen  die  Agrar- 
verbrechen  in  ungeheurem  Umfange  zu,  und  zwar  um  so  unge- 
scheuter,  als  die  deutschen  Richter  und  Beamten  durch  Manas- 
sein massenhaft  abgesetzt  wurden.  Der  Zar  und  seine  Re- 
gierung forderten  immer  die  Letten  zur  Vereinigung  mit  dem 
Russentum  gegen  die  ,, fremde  Kultur  der  Deutschen"  auf. 


Die  ersten  Pogrome.  119 

Es  ist  ein  deutscher  Schriftsteller,  A.  Thun,  der  in  seiner 
„Geschichte  der  revolutionären  Bewegung  in  Rußland"  (S.  220) 
den  Ausspruch  tat:  „Ignatiew  suchte  der  aufgeregten  Stimmung 
in  Rußland  ein  Ventil  in  der  Juden-  und  Deutschenhetze  zu 
öffnen." 

Denn  natürlich  griff  man,  wie  der  Deutschen,  so  auch 
der  Juden  ,, fremde  Kultur"  an.  Alexander  III.  selber  hat 
noch  kurz  vor  seinem  Ende  seiner  Gesinnung  gegen  die  Israeliten 
in  den  charakteristischen  Worten  Ausdruck  verliehen:  ,,Die 
Juden  sind  für  Rußland  ein  schweres  Kreuz,  das  zu  tragen 
dieses  für  immer  verurteilt  ist." 

Die  Regierung  wünschte  die  revolutionäre  Stimmung, 
die  allgemeine  Unzufriedenheit  auf  einen  anderen  Faktor  ab- 
zuwälzen, der  ihr  selbst  ungefährlich  sei.  Sie  hoffte  dadurch 
selber  aus  dem  Spiele  zu  bleiben  und  zugleich  die  gegen  sie  ge- 
richteten Bestrebungen  der  Revolutionäre  als  ein  Erzeugnis  eben 
dieses  Faktors  zu  bezeichnen  und  unpopulär  zu  machen.  Es 
boten  sich  ihr  zu  diesem  Behufe,  noch  mehr  als  die  Deutschen, 
die  Juden  dar,  deren  stark  ausgeprägte  Sonderart  sie  ohnehin 
dem  Volke  entfremdet ,  der  herrschenden  Partei  der  Pan- 
slawisten  verhaßt  gemacht  und  dem  selber  zu  letzterer  neigen- 
den Zaren  Alexander  III.  zum  Gegenstande  der  Abneigung 
und  Feindschaft  gestempelt  hatte.  Der  allmächtige  Minister 
Graf  Ignatiew  hatte  überdies  dem  Kaiser  die  Überzeugung 
beigebracht,  daß  die  gebildeten  Juden  infolge  ihrer  liberalen, 
aus  Westeuropa  bezogenen  Ideen  die  eigentlichen  Träger  der 
Revolution  und  zugleich  die  gcAvissenlosen  Ausbeuter  des  rus- 
sischen Volkes  seien.  Seit  Jahren  hatten  die  panslaAvistischen 
Zeitungen  und  Wortführer  unausgesetzt  das  Volk  gegen  die 
Hebräer  aufgewiegelt,  diese  als  Urheber  alles  Unglücks  und 
aller  Not  hingestellt.  Die  Regierung  selber  hatte  durch  ihre 
Ausnahmegesetze  alles  getan,  um  dem  Volke  die  Hebräer  als 
eine  minderwertige  Rasse  zu  bezeichnen.  Die  wirtschaftliche 
Notlage  der  bäuerlichen  Bevölkerung,  zumal  in  Südrußland, 
machte  den  Boden  für  solche  Umtriebe  nur  allzu  geeignet;  die 
Bauern  suchten  sich,  wie  sie  selber  es  bei  hundert  Gelegenheiten 
sagten,  an  der  Habe  der  verfehmten  Juden  schadlos  zu  halten. 
In  den  Städten  war  es  —  neben  der  Roheit  und  Plünderungs- 


120  Die  ersten  Pogrome. 

sucht  des  Pöbels  —  der  Konkurrenzneid  der  christlichen  Hand- 
werker und  Händler  gegen  die  sparsamen,  nüchternen,  mit 
kleinem  Nutzen  sich  begnügenden  Juden,  der  zu  deren  Be- 
kämpfung und  wirtschaftlichen  Vernichtung  anreizte.  Selbst 
die  revolutionären  Leiter  sahen  solche  Ausschreitungen  mit 
Wohlgefallen,  da  sie  in  ihnen  einen  Beweis  und  eine  Greneral- 
probe  für  revolutionäre  Bestrebungen  innerhalb  des  russischen 
Volkes  erblickten.  Der  passendste  AugenbHck  aber  war  das 
Osterfest,  wo  der  religiöse  Fanatismus  der  griechisch-katho- 
lischen Menge  auf  das  höchste  gesteigert  und  durch  un- 
mäßigen Genuß  von  Wodka  noch  mehr  angereizt  und  f jeder 
Kontrolle  durch  die  Besinnung  beraubt  war. 

So  brachen  am  27.  April  neuen  Stils  im  Gouvernement 
Cherson  (Südrußland)  die  antisemitischen  Unruhen  aus. 

Zuerst  in  der  etwa  32  000  Einwohner  zählenden  Stadt 
Elisabethgrad.  Den  Anlaß  gab  eine  Prügelei  zwischen  einem 
jüdischen  Schankwirt  und  seinen  betrunkenen  Gästen.  Den 
Streitenden  schlössen  sich  bald  viele  Hunderte  von  Bauern 
und  städtischem  Gesindel  an.  Viele  Juden  wurden  nieder- 
geschlagen, aber  der  eigentliche  Zweck  der  Aufrührer  war 
Plünderung  und  daneben  die  Demolierung  der  Judenhäuser. 
Die  Bedrohten  selber  entflohen.  Das  Militär  sah  untätig  zu 
und  schritt  erst^ein  —  am  29.  —  als  das  Unheil  vollendet  war. 
400  Personen,  bei  denen  man  meisten  gestohlenes  Gut  fand, 
wurden  dann  verhaftet.  Die  Bauern  aber  zerstreuten  sich  in 
ihre  Dörfer,  und  nun  wurden  auch  hier  die  Juden  geprügelt, 
ausgeraubt,  vertrieben.  Erst  nachdem  dies  geschehen  war, 
ordnete  die  Regierung  Repressivmaßregeln  an.  Mehrere  kleine 
Städte  des  Gouvernements  waren  gleichfalls  Schauplatz  von 
Judenplünderungen. 

Auch  in  Kischinew  fanden  ähnliche  Ausschreitungen  statt, 
obschon  in  geringerem  Umfange. 

Viel  schlimmer  waren  die  Exzesse  im  ,, heiligen"  Kiew, 
einer  Stadt  von  150  000  Einwohnern,  unter  denen  etwa  20  000 
Juden  waren.  Der  Ausbruch  war  von  Aufwieglern  wochenlang 
vorbereitet  worden.  Sie  hatten  den  Arbeitern  vorgeredet,  der 
neue  Zar  wolle  bis  zu  seiner  Krönung  nur  eine  einzige,  die 
rechtgläubige  Religion  in  seinem  Reiche  haben,   die  Anders- 


Die  ersten  Pogrome.  121 

gläubigen  müßten  vertilgt  werden ;  und  der  Landbevölkerung : 
alles  Besitztum  solle  nach  dem  Willen  des  verstorbenen  Zaren 
geteilt  werden.  Scharen  von  Menschen  zogen  von  den  benach- 
barten Orten  in  die  Stadt,  ohne  daß  die  Polizei  ihnen  die  ge- 
ringste Aufmerksamkeit  schenkte.  Am  7.  Mai  ging  es  los, 
unter  Führung  von  Gebildeten  und  Wohlgekleideten.  Die 
Polizei  sah  untätig  zu;  ja,  wie  bei  den  meisten  Judenkrawallen, 
dienten  die  Polizisten  als  Provokateure  und  befanden  sich  unter 
den  Unruhstiftern  und  Plünderern.  Die  Untersuchungen  des 
russischen  Justizministers  haben  ergeben,  daß  Polizeibeamte 
persönlich  die  Aufrührer  zum  Angriff  geführt  sowie  zum  Plün- 
dern und  Zerstören  aufgefordert  haben;  erst  wenn  Militär 
anrückte,  verschwanden  die  Polizisten.  So  auch  in  Kiew. 
4 — 5000  Menschen  plünderten  und  verheerten  die  Judenwoh- 
nungen,  schlugen  gelegentlich  auch  einige  Juden  tot.  Die  Ko- 
saken halfen  dabei.  Einer  jüdischen  Abordnung,  die  den  General- 
gouverneur General  Drenteln  um  Schutz  bat,  antwortete 
dieser  schlimme  Judenfeind  höhnisch:  wegen  einiger  Juden 
könne  er  seine  Soldaten  nicht  in  Gefahr  bringen;  jene  möchten 
sich  selber  helfen,  sie  wißten  ja  sonst  die  Leute  zum  eigenen 
Vorteil  zu  behandeln.  So  setzten  die  Aufrührer,  durch  die  Straf- 
losigkeit ermutigt  und  durch  die  gestohlenen  Spirituosen  be- 
rauscht, von  dem  Beamten  Eismann  und  dem  General  Tsclier- 
kassow  angestachelt,  am  8.  Mai  ihr  Zerstörungswerk  fort. 
Erst  als  dieses  sich  auch  auf  große  Fabriken  erstreckte,  ließ 
Drenteln  das  Militär  einschreiten.  Da  sich  die  Aufrührer  mit 
den  Waffen  widersetzten,  feuerte  das  Militär:  sieben  Plünderer 
blieben  tot,  achtzehn  wurden  verwundet.  Die  Menge  zerstreute 
sich,  um  in  den  Nachbarorten  das  gleiche  Spiel  zu  beginnen. 
Wer  von  den  Juden  flüchten  konnte,  verließ  die  Stadt  und  die 
Umgegend.  Der  materielle  Schaden  wurde  auf  2Y2  Millionen, 
Rubel  veranschlagt.  Als  Epilog  wurden  554  jüdische  Arbeiter 
aus  der  Kiewer  Tabakfabrik  ausgeschlossen.  So  ermutigte 
man  die  Handarbeit  der  Hebräer. 

In  Alexandrowsk,  Konotop,  Golta,  Wolazyska,  Schmerinka, 
Browary,  Ananjew  wurden  die  Juden  gleichfalls  ausgeplündert 
und  vertrieben.  Die  Behörden  blieben  untätig  oder  halfen 
möglichst   den   Exzedenten.     Das   gesamte   Landvolk   in    Süd- 


122  Die  ersten  Pogrome. 

rußland  geriet  außer  Rand  und  Band.  Tausende  jüdischer 
Familien  entflohen,  meist  nur  das  nackte  Leben  rettend.  Die 
Not  unter  den  Unglücklichen  war  schrecklich. 

Die  ganze  Bewegung  war  sorgfältig  vorbereitet  worden; 
die  Anführer  der  Aufständischen  waren  von  der  Lage  der 
jüdischen  Häuser,  Läden  und  Fabriken  genau  unterrichtet  und 
gingen  bei  ihrem  Zerstörungswerke  planmäßig  vor;  die  rohe 
Masse  war  nur  blindes  Werkzeug.  Die  Anstifter  waren  vom 
Norden  gekommen,  vom  Sitze  der  Regierung  und  der  Leitung 
der  panslawistischen  Partei. 

Endlich,  am  14.  Mai,  ließen  die  Judenplünderer  auch  in 
der  großen  Handelsstadt  Odessa  sich  nicht  mehr  halten. 
Sie  benutzten  das  Aufsehen,  das  das  Spiel  der  berühmten 
französischen  Tragödin  Sarah  Bernhardt  in  der  Stadt  hervor- 
rief, um  sich  zusammenzurotten  und  die  Straßen  zu  durch- 
ziehen. Tausende  begannen  das  Werk  der  Beraubung  und 
Zerstörung.  Zwei  Tage  hielt  es  an.  Dann  schritt  das  Militär 
ein:  es  kam  zu  förmlichen  Kämpfen,  bei  denen  es  beiderseits 
Tote  und  Verwundete  gab.  Hunderte  der  Aufrührer  \\Tirden  in 
Haft  genommen,  aber  auch  \'iele  Juden  —  die  Opfer  erlitten 
von  den  Behörden  dieselbe  Behandlung  wie  die  Übeltäter. 
Die  Behörden  begünstigten  eine  Bewegung  unter  der  ländlichen 
Bevölkerung,  um  die  Judenhetze  zu  ,, legalisieren" :  nämlich 
durch  Petitionen  der  Dorfgemeinden  an  die  Regierung  um  Aus- 
weisung der  Juden  aus  ihren  Bezirken  und  weitere  Beschrän- 
kung der  ökonomischen  Beschäftigungszweige  der  Hebräer. 
Praktischer  verfuhren  noch  die  Bauern  im  Kreise  Mariampol. 
Sie  erschienen  (Juni  1881)  am  hellen  Tage  mit  mehr  als  hundert 
Wagen  in  den  dortigen  jüdischen  Ackerbaukolonien,  luden  das 
sämtliche  Eigentum  der  Kolonisten  auf  und  fuhren  dann,  ohne 
weitere  Ausschreitungen  zu  begehen,  davon.  ,,Der  Zar",  sagten 
sie,  ,,hat  befohlen,  den  Juden  zu  nehmen,  was  sie  besitzen,  sie 
selbst  aber  nicht  zu  mißhandeln."  Offenbar  wieder  ein  von 
außen  gegebenes  Losungswort ! 

Von  den  verhafteten  Plünderern  von  Elisabethgrad, 
Kiew  und  den  anderen  Orten,  wo  Judenhetzen  stattgefunden 
hatten,  woirden  nur  wenige  und  auch  diese  nur  zu  geringen 
Strafen    verurteilt.     Diejenigen    russischen    Rechtsanwälte    in 


Die  ersten  Pogrome.  123 

Kiew,  die  sich  vor  Gericht  der  beraubten  und  verletzten 
Hebräer  angenommen  hatten,  wurden  von  ihren  Kollegen  als 
,, unwürdig  des  Advokatenstandes"  in  Verruf  erklärt ! 

Bei  solcher  Ermutigung  durch  Regierung  und  Gebildete 
verbreitete  sich  natürlich  die  Judenhetze  immer  weiter.  Im 
Juli  1881  kam  das  Gouvernement  Poltawa  an  die  Reihe. 
Der  erste  Ausbruch  fand  hier  in  der  Stadt  Perejaslawl  am 
13.  Juli  1881  statt:  zehn  Juden  wurden  schwer,  200  leicht 
verwundet.  Die  Regierung  nahm  unter  den  Aufrührern  60  Ver- 
haftungen vor,  aber  ein  Pöbelkrawall  befreite  die  Gefangenen 
schon  nach  wenigen  Tagen.  Selbstverständlich  fand  das  in 
Perejaslawl  gegebene  Beispiel  an  mehreren  Orten  des  Gouverne- 
ments Nachahmung :  das  Eigentum  der  Juden  wurde  vernichtet, 
sie  selber  mißhandelt  und  verwundet.  Aus  siebzehn  Diösen 
des  Gouvernements  wurden,  oft  unter  Begünstigung  und  Füh- 
rung der  Ortsbehörden,  die  Juden  ganz  vertrieben.  Überhaupt 
drängten  sie  sich  in  die  größeren  Städte  zusammen,  wo  sie  doch 
einigermaßen  auf  den  Schutz  von  Polizei  und  Militär  hoffen 
durften.  Wirklich  feuerten  z.  B.  in  Lubny,  dem  Mittelpunkte 
eines  überaus  fruchtbaren  Agrarkreises,  die  Soldaten  auf  die 
Aufrührer,  von  denen  zwei  fielen,  15  gefangen  wurden.  In  dem 
benachbarten  Gouvernement  Tschernigow  war  es  die  Haupt- 
stadt selbst,  wo  eine  Judenhetze  ausbrach,  die  durch  die  Waffen 
unterdrückt  werden  mußte,  wobei  zehn  Unruhestifter  getötet, 
zahlreiche  verwundet  wurden.  Trotzdem  fanden  noch  neue 
Judenmassakres  in  mehreren  Flecken  des  Gouvernements 
Tschernigow  statt. 

Die  Regierung  sandte  im  Monat  Juli  1881  den  Grafen 
Kutaissow  nach  Südrußland,  um  an  Ort  und  Stelle  die  Ursachen 
und  den  Charakter  der  dortigen  antisemitischen  Bewegung  zu 
studieren.  Er  kam  zu  dem  Ergebnisse,  das  für  die  Aufruhrer 
schonend  genug  klang:  die  Schuld  an  den  südrussischen  Kra- 
wallen sei  die  ökonomische  Notlage  der  dortigen  Bevölke- 
rungen —  wobei  sich  dann  jeder  ausmalen  konnte,  wie  die 
,, Ausbeutung"  durch  die  Juden  an  dieser  Notlage  mit  be- 
teiligt sei.  Wirklich  wütete  ein  Teil  der  Presse  immer  noch 
gegen  die  Hebräer,  unter  Duldung  der  Regierung.  Diese  er- 
laubte auch  keinerlei  Hilfsorganisation  für  die  geplünderten, 


124  Die  ersten  Pogrome. 

verjagten,  mißhandelten  Unglücklichen.  Vielmehr  setzte  sie 
die  Verfolgung  in  der  angeblich  gesetzlichen  Form  der  Aus- 
weisungen selber  fort.  Die  fremden  Israeliten  in  den  Seeplätzen 
wurden  vertrieben,  trotz  der  eifrigen  Reklamationen  Englands 
für  seine  dort  ansässigen  jüdischen  Untertanen.  Später  wurden 
alle  Juden,  die  nicht  ausdrückliche  Erlaubnis  in  dem  50- Werst- 
Grenzdistrikt  besaßen,  aus  diesem  verjagt,  mit  Bezug  auf  eine 
dreißig  Jahre  früher  erlassene  und  von  Alexander  II.  ausdrück- 
lich aufgehobene  Verordnung;  keinerlei  Vorstellungen  ver- 
mochten diese  Maßregel  zu  verhindern  (Januar  1882).  Drei- 
hundert Juden  wurden  auf  die  brutalste  Weise  aus  Moskau 
entfernt:  die  Polizei  überfiel  sie  im  Schlafe,  nahm  ihnen  ihre 
Pässe  und  schob  sie  am  folgenden  Morgen  ab  (März  1882); 
dann  von  neuem  fünfhundert  Familien.  In  Kiew  erlitten 
Tausende  jüdischer  Familien  das  Schicksal  der  Ausweisung. 
Aus  der  Handels-  und  Gouvernementshauptstadt  Orel  wurden 
900  Familien  vertrieben.  Und  so  fort.  Es  waren  ,, unblutige 
Pogrome",  von  der  Regierung  veranstaltet. 

Die  gebildeten  Juden  suchten  dem  Unheil  nach  Möglichkeit 
zu  steuern.  Unter  Anführung  des  großen  Zuckerfabrikanten 
und  bekannten  Menschenf reundes Brodsky  erschien  eine  jüdische 
Deputation  aus  Kiew  bei  dem  Minister  Ignatiew  und  forderte 
die  Entlassung  des  Gouverneurs  General  Drenteln  als  offen- 
kundigen Förderers  der  Unruhen.  Brodsky  begab  sich  zu 
gleichem  Zwecke  zum  Großfürsten  Wladimir  AlexandroA\'itsch, 
des  Zaren  Bruder,  der  die  Kühnlieit  hatte,  dem  erstaunten 
Kiewer  Israeliten  als  Anstifter  der  Krawalle  die  Anarchisten 
und  Nihilisten  zu  bezeichnen  und  damit  jede  Verantwortung 
von  der  Regierung  und  deren  Organen  auf  ihre  Gegner  zu 
wälzen.  Das  war  einfach  eine  Abweisung  der  gerechten  Be- 
schwerden und  Bitten  der  Juden.  Ebensowenig  Erfolg  ver- 
sprach eine  Petition  des  Eisenbahnkönigs  S.  S.  Poljakow:  die 
von  der  Regierung  gewünschte  Russifizierung  der  jüdischen 
Masse  ^vurde  durch  die  steten  gegen  diese  gerichteten  Aus- 
nahmegesetze unmöglich  gemacht.  Er  verlangte  deshalb  die 
Gewährung  des  Aufenthaltsrechts  für  die  Hebräer  im  ganzen 
Reiche  sowie  das  Aufhören  aller  besonderen  Einrichtungen  und 
Steuern    für    dieselben;    endlich    verschiedene    Bildungsmaß- 


Die  ersten  Pogrome.  125 

nahmen.  Poljakow  hatte  damit  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen, 
die  wahre  Lösung  des  gefährhchen  Problems  angegeben.  Allein 
er  predigte  tauben  Ohren.  Ignatiew  wünschte  ja  nicht  die 
Russifizierung,  sondern  die  Vertreibung  der  Juden  aus  dem 
Reiche. 

Eine  umfassendere  Maßregel  war  die  Vereinigung  von 
56  jüdischen  Notabein  —  Rabbinern,  Gelehrten,  Ärzten,  Rechts- 
anwälten, Stadträten,  Finanziers  —  aus  den  von  den  Uni'uhen 
betroffenen  Gebieten  in  Petersburg,  unter  Vorsitz  von  Horaz 
Günzburg,  in  der  zweiten  Hälfte  des  August  1881;  sie  sollte 
dauernde  Abhilfe  schaffen.  Man  beschloß  Anlegung  eines 
Fonds  zur  Verbreitung  von  Ackerbau  unter  den  Juden,  Grün- 
dung von  Ackerbaukolonien;  den  Versuch,  Juden  in  die  staat- 
lichen Lokalkommissionen  zur  Regelung  der  jüdischen  An- 
gelegenheiten zu  bringen;  Anlegung  eines  jüdischen  Preß- 
bureaus zur  Bekämpfung  der  antisemitischen  Zeitungsstimmen; 
Überwachung  der  Militärpflichtigen  durch  die  Rabbiner  zur 
Verhütung  der  Desertion;  Anstrebung  der  Einführung  des 
jüdischen  Religionsunterrichtes  bei  allen  von  israelitischen 
Kindern  besuchten  Schulen;  endlich,  zu  augenblicklicher  Ab- 
wehr, Nachsuchen  einer  Audienz  bei  Ignatiew  und  bei  dem 
Kaiser  selbst. 

Alexander  III.  besaß,  trotz  seiner  ausgesprochenen  Juden- 
feindschaft, hinreichendes  Gefühl  für  Recht  und  Ordnung,  um 
ein  Gegner  der  Judenkrawalle  zu  sein.  Er  fürchtete  auch  wohl, 
daß  die  Volksum'uhen  sich  leicht  auf  ein  anderes,  auf  ein  förm- 
lich revolutionäres  Gebiet  ausdehnen  würden,  wenn  man  sie 
nicht  rechtzeitig  unterdrücke.  So  schrieb  er  an  den  Rand  eines 
Ministerialbeschlusses,  der  sich  für  die  Niederwerfung  jedes 
Versuches  der  Menge  zu  Gewalttätigkeiten  gegen  die  Juden 
aussprach:  ,,Es  ist  notwendig  und  ohne  jeden  Zeitverlust". 
Aber  gerade  daß  er  so  gezwungen  war,  sich  zum  Beschützer 
der  Juden  gegen  Rechtgläubige  aufzuwerfen,  bekümmerte  ihn 
tief.  ,,D  a  s  ist  ja  das  Traurige  an  allen  diesen  Exzessen  gegen 
die  Juden,"  bemerkte  er  in  diesem  Sinne  zu  einem  entsprechen- 
den Bericht  des  Warschauer  Generalgouverneurs.  Die  Po- 
grome fanden  großenteils  in  ihm  einen  Gegner,  weil  er  so  zur 
Tätigkeit  eines  Judenschützers  gezwungen  wurde.    Der  Depu- 


126  Die  ersten  Pogrome. 

tation  der  jüdischen  Notabein  Versammlung  gegenüber  gab  er 
aber,  wie  sein  Bruder,  das  Stichwort  aus:  „Die  Juden  dienten 
nur  als  Vorwand,  die  verbrecherischen  Unruhen  seien  vielmehr 
das  Werk  der  Anarchisten."  Eine  offenbare  Unwahrheit,  die 
aber  die  beteiligten  Beamten  vollständig  deckte. 

Zwanzig  Minuten  dauerte  die  Audienz  dieser  Deputation, 
die  aus  Baron  Günzburg,  dem  Bankdirektor  Sack,  den  Advo- 
katen Passower,  Berlin  und  Bank  bestand.  Der  Kaiser  sagte 
ihnen,  sie  sollten  ihre  Glaubensgenossen  beruhigen,  es  sei  ihm 
das  Wohl  aller  seiner  Untertanen  gleich  teuer,  die  Unruhen 
sollten  unterdrückt  werden.  Aber  er  konnte  sich  doch  nicht 
enthalten,  seiner  Abneigung  gegen  die  Juden  Ausdruck  zu 
geben.  ,,Auch  auf  den  Seelen  der  Juden  brennt  eine  Sünde, 
denn  man  gibt  ihnen  Schuld,  daß  sie  die  christliche  Bevölkerung 
ausbeuten."  Dann  noch  ein  zweiter  Vorwurf :  ,, Warum  entziehen 
sie  sich  so  gern  der  Wehrpflicht."  Er  gestattete  den  Deputierten, 
einzeln  ihre  Meinung  zu  äußern;  sie  betonten  als  hauptsäch- 
liches Heilmittel  die  Gewährung  vollkommener  Freizügigkeit. 
Endlich  forderte  der  Zar  die  Abfassung  einer  Denkschrift,  die 
dem  Ministerium  überreicht  werden  solle,  und  die  er  selber  zu 
prüfen  verhieß. 

Klang  diese  Sprache  von  höchster  Stelle  immerhin  hoff- 
nungsvoll, so  wurden  die  Deputierten,  denen  auch  Staatsrat 
S.Poljakow  sich  anschloß,  vonignatiew,  dem  leitenden  Minister, 
gänzlich  enttäuscht.  Er  fuhr  sie  mit  der  ihm  eigenen  Brutalität 
heftig  an:  ihr  Schritt  sei  vollkommen  unnütz,  da  die  Regierung 
wisse,  was  sie  zu  tun  habe,  und  die  Judenreform  im  Interesse 
des  ganzen  Staates  und  nicht  einer  einzelnen  ,, Nation"  entschei- 
den müsse.  Ja,  die  Deputation  sei  gesetzwidrig,  die  Juden  soll- 
ten den  Instanzenweg  einhalten.  Damit  mußten  sie  abziehen. 
Nichts  war  ungerechter,  als  die  Juden  einseitig  des  Wuchers 
anzuklagen.  Der  war  vielmehr  eine  alte  echt  russische  Gewohn- 
heit. In  einem  Manifeste  vom  18.  Juli  1762  hatte  schon  Katha- 
rinall.  über  ,,die  Bestechlichkeit  und  den  abscheulichen  Wucher" 
unter  den  Russen  geklagt.  Es  war  damals  noch  kein  Jude  im 
heiligen  Rußland.  Und  die  Gesetzgebung  Alexanders  III.  und 
Ignatiews  gestattete  den  Juden  Kneipwirt,  Trödler  und  Wucherer 
zu  sein,  aber  nicht  Landbauer,  Wissenschaftler,  Richter,  Be- 


Die  ersten  Pogrome.  127 

amter,  Professor;  dann  klagte  man  die  hungernden  Juden  als 
„Ausbeuter"  an. 

Ignatiew  ließ  den  Worten  die  Taten  entsprechen. 

Er  entsandte,  am  14.  September  1881,  ein  Rundschreiben  an 
die  Gouverneure,  das  in  seinem  ungeheuerlichen  Inhalte  geradezu 
eine  Rechtfertigung  der  jüngsten  Pogrome  enthielt.  Es  warf 
den  Juden  nationale  Abgeschlossenheit  und  religiösen  Fanatis- 
mus vor,  die  der  christlichen  Bevölkerung  großen  Schaden 
bereiteten.  Die  seit  zwanzig  Jahren  betriebenen  Assimilations- 
versuche —  das  war  ein  Stich  gegen  das  liberale  System  des 
verstorbenen  Kaisers  —  hätten  sich  als  vergeblich  erwiesen, 
die  Juden  hätten  in  dieser  Zeit  nicht  nur  Handel  und  Gewerbe 
an  sich  gerissen,  sondern  auch  durch  Kauf  und  Pacht  bedeuten- 
den Grundbesitz  an  sich  gebracht,  aber  dies  alles  nicht  zur 
Vermehrung  der  Produktionsfähigkeit  des  Landes,  sondern  zur 
Ausbeutung  der  Stammeseinwohner,  besonders  der  ärmeren 
Klassen.  Daher  schrieben  sich  deren  gewalttätige  Proteste, 
vulgo  Judenhetzen.  Auf  einmal  waren  diese,  nach  Ignatiews 
ausdrücklichen  Worten,  nicht  mehr  anarchistischen,  sondern 
rein  ökonomischen  Ursprungs.  Die  Unruhen  seien  unterdrückt, 
aber  nun  müsse  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  vor  den  Juden 
geschützt  werden.  Deshalb  seien  in  allen  Gouvernements  des 
Ansiedlungsrayons  zur  Beratung  der  Judenfrage  Lokalkom- 
missionen zu  bilden,  die  hauptsächlich  aus  den  Vertretern  der 
Innungen  und  Zünfte,  das  heißt  den  geborenen  Konkurrenten 
und  deshalb  Gegnern  der  Juden,  zusammengesetzt  werden 
sollten.  Ignatiew  glaubte  also  sicher  zu  sein,  daß  die 
Lokalkommissionen  in  Gemäßheit  seiner  in  dem  Rund- 
schreiben geäußerten  judenfeindlichen  Anschauungen  be- 
schließen würden. 

Die  Stimmung  der  Juden  wurde  unter  solchen  Verhält- 
nissen eine  verzweifelte;  sie  sahen  sich  rettungslos  dem  drohen- 
den Verderben  ausgeliefert.  Verbot  ihnen  doch  die  Regierung 
auch,  sich  gegen  die  Plünderer  und  Mörder  zusammenzutun 
und  zu  waffnen !  So  blieb  nichts  übrig,  als  die  Auswanderung, 
besonders  nach  Nordamerika  —  die  massenliafte  Auswanderung. 
Zumal  wohlhabende  Juden  —  denn  die  armen  konnten  die 
Reisekosten    nicht    erschwingen    —   verließen    die    ungastliche 


128  Die  ersten  Pogrome. 

Heimat.    Aus  Kiew  allein  emigrierten  4000  Juden,  unter  ihnen 
der  große  Bankier  und  Fabrikbesitzer  Brodsky, 

Wurde  schon  hierdurch  Rußland  schwerer  ökonomischer 
Schaden  zugefügt,  so  noch  mehr  durch  die  Unterbrechung  des 
geschäftlichen  Verkehrs  im  Süden  und  Westen,  durch  das  Auf- 
hören der  vermittelnden  und  kreditgewährenden  Tätigkeit  der 
Juden,  durch  die  Unterbindung  besonders  des  Getreidehandels, 
der  fast  ausschließlich  in  deren  Händen  gelegen  hatte.  Die  Gre- 
treidepreise  sanken  in  bedrohlicher  Weise,  zum  Teil  bis  auf  die 
Hälfte. 

Die  Zunahme  des  %\drtschaftlichen  Notstandes  aber  hatte 
keine  Umkehr  auf  dem  unheilvollen  Wege,  sondern  nur  neue 
Ausschreitungen  zur  Folge. 

Während   bisher   Polen   im   ganzen   ruhig   geblieben   war, 
kamen  in  der  Hauptstadt  Warschau  selbst  am  ersten  Feier- 
tage des  Weihnachtsfestes   1881   antisemitische  Unruhen  zum 
Ausbruch,  die  schon  von  langer  Hand  her  vorbereitet  waren. 
Pöbelhaufen,  meist  betrunkene  junge  Burschen,  mißhandelten 
und  töteten  Juden,  denen  sie  begegneten,  plünderten  und  ver- 
wüsteten deren   Häuser  und  Läden.     Der    Generalgouverneur 
Albedinski    mes   höhnisch    jedes    Eingreifen    von    Polizei    und 
Militär  zurück,  die  vielmehr  ruhig  den  Greuelszenen  zusahen, 
ja  selber,  wie  in  Südrußland,  sich  unter  die  Exzedenten  mischten 
und  sich  mit  ihnen  an  dem  gestohlenen  Branntwein  betranken. 
Erst  als  die  Juden  sich  bewaffneten,  um  Leben  und  Eigentum 
zu  verteidigen,  schritt  das  Militär  ein   —  es  war  am  vierten 
Tage  der  Unruhen  —  und  verhaftete  nun  alles,  was  ihm  unter 
die  Hände  kam:    2600  Menschen,  darunter  auch  solche  Juden, 
die  sich  gegen  die  Aufrührer  zur  Wehr  gesetzt  hatten.     Der 
angerichtete   Schaden  wurde  auf  mehr  als  eine  Million  Rubel 
geschätzt  und  betraf    2011   Familien.     Bei   einem   der  haupt- 
sächlichen Anstifter,  einem  ehemaligen  Obersten  Kudriawzew, 
fand   man   genaue    Listen    der   zur    Plünderung    ausersehenen 
jüdischen  Greschäftshäuser.    Trotz  alledem  erhielten  die  War- 
schauer ,, Faustritter",  soweit  sie  nicht  in  ]\Ienge  freigesprochen 
wurden,    ganz  geringfügige    Strafen.     Dadurch  wurden  natür- 
lich  die  Unruhestifter  und  Plünderer   zu   neuen    Gewalttaten 
ermutigt,  die  auch  an  vielen  Orten  mit  Mord  und  Brand  an  den 


Die  ersten  Pogrome.  129 

unglücklichen  Juden  verübt  wurden.  Hatte  doch  ebenfalls  in 
Kiew  der  kaiserliche  Prokurator  General  Strelnikow  in  offener 
Gerichtssitzung  geradezu  die  Juden  als  die  durch  ihre  Frevel 
eigentlich  Schuldigen,  die  Plünderer  als  gewissermaßen  zur 
Notwehr  gezwungen  bezeichnet,  — zugleich  eine  Entschuldigung 
für  die  Mordbuben  und  eine  Aufreizung  zu  neuen  Verbrechen, 
ganz  nach  dem  Ignatiewschen  Rezepte. 

Solche  blieben  denn  auch  nicht  aus.  Am  griechischen  Oster- 
feste 1882  wütete  der  Aufstand,  zumal  in  der  13  000  Einwohner 
zählenden  Stadt  Balta.  Hier  war  der  bevorstehende  Ausbruch 
seit  Wochen  bekannt,  aber  die  Polizeibehörden  wiesen  alles 
Flehen  der  bedrohten  Juden  um  Schutz  zurück,  ja  verboten 
diesen,  sich  zur  Selbstverteidigung  zu  bewaffnen.  Ebenso 
sahen  sie  den  Schändlichkeiten  selbst  untätig  zu.  Die  Scheuß- 
lichkeiten waren  in  Balta  noch  schlimmer  als  bisher  irgendwo 
—  Vorläufer  der  ein  Vierteljahrhundert  später  wütenden  Po- 
grome. 40  Juden  verloren  dabei  ihr  Leben,  zum  Teil  in  die 
Flammen  ihrer  brennenden  Häuser  geworfen;  300  Schwer- 
verwundete wurden  in  die  Spitäler  von  Odessa  gebracht; 
Tausende  waren  zu  brot-  und  obdachlosen  Bettlern  geworden; 
der  Schaden  nur  an  beweglichen  Eigentum  betrug  zwei  Millionen 
Rubel.  Von  den  wegen  dieser  schauerlichen  Verbrechen  An- 
geklagten wurden  nur  sechs  verurteilt,  davon  nur  einer  —  wegen 
Notzucht  —  zum  Zuchthaus,  die  anderen  zu  ganz  unbedeutenden 
Strafen.  Natürlich  brach  bald  in  der  Nähe  Baltas,  in  Okna, 
eine  neue  Judenverfolgung  aus.  ,,Für  die  vielen  Groldstücke, 
die  ich  erbeute,  kann  ich  schon  einige  Wochen  im  Gefängnisse 
sitzen,"  sagten  die  Plünderer. 

In  Gombin  bei  Warschau  fand  am  1.  Mai  ein  zehnstündiger 
Kampf  zwischen  dem  Pöbel  und  den  Juden  statt,  die  schließ- 
lich von  eindringenden  Bauernhaufen  überwältigt  wurden. 
An  vielen  Orten  wurde  Brand  in  die  Judenliäuser  gelegt,  zumal 
in  Kowno  und  Smorgon.  Anderwärts  plünderten  Bauern  und 
Bäuerinnen  solche  ganz  ungescheut  aus,  Gott  dankend  für  den 
mühelosen  Gewinn. 

Eine  furchtbare  Panik  bemächtigte  sich  der  armen,  von 
der  Regierung  nicht  geschützten,  sondern  im  Wettstreit  mit 
den  Mordbuben  verfolgten   Juden.    Immer  von  neuem  sahen 

Philippson,    Neuest©  Geschichte  der  Juden,  Bd.  TIT.  " 


130  Die  ersten  Pogrome. 

sie  sich  einzelnen  Gewalttaten,  Totschlag  und  Räuberei  aus- 
gesetzt; ein  förmlicher  Bandenkrieg  wurde  gegen  sie  geführt. 
In  vielen  kleineren  Orten,  wo  wenig  Polizei  und  kein  Älilitär 
stand,  hausten  die  Übeltäter  ganz  ungestört.  Zu  vielen  Tausen- 
den flüchteten,  wie  schon  im  Vorjahre,  die  Juden  wieder  über 
die  Grenzen  Rußlands.  Zum  Teil  wandten  sie  sich  nach  dem 
heiligen  Lande  ihrer  Väter,  nach  Palästina,  zum  bei  weitem 
größten  aber  nach  dem  verheißungsvollen  Lande  der  Freiheit  und 
Gleichberechtigung,  nach  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
wohin  sich  im  ersten  Pogromjahre  17  497  russische  Juden  be- 
gaben, die  doppelte  Zahl  des  Vorjahres.  Im  Mai  1882  allein 
wurden  an  Juden  13  200  Emigrationspässe  ausgegeben.  In 
der  gahzischen  Grenzstadt  Brody  fanden  sich  immer  10 — 11  000 
jüdische  Emigranten  vor,  von  denen  allerdings  solche,  die 
keine  Pässe  besaßen,  von  der  österreichischen  Polizei  \Aäeder 
zurückgeschoben  wurden. 

Und  wie  verhielt  sich  Ignatiew,  der  leitende  Minister 
Alexanders  III.,  der  sich  doch  scharf  gegen  die  Pogrome  aus- 
gesprochen hatte,  bei  diesen  neuen  Untaten  ? 

Vor  deren  Ausbruch,  im  Februar  1882,  hatte  er  sich  dem 
ihn  interviewenden  Korrespondenten  der  Londoner  ,, Daily 
News"  gegenüber  in  betreff  der  Judenfrage  geäußert:  eine  Aus- 
dehnung des  Wohnsitzes  der  Juden  über  den  Rest  Rußlands 
könne  nur  mit  Zustimmung  der  örtlichen  Semstwos  geschehen. 
Ignatiew  wurde  Anhänger  des  konstitutionellen  Systems,  so- 
bald solches  sich  gegen  die  Juden  gebrauchen  ließ !  Solange 
die  Juden  ihre  exklusiven  Richtungen  in  Gewohnheiten, 
Sprache,  sozialer  Organisation  und  dergleichen  verfolgten, 
könnten  sie  keine  vollständige  bürgerliche  Gleichberechtigung 
verlangen.  Ihre  Auswanderung  werde  die  Regierung  nicht  be- 
hindern, übrigens  weitere  Ausschreitungen  gegen  sie  nicht 
dulden.  Die  Ereignisse  in  Balta,  Okna,  Warschau,  Gombin 
sollten  dieser  heuchlerischen  Verheißung  bald  einen  blutigen 
Kommentar  schreiben.  Ignatiew  beteiligte  sich  insoweit  an 
denselben,  als  er  verbot,  öffentliche  Sammlungen  für  die  aus- 
geplünderten   Juden   zu    veranstalten. 

Die  ,, vollständige  Gleichberechtigung"  wurde  unterdes 
von   ihm   auf  wunderbare  Weise   vorbereitet.     Er  entzog   den 


Die  ersten  Pogrome.  131 

jüdischen  Apothekern  außerhalb  des  Rayons,  die  die  Regierung 
bisher  allerorts  begünstigt  hatte,  im  Januar  1882  plötzlich 
die  Konzession  und  machte  so  Hunderte  von  anerkannt  an- 
ständigen Familien  mit  einem  Schlage  brotlos.  Das  waren  doch 
keine  ,, Ausbeuter" !  Ebenso  bestimmte  er,  daß  alle  jüdischen 
Eisenbahnbeamten  —  gewiß  auch  keine  ,, Ausbeuter"  —  zu 
entlassen  seien.  Nur  fünf  Prozent  der  Militärärzte  dürfen  ferner 
Juden  sein,  und  in  den  fünf  MiHtärbezirken  des  Ansiedlungs- 
rayons  sind  als  solche  die  Juden  ganz  auszuschließen ;  sie  dürfen 
nur  bis  zur  fünften  Rangklasse  befördert  werden.  Auch  in  die 
militärischen  Medizinalakademien  sollten  nur  fünf  Prozent  von 
Juden  aufgenommen  werden;  dabei  fehlte  es  an  Militärärzten. 
Bei  Kriegszeiten  sollten  aber  die  jüdischen  Ärzte  unterschiedslos 
eingezogen  werden.  Darauf  forderten  sämtliche  aktive  jüdische 
Militärärzte  in  Moskau  ihre  Entlassung,  da  sie  nicht  unter  so 
entehrenden  Bedingungen  weiter  dienen  wollten.  Es  ist  zu  be- 
merken, daß  die  jüdischen  Militärärzte  in  keiner  Weise  zu 
solcher  Maßregel  Anlaß  gegeben  hatten,  daß  bei  den  mannig- 
fachen Skandalen  im  russischen  militärischen  Sanitätskorps 
kein  einziger  Jude  figuriert  hatte.  Jüdische  Hauslehrerinnen 
dürfen  nicht  außerhalb  des  Rayons  wohnen. 

Die  Feindschaft  gegen  die  jüdische  Bildung,  die  sich  in 
solchen  Maßregeln  unverhüllt  aussprach,  betätigte  die  damalige 
Regierung  auch  fernerhin.  Sie  schloß  alle  besonderen  jüdischen 
Unterrichtsanstalten,  ,,um  den  sozialen  Separatismus  der  Juden 
zu  beseitigen",  darunter  fünfzig  Elementarschulen.  Damit 
M'urde  die  ungeheure  Mehrheit  der  jüdischen  Kinder  rettungslos 
den  Chedarim  ausgeliefert.  Es  war  im  Plane,  auch  die  jüdischen 
Lehrerseminare  — ■  die  früheren  Rabbinerseminare  —  in  Wilna 
und  Schitomir  zu  schließen. 

Und  wie  gegen  Gebildete  und  Beamte  unter  den  Juden 
wütete  dieselbe  Regierung,  die  angeblich  die  Israeliten  aus  Klein- 
handel und  Wucher  herausreißen  wollte,  auch  gegen  die  jüdischen 
Handwerker.  Solche  dürfen  außerhalb  des  Rayons  nicht  wohnen, 
wenn  sie  ihr  Geschäft  anders  als  mit  Handarbeit  betreiben; 
sonst  seien  ihre  Werkstätten  als  Fabriken  zu  betrachten  und 
deren  Inhaber  auszuweisen. 

Alle    diese    kränkenden,    aufreizenden    und    verderblichen 


132  Die  ersten  Pogrome. 

Maßregeln  sollten  aber  nach  Ignatiews  Auffassung  nur  die 
Einleitung  zu  einem  umfassenden  und  dauernden  Schlage  gegen 
die  Juden  sein.  Eine  von  der  Regierung  im  April  1882  nach 
Petersburg  berufene  Versammlung  von  38  jüdischen  Notabein 
verlief  völlig  ergebnislos.  Als  Ignatiew  sie  endlich  empfing, 
ließ  er  sie  gar  nicht  zu  Wort  kommen  und  führte  mit  ihnen 
eine  heuchlerische  Komödie  auf.  Das  einzige  Ergebnis  der 
Notabein  Versammlung  war  die  Stiftung  eines  Fonds  für  die 
geplünderten  Juden;  er  betrug  aber  nicht  mehr  als  54  000  Rubel, 
von  denen  der  edle  Baron  Günzburg  allein  15  000  gezeichnet 
hatte.  Wahrlich,  ein  schlimmes  Zeichen  für  den  Opfer  sinn  der 
Reichen  unter  den  damaligen  russischen  Israeliten !  Späterhin 
ist  ihre  Gesinnung  aber  eine  ganz  andere,  hochherzigere  ge- 
worden. 

Durch  kaiserlichen  Befehl  vom  16.  Oktober  1881  war  ein 
„besonderes  Komitee  zur  Prüfung  der  Judenfrage"  eingesetzt 
worden,  gebildet  aus  je  einem  Mitgliede  der  16  Lokalkommis- 
sionen mit  derselben  Aufgabe,  unter  der  Leitung  des  Geheim- 
rates Gotonzew,  Gehilfen  des  Ministers  des  Innern.  Unter 
solcher  Führung  wurde  das  ,, besondere  Komitee"  selbstver- 
ständlich ein  gefügiges  Werkzeug  in  der  Hand  Ignatiews.  Seine 
Aufgabe,  die  Vorschläge  der  sechzehn  Lokalkomitees  zu  systema- 
tisieren, erfüllte  es  in  der  Weise,  daß  es  nur  die  feindlichsten 
und  gehässigsten  derselben  aufgriff  und  daraus  sechs  Anträge 
ungeheuerlicher  Art  formulierte.  Ignatiew  unterbreitete  sie 
dem  Ministerrate,  der  sie  aber  mit  der  großen  Mehrheit  von 
neun  gegen  drei  Stimmen  verwarf.  Der  ,, Vater  der  Lüge" 
gab  sich  noch  nicht  für  besiegt  und  verhandelte  so  lange  mit 
dem  Ministerrate,  bis  dieser  eine  Anzahl  von  Anordnungen 
genehmigte,  die  am  3.  Mai  1882  verkündigt  wurden  und  des- 
halb unter  dem  Namen  der  ,, Maigesetze"  bis  heute  einen  Gegen- 
stand tiefsten  Kummers  für  die  unglücklichen  Juden  Rußlands 
ausmachen. 

Der  erste  Paragraph  schloß  ,, vorläufig  und  bis  zur  allge- 
meinen Revision  der  Gesetze  betreffend  die  Juden"  diese  für  die 
Zukunft  vom  flachen  Lande  aus  —  mit  Ausnahme  der  bestehen- 
den landwirtschaftlichen  Kolonien.  Der  zweite  Artikel  hob 
demgemäß  alle  Kauf-  und  Pachtkontrakte  sowie  Verwaltungs- 


Die  ersten  Pogrome.  133 

vertrage  für  ländliche  Immobilien  zugunsten  von  Juden  auf. 
Der  dritte  Artikel  verbot  den  Juden  den  Handel  an  Sonn-  und 
christlichen  Festtagen.  Das  ganze  Gesetz  sollte  übrigens  nur 
für  den  Ansiedlungsrayon  Gültigkeit  besitzen. 

Der  dritte  Artikel  war  an  Bedeutung  den  beiden  ersten 
nicht  zu  vergleichen;  er  enthielt  immerhin  für  die  Israeliten 
derjenigen  Städte,  wo  sie  den  überwiegenden  Teil  der  Be- 
völkerung bildeten,  eine  schwere  und  durch  nichts  zu  recht- 
fertigende Beschränkung  ihrer  gewerblichen  Tätigkeit.  Der 
Sonntag  ist  der  Tag,  wo  der  russische  Bauer  in  die  Stadt  kommt, 
um  seine  Einkäufe  vorzunehmen;  die  Polizei  sah  durch  die 
Finger,  wenn  die  christlichen  Ladenbesitzer  ihre  Ge- 
schäfte mit  ihnen  machten.  Aber  unermeßlich  war  der  Schaden, 
den  die  beiden  ersten  Paragraphen  der  Maigesetze  verursachten. 
Eine  weitere  Ausdehnung  der  stetig  anwachsenden  jüdischen 
Bevölkerung  der  Städte  im  Rayon  war  damit  unmöglichge- 
macht. Ja,  noch  mehr.  Unter  dem  Schutze  der  von  Alexan- 
der II.  geübten  Duldung  hatten  sich  viele  Tausende  von  jüdischen 
Handwerkern  und  Geschäftsleuten,  oft  nach  ausdrücklicher 
Aufforderung  der  Behörden,  in  den  Dörfern  und  kleinen  Orten 
des  Ansiedlungsgebietes  niedergelassen.  Sie  waren  anscheinend 
von  dem  Maigesetze  nicht  betroffen.  Aber  die  steten  Be- 
mühungen der  Behörden  gingen  darauf  hinaus,  durch  Schikanen 
und  falsche  Gesetzesauslegungen  sie  alle  ihres  ehrlichen  Lebens- 
unterhaltes zu  berauben  und  in  die  ohnehin  mit  Juden  über- 
füllten Städte  des  Rayons  hineinzupferchen,  um  dort  die  Zahl 
der  Hungerleider,  der  ,, Luftmenschen"  zu  vermehren,  in  den 
elenden  und  vollgepfropften  Gassen  die  hygienischen  Be- 
dingungen noch  zu  verschlechtern.  Besonders  da  sich  nun- 
mehr die  Polizeiorgane  und  Lokalbehörden  mit  wahrer  Wollust 
dem  Sporte  ergaben,  kleine  Städte  und  Flecken  zu  hunderten 
als  Dörfer  zu  erklären  und  demgemäß  aus  ihnen  die  Juden 
zu  vertreiben.  Diese  ,, vorläufige"  Einrichtung  ist  aber  be- 
stehen geblieben  bis  auf  den  heutigen  Tag,  also  drei  Dezennien 
hindurch.  Der  Jude  wurde  und  wird  in  Rußland  als  vogelfrei 
betrachtet  und  behandelt,  und  dann  verlangt  man  von  ihm 
Vaterlandsliebe  —  als  ob  er  dort  ein  Vaterland  hätte  —  Er- 
gebenheit  für   den    Staat,   der   ihn   ^vie   einen   räudigen   Hund 


134  Die  ersten  Pogrome. 

mißhandelt,  und  strenge  Ehrlichkeit,  wo  man  ihm  die  Mög- 
lichkeit redlichen  Erwerbes  für  sich  und  die  Ssinen  nimmt, 
und  wo  übrigens  sonst  die  weitesten  Kreise  der  Bevölkerung 
lügen,  stehlen  und  betrügen,  und  die  Beamtenschaft  jeden 
Ranges  dafür  das  Beispiel  gibt.  Der  russische  Kaufmann  war 
im  ganzen  Auslande  wegen  seiner  Unredlichkeit  und  Gewissen- 
losigkeit berüchtigt.    Die  Russen  erkannten  das  selber  an. 

Offizielle  Angaben  erweisen,  daß  infolge  der  ,, Maigesetze" 
des  Jahres  1882  zwei  Drittel  aller  jüdischen  Familien  Rußlands 
in  solche  Not  gerieten,  ,,daß  die  Ernährung  sie  zu  täglicher 
Arbeit  tauglich  zu  machen  nicht  genügt".  Allein  die  unver- 
wüstliche Kraft  des  jüdischen  Stammes  brachte  doch  wieder 
allmähliche  Besserung.  Die  Periode  finanziellen  und  industriellen 
Aufschwungs,  die  besonders  der  Finanzminister  Witte  be- 
gründete und  förderte,  kam  in  erster  Linie  den  Juden  zugute; 
viele  unter  ihnen  erwarben  als  Fabrikherren  und  Finanzmänner 
beträchtlichen  Reichtum;  andere,  die  Kleinhändler,  zogen  aus 
dem  schwunghaften  Verkehr  bei  dem  Bau  von  Eisenbahnen 
und  der  Fabriktätigkeit  bescheideneren  Nutzen;  endlich  viele 
Zehntausende  wurden  industrielle  Arbeiter  in  den  jüdischen 
Fabriken. 

Anderseits  rächte  sich  die  Rechtloserklärung  der  Juden 
durch  die  Regierung  an  dieser  und  dem  Staatswesen  selbst. 
Sie  wurde,  infolge  der  Selbstverteidigung  der  Juden,  die  Quelle 
unerhörter  und  allgemeiner  Bestechung  des  Beamtentums,  da 
nur  dadurch  die  Juden  ihr  Dasein  möglich  machten.  So  hat 
die  Verfolgung  der  Israeliten  auf  das  gesamtrussische  Staats- 
leben korrumpierend  gewirkt. 

Die  Gebildeten  und  Einsichtigen  unter  den  russischen 
Juden,  die  bisher  eifrig  nach  Verschmelzung  mit  dem  russischen 
Volke  gestrebt  hatten,  sahen  sich  durch  die  Pogrome  der  Massen 
und  die  peinigenden,  beschränkenden  und  entehrenden  Ver- 
fügungen der  Regierung  auf  das  bitterste  enttäuscht.  Die  ge- 
samte russische  Judenheit  fühlte  sich  wie  in  Feindesland,  ent- 
waffnet und  wehrlos  tötlichen  Gegnern  ausgeliefert.  Der 
Schreck  war  um  so  plötzlicher,  um  so  tiefer,  als  früher  Hebräer 
und  Rechtgläubige  ganz  friedlich  und  wohlwollend  miteinander 
gelebt  und  verkehrt  hatten.    Die  Altgläubigen  unter  den  Juden 


Die  ersten  Pogrome.  135 

sahen  sich  durch  solche  Vorgänge  nur  noch  mehr  in  ihrer  Ab- 
wendung von  der  christlichen  Welt,  in  ihrem  Mißtrauen  gegen 
alle  Kulturbestrebungen  bestärkt.  Wo,  fragten  sie  nicht  mit 
Unrecht,  ist  derlei  unter  Juden  geschehen  ?  wo  sind  solche 
Greuel  in  dem  vielgeschmähten  Talmud  gestattet  ?  Das  Mittel- 
alter war  für  die  russischen  Juden  zurückgekehrt,  und  zum 
Mittelalter,  zu  Fasten,  Kasteiung  und  Bußgebet  nahmen  sie  in 
ihrer  ungeheuren  Mehrheit  ihre  Zuflucht.  Pogrome  und  Mai- 
gesetze trieben  sie  in  das  Ghetto  zurück.  Daneben  trat  zum 
ersten  Male  die  nationalistische  Richtung  auf.  Als  hervor- 
ragendstes und  würdigstes  Ziel  der  Massenauswanderung  er- 
schien das  heilige  Land,  die  heilige  Stadt.  Den  ,, Amerikanern" 
unter  den  Auswanderern,  die  von  allem  westeuropäischen  Hilfs- 
organisationen gefördert  Avurden,  traten  die  ,, Palästinenser"  ent- 
gegen, unter  denen  sich  die  jugendlichen  Gymnasiasten  und 
Studenten,  die  ,,Bilu",  durch  ihre  idealistische  Schwärmerei  für 
das  Land   ihrer  Vorväter  besonders  hervortaten. 

Am  vollkommsten  war  eben  die  Enttäuschung  bei  der 
jüdischen  Intelligenz,  die  sich,  ebenso  wie  die  meisten  Reichen, 
der  jüdischen  Masse  vollkommen  entfremdet  hatte.  Sie  lebte 
lediglich  ihrem  Ehrgeiz,  ihrem  materiellen  Interesse,  ihrem 
Luxus ;  und  wenn  sie  ein  Ideal  besaß,  so  war  es  das  vollkommener 
Assimilation  mit  der  russischen  Gesellschaft.  Dem  Judentum 
gegenüber  war  man  gleichgültig,  wenn  man  es  nicht  als  ein 
Unglück  betrachtete.  Von  dreihundert  jüdischen  Akademikern 
in  Petersburg  nahmen  höchstens  drei  Dutzend  an  den  jüdischen 
Angelegenheiten  teil.  Aber  die  antisemitische  Bewegung  hat 
hier  —  ganz  -wie  in  Deutschland  —  auch  unter  denjenigen,  die 
das  Judentum  über  Bord  geworfen  hatten,  es  wieder  zur  Herzens- 
sache gebracht.  Mit  Grausen  sahen  gebildete  und  reiche 
Juden  das  von  ihnen  verherrlichte  russische  Volk  aller  Klassen 
und  Richtungen  —  Slawophilen,  Nihilisten,  Bauern  und  Ar- 
beiter —  mit  gleicher  Grausamkeit  gegen  die  Hebräer  wüten: 
das  wirkte  wie  ein  Donnerschlag  und  entzog  ihnen  den  Boden 
unter  den  Füßen.  Es  trennte  sie  von  dem  Russentume  und 
führte  sie  wieder  dem  jüdishen  Wesen  zu.  Auch  der  Wirkliche 
Geheime  Staatsrat  Lazar  von  Poljakow,  der  Bruder  des  be- 
kannten russischen  Eisenbahnkönigs,  der  bisher  drei  Millionen 


136  Die  ersten  Pogrome. 

Rubel  für  allgemeine  Wohlfahrtszwecke,  für  Juden  fast  nichts 
gegeben  hatte,  wandte  jetzt  diesen  seine  wahrhaft  fürstliche 
Wohltätigkeit  zu.  Auf  dem  Hofe  seines  Palastes  in  Moskau 
errichtete  er  1883  eine  Synagoge,  was  die  Moskauer  jüdische 
Gemeinde  trotz  jahrelangen  Petitionierens  für  sich  nicht  hatte 
erreichen  können. 

Auch  die  jüdische  Literatur  in  Rußland  wandte  sich  von 
den  bisher  verfolgten  Idealen  der  Aufklärung  und  westeuro- 
päischen Bildung  grollend  ab  und  widmete  sich  der  ,, palästi- 
nensischen", d.  h.  zionistischen  Richtung.  Smolenski  und 
Lilienblum  wurden  ihre  Bannerträger. 

Die  Folgen  der  Maigesetze  waren  aber  auch  für  die  Christen 
unheilvoll.  Durch  den  Fortfall  der  jüdischen  Konkurrenz  sank 
der  Wert  von  Grund  und  Boden  beträchtlich.  Selbst  der  anti- 
semitische ,,Golos"  erkannte  das  an  und  fügte  hinzu:  ,,Wo 
sollen  nunmehr  die  Grundbesitzer  Vorschüsse  nehmen  ?  Der 
Jude  ist  ein  nachsichtiger  Gläubiger,  der  sich  mit  geringen 
Prozenten  begnügte.  Er  sucht  nicht,  wie  Ignatiew  behauptet 
hat,  selber  Grundbesitzer  zu  werden,  woran  er  nicht  gewöhnt 
ist.  Die  wenigen  jüdischen  Grundbesitzer  aber  sind  tätig  und 
einsichtig."  Der  Verfasser  dieses  Artikels,  der  die  ganze  Ver- 
logenheit der  zur  Rechtfertigung  der  Judenbedrückungen  er- 
hobenen Anklagen  erwieß,  war  ein  hervorragender  adliger 
Grundbesitzer  am  Don,  von  Mussin-Puschkin. 

Die  Besorgnis  vor  der  ungünstigen  Wirkung  der  Juden - 
Unterdrückung  verbreitete  sich  auch  in  den  christlichen  Kreisen. 
Die  christlichen  Bewohner  von  Kiew,  von  wo  schließlich  an 
20  000  Juden  vertrieben  worden  waren,  petitionierten  um  deren 
Wiederzulassung,  da  zahlreiche  Wohnungen  in  der  Stadt  leer 
ständen  und  infolge  dessen  die  Mietpreise  beträchtlich  gesunken 
seien,  wie  auch  die  Pachtungen  der  benachbarten  ländlichen 
Güter.  Ebenso  forderten  im  Mai  1882  zahlreiche  Moskauer 
christliche  Kaufleute  von  dem  Finanzminister  Bunge,  die  Re- 
gierung solle  die  Tore  den  Israeliten  wieder  öffnen,  da  diese 
für  den  dortigen  Handel  sowie  für  die  großen  Messen  in  den 
benachbarten  Provinzen  unentbehrlich  seien;  ähnlich  die  Kauf- 
leute von  Charkow.  In  vielen  anderen  Städten  wurden  schon 
im    Laufe    des    Jahres    1882    ähnUche    Petitionen    vorbereitet. 


Die  ersten  Pogrome.  137 

Sogar  die  meisten  der  von  Ignatiew  zur  Bekämpfung  der  Juden 
eingesetzten  Lokalkommissionen  sprachen  sich  vielmehr  zu 
deren  Gunsten  aus.  Nur  die  von  Wolhynien  äußerten  sich  im 
Sinne  des  Ministers.  Die  Kommissionen  von  Cherson,  Bess- 
arabien,  Wilna,  Jekaterinoslaw,  Poltawa  —  also  von  Provinzen, 
wo  die  Pogrome  hauptsächlich  gewütet  hatten  —  verlangten 
geradezu  die  Aufhebung  des  Rayongesetzes,  volle  Freizügigkeit 
für  die  Juden.  Die  sonst  antisemitische  Nowoje  Wremja  er- 
klärte später  dieses  auffallende  Phänomen:  ,,Die  Bauern  sind 
in  die  Hände  christlicher  Wucherer  gefallen,  die  sie  erdrücken 
und  in  einer  Weise  zugrunde  richten,  wie  es  die  Juden  niemals 
getan  haben.  In  den  —  judenfreien  —  Gouvernements  des 
Zentrums  befinden  sich  die  Bauern  in  der  Gewalt  von  Wucherern, 
die  sie  auf  das  schmachvollste  ausplündern.  Nach  der  lokalen 
Statistik  zahlen  die  Bauern  der  Zentrumsprovinzen  jährlich 
200  Millionen  Rubel  Zinsen  an  die  Wucherer.  Wenn  diese 
hungrigen  Wölfe  sich  jetzt  auch  daran  geben  sollten,  die  Bauern 
des  jüdischen  Territoriums  auszuplündern,  so  Avird  die  Lage 
unerträglich.  Daher  wird  auch  der  Wegzug  der  Juden  von 
unseren  Bauern  lebhaft  bedauert." 

Es  sind  das  die  alten  Klagen  Katharinas  II.  über  den  unter 
den  Russen  herrschenden  Wucher.  Die  Worte  der  gewiß  nicht 
der  Hebräerfreundschaft  verdächtigen  Nowoje  Wremja  be- 
leuchten grell  die  heuchlerische  Besorgnis  für  das  allgemeine 
Wohl,  mit  der  Ignatiew  und  seine  Gesinnungsgenossen  in  Ruß- 
land ihre  Maßregeln  zu  begründen  gesucht  haben. 

Von  einem  höheren  Standpunkte  wandten  erlesene  Geister 
unter  den  Russen  selbst  sich  gegen  die  Judenverfolgungen. 
Der  große  Satiriker  Schtschedrin  litt  geradezu  persönlich  unter 
dem  Leide  der  Juden.  ,,Die  Geschichte,"  schrieb  er  im  Juli 
1892,  ,,hat  niemals  auf  ihren  Blättern  eine  drückendere,  eine 
unmenschlichere,  eine  quälendere  Frage  verzeichnet,  als  die 
Judenfrage.  In  der  Sphäre  des  Martyriums  nimmt  das  Juden- 
geschlecht den  ersten  Platz  ein.  Es  gibt  keine  herzzerreißendere 
Erzählung  als  die  von  der  endlosen  Folterung  des  Menschen 
durch  den  Menschen.  Selbst  die  Geschichte,  die  für  alle  höchst 
rätselhaften  Abweichungen  vom  Licht  zur  Finsternis  im  weiteren 
Gange  der  Ereignisse  eine  entsprechende  Korrektur  vornimmt, 


138  Die  ersten  Pogrome. 

selbst  sie  hält  bei  diesem  schmerzlichen  Berichte  in  Ohnmacht 
und  Unentschlossenheit  inne." 

Einige  Zeit  darauf  unterzeichnete  eine  Anzahl  russischer 
Schriftsteller  und  Publizisten,  unter  denen  an  erster  Stelle  der 
unsterbliche  Name  des  Grafen  Leo  Tolstoi  glänzt,  eine  Er- 
klärung gegen  die  die  Israeliten  beschränkenden  Gesetze.  Sie 
wurde  von  der  Zensur  am  Erscheinen  verhindert,  ist  dann  aber 
in  Deutschland  gedruckt  worden.  Es  hieß  darin:  ,,Die  anti- 
semitische Agitation  bildet  einen  unerhörten  Eingriff  gegen  die 
Grundprinzipien  der  Gerechtigkeit  und  Menschlichkeit.  Wir 
halten  es  für  notwendig,  dem  russischen  Publikum  die  elemen- 
taren Grundsätze  ins  Gedächtnis  zurückzurufen,  deren  An- 
wendung die  einzig  mögliche  Lösung  der  sogenannten  Juden- 
frage ausmacht.  Das  bloße  Dasein  einer  derartigen  Frage  ist 
schon  eine  Folge  des  Vergessens  dieser  Grundsätze.  Es  ist  un- 
gerecht, die  Juden  für  Fehler  verantwortlich  zu  machen,  die 
jahrhundertealten  Verfolgungen  und  den  anormalen  Zuständen 
zu  danken  sind,  in  denen  sie  leben.  Von  semitischer  Rasse  zu 
sein  und  die  Gesetze  Moses'  zu  beobachten,  was  an  sich  nichts 
Ungesetzliches  oder  Tadelnswertes  enthält,  kann  doch  in  keiner 
Weise  die  gegen  die  Juden  ergriffenen  Ausnahmemaßregeln 
rechtfertigen.  Da  die  russischen  Juden  die  öffentlichen  Lasten 
tragen  und  ihre  Pflichten  gegen  den  Staat  in  gleichem  Maße 
erfüllen  wiie  die  anderen  Klassen  des  russischen  Volkes,  müßten 
sie  derselben  Rechte  genießen.  Der  einfache  Begriff  der  persön- 
lichen Erhaltung  verlangt  eine  entschiedene  Verdammung 
dieser  antisemitischen  Agitation,  die  nicht  nur  an  sich  unsitt- 
lich ist,  sondern  auch  überdies  eine  schwere  Gefahr  für  Ruß- 
lands Zukunft  bilden  kann." 

Wirklich  nahmen  sich,  unter  dem  Eindrucke  der  entsetz- 
lichen, gegen  die  Juden  geübten  Ungerechtigkeiten,  ihrer  drei 
wichtige  Organe  der  Presse  an,  die  bisher  meist  ihre  Wider- 
sacher gewesen  waren:  der  ,,Golos",  die  von  der  Mittelklasse 
viel  gelesene  ..Xowosti".  und  die  ..Moskauische  Zeitung"  Kat- 
kows,  eines  der  Führer  der  Panslawisten,  der  sich  überdies  großen 
Ansehens  bei  dem  Zaren  erfreute.  Er  trat  jetzt  sehr  kräftig 
und  furchtlos  für  die  Juden  und  gegen  die  Regierung  auf.  Be- 
sonders als  im  März  1882  auch  die  untadelhaften  14  jüdischen 


Die  ersten  Pogi'onie.  139 

Apotheker  Petersburgs  angewiesen  wurden,  ihre  Läden  zu 
schließen,  und  den  jüdischen  Provisoren  verboten,  Apotheken 
zu  verwalten,  als  endlich  die  Gegenvorstellungen  selbst  der 
christlichen  Apotheker  der  Hauptstadt  fruchtlos  blieben,  erhob 
sich  Katkow  mit  aller  Macht  gegen  diese  Gewalttat  (April 
1882).  Darauf  setzte  der  dirigierende  Senat  —  die  höchste 
Zivilbehörde  des  Reiches  —  die  betreffende  Verordnung  des 
Ministers  des  Innern  außer  Kraft  (Mai),  die  dann  später,  im 
Oktober,   völlig  aufgehoben  wurde. 

So  milderte  sich  in  den  leitenden  Kreisen  Rußlands  einiger- 
maßen die  judenfeindliche  Stimmung.  Das  Entscheidende  war, 
daß  auch  der  Zar  seines  , .genialen"  Ministers  überdrüssig 
Avurde.  Sein  AAÜdes,  rastloses,  altrussisches  und  antisemitisches 
Treiben,  das  von  ganz  Europa  laut  getadelt  wurde,  mißfiel 
endlich  Alexander  III.  Besonders  der  Wiederausbruch  der 
Pogrome  im  Mai  1882,  die  doch  der  Kaiser  schon  deshalb  ver- 
worfen hatte,  weil  sie  ihm  die  Rolle  eines  Beschützers  der  Juden 
aufzwangen ,  erregte  seinen  lebhaften  Zorn.  Hatte  er  doch 
bereits  am  19.  April  1882  die  sofortige  gerichtliche  Untersuchung 
und  Bestrafung  aller  an  Juden  verübten  Mißhandlunegn  be- 
fohlen. Auf  sein  Geheiß  ordnete  der  dirigierende  Senat  die 
Veröffentlichung  und  allgemeine  Verbreitung  eines  Erlasses 
gegen  alle  antisemitischen  Ausschreitungen  an.  Den  Gouverne- 
mentsbehörden wurde  die  Vereitelung  und  Unterdrückung 
antisemitischer  Unruhen  bei  Strafe  unverzüglicher  Dienstent- 
lassung auferlegt.  Wirklich  verhinderte  Fürst  Dolgoruki  solche 
im  Generalgouvernement  Moskau  im  Entstehen,  und  selbst  der 
grimme  Drenteln  in  Kiew  mußte  entsprechende  Drohungen 
ergehen  lassen.  Und  doch  die  Pogrome  in  Balta  und  manchen 
anderen  Orten!  Der  Zar  sah  hier  offenen  Ungehorsam  gegen 
seine  Befehle;  das  Maß  war  voll. 

Im  Juni  1882  wurde  Ignatiew  entlassen.  An  seine  Stelle 
als  Minister  des  Innern  kam,  auf  den  Rat  Katkows,  Graf  Dmitri 
Andrejewitsch  Tolstoi,  allerdings  ein  eifriger  Nationalist,  der 
zuerst  durch  eine  heftige  Streitschrift  gegen  den  römischen 
Katholizismus  hervorgetreten  war,  und  der  in  der  Aufrecht- 
erhaltung der  strengsten  Rechtgläubigkeit  die  notwendige  Vor- 
bedingung für   Rußlands  nationale   Größe  erblickte.     Aber  er 


140  Die  ersten  Pogrome. 

war  ein  ehrenliafter,  allen  Gewaltsamkeiten  abgeneigter  Charak- 
ter. So  be^^^rkte  er  bei  dem  Zaren,  daß  zweiunddreißig  ortho- 
doxen Geistlichen,  die  sich  besonders  den  Judenlietzen  der 
Jahre  1881  und  1882  widersetzt  hatten,  Orden  erteilt  wurden. 
Damit  war  für  Kirche  und  Volk  die  Mißbilligung  der  Pogrome 
durch  den  Zaren  deutlich  erwiesen,  wie  die  Aprilerlasse  sie 
bereits  den  Beamten  dargetan  hatten.  Und  wie  mit  einem 
Zauberschlage  hörten  die  Judenunruhen  auf:  ein  hinreichendes 
Zeugnis,  daß  sie  in  Rußland  nur  mit  Billigung  der  Behörden 
oder  gar  mit  deren,  sei  es  heimlicher,  sei  es  offener,  Unter- 
stützung möglich  sind. 

Seit  dem  Ministerwechsel  zeigten  die  Gerichte  eine  er- 
staunliche Strenge  in  der  Aburteilung  der  Exzedenten,  die 
bisher  sehr  milde  von  ihnen  behandelt  worden  waren.  Jetzt 
kamen  einige  der  Baltaer  Aufrührer  an  den  Galgen,  wurden 
157  zu  Zuchthaus  verurteilt.  Und  ähnlich  an  anderen  Orten, 
Fünf  Dragoner,  die  an  den  Ausschreitungen  teilgenommen 
hatten,  Avurden  zu  je  fünfzehn  Jahren  harter  Bergwerksarbeit 
verdammt.  Eine  so  scharfe  Repression  haben  niemals  mehr, 
weder  früher  noch  später,  die  gegen  die  Juden  verübten  Ver- 
brechen gefunden,  wie  damals,  im  Beginne  von  Tolstois  Ver- 
waltung und  bei  dem  großen  Zorn  des  Zaren. 

Der  neue  Minister  nahm  auch  die  Juden  gegen  ungesetz- 
liche Bedrückungen  in  Schutz,  ohne  sie  freilich  irgendwie 
sonst  zu  begünstigen.  Er  erließ  am  21.  Juni/2.  Juli  1882  ein 
Rundschreiben,  das  verbot,  diejenigen  Juden,  die  außerhalb 
des  Rayons  mit  einem  legalisierten  Niederlassungsschein  wohn- 
ten, zu  beunruhigen;  dagegen  sollten  an  Juden,  die  kein  gesetz- 
liches Recht  dazu  hätten,  ferner  Niederlassungsscheine  nicht 
mehr  gewährt  werden.  Ein  weiteres  Rundschreiben  befahl  den 
Grenzgouverneuren,  sie  hätten  die  Rückkehr  der  wegen  der 
Pogrome  ins  Ausland  geflüchteten  Juden  nach  Möglichkeit  zu 
erleichtern.  Es  war  das  eine  förmliche  Ehrenerklärung  für  die 
Hebräer,  während  Ignatiew  diese  nach  Möglichkeit  aus  dem 
Lande  hatte  getrieben  wissen  wollen.  Andere  Maßregeln  folgten, 
um  den  jüdischen  Geschäftsleuten  den  Aufenthalt  auf  den 
Messen  des  Moskauer  Bezirkes  zu  ermöglichen.  Schon  vorher 
hatte   der   ebenso   aufgeklärte   wie    mutige    Generalgouverneur 


Die  ersten  Pogrome.  141 

von  Moskau,  Fürst  Dolgoruki,  alle  weiteren  Ausweisungen  aus 
seiner  Provinz  untersagt.  Und  diese  angebüch  als  vaterlandslos 
geschilderten  russischen  Juden  kehrten  in  Masse  freiwillig  in 
das  Reich  zurück,  dessen  ungastlichem  Boden  sie  erst  soeben 
den  Rücken   hatten   kehren   müssen. 

Am  schlimmsten  hatte  es  der  Kiewer  Generalgouverneur, 
der  berüchtigte  Drenteln,  getrieben.  Er  hatte  von  den  8000 
jüdischen  Familien,  die  Kiew  bewohnt  hatten,  die  größere 
Hälfte,  4500,  ausgewiesen,  noch  im  Mai  1500  Familien,  die 
größtenteils  nach  Amerika  ausgewandert  waren.  Als  er  aber, 
mit  Überbietung  und  offener  Verletzung  der  ,, temporären"  Vor- 
schriften der  Maigesetze,  alle  nicht  mit  Grundbesitz  ausge- 
statteten Juden  nicht  nur  aus  den  Dörfern,  sondern  auch  aus 
den  Flecken  zu  verjagen  befahl,  hob  auf  Anrufen  der  Bedrohten 
der  dirigierende  Senat  diese  Verfügung  auf. 

Loris-Melikow  hatte  keinen  besonderen  Unterricht  für  die 
Juden  haben,  diese  in  die  allgemeinen  Schulen  senden  wollen. 
Jetzt  erlaubte  man  im  Gegenteil  den  Israeliten  die  Errichtung 
eines  besonderen  Gymnasiums  in  Odessa. 

Man  wollte  die  ,, temporären"  Anordnungen  Ignatiews 
durch  eine  bleibende  Regelung  der  Judenfrage  ersetzen  und 
berief  deshalb  im  Jahre  1883  von  neuem  eine  entsprechende 
Regierungskommission.  Ihr  Vorsitzender  Avnrde  bald  Graf 
Fahlen,  ein  als  unparteiisch  und  aufgeklärt  bekannter  hoher 
Beamter,  und  unter  ihren  Mitgliedern  gab  es,  neben  manchen 
Gesinnungsgenossen  Ignatiews,  doch  auch  liberale  Männer, 
wie  den  Fürsten  Demidow-San  Donato,  der  eine,  auch  in  viele 
fremde  Sprachen  übertragene  Abhandlung  über  ,,Die  jüdische 
Frage  in  Rußland"  veröffentlichte,  in  der  er  mit  vielem  Frei- 
mut die  großen  ökonomischen  Vorzüge  der  Israeliten  sowie 
die  gegen  sie  geübten  Gewalttaten  schilderte  und  ihre  völlige 
Gleichberechtigung  und  Unterstellung  unter  das  gemeine  Recht 
forderte  (1883).  So  hätte  man  hoffen  dürfen,  aus  den  Bera- 
tungen dieser  Kommission  immerhin  die  Beseitigung  der  ,, Mai- 
gesetze" und  einige  Fortschritte  in  der  Lage  der  Juden  hervor- 
gehen zu  sehen.  Aber  gerade  das  wollten  die  Nationalisten  und 
Orthodoxen,  mit  Pobjedonoszew  an  der  Spitze,  verhindern;  und 
sie  trafen  in  solchen  Richtungen  viel  zu  sehr  mit  der  innersten 


142  Die  ersten  Pogrome. 

Gesinnung  Alexanders  III.  überein,  um  nicht  ihres  Erfolges 
sicher  zu  sein.  Die  „Judenkommission"  wurde  einfach  brach 
gelegt,  Sie  begann  ihre  Sitzungen  am  7.  Dezember  1883;  indes 
diese  wurden  bald  unterbrochen,  und  nach  mehr  als  dreijähriger 
erzwungener  Untätigkeit  wurde  sie  im  Mai  1887  ,, vertagt", 
Juni  1888  geschlossen  —  ohne  das  mindeste  Ergebnis.  Nicht 
anders  erging  es  der  besonderen  Judenkommission,  die  in  Polen 
unter  dem  Vorsitze  des  Barons  Mengden  gebildet  worden  war. 
Das  waren  schlimme  Vorzeichen  für  die  Zukunft  der  rus- 
sischen polnischen  Judenheit.  Und  sie  sollten  sich  nur  allzu 
sehr  bewahrheiten. 


Kapitel  Zwei. 

Stete  Bedrängnisse. 


J_Jie  nichtrussischen  Nationalitäten  nnd  Bekenntnisse  konn- 
ten unter  der  Regierung  des  von  Pobjedonoszew  und  Katkow 
geleiteten  Alexander  III.  nur  Benachteiligung  und  Unterdrückung 
erwarten.  So  die  katholischen  Polen,  die  sich  immer  mehr  aus 
allen  Beamtenstellungen,  von  den  höchsten  bis  zu  den  aller- 
bescheidensten  und  einflußlosesten,  verdrängt  und  ihre  Sprache 
im  eigenen  Lande  geächtet  sahen.  So  die  Deutschen,  deren 
Nationalität,  Besitz  und  Religion  den  Gegnern  als  Beute  über- 
wiesen wurden;  ihr  alter  Widersacher  Manassein  wurde  1885 
Justizminister  und  begann  damit,  alle  deutschen  Beamten 
seines  Ressorts  zu  entlassen.  So  die  Armenier.  Zitieren  wir, 
zur  Parallele  mit  dem,  was  die  Juden  unter  Alexander  III.  und 
Nikolaus  II.  erlebt  haben,  die  Worte  eines  genauen  Kenners 
der   Geschichte  und  Verhältrüsse  Armeniens: 

,, Rußland,  das  die  verbrieften  Rechte  weder  der  Balten 
noch  der  Finnen  zu  schonen  vermocht  hat,  brachte  auch  den 
Armeniern  gegenüber  ein  System  allmählicher  erzwungener 
Russifizierung  zur  Anwendung,  von  dem  besonders  die  arme- 
nischen Schulen,  denen  man  mögHchst  \nele  SchA\ierigkeiten 
in  den  Weg  legte,  betroffen  wurden.  Daher  war  der  Wahlspruch 
nicht  nur  einzelner  Hochgesinnter,  sondern  eines  großen  Teils 
der  Armenier:  , Lieber  den  leiblichen  Tod  in  der  Türkei  als 
den  geistigen  in  Rußland'.  Ein  armenischer  Handwerker  in 
Tiflis  sagte :  ,In  Rußland  ist's  noch  schlimmer  als  in  der  Türkei. 
Unsere  Schulen  haben  sie  geschlossen.  Früher  gab  es  eine 
armenische  Geschichte,  eine  armenische  Geographie  —  die  soll 
es  nun  nicht  mehr  geben.  Unsere  Kinder  sollen  aufwachsen, 
ohne  von  ihrem  Vaterlande  etwas  zu  wissen'.    Daß  es  wenige 


144:  Stete  Bedrängnisse. 

Jahre  später  durch  künstUches  Schüren  des  Rassenhasses  und 
des  religiösen  Fanatismus  von  oben  her  zu  Massakres  (zwischen 
Armeniern  und  Tataren)  kommen  würde,  ahnte  man  noch  nicht. 
Die  christlichen  Armenier  und  die  mohammedanischen  Tataren 
lebten  und  arbeiteten  damals  noch  friedlich  neben-  und  mit- 
einander." 

Ganz  wie  Juden  und  Russen  bis  zu  dem  Augenblick,  wo 
,, künstliches  Schüren  des  Rassenhasses  und  des  religiösen 
Fanatismus  von  oben  her"  Blut  und  Brand  zmschen  diese 
beiden  Elemente  setzte.  In  Rußland  gab  es  seit  Alexander  III. 
eine  ,, Revolution  von  oben"  —  aber  nicht,  wie  dessen  hoch- 
herziger Vater  es  gewollt  hatte,  im  Sinne  der  Freiheit,  sondern 
im  Sinne  von  grausamer  Ausschließung  und  Unterdrückung. 
Ihr  Programm  war  das  Manifest,  das  der  Zar  bei  seiner  Krönung 
am  27.  Mai  1883  erließ,  und  das  betonte,  daß  nur  die  absolute 
Herrschergewalt  des  Kaisers,  im  Bunde  mit  der  orthodoxen 
Kirche  und  gestützt  auf  die  altrussischen  Institutionen,  das 
Reich  erhalten  könne.  Lutheraner,  Katholiken,  Armenier, 
Juden,  Deutsche,  Polen  Miißten  nun,  daß  sie  zu  den  Reichs- 
feinden gezählt  wurden.  Das  Eindringen  der  westlichen  Kultur 
hat  alles  Unlieil  über  das  Reich  gebracht !  Die  Ausdehnung 
der  Orthodoxie  -wurde  mit  List  und  Gewalt  betrieben.  Die 
Universitäten  wurden  strenger  Überwachung  unterworfen,  die 
Zahl  der  Studenten  neuerdings  beschränkt. 

Wenn  schon  den  nichtorthodoxen  Christen  übel  mitgespielt 
wurde,  so  noch  viel  mehr  —  begreiflicherweise  —  den  Juden. 
Es  ergoß  sich  über  sie  eine  Ära  der  kränkendsten  Zurück- 
drängung und  Benachteiligung,  immer  innerhalb  der  bis  ins 
unendliche  deutbaren,  einander  widersprechenden  Hebräer- 
gesetze. 

Derselbe  Justizminister  Manassein,  der  die  Deutschen  aus 
seinem  Ressort  verbannt  hatte,  befahl  sämtliche  jüdische 
Subalternbeamte  desselben,  sogar  die  bei  den  Notaren  ange- 
stellten, zu  entlassen,  und  zwar  obwohl  kein  einziger  Klagefall 
gegen  sie  vorgekommen  war.  Diese  grausame  Maßregel  betraf 
allein  im  Odessaer  Gerichtsbezirk  600  jüdische  Bureaubeamte, 
Alle  Vorstellungen  dagegen  seitens  der  christlichen  Notare 
blieben  fruchtlos.    Ebenso  A^Tirden  sämtliche  jüdische  Polizisten 


Stete  Bedrängnisse.  145 

im  Gouvernement  Kaiisch  entlassen,  17  an  der  Zahl,  eine  Ver- 
fügung, die  dann  in  ganz  Polen  durchgeführt  wurde.  Nach  den 
Subalternen  die  oberen  Beamten.  Jüdische  Rechtsanwälte 
wurden  einstweilen  nicht  mehr  zugelassen,  und  ebenso  wenig 
jüdische  Richter  ernannt.  Im  Jahre  1870  hatte  es  18  jüdische 
Richter  gegeben,  1881  waren  ihrer  noch  drei,  1895  noch  einer, 
der  dann  1896  auch  seine  Entlassung  nahm.  Und  dieselbe 
rücksichtslose  Vernichtung  persönlicher  Rechte  in  anderen 
Ressorts:  seit  1883  durften  Juden  in  der  Eisenbahnverwaltung 
nicht  mehr  angestellt  werden. 

Das  Aushungerungssystem  nahm  seinen  Fortgang.  1887 
wurde  verfügt,  daß  die  Juden  ,,nach  Möglichkeit"  von  den 
Armeelieferungen  auszuschließen  seien.  Auch  die  Verlockung 
zur  Taufe  lebte,  wie  einst  unter  Nikolaus  I.,  ^^^eder  auf:  immer 
wies  man  die  Juden  darauf  hin,  daß  die  Annahme  des  ortho- 
doxen Glaubens  jeden  von  ihnen  sofort  von  allen  Beschrän- 
kungen befreie.  Es  bedurfte  also  nur  einer  nichtswürdigen 
Lüge,  um  aller  Segnungen  dieses  orthodoxen  Staates  Avürdig 
zu  werden. 

Der  Antisemitismus  wütete  weiter  durch  ganz  Rußland.  Die 
Hetz-  und  Brandschriften  der  deutschen  AntisemitenhäuptUnge 
^A^rden  eifrig  übersetzt  und  veröffentlicht.  Die  Mehrzahl  der 
Zeitungen  war  von  diesem  Geiste  erfüllt,  und  man  sah  mit 
Staunen,  daß  die  amtliche  Zensur  die  schlimmsten  Angriffe  auf 
die  Juden  durchgehen  ließ,  ja  daß  die  Regierung  die  antisemi- 
tischen Blätter  mit  Geldzuwendungen  unterstützte.  Dagegen 
wurde  die  Zeitung  ,,Sarja"  in  Kiew,  die  sich  der  Israeliten 
mutig  angenommen  hatte,  durch  Senatsbeschluß  unterdrückt. 
Die  Beamtenschaft  konnte  also  über  die  Richtung  der  leitenden 
Kreise  nicht  im  Zweifel  sein.  Keine  blutigen,  aber  dauernde 
unblutige  Pogrome;  Aushungerung,  Demütigung,  Verdrängung 
der  Juden. 

Und  doch  war  es  noch  nicht  gelungen,  die  öffentliche 
Meinung,  wenigstens  in  den  besitzenden  und  gebildeten  Kreisen, 
gänzlich  den  Juden  zu  entfremden.  In  Odessa  brachten  die 
Stadtratswahlen  1885  die  höchste  zulässige  Zahl  von  Juden 
—  24  —  in  diese  Körperschaft.  Es  war  die  Zeit,  wo  der  große 
israelitische   Bildhauer  Antokolsky  seine   berühmte   Mephisto- 

Philippson.   Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  •'" 


146  Stete  Bedrängnisse. 

büste  für  den  kaiserlichen  Palast  in  Petersburg  schuf  und  von 
dem  Zaren  selbst  empfangen  wurde. 

Aber  die  Auszeichnung  von  Rußlands  damals  hervor- 
ragendstem Künstler  behinderte  sonst  die  Betätigung  des  Anti- 
semitismus seitens  der  Regierenden  nicht.  Die  Zahl  der  Juden 
in  den  Stadträten  wurde  selbst  in  denjenigen  Orten,  wo  sie  die 
Mehrheit  der  Bevölkerung  bildeten,  avif  die  Höchstzahl  von 
einem  Drittel  der  Mitglieder  beschränkt.  Im  Gouvernement 
Tschernigow  wurde,  bei  hoher  Geldstrafe,  den  Juden  im  Dezember 
1883  die  sofortige  Entlassung  ihrer  christlichen  Dienstboten 
befohlen.  Die  Haltung  von  Schenken  in  den  Dörfern  wurde 
1884 den  Juden  in  ganz  Rußland  und  Polen  verboten;  diejenigen, 
die  in  Sibirien  Branntweinbrennereien  betrieben,  mußten  solche 
liquidieren.  Also  überall  die  rücksichtslose  Vernichtung  jüdischen 
Vermögens  und  Erwerbes. 

Früher  hatte  man  die  Entwicklung  des  Handwerkes  unter 
den  Juden  von  oben  her  eifrig  befördert.  Jetzt  trat  das  Gegen- 
teil ein,  man  fand,  nach  dem  Ausdrucke  eines  Ministerial- 
beschlusses  vom  28.  Januar  1884,  daß  ,,in  den  Städten  und 
Flecken  des  Rayons  die  Juden  die  Mehrheit  der  Handwerker 
stellten  und  damit  die  Entwicklung  des  Handwerkes  unter  der 
,  Grundbevölkerung'  hemmten,  die  ,  Grundbevölkerung'  aus- 
beuteten". Es  erfolgte  also  die  Aufhebung  der  jüdischen  Hand- 
werksschule in  Schitomir.  Das  Vorrecht  der  jüdischen  Hand- 
werker, außerhalb  des  Rayons  sich  rüederzulassen,  wurde  den 
Erdarbeitern,  Pflasterern,  Maurern,  Steinhauern,  Zimmer- 
leuten, Stukkateuren,  Fuhrleuten,  Gärtnern  und  allen  unge- 
lernten Arbeitern  entzogen.  Das  nannte  man  Aufmunterung 
der  Handarbeit  unter  den  Juden ! 

Vor  allem  aber  ging  man  mit  stets  sich  verstärkendem 
Eifer  gegen  die  Bildung  unter  den  Israeliten  los.  Am  27.  Juli 
1883  befahl  der  Minister  der  ,, Volksauf klärung",  daß  jüdische 
Zöglinge  in  Lehranstalten  außerhalb  des  Rayons  nur  mit  Ge- 
nehmigung der  lokalen  Polizeibehörden  aufgenommen  werden 
dürften,  während  bisher  das  Gesetz  eine  solche  Notwendigkeit 
nicht  gekannt  hatte.  Schlimmer  war  es,  daß  an  den  Universi- 
täten Kiew  und  Charkow  die  Zahl  der  jüdischen  Studierenden 
auf  zehn  Prozent  beschränkt  wurde,  ebenso,  und  zwar  auf  aus- 


Stete  Bedrängnisse.  147 

drücklichen  Befehl  des  Kaisers,  an  dem  Charkower  Techno- 
logischen Institut  (1885)  —  das  war  der  Vorläufer  späterer 
allgemeiner  und  noch  schärferer  Beschränkungen  der  jüdischen 
Studierenden.  In  demselben  Jahre  erfolgte  die  Verordnung, 
daß  die  jüdischen  Studenten  keinerlei  Staatsstipendien  mehr 
erhalten  sollten.  Wie  wenig  sie  diese  Benachteiligung  verdienten, 
wird  durch  den  Umstand  erwiesen,  daß  mehrere  Universitäten, 
obwohl  vergeblich,  sich  zugunsten  ihrer  armen  jüdischen  Zög- 
linge verwendeten.  Der  Moskauer  Stadtrat,  ganz  nationalistisch 
und  orthodox  gesinnt,  wie  es  sich  für  die  Hauptstadt  des  ,, alten" 
Rußland  ziemte,  beschloß  gar,  die  städtischen  Stipendien  auf 
Universität  und  Musikkonservatorium  nur  orthodoxen  Studenten 
zuteil  werden  zu  lassen.  Anderseits  ergriffen  die  jüdischen  Ge- 
meinden in  Kiew  und  Odessa,  so  schwer  sie  auch  durch  Un- 
ruhen und  Ausweisungen  geprüft  waren,  die  rühmliche  Maß- 
regel, aus  eigener  Kasse  den  jüdischen  Studenten  Stipendien  zu 
gewähren.  Gab  es  doch  z.B.  in  Odessa  unter  470  Studenten  176 
israelitische,  also  über  37  Prozent,  unter  denen  viele  Mittellose. 

Bildungsbegierige  junge  Mädchen  mußten  zu  den  ver- 
zweifeltsten Mitteln  greifen,  um  sich  weiter  fortzuhelfen.  Zu 
denjenigen  ,, Privilegierten",  die  in  ganz  Rußland  wohnen  dürfen, 
gehören  auch  die  Prostituierten,  die  sich  durch  die  von  der 
Polizei  solchen  ausgefertigten  gelbe  Karten  ausweisen  können. 
Ehrenhafte  jüdische  Mädchen  ließen  sich  solche  Karten  geben, 
um  in  den  größeren  Städten  außerhalb  des  Rayons  lernen  zu 
können.  Freilich  kam  es  vor,  daß  die  Polizei  sie  dann  wieder 
vertrieb,  weil  sie  sich  überzeugt  hatte,  daß  diese  Mädchen 
jenes  schmähliche   Gewerbe  nicht  ausgeübt  hatten ! 

Mit  Recht  sagte  schon  1883  der  Fürst  Demidow-San  Donato 
in  seiner  Schrift  über  die  Judenfrage  in  Rußland:  ,,Als  den 
Juden  erlaubt  ward,  ihre  Kinder  in  den  öffentlichen  Lehran- 
stalten unterrichten  zu  lassen  und  sie  anfangs  nur  zögernd 
von  diesem  Rechte  Gebrauch  machten,  wurden  ihnen  ver- 
rotteter Fanatismus  und  Absonderungssucht  vorgeworfen.  Dann 
begannen  sie  ihre  Kinder  mit  Vorliebe  in  die  Gymnasien  und 
Hochschulen  zu  schicken  —  und  nun  gab's  Befürchtungen  und 
Klagen,  daß  die  Unterrichtsanstalten  von  Juden  überfüllt 
würden.    Und  so  geht's  in  allem." 

10* 


148  Stete  Bedrängnisse. 

Immer  rechtloser  wurde  die  jüdische  InteUigenz  gemacht. 
Im  Heere  sowie  bei  den  städtischen  Instituten  wurde  unnach- 
sichtlich  die  Zahl  der  jüdischen  Ärzte  auf  das  Maximum  von 
fünf  Prozent  gesetzt.  Die  Russifizierung  ging  konsequent 
voran.  Jeder  Rabbiner,  auch  in  Polen,  mußte  seit  1885,  ebenso 
wie  jeder  katholische  Geistliche,  eine  Prüfung  in  der  Kenntnis 
der  russischen  Sprache  bestehen.  Der  Polizeipräsident  von 
Warschau  verordnete,  daß  in  allen  Schulen  der  Unterricht, 
mit  Ausnahme  des  Religionsunterrichtes,  in  russischer  Sprache 
zu  erteilen  sei,  und  daß  der  Inhaber  jeder  Schule  an  der 
Straße  ein  Schild  mit  dem  Namen  des  Inhabers  in  russischer 
Sprache  und  Schrift  aushängen  müsse.  Übrigens  wurden  von 
den  in  Polen  befindlichen  etwa  tausend  Chedarim  960,  an- 
geblich  wegen    hygienischer  Bedenken,   geschlossen. 

Die  über  den  Wohnsitz  der  Juden  bestehenden  Gesetze 
wurden  nicht  allein  mit  voller  Strenge  ausgeführt,  sondern  auch 
von  den  lokalen  Polizeiorganen  mit  der  größten  Willkür  aus- 
gelegt. Alle  nicht  in  regelmäßiger  Weise  in  Petersburg  domizi- 
lierten Israeliten  wurden  1883  vertrieben.  Hunderte  von  jü- 
dischen Familien,  deren  Ernährer  als  ,,Kommis"  dort  wohnungs- 
berechtigter jüdischer  Kaufleute  in  Petersburg  lebten,  mußten 
die  Stadt  verlassen.  Am  10./22.  März  erging  ein  Rundschreiben 
des  Ministers  des  Innern,  daß  diejenigen  jüdischen  Handwerker 
außerhalb  des  Rayons,  die  ihr  Gewerbe  nicht  wirklich  aus- 
übten, nach  dem  Rayon  abzuschieben  seien.  Graf  Tolstoi,  der 
Minister  des  Innern,  verfügte  ferner,  daß  sämtliche  österreichisch- 
ungarische Juden,  die  keine  bestimmte  Beschäftigung  dartun 
könnten,  binnen  drei  Monaten  aus  Rußland  auszuweisen  seien; 
und  keine  Bemühungen  der  österreichischen  Diplomatie  konnten 
hier  eine  Milderung  herbeiführen. 

Trotz  der  entgegengesetzten  Entscheidungen  des  Senats 
ging  die  Ausweisung  von  Juden  aus  den  Dörfern  in  ganz  Ruß- 
land in  immer  wachsendem  Maße  vor  sich ;  selbst  Familien,  die 
seit  hundert  Jahren  und  mehr  dort  angesessen  waren,  fielen 
dieser  ganz  ungesetzlichen  Maßregel  judenfeindlicher  Gouver- 
neure, unter  denen  sich  wieder  Drentelen  in  Kiew  auszeichnete, 
zum  Opfer.  Dieser  Wüterich  stellte  wahre  Razzias  an,  wobei 
er  selbst   der  Kranken,   die  in  Kiew  ärztliche  Hilfe  suchten, 


Stete  Bedrängnisse.  149 

nicht  schonte.  Die  ehemaligen  Soldaten  jüdischen  Glaubens 
wurden  aus  Petersburg  vertrieben,  aus  Charkow  1885  gar 
sämtliche  dort  wohnenden  Juden.  Die  Auswanderung  woirde 
meder  sehr  groß,   teils  nach  Westeuropa  und  Amerika,   teils 

—  über  Odessa  —  nach  Palästina.  Die  Kiewer  Polizei  schloß 
unter  nichtigen  Vorwänden  vier  jüdische  Bethäuser.  Alle  In- 
schriften an  Geschäftslokalen  in  Polen,  die  in  hebräischen  Lettern 

—  den  einzigen,  die  neun  Zehntel  der  dortigen  Juden  zu  lesen 
vermochten  —  abgefaßt  waren,  mußten  entfernt  werden. 

Kurz,  Feindschaft,  Mißgunst,  Bedrängung  wurde  allerorten 
gegen  die  Juden  geübt,  in  noch  stärkerem  Maße  als  gegen  Polen, 
Deutsche,  Finnen,  Armenier.  Kann  es  da  wundernehmen, 
wenn  auch,  trotz  aller  offiziellen  Gegenwirkungen,  die  Juden- 
hetzen wieder  an  vielen  Orten  ausbrachen  ? 

Den  Anfang  machte  das  stets  unruhige  Gouvernement 
Jekaterinoslaw.  In  dessen  Hauptstadt  fanden  am  1.  und 
2.  August  1883  große  Exzesse  gegen  die  Juden  statt:  200  jüdische 
Läden  und  Wohnungen  wurden  geplündert  und  zerstört;  der 
materielle  Verlust  betrug  an  800  000  Rubel.  Alle  Geschäfts- 
tätigkeit lag  darnieder.  Endlich  griff  das  Militär  gegen  die 
Aufrührer,  meist  fremde  Eisenbahnarbeiter,  ein:  vierzehn  von 
ihnen  wurden  durch  die  feuernden  Soldaten  getötet,  73  ver- 
wundet, viele  verhaftet.  Wie  wenig  diese  Greuel  der  Stimmung 
der  ansässigen  Bevölkerung  entsprachen,  beweist  die  Tatsache, 
daß  der  Stadtrat  für  die  geplünderten  Juden  eine  Beihilfe  von 
5000  Rubeln  votierte.  Trotzdem  griff  das  Feuer  in  benachbarte 
Orte  über,  wo  aber  die  Schuldigen  auch  fremde  Eisenbahn- 
arbeiter und  betrunkene  Bauern  waren:  so  in  Nomanoskow 
und  Kriwoi,  wo  übrigens  Häuser  nicht  ortsangehöriger  Christen 
gleichfalls  geplündert  und  zerstört  wurden.  Die  Zentralregierung 
schritt  kräftig  ein  und  entsetzte  den  lässigen  Gouverneur  von 
Jekaterinoslaw  seines  Amtes,  indem  sie  ihm  den  duldsamen 
und  aufgeklärten  Fürsten  Dolgoruki  zum  Nachfolger  gab. 
Aber  auch  in  Podolien  wurden  30  Judenhäuser  angezündet, 
und  zumal  in  Jokljewo  Poltawaschen  Gouvernements  zerstörten 
tausend  Tumultuanten  Wohnungen  und  Läden  der  Juden. 

Furchtbarer  war  noch  die  Tragödie,  die  Ostern  1884  sich 
in  Kunawino,  einer  Vorstadt  von  Nishny-Nowgorod,  abspielte. 


1  50  Stete  Bedrängnisse. 

Hier  wohnten  etwa  80  Juden,  alles  arme  friedfertige  Hand- 
werker, keine  „Wucherer  und  Blutsauger".  Der  Angriff  auf  sie 
fand  infolge  des  scheußlichen  Blutaberglaubens  statt.  Ein 
ganzes  Stadtviertel  ward  zerstört,  alle  Juden,  die  sich  nicht 
rechtzeitig  geflüchtet  hatten,  wurden  getötet  —  neun  —  oder, 
40  an  der  Zahl,  verwundet,  darunter  zwölf  lebensgefährlich. 
Der  Belagerungszustand  ward  über  Stadt  und  Kreis  Nishny- 
NoAvgorod  verhängt.  Von  den  wütenden  Aufrührern  nahm 
man  112  gefangen  und  stellte  72  vor  Gericht.  Davon  wurden 
elf  zu  zwölf  bis  zwanzig  Jahren  Zwangsarbeit  verurteilt,  27  zu 
einem  bis  37  Jahren  Zuchthaus,  einer  zur  Deportation  nach 
Sibirien,  16  zu  zweiwöchigem  bis  dreijährigem  Gefängnis,  6  zu 
Arrest,  elf  freigesprochen.  Die  Unglücklichen  zeigten  sich  über 
die  gegen  sie  geübte  Strenge  sehr  verwundert:  wie  könne 
man  Rechtgläubige  wegen  einiger  elender  Juden  bestrafen ! 
Das  Volk  habe  sich  nur  belustigen  wollen.  Das  war  die  Folge 
der  panslawisti sehen  und  konfessionellen  Lehren  und  der  von 
der  Presse  gegen  die  Juden  betätigten  Angriffe,  die  die  Re- 
gierung überall  verbreitete,  der  grausamen  Zurücksetzung  der 
Juden,  die  sie  selber  als  minderwertig  bezeichnete  und  be- 
handelte. 

Das  Verfahren  der  Regierung  wurde  auch  an  anderen  Orten 
von  dem  ,, rechtgläubigen"  Volke  in  seiner  Art  aufgefaßt  und 
betätigt.  Auswärtige  Agitatoren  stifteten  Judenlietzen  in 
Charkow  an;  in  Segorow,  Kalischer  Gouvernements,  plünderten 
Bauern  die  Buden  der  zum  Jahrmarkt  anwesenden  Juden. 
Ebenso  fielen  in  Südrußland  verschiedene  Krawalle  vor.  Die 
Meinung,  man  könne  ungestraft  die  Hebräer  mißhandeln  und 
berauben,  war  allgemein  verbreitet.  In  Dombrowiza,  inWolhy- 
nien,  plünderten  trunkene  Eisenbahnarbeiter  die  Judenhäuser, 
töteten  eine  Jüdin  und  verwundeten  mehrere  Personen.  Auch 
in  dem  sonst  duldsameren  Polen  forderte  die  Blutbeschuldigung 
Aaele  Opfer.  Freilich,  die  Regierung  verfuhr  überall  mit  Strenge 
gegen  die  Unruhestifter  —  aber  die  Juden  fühlten  sich  immer 
unsicherer,  immer  mehr  dem  Hasse  der  Bevölkerung  ausgeliefert 
und  verarmten  in  stets  furchtbarerer  Weise. 

Allmählich  flaute  die  Bewegung  ab.  Nur  Ostern  1885  kam 
es  zu  neuen,  teilweise  blutigen  Krawallen  in  Südrußland  und 


Stete  Bedrängnisse.  151 

dem  Gouvernement  Kiew.  Aber  sie  wurden  schnell  unterdrückt, 
zum  Teil  durch  den  entschlossenen  Widerstand  der  Geistlich- 
keit, den  Erzbischof  von  Cherson  und  andere  Bischöfe  an  der 
Spitze,  die  offen  und  nachdrücklich  den  Antisemitismus  in  ober- 
hirtlichen  Kundgebungen  bekämpften. 

Aber  wenn  man  auch  die  blutigen  Pogrome  beseitigte,  so 
arbeitete  doch  die  Regierung  beharrlich  und  systematisch  an 
der  Aushungerung  und  Vertreibung  der  Juden  im  Zarenreiche, 
und  zwar  in  doppelter  Weise:  einmal  durch  Begrenzung  ihrer 
gewerblichen  und  geistigen  Tätigkeit  und  dann  durch  örtliche 
Beschränkung,  durch  Ausweisungen  und  Einpferchungen  in 
einen  immer  engeren  Ansiedlungskreis.  Seit  dem  Jahre  1886 
ist  in  beiden  Beziehungen  eine  schärfere  Tonart  zu  bemerken. 

Zuerst  wurden  die,  wie  es  schien,  endgültig  beseitigten 
Ausnahmegesetze  gegen  die  Juden  in  militärischen  Angelegen- 
heiten wieder  hervorgesucht.  Den  jüdischen  Reservisten  ward 
am  15.  Oktober  1892  das  Wohnrecht  in  Stadt  und  Gouverne- 
ment Moskau  entzogen.  Man  erneuerte,  trotz  der  Einführung 
der  allgemeinen  Wehrpflicht,  den  Unterschied  der  Juden  von 
den  Nicht] uden  bei  der  Rekrutierung,  indem  man  von  den 
ersteren  um  25  Prozent  mehr  aushob,  als  es  dem  Verhältnis 
der  Bevölkerung  entsprach;  z.  B.  im  Jahre  1893  unter  257  674 
Rekruten  16  233  Juden.  Die  Familie  eines  Juden,  der  sich  der 
Aushebung  entzogen  hatte,  mußte  laut  Verordnung  vom 
12.  April  1886  eine  Strafe  von  300  Rubeln  zahlen  —  christ- 
lichen Familien  ward  eine  solche  Buße  nicht  auferlegt.  Und 
dabei  wurde  den  Juden  der  leichtere  Dienst  als  Kompagnie- 
oder Bataillonsschreiber  und  bei  der  Intendantur  verschlossen, 
ebenso  wie  in  der  Quarantäne-  und  Grenzwache.  Ein  Jahr 
später  wurde  den  jüdischen  Einjährig-Freiwilligen  die  Teil- 
nahme am  Offiziersexamen  versagt  —  es  gab  fürder  keine  rus- 
sischen Offiziere  jüdischen  Glaubens  mehr. 

Auch  im  Advokatenstande  wurden  die  Israeliten  auf  den 
Aussterbeetat  gesetzt.  Ein  Gesetz  vom  8.  November  1889 
knüpfte  die  Zulassung  eines  Juden  zur  Advokatur  an  eine 
spezielle  Erlaubnis  des  Justizministers:  das  war  aber  nur  ein 
beschönigender  Deckmantel  für  die  vollkommene  Ausschließung, 
denn  anderthalb  Dezennien  lang  ist  die  Erlaubnis  niemals  ge- 


152  Stete  Bedrängnisse. 

währt  worden  —  erst  seitdem  in  einzelnen  Fällen.  Und  doch 
hatten  die  jüdischen  Anwälte  in  keiner  Weise  einen  Anlaß  zu 
solcher  Beschränkung  gegeben. 

Entgegen  dem  Gesetze  entzog  1890  der  Senat  durch  „Er- 
läuterung" den  jüdischen  Handwerkern  das  Recht,  sich  in 
Sibirien  niederzulassen  —  eine  Rechtswidrigkeit,  die  man  dann, 
26.  Juni  1891,  durch  ein  besonderes  Gesetz  legalisierte.  Solche 
Behinderung  der  Juden  in  Sibirien  wurde  ergänzt  durch  eine 
Verordnung  des  Generalgouverneurs  von  Irkutsk  vom  Jahre 
1894,  nach  der  diejenigen  jüdischen  Familien,  die  freiwillig 
ihr  deportiertes  Familienliaupt  dorthin  begleiteten,  sich  nicht, 
wie  Andersgläubige,  ihren  Wohnsitz  selber  wählen,  sondern 
sich  an  dem  des  Deportierten  niederlassen  müssen.  Die  Ver- 
bannungsstätten aber  waren  zum  großen  Teil  ganz  wüst,  nur 
von  Sträflingen,  Aufsehern  und  Soldaten  bevölkert,  und  so 
wurden  abermals  zahlreiche  jüdische  Familien  in  Elend  und 
Not  gestürzt. 

Vor  allem  sollten  die  Israeliten  nicht  zu  Reichtum,  An- 
sehen und  Einfluß  gelangen.  So  verbot  man  1890,  daß  in 
solchen  Aktiengesellschaften,  die  auf  dem  flachen  Lande  Grund- 
besitz erwerben  oder  erworben  haben,  Juden  Verwaltungs- 
direktoren seien  oder  die  Mehrheit  der  Aktien  in  Händen  hätten. 
Im  Jahre  1902  gab  es  demgemäß  324  Aktiengesellschaften,  die 
Juden  entweder  ganz  ausschlössen  oder  doch  in  minimalem 
Verhältnis  zuließen,  und  auch  dies  nur  unter  der  Bedingung, 
daß  sie  keine  maßgebenden  Ämter  bei  ihnen  einnähmen.  1189 
Gesellschaften  aber  schlössen  wiederum  jeden  ländlichen  Besitz 
von  dem  Kreise  ihrer   Operationen  satzungsgemäß  aus. 

Im  besonderen  wurden  die  Juden  am  3.  Juli  1892  von  der 
Teilnahme  an  der  Ausbeutung  der  reichen  Naphthaindustrie 
verhindert;  denn  die  angebliche  Möglichkeit  der  Erlaubnis 
seitens  des  Ministers  war  lediglich  ein  trügerischer   Schein. 

Ein  schwerer  Schlag  war  endlich  die  neue  Städteordnung 
vom  11.  Juni  1892.  Sie  beraubte  die  Juden,  und  nur  die  Juden, 
des  aktiven  Wahlrechts  zu  den  städtischen  Dumas,  zu  den 
Stadträten.  Die  Regierung  ernannte  vielmehr  zu  deren  Mit- 
gliedern eine  beliebige  Anzahl  von  Juden,  die  jedoch  zehn 
Prozent  der  gesamten  Körperschaft  nicht  übersteigen  durften. 


Stete  Bedrängnisse.  153 

selbst  in  Orten,  wo  die  Israeliten  fast  die  ganze  städtische  Be- 
völkerung bildeten.  So  wurde  ihnen  ein  Recht  nach  dem 
anderen  genommen,  wurden  sie  immer  mehr  auf  den  traurigen 
und  entwürdigenden  Standpunkt  der  Zeiten  Nikolaus' I.  zurück- 
gedrängt. 

Die  Verfolgungssucht  der  Regierung  wagte  sich  endlich 
auch  über  die  Grenzen  des  eigentlichen  Rußlands  hinaus. 
Verhängnisvoll  ward  hier  im  Jahre  1891  der  erste  Eingriff  in 
die  den  Juden  Polens  durch  das  Gesetz  von  1862  gewährte 
vollkommene  Gleichberechtigung.  Am  11.  Juni  entzog  ein 
kaiserlicher  Ukas  den  Israeliten  der  zehn  Weichselgouverne- 
ments —  so  heißt  ja  seit  1864  Polen  in  der  offiziellen  Sprache  — 
das  Recht,  bäuerlichen  Boden  zu  kaufen,  zu  pachten  oder  in 
Verwaltung  zu  nehmen.  So  übertrug  man  mit  ungeheuerlicher 
Willkür  den  wichtigsten  Punkt  der  Ignatiewschen  ,, Maigesetze" 
auch  auf  Polen. 

Was  wollte  es  gegen  alle  diese  schwerwiegenden  Benach- 
teiligungen heißen,  daß  1887  den  russischen  Juden  wieder  das 
Halten  christlicher  Dienstboten  gestattet,  daß  ihnen  1889  das 
Recht  bestätigt  wurde,  städtische  Verwaltungsämter  zu  über- 
nehmen, mit  Ausnahme  der  Obmänner  der  Waisenämter  — 
damit  nicht  christliche  Waisen  von  Juden  erzogen  würden. 
Das  erschien  als  eine  Launenhaftigkeit,  und  wer  konnte  wissen, 
Avie  lange  den  Juden  diese  ,, Vergünstigungen"  belassen  wurden  ? 

In  der  zweiten  Richtung  der  Beschränkungen,  in  der  steten 
Verengerung  des  Wohnsitzes,  ging  die  Regierung  Alexanders  III. 
mit  gehässiger  und  verderblicher  Konsequenz  vor.  Alte  Gesetze 
dieser  Art  wurden  streng  angewendet,  neue  dazu  gegeben,  und 
die  Willkür  und  Habgier  der  lokalen  Gewalten  tat  noch  ein 
Übriges,  zumal  sie  sicher  waren,  von  der  Zentrale  nicht  des- 
avouiert zu  werden. 

Recht  bezeichnend  ist,  wie  man  schon  1886  gegen  die 
jüdischen  Handlungsgehilfen  in  Petersburg  verfuhr.  Den  Kauf- 
leuten erster  Gilde  stand  es  seit  Alexander  II.  zu,  in  Petersburg 
nicht  nur  sich  niederzulassen,  sondern  dahin  auch  die  not- 
wendige Anzahl  jüdischer  Handlungsgehilfen  mitzunehmen. 
Der  Senat  erklärte  nun  diesen  Teil  des  Gesetzes  nach  dem 
engsten  Buchstabensinn,  das  heißt  völlig  sinnlos:  daß  es  dem 


154  Stete  Bedrängnisse. 

Kaufmann  nur  im  Augenblicke  seiner  Übersiedlung  erlaubt  sei, 
mosaische  Gehilfen  mitzunehmen,  nicht  aber  solche  später 
durch  andere  zu  ersetzen  oder  gar  ihre  Zahl  zu  vergrößern. 
Sofort  begann  eine  förmliche,  alle  Jahre  sich  erneuernde  Jagd 
auf  jüdische  Kommis,  die  ,, widerrechtlich"  bei  den  Kaufleuten 
erster  Gilde  dienten.  Sie  wurden  unnachsichtlich  abgeschoben, 
sowie  alle  diejenigen,  die  ihre  Berechtigung,  in  der  Hauptstadt 
zu  wohnen,  nicht  urkundlich  nachweisen  konnten.  Das  hatte 
den  Erfolg,  daß  von  den  38  000  Juden,  die  1886  Petersburg 
bewohnt  hatten,  in  der  Mitte  des  folgenden  Jahres  nur  10  909 
übrigblieben,  also  Avenig  mehr  als  ein  Viertel. 

Ebenso  in  den  Provinzen.  In  der  sich  kommerziell  glänzend 
entwickelnden  Hafenstadt  Odessa  hatten  sich  allmählich  5000 
jüdische  Handwerker  aus  anderen  Gegenden  ansässig  gemacht, 
in  gesetzlich  einwandfreier  Weise.  Aber  der  Brotneid  ihrer 
christlichen  Gewerbegenossen  brachte  es  dahin,  daß  der  Gou- 
verneur jene  am  18.  September  1886  auswies,  ohne  den  min- 
desten rechtlichen  Grund.  Noch  weiter  ging  man  am  28.  März 
1891  in  Moskau.  Sämtliche  jüdische  Handwerker  und  Mecha- 
niker, die  auf  Grund  der  bestehenden  Gesetze  sich  in  dieser 
Stadt  und  dem  entsprechenden  Gouvernement  niedergelassen 
hatten,  erhielten  den  Ausweisungsbefehl.  Sie  zählten  mit  ihren 
Familien  mehrere  Zehntausende,  und  diesen  allen  ward  ohne 
jeden  Grund  die  wirtschaftliche  Existenz  einfach  vernichtet. 
Den  jüdischen  Kaufleuten  erster  Gilde  in  Kiew  ward  die  Befug- 
nis, glaubensgenössische  Handlungsgehilfen  zu  halten,  ge- 
nommen, mit  Ausnahme  derjenigen  Gehilfen,  die  der  General- 
gouverneur als  notwendig  anerkennen  würde.  Selbstverständ- 
lich beeilte  sich  dieser,  eine  lächerlich  geringe  Anzahl  von  An- 
gestellten zu  bezeichnen,  meist  nur  einen  oder  zwei  für  jedes 
Handlungshaus.  Viele  Hunderte  jüdischer  Familien  wurden  so 
aus  Kiew  ausgetrieben.  Der  Kreis  Rostow  und  die  Stadt 
Taganrog  wurden  1887  für  zukünftige  jüdische  Ansiedler  ver- 
schlossen. Die  Verbannung  aller  derjenigen  Judenfamilien,  die 
nicht  ein  Wohnrecht  im  Jahre  1858  besessen  hatten,  aus  dem 
Grenzstreifen  von  fünfzig  Werst  wurde  mit  der  größten  Strenge 
durchgeführt,  namentlich  auch  gegen  solche,  die  in  dieser  Zone 
Grundbesitz   innehatten.  Gegen  China   wurde   eine   judenreine 


Stete  Bedrängnisse.  155 

Grenzzone  von  sogar  hundert  Werst  Breite  festgestellt,  auch 
in  ganz  Turkestan  den  Hebräern  der  Erwerb  und  die  Pacht 
von  Grundstücken  untersagt  (1889).  Ebenso  wurde  ihnen  der 
Aufenthalt  auf  dem  flachen  Lande  Rußlands,  soweit  sie  noch 
das  Recht  dazu  besaßen,  weiter  beschränkt:  sie  durften  nicht 
von  einer  Dorfschaft  in  eine  andere  übersiedeln. 

Der  frühere  Minister  des  Innern  Markow  (1880)  und  selbst 
Graf  Tolstoi  (1883)  hatten  verfügt,  daß  die  nichtprivilegierten 
Juden,  die  sich  trotzdem  bis  zum  3.  April  1880  außerhalb 
des  Ansiedlungsrayons  ansässig  gemacht  hatten,  nicht  beun- 
ruhigt werden  sollten.  Viele  Tausende  waren  in  diesem  Falle; 
sie  hatten  sich  sicher  geglaubt.  Aber  ein  Rundschreiben  des 
Ministers  des  Innern  vom  14.  Januar  1893  hob  diese  Ver- 
günstigung, die  seit  dreizehn  Jahren  ein  Recht  geworden 
war,  auf  —  abermals  Austreibungen,  Erwerbsvernichtung,  Ver- 
zweiflung ! 

Wenn  man  derart  gegen  die  einheimischen  Juden  verfuhr, 
so  begreiflicherweise  noch  viel  feindseliger  gegen  die  aus- 
wärtigen, die  den  Boden  des  heiligen  Rußland  betreten  hatten. 
Auf  ausdrücklichen  Befehl  des  Finanzministers  wurden  sämt- 
liche fremde  Kaufleute  und  Fabrikanten  mosaischen  Glaubens 
1887  aus  Polen  ausgewiesen.  Das  bedeutete  zumal  den  Ruin 
der  Fabrikstadt  Lodz,  wo  die  große  Mehrzahl  der  Fabriken  in 
den  Händen  deutscher  Juden  sich  befand.  Der  ganzen  Be- 
völkerung bemächtigte  sich  Verzweiflung,  und  die  Regierung 
wurde  mit  Vorstellungen  bestürmt.  Darauf  verlieh  der  Finanz- 
minister den  unentbehrlichen  Fabrikbesitzern  persönliche  Er- 
laubnis, in  Polen  zu  bleiben.  230  suchten  im  Gouvernement 
Warschau  ihre  Naturalisierung  nach,  die  denjenigen  gewährt 
wurde,  die  seit  fünf  Jahren  dort  wohnten;  die  anderen  mußten 
hinaus.  Von  760  ausländischen  Juden,  die  dann  im  ersten  Halb- 
jahr 1888  in  Polen  um  Naturalisierung  einkamen,  wurden  nur 
vier  berücksichtigt,  einigen  anderen  die  Frist  verlängert.  Gleiches 
Geschick  blühte  auch  den  deutschen  Familien.  Im  eigentlichen 
Rußland  gewährte  man  den  Christen  österreichisch-ungarischer 
Staatsangehörigkeit  die  gewünschte  Naturalisierung,  versagte 
sie  aber  den  Juden.  Aus  Odessa  allein  wurden  2000  fremde 
Israeliten    ausgewiesen,    von  denen  ein  großer   Teil  in   Ruß- 


156  Stete  Bedrängnisse. 

land  geboren  war.  Pässe,  selbst  für  vorübergehenden  Aufent- 
halt, erhielten  ausländische  Juden  nur  unter  großen  Schwierig- 
keiten. 

Endlich  erfolgte  am  14.  März  1891  ein  kaiserlicher  Ukas, 
der  die  Kodifikation  der  Bestimmungen  über  die  fremden  Juden 
in  Rußland  enthielt,  selbstverständlich  im  Sinne  einer  regle- 
mentierungssüchtigen und  feindlich  gesinnten  Bureaukratie. 
Jüdische  Vertreter  bekannter  Handelsfirmen  können  von  den 
russischen  Konsuln  einen  Paß  für  drei-,  ja  selbst  sechsmonatigen 
Aufenthalt  im  Zarenreiche  erhalten;  alle  sonstigen  ausländischen 
Juden  bedürfen  dazu  einer  besonderen  Genehmigung  des  rus- 
sischen Ministers  des  Innern.  Ständigen  Wohnsitz  in  Rußland 
dürfen  von  fremden  Israeliten  nur  nehmen:  Mediziner  und 
Rabbiner,  die  von  der  Regierung  dorthin  berufen  sind,  Be- 
gründer von  Fabriken  und  Meister,  die  von  den  Fabrikbesitzern 
für  deren  Betriebe  engagiert  werden.  Übrigens  müssen  jüdische 
Handlungsreisende  eine  besondere  Erlaubnis  von  drei  Ministern 
erhalten  und  die  Steuer  der  Kaufleute  erster  Gilde  entrichten. 
Den  meisten  ausländischen  Juden  und  allen,  die  in  Familien- 
angelegenheiten, zu  A\issenschaftlichen  Studien  oder  zu  Ver- 
gnügungszwecken Rußland  besuchen  wollten,  war  das  Betreten 
dieses  geweihten  Bodens  unmöglich  gemacht.  Denn  die  Er- 
laubnis des  Ministers  des  Innern  ist  immer  nur  in  seltenen 
Fällen  und  auch  dann  erst  nach  vielmonatigem  Warten  er- 
teilt worden. 

Die  Feindschaft  gegen  die  jüdische  Bildung  und  Intelligenz 
dauerte  mit  unverminderter  Stärke  fort.  Wie  materiell,  so  wollte 
man  das  Judentum  auch  geistig  auspowern  und  aushungern 
zu  größerer  Kräftigung  des  allein  seligmachenden  orthodoxen 
Russentums. 

Die  israelitischen  Kinder  und  Jünglinge  sahen  die  Pforten 
der  Gymnasien  sich  immer  fester  gegen  sich  verschließen.  In 
die  medizinisch-chirurgische  Fakultät  in  Petersburg  wurden 
1886  keine  Juden  mehr  aufgenommen,  ebensowenig  wie  Jüdin- 
nen in  das  Hebammeninstitut.  Überhaupt  wurde  1887  be- 
stimmt, daß  an  den  Universitäten  Warschau  und  Odessa 
künftighin  nur  zehn  Prozent  jüdische  Studenten  immatrikuliert 
sein  soUten,    in  Dorpat,  Kiew,  Charkow,    Kasan  nur  fünf,    in 


Stete  Bedrängnisse.  157 

Petersburg  und  Moskau  gar  nur  drei  Prozent.  So  wies  1894 
die  Universität  Kiew  219  jüdische  Studenten  zurück,  Charkow 
89,  um  nur  sechs  anzunehmen.  Um  nun  möglichst  zu  ver- 
hüten, daß  die  Avißbegierigen  Israeliten  nicht  an  außerrussischen 
Hochschulen  sich  bildeten,  wurde  das  Privileg  der  Ansiedlung 
außerhalb  des  Rayons  denjenigen  Juden  vorbehalten,  die  in 
Rußland  studiert  und  promoviert  hätten.  Die  Regierung  blieb 
sich  konsequent  in  der  Unterdrückung  des  Bildungstriebes  bei 
den  Hebräern ! 

Dazu  gehörte  es  auch,  daß  die  Medizinalbehörde  den  Apo- 
thekenbesitzern in  Petersburg  1894  verbot,  künftighin  jüdische 
Lehrlinge  anzunehmen.  Auf  eignen  Befehl  des  Kaisers  wurden 
von  den  Hoftheatern  alle  jüdischen  Schauspieler  und  Sänger 
entfernt . 

Der  Antisemitismus  der  Behörden  gab  sich  auch  in  kleineren 
Dingen  durch  unwürdige  Schikanen  kund.  Der  Polizeidirektor 
von  Kiew  ließ  im  Herbst  1886  durch  die  Polizei  alle  Laubhütten 
des  Sukkotfestes  aufspüren  und  niederreißen.  Die  Unmensch- 
lichkeit ging  bereits  so  weit,  daß  man  im  Juni  1894  den  jüdischen 
Kranken  den  Aufenthalt  in  den  südrussischen  Kurorten,  be- 
sonders in  der  Krim  verbot. 

Die  Alexander  III.,  Pobjedonoszew,  Katkow  wollten  eben 
den  Juden  den  Aufenthalt  in  Rußland  unmöglich  machen,  sie 
hinausdrängen.  Während  sie  das  Anerbieten  des  Baron  Hirsch 
in  Paris,  ihr  zwanzig  Millionen  Rubel  zur  Anlegung  von  Schulen 
für  die  Juden  zu  Gebote  zu  stellen,  zurückwies,  genehmigte  sie 
bereitwillig  die  auf  die  Auswanderung  der  Juden  aus  Rußland 
gerichtete  Tätigkeit  der  Jewish  Colonization  Association  für 
dieses  Reich.  ,,Die  Regierung  eines  Landes,  in  dem  die  Aus- 
wanderung offiziell  verboten  ist,  sanktioniert  ein  Abkommen, 
das  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  den  Transport  der  Ge- 
samtheit der  russischen  Juden  aus  dem  Lande  ins  Werk  zu 
setzen  sich  anheischig  macht,  und  gewährt  für  diesen  Auszug 
erhebliche  Privilegien." 

Leider  war  das  riesige  Unternehmen  dann  doch  nicht 
ausführbar,  trotz  der  gewaltigen  Geldmittel  der  von  Baron  Hirsch 
begründeten  Colonization  Association.  Aber  auch  ohne  diese 
nahm  die  Auswanderung  wieder  großen  Umfang  an.   Aus  Polen 


158  Stete  Bedrängnisse. 

allein  zogen  im  Jahre  1886:  21  150  Juden  fort,  aus  Odessa 
1889  in  wenigen  Tagen  mehr  als  tausend  nach  Amerika.  Infolge 
der  harten  Austreibungsmaßregeln  des  Jahres  1891  schifften 
sich  damals  76  000  russische  Juden  nach  den  Vereinigten 
Staaten  ein,  im  folgenden  Jahre  gar  79  000.  Dann  sank  1893 
die  Auswanderung  auf  56  000,  1894  auf  40  000.  Im  ganzen  sind 
in  den  Jahren  1880 — 1894  427  500  russische  Juden  nach  Nord- 
amerika ausgewandert,  dazu  nach  Großbritannien  35  000,  nach 
Frankreich  18  000,  nach  Deutschland  9000,  Palästina  13  000, 
Kanada  9000,  Südafrika  14  500,  sonstige  Länder  13  000.  Zu- 
sammen 839  000  Seelen !  Es  war  eine  wahre  Völkerwanderung, 
wie  sie  in  neueren  Zeiten  bei  einer  gleichzähligen  Bevölkerung 
kaum  vorgekommen  ist.  Die  Hunderttausende  zogen  einer 
schweren,  unsicheren,  mühevollen  Zukunft  entgegen.  Aber  die 
meisten  von  ihnen  waren  doch  durch  die  Übersiedlung  in  ein 
freies  Land  an  Leib  und  Seele  gerettet;  und  eine  noch  schönere 
Zukunft  winkte  ihren  Kindern. 

Das  Los  der  Zurückbleibenden  wurde  jedoch  durch  den 
Weggang  noch  so  vieler  nicht  gebessert.  Die  bedeutende  natür- 
liche Vermehrung  der  jüdischen  Bevölkerung  Polens  und  Ruß- 
lands schloß  schnell  genug  die  frei  gewordenen  Lücken.  In 
Polen  allein  gab  es  1895:  1  224  650  Juden;  sie  vermehrten  sich 
bis  1897,  trotz  der  Auswanderung,  auf  1  267  194,  14  Prozent 
von  den  9  402  253  Seelen  der  Gesamtbevölkerung.  Besonders 
in  der  Hauptstadt  Warschau  nahm  die  Anzahl  der  Juden  reißend 
zu.  Sie  betrug  1883:  128  000,  1887  schon  176  246,  1894:  200  000 
Seelen.  Sie  ist  bis  1901  auf  280  700  gestiegen,  unter  712  000 
der  Gesamtbevölkerung:  35,7  Prozent.  Im  Ansiedlungsrayon 
Rußlands  —  Klein-,  West-  und  Südrußland  —  gab  es  1885 
unter  251/2  Millionen  Einwohnern  2  930  634  Juden,  also  11^4  Pro- 
zent. Im  gesamten  russischen  Reiche,  mit  Einschluß  von  Polen, 
hat  sich  die  Zahl  der  Juden  in  den  22  Jahren  1875 — 1897  von 
2  760  000  auf  5  216  000  vermehrt,  also  nahezu  auf  das  Doppelte. 
Der  Stand  der  Judenfrage  in  Rußland  hat  sich  also  durch  die 
Auswanderung  nicht  verändert,  und  ebensowenig  der  furchtbar 
schwere  Kampf  ums  Dasein  für  die  eng  zusammengepferchte 
und  in  ihrem  Erwerb  durch  grausame  Gesetze  eingeschränkte 
jüdische  Bevölkerung. 


Stete  Bedrängnisse.  159 

Das  war  die  unsäglich  traurige  Lage  der  russischen  Juden, 
als  Zar  Alexander  III.  am  20.  Oktober/1.  November  1894  zu 
Livadia  an  einem  Nierenleiden  starb.  Seine  dreizehnjährige 
Regierung  war  nicht  nur  für  die  Israeliten,  sondern  für  das  ganze 
Reich  eine  unheilvolle  gewesen.  Sie  und  die  in  ihr  triumphierende 
altrussische  Reaktion  hatten  die  Revolution  unvermeidlich 
gemacht. 


Kapitel  Drei. 

Innere  Zustände  der  russischen  Juden. 


Die  Assimilierungsbestrebungen  der  Regierung  so\\ie  vieler 
aufgeklärter  russischer  Juden  waren  im  wesentlichen,  soweit  es 
die  Masse  der  letzteren  betraf,  gescheitert.  Gewiß  bot  diese 
seit  Jahrhunderten  auf  die  rabbinischen  Überlieferungen  be- 
schränkte Menge,  die  überdies  von  der  Außenwelt  nur  schwere 
und  schmerzliche  Ein^^drkungen  erfahren  hatte,  einen  harten 
Boden  für  kulturelle  Bestrebungen  dar.  Aber  die  Hauptursache 
für  das  Mißlingen  dieser  ernst  gemeinten  Versuche  war  immer 
die,  daß  dieselbe  Hand,  die  ihnen  wohltun  zu  wollen  behauptete, 
sie  wieder  mit  den  herben  Züchtigungen  der  Ausnahmegesetze 
mißhandelte.  Die  zweite  war  die  durch  nichts  gerechtfertigte 
Ungeduld  der  Regierung  und  der  Presse.  Wie  war  es  möglich, 
diese  Älillionen  nach  einem  viele  Generationen  hindurch  dauern- 
den Drucke,  nach  so  langer  Ausschließung  in  wenigen  Jahren 
zu  freien  und  gleichartigen  Volksgenossen  umzugestalten  ?  Dazu 
bedurfte  es  mindestens  mehrerer  Jahrzehnte,  und  hierzu  hat 
die  russische  Regierung  den  Juden  nie  Zeit  gelassen.  Da  letztere 
nicht  mit  einem  Male  auf  die  ihnen  heiligen  Eigentümlichkeiten 
verzichteten,  sofort  alle  von  außen  ihnen  gebotenen  Richtungen 
einschlugen,  sollten  sie  unverbesserliche,  hoffnungslose  Fremd- 
und  Schädlinge  sein,  und  man  verschloß  ihnen  mit  offenem 
Haße  die  Bahnen,  die  noch  nicht  betreten  zu  haben  man  ihnen 
gleichzeitig  zum  Vorwurf  machte. 

In  den  sechziger  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts, 
in  dem  glücklichsten  und  glänzendsten  Zeiträume  der  leidens- 
vollen Geschichte  der  russischen  Juden,  hatte  die  Regierung 
mit  allen  ihr  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  die  Aufklärung  und 


Innere  Zustände  der  russischen  Juden.  161 

Assimilation  der  Israeliten  befördert,  ja  häufig  in  gewaltsamer 
Weise  erz\\Tingen.  Aber  durch  das  rote  Gespenst  des  Nihilismus 
erschreckt,  von  altrussischen  und  unduldsam  panslawistischen 
Ideen  erfüllt,  hatte  sie  seit  dem  Jahre  1881  ihre  Taktik  von 
Grund  aus  geändert.  Die  reaktionären  Unterströmungen,  die 
niemals  ganz  gefehlt  und  in  den  letzten  Jahren  Alexanders  II. 
hier  und  da  bis  an  die  Oberfläche  aufgestiegen  waren,  drängten 
sich  nach  der  verbrecherischen  Ermordung  dieses  Zaren  vollends 
hinauf  und  ergossen  sich  über  ganz  Rußland  in  gewaltigem, 
immer  breiterem  und  reißenderem  Strome.  Außer  den  eigent- 
lich russischen  Elementen,  die  man  der  Teilnahme  an  den  revolu- 
tionären Bewegungen  bezichtigte,  schrieb  man  auch  den  Juden 
einen  Teil,  ja  einen  beträchtlichen  Teil  der  Schuld  zu.  Man 
besann  sich  plötzlich,  daß,  indem  man  die  Aufklärung  und  das 
Wissen  unter  den  Juden  befördere,  man  ihnen  überflüssiger- 
weise eine  gefährliche  Waffe  in  die  Hand  gebe  und  zugleich 
Vorteile  verschaffe  ,,auf  Kosten  der  Urbevölkerung".  Denn 
man  fürchtete,  daß  unter  gleichen  sozialen,  ökonomischen  und 
besonders  unterrichtlichen  Bedingungen  die  Nüchternheit,  der 
Eifer  und  Fleiß  und  die  praktische  Begabung  der  Juden  sie 
weit  über  das  lässige,  beschränkte  und  haltlose  Russentum 
erheben  werde.  Die  leitenden  Kreise  beschlossen  deshalb,  diesem 
,, unnatürlichen"  Zustande  ein  Ende  zu  machen,  die  jüdische 
Intelligenz  an  jeder  Entmcklung  zu  behindern.  Im  Gegensatze 
zu  früher  Moirden  nunmehr  die  Juden  in  allgemeinen  Schulen 
sehr  ungern  gesehen  und  ihr  Eintritt  in  diese  mit  immer  größeren 
Schwierigkeiten  umgeben,  bis  endlich  das  bekannte  Rund- 
schreiben des  Unterrichtsministers  Grafen  Deljanow  vom  Jahre 
1887  die  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  traurig  nachwirkende 
Anordnung  traf,  wonach  in  allen  mittleren  und  höheren  all- 
gemeinen Unterrichtsanstalten  jüdische  Zöglinge  nur  in  einem 
bestimmten  prozentualen  Verhältnisse  zu  den  christlichen 
Schülern  aufgenommen  werden  sollten;  und  zwar  in  den  beiden 
Residenzen  drei  Prozent,  in  den  Städten  der  inneren  Gouverne- 
ments fünf,  in  denen  des  Ansiedlungsgebietes  zehn  Prozent. 
Es  brach  für  die  russischen  Juden  eine  neue  schlimmere  Zeit  an, 
die  ihnen  unendlich  viel  materielles  und  geistiges  Elend  bringen 
sollte,  die  aber  auch  zu  einer  eindringlichen  Lehrmeisterin  für 


Philippson,   Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  ITI. 


11 


162  Innere  Zustände  der  russischen  Juden. 

sie  geworden  ist.  Dieselben  Juden,  die  den  Aufklärungsbestre- 
bungen Alexanders  II.  noch  die  größten  Hindernisse  in  den 
Weg  gelegt  hatten,  erkannten  nunmehr,  gerade  durch  den  er- 
neuten Ausschluß  und  den  von  diesem  geübten  Druck  den  ganzen 
Nutzen,  ja  die  Notwendigkeit  der  Bildung  und  empfanden  den 
aus  dem  Rundschreiben  Deljanows  sich  ergebenden  Zustand 
als  eine  schwere,  beklagenswerte  Beeinträchtigung  und  Schädi- 
gung. 

Zum  Glück  haben  sich  die  Erwartungen  der  Regierung, 
durch  ihre  drakonischen  Maßregeln  das  geistige  Niveau  der 
Juden  hinabzudrücken,  nicht  in  dem  von  ihr  gewünschten 
Maße  erfüllt.  Gerade  der  Wert,  den  die  nunmehrige  Regierung 
offenbar  der  Bildung  beilegte,  indem  sie  solche  den  gehaßten 
Juden  vorzuenthalten  suchte,  öffnete  diesen  die  Augen.  Sie 
erkannten  selber  die  Bedeutung,  die  die  geistige  Entwicklung 
für  ihren  moralischen  und  sogar  ökonomischen  Zustand  haben 
könne  und  müsse.  So  griffen  sie  zur  Selbsthilfe,  um  auch 
außerhalb  der  staatlichen  Anstalten  den  gewünschten  Bildungs- 
stand zu  erreichen.  Sie  organisierten  Bildungsvereine;  sie  be- 
gründeten Privatschulen;  viele  jüdische  Knaben  und  junge 
Leute  bereiteten  sich  durch  Privatunterricht  als  ,, Externe" 
zu  den  Maturitätsprüfungen  vor,  um  die  durch  diese  verbürgten 
Vorteile  und  Rechte,  wenn  auch  auf  schA^ierigem  Umwege,  zu 
erlangen.  Zahlreiche  wohlhabende  Juden,  die  in  der  Heimat 
für  ihre  Kinder  keinen  Platz  in  den  mittleren  und  höheren 
Schulen  zu  finden  vermochten,  sandten  sie  zur  Ausbildung  in 
das  Ausland. 

Um  den  Zustand  des  Unterrichts  bei  den  russischen  Israe- 
liten zu  verstehen,  muß  man  bedenken,  daß  es  in  dem  Zaren- 
reiche keine  Schulpflicht  und  auf  dem  flachen  Lande  nur  wenige, 
meist  ganz  unzureichende  Schulen  gibt.  Unter  den  Orthodoxen 
können  nur  19  Prozent,  unter  den  römischen  Katholiken  32,1, 
unter  den  Juden  immerhin  39,9  Prozent  lesen,  und  zwar  49,4 
Prozent  Männer  und  28,9  Frauen.  Man  muß  hierbei  freilich  in 
Erwägung  ziehen,  daß  die  Juden  in  stärkerem  Verhältnis  als 
die  anderweite  Bevölkerung  die  Städte  bewohnte,  wo  der 
Unterrichtsstand  immerhin  besser  ist,  als  auf  dem  Lande. 
Denn  von  den  Städtebewohnern  können  46.4  Prozent  Orthodoxe 


Innere  Zustände  der  russischen  Juden.  163 

lesen,  aber  nur  42,8  Israeliten.  Allerdings  ist  bei  diesen  die 
Zahl  der  ganz  kleinen  Kinder,  für  die  das  Lesenlernen  noch 
nicht  in  Betracht  kommt,  stärker  als  bei  den  Christen.  Die 
Regierung  dürfte  übrigens  im  Unterricht  nicht  über  die 
mangelnde  Assimilierung  der  ,, Hebräer"  klagen:  denn  von 
diesen  können  31,20  Prozent  Männer  und  16,52  Frauen  russisch 
lesen  —  mehr  als  in  irgendeiner  Konfession,  die  orthodoxen 
Russen  selbst  einbegriffen.  Und  zwar  nimmt  die  Kenntnis  des 
Russischlesens  bei  den  Juden  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  zu, 
zumal  bei  den  Frauen. 

Die  besonderen  jüdischen  Schulen  bieten  ein  überaus 
interessantes  Bild.  Sie  zerfallen  in  zwei  große  Gruppen,  näm- 
lich in  organisierte  und  nichtorganisierte.  Zu  den  ersteren  ge- 
hören diejenigen  Anstalten,  die  an  ein  bestimmtes  Regulativ 
seitens  des  Unterrichtsministeriums,  obschon  oft  nur  in  loser 
Weise,  gebunden  sind:  also  staatliche  jüdische  Elementar- 
schulen, von  Gemeinden  oder  Vereinen  begründete  Talmud- 
Thora  neuen  Typus,  andere  größere  Gemeinde-  und  Privat- 
schulen. Nichtorganisiert  sind  die  Chedarim,  die  gewöhnlichen 
Talmud-Thora,  die  Jeschiboth. 

Bei  weitem  überwiegen  die  rüchtorganisierten  Chedarim. 
Es  gab  1899  unter  1  420  000  Israeliten  im  Ansiedlungsrayon 
—  also  nicht  ganz  einem  Drittel  der  dortigen  Gesamtzahl  — 
an  507  Orten  7145  Chedarim,  folglich  auf  199  Juden  ein  Cheder. 
Das  macht  für  den  ganzen  Rayon  ungefähr  24  620  aus.  Dazu 
kommen  noch  5 — 600  Talmud-Thora- Schulen,  die  sich  nur 
durch  die  Art  der  Begründung,  aber  nicht  im  Wesen  von  den 
Chedarim  unterscheiden.  Von  diesen  ca.  25  000  Anstalten  ist 
wenig  mehr  als  der  fünfzigste  Teil  organisiert,  das  heißt  mit 
anderen  Worten,  nur  an  dem  fünfzigsten  Teile  dieser  Schulen 
entsprechen  das  Lehrpersonal  den  Minimalforderungen  des 
Unterrichtsministeriums  und  das  Lokal  den  vorgeschriebenen 
hygienischen  Bedingungen.  Das  sind  ebenso  charakteristische 
wie  trauererweckende  Zahlen. 

Die  Zahl  der  Cheder-  und  Talmud-Thora-Zöglinge  war 
ungefähr  370  000,  einer  auf  13  jüdische  Einwohner,  etwa  68,68 
Prozent  aller  im  Schulalter  befindlichen  jüdischen  Knaben, 
von  Mädchen  freilich  zwanzigmal  weniger.    Die  Kinder  werden 

11* 


]  6-i  Innere  Zustände  dei*  x'ussischen   Juden. 

schon  von  vier  Jahren  an  in  das  Cheder  getrieben.  Auf  einen 
Lehrer  —  Melammed  —  kommen  etwa  zwanzig  Kinder.  Übrigens 
wird  nur  in  dem  kultuvierteren  Südrußland  das  Cheder  vorzugs- 
weise von  Kindern  der  ärmeren  Klasse  besucht;  in  den  übrigen 
Provinzen  finden  sich  dort  Kinder  jeder  Vermögensstufe. 

Als  Lehrer  wdrken  mindestens  26  000  Melamdim  und 
außerdem  noch  Privatlehrer  des  „Jüdischen".  Man  kann, 
mit  Einschluß  der  Familien,  diejenigen,  die  vom  Unterricht- 
geben dieser  primitiven  Art  leben,  auf  100  000  Köpfe  veran- 
schlagen. Die  Melamdim  sind  aber  Avenigstens  zu  vierzig 
Prozent  Leute,  die  als  Handwerker,  Vermittler,  Kärrner,  aus- 
gediente Soldaten  ökonomischen  Schiffbruch  gelitten  und  als 
einzigen  Ausweg  die  Jugendausbildung  ergriffen  haben.  Denn 
die  Einkünfte  des  Melammed  sind  gering,  durchschnittlich 
350  Rubel  oder  750  Mark  jährlich.  Furchtbar  sind  die  gesund- 
heitlichen Zustände  des  Cheders.  In  dessen  einziger  Stube 
wohnt  der  Melammed  mit  seiner  Familie,  Schmutz  und  Küchen- 
abfälle bedecken  den  Boden  und  erzeugen  den  ihnen  natürlichen 
Übelgeruch.  Außer  den  Bänken  für  die  Kinder  und  einem  Holz- 
tisch stehen  die  mit  Lumpen  bedeckten  Betten  herum.  Der 
Lehrer,  die  Schüler  und  die  Kinder  des  Hauses  sind  gleicher- 
maßen in  schmierige  Lumpen  gehüllt.  Alles  ist  feucht  und 
dumpf.  Nur  selten  findet  sich  ein  Hof,  wo  die  Kinder  während 
der  Pausen  Luft  zu  schöpfen  vermögen.  Die  Unterrichtsweise 
ist  ganz  unpädagogisch;  sie  besteht  im  Vorlesen  des  Lehrers 
und  Nachplappern  der  Kinder,  ohne  hinreichende  Erklärung. 
Von  irgendeiner  Methode  ist  nicht  die  Rede,  da  die  Lehrer 
selber  davon  keine  Ahnung  besitzen.  Es  herrscht  beständige 
Unruhe  und  Unaufmerksamkeit,  die  notdürftigste  Disziplin  wird 
durch  grausames  Prügeln  aufrecht  erhalten.  Die  Unterrichts- 
stunden dauern  von  9  bis  5,  ja  bis  7,  bisweilen  bis  8  Uhr ! 

Und  diese  Karrikatur  eines  Jugendunterrichtes  kostete 
jährlich  etwa  acht  Millionen  Rubel,  auf  den  Kopf  der  jüdischen 
Bevölkerung  1,62  Rubel,  eine  Familie  mit  fünf  Kindern  also 
acht  Rubel. 

Die  organisierten  Schulen  zerfallen  ihrerseits  in  drei  Kate- 
gorien. Am  meisten  verbreitet  sind  (60,9  Prozent)  die  Privat- 
schulen; darauf  kommen  (21,6  Prozent)  die  Gemeindeschulen 


Innere  Zustände  der  russischen  Juden.  165 

und  erst  an  dritter  Stelle  (17,5  Prozent)  die  früher,  in  den  sech- 
ziger Jahren,  vorherrschenden  staatlichen  Schulen.  Die  größten 
Aussichten  für  die  Zukunft  scheinen  die  Gemeindeschulen  zu 
besitzen,  da  sie  am  meisten  den  wahren  Bedürfnissen  der  jü- 
dischen Bevölkerung  entsprechen  und  sich  am  besten  den  lokalen 
Zuständen  und  Bedürfnissen  anzupassen  imstande  sind.  Die 
Hälfte  dieser  Schulen  ist  für  Knaben,  etwas  weniger  als  ein 
Drittel  für  Mädchen,  der  Rest  für  beide  Geschlechter  bestimmt. 
Ein  großes  Übel  für  das  gesamte  jüdische  Unterrichtswesen 
in  Rußland  ist  der  durch  die  ökonomische  Notlage  der  Eltern 
veranlaßte  Umstand,  daß  volle  neun  Zehntel  aller  jüdischen 
Schüler  die  Schule  vorzeitig  verlassen. 

Das  Lehrpersonal  der  organisierten  Schulen  ist  selbstver- 
ständlich ein  unvergleichlich  besser  ausgebildetes,  als  an  den 
Chedarim.  Am  höchsten  steht  das  an  den  Mädchenschulen,  das 
zu  zwei  Drittel  volle  Gymnasialbildung  besitzt.  Dann  kommen 
die  Lehrer  an  den  Staatsschulen,  die  zumeist  aus  den  früheren 
Lehrerbildungsanstalten  zu  Schitomir  und  Wilna  hervor- 
gegangen sind. 

Die  Zahl  der  organisierten  jüdischen  Schulen  beträgt  im 
ganzen  840,  davon  im  Ansiedlungsrayon  nur  644,  in  denen 
50  773  Kinder  Unterricht  genießen.  Dazu  kommen  die  370  000 
der  Chedarim  —  zusammen  im  Ansiedlungsrayon  ungefähr 
420  000.  Es  gab  aber  1899  im  Rayon  etwa  508  000  Kinder  im 
schulpfUchtigen  Alter,  so  daß  ungefähr  88  000  =  17,3  Prozent 
der  jüdischen  Kinder  ohne  jeden  Unterricht  als  Analphabeten, 
aufwachsen. 

Die  Lage  des  Schulwesens  für  die  russischen  Juden  ist  also 
eine  recht  traurige.  Die  Nachfrage  nach  jüdischen  orgamsierten 
Staatsschulen  ist  weit  größer,  als  die  Regierung  zu  bewilligen 
gesonnen  ist,  die  nur  das  allernotwendigste  in  dieser  Beziehung 
tut.  Das  Eintreten  der  privaten  Initiative  kann  aber  auf  diesem 
Felde  nur  sehr  geringes  wirken,  zumal  sie  in  zahlreichen  Fällen 
durch  den  aus  politischen  Gründen  hervorgehenden  Widerstand 
der  Regierung  geradezu  gelähmt  wird. 

Erfreulicher  ist  das  in  jüngerer  Zeit  hervortretende  Be- 
streben, die  allgemeine  Bildung  mit  der  speziell  jüdischen 
Unterweisung  harmonisch  zu  verbinden.    So  gründet  man  so- 


1G6  Innere  Zustände  der  russischen  Jviden. 

genannte  ,,Musterchedarim",  wo  man  die  „Jüdischkeit"  in 
rationellen  jüdischen  Religionsunterricht  verwandelt,  anstatt 
der  rabbinischen  Dialektik  jüdische  Geschichte  sowie  hebräische 
Sprache  und  Literatur  lehrt,  an  Stelle  der  rituellen  Schriften 
die  nationalen  liest. 

Der  Besuch  der  technischen  und  Handelshochschulen 
seitens  der  Juden  läßt  sich  ziffernmäßig  nicht  nachweisen.  Da- 
gegen kann  man  feststellen,  daß  die  Frequenz  der  Universitäten 
sich  bei  ihnen  unter  dem  Hauche  der  Freiheit  sehr  gehoben 
hatte:  von  550  oder  6,8  Prozent  aller  Studenten  im  Jahre  1880 
auf  mehr  als  das  Doppelte  in  1886:  1232  oder  14,8  Prozent. 
Aber  infolge  der  Deljanowschen  Beschränkungen  ging  sie, 
wenigstens  verhältnismäßig,  zurück:  im  Jahre  1899  gab  es 
1757  jüdische  Studenten,  das  heißt  nur  10,9  Prozent  der  Gesamt- 
zahl. Von  10  000  Juden  studierten  damals  3,5.  Allein  das  gibt 
kein  Bild  des  ganzen  Umfanges  des  jüdischen  Universitäts- 
studiums. Denn  mehr  als  in  Rußland  studierten  Juden  im 
Auslande:  etwa  2200.  So  kommen  auf  10  000  Juden  im  ganzen 
beinahe   acht   Urdversitätshörer. 

Wie  wenig  bisher  das  Werk  der  Assimilierung  geglückt 
war,  geht  aus  dem  Umstände  hervor,  daß  von  den  5  125  805 
Juden,  die  1897  in  Rußland  lebten,  nur  161  605  eine  andere 
Muttersprache  hatten  als  das  Jüdisch-Deutsch,  das  ,, Jiddisch", 
so  daß  5  054  200,  also  96,90  Prozent  das  Jiddische  sprachen. 
Dann  redeten  47  600  polnisch,  67  063  russisch,  demnach  nur 
114  123  die  Sprache  des  Landes,  in  dem  sie  wohnten;  deutsch 
22  782.  Auf  dem  flachen  Lande  gab  es  keinen  Juden,  der  nicht 
jiddisch  redete,  die  wenigen  Anderssprachigen  bewohnten  die 
Städte,  und  zwar  fast  nur  die  Orte  außerhalb  des  Ansiedlungs- 
gebietes,  also  wo  die  Juden  weniger  eng  zusammengedrängt 
saßen.  Man  ersieht  daraus  von  neuem,  wie  sehr  das  Vorhanden- 
sein des  Ansiedlungsrayons  den  Anschluß  der  Juden  an  das 
allgemeine  Volkstum  behindert.  Im  russischen  Rayon  herrschte 
das  Jiddische  unter  99  bis  99,8  Prozent  fast  ausschließlich, 
mit  Ausnahme  des  Gouvernements  Taurien,  wo  8,8  Prozent 
russisch  oder  tatarisch  oder  deutsch  sprachen.  In  Odessa 
redeten  10,5  Prozent  nicht-jiddisch,  in  Petersburg  15,13,  in 
Moskau  sogar  38,82  Prozent.    Die  großen  Städte  hatten  eben 


Innere  Zustände  der  russischen  Juden.  167 

die  meistgebildete  jüdische  Bevölkerung.  Das  Polnische  über- 
wog unter  den  Juden  Warschaus  mit  90,1,  in  Kaiisch  mit  89,6 
Prozent.  In  der  Fabrikstadt  Lodz  gab  es  6,5  Prozent  Juden 
mit  nicht-jiddischer  Sprache,  darunter  waren  aber  viele  Deutsch- 
redende. In  den  anderen  polnischen  Gouvernements  gab  es 
sonst,  wie  in  Rußland,  fast  nur  Jiddische.  So  blieb  hier  überall 
für  die  nationale  Bildung  beinahe  alles  noch  zu  tun. 

Im  ganzen  Rußland  machte  sich,  wie  auch  in  anderen 
Staaten,  der  Andrang  der  Juden  zu  den  Städten  bemerkbar. 
2  631  000  von  ihnen,  also  50^  Prozent,  bewohnten  die  Stadt, 
von  der  übrigen  Bevölkerung  nur  11,8  Prozent.  Verhältnis- 
mäßig kamen  demnach  mehr  als  viermal  so  viele  auf  die  Stadt- 
bewohner, als  bei  den  Angehörigen  anderer  Glaubensbekennt- 
nisse. Während  die  Israehten  4,15  Prozent  der  Gesamtbevölke- 
rung ausmachten,  so  15,6  Prozent  unter  der  Stadtbevölke- 
rung. Schon  dadurch  erhielten  sie  einen  starken  geistigen  und 
gewerblichen  Einfluß.  In  den  Gouvernements  Minsk,  Grodno, 
Sedlec,  Witebsk,  Mohilew,  Kelce,  Radom  und  Wolhynien 
machten  sie  sogar  die  Mehrheit  der  Städter  aus  —  in  Berditschew 
selbst  78  Prozent,  mit  41  617  Seelen  — in  den  übrigen  Gouverne- 
ments des  Ansiedlungsgebietes  zwischen  25 — 50  Prozent,  mit 
Ausnahme  von  Taurien(  der  Krim),  wo  sie  13,6Prozent  betrugen. 
Besonders  stark  war  ihr  Anteil  an  der  städtischen  Bevölkerung 
in  Nordwesten  und  Südwestrußland,  weniger  stark  in  Polen 
und  Südrußland.  Außerhalb  des  Rayons,  wo  nur  Höchst- 
gebildete, Kaufleute  erster  Gilde  und  eigentliche  Handwerker 
zugelassen  wurden,  konzentrierten  sie  sich  notgedrungen  fast 
ganz  in  den  Städten,  wo  97  Prozent  von  ihnen  ansässig  waren. 
Auf  dem  flachen  Lande  dort  war  kein  Raum  für  sie.  Auch 
sonst  waren  ja  im  eigentlichen  Rußland  die  Juden  zumeist 
vom  flachen  Lande  ausgeschlossen.  Und  dann  wollte  man  sie 
noch  an  der  Ausübung  des  Handwerks  möglichst  verhindern. 
Was  alles  ihre  Gegner  nicht  davon  abhielt,  ihnen  den  mit 
Gewalt  ihnen  aufgedrängten  ,, Schachergeist"  vorzuwerfen! 


Buch  Elf. 

Revolution  und  Reaktion. 
Zar  Nikolaus  II. 


Kapitel  Eins. 

Friedliche  Zeiten. 


J_}er  neue  Zar  Nikolaus  II.  war  am  18.  Mai  1868  geboren, 
also  bei  seiner  Thronbesteigung  noch  in  jugendlichem  Alter. 
Er  hatte  einen  vortrefflichen  Unterricht  sowohl  in  den  neueren 
Sprachen  wie  in  den  realen  Wissenschaften  genossen  und  sich 
auf  großen  Reisen  noch  weiter  gebildet.  Vor  allem  hatte  er 
mit  wahrhafter  Begeisterung  die  schöne  Idee  eines  allgemeinen 
Völkerfriedens,  der  Beilegung  aller  internationalen  Streitigkeiten 
durch  ein  höchstes  von  den  mächtigeren  Staaten  ernanntes 
Schiedsgericht  ergriffen.  Aber  im  Innern  seines  Reiches  wollte 
der  Zar  nur  allein  herrschen,  in  voller  Autokratie,  gestützt  auf 
die  altrussischen  Elemente,  mit  Niederhaltung  aller  anderen 
Nationalitäten  und  Glaubensbekenntnisse.  Auch  in  seinem 
Vertrauen  stand,  wie  bei  seinem  Vater,  Pobjedonoszew  obenan. 
Das  Gefährliche  an  dieser  Persönlichkeit  war  eben,  daß  sie 
durch  Geist,  Wissen  und  Überzeugungstreue  auch  Hoch- 
gebildeten und  Wohlmeinenden  zu  imponieren  imstande  war. 
Bei  einem  Aufenthalte  in  Japan,  1891,  hatte  dem  ZareA^dtsch 
ein  fanatischer  eingeborener  Polizist  einen  Hieb  auf  den  Kopf 
versetzt,  von  dem  er  anscheinend  wieder  hergestellt  war,  dessen 
Nachwirkungen  aber  doch  in  seinem  schwächlich  abhängigen, 
einsilbigen  Wesen,  in  der  übermäßigen  Bescheidenheit  und  Ge- 
drücktheit seines  Auftretens  wohl  erkennbar  sind.  Als  er  die 
Regierung  in  seine  Hand  nahm,  hielt  er  den  Absolutismus 
seines  Vaters  aufrecht  und  beharrte  in  dessen  ganzer  Rich- 
tung ;  aber  von  persönlichem  Wohlwollen  geleitet ,  trat  er 
zunächst  den  nichtrussischen  Bevölkerungen  —  Balten, 
Finnen,  Polen,  Juden,  Armeniern  —  gegenüber  milder  und 
weniger  gewalttätig  auf.    In  seinem  Thronbesteigungsmanifeste 


172  Friedliche  Zeiten. 

erklärte  er,  sein  einziges  Ziel  sei  „die  Beglückung  aller  treuen 
Untertanen".  Das  klang  immerhin  verheißungsvoll.  Auch  die 
Juden  im  besonderen  schienen  der  huldvollen  Berücksichtigung 
durch  den  neuen  Herrscher  gewiß.  Zu  dessen  Krönungsfeier  in 
Moskau,  im  Juni  1895,  wurden  auch  drei  Rabbiner  offiziell 
eingeladen  und  erhielten  vom  Staate  jeder  ein  Reisegeld  in 
Höhe  von  sechshundert  Rubel.  Unter  den  Abordnungen  der 
Städte  und  Vereine  gab  es  eine  ganze  Anzahl  Juden.  Eine  Depu- 
tation der  jüdischen  Gemeinden  Rußlands  überreichte  dem 
Zaren  eine  große  Gruppe  aus  oxydiertem  Silber,  die  den  Erd- 
ball zeigte,  dessen  Friede  durch  Rußland  geschützt  wird.  In 
allen  jüdischen  Gemeinden,  selbst  in  Polen,  wurde  die  Krönung 
durch  religiöse  Feier  verherrlicht.  Die  Juden  Petersburgs 
widmeten  dem  Kaiserpaar  bei  dessen  Rückkehr  in  die  Haupt- 
stadt einen  die  Krone  überreichenden  Engel  in  Silber,  ein  Werk 
Antokolskis,  der  zum  Danke  für  diese  Huldigung  zum  Wirk- 
lichen Staatsrat  mit  dem  Titel  Exzellenz  ernannt  wurde.  Und 
als  im  August  1897  Nikolaus  II.  Polen  durchreiste,  zog  er  aller- 
orten die  Juden  offizell  zu  allen  Feierlichkeiten  mit  heran. 
Kurz,  das  persönliche  Verhältnis  des  Monarchen  zu  diesem 
Teile  seiner  Untertanen  schien  ein  vortreffliches  zu  sein. 

Die  Lage  der  Juden  gestaltete  sich  sofort  verheißungs- 
voller. Der  Gehilfe  des  Ministers  des  Innern,  Nekljudow,  ein 
berühmter  Rechtsgelehrter,  war  ein  Mann  von  vorurteilslosen 
Gesinnungen.  Auch  der  Senat  entdeckte  plötzlich  philosemi- 
tische  Neigungen  und  übernahm  den  Schutz  der  Hebräer  gegen 
ungesetzliche  Bedrückungen.  Die  Presse  machte  diese  Schwen- 
kung mit.  Selbst  die  Nowoje  Wremja  wurde  judenfreundlich. 
Fürst  Uchtomsky  begann  in  dem  von  ihm  herausgegebenen 
,,PetersburgskijaWjedomosti"  geradezu  einen  Kampf  gegen  alle 
religiöse  und  nationale  Unduldsamkeit.  Professor  Chmerkin 
veröffentlichte  1897  seit  langer  Zeit  zum  ersten  Male  ein  von 
einem  russischen  Christen  verfaßtes  Buch  zur  Verteidigung 
der  Juden:  ,,Die  Folgen  des  Antisemitismus".  Er  wies  darin 
nach,  daß  die  Vertreibung  der  Juden  aus  den  rücht  zum  Rayon 
gehörenden  Gouvernements  seit  1881  für  diese  recht  schlimme 
Folgen  gehabt  hatte.  Die  Staatseinnahmen  hatten  sich  dort 
verhältnismäßig   verringert,    die    Getreideausfuhr   nachgelassen 


Friedliche  Zeiten.  173 

und  zumal  die  feineren  Getreidearten  waren  weniger  exportiert 
worden.  Alles  das  durch  Ausschaltung  der  Juden,  die  die  Ge- 
treideausfuhr hauptsächlich  in  Händen  gehabt  hatten.  Damit 
hatten  sich  Wohlstand  und  Lebenshaltung  der  russischen 
Bauern  wesentlich  verschlechtert.  Man  hatte  die  Maßregel 
mit  dem  Wucher  der  Juden  zu  rechtfertigen  gesucht.  Jetzt 
stellte  es  sich  ziffernmäßig  heraus,  daß  die  Juden  15  bis  25  Pro- 
zent Zinsen  genommen  hatten,  die  christlichen  Wucherer  aber, 
nach  Vernichtung  der  jüdischen  Konkurrenz,  75  bis  200  Prozent 
verlangten.  Die  Pfandleihanstalten,  selbst  in  Petersburg, 
forderten,  von  dem  jüdischen  Wettbewerb  befreit,  36,  60,  ja 
70  Prozent  Zinsen.  Das  alte,  schon  von  Katharina  IL  gerügte 
Laster  der  Russen,  viel  schlimmer,  als  der  Wucher  der  Juden ! 

Diese  nicht  zu  bezweifelnden  Ergebnisse  des  Chmerkinschen 
Buches  wurden  durch  anderweite  Tatsachen  bekräftigt.  Die 
im  Gouvernement  Cherson,  also  im  Rayon,  am  Bug  gelegene 
Hafenstadt  Nikolajew  führte  jährlich  an  88  Millionen  Pud 
(14^  Millionen  Doppelzentner)  Getreide  aus;  davon  die  dortigen 
Juden  allein  63  Millionen  Pud,  also  71,5  Prozent.  Innerhalb 
des  Rayons  gab  es  1893:  5055  Fabriken,  die  für  29  411  600  Rubel 
Waren  erzeugten,  in  den  judenfreien  Gouvernements  —  ab- 
gesehen von  Petersburg  und  Moskau  —  nur  31  Prozent  der 
russischen  Fabriken.  Das  Anwachsen  der  Fabrikstadt  Lodz, 
die  in  den  zwölf  Jahren  zwischen  1885  und  1897  sich  um  135  000 
Einwohner  auf  322  000  vermehrte,  war  in  überwiegendem  Maße 
der  Tätigkeit  der  Juden  zuzuschreiben,  zum  großen  Teile  Aus- 
wanderer aus  Moskau,  dessen  industrielle  Bedeutung  seitdem 
bedeutend  sank. 

Die  russischen  Staatsmänner  verschlossen  sich  nicht  dem 
Eindrucke  dieser  Tatsachen,  sobald  sie  nur  überhaupt  ihre 
leidenschaftlichen  Vorurteile  genügend  zurückdrängten,  um 
kühler  Erwägung  zugänglich  zu  werden.  Die  Ausweisungsmaß- 
regeln wurden  sofort  nach  der  Thronbesteigung  Nikolaus'  II. 
suspendiert,  zunächst  in  dem  Fünfzig-Werst-Grenzbezirk.  Am 
29.  Oktober  1895  erging  dann  ein  Allerhöchster  Befehl  von  all- 
gemeiner Bedeutung:  die  von  Ignatiew  erlassenen  Verbote  der 
Ansiedlung  von  Juden  in  Dörfern  und  Marktflecken  sowie 
sämtliche    in  Kraft   stehende  Ausweisungsanordnungen    gegen 


174  Friedliche  Zeiten. 

die  Juden  sollten  strenger  Prüfung  und  gründlicher  Änderung 
unterzogen  werden.  Die  noch  1895  von  dem  Hetman  der 
Don-,  Terek-  und  Kubankosaken,  Fürsten  Swjatopolsk-Mirski, 
angeordnete  Austreibung  der  Juden  aus  diesen  Gebieten  wurde 
im  März  1896  vom  Zaren  aufgehoben,  und  zwar  auf  eine  Bitt- 
schrift der  Kosaken  selbst,  die  in  den  Juden  die  einzigen  Ab- 
nehmer und  Vertreiber  ihrer  Produkte  fanden.  Ebenso  geschah 
es  im  Kaukasus,  wo  sogar  der  Generalgouverneur  Scheremetjew 
die  Zurücknahme  der  Ausweisungsmaßregeln  betrieb,  weil  die 
Juden  für  das  Wohl  der  christlichen  Bevölkerung  unentbehrlich 
seien.  Solche  Tatsachen  bilden  eine  glänzende  Rechtfertigung 
der  durch  gewissenlose  Verleumdungen  so  oft  angegriffenen 
russischen  Juden. 

Die  Verfügung  des  früheren  Ministers  des  Innern,  Durnowo, 
daß  bei  dem  Bau  der  großen  sibirischen  Durchlandsbahn  Juden 
weder  als  Techniker  noch  als  Ingenieure  angestellt  werden 
dürften,  wurde  Ende  1895  aufgehoben,  und  beinahe  umgehend 
fanden  an  ihr  vierzig  jüdische  Ingenieure  Anstellung.  Ebenso 
wurden  die  350  Juden,  die  von  dem  früher  weit  umfangreicheren 
jüdischen  Beamtenpersonal  der  russischen  Südostbahn  noch 
übrig  geblieben  waren  —  weil  man  keinen  Ersatz  für  sie  gefunden 
hatte   —  endgültig  und  zwar  mit  vollem  Gehalte  beschäftigt. 

Der  Justizmirüster  ließ  1896,  zum  ersten  Male  seit  1890,  meh- 
rere Juden  zur  Rechtsanwaltschaft  zu.  Der  Minister  des  Innern 
hob  die  Verfügung  seines  Vorgängers  auf,  die  Juden  als  Gehilfen 
in  Apotheken  nur  im  Verhältnis  von  fünf  Prozent  gestattet 
hatte.  Die  Regierung  erlaubte  die  Gründung  einer  jüdischen 
Ackerbauschule   für    die   Kolonien  im  Gouvernement  Cherson. 

Jüdische  Soldaten  durften  nieder  zu  Unteroffizieren  be- 
fördert werden.  Eine  solche  Verfügung  war  um  so  gerechter, 
als  die  russischen  Generale  selber  die  Tapferkeit  der  jüdischen 
Soldaten  anerkannten.  Eine  große  x\nzalil  derselben  ging  auf 
den  Kriegsschauplatz  gegen  die  Boxer  in  China  ab  (1900). 
Unter  der  Besatzung  des  1901  erworbenen  mandschurischen 
Port  Arthur  waren  sie  so  zahlreich,  daß  die  Regierung  ihnen  eine 
besondere  Synagoge  erbauen  ließ.  In  der  nach  China  beorderten 
5.  Schützenbrigade  befanden  sich  nicht  weniger  als  700  jüdische 
Soldaten,  für  die  eine  eigene  ThoraroUe  mitgenommen  wurde. 


Friedliche  Zeiten.  175 

Allein  dieses  tadellose  Benehmen  des  jüdischen  Militärs 
konnte  das  gegen  sie  im  Beamtentum  herrschende  Mißtrauen 
nicht  mindern. 

In  ^^elen  einzelnen  Verfügungen  der  Behörden  kam  doch 
der  Buchstabe  der  Maigesetze,  und  zwar  oft  in  recht  drückender 
Auslegung,  zum  Ausdrucke.  Jüdischen  Kranken  wurde  es  ver- 
boten, in  den  kaukasischen,  donschen  und  auch  li\aschen  Kur- 
orten Genesung  zu  suchen;  noch  grausamer  war  der  Befehl 
des  Ministers  des  Innern,  Goremykin,  vom  21.  Juli  1897,  der 
den  kranken  Juden  den  Eintritt  in  die  Kliniken  und  Spitäler 
Moskaus  untersagte.  Einen  Willkürakt  lokaler  Behörden  be- 
deutete es  wohl,  wenn  noch  1895  von  den  in  Smolensk  wohnen- 
den 132  jüdischen  Familien  nicht  weniger  als  111  ausgewiesen 
wurden. 

Im  Laufe  der  Jahre  zeigte  sich  eine  bedenkliche  Neigung, 
in  die  Verfahrungsweise  Ignatiews  und  Tolstois  zurückzufallen. 
Das  Beamtentum  konnte  seine  judenfeindlichen  Neigungen 
nicht  unterdrücken  und  ließ  ihnen  allmählich  wieder  die  Zügel 
schießen.  Es  war  geradezu  eine  Verletzung  der  bestehenden 
Gesetze,  wenn  am  22.  Januar  1899  sogar  den  jüdischen  Kauf- 
leuten für  das  Gouvernement  Moskau  die  Einschreibung  in  die 
erste  Gilde  und  damit  die  AA'ohnungsberechtigung  von  der  Zu- 
stimmung des  dortigen  Generalgouverneurs  und  des  Ministers 
des  Innern  abhängig  gemacht;  wenn  Sibirien  auch  den  sonst 
bevorrechteten  Israeliten  1898  verschlossen  und  1901  die  dort 
seit  lange  ansässigen  Juden  in  ihrem  Niederlassungsrecht  be- 
deutend beschränkt  wurden.  Ebensowenig  wie  den  jüdischen 
Männern  gönnte  man  den  Frauen  freie  EntA^dcklung  zu  liberalen 
Berufen.  Die  Petersburger  medizinische  Frauenuniversität 
durfte  nur  drei  Prozent  Jüdinnen  aufnehmen;  Medizin  oder 
Pharmazie  studierenden  Jüdinnen  wurde  der  Aufenthalt  im 
Gouvernement  Moskau  und  damit  der  Zutritt  zu  den  betreffen- 
den Hochschulanstalten  ganz  untersagt.  Weit  schlimmer  noch 
war  es,  wenn  laut  Rundschreiben  des  Unterrichtsministers 
General  Warmowski,  vom  30.  Oktober  1896,  der  Besuch  der 
Gymnasien,  Real-  und  sonstigen  Sekundärschulen  jüdischen 
Kindern  nur  im  Umfange  von  zehn  Prozent  der  gesamten  Zög- 
linge gestattet  wurde.    Damit  übertrug  man  die  gehässige  Be- 


176  Friedliche  Zeiten. 

schränkung  der  jüdischen  InteUigenz  von  den  Universitäten 
auch  auf  die  höheren  Knabenschulen. 

Die  feindsehge  Gesinnung  des  russischen  Beamtentums 
gegen  die  Juden  sprach  sich  auch  während  des  Frühjahrs  1901 
in  dem  Verbote  aus,  den  Verkehr  deutscher  und  österreichischer 
Juden  in  den  russischen  Grenzlanden  auf  Grund  der  von  den 
auswärtigen  Behörden  gewährten  sogenannten  Halbpässe  zu 
gestatten.  Damit  wäre  den  jüdischen  Kaufleuten  und  Ver- 
mittlern in  den  Grenzlanden  die  Möglichkeit  des  Handels  ge- 
nommen worden.  Doch  gelang  es  den  Bemühungen  der  deut- 
schen Reichsregierung,  dieses  den  geltenden  Verträgen  gerade- 
wegs zuwiderlaufende  Verbot  rückgängig  zu  machen.  Aber 
man  erkannte  doch  dessen   Quelle ! 

Die  einzige  Zuflucht  für  die  russischen  Juden  war  noch  der 
Senat,  in  dem  die  humanen  Anschauungen  einigermaßen  ver- 
treten waren.  Er  vereitelte  1901 — 1903  die  Versuche,  die  An- 
siedlungsfähigkeit  der  Hebräer  noch  mehr  einzuschränken;  er 
verbot  den  Polizeibehörden  in  den  baltischen  Provinzen  sowie 
in  den  Gouvernements  Kiew  und  Wilna  die  willkürliche  Ver- 
treibung angesessener  Juden.  Aber  er  war  in  der  Hauptsache 
gegen  den  Einfluß  eines  Pobjedonoszew  und  Wannowski  ohn- 
mächtig. Hatten  doch  diese  Judenfeinde  das  gesamte  Be- 
amtentum hinter  sich,  das,  von  den  Generalgouverneuren  hinab 
bis  zu  den  Polizeidienern,  bei  seiner  überaus  geringfügigen  Be- 
soldung buchstäblich  zumeist  von  den  Bestechungen  lebte,  die 
ihm  die  Juden  zur  Umgehung  der  unerträglichen  Ausschließungs- 
gesetze bezahlen  mußten.  Das  ganze  Beamtentum  Rußlands 
hatte  und  hat  also  ein  dringendes  Interesse  daran,  daß  diese 
Ausschließungsgesetze  bestehen  und  womöglich  noch  verschärft 
werden.     Desto  reichlicher  mußten  ihm  die  Juden  zahlen. 

Immer  mehr  verfiel  der  schwache  Zar  seiner  panslawdstisch- 
orthodoxen  Umgebung  —  derselbe  Zar,  der  zwar  1898  die  inter- 
nationale Friedenskonferenz  in  Haag  organisierte,  aber  zugleich 
gegen  die  Freiheit  Finnlands  tödliche  Streiche  führte.  Das 
Kischinewjahr  1903  brachte  den  Abschluß  der  Maßregeln,  die 
den  Juden  den  Bodenbesitz  entzogen  und  ihnen  den  Ackerbau 
unmöglich  machten:  am  10.  Mai  wurde  ihnen,  auch  außerhalb 
des  Ansiedlungsbezirkes,  verboten,  Ländereien  zu  kaufen,  zu 


Friedliche  Zeiten.  177 

pachten  oder  zu  verwalten.  Sie  wurden  auf  Industrie,  Handel 
und  Kleinkram  beschränkt,  damit  man  sie  dann  aJs  unproduk- 
tive Blutsauger  des  christlichen  Volkes  denunzieren  könne. 

Und  schon  lange  vorher  waren  Zehntausende  sonstiger 
jüdischer  Familien  brotlos  gemacht  worden:  durch  Einführung 
des  staatlichen  Branntweinmonopols  im  Westen  des  Reiches 
(1896).  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die  Regierung  weder 
in  den  Brennereien  noch  bei  den  Groß-  und  Kleinbetrieben 
Juden  anstellte.  So  wurde  der  Kreis  der  diesen  freistehenden 
Beschäftigungen  immer  enger  gezogen. 

Dazmschen  gab  es  wieder  einzelne  Pöbelunruhen  gegen  die 
Juden,  meist  sorgfältig  von  den  Antisemitenführern  vorbereitet, 
vfie  in  Nikolajew  (1900),  wo  ein  Jude  getötet,  zwanzig  ver- 
wundet wurden,  und  in  Czenstochau,  wo  die  Behörden  nicht 
weniger  als  800  Personen  verhafteten.  Diese  Exzesse  wurden 
zwar  blutig  unterdrückt,  aber  erst,  wenn  sie  Menschen  und  Hab 
und  Gut  ernstlich  geschädigt  hatten.  So  bereitete  sich  Furcht- 
bareres vor.  Der  heitere  Horizont,  der  im  Beginne  von 
Nikolaus'  II.  Regierung  den  Juden  geleuchtet,  hatte  sich  längst 
wieder  verfinstert. 


Philippsoii,   Neueste  Geschichte  der  Juden,  D<1.  IM.  '2 


Kapitel  Zwei. 

Revolution  und  Krieg. 


J_Jie  verderbliche  und  aufregende 'Vermischung  angeblich 
friedlicher  Richtung  und  panslawistischer,  absolutistischer  und 
nach  außen  weit  ausgreifender  Bestrebungen  rief  nach  allen 
Seiten  hin  die  schwersten  Verwickelungen  für  Rußland  hervor: 
Revolution  und  Krieg  hat  diese  in  sich  unwahre,  widerspruchs- 
volle Regierung  zur  Folge  gehabt. 

Sie  trug  geflissentlich  in  den  äußeren  Verhältnissen  die 
friedlichsten  Absichten  zur  Schau.  Aber  dabei  betrieb  sie  mit 
der  der  russischen  Politik  eigenen  Mischung  von  Unaufrichtig- 
keit  und  unbedenklicher  Gewaltsamkeit  die  Ausdehnung  des 
russischen  Einflusses  und  der  russischen  Macht.  Der  Zar  schloß 
ein  intimes  Bündnis  mit  der  französischen  Demokratie  und 
legte  dadurch  den  etwaigen  Widerspruch  des  deutsch-öster- 
reichisch-italienischen Dreibundes  gegen  seine  Vergrößerungs- 
pläne brach.  Man  führte  durch  Vertrag  mit  dem  zerrütteten 
und  ohnmächtigen  China  die  Verlängerung  der  sibirischen  Bahn 
durch  die  diesem  Reiche  gehörige  Mandschurei  bis  zu  einem 
eisfreien  Hafen  am  Stillen  Ozean;  dieser  Hafen  wurde  in  Port 
Arthur  gefunden,  das  Rußland  sich  1898  von  China  ,, verpachten", 
das  heißt  abtreten  ließ.  Im  Jahre  1902  war  die  gewaltige  Bahn 
vollendet,  die  vom  Ural  bis  Port  Arthur  und  Wladiwostok  in 
der  russisch-sibirischen  Küstenprovinz  führte.  Letzteres  sollte 
zu  einem  uneinnehmbaren  Kriegshafen  umgestaltet  werden.  Und 
wie  die  Mandschurei,  so  verfiel  auch  das  chinesische  Vasallenland 
Korea  immer  mehr  dem  russischen  Einfluß.  Die  Beherrschung 
des  gesamten  asiatischen  Ostens,  der  Westküste  des  Stillen 
Ozeans  wurde  das  offenbare  Ziel  der  Petersburger  Regierung. 


Revolution  und  Krieg.  179 

Aber  auch  in  Mittelasien  drang  diese  unaufhörlich  vor.  Sie 
bedeckte  es  mit  einem  sich  schnell  entAvickelnden  Eisenbahn- 
netze. Indem  sie  auch  in  Persien  Chausseen  und  Eisenbahnen 
baute  und  diesem  Lande  eine  beträchtliche  Anleihe  gewährte, 
verpflichtete  es  sich,  binnen  75  Jahren  nur  bei  Rußland  Geld 
aufzunehmen.  Eine  russische  Dampferlinie  erhielt  das  Privileg 
des  Verkehrs  im  Persischen  Meerbusen.  Der  Schah  errichtete 
eine  Kosakenbrigade  nach  russischem  Muster,  die  von  russischen 
Offizieren  exerziert  und  befehligt  wurde.  So  verbannte  Rußland 
aus  dem  viel  umstrittenen  Persien  den  englischen  Einfluß  und 
unterwarf  es  vollständig  seiner  eigenen  Oberherrschaft,  auf 
finanziellem  wie  militärischem  Gebiet.  Und  dann  richtete  es 
sein  Augenmerk  auf  Tibet,  das  dem  Rechte  nach  zu  China  ge- 
hörte, aber  zugleich  eine  Vormauer  für  die  englische  Herrschaft 
in  Indien  ausmachte.  Russische  Intrigen  beherrschten  den  Hof 
von  Lhassa,  und  der  Tribut,  den  Tibet  früher  nach  China  ge- 
sandt, nahm  nunmehr  den  Weg  nach  St.  Petersburg.  Das  zweite 
Vorland  Indiens,  von  England  bisher  mit  der  äußersten  Eifer- 
sucht bewacht,  war  Afghanistan.  Auch  hierher  zogen  sich  die 
russischen  Eisenbahnen,  die  es  dem  Zaren  erlaubten,  zu  einem 
ihm  beliebigen  Zeitpunkte  große  Massen  von  Truppen  bis  vier 
Tagemärsche  von  der  Hauptstadt  Herat  zu  werfen. 

Am  eifrigsten  jedoch  wurden  die  Pläne  in  Ostasien  verfolgt. 
Rußland  benutzte  den  Boxeraufstand  in  China,  um,  angeblich 
zur  Sicherung  der  Mandschurei,  diese  mit  seinen  Truppen  zu 
besetzen.  Freilich  schloß  es  unter  dem  Drucke  Amerikas,  Eng- 
lands und  Japans  1902  mit  China  einen  Vertrag,  nach  dem  es 
in  drei  Etappen  die  Mandschurei  zu  räumen  versprach.  Allein 
es  führte  dieses  Abkommen  in  keiner  Weise  aus,  richtete  viel- 
mehr für  die  chinesische  Provinz  eine  russische  Verwaltung  ein. 
Es  war  offenbar,  daß  es  die  Mandschurei  als  sein  Eigentum 
betrachtete  und  behandelte.  Unter  lächerlichen  Vorwänden 
verlegte  es  sogar  seine  Soldaten  auf  das  östliche  Ufer  des  Jalu- 
Flusses,  auf  koreanisches  Gebiet.  Der  Krieg  mit  Japan,  das  sich 
nicht  die  hauptsächlichen  Absatzgebiete  für  seine  Industrie, 
Korea  und  China,  rauben  lassen  durfte,  wurde  unvermeidlich. 

Und  auch  im  Innern  Rußlands  häufte  sich  der  Zündstoff  in 
gefahrdrohender  Weise   an.       Die   gesamte   Arbeiterschaft   der 

12* 


180  Revolution  und  Krieg. 

Fabriken  wurde  von  sozialdemokratischen  Strömungen  er- 
griffen und  veranstaltete  zahlreiche  Unruhen.  Ebenso  die  Land- 
bevölkerung, die  unter  der  künstlichen  Förderung  der  Getreide- 
ausfuhr vielfach  von  Hungersnöten  zu  leiden  hatte,  und  die 
durch  die  sich  stets  steigernden  Steuern  unrettbar  verarmte. 
Die  studierende  Jugend  war  über  die  immer  zunehmenden  Be- 
schränkungen des  Unterrichts  an  den  höheren  Lehranstalten 
tief  erbittert ;  auch  unter  ihr  kam  es  zu  häufigen  Unruhen.  Die 
panslawistischen  Maßregeln  der  Regierung  erzeugten  in  Finn- 
land, den  baltischen  Provinzen  und  Armenien  eine  umfassende 
revolutionäre  Bewegung.  Die  allgemeine  Unzufriedenheit  war 
derart  angewachsen,  daß  sie  durch  einige  Zugeständnisse  nicht 
gemildert  wurde ;  um  so  weniger,  als  neben  dem  freier  gesinnten 
Finanzminister  Witte  der  Minister  des  Innern,  von  Plehwe,  den 
äußersten  bureaukratischen  und  absolutistischen  Standpunkt 
vertrat. 

Es  machte  sich  infolge  dieses  Gegensatzes  zwischen  den 
Regierten  und  den  Regierenden,  bei  diesen  immer  bedrohlicher 
für  die  Juden,  ein  Umschwung  in  den  Anschauungen  geltend. 
Bis  vor  kurzem  hatten  gegen  sie  bei  den  Machthabern  Vor- 
urteile geherrscht,  aber  man  hatte  doch  gehofft,  sie  mit  der  Zeit 
zu  wünschenswerten  Untertanen  des  Zaren,  mit  Güte  oder  mit 
Härte  erziehen  zu  können.  Selbst  die  Gewaltsamkeiten  und 
Zwangsmittel  hatten  diesem  Zwecke  dienen  sollen.  Aber  seit 
dem  Regierungsantritte  Alexanders  III.,  seit  dem  Vorwiegen 
des  unseligen  Einflusses  Pobjedonoszews,  war  das  anders  ge- 
worden. Seitdem  wurde  die  jüdische  Bevölkerung  als  der  Herd 
aller  gegen  das  Zarentum  gerichteten  liberalen,  sozialistischen 
und  nihilistischen  Umtriebe  betrachtet  oder  doch  ausgegeben 
—  denn  die  Beteiligung  der  Juden  an  diesen  Bewegungen  wurde 
ungeheuer  übertrieben  —  und  es  wurde  als  Ziel  hingestellt,  die 
Israeliten  mit  allen  Mitteln  zum  Verlassen  Rußlands  zu  nötigen. 
Nicht  Hebung,  Förderung,  Russifizierung  der  dortigen  Juden, 
sondern  ihre  Vernichtung  wurde  die  Aufgabe,  die  man  sich 
stellte.  Diese  Anschauung  brachten  die  Pobjedonoszew  und 
Genossen  endlich  auch  dem  schwachen ,  ohnehin  mystisch 
leichtgläubigen  Nikolaus  IL  bei ;  sie  verkündeten  laut  und  offen 
der  mächtigste  unter  den  Ministern,  von  Plehwe,    und  dessen 


Revolution  und  Krieg.  181 

Geschöpfe.  Der  Finanzminister  von  Witte,  der  aus  Rücksicht 
auf  die  europäische  und  amerikanische  Finanzwelt  solchem  un- 
geheuerlichen Wüten  gegen  fünf  bis  sechs  Millionen  friedlicher 
Menschen  Einhalt  zu  tun  bestrebt  war,  wurde  1903  gestürzt. 
,,Wir  werden,"  sagte  damals  Plehwe  einer  jüdischen  Deputation 
aus  Odessa,  ,,eure  Lage  in  Rußland  so  unerträglich  machen,  daß 
die  Juden  bis  auf  den  letzten  Mann  Rußland  werden  verlassen 
müssen.  Die  Juden  bilden  in  Südrußland  neunzig,  im  inneren 
Rußland  vierzig  Prozent  der  Revolutionäre."  Diese  Fest- 
stellungen waren,  wie  später  die  statistischen  Erforschungen 
nachwiesen,  gewaltig  übertrieben ;  aber  selbst  wenn  sie  der  Wahr- 
heit entsprächen,  hatte  sich  der  Minister  nicht  die  Frage  vor- 
gelegt, ob  man  nicht  dadurch,  daß  man  die  Juden  bedrückte 
und  beschimpfte,  von  den  liberalen  Laufbahnen,  vom  Grund- 
besitze und  Ackerbau  ausschloß,  in  den  engen  Ansiedlungsrayon 
zusammenpferchte,  gerade  die  Tüchtigen  und  Strebsamen  mit 
Gewalt  in  die  Reihen  der  Unzufriedenen  und  der  Feinde  der 
bestehenden  Ordnung  trieb,  und  ob  nicht  Gerechtigkeit  und 
Duldung  den  Juden  volles  Genüge  geben  und  sie,  wie  in  anderen 
Staaten,  zu  ruhigen  und  gemäßigt  denkenden  Bürgern  machen 
würde  ?  Die  Juden  sind  an  und  für  sich  ein  durchaus  konser- 
vatives Volk,  wie  ihr  jahrtausendlanges  treues  Beharren  bei 
dem  überlieferten  Religionsgesetz  deutlich  erweist;  und  in  den 
Ländern,  wo  man  ihnen  Freiheit  und  Gleichberechtigung  ge- 
währt hat,  findet  man  sie  noch  in  ihrer  großen  Melirheit  auf 
selten  der  konservativen  und  gemäßigt  liberalen,  nicht  der 
radikalen  Parteien.  Allein  die  damalige  russische  Regierung 
kannte  nur  Gewalt,  Unterdrückung,  Vernichtung.  Die  Juden 
sind  Feinde  des  russischen  Glaubens  und  Volkes  —  also  muß  das 
russische  Volk  sich  ihrer  entledigen.  Alle  offiziellen  und  offi- 
ziösen Zeitungen  der  Regierung  stimmten  in  diesen  Ton  ein. 

Und  es  blieb  nicht  bei  Worten.  Das  Programm,  den  Juden 
den  Aufenthalt  in  Rußland  unerträglich  zu  machen,  wurde  mit 
eiserner  Folgerichtigkeit  durchgeführt.  Aus  der  Petroleum- 
gegend von  Baku,  aus  Südsibirien  und  dem  Transbaikalgebiet, 
aus  dem  Kaukasus,  ja  aus  der  eigentlich  China  gehörigen  Mand- 
schurei wurden  sie  ausgewiesen.  Dabei  ging  die  Razzia  auf  die 
angeblich  ungesetzlich  im  Innern  Rußlands  wohnenden  Juden 


182  Revolution  und  Krieg. 

fröhlich  ^vieder  los  —  die  Abschaffung  der  Meisterbriefes  nahm 
den  jüdischen  Handwerkern  jede  Möglichkeit,  sich  als  solche 
der  Polizei  gegenüber  zu  legitimieren.  Um  sie  nicht  wirtschaft- 
lich in  die  Höhe  kommen  zu  lassen,  verhinderte  man  sie  an  der 
Gründung  von  Kreditgenossenschaften.  Die  jüdischen  Indu- 
striellen durften  außerhalb  des  Ansiedlungsrayons  keinen  Grund 
und  Boden  zur  Anlegung  von  Fabriken  erwerben.  Am  10.  Mai 
1903  wurde  für  alle  außerhalb  des  Rayons  liegende  Gouverne- 
ments der  Abschluß  von  Verträgen  verboten,  die  den  Juden  ent- 
weder den  Besitz  oder  die  Benutzung  von  ländlichen  Grund- 
stücken zusichern  oder  die  Möglichkeit  bieten,  gegen  Verpfändung 
derartiger  Immobilien  Geld  zu  verleihen.  Die  Erbauung  neuer 
Synagogen  wurde  verboten,  ja  das  Abhalten  von  Gottesdienst 
in  privaten  Räumen  untersagt  und  gelegentlich  mit  schweren 
Strafen  belegt. 

Endlich  griff  man  zur  brutalen  Gewalt.  Verwaltung  und 
Polizei  hetzten  die  Massen  gegen  die  Juden  auf.  Ungescheut 
durften  die  Agitatoren  gegen  diese  wüten.  Die  sonst  so  strenge 
Zensur  duldete  in  den  Zeitungen  die  blutigsten  Angriffe  auf  die 
Hebräer,  sowie  die  direkten  Aufforderungen  sie  totzuschlagen. 
Diese  Zeitungen  wurden  sogar  von  der  Regierung  mit  Geld 
unterstützt.  Man  bearbeitete  systematisch  die  öffentliche  Mei- 
nung zuungunsten  der  Juden ,  um  diese  als  unversöhnliche 
Gegner  des  Vaterlandes  und  des  Glaubens  darzustellen.  Be- 
sonders hatte  man  es  auf  das  stets  judenfeindliche,  weil  in  seiner 
Mehrheit  von  Moldauern  (Rumänen)  bewohnte  Gouvernement 
Bessarabien  abgesehen.  Der  Antisemitismus  war  in  dieser  Pro- 
vinz besonders  von  dem  Journalisten  Kruschewan  in  seinem 
Blatte  ,,Bessarabetz"  gefördert  worden,  dessen  Mitarbeiter  auch 
der  Vizegouverneur  von  Kischinew,  Ustrugow,  der  dortige 
Untersuchungsrichter  Dawidow  sowie  der  gefährliche  Agitator 
Pronin  waren.  Die  durch  jene  würdigen  Herren  vertretene 
Regierung  unterstützte  die  Zeitung  aus  öffentlichen  Mitteln. 
Kruschewan  und  seine  Verbündeten  begründeten  einen  rein 
christlichen  ,,Wohltätigkeits verein",  der  der  Mittelpunkt  der 
Hetze  gegen  die  Juden  wurde,  zu  der  die  Zeitung  ,,Bessarabetz" 
unaufhörlich  in  den  wütendsten  Ausdrücken  aufforderte.  In 
den  Jahren  1902  und  1903  benutzte  man  besonders  das  Märchen 


Revolution  und  Ivrieg.  183 

vom  Ritualmorde,  um  die  christliche  Bevölkerung  immer  mehr 
gegen  die  Juden  zu  fanatisieren.  Die  Polizeibehörde,  ja  der 
Bischof  nahmen  an  den  blutigen  Verleumdungen  und  Angriffen 
gegen  diese  teil.  Ungescheut  wurden  angebliche  Befehle  des 
Zaren  und  des  Heiligen  Synods  verbreitet,  die  erlaubten,  während 
der  drei  Ostertage  des  Frühlings  1903  ,,mit  den  Juden  ein  blu- 
tiges Gericht  zu  halten."  Am  Ostersonntag,  6.  April,  ging  die 
schändliche  Saat  in  der  Stadt  Kischinew  furchtbar  auf.  In 
24  Abteilungen  stürzten  sich  Exzedenten,  alles  gleichmäßig  in 
rote  Hemden,  die  Festtracht  des  russischen  Arbeiters,  gekleidete 
Männer,  auf  die  jüdischen  Häuser  und  Läden,  verwüsteten  und 
beraubten  sie.  Dabei  wurden  sie  von  den  wohlhabenden  Kreisen 
der  christlichen  Bevölkerung  und  der  Polizei  ermutigt,  die  den 
Raub  mit  den  Exzedenten  teilten.  Bald  darauf  erfolgten  die 
ersten  Mordtaten  an  Juden.  Die  Polizei  sah  untätig  zu.  Der 
Polizeimeister  (Direktor)  Chanschenkow  Avurde  von  den  Räubern 
gefragt:  ,,Darf  man  die  Juden  erschlagen  ?"  Er  fuhr  ohne  Ant- 
wort weiter  und  billigte  dadurch  offenbar  die  Morde,  für  die  er 
somit  in  erster  Linie  verantwortlich  wurde.  Wenn  sich  einzelne 
Juden,  wie  die  Fleischhauer  auf  dem  Platze  Nowi-Bazar,  zur 
Wehr  setzten,  wurden  sie  von  der  Polizei  verhaftet. 

Der  Unterstützung  durch  die  Regierung  gewiß ,  organi- 
sierte eine  Anzahl  von  gebildeten  Schuften  unter  der  Leitung 
des  Notars  Pissarschewsky  in  der  Nacht  vom  6.  zum  7.  April  die 
weitere  Metzelei.  Sie  zogen  neue  Kämpfer  heran,  versahen  ihre 
Leute  mit  Waffen,  markierten  die  jüdischen  Häuser.  Aus  den 
benachbarten  Dörfern  holte  man  die  Bauern  herbei :  sie  sollten 
große  Säcke  zur  Bergung  der  geplünderten  Güter  mitbringen. 

Um  drei  Uhr  nachts,  auf  ein  gegebenes  Signal,  ging  das 
Rauben  und  Morden  an,  mit  einem  Blutdurst  und  einer  Besti- 
alität ohnegleichen.  Es  dauerte  bis  acht  Ulir  abends.  49  Juden 
Avurden  getötet,  einhundert  schwer,  viele  Hunderte  leicht  ver- 
wundet, zum  Teil  unter  unerhörten  Martern.  Frauen  und 
Mädchen  wurden  vor  den  Augen  ihrer  Angehörigen  vergewaltigt, 
Kinder  verstümmelt  und  zerrissen.  Kein  Polizist,  kein  Soldat 
rührte  sich  für  die  Unglücklichen.  Der  Gouverneur  verweigerte 
jede  Hilfe.  Ja  die  Polizisten  wiesen  den  Räubern  systematisch 
die  jüdischen  Häuser  an  und  beteiligten  sich  an  den  Mordtaten 


184  Revolution  und  Krieg. 

und  Plünderungen.  Die  ,,gute  Gesellschaft"  sah  dem  allem 
lachend  und  wohlgefällig  zu.  Man  duldete  nicht,  daß  die 
verwundeten  Juden  in  die  Hospitäler  gebracht  wurden.  Die 
Synagogen  wurden  geplündert,  verunreinigt,  zerstört.  Juden, 
die  sich  durch  die  Eisenbahn  retten  wollten,  erhielten  keine 
Billette  und  wurden  von  den  Eisenbahnarbeitern  und  sonstigen 
Beamten  angefallen. 

Allmählich  nahmen  auch  die  Soldaten  an  den  Greueln 
Anteil,  unter  den  ermunternden  Zurufen  der  Offiziere.  ,,Das 
Militär  ist  gekommen,  um  uns  vor  den  Juden  Schutz  zu  ge- 
währen", riefen  frohlockend  die  plündernden  Bauern. 

Nur  die  reichen  Juden  blieben  unbehelligt,  da  sie  Polizisten 
und  Offiziere  für  ihre  Beschützung  mit  Hunderten,  ja  Tausenden 
von  Rubeln  bezahlten.  Wenige  Christen,  unter  ihnen  der  Bürger- 
meister von  Kischinew,  Alexander  Schmidt,  nahmen  sich  selbst- 
los nach  Kräften  der  Bedrängten  an. 

Viele  Stunden  lang  hatte  der  Minister  des  Innern,  Plehwe, 
jede  telegraphische  Anordnung  für  Kischinew  verzögert.  Erst 
um  5  Uhr  nachmittags  befahl  er  Unterdrückung  der  Unruhen. 
Das  Kriegsrecht  wurde  verkündet,  die  Soldaten  rückten  ge- 
schlossen an  —  und  mit  einem  Schlage,  ohne  daß  ein  Schuß 
fiel,  verschwanden  Räuber  und  Mörder.  Der  beste  Beweis, 
daß  diese  nur  mit  der  Einwilligung  der  staatlichen  Gewalten 
gehandelt  hatten,  daß  hier  nicht  von  Volksleidenschaften, 
sondern  von  künstlicher  Mache  durch  offizielle  und  nicht- 
offizielle Agitatoren   die  Rede  war. 

Eine  weitere  Tatsache.  Auf  Hinweis  des  Gouverneurs, 
von  Raaben,  wurde  der  Geldschrank  des  Mendel  Rudis  auf- 
gebrochen und  seines  Inhalts  von  65  000  Rubel  beraubt.  Dabei 
erhielten  die  Polizei  und  am  folgenden  Morgen  Exzellenz  von 
Raaben  ihren  vollgemessenen  Anteil.  Als  später  die  Anwälte 
der  Juden  vor  Gericht  eine  Anklage  gegen  die  Räubergenossen 
forderten,  lehnte  der  Gerichtshof  das  Verlangen  auf  Befehl 
Plehwes  ab. 

Abgesehen  von  dem  Verluste  an  Leben  und  Gesundheit 
—  13  Juden  waren  noch  ob  der  Greuelszenen  dauernd  irrsinnig 
geworden  —  betrug  der  materielle  Schaden  zwei  Millionen 
Rubel.    Achthundert  Häuser  oder  Läden  waren  geplündert  oder 


Revolution  vmd  Krieg.  185 

zerstört.  Aber  noch  verderblicher  als  diese  Dinge  an  sich 
waren  die  Folgen,  die  sie  für  die  Zukunft  mit  sich  brachten: 
die  Aufstachelung  des  Fanatismus,  der  Blutgier  und  Raubsucht, 
die  Sicherheit  der  Nichtbestrafung  für  alle  an  Juden  verübten 
Mord-  und  Raubtaten.  Eine  blutige  Saat  war  hier  ausgestreut, 
die  hundertfältig  aufgehen  sollte.  Auch  früher  hatte  der  rus- 
sische Pöbel  schon  Judenverfolgungen  ins  Werk  gesetzt.  Aber 
das  Neue,  das  Unerhörte  war,  daß  solche  von  der  Regierung  vor- 
bereitet, betrieben,  unterstützt  und  endlich  mit  giftigem  Spotte 
gegen  die  Opfer  beschlossen  wurden. 

Denn  der  Prozeß  gegen  die  Unruhestifter  gestaltete  sich 
geradezu  zu  einem  Hohn  auf  die  Justiz.  Die  Untersuchungs- 
richter ließen  alle  Höherstehenden  unter  den  Verhafteten  frei, 
schüchterten  die  Belastungszeugen  durch  scharfe  Drohungen 
ein  und  schrieben  deren  Aussagen  nicht  nieder.  Als  der  Gerichts- 
hof selber  in  Tätigkeit  trat,  wurde  ihm  auf  das  bestimmteste 
untersagt,  den  Ursprung  des  Aufruhrs  zu  behandeln.  Es  kam 
zu  Gerichtsbeschlüssen,  wie:  ,, Obgleich  der  Antrag  der  Zivil- 
kläger berechtigt  ist,  hat  doch  der  Gerichtshof  beschlossen,  ihm 
nicht  stattzugeben".  Die  Sachwalter  der  Juden  —  fast  alles 
christliche  Anwälte  —  wurden  derart  in  ihrer  gesetzlichen  Tätig- 
keit beschränkt,  daß  sie  sämtlich  mit  Ausnahme  von  zweien, 
ihr  Amt  niederlegten.  Es  mußte  ja  unter  allen  Umständen  ver- 
hütet werden,  daß  es  klar  werde,  wie  die  ganzen  Greviel  von 
den  Behörden  angestiftet  und  unterstützt  worden  waren.  Es 
kam  nur  zu  verhältnismäßig  wenigen  Verurteilungen,  die  An- 
stifter gingen  straflos  aus.  Nur  der  Notar  Pissarschewsky  nahm 
sich  aus  Furcht  vor  Strafe  selber  das  Leben. 

Die  Parteinahme  der  Regierung  gegen  die  Juden  zeigte  sich 
noch  deutlicher  einige  Monate  später  in  der  im  Gouvernement 
Mobile w  gelegenen  Stadt  Homel. 

Hier  bildeten  die  Juden  die  Mehrheit  der  Bevölkerung  — 
20  400  Seelen  unter  36  800 ;  sie  betrieben  vor  allem  den  Hopfen- 
handel, dessen  Mittelpunkt  für  das  russische  Reich  Homel  ist. 
Eine  Schlägerei  zwischen  Juden  und  Christen,  am  29.  August 
1903,  bei  der  jene  die  Oberhand  behielten,  gab  den  Vorwand 
zum  Beginn  eines  längst  vorbereiteten  und  angekündigten  Po- 
groms, das  am  1.  September,  einem  Markttage,  ausbrach.    Der 


lj^5  Re\olution  und  Krieg. 

Polizeimeister  hatte  die  Juden  beruhigt;  das  Einrücken  einer 
bedeutenden  MiUtärmacht  stimmte  sie  ganz  sicher.  Aber  Polizei 
und  Soldaten  sahen  untätig  zu.  als  Eisenbahnarbeiter  und 
Bauern  das  Werk  der  Zerstörung  begannen.  Ja,  als  die  Juden 
gegen  die  Aufrührer  vorgingen,  traten  ihnen  die  Soldaten  in 
geordneten  Scharen  entgegen  und  zwangen  sie,  sich  zu  zer- 
streuen. So  oft  die  Juden  die  Plünderer  vertrieben,  drängten 
die  Soldaten  jene  zurück,  ja  schössen  auf  sie,  um  den  Räubern 
Raum  zu  schaffen.  Nachdem  das  Werk  der  Mißhandlung  und 
Zerstörung,  des  Mordens  und  Stehlens  lange  genug  gedauert 
hatte,  machte  der  Polizeimeister  der  Sache  ein  Ende,  indem  er 
nunmehr  auf  die  Plünderer  schießen  ließ. 

Als  am  3.  September  der  Gouverneur  der  Provinz  Mohilew, 

Klingenberg  —  vde  Plehwe,  ein  echt  russischer  Name  !  —  nach 

Homel  kam,  zeigte  er  sich  sehr  erzürnt  —  gegen  die  Juden.    Er 

fuhr  sie  an:  sie  trügen  alle  Schuld  an  dem  Vorgefallenen.    ,,In 

den  Gymnasien,"  sagte  er,  ,,verfüliren  die  Juden  die  Jugend, 

in  der  Universität  rühren  die  Zusammenrottungen  von  Juden 

her.     Überhaupt  sind  die  Juden  jetzt  frech,  ungehorsam,  sie 

haben  jede  Achtung  vor  den  Behörden  verloren.  In  diesen  Tagen 

wurde  meine  Frau  von  einem  Radfahrer  überfahren.    Wer  war 

das  ?    Ein  Jude.    Auf  der  Straße  treffe  ich  einen  Gymnasiasten 

mit  einer  Zigarette  im  Munde.    Er  geht  vorüber,  ohne  mich  zu 

grüßen.    Wer  ist  das  ?   Wiederum  ein  Jude.    Eine  Gymnasiastin 

streift  meine  Frau,  während  sie  sich  gerade  anzieht,  mit  dem 

Ärmel.  Befragt,  warum  sie  sich  nicht  entschuldige,  antwortet  sie : 

,Ich  habe  es  nicht  bemerkt'.     Wer  war  das  ?    Eine  Jüdin.    Hier 

meine  Herren,  liegen  die  Ursachen.     Sie  haben  selber  schuld. 

Die  Regierung  ist  unparteiisch,  und  ich  bin  unparteiisch,  und  in 

meiner  Unparteilichkeit  sage  ich  Ihnen :  Sie  haben  selber  schuld." 

Diese  Äußerungen  sind  für  die  Stimmung  und  die  Ansichten 

der  offiziellen  ,, Gesellschaft"  in  Rußland  überaus  bezeichnend. 

Wenn  der  Jude  sich  nicht  demütig  duckt,  muß  man  ihn  auf  den 

Kopf  hauen.    Wie  kann  er  sich  dem  echten,  dem  rechtgläubigen 

Russen  gleichberechtigt  fühlen  ? 

Im  gleichen  Sinne  wurde  auch  der  Prozeß  wegen  dieser 
Vorgänge  geführt.  Nicht  nur,  daß  vorher  die  Entlastungszeugen 
sorgfältig  von  ihren  Vorgesetzten  und  Höherstehenden  instruiert 


Revolution  uiid  Ivrieg.  187 

wurden,  wie  sie  auszusagen  hätten.  Nicht  nur,  daß  man  die  Aus- 
sagen der  mißhandelten  und  ausgeraubten  Juden  ganz  einfach 
unbeachtet  ließ.  Die  Anklageschrift  legte,  entsprechend  den 
Äußerungen  des  Gouverneurs,  alle  Verschuldung  den  Juden  bei. 
Frech,  erbitterte  Feind  des  Christentums  und  der  Christen  über- 
haupt, hätten  sie  Rache  für  Kischinew  nehmen  wollen.  Deshalb 
seien  sie  feindlich  gegen  die  Rechtgläubigen,  ja  gegen  Polizei  und 
Militär  vorgegangen.  Die  eigentlichen  Verhandlungen  hatten 
nicht  den  Zweck,  die  Wahrheit  und  die  Schuldigen  zu  ermitteln, 
sondern  nur  die  Angaben  der  Anklageschrift  zu  erhärten,  und 
Avurden  mit  beispielloser  Willkür  geführt.  Die  Verteidiger  der 
jüdischen  Angeklagten  wurden  von  dem  Vorsitzenden  auf  das 
brutalste  mißhandelt,  bis  sie  alle,  unter  Billigung  ihrer  Klienten 
selbst,  die  Verteidigung  niederlegten.  Indessen  war  der  wahre 
Verlauf  der  Dinge  so  überzeugend,  daß  die  Drahtzieher  der 
ganzen  Sache  beschlossen,  sie  im  Sande  verlaufen  zu  lassen. 
Neben  18  Juden  AATirden  16  Christen  zu  geringfügigen  Strafen 
verurteilt  und  überdies  alle,  Juden  Avie  Christen,  vom  Gerichts- 
hof dem  Kaiser   zur   Begnadigung  empfohlen. 

Mit  Recht  schloß  aus  diesem  Ausgange  die  Zeitung  ,,Prawo"  : 
,,Wenn  sowohl  die  jüdischen  wie  die  christlichen  Angeklagten 
nur  im  geringen  Maße  an  den  Morden,  Plünderungen  und  son- 
stigen Gewalttaten  schuld  sind,  so  muß  sich  doch  jedermaim 
fragen:  wer  ist  dann  der  wirkliche  Schuldige  ?  Für  den,  der  den 
Gang  der  gerichtlichen  Untersuchung  aufmerksam  verfolgt  hat, 
kann  es  nur  eine  Antwort  geben:  dieser  Schuldige  ist  die  politi- 
sierende Bureaukratie.  Dieser  Schuldige  saß  nicht  auf  der  An- 
klagebank, aber  er  ist  verurteilt.  Der  bessere  Teil  der  russischen 
Gesellschaft  und  ganz  besonders  die  Juden  lechzten  nach  Ge- 
rechtigkeit und  erwarteten  mit  Sehnsucht  die  Ermittelung  der 
Wahrheit,  aber  gerade  dieser  Schuldige  scheute  die  Wahrheit 
und  verhüllte  sie  durch  eine  allgemeine  Amnestie". 

Sicherlich  hätte  dieses  Beamtentum  seine  Bemühungen,  die 
allgemeine  Unzufriedenheit  des  Volkes  auf  die  Juden  abzu- 
lenken, noch  weiter  fortgesetzt,  wenn  nicht  die  Hochflut  po- 
litischer und  kriegerischer  Ereignisse  ihre  Aufmerksamkeit  und 
die  populären  Leidenschaften  nach  einer  anderen  Richtung  ge- 
wandt hätte. 


188  Revolution  und  Krieg. 

Die  rücksichtslose  Verletzung  der  bestehenden  Verträge  und 
die  off  enbaren  Eroberungspläne  Rußlands  in  Ostasien  bestimmten 
Japan  zu  dem  mutigen  Entschlüsse,  den  Kampf  mit  dem  rus- 
sichen  Kolosse  aufzunehmen.  Am  9.  Februar  1904  begannen  die 
Japaner  ihn  mit  dem  Überfalle  der  feindlichen  Flotte  auf  der 
Reede  von  Port  Arthur.  Bald  darauf  erzwangen  sie  den  Über- 
gang über  den  Jalufluß  und  drangen  in  die  Mandschurei  ein, 
deren  südliche  Hälfte  mit  der  Hauptstadt  Mukden  sie,  trotz 
der  immer  mehr  anwachsenden  russischen  Übermacht ,  in 
Aviederholten  Siegen  eroberten.  Inzwischen  besetzten  sie  Korea, 
und  am  2.  Januar  1905  fiel  auch,  nach  furchtbaren  japa- 
nischen Verlusten,  der  wichtige  Kriegshafen  Port  xA.rthur  in 
ihre  Hände. 

Am  niederschlagendsten  für  Rußland  war  aber  das  Schick- 
sal seiner  großen  Flotte  unter  Roschdestwensky.  Nur  sehr  zögernd 
hatte  dieser  Admiral  mit  seinem  veralteten  und  schlecht  aus- 
gerüsteten Geschwader  die  Fahrt  nach  Ostasien  angetreten  und 
durchgeführt:  am  27.  und  28.  Mai  1905  wurde  seine  ganze  Flotte 
bei  der  Insel  Tchuschima  teils  zerstört,  teils  fortgenommen. 
Diese  Katastrophe  brach  Rußlands  Kriegslust  gründlich;  es 
war  froh,  unter  amerikanischer  Vermittelung  am  5.  September 
1905  mit  Japan  einen  Frieden  zu  schließen,  der  Korea,  die  süd- 
liche Mandschurei  mit  Port  Arthur  sowie  die  südliche  Hälfte 
der  Insel  Sachalin  den  Japanern  überwies.  Es  war  der  schmäh- 
lichste Friede,  den  Rußland  je  eingegangen  war,  um  so  schimpf- 
licher, als  er  einem  nichtchristlichen,  kleinen  und  früher  ver- 
achteten Gegner  zugestanden  werden  mußte. 

Der  Japanische  Krieg  und  sein  beschämender  Ausgang  be- 
deuteten den  kläglichen  Zusammenbruch  des  absolutistischen 
Regierungssystems,  das  die  Panslawisten  und  Altrussen  bisher 
als  den  Gipfel  der  Weisheit  und  als  Blüte  des  russischen  Volks- 
tums, im  Gegensatze  zu  dem  ,, verfaulten  Westen",  gepriesen 
hatten.  Es  zeigte  sich,  daß  Unfähigkeit,  Trägheit,  Verwirrung 
und  Korruption  das  ganze  Staatswesen,  Beamtentum  und 
Offizierkorps  bis  zu  den  Großfürsten  hinauf  durchdrungen  und 
beherrscht  hatten,  daß  niemand  die  Obliegenheiten  erfüllen 
wollte  oder  konnte,  zu  denen  er  verpflichtet  war.  Die  Bestech- 
lichkeit  und   Unterschlagung   öffentlicher    Gelder   hatte   unter 


Revolution  xuid  Krieg.  189 

diesen  ,, rechtgläubigen"  Russen,  die  sich  so  viel  auf  ihre  Reli- 
giosität zugute  taten,  ungeheuerlichen  Umfang  angenommen, 
mit  gewissenloser  Aufopferung  der  wesentlichsten  vaterländischen 
und  militärischen  Interessen.  Nunmehr  machte  sich  überall  die 
lang  angehäufte  Unzufriedenheit  und  VerzAveiflung  der  Be- 
völkerungen gegen  diese  ebenso  rohe  und  tyrannische ,  wie 
verbreoherisclie  und  unfähige  Regierung  geltend.  Zunächst  nach 
Art  des  ,, Sklaven,  der  seine  Fesseln  bricht"  in  mlden  Gewalt- 
taten: Finnen  ermordeten  den  dortigen  Generalgouverneur, 
Armenier  den  Vizegouverneur  des  kaukasischen  Jelissawetpol, 
Terroristen  den  Minister  von  Plehwe.  Aber  dann  wurde  der 
Widerstand  allgemein. 

Denn  allmählich  hatte  sich  in  der  Opposition  gegen  das 
russische  Regierungssystem  eine  große  Wandlung  vollzogen. 
An  Stelle  des  abgestorbenen  Terrorismus  hatte  Plechanow  von 
Genf  aus  etwas  Neues  gesetzt  durch  seine  Schrift  ,,Der  Sozialis- 
mus und  der  politische  Kampf",  die  —  anstatt  des  gänzlichen 
und  plötzlichen  Umsturzes  alles  Bestehenden  —  allen  Neuerern 
das  Herbeiführen  einer  parlamentarischen  Verfassung  als  des 
notwendigen  Durchgangsstadiums  für  die  soziale  Revolution 
zur  Pflicht  machte.  Als  Weg  dazu  wurde  den  Arbeitern  nicht 
blutiger  Krieg,  sondern  Koalition  und  Ausstand  gelehrt.  Dies 
leuchtete  den  Arbeitern  ein,  und  so  waren  sie  für  die  Bewegung 
gewonnen.  Besonders  war  es  die  sozialdemokratische  ,, Union", 
die  die  Organisierung  der  Arbeiterklasse  betonte,  während  eine 
andere  Richtung,  die  der  ,, Revolutionären  Sozialisten",  die  aber 
minder  einflußreich  war,  gleich  den  alten  Terroristen  die  An- 
wendung der  Gewalt  vorzog.  Sie  rekrutierte  sich  vorzugsweise 
aus  den  unterdrückten  ,, Fremdvölkern",  den  Polen,  Armeiüern, 
Georgiern  und  Juden,  zählte  aber  auch  eine  große  Menge  von 
Russen  unter  ihren  Anhängern. 

So  waren  es  nicht  nur,  wie  früher,  die  Gebildeten  und  Den- 
kenden, die  ,, Intellektuellen",  die  der  elenden,  das  Vaterland 
zugrunde  richtenden  Herrschaft  der  Tschinowrüks,  der  Bureau- 
kratie,  sich  \vidersetzten ;  auch  die  städtische  Arbeiterschaft 
erschien  auf  dem  Schauplatze  und  lieh  den  geistigen  Führern 
die  todesverachtende  Kühnlieit  und  die  kräftigen  Fäuste  des 
Proletariats.      Plehwe   hatte   die   Opposition   durch    Schrecken 


190  Revolution  und  Ivi'ieg. 

bändigen  wollen:  im  Jahre  1903  ^vurden  1988  politische  Prozesse 
anhängig  gemacht  und  4867  Personen  ohne  regelrechtes  Ver- 
fahren zu  verschiedenen  Strafen  wegen  ihres  politischen  Ver- 
haltens verurteilt.  Aber  nach  der  Ermordung  Plehwes  zeigte 
die  Regierung  eine  zögernde  und  unsichere  Haltung,  die  die 
Opposition  außerordentlich  ermutigte.  Selbst  in  der  Bauern- 
schaft gährte  es,  Mord  und  Plünderung  wüteten  gegen  Guts- 
herrschaft und  Polizei  in  zahlreichen  Gouvernements.  Die 
Bauern  wurden  durch  gefälschte,  oft  mit  Goldbuchstaben  ge- 
druckte angebliche  Manifeste  des  Zaren  aufgefordert  sich 
der  Ländereien  des  Großbesitzes  zu  bemächtigen.  Dieses  aMittel 
lernte  dami  die  Reaktion  von  der  Revolution,  um  durch  ge- 
fälschte Proklamationen  des  Zaren  die  Bauern  auf  die  Juden  zu 
hetzen.  Endlich  beteiligten  sich  auch  die  mißhandelten,  be- 
trogenen und  ausgehungerten  Soldaten  und  besonders  Seeleute 
an  der  Revolution.  Immer  lauter  erscholl ,  auch  von  selten 
offizieller  Körperschaften,  der  Ruf  nach  einer  Verfassung.  Am 
19.  Juli  1905  trat  in  Moskau  eine  Versammlung  von  Vertretern 
der  verschiedenen  Provinzialsemstwos  zusammen,  die  Ein- 
berufung einer  konstituierenden  Volksvertretung  und  für  das  zu- 
künftige Parlament  beschließende  Stimme  bei  Gesetzgebung  und 
Auf erlegung  von  Steuern  verlangte.  Aber  es  kam  auch  zu  gewalt- 
samen Szenen.  Tausende  von  Arbeitern,  die  schon  am  22.  Januar 
1 905  in  Petersburg  dem  Zaren  eine  Petition  um  staatliche  Reformen 
überreichen  wollten,  wurden  durch  Gewehrsalven  auseinander 
getrieben.  Da  begannen  überall  im  Reich  Ausstände :  in  Kowno, 
Moskau,  Riga,  Libau,  Dorpat,  Warschau,  Sosnowize,  Lodz,War- 
zysko,  Petersburg,  Odessa,  vielen  andern  Städten.  An  zahlreichen 
Orten,  bis  nach  Wladiwostok  hin,  empörten  sich  Soldaten  und 
Matrosen;  eines  der  wenigen  erhaltenen  großen  Panzerschiffe, 
der  ,,Knjas  Potemkin"  fiel  in  die  GcAvalt  der  Aufrührer.  Schon 
begann  die  Erregung  auch  die  ländlichen  Kreise  zu  ergreifen.  In 
den  Ostseeprovinzen  bildeten  sich  Banden  von  Verbrechern, 
die  die  deutschen  Gutsherren  und  Pastoren  plünderten  und 
töteten.  In  den  Städten  schlössen  sich  Universitäten  und 
Schulen,  wühlten  die  Sozialisten  und  Anarchisten  die  Arbeiter 
auf.  Die  politischen  Morde  erstreckten  sich  schon  auf  die 
kaiserliche  Familie:    so  fiel  der  allgemein  verhaßte  Großfürst 


Revolution  und  Krieg.  191 

Sergei  Alexandrowitsch,  der  Generalgouverneur  von  Moskau, 
einer  Sprengbombe  zum  Opfer. 

Die  Regierung  stand  zunächst  ratlos  dieser  die  Tiefen  der 
Bevölkerung  aufwühlenden  Bewegung  gegenüber.  Endlich  mußte 
der  Zar,  der  bisher  nur  von  einer  Volksvertretung  mit  beratender 
Stimme  hatte  wissen  wollen,  in  einem  Manifeste  vom  17.  (30.) 
Oktober  1905  eine  Verfassung  mit  vollen  parlamentarischen 
Rechten,  auf  Grund  des  allgemeinen  Stimmrechtes,  ferner  Frei- 
heit des  Wortes,  der  Presse  und  der  Versammlungen,  sowie 
Sicherheit  der  Person  gegen  alle  administrative  Willkür  ver- 
sprechen. Rußland  schien  aus  dem  Zustande  des  monarchischen 
Absolutismus  sogleich  in  denjenigen  eines  konstitutionell,  ja 
parlamentarisch  regierten  Staates  übergehen  zu  sollen.  Die 
Juden  wurden  insbesondere  zum  aktiven  und  passiven  Wahl- 
recht für  die  große  Duma  —  die  allgemeine  Volksvertretung  —  zu- 
gelassen. Es  war  der  wichtigste  Punkt  ihrer  Emanzipation !  Und 
auch  auf  kirchlichem  Gebiete  gewann  die  Freiheit  den  Sieg :  am 
29.  April  erfolgte  der  Ukas,  der  die  Straf  bar  keit  des  Abfalls  von 
der  Staatskirclie  aufhob.  Darauf  traten  Tausende  von  dieser  aus, 
zumeist  ehemalige  zu  ihr  Übergetretene,  die  zu  ihrem  alten  Be- 
kenntnisse zurückkehrten.  Besonders  frühere  Juden  beeilten 
sich  von  dieser  Erlaubnis  Gebrauch  zu  machen:  schon  unmittel- 
bar nach  deren  Gewährung  meldeten  130  getaufte  Juden 
ihren  Rücktritt  zum  Judentum  an,  darunter  mehrere  bekannte 
Rechtsanwälte,  wie  besonders  der  als  hervorragender  Jurist 
weit  über  Rußlands  Grenzen  bekannte  Kupernik  in  Kiew,  der 
vierzig  Jahre  lang  dem  Namen  nach  Christ  gewesen  war,  freilich 
stets  für  seine  ehemaligen  Glaubensgenossen  wacker  gekämpft 
hatte,  und  später  in  diesem  Streite  sein  Leben  geopfert  hat. 
Der  bisher  allmächtige  Pobjedonoszew  konnte  diese  Glaubens- 
freiheit nicht  ertragen:  er  nahm  am  I.November  1905  seine  Ent- 
lassung. Zwei  Jahre  später  ist  der  verhängnisvolle  Mann  in  der 
Zurückgezogenheit  gestorben. 

Die  freiheitlichen  Bestrebungen  schienen  auch  eine  Wen- 
dung in  der  Gesinnung  des  russischen  Volkes  und  zumal  seiner 
gebildeten  Bestandteile  gegenüber  den  Juden  herbeigeführt  zu 
haben.  Es  war  ein  gutes  Zeichen,  daß  die  Vereinigung  der  Ver- 
treter  aller    Semstows,   das  heißt   der  Kreis-   und   Provinzial- 


192  Revolution  und  Ivrieg. 

landtage,  die  im  Monat  Juli  im  Moskau  stattfand,  ihren  tiefen 
Unwillen  über  die  mit  Hilfe  der  Beamten  vorgenommenen 
Judenverfolgungen  aussprach  und  mit  großem  Nachdruck  die 
gleichmäßige  Beteiligung  der  Bekenner  aller  Religionen,  also 
auch  der  Israeliten,  am  aktiven  und  passiven  Wahlrecht  bei 
der  demnächstigen  Bildung  einer  Reichsyertretung  forderten. 
Hier  waren  es  nicht  Arbeiter,  kleine  Kaufleute,  Sozialisten,  die 
sprachen,  sondern  Mitglieder  der  gesellschaftlich  hervorragend- 
sten Klassen.  Auch  der  im  Mai  zu  Petersburg  tagende  russische 
Journalistenkongreß  ist  einstimmig  für  die  Gleichberechtigung 
der  Juden  in  die  Schranken  getreten. 

Die  jüdische  Bevölkerung  hat  sich  in  der  Tat  solcher  Teil- 
nahme würdig  gezeigt.  Sie  hat  sich  weder  feig  noch  anspruchs- 
voll benommen,  sondern  mit  echter  Manneswürde  ihre  nur  zu 
berechtigten  Forderungen  fest  aber  bescheiden  geltend  ge- 
macht und  zum  Preise  dafür  die  treue  Mitarbeit  für  das  Wohl 
des  Vaterlandes  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft  in  Aussicht 
gestellt.  Sie  nahm  ihre  unveräußerlichen  Rechte  als  Menschen 
und  Bürger  in  Anspruch.  Ein  anderer  sehr  kräftiger  und  lobens- 
werter Schritt  war  es,  wenn  die  jüdischen  Stadtverordneten,  die 
ausnahmsweise  nicht  von  ihren  Mitbürgern  gewählt,  sondern  in 
geringem  Prozentsatze  von  der  Regierung  ernannt  wurden,  in 
vielen  Städten  eben  deshalb  ihre  Stellen  niederlegten  —  nicht 
weniger  als  150  an  der  Zahl.  Sie  wollten  ihr  Ehrenamt  nur  dem 
Vertrauen  ihrer  Mitbürger  verdanken. 

Die  bisher  unter  dem  Namen  des  Zaren  allmächtige  Be- 
amtenschaft sah  aber  mit  Grauen  das  Ende  ihrer  Herrlichkeit 
herannahen.  Wenn  es  zu  einer  wirklich  freiheitlichen  Gestaltung 
des  Staatslebens  kam,  dann  war  es  offenbar  mit  ihrer  Willkür, 
ihrer  Aussaugung,  ihrer  Bestechungsgewohnheit,  ihrem  Terro- 
rismus vorüber.  Sie  vermochte  zunächst  keinen  offenen 
Widerstand  gegen  die  Flut  der  freiheitlichen  Bewegung  zu 
leisten,  aber  sie  suchte  solche  abzuschwächen  und  in  Bahnen 
zu  lenken,  die  sie  wieder  zur  Reaktion  zurückführen  mußten. 
Und  dazu  wollte  sie  sich  der  Juden  bedienen. 

Die  russischen  Juden  hatten  während  des  Japanischen 
Krieges  hinreichende  Beweise  ihrer  Vaterlandsliebe  und  ihres 
patriotischen  Opfermutes  gegeben  —  Tatsachen,  die  einen  um 


Revolution  und  Krieg.  193 

SO  schöneren  Charakter  tragen  und  ethisch  um  so  höher  zu 
bewerten  sind,  je  stiefmütterlicher  die  Staatsgewalt  sich  ihnen 
gegenüber  zeigte,  je  schändlicher  Lügen  und  Bosheit  auch  die 
Niederlagen  der  Russen  durch  angebliche  jüdische  Machen- 
schaften zu  erklären  und  zu  entschuldigen  suchten. 

Spenden  an  Geld,  Verbandstücken,  Liebesgaben  hat  jü- 
dische Mildtätigkeit  in  Masse  für  die  Armen  geliefert;  in  dem 
blutarmen  Podolien  brachte  sie  allein  während  der  ersten  drei 
Kriegsmonate  lediglich  an  Bargeld  63  000  Rubel  auf.  Die  jü- 
dischen Kapitalisten  Rußlands  haben  nicht  minder  auch  die 
Regierung  finanziell  nach  Kräften  unterstützt,  so  daß  sie  wider- 
willig deren  Haltung  mit  Lob  anerkennen.  Zwölftausend  jüdische 
Soldaten,  etwa  der  zehnte  Teil  des  ganzen  damaligen  Feld- 
heeres, kämpften  im  ersten  Beginne  des  Krieges  auf  den  Schnee- 
gefilden der  Mandschurei  gegen  Japan,  höchlichst  belobt  von 
den  eigenen  Befehlshabern.  Seitdem  sind  unter  den  unaufhör- 
lichen weiteren  Truppennachschüben  wieder  Tausende  jüdischer 
Streiter  gewesen.  Im  ganzen  haben  33  000  Juden  in  der  Mand- 
schurischen Armee  gestanden:  8  Prozent  des  ganzen  Heeres, 
während  die  Juden  wenig  über  vier  Prozent  der  Gesamtbe- 
völkerung bildeten.  Es  dienten  also  die  Juden  in  doppeltem 
Verhältnis  zu  ihrer  Anzahl.  Das  war  die  beste  Widerlegung  der 
Verleumdungen,  die  die  altrussischen  und  bureaukratischen 
Parteigänger  über  den  angeblichen  Mangel  an  Vaterlandsliebe 
und  kriegerischem  Geiste  gegen  die  russischen  Israeliten  ausge- 
streut hatten.  Von  den  Reserveärzten,  die  zum  Heere  geschickt 
wurden,  waren  sogar  neun  Zehntel  Juden,  deren  Tätigkeit  von 
dem  Kriegsminister  in  rühmendster  Weise  amtlich  beurteilt 
wurde.  Diese  massenhafte  Mobilisierung  der  jüdischen  Ärzte 
geschah  übrigens  aus  zweifachen  Gründen:  einmal  wollte  man 
sich  dieser  ,, freisinnigen"  Elemente  entledigen;  und  dann  hatten 
die  russischen  Ärzte  in  St.  Petersburg  das  Ministerium  be- 
stochen, um  sich  von  dem  Wettbewerb  der  jüdischen  Kollegen 
zu  befreien. 

Die  Heldentaten  jüdischer  Soldaten  erkannten  sogar  die 
Gegner  an :  2000  von  ihnen  fielen  in  der  achttägigen  Schlacht 
bei  Liauyang  (August  und  September  1904),  noch  weit  mehr  bei 
Mukden  (1.  bis  10.  März  1905).    Die  Verwundeten  aber,  die  nach 

Philippsoll,  Neueste  Gescliichto  der  Juden,  Bd.  III,  13 


194  Revolution  iind  Krieg. 

der  Heimat  transportiert  wurden,  warf  man  aus  den  Lazaretten 
aller  derjenigen  Orte  hinaus,  wo  die  Juden  keinen  gesetzlichen 
Wohnsitz  hatten !  So  lohnte  der  russische  Beamte  den  todes- 
mutigen jüdischen  Kämpfern.  Der  Zar  machte  glüoklicherweise 
diesem  schändlichen  Unfuge  ein  Ende.  —  811  Juden,  zumeist 
aus  der  Besatzung  Port  Arthurs,  fielen  in  ehrenvolle  Gefangen- 
schaft bei  den  Japanern. 

Die  patriotische  Haltung  der  Juden  hat  zunächst  auf  ihr 
Schicksal  in  keiner  Weise  günstig  gewirkt.  Plehwe,  der  damals 
noch  lebte,  hatte  immer  meder  seine  Versuche  erneuert,  den 
Juden  alle  Schuld  an  den  Übelständen  in  Rußland  in  die  Schuhe 
zu  schieben.  ,,Die  Juden  im  allgemeinen  sind  nicht  nur  wütende 
Revolutionäre,  sie  sind  alle  Mörder,"  entblödete  sich  dieser 
Finsterling  nicht,  den  von  ihm  selbst  einberufenen  jüdischen 
Notabein  zuzurufen.  Der  gerechtere  und  aufgeklärtere  Unter- 
richtsminister Senger  mußte  aus  seiner  Stellung  weichen,  weil 
er  es  schüchtern  gewagt  hatte,  für  die  Juden  ein  Wort  einzu- 
legen. So  gingen  dann  die  Benachteihgungen  ruckweise  weiter. 
Bei  Annäherung  des  Krieges  mit  Japan  wurden  alle  Juden, 
die  in  der  Nähe  der  sibirischen  Bahn  wohnten,  ausgetrieben,  und 
zwar  zu  Fuß.  Zwei-  bis  dreitausend  Unglückliche  mußten  also 
einen  Weg  von  zwei-  bis  viertausend  Kilometer  bei  einer  Kälte 
von  zwanzig,  dreißig,  vierzig  Grad  durchwandern  — ohne  jegliche 
Verschuldung  ihrerseits,  nur  aus  dem  schimpflichen  Verdachte  des 
Generals  Kuropatkin  heraus,  der  dann  freilich  gegen  das  ja- 
panische Heer  weniger  siegreich  war,  als  gegen  die  wehrlosen 
Juden.  Überhaupt  A^Tirde  der  Zugang  zur  Mandschurei  von  den 
russischen  Behörden  den  Juden  untersagt,  mit  Ausnahme  der 
Armeelieferanten.  Man  hatte  augenscheinlich  vergessen,  unter 
den  Ausnahmen  auch  die  33  000  jüdischen  Soldaten  zu  erwähnen, 
denen  gnädiglichst  vergönnt  wurde,  dort  für  Väterchen  Zar  ihr 
Blut  zu  vergießen  oder  in  den  Hospitälern  zu  faulen.  Und  wäh- 
rend man  die  Juden  zu  eifriger  Betätigung  des  Patriotismus 
aufforderte,  verbot  man  ihren  Kranken,  die  berühmten  Spezial- 
ärzte  in  Moskau  aufzusuchen  oder  an  dem  Südufer  der  Krim  — 
der  russischen  Riviera  —  Heilung  für  ihre  Leiden  zu  finden.  Auch 
die  Sommerfrischen  in  Finnland  %\airden  den  Israeliten  unter- 
sagt.     Man  fragt  vergebens  nach  irgend  welchen  vernünftigen 


Revolution  vind  Krieg.  195 

Gründen  für  solche  Quälereien,  die  eben  nur  aus  wahnwitzigem 
Vorurteil  oder  aus  Lust  an  Grausamkeit  zu  erklären  sind. 

Die  Fortschritte  der  Revolution  und  der  dadurch  erzwungene 
„Liberalismus"  der  Regierung  brachten  den  Juden  dann  einige 
Milderung  ihrer  Lage.  Schon  Plehwe,  der  allerdings  dafür  per- 
sönliche Gründe  hatte,  stellte  kurz  vor  seiner  Ermordung  Maß- 
regeln in  diesem  Sinne  in  Aussicht.  Eine  Anzahl  von  Dörfern, 
in  denen  selbst  innerhalb  des  Ansiedlungsrayons  den  Juden  der 
Aufenthalt  verboten  war,  wurden  nunmehr  mit  der  Bezeichnung 
,, Fl  ecken"  geziert,  damit  jenen  die  Niederlassung  dort  erlaubt 
sei.  Weiter  kam  Plehwe  nicht,  da  traf  ihn  die  Hand  des  Mörders, 
nicht  eines  jüdischen,  sondern  eines  christlich  orthodoxen.  Unter 
Wittes  Vorsitz  wurde  dann  ein  ,, Gnadenmanifest"  für  die  Juden 
bei  Gelegenheit  der  Geburt  des  Thronfolgers  ausgearbeitet.  Es 
fiel  kläglich  genug  aus:  es  gewährte  den  reichen  Juden  einige 
Erleichterung  in  bezug  auf  Reisen,  Aufenthalt  und  Wohnrecht, 
gestand  auch  den  jüdischen  Reservisten,  die  den  aktiven  Dienst 
tadellos  durchgemacht  haben,  das  Wohnrecht  in  ganz  Rußland 
zu,  besserte  aber  in  nichts  die  traurige  Lage  der  großen  Masse 
des  jüdischen  Proletariats.  Nichts  geschah,  um  die  bestehenden 
unhaltbaren  Lebensbedingungen  von  fünf  Millionen  russischer 
Untertanen  wesentlich  zu  ändern.  An  Plehwes  Stelle  trat  endlich 
Fürst  Swiatopolsk-Mirski  als  Minister  des  Innern  (8.  September 
1904),  dem  der  Ruf  eines  aufgeklärten  und  wohlwollenden 
Mannes  voraufging.  Schon  sein  Vater  hatte  sich  als  General- 
gouverneur von  Charkow  der  Juden  angenommen  und  für  sie 
annähernde  Gleichberechtigung  gefordert.  Der  Sohn  verkündete, 
daß  er  kein  Feind  der  Juden  sei  und  sich  zumal  der  im  Elend 
schmachtenden  unteren  Klassen  der  Hebräer  anzunehmen  be- 
absichtige. Allein  seine  Ministerherrlichkeit  dauerte  nicht  lange: 
schon  am  1.  Februar  1905  wurde  er  wieder  entlassen.  Und  auch 
er  hatte  seinen  Verheißungen  die  schwerwiegende  Einschränkung 
hinzugefügt :  man  könne  den  Juden  unmöglich  alle  die  gleichen 
Freiheiten  bewilligen  wie  den  Christen,  denn  sonst  würden  sie 
sich  durch  ihren  Fleiß,  ihre  Nüchternheit  vind  Rührigkeit  zu 
rasch  auf  Kosten  des  nationalen  Elementes  entwickeln.  Das  war 
ja  stets  die  Entschuldigung  der  anscheinend  wohlgesinnten 
Gegner     der    Judenemanzipation    in   Rußland   ^\^e    in   andern 

13* 


196  Kevolution  und  Krieg. 

Ländern :  die  Juden  sind  zu  tüchtig,  als  daß  man  sie  gleichstellen 
dürfe.  Und  selbst  Ignatiew  und  Plehwe  hatten  im  Beginn  ihrer 
ministeriellen  Laufbahn  kaum  anders  gesprochen. 

Die  Juden  hatten  auch  den  Verheißungen  der  russischen 
Bureaukratie,  in  der  sie  ihren  schlimmsten  Feind  durch  jahr- 
hundertlange Erfahrung  kennen  gelernt  hatten,  nicht  getraut. 
Sie  wandten  sich  mit  Entzücken,  mit  Begeisterung  der  Um- 
wälzung zu,  die  ihnen  eine  schöne,  glänzende  Zukunft  in  Aus- 
sicht stellte:  Freiheit  anstatt  Knechtschaft,  Menschenwürde 
anstatt  schimpflicher  Erniedrigung,  Sicherheit  anstatt  ^^^ll- 
kürlicher  Mißhandlung.  Die  Revolution  erfüllte  die  Gebildeten 
und  die  Arbeiter  unter  den  Juden  mit  glühendem  Enthusiasmus, 
mit  dem  Rausche  der  Hoffnung.  Man  stürzte  sich  in  die  Be- 
wegung mit  Feuer  und  Opfermut,  ja  zum  Teil  mit  rücksichts- 
loser Wildlieit.  Selbst  die  Lauen  wurden  mit  fortgerissen  in 
Kampf  und  Tod.  Knaben  schwangen  die  Waffen,  Mädchen 
wurden  zu  begeisterten  Märtyrerinnen.  Innige  Liebe  und 
freudiges  Vertrauen  zu  den  russischen  Brüdern  erfüllten  die 
Herzen.  Die  große  Zeit  der  Völkerfreiheit  schien  gekommen; 
die  Vergangenheit,  die  Sonderstellung  des  Judentums  waren 
vergessen.  Tausende  von  Juden  durch  den  ganzen  Bereich 
des  Ansiedlungsrayons  und  durch  Polen  bildeten  einen  ,,Bund" 
von  entschieden  revolutionärem  Charakter:  den  ,, General- 
verband jüdischer  Arbeiter  in  Rußland  und  Polen",  der  sich 
eine  äußerst  wirksame  Organisation  gab  und  zur  bewaffneten 
Verteidigung  von  Freiheit  und  Gleichberechtigung  fest  ent- 
schlossen war.  Er  wollte  den  Kampf  gegen  die  Tyrannei  tätig 
mitmachen. 

Wer  möchte  ihn  deshalb  verurteilen  ?  Der  Unparteilichkeit 
halber  seien  hier  die  Worte  eines  christlichen,  demokratischen 
aber  den  Juden  nicht  allzu  günstigen  Schriftstellers,  Georg 
Zeplers,  angeführt:  ,,WH1  man,  mit  berühmt  gewordener  Ritter- 
lichkeit, den  Juden  die  Silberbaum  und  Mandelstamm,  oder 
wie  die  russisch- jüdischen  Revolutionäre  sonst  heißen,  zum 
VorwTirfe  machen  ?  jene  armen  ,  getretenen,  gequälten,  ver- 
kümmerten, nach  Menschentum,  nach  Duldung  und  Recht,  nach 
Bildung  und  Erhebung  aus  Elend  und  Schmutz  Schmachten- 
den und  Verzweifelnden  ?      Diese    sollten   nicht   einmal   revo- 


Revolution  vind  Krieg.  197 

lutionär  sein  ?  Wahrlich,  man  möge  noch  so  ungerecht  und 
barbarisch  empfinden,  aber  so  viel  muß  man  anerkennen,  daß 
hier  ,, nicht  revolutionär  sein"  hieße,  auf  der  niedrigsten  und 
verächtlichsten  Stufe  lebender  Wesen  angelangt  sein.  Eine 
solche    Eventualität   wäre    feig    und   erbärmlich". 

Aber  es  gibt  einen  noch  unverdächtigeren  Zeugen:  den 
russischen  Ministerrat  vom  27.  und  31.  Oktober  1906.  Er  fülirte 
in  seinem  amtlichen  Berichte  an  den  Zaren  aus :  Die  Anhäufung 
der  jüdischen  Bevölkerung  in  dem  Ansiedlungsrayon  hat  den 
ärmsten  Teil  der  letzteren  in  eine  schwierige  Lage  versetzt, 
die  A^dederum  eine  Erbitterung  in  verschiedenen  Klassen  und 
ein  hilfloses  jüdisches  Proletariat  erzeugte.  „Auf  dieser 
Grundlage  entmckelte  sich  unter  den  Juden  die  revolutionäre 
Bewegung." 

Dieses  offene  Eingeständnis  hat  freilich  später  die  russische 
Bureaukratie  und  den  Ministerpräsidenten  Stolypin  nicht  ver- 
hindert, gegen  die  Juden  wegen  ihrer  angeblich  großen  Be- 
teiligung an  der  Revolution  die  schwersten  Anklagen  zu  erheben 
und  diesen  durch  Vernichtungsmaßregeln  Folge  zu  geben. 

Die  ersten  propagandistischen  Verbindungen  unter  den 
jüdischen  Arbeitern  Rußlands  waren  schon  im  Jahre  1886  in 
Wilna  entstanden  und  hatten  hauptsächlich  eine  Förderung  des 
sozialistischen  Bewußtseins  in  ihrer  Mitte  bezweckt.  Aber  bald 
überwog  die  Richtung  auf  Hebung  der  Masseninteressen,  zumal 
der  wirtschaftlichen  Lage  der  jüdischen  Arbeiter.  Die  Bewegung 
dehnte  sich  während  der  Jahre  1893 — 1895  auf  Warschau, 
Minsk,  Smorgonj,  Brest-Litowsk,  Bialystok  und  mehrere  kleine 
Städte  aus.  Die  in  mannigfachen  Arbeitseinstellungen  erhobenen 
Forderungen  galten  zumeist  der  Verkürzung  des  Arbeitstages, 
der  im  Ansiedlungsgebiet  durchschnittlich  14,  bisweilen  aber  16, 
ja  18  Stunden  umfaßte,  sowie  der  Erhöhung  des  sehr  niedrigen 
Arbeitslohnes,  der  z.  B.  bei  den  im  Hause  arbeitenden  Strumpf- 
wirkerinnen nur  16  Kopeken,  gleich  35  Pfennig,  täglich  betrug. 
Allmählich  kamen  zu  den  mrtschaftlichen  Fragen  auch  po- 
litische, zumal  auf  die  Anregung  von  L.  Martow,  eigentlich 
Julius  Zederbaum,  einem  Enkel  des  gleichnamigen  berühmten 
jüdischen  Publizisten.  Martow  war  im  Grunde  Sozialdemokrat, 
im  allgemeinen  hegte  er  aber  damals  für  seine  Stamraesgenossen 


198  Revolution  und  Krieg. 

ein  ganz  besonderes  Interesse.  Dieser  geistvolle  Schriftsteller 
wollte  die  jüdische  Arbeiterschaft  nicht,  wie  viele  andere  ver- 
langten, in  der  großen  sozialdemokratischen  Partei  aufgehen 
lassen,  sondern  stellte  den  Anspruch  auf,  daß  das  ,,ErAvachen 
des  national- jüdischen  und  des  Klassenbewußtseins  Hand  in 
Hand  gehen  muß".  Zunächst  drang  er  mit  dem  nationalistischen 
Gedanken,  der  dem  allgemeinen  sozialdemokratischen  Programm 
offen  widersprach,  nicht  durch.  Vielmehr  schlössen  sich  die 
jüdischen  Arbeiter  der  großen  sozialistischen  Partei  an  und 
ließi^n  sich  auf  dem  internationalen  sozialistischen  Kongreß  in 
London,  1896,  durch  vier  besondere  Delegierte  vertreten.  Allein 
das  jüdische  Bewußtsein  wirkte  unter  ihnen  doch  zu  stark,  und 
so  veranstalteten  sie  eine  Sonderorganisation,  deren  erster 
Bundestag  sich  im  September  1897  in  Wilna  vereinigte.  Hier 
verständigte  man  sich  darüber,  daß  die  eigentümlichen  Be- 
dürfnisse der  jüdischen  Arbeiter,  zumal  die  Aufhebung  der 
Rechtsungleichheit  und  die  Schaffung  einer  politischen  Jargon- 
literatur, eine  besondere  Verbindung  des  jüdischen  Proletariats 
innerhalb  der  großen  sozialistischen  Partei  erheischten.  Sie  er- 
hielt den  Namen  ,, Allgemeiner  jüdischer  Arbeiterbund  in  Ruß- 
land und  Polen".  Er  schuf  sich,  obwohl  Martow  inzwischen  ande- 
rer Ansicht  geworden  war,  ein  Zentralkomitee,  das  in  Minsk 
seinen  Sitz  erhielt,  und  ein  Zentralorgan  ,,Die  Arbeiterstimme". 
Wirklich  setzte  er  auf  dem  ersten  Parteitage  der  russischen 
Sozialdemokratie,  1898  in  Minsk,  die  Anerkennung  seines  An- 
spruches als  Sonderorganisation  innerhalb  der  Gesamtpartei 
durch.  Anders  ging  es  in  Polen  zu.  Die  Polnische  Sozialistische 
Partei  wollte  in  echt  polnischem  NationaKanatismus  von  keiner 
jüdischen  Teilorganisation  sprechen  hören,  so  daß  dort  die  An- 
hänger der  ,, Bundes"  aus  der  großen  Partei  ausschieden. 

Im  eigentlichen  Rußland  arbeitete  der  ,,Bund"  im  Zu- 
sammenhange der  Partei.  Er  bildete  seine  Organisation  immer 
tatkräftiger  aus,  und  mehrere  seiner  Lokalorganisationen  fanden 
sich  in  der  Lage,  eigene  Zeitschriften  herauszugeben.  Um  die 
Mitte  des  Jahres  1 900  betrug  die  Zahl  der  Exemplare  der  von  dem 
Bunde  veröffentlichten  Organe  mehr  als  45000.  Auch  innerlich 
erstarkte  der  ,,Bund".  Er  verschärfte  die  politische  Note  seines 
Wirkens  und  arbeitete  zugleich  ein  jüdisch-nationales  Programm 


Revolution  und  Ivi'ieg.  199 

aus.  Übrigens  sprach  sich  der  Kongreß  zu  Bialystok  (April  1901) 
entschieden  gegen  willkürliche  Streiks  und  auch  gegen  den 
politischen  Terrorismus  aus  und  verfehmte  jeden  tätlichen  An- 
griff auf  Unternehmer  und  Fabrikbeamte,  „der  lediglich  das 
sozialdemokratische  Bewußtsein  der  Arbeiter  verdunkele,  ihr 
moralisches  Niveau  herabsetze  und  die  Arbeiterbewegung  dis- 
kretiere".  Diesen  Anschauungen  ist  der  Bund,  trotz  der  der 
Schreckensherrschaft  günstigen  Richtung  mancher  einzelner 
unter  seinen  Mitgliedern,  lange  Jahre  hindurch  treu  gebUeben 
—  er  verwarf  nachdrücklich  die  ,, organisierte  Rache",  das  heißt 
die  abgekarteten  Attentate.  Dieser  Umstand  muß  zu  seiner  Ehre 
nachdrücklich  hervorgehoben  werden.  Auf  der  anderen  Seite 
schied  er  sich  aber  scharf  von  den  übrigen  jüdischen  Parteien, 
die  die  nationalen  oder  zionistischen  Ideen  durchaus  in  den 
Vordergrund  stellten  oder,  wie  die  im  Juli  1901  zu  Minsk  ent- 
standene ,, Unabhängige  jüdische  Arbeiterpartei",  nur  von  wirt- 
schaftlichen, nicht  von  politischen  Gesichtspunkten  ausgingen. 
Im  Grunde  blieb  der  Bund  eine  sozialdemokratische  Ver- 
einigung, nur  mit  einiger  jüdischer  Färbung. 

Die  Betonung  einer  eigenen  Organisation  der  russischen 
Juden  auf  dem  Gebiete  der  Sprache  und  der  Kultur,  me  der 
,,Bund"  solche  neben  den  sozialdemokratischen  Bestrebungen 
auf  seine  Fahne  schrieb,  führte  zu  mannigfachen  Kämpfen  mit 
der  großen  sozialdemokratischen  Partei  auch  in  Rußland.  Allein 
allmählich  setzte  der  Bund  in  dieser  seine  Ansprüche  durch. 
In  Übereinstimmung  mit  der  revolutionären  Stimmung,  die  sich 
immer  mehr  der  russischen  Gebildeten  und  Arbeiter  bemäch- 
tigte, stellte  auch  der  Bund  in  wachsendem  Umfange  seine  po- 
litische Tätigkeit  über  die  wirtschaftliche.  Er  begründete  nach 
den  Pogromen  von  Kischinew  und  Homel  Gruppen  der  ,, Selbst- 
wehr" (samooborona).  Neben  den  im  Jargon  abgefaßten 
Schriften  und  Zeitungen  gab  er  auch  solche  in  russischer  Sprache 
heraus;  er  rief  im  Auslande  verbündete  Gruppen  ins  Leben,  die 
ihn  durch  Geldmittel  und  literarische  Erzeugnisse  unterstützten. 
Der  ,,Glos  Bundu"  wurde  in  Polen  sein  Organ.  Die  Verschärfung 
der  revolutionären  Stimmung  seit  dem  Japanischen  Kriege  übte 
endlich  noch  auf  den  Bund  ihre  Wirkung  aus :  der  Kongreß  des 
Bundes  in  Zürich  (1905)  faßte  revolutionäre  Beschlüsse,  betreffs 


200  Revolution  vuid  I\jieg. 

„eigenmächtiger  —  das  heißt  gewaltsamer  —  Eroberung  der 
bürgerlichen  Freiheiten".  Unter  dem  Drucke  der  Verhältnisse 
schlössen  sich  der  Bund  und  die  große  sozialdemokratische  Partei 
Rußlands  eng  aneinander;  auch  die  polnischen  und  lettischen 
Sozialdemokraten  traten  auf  dem  ,, Einigungs-Parteitag"  des 
April  1906  zu  Stockholm  hinzu.  Zwei  Vertreter  des  Bundes 
nahmen  in  dem  Sozialistischen  Zentralkomitee  Platz.  Die 
nationalistischen  Bestrebungen,  die  er  einst  ernstlich  betont 
hatte,  wurden  nunmehr  von  dem  ,, Bunde"  ganz  aufgegeben. 
Der  ,,Bund"  besaß  damals  an  34000  organisierte  Mitglieder  und 
überdies  zahlreiche  Anhänger.  Allein  es  waren  immerhin  nicht 
genug,  um  ihm  eine  Vertretung  in  der  ersten  Duma  zu  ver- 
schaffen. Im  Wahlkampfe  unterstützte  er  die  Linksliberalen, 
bekämpfte  er  die  Zionisten  und  jüdischen  Nationalisten;  er 
erhielt  30  Wahlmänner,  aber  keinen  Abgeordneten. 

Die  Niederwerfung  der  Revolution  durch  die  russische  Re- 
gierung bedeutete  auch  für  den  ,,Bund"  einen  harten  Schlag. 
Seine  Versammlungen  und  seine  Presse  waren  von  neuem  außer- 
halb des  Gesetzes  gestellt ;  und  was  schlimmer  war,  die  Meinung 
unter  den  Juden  wandte  sich  gegen  ihn,  zumal  er  weder  auf 
konstitutionellem  Gebiete  noch  in  der  Selbstverteidigung  etwas 
Wesentliches  erreicht  hatte.  Die  Zahl  seiner  Mitglieder  nahm 
reißend  ab :  schon  bei  der  Wahl  zur  zweiten  Duma  erlangte  er 
nur  noch  20  Wahlmänner.  Vergebens  zog  er  mildere  Saiten  auf, 
bekämpfte  von  neuem  alle  Schreckenstaten  und  politischen 
Räubereien.  Seine  Gewerkschaften  stellten  ihre  Tätigkeit  bei- 
nahe ganz  ein ;  er  lebte  hauptsächlich  noch  in  seinen  ausländischen 
Gruppen.  In  Nordamerika,  besonders  in  New  York,  in  Ar- 
gentinien und  der  Schweiz  bestehen  solche  Vereinigungen.  In 
Galizien  haben  die  jüdischen  Sozialdemokraten  ein  nationalisti- 
sches Programm  angenommen,  das  dem  früher  vom  Bunde  ver- 
fochtenen  entspricht.  Aber  in  Rußland  selbst  hat  dieser  alle 
Bedeutung  eingebüßt. 

Neben  dem  Bunde  entstanden  noch  schärfer  nationalistisch 
gefärbte  Verbände,  zumal  unter  der  gebildeten  jüdischen  Jugend. 
So  der  der  Sozial-Zionisten,  die  für  den  Augenblick  die  sozialen 
Bestrebungen  unterstützten,  aber  für  die  Zukunft  ein  irgendwo 
gelegenes  eigenes  Gebiet  für  die  Juden  erlangen  wollten ;  die 


Revolution  und  Ivrieg.  201 

Poalei-Zionisten ,  die  die  Lösung  der  Judenfrage  einzig  in 
Palästina  für  möglich  hielten;  die  Sejmisten,  die  wunderlicher- 
weise für  die  Juden  in  Rußland  vollständige  Autonomie  mit 
einem  besonderen  jüdischen  Parlamente  —  Sejm  —  zu  erreichen 
suchten.  So  tastete  die  jüdische  Volksseele  in  Rußland,  soweit 
sie  zum  politischen  Leben  erwacht  war,  nach  Befriedigung  ihrer 
idealen  Bedürfnisse  und  Wünsche  auf  dem  harten  Gebiete  der 
Wirklichkeit  unsicher  herum. 

Allein  man  darf  nicht  übersehen,  daß  sowohl  Gebildete  wie 
Arbeiter  nur  eine,  verhältnismäßig  geringe  Minderheit  unter  den 
Juden  ausmachten.  Die  große  Masse  der  orthodoxen  und 
chassidischen  Juden  blieb  apathisch,  ja  zum  Teile  feindlich  gegen 
den  politischen  Liberalismus,  von  dem  sie  die  Auf  lösung  der  über- 
lieferten Zustände  auch  auf  dem  religiösen  Gebiete  fürchteten. 
Und  das  erschien  ihnen  wichtiger,  als  alle  politischen  und  so- 
zialen Vorteile  der  Freiheit.  Das  religiöse  Beharren  däuchte 
ihnen  das  Wesen  der  Religion,  und  deshalb  hingen  sie  an  ihm 
mit  begeisterter  Hartnäckigkeit.  So  ist  die  Beteiligung  der  Juden 
an  der  russischen  Revolution  stets  überschätzt  worden,  dank 
der  interessierten  Geschichtsfälschung  durch  die  russischen 
Antisemiten,  zumal  innerhalb  der  Beamtenschaft.  Zahlen  be- 
weisen dies  in  unwidersprechlicher  Weise.  Unter  den  vom 
23.  November  1905  bis  23.  August  1906  wegen  politischer  Ver- 
brechen Verbannten  in  Zahl  von  12  694  waren  nur  972  Juden, 
also  7,65  Prozent.  Da  nun  die  Städter  unter  diesen  verschickten 
,, Politischen"  27^/.,  Prozent  ausmachten,  die  Juden  aber  in 
überwiegender  Mehrzahl  in  die  Städte  zusammengepfercht  sind, 
gab  es  unter  den  Juden  dreimal  weniger  Revolutionäre  als  unter 
ihren  christlichen  Klassengenossen.  Das  ist  ein  überraschendes 
Ergebnis,  das  die  mit  kecker  Stirn  immer  und  immer  wieder  in 
die  Weit  hinausgerufene  Behauptung:  die  Juden  machten 
die  Mehrzahl  der  revolutionären  Elemente  in  Rußland  aus,  in 
unwiderleglicher  Weise  Lügen  straft.  Hatten  doch  die  euro- 
päischen Juden  schließlich  selbst  an  diese  Unwahrheit  geglaubt ! 

Die  russische  Bureaukratie  aber  hat  dieses  Märchen  zu 
einem  ganz  bestimmten  Zwecke  erdichtet,  um  es  als  Waffe  im 
Kampfe  gegen  die  siegreich  vordringende  Freiheit  zu  verwenden. 
Sie  wollte  die  durch  die  schreiende  Mißregierung  und  durch  die 


202  Revolution  und  Krieg. 

Niederlagen  gegen  die  Japaner  hervorgerufene  Revolution  in 
den  Augen  Europas  und  besonders  des  russischen  Volkes  herab- 
setzen, sie  als  das  Werk  der  „Fremden",  der  ,, Ungläubigen" 
diskreditieren.  Sie  wollte  den  Widerstand  der  fanatischen  und 
plünderungssüchtigen  Menge  gegen  die  Revolutionäre  hervor- 
rufen, diesen  damit  die  Volksgunst  entziehen.  Sie  wollte  die 
durch  ihr  eigenes  Bemühen  entfesselten  Judenmetzeleien  als 
Taten  der  Umsturzpartei  bezeichnen  und  hierin  den  Vorwand 
zur  Niederwerfung  der  Revolution  finden.  Und  so  ging  sie  ans 
Werk   und  schuf  die  Pogrome  von  1905. 


Kapitel  Drei. 

Die  Oktoberpogrome. 


ICönig  Karl  IX.  von  Frankreich  hat  bekanntlich  während 
der  Bartholomäusnacht  und  der  darauf  folgenden  Wochen  des 
Jahres  1572  die  katholische  Mehrheit  seiner  Untertanen  zur  Er- 
mordung der  Hugenotten  angestiftet  und  dieses  Gemetzel  durch 
seine  eigenen  Truppen  unterstützt.  Gewiß  eine  grauenhafte 
Tat.  Indes  konnte  zu  ihrer  Entschuldigung  der  Umstand  an- 
geführt werden,  daß  die  Hugenotten  ungehorsame  und  auf- 
rührerische Bürger  waren,  häufig  mit  den  Feinden  des  Reiches 
Bündnisse  eingingen  und  Krone  und  Staat  in  deren  Sicherheit 
und  Größe  fortwährend  bedrohten.  Aber  daß  eine  Regierung 
Banden  von  Mördern  und  Plünderern  gegen  ganz  friedliche  und 
ruhige  Untertanen  losgelassen  und  durch  alle  staatlichen  Macht- 
mittel unterstützt  hat  —  ein  solches  Vorgehen  ist  beispiellos, 
und  es  ist  das  traurige  Verdienst  der  russischen  Gewalthaber  von 
1905,  hier  etwas  ganz  Neues  und  noch  nie  Dagewesenes  in  Politik 
und  Geschichte  eingeführt  zu  haben.  Selbst  Dschingisklian  und 
Timurlenk  haben  nur  gegen  Feinde  und  Empörer,  nie  gegen 
gehorsame  Untergebene  gewütet.  Eine  derartige  grausame  Ge- 
wissenlosigkeit, lediglich  aus  politischen  Rücksichten  begangen, 
war  dem  russischen  Beamtentum  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
vorbehalten. 

Unter  dem  Schutze  der  Regierung  war  die  Hetze  seit  langem 
vorbereitet.  Man  ließ  seit  dem  Jahre  1901  überall  ein  Stück  aut- 
führen:  ,,Die  Söhne  Israel",  das  zur  Ermordung  der  Juden  und 
der  mit  ihnen  verbündeten  Liberalen  aufforderte.  Und  wie  die 
Juden  angeblich  den  inneren  Bestand  Rußlands  untergruben, 
so  auch  dessen  äußere  Macht  und  Größe.  In  den  verschiedensten 


204  Die  Oktoberpogrome. 

Provinzen  hatte  das  Beamtentum  seit  dem  Ausbruche  der  revo- 
lutionären Bewegung  „patriotische",  das  heißt  reaktionäre  Ver- 
bände ins  Leben  gerufen.  Das  war  sein  gutes  Recht.  Aber  eine 
bewußte  Lüge  war  es,  wenn  es  durch  diese  Vereinigungen  das 
Richtwort  verbreiten  ließ:  nur  die  Juden  seien  an  den  Miß- 
erfolgen des  Japanischen  Krieges  wie  an  den  inneren  Unruhen 
schuldig.  So  unsinnig  diese  Behauptung  war,  sie  fand  bei  den 
durch  die  nationalen  Niederlagen  gereizten  und  durch  die  Um- 
sturzbestrebungen geängstigten  Bauern  und  niederen  Klassen 
in  den  Städten  bereitwillige  Aufnahme.  Im  allgemeinen  war  bis 
zu  dieser  Zeit  an  den  meisten  Orten  das  Verhältnis  zwischen  den 
jüdischen  Händlern  und  Handwerkern  und  den  slawischen  Klein- 
bürgern und  Bauern  wenn  nicht  freundschaftlich,  so  doch  er- 
träglich gewesen.  Denn  der  wahre  Feind  dieser  Klassen  war  der 
Vampyr  des  Volkes,  der  russische  Wucherer,  der  sogenannte 
,, Kulak"  —  die  ,, Faust"  —  der  über  etwas  Bargeld  verfügende 
Bauer,  der,  wenn  ihm  Juden  in  den  Weg  kommen,  diesen 
unlauteren  Wettbewerb  vorwirft  und  gegen  sie  den  religiösen 
Fanatismus  in  das  Treffen  führt,  damit  er  selbst  mit  ungleich 
schändlicherer  Rohheit  seine  unglücklichen  Opfer  abschlachten 
kann.  Allein  die  politischen  Demütigungen,  some  die  juden- 
feindlichen Umtriebe  des  Beamtentums  hatten  die  unteren 
Klassen  in  Stadt  und  Land  gegen  die  Juden  erregt.  Das  Klein- 
bürgertum bildet  den  reaktionärsten  Teil  der  russischen  Ge- 
sellschaft. In  den  Städten  hatte  nie  eine  wahre  Selbstver- 
waltung bestanden,  hatten  sich  nie  Zünfte  oder  kaufmännische 
Gilden  entwickelt.  So  besaß  das  IQeinbürgertum  kein  eigenes 
soziales  Leben.  In  Unwissenheit  versunken,  ohne  Zusammen- 
hang mit  der  Kulturwelt,  machte  es  eine  konservative  Masse 
voller  Vorurteile  aus,  die  blind  an  der  altrussischen  Überheferung 
hing.  Die  Bauern  aber  hatten  und  haben  noch,  abgesehen 
von  ihrer  kirchlichen  Inbrunst,  nur  für  ihre  materiellen 
Interessen  Teilnahme.  Abergläubig,  unwissend,  gegen  die 
„Feinde  Christi"  aufgehetzt,  schenkten  Kleinbürger  und  Bauern 
gern  einer  Angabe  Gehör,  die  alles  Unheil  der  letzten  Jahre 
auf  die  fremdartige,  anderssprechende  jüdische  Bevölkerung 
abschob.  Und  daran  reihte  sich  der  Entschluß,  unter  der  Füh- 
rung der  Obrigkeit  mit  diesen  verhaßten  Gegnern  abzurechnen. 


Die  Oktoberpogrome.  205 

Den  Allfang  machte  das  agrarische  Gouvernement  Wol- 
hynien,  wo  die  reaktionäre  Gesinnung,  zumal  bei  den  Bauern, 
am  stärksten  vertreten  ist.  Die  Hauptstadt  der  Provinz,  Schi- 
tomir,  zählte  unter  ihren  66  000  Einwohnern  31  000  Juden, 
beinahe  die  Hälfte.  Hier  wurde  das  Pogrom  von  langer  Hand 
durch  die  Behörden  vorbereitet.  Ein  Beamter  des  Älinisteriums 
des  Innern,  Ssagußjewitsch-Hanko,  verbreitete  ganz  offen  einen 
Aufruf,  der  zur  Niedermetzelung  der  Juden  und  Polen  auf- 
forderte, ohne  daß  Polizei  und  Staatsanwaltschaft  gegen  ihn 
eingeschritten  wären.  Hetzapostel,  unter  denen  der  mit  der 
Gendarmerie  in  un verhülltem  Verkehr  stehende  Pristaw  (Po- 
lizeiinspektor) Kujarow  hervortrat,  erzählten  allerorten  auf 
Straßen,  Plätzen  und  in  Dörfern,  daß  die  Juden  die  Christen 
zu  ermorden  und  deren  Kirchen  in  die  Luft  zu  sprengen  beab- 
sichtigten, und  daß  man  daher  die  Juden  und  die  sie  begün- 
stigenden Gebildeten  vorher  töten  müsse.  Die  antirevolutionäre 
Propaganda  liegt  auf  der  Hand. 

Vorstellungen  gegen  dieses  verderbliche  Treiben  bei  dem 
Gouverneur,  auch  von  selten  der  städtischen  Duma,  wurden  als 
grundlos  abgewiesen.  Die  Polizei  aber  ging  um  so  kecker  mit 
ihrer  schändlichen  Tätigkeit  voran.  Als  am  13.  (26.)  April  1905 
ein  Bauernhaufe  jüdische  Ausflügler  überfiel,  mißhandelte  und 
zum  Teil  erschlug,  verhaftete  die  Polizei  nicht  etwa  die  Mörder, 
sondern  die  Teilhaber  an  dem  Ausfluge.  Das  war  der  Prolog  zu 
dem  blutigen  Trauerspiele,  das  am  24.  April  (7.  Mai)  in  Schito- 
mir  aufgeführt  wurde.  Zahlreiche  zugereiste  Fremde  gaben  das 
Zeichen  zum  Angriff.  Aus  den  Dörfern  kamen  ganze  Bauern- 
schaften unter  der  Führung  ihrer  Vorsteher  und  Polizeibeamten. 
Die  bewaffnete  jüdische  Selbstwehr  wurde  von  Polizei  und 
Militär  zersprengt.  Zwölf  Tote  und  eine  große  Menge  Verwun- 
deter zählten  die  Juden,  aber  auch  die  Exzedenten  zehn  Tote 
und  viele  Verwundete  —  ein  Beweis,  daß  die  Selbst^^ehr  sich 
tapfer  verteidigt  hatte.  Am  folgenden  Tage  dauerten  die  Greuel 
fort.  Erst  als  die  Juden  drohten,  gegen  die  Christen  mit  den 
Waffen  in  der  Hand  vorzugehen,  befahl  der  Gouverneur,  am 
26.  April,  gegen  die  Exzedenten  einzuschreiten,  und  nun  ver- 
schwanden diese  wie  mit  einem  Zauberschlage.  Der  Polizeichef 
hatte  ihnen  zugerufen:  ,,Nun,  Brüder,  heute  mrd  es  nichts  mehr 


206  Die  Oktoberpogrome. 

geben.    Es  ist  befohlen  worden,  zu  schießen,  geht  nach  Hause". 
Und  sie  gingen,  diese  angeblichen  Aufrührer. 

In  Bialystok  veranstalteten  die  Soldaten  selber  am  30.  Juli 
ein  furchtbares  Blutbad  unter  den  Juden,  selbstverständlich 
auf  höheren  Befehl,  unter  dem  Vorwande,  daß  sie  Revolutio- 
näre seien. 

Als  im  Gouvernement  Taurien  die  Wogen  der  Freiheits- 
bewegung hoch  zu  gehen  begannen,  bereitete  man  als  Gegen- 
maßregel in  der  Hafenstadt  Kertsch  ein  Pogrom  vor.  Der 
Stadthauptmann  billigte  das  Vorhaben:  ,, Revoltiert  nur  nicht  in 
Gemeinschaft  mit  den  Juden,  dann  wird  nichts  geschehen".  Am 
31.  Juli  begannen  die  ,,Huligans"  —  so  wurden  die  Mitglieder 
der  reaktionären  Verbände,  der  ,,  Schwarzen  Hundert"  genannt  — 
mit  der  Plünderung  und  Zerstörung  der  jüdischen  Wohnungen 
und  Läden.  Polizei  und  Militär,  massenhaft  aufgestellt,  sahen 
ruhig  zu  und  lehnten  jedes  Einschreiten  ab.  Ja,  Polizeiinspek- 
toren und  sogar  der  Polizeidirektor  ermunterten  die  Plünderer 
und  gaben  ihnen  Anweisungen.  Nur  die  reichen  Juden  wurden 
verschont.  Der  Gendarmerierittmeister  Scheremetew  gehörte 
zu  den  hauptsächlichen  Organisatoren  des  Pogroms.  Als  die 
jüdische  Selbstwehr  auf  die  Exzedenten  schoß,  feuerten  die 
Soldaten  auf  jene  und  sprengten  sie  auseinander.  Die  Greuel- 
taten dauerten  bis  zum  Abend  des  1.  August  —  dann 
glaubte  die  Polizei,  es  sei  genug,  und  machte  der  Sache  ein 
Ende.  Es  ist  bezeichnend,  daß  die  Mehrzahl  der  christ- 
lichen Bevölkerung  A^^on  Kertsch  auf  selten  der  mißhandelten 
Juden  stand ;  die  Stadtduma  bewilligte  1 5  000  Mark  zur  Unter- 
stützung der  Opfer,  zum  grimmigen  Ärger  des  Herrn  Stadt- 
hauptmanns. 

Allein  dies  alles  waren  nur  Vorspiele.  Der  große  Moment 
der  Pogrome  war  der  Oktober  1905,  wo,  offenbar  auf  ein  ge- 
gebenes Zeichen,  in  dem  gesamten  Ansiedlungsrayon  imd  noch 
über  diesen  hinaus  die  Judenverfolgungen  ausbrachen.  Sie  bil- 
deten die  Antwort  der  Bureaukratie  auf  die  freiheitlichen  Ver- 
heißungen des  Oktobermanifestes  des  Zaren.  Es  handelte  sich 
für  alle  reaktionären  Elemente  und  zumal  für  das  Beamtentum 
darum,  die  verhaßte  Konstitution  im  Keime  zu  ersticken  und 
durch    Vernichtung    der    Juden    die    ganze    Freiheitspartei    zu 


Die  Oktoberpogrome.  207 

schrecken  und  zu  der  Mehrheit  des  russischen  Volkes  im  Gegen- 
satz zu  bringen. 

So  geschah  es  im  Gouvernement  Bessarabien,  das  sich 
jederzeit  durch  den  Judenhaß  seiner  rumänischen,  griechischen 
und  armenischen  Bevölkerung  ausgezeichnet  hatte.  Waren  doch 
in  Kischinew  die  traurigen  Helden  des  Pogroms  von  1903,  die 
Kruschewan,  Sinadino,  Pronin,  nicht  nur  nicht  bestraft  worden, 
sondern  zu  den  leitenden  Stellungen  in  der  Stadt  emporgestiegen. 
Der  freigesinnte  Gouverneur  Fürst  Urussow,  der  ihrem  Wüten 
einigermaßen  Einlialt  getan  hatte,  wurde  entfernt  und  durch 
einen  Mann  der  ,, Schwarzen  Hundert",  Charusin,  ersetzt,  der 
Kruschewan  und  seine  Pogromagitation  offen  in  Schutz  nahm. 
Am  19.  Oktober  gingen  die  Exzedenten  dann  los,  ein  Kaiserbild 
voran,  unter  Führung  offizieller  Persönlichkeiten,  von  Reiterei 
und  Infanterie  gedeckt.  Die  Polizei  schoß  die  von  den  Huli- 
gans  verwundeten  Juden  vollends  tot.  Der  Gouverneur,  an- 
statt den  mißhandelten  und  beraubten  Juden  zu  Hilfe  zu 
kommen,  erließ  einen  Aufruf,  in  dem  er  diese  als  Angreifer  be- 
schuldigte. Am  26.  abends  kam  von  Petersburg  die  telegra- 
phische Anweisung,  dem  Pogrom  ein  Ende  zu  machen.  Sofort 
hörte  es  auf  —  ein  genauer  Beweis,  daß  es  amtlich  in  Szene 
gesetzt  worden  war,  was  auch  die  Behörden  gar  nicht  in  Ab- 
rede stellten. 

Ähnliche  Szenen  fanden  in  Akkerman  statt,  wo  acht 
Juden  getötet,  ebenso  viele  schwer  verwundet,  80  Läden, 
20  Wohnungen,  388  Familien  ausgeplündert  wurden,  mehr  als 
ein  Drittel  der  jüdischen  Bevölkerung  von  5624  Seelen.  Die 
materiellen  Verluste  wurden  auf  900  000  Rubel  geschätzt. 
Organisiert  war  das  Pogrom  von  dem  Dompfarrer,  einem  Lehrer 
der  Bürgerschule  und  zugereisten  Agitatoren.  An  dem  plan- 
mäßig organisierten  Werke  beteiUgten  sich  Schutzleute  und  ein 
Polizeiinspektor,  alle  in  Uniform.  —  In  Bajramtscha  wurden 
die  Juden  gänzlich  ausgeplündert,  ihre  Läden  angezündet.  Der 
blühende  Wohlstand  der  Juden,  die  fast  die  ganze  Bewohner- 
schaft von  Kalarasch  bildeten,  wurde  durch  Haufen  heran- 
gezogener moldauischer  Bauern  völlig  vernichtet.  Hier  war 
das  Pogrom  besonders  blutig.  Von  den  etwa  4000  Juden  des 
Städtchens  waren  mehr  als  60  getötet,  75  schwer,  200  leicht  ver- 


208  Die  Oktoberpogrome. 

wundet.  Zwei  Synagogen  wurden  durchaus  zerstört.  Noch 
in  68  anderen  bessarabischen  Orten  fanden  Plünderungen  und 
Mißhandlungen  der  Juden  statt,  zumeist  unter  Führung  der 
örtlichen  Beamten.  Als  die  Juden  den  Stadthauptmann  des 
Städtchens  Maschkonitzy  um  Schutz  vor  den  bevorstehenden 
Ausschreitungen  angingen,  erwiderte  er:  ,,Ich  kann  aus 
Maschkonitzy  keine  Ausnahme  machen.  In  ganz  Rußland 
schlägt  man  die  Juden;  warum  soll  man  sie  nicht  auch  in 
Maschkonitzy   hauen?"   — 

Nicht  minder  als  Bessarabien  wurde  das  benachbarte 
Gouvernement  Cherson  von  den  Pogromen  betroffen.  Freilich 
in  der  administrativen  Hauptstadt  gleichen  Namens,  einer 
Mittelstadt  von  70  000  Einwohnern,  ging  die  Sache  noch  ziemlich 
glimpflich  ab,  wennschon  der  Gouverneur  mit  den  ,,Patrioton" 
längere  Zeit  gleiche  Sache  machte  und  ihnen  sogar  die  Militär- 
musik zu  Gebote  stellte.  Aber  das  furchtbarste  aller  Pogrome 
ist  das  von  Odessa,  und  hier  steht  nicht  nur  die  Anstiftung  durch 
die  höchsten  Machthaber  der  Stadt,  sondern  die  hauptsächliche 
Ausführung  durch  Polizei  und  Militär  außer  allem  Zweifel. 
Die  Vorgänge  von  Odessa  reichen  allein  dazu  hin,  die  schwersten 
Anklagen  gegen  die  russischen  Behörden  zu  rechtfertigen. 

Die  bedeutendste  Handelsstadt  des  russischen  Reiches, 
zählte  Odessa  im  Jahre  1905  über  eine  halbe  Million  Einwohner, 
darunter  etwa  165  000  Israeliten,  die  sich  mit  den  dort  domizi- 
lierten Griechen  in  den  kommerziellen  Einfluß  teilten  und  des- 
halb von  diesen  recht  gründlich  gehaßt  wurden.  Ebenso  trugen 
die  Hafenarbeiter,  die  wirtschaftlich  zum  großen  Teile  von  den 
jüdischen  Großhändlern  abhingen,  gegen  diese  Neid  und  Ab- 
neigung im  Herzen.  Aber  in  den  Jahren  1904  und  1905  nahmen 
die  Anhänger  des  freiheitlichen  Fortschrittes  und  sogar  der 
Sozialdemokratie,  der  sich  ungefähr  ein  Viertel  der  gesamten 
Arbeiterschaft  ausdrücklich  zurechnete,  die  herrschende  Stel- 
lung in  Odessa  ein.  Einen  solchen  Zustand  ertrugen  mit  ver- 
bissener Wut  die  administrativen  Häupter  der  Stadt,  der  Stadt- 
hauptmann Wirklicher  Geheimrat  Neidhardt  und  der  Militär- 
kommandant Baron  von  Kaulbars ;  der  erstere  eine  nach  unten 
brutale  und  nach  oben  kriechende  Beamtennatur,  die  unter 
verbindlichen  Formen  grausame  Selbstsucht  verbarg ;  der  andere 


Die  Oktoberpogrome.  209 

ebenso  roh  und  gewaltsam  wie  militärisch  unfähig,  so  daß  er  im 
Japanischen  Kriege  nur  eben  vor  dem  Kriegsgericht  vorbei- 
geschlüpft war.  Beide  Helden  waren  erbitterte  Feinde  der  frei- 
heitlichen Gestaltung  des  Staatswesens,  und  um  .Odessa  zu 
knechten,  zählten  sie  auf  ihre  aus  der  Hefe  der  Bevölkerung 
angeworbene  Polizeimannschaft,  die  mit  ihrer  Willkür  die  Be- 
stechungsgelder schwinden  zu  sehen  fürchtete,  und  auf  die 
Huligans,  die  aus  dem  Pöbel  und  den  Hafenarbeitern  sich 
rekrutierten.  Stadthauptmann  und  Kommandant  beschlossen, 
der  Sache  der  Freiheit  in  Odessa  einen  unheilbaren  Streich  zu 
versetzen  durch  ein  Pogrom,  indem  sie  die  Revolution  in  den 
Juden  träfen,  die  in  überwiegendem  Umfange  sich  selbstver- 
ständlich der  liberalen  Sache  zuneigten.  Schon  zwei  Tage  vor 
dem  Ausbruche  sagte  nach  gerichtlicher  Zeugenaussage  der 
Pristaw  Ratzischewski :  ,,Die  Juden  wollen  Freiheit.  Wir  werden 
zwei-  bis  dreitausend  von  ihnen  abschlachten  —  da  werden  sie 
wissen,  was  Freiheit  ist." 

Am  Tage,  wo  das  Verfassungsmanifest  des  Zaren  in  Odessa 
veröffentlicht  woirde  —  am  18.  Oktober  1905  —  inszenierten 
Neidhardt  und  Kaulbars  das  Pogrom.  Jener  fälschte  Petitionen 
aus  der  Bevölkerung,  die  ihn  angeblich  zum  Einschreiten  gegen 
die  Liberalen  aufforderten,  und  wies  dabei  selbstverständlich 
auf  die  Juden  als  die  eigentlichen  Schuldigen  hin.  Um  1V2  Uhr 
nachmittags  brach  das  Unwetter  mit  Totschlagen  von  Juden  in 
den  Straßen  los.  Ein  Polizeiinspektor  rief  den  Mördern  zu: 
,, Schlagt,  Kinder,  es  wird  euch  nichts  geschehen."  Der  Pristaw 
Pogrebnoj  ordnete  die  Metzelei:  ,, Russen  auf  eine  Seite,  treibt 
die  Juden  auf  die  andere  Seite  und  schlagt  sie !"  Ein  Pristaw- 
gehilfe  Iwanow  tötete  jeden  Juden,  dem  er  begegnete.  Die 
Schutzleute  schössen  auf  die  jüdischen  Häuser.  Die  Kosaken 
arbeiteten  mit  der  Polizei  Hand  in  Hand,  riefen  ihnen  zu: 
,, Fester,  fester!",  sprengten  die  verschlossenen  Tore  jüdischer 
Häuser,  schössen  in  deren  Fenster.  Die  Soldaten  vertrieben 
die  Selbstwehr,  zu  der  sich  auch  viele  ehrenwerte  und  mutige 
Christen  gesellten,  mit  Gewehr-  und  Revolver  Schüssen. 

Am  folgenden  Tage,  dem  19.,  nahm  das  Pogrom  noch 
größeren  Umfang  an.  Es  war  vorzüglich  organisiert.  Überall 
waren  die  Scharen  der  Huligans  von  Soldaten  und  bis  an  die 

Philippson.   Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  TIT.  1"* 


210  Die  Oktoberpogrome. 

Zähne  bewaffneten  Polizeibeamten,  sowie  von  einer  Militär- 
kapelle begleitet,  die  patriotische  Weisen  anstimmte.  So  war 
das  Pogrom  amtlich  anerkannt.  Die  Rollen  waren  gut  verteilt: 
Die  Huligans  und  die  Polizisten  plünderten,  die  Soldaten 
schössen  auf  die  Selbstwehr,  ließen  es  sich  aber  nicht  nehmen, 
auch  tüchtig  mitzurauben.  Auf  ausdrücklichen  Befehl  Neid- 
hardts  schoß  man  auch  auf  Ärzte,  Sanitätskolonnen  und  barm- 
herzige Schwestern,  die  den  verwundeten  Juden  Hilfe  bringen 
wollten.  Es  ist  gerichtlich  festgestellt,  daß  die  Soldaten  und 
Polizisten  weit  mehr  geplündert  und  gemordet  haben  als  die 
Huligans,  die  sich  bisweilen  durch  Geschenke  und  Bitten  be- 
schAvichtigen  ließen.  Die  amtlichen  Metzler  waren  die  schhmm- 
sten  und  unheilvollsten.  Hohe  Offiziere  ordneten  die  Greuel  an 
und  antworteten  humaneren  Untergebenen :  ,,Es  ist  nicht  Ihre 
Sache,  zu  räsonnieren.  Hier  wird  eine  nationale  Frage  ent- 
schieden." Diese  Generale  und  Obersten,  die  vor  den  ver- 
achteten ,,Japs"  sich  immer  nur  nach  der  geeigneten  Rückzugs- 
straße umgesehen  hatten,  retteten  die  nationale  Sache  durch  das 
Meucheln  wehrloser  Juden. 

Polizei  und  Militär  hatten,  wie  sie  selber  aussagten,  den 
dienstlichen  Befehl,  ,,drei  Tage  lang  die  Juden  zu  schlagen". 
Und  in  der  Tat  war  der  dritte  Tag  —  der  20.  Oktober  —  der 
schlimmste.  Verkleidete  Schutzleute  schössen  aus  Häusern,  um 
Militär  und  Polizei  den  Vor  wand  zu  neuen  Greueln  zu  geben, 
General  Derjugin  rief  einer  vor  ihm  defilierenden  Schar  von 
Huligans  zu:  ,,Auch  ihr  geht,  um  die  Juden  zu  schlachten.  Ich 
segne  euch  zur  Tat.  Wie  schade,  daß  man  nur  den  Pöbel  dafür 
verwendet  und  wir  selber  nicht  hingehen  dürfen.  Und  doch  ist 
es  unsere  heilige  Pflicht."  Obersten  sah  man  an  den  Diebstählen 
sich  bereichern.  Neidhardt  selbst  rief  um  Hilfe  flehenden  Juden 
zu:  ,,Ich  kann  nichts  machen.  Ihr  wolltet  Freiheit.  Da  habt  ihr 
eure  jüdische  Freiheit !"  Den  Huligans  dankte  er  strahlenden 
Antlitzes,  und  sie  riefen  ihm  Hurra  zu.  Die  Schutzleute  haben 
gerichtlich  ausgesagt,  die  Pristaws  hätten  ihnen  befohlen,  die 
Juden  auszuplündern  und  zu  morden.  Die  Behauptung  Neid- 
hardts,  Polizei  und  Militär  seien  von  den  Juden  zuerst  ange- 
griffen worden,  erweist  sich  durch  den  Umstand  als  ein  Märchen, 
daß  während  der  ganzen  Unruhen  nur  ein  Soldat  getötet  und 


Die  Oktoberpogrome.  211 

einer  verwundet,  von  den  Polizisten  nur  zwei  getötet  und  wenige 
verwundet  wurden,  und  zwar  vorzugsweise  durch  eigene  Un- 
vorsichtigkeiten und  Mißverständnis. 

Mit  dem  21.  lief  die  dreitägige  Frist  für  das  Morden  ab. 
Kaulbars  erließ  einen  Befehl,  auf  die  Plünderer  zu  schießen; 
Neidhardt  ging  auf  die  Straße  und  sagte  freundlich  zu  den 
Huligans:  ,, Genug,  Brüder,  geht  nun  nach  Hause".  Sofort 
endigten  alle  Gewalttaten  und  Pogroms. 

Sein  Ergebnis  war:  302  Juden  tot,  viele  Vermißte  —  also 
auch  wahrscheinlich  Getötete  —  mehrere  Tausend  Verwundete, 
3  Vi  Millionen  Rubel  an  materiellem  Schaden ,  Tausende  von 
Familien  an  den  Bettelstab  gebracht.  42  975  Juden  waren  von 
den  Unruhen  betroffen  worden.  Der  Handel  Odessas  war  schwer 
geschädigt,  grimmer  Haß  zwischen  den  Juden  und  der  Mehrheit 
der  Christen  erzeugt.  Neidhardt  und  Kaulbars  schoben  sich 
gegenseitig  die  Schuld  an  dem  Vorgefallenen  zu.  Aber  man 
wußte,  daß  beide  die  Hauptverbrecher  waren.  Als  die  Frau 
Neidhardt  sich  an  die  Spitze  eines  ,, Hilfskomitees"  stellte, 
erließen  Odessaer  Bürger  den  Aufruf:  ,,Wir  fordern  alle  Bürger 
auf,  das  huliganische  Hilfskomitee,  das  von  der  Gemahlin  des 
Oberhuligans  Neidhardt  organisiert  wurde,  zu  boykottieren". 
In  der  Tat  wies  das  jüdische  Hilfskomitee  auch  die  privaten 
Gaben  der  Damen  Kaulbars  und  Neidhardt  zurück.  Neidhardt 
mußte  seine  Entlassung  nehmen,  wurde  strafgerichtlich  belangt, 
kam  aber  nach  einer  Scheinuntersuchung  des  Senators  Kus- 
minski  straflos  davon. 

Ein  Musterbeispiel  für  die  Behandlung  dieser  Pogrome 
durch  die  leitenden  Kreise  Rußlands  ist  der  Bericht  des  Senators 
Kusminski  vom  12.  Januar  1906.  Er  schließt  nämUch  dahin: 
,,Die  bei  mir  eingegangenen  Auskünfte,  sowie  das  mir  zur  Ver- 
fügung gestellte  Material  bieten  keinerlei  auf  tatsächliche  An- 
gaben gestützte  Beweise,  daß  das  Pogrom  vom  Statthalter 
Neidhardt  absichtlich  erzeugt  worden.  Im  Gegenteil,  die  sorg- 
fältige Prüfung  der  Verhältnisse,  unter  denen  bei  der  im  Odessaer 
Hafen  lebenden  russischen,  meist  aus  Arbeitern  bestehenden 
Bevölkerung  der  Gedanke  aufgekommen  und  durchgefülirt 
worden  ist  von  einer  patriotischen  Manifestation,  die  gegen  die 
am    18.    Oktober    stattgefundenen   revolutionären   Demonstra- 

14* 


212  Die  Oktoberpogrome. 

tionen  der  Juden  gerichtet  sein  sollte,  die  die  treuen  Untertans- 
und Nationalgefühle  des  wohlgesinnten  Teiles  der  russischen 
Bevölkerung  in  herausfordernder  Weise  A^erletzt  hatten,  weist 
keinerlei  Tatsachen  auf,  die  nicht  etwa  von  einer  Aufreizung, 
sondern  selbst  von  einer  Teilnahme  der  Vertreter  der  Obrigkeit, 
sei  es  auch  der  untersten  Polizeibeamten,  an  der  Veranstaltung 
dieser  patriotischen  Manifestation  zeugen  dürften."  Trotz  dieser 
im  krassesten  Widerspruche  mit  der  Wirklichkeit  stehenden  Be- 
hauptungen erhob  Kusminski  die  Anklage  gegen  Neidhardt  bei 
dem  ersten  Departement  des  Senats,  aber  nicht  etwa  wegen  An- 
ordnung und  Begünstigung  des  Pogroms,  sondern,  weil  der  Gou- 
A^erneur  gegenüber  den  revolutionären  Tumulten  der  Juden  und 
der  Studenten  allzu  große  Nachsicht  gezeigt  habe ! 

Weiter  konnte  man  die  absichtliche  Umdrehung  der  zweifel- 
losesten Tatsachen  wohl  nicht  treiben. 

Tn  seiner  Rechtfertigungsschrift  enthüllt  Neidhardt  die 
wahre  Gesinnung  der  russischen  Bureaukratie ,  indem  er  an- 
führt, ,,daß  die  Militär-  und  Zivilobrigkeit  zurzeit  die  Haupt- 
gefahr nicht  eben  im  Pogrom,  sondern  in  den  Angriffen  der 
Revolutionäre  gegen  die  Obrigkeit,  die  Soldaten  und  Polizisten 
zum  Zwecke  der  Umwälzung  erblickt  habe".  Er  legte  Berichte 
von  Polizeibeamten  bei,  die  selbstverständlich  darauf  hinaus 
liefen,  daß  Polizei  und  Militär  überall  nur  auf  mörderische 
Angriffe  ,,von  Juden  und  Studenten"  tätlich  eingeschritten 
seien.  Auch  hätten  Juden  christliche  Familien  zu  ermorden 
versucht  —  wobei  wunderbarereise  die  angegriffenen  Christen 
jedesmal  unversehrt  davonkamen,  die  ..jüdischen  Mörder"  aber 
selber  den  Tod  fanden. 

Das  Odessaer  Pogrom  hat  mehr  als  jedes  andere  durch 
seinen  offenbaren  Zusammenhang  mit  sehr  hochgestellten  Be- 
amten und  durch  ihr  straffreies  Wüten  das  Ansehen  und  die 
INIacht  des  Huligans  vor  der  ganzen  Welt  erAviesen.  Ihr  Einfluß 
ist  eben  dadurch  ungeheuer  angewachsen.  In  Odessa  selbst 
traten  alle  Schwankenden  zu  dem  ..Verbände  der  echt  russischen 
Leute"  hinüber,  und  die  früher  freiheitlich  gesinnte  Stadtduma 
erhielt  eine  reaktionäre,  judenfeindliche  Mehrheit.  In  diesem 
Sinne  hat  das  Pogrom  der  Herren  Neidhardt  und  Kaulbars  seinen 
ZAveck  vollkommen  erreicht. 


Die  Oktoberpogrouie.  213 

Selbstverständlich  erstreckte  es  sich  auch  auf  zahlreiche 
Ortschaften  in  der  Umgebung  Odessas. 

In  Ananjew  verhinderten  der  Bürgermeister  und  die  In- 
telligenz des  Städtchens  eine  weitere  Ausdehnung  des  schon  be- 
gonnenen Pogroms,  trotz  dem  Polizeichef  und  dem  Vizegouver- 
neur Gortschakow.  Anderwärts  ermunterten  die  Behörden  zur 
Plünderung  und  Mißhandlung  der  Juden  mit  der  Begründung, 
daß  diese  ja  alle  Revolutionäre  seien. 

In  Jelissawetgrad  mit  seinen  62  000  Einwohnern,  darunter 
24  000  Juden,  waren  in  der  Tat  nur  diese  freiheitlich  gesinnt, 
sonst  die  Stadt  durchaus  reaktionär.  Um  so  eifriger  organi- 
sierte der  neu  ernannte  Polizeimeister  Suchorukow  das  Pogrom, 
das  seine  Beamten  leiteten,  und  das  die  Kosaken  durch  Be- 
kämpfung der  jüdischen  Selbst  wehr  ermöglichten  Ergebnis :  elf 
Juden  tot,   150  verwundet,   1V4  Millionen  Rubel  Schaden. 

In  der  Militär-  und  Beamtenstadt  Nikolajew,  die  unter 
ihren  mehr  als  100  000  Einwohnern  23  000  Juden  zählte,  ist 
amtlich  festgestellt  worden,  daß  das  Pogrom  —  als  Antwort 
auf  das  zarische  Verfassungsmanifest  —  von  den  dortigen  Be- 
hörden organisiert  worden  und  nach  einem  vorher  gefaßten 
Plane  unter  offenkundigem  Schutze  und  tätiger  Beihilfe  der 
dortigen  Polizeibeamten  verlaufen  ist.  Den  Pogromlern  ging 
ein  Militärmusikkorps  voran,  dem  die  Manifestierenden  unter 
Absingung  der  Nationalhymne  und  des  Kirchenliedes  ,, Errette, 
o  Gott,  deine  Menschen!"  folgten;  hinterher  schritten  die  Huli- 
gans,  so  daß  das  Singen  und  Spielen  von  dem  Klirren  zer- 
schlagener Fensterscheiben  und  dem  Krachen  zertrümmerter 
Geräte  und  Möbel  begleitet  war.  Den  Zug  schloß  ein  Trupp  Sol- 
daten, der  den  Pogromlern  den  Rücken  deckte.  An  dern  Zuge 
nahmen  auch  höhere  und  niedere  Polizeibeamte,  zum  großen 
Teil  in  Uniform,  Anteil.  Die  Kosaken  legten  gelegentlich  auch 
bei  der  Plünderung  der  jüdischen  Wohnungen  und  bei  der  Miß- 
handlung ihrer  Inhaber  mit  Hand  an.  Der  Stadthauptmann 
Sagaramski j-Kissel  aber  erwiderte  sowohl  den  ihn  um  Schutz 
anflehenden  Juden  wie  einer  aus  Christen  und  Israeliten  ge- 
mischten Deputation  angesehener  Bürger:  ,,Ich  bin  ganz  außer 
Fassung,  ich  kann  nicht  helfen".  Genau  nach  der  vorher  be- 
stimmten Dauer  von  vierundzwanzig  Stunden  hörte  das  Pogrom 


214  Die  Oktober]iogi'ome. 

auf,  das  zwar  nur  wenige  Menschenleben,  der  jüdischen  Be- 
völkerung aber  2^/2  IVIillionen  Rubel  kostete. 

In  dem  Städtchen  Ovidiopol  bei  Akkerman  machten  die 
Bewohner  der  benachbarten  deutschen  Kolonie  Groß-Liebental 
dem  Pogrom  ein  Ende. 

Noch  73  weitere  Orte  des  Gouvernements  Cherson  wurden 
von  Unruhen,  die  oft  einen  blutigen  Charakter  annahmen, 
heimgesucht.  Schändlich  war  das  Wüten  auf  den  Eisenbahn- 
stationen, wo  Juden,  die  auf  der  Bahn  zu  fliehen  gedachten,  von 
den  Angestellten  und  Arbeitern  grausam  verstümmelt  oder 
niedergemacht  A^Tirden.  Wie  xiele  Greuel  dort  vorkamen,  ^nrd 
nie  im  ganzen  Umfange  festgestellt  werden  können.    — 

Das  Gouvernement  Taurien  —  die  Krim  —  enthält  eine 
buntgemischte  Bevölkerung  von  Tataren,  Griechen,  Arme- 
niern, Deutschen,  Russen,  die  bis  zum  Herbst  1905  in  Frieden 
und  Eintracht  mit  den  Juden  gelebt  hatte.  Es  ist  durch  Hun- 
derte von  einwandfreien  Zeugen  vor  Gericht  bewiesen  worden, 
daß  die  Pogrome  in  den  dortigen  Städten  Simferopol  und 
Theodosia  direkt  von  der  Polizei  in  Szene  gesetzt  und  weniger 
gegen  das  Eigentum  als  gegen  das  Leben  der  dortigen  Juden 
gerichtet  waren.  In  dem  ersten  Orte  Avurden  42  Juden  ge- 
tötet, zahlreiche  schwer  verwundet;  in  dem  zweiten  11  oder  12 
getötet,  10  verwundet.  Außerdem  gab  es,  infolge  der  mora- 
lischen Ansteckung,  einige  kleinere  Pogrome,  die  nicht  von  der 
Polizei  veranstaltet,  aber  von  ihr  geduldet  waren;  bezeichnender- 
weise wurde  da  nur  geraubt,  aber  nicht  gemordet.  Das  letztere 
war  eben  eine  Spezialitat  der  Polizei  und  des  Militärs.  — 

Die  Hauptstadt  Jekaterinoslaw  des  gleichnamigen  Gou- 
vernements hatte  schon  im  Juli  1883  ihre  reaktionäre  Gesinnung 
durch  ein  Pogrom  zu  erkennen  gegeben  (vgl.  oben  Seite  149). 
Um  so  verhaßter  war  ihrer  Bevölkerung  die  politische  Tätigkeit 
einer  Anzahl  von  jüdischen  Sozialisten  und  Poale-Zionisten, 
und  es  war  deshalb  bereits  im  Juli  1905  zu  antisemitischen  Un- 
ruhen gekommen,  die  aber  von  dem  damaligen  stellvertretenden 
Gouverneur  Lopuchin  alsbald  durch  tatkräftige  Maßregeln 
unterdrückt  A\airden.  Allmählich  ergriff  die  re\'olutionäre 
Stimmung  auch  die  christliche  Arbeiterschaft  und  die  Eisenbahn- 
angestellten.    Ein  allgemeiner  Streik  wurde  durchgeführt,  lief- 


Die  Oktoberpogronie.  215 

tige  Kämpfe  zwischen  Arbeitern  und  Soldaten  fanden  statt; 
letztere  behielten  die  Oberhand  (10.  bis  14.  Oktober).  Um  den 
unruhigen  Elementen  einen  heilsamen  Schrecken  einzujagen, 
bereiteten  die  Behörden  ein  Pogrom  vor  und  hetzten  zumal  die 
Soldaten  gegen  die  Juden  auf,  die  sie  diesen  als  die  eigentlich 
Schuldigen  immer  und  immer  Avieder  bezeichneten.  An  den  drei 
Bluttagen  des  21,,  22.  und  23.  Oktober  wurde  das  Pogrom  dann 
von  etwa  1000  Menschen  der  unteren  Volksklassen,  sowie  von 
den  Feuerwehrmännern,  Polizisten  und  dienstfreien  Soldaten  in 
Szene  gesetzt.  Die  Plünderer  wären  mit  leichter  Mühe  von  der 
Selbstwehr  der  41  000  Seelen  zählenden  jüdischen  Bevölkerung 
sowie  von  der  Arbeiterselbstwehr  zurückgetrieben  worden,  wenn 
das  Militär  sich  ihnen  nicht  überall  feindlich  gegenübergestellt 
hätte.  67  Juden  und  mehr  als  30  Russen  wurden  getötet ;  mehr 
als  die  Hälfte  waren  den  Kugeln  und  Bajonetten  der  Soldaten 
zum  Opfer  gefallen.  Der  Gouverneur,  der  auch  Neidhardt  hieß, 
forderte  nur  zur  Niederlegung  der  Waffen,  das  heißt  zur  Ent- 
Avaffnung  der  Selbstwehr,  auf.  Erst  am  Abend  des  23.  ließ  er 
das  Pogrom  unterdrücken. 

Auch  in  Alexandrowsk  sahen  die  Behörden  ruhig  dem 
Pogrom  zu,  das  von  höheren  Beamten  geleitet  wurde.  Der 
Gendarmerie-Rittmeister  Bugadowskij  rief  aus:  .,Wenn  ich 
auch  bis  ans  Knie  in  jüdischem  Blute  waten  soll,  wird  mich  das 
nicht  abschrecken,  aber  die  Revolution  muß  ich  unterdrücken". 
Die  Selbstwehr  wurde  von  den  Kosaken  mit  Waffengewalt  aus- 
einander gesprengt.  Ergebnis:  7  Juden  tot,  46  verwundet, 
250  Familien  geplündert,  alle  jüdischen  Läden  ausgeraubt  und 
dann  —  ein  für  Alexandrowsk  besonderes  Moment  —  in  Brand 
gesteckt.  Weiteres  Unheil  wurde  nur  durch  Bestechung  der 
Behörden  abgewendet. 

Das  Pogrom  von  Bachmut  trug  den  Charakter  einer  all- 
gemeinen, vom  Staate  erlaubten  und  systematisch  geleiteten 
Plünderung  der  gesamten  jüdischen  Bevölkerung.  Vier  Mil- 
lionen Rubel  an  Wert  wurden  ihr  abgenommen.  Die  Personen 
wurden  geschont.  Die  Schuld  der  Polizei  war  so  offenbar, 
daß  sie  gar  kein  Leugnen  versuchte.  Dagegen  gab  es  in 
dem  Industrieorte  Jusowka  unter  den  Juden  zwölf  Tote  und 
gegen  hundert  Verwundete  und  Verstümmelte;  hier  waren  die 


216  Die  Oktoberpogrome. 

Vorgänge  rein  politischer  Natur;  die  Polizei  liatte  sie  nicht 
veranlaßt,  sah  aber  untätig  zu. 

In  Mariupol  dagegen  war  der  Urheber  und  Leiter  des  Po- 
groms der  Chef  der  dortigen  politischen  Polizei,  Belochwostow, 
unterstützt  von  seinem  Vorgesetzten,  dem  Polizeimeister,  und 
sämtlichen  Polizeibeamten.  Er  hetzte  persönlich  das  Volk  auf, 
indem  er  überall  ausrief:  ,,Haut  die  Juden,  daß  kein  einziger  am 
Leben  bleibe,  denn  sie  quälen  ja  Rußland".  Die  Polizei  wurde 
in  ihrem  Treiben  hier,  wie  fast  überall,  von  der  Geistlichkeit 
eifrig  unterstützt.  Der  Polizeimeister  Sdorow  und  der  Bürger- 
meister führten  selber  am  21.  Oktober  das  Pogrom  an  und  legten 
die  guten  Absichten  des  Militärkommandanten  brach.  Da 
schössen  die  Kosaken  auf  die  Mitglieder  der  jüdischen  Selbst- 
wehr. Entsetzliche  Greueltaten  wurden  an  den  Juden  verübt, 
unter  der  lebhaften  Billigung  Belochwostows :  ,, Brave  Kerle, 
ihr  habt  Mariupol  von  den  Juden  gereinigt.  Die  müssen  ge- 
schlagen werden."  22  Israeliten  wurden  getötet,  76  jüdische 
Familien  erlitten  einen  Verlust  von  1V4  Millionen  Rubel. 

Noch  weitere  19  Orte  des  Gouvernements  Jekaterinoslaw 
hatten  Pogrome  zu  verzeichnen.    — 

Im  Gouvernement  Poltawa  war  es  Krementschug,  wo  am 
19.  Oktober  ein  Pogrom  sich  abspielte,  das  von  dem  Bürger- 
meister, mehreren  Pristaws,  dem  Realschuldirektor  veranlaßt 
und  geleitet  wurde.  Werte  von  zwei  Millionen  Rubel  wurden 
vernichtet  oder  geraubt.  Weiteres  Unheil  verhütete  die  jüdische 
Selbstwehr.  Auch  in  der  Industriestadt  Romny  belief  der 
Schade  sich  auf  zwei  Millionen  Rubel.  Sonst  waren  noch 
49  Ortschaften  von  Pogromen  betroffen.  Überall  sah  die  Polizei 
untätig  zu,  sagte  schließlich:  ,,Nun  ist  es  genug",  und  die 
Plünderer  gingen  sofort  auseinander.  Die  Ausschreitungen  im 
Gouvernement  Poltawa,  wo  die  christliche  Bevölkerung  ver- 
hältnismäßig aufgeklärt  und  freidenkend  ist,  trugen  im  ganzen 
einen  harmloseren  Charakter  und  waren  nur  das  Werk  einiger 
offizieller  Macher.   — 

Der  Gouverneur  der  Provinz  Tschernigow,  Chwostow,  war 
ein  Tschinownik  alten  Schlages,  beschränkt,  unwissend,  unbe- 
dingter Anhänger  des  Überlieferten  und  grimmiger  Gegner  jeder 
Neuerung.    Er  war  besonders  Feind  der  Juden,  die  er  in  seinen 


Die  Oktoberpogronie.  217 

amtlichen  Organen  unaufhörlich  als  Urheber  alles  Übels  in  der 
Welt,  als  Ausbeuter  und  Aussauger,  als  Hasser  des  Christentums 
und  Rußlands,  als  Revolutionäre  und  Herrschsüchtige  angreifen 
ließ.  Mit  solchen  Gesinnungen  erfüllte  er  alle  von  ihm  abhän- 
gigen Persönlichkeiten  und  Behörden,  bis  zum  untersten  Polizei- 
diener herab.  Die  Kleinbürger  und  Bauern  des  Gouverne- 
ments, die  gewohnt  waren,  der  Obrigkeit,  den  Vertretern  des 
,, Väterchens  Zar",  unbedingt  zu  folgen,  nahmen  von  ihnen  um 
so  lieber  auch  die  Gegnerschaft  wider  die  Juden  an,  als  bei  ihr 
Plünderung  und  Beute  winkten.  In  keiner  Provinz  wurde  die 
Pogrombewegung  so  allgemein  \vie  in  diesem  zurückgebliebenen 
agrarischen  Gouvernement.  In  mehr  als  320  Orten,  wo  aller- 
dings meist  nur  wenige  Judenfamilien  wohnten,  hat  sie  gewütet. 
In  manchen  Dörfern  und  Städtchen  freilich  haben  die  intelli- 
genteren und  aufgeklärten  Bewohner  oder  die  Geistlichen  oder 
das  Auftreten  der  Selbst  wehr  die  Unruhen  schnell  unterdrückt. 
Aber  nur  in  der  einzigen  Stadt  Dobrjanka  hat  die  Obrigkeit  in 
Gestalt  des  edlen  und  mutigen  Polizeikommissars  Bardowski,  der 
auch  kein  Geschenk  von  den  Juden  annahm,  das  Pogrom  ver- 
eiteln helfen.  In  der  Hauptstadt  Tschernigow  dagegen  gab  der 
Gouverneur  selber  das  Zeichen  zum  Ausbruche,  wobei  unifor- 
mierte Polizisten  überall  mithalfen.  Der  Pristaw  Popow  hatte 
Hetzer  in  die  benachbarten  Dörfer  gesandt,  um  die  Bauern  zu- 
sammenzurufen. Aber  die  300  Mann,  darunter  50  Christen, 
starke  Selbst  wehr  machte,  obwohl  mit  dem  Verluste  von  20  Ver- 
wundeten, dem  Progom  schon  nach  der  Dauer  weniger  Stunden 
ein  Ende. 

Weniger  günstig  verlief  die  Bewegung  in  anderen  Städten. 
In  dem  Fabrikorte  Klintzy  trommelte  die  Polizei  unter  dem 
Vorgeben,  der  Zar  habe  es  befohlen,  Arbeiter  und  Bauern  gegen 
die  Juden  zusammen,  deren  Häuser  sie  durch  leicht  sichtbare 
Zeichen  kenntlich  gemacht  hatte.  Der  Pristaw  feuerte  die  Ex- 
zedenten,  wenn  sie  müde  geworden  waren,  zu  neuen  Schand- 
taten an.  Eine  Million  Rubel  an  Werten  wurden  vernichtet  oder 
geraubt,  während  es  glücklicherweise  an  Toten  und  Verwundeten 
nur  wenige  in  Klintzy  gab.  Auch  in  Nowgorod- Sjewersk  standen 
der  Vize-Polizeikommissar  und  der  Polizeiinspektor  an  der  Spitze 
der  Plünderer.     In  Starodub  hatte  die  Selbstwehr  die  Huligans 


218  Die  Oktoberpogrome. 

zerstreut,  als  der  Isprawnik  (Polizeikommissar)  alle  Kirchen- 
glocken läuten  ließ  und  so  die  Mordgesellen  zu  Tausenden  zu- 
sammen berief.  Die  Selbstwehr  ^ATirde  überwältigt,  die  Syna- 
gogen und  viele  Häuser  angezündet,  550  Familien  an  den  Bettel- 
stab gebracht,  ein  Schaden  von  1V2  Millionen  Rubel  angerichtet. 
Die  städtische  Miliz,  die  von  der  Polizei  unabhängig  war,  ver- 
trieb endlich  die  von  dieser  geführten  Banditen.  In  Surasch 
organisierte  gleichfalls  der  Vize-IsprawTiik  Potemkin  auf  Befehl 
des  Gouverneurs  Chwostow  das  Pogrom,  dessen  Leiter  im  ein- 
zelnen die  Polizisten  wurden.  Ähnlich  ging  es  in  Nowosybkow 
zu,  wo  unter  der  Führung  der  gesamten  Polizei  zwei  Juden  ge- 
tötet, 19  verwundet,  237  Läden,  3  Druckereien,  7  Gasthäuser, 
eine  Bank.  8  Bierhallen,  8  Bäckereien,  ein  technisches  Bureau, 
zahlreiche  Handwerkstätten  und  Wohnungen  völlig  ausge- 
plündert und  ein  Schaden  von  1  800  000  Rubeln  angerichtet 
^vurde.  Die  gesamte  jüdische  Bevölkerung  von  4000  Seelen  war 
ruiniert,  die  Stadt  glich  einem  Trümmerhaufen.  Als  der  Vor- 
sitzende des  Provinzialsemstwos  und  der  Kreisadelsmarschall 
sich  über  dies  empörende  Vorgehen  der  Polizei  bei  dem  General 
Dubassow  beschwerten,  antwortete  dieser  ihnen,  es  sei  ganz 
recht  so,  denn  die  Juden  seien  allesamt  Revolutionäre. 

Und  doch  gab  es  an  vielen  Orten  gar  keine  Juden  unter 
den  Neuerern.  So  auch  in  Koseletz,  wo  die  Polizei  nichtsdesto- 
weniger ein  Pogrom  in  Szene  setzte,  das  fünfzig  Stunden  dauerte. 
Das  Militär  kam  erst,  als  die  Sache  schon  zu  Ende  war.  In 
Semjonowka  töteten  die  Huligans  neun  Juden  und  verwundeten 
13  andere  schwer,  richteten  auch  von  den  1500  dort  wohnenden 
Juden  263  Familien  mit  1318  Personen  zugrunde.  Die  Soldaten 
kamen  selbstverständlich  zu  spät. 

Die  christliche  Bevölkerung  von  Njeschin,  wo  unter  35  000 
Einwohnern  10  000  Juden  lebten,  war  von  jeher  antisemitisch 
gesinnt  und  hatte  schon  1881  ein  Pogrom  veranstaltet.  Kein 
Wunder,  daß  die  dortigen  Israeliten  sich  mit  Begeisterung  der 
freiheitlichen  Bewegung  anschlössen.  Um  so  feindlicher  waren 
ihnen  die  reaktionären  Elemente.  Am  19.  Oktober  schlugen  sie 
los,  geschützt  von  den  etwa  1000  Soldaten,  die  die  jüdische 
Selbstwehr  bald  brach  legten.  Als  der  Staatsanwalt  Gljebow 
den  Gouverneur  telegraphisch  um  Abstellung  des  Pogroms  an- 


Die  Oktoberpogrome.  219 

ging,  antwortete  Chwostow :  er  könne  doch  ,, russischen  Leuten 
nicht  verwehren,  ihre  patriotischen  Gefühle  zum  Ausdruck  zu 
bringen".  Die  Polizei  verhielt  sich  demgemäß  vollkommen 
passiv.  Die  geängstigten  Juden  gaben  alle  ihre  Waffen  ab  und 
versprachen,  sich  völlig  zu  unterwerfen.  Sie  mußten  in  öffent- 
licher Versammlung,  umgeben  von  einer  tausendköpfigen  feind- 
lichen Menge,  dem  Zaren  schwören  und  die  ,, Demokraten"  unter 
ihnen  ausHefern;  inz\^dschen  plünderten  die  Huligans  ^äele 
Judenhäuser.  Erst  am  sechsten  Tage  der  Unruhen  machte 
diesen  das  Militär  ein  Ende.   — 

Im  Gouvernement  KicAv  kommt  ganz  besonders  dessen 
gleichnamige  Hauptstadt  in  Betracht,  mit  ihren  450  000  Ein- 
wohnern, unter  denen  sich  ungefähr  70  000  Juden  befanden. 
Die  ,, heilige  Stadt"  war  von  jeher  ein  Mittelpunkt  russischen 
orthodoxen  Fanatismus  gewesen,  der  durch  die  großen  Wall- 
fahrten zu  ihren  Heiligtümern  stete  Nahrung  erhielt.  Bureau- 
kratismus  und  die  Anwesenheit  vieler  Landadeliger  erhöhten 
die  konservative  Gesinnung.  Gegenüber  diesen  Elementen  des 
Beharrens  entv^dckelte  sich  in  Kiew  eine  immer  wachsende 
Handelstätigkeit,  da  hier  der  Verkehr  zwischen  dem  Westen  und 
dem  Osten  des  ungeheuren  Reiches  sein  Emporium  begründete. 
An  dieser  Entfaltung  und  dem  dadurch  aufblühenden  Wohl- 
stande der  Stadt  nahmen  die  Juden  einen  wesentlichen  Anteil. 
Allerdings  hatten  von  ihnen  nur  einerseits  die  Großkaufleute  und 
anderseits  die  Handwerker  hier  gesetzliches  Wohnrecht,  aber 
die  ökonomische  Notwendigkeit  führte  auch  zalillose  andere 
Hebräer  dorthin,  die  ihre  Duldung  durch  stete  Gaben  an  die 
Polizei  erkauften.  So  Avurden  die  Jahreseinnahmen  eines  jeden 
Pristaws  in  den  Judenbezirken  Kiews  auf  20 — 30  000  Rubel 
berechnet.  Dazwischen  ordneten  die  höheren  Behörden  ge- 
legentliche Razzias  an  zur  Aufstöberung  der  nicht  wohnberech- 
tigten Juden,  die  dann  zu  Tausenden  aus  der  Stadt  vertrieben 
wurden  —  wie  es  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  geschieht.  Der 
Charakter  der  Kiewer  Reaktion  ist  ein  besonders  finsterer  und 
fanatischer,  und  so  war  unter  der  christlichen  Bevölkerung  auch 
der  Antisemitismus  sehr  weit  verbreitet.  Das  einflußreichste 
Lokalblatt,  der  ,,Kiewljanin",  konnte  sich  in  judenhetzerischen 
Artikeln  und  Aufforderungen  nicht  genug  tun.      Gerade    der 


220  Die  Oktoberpogronie. 

wirtschaftliche  Aufschwung  des  jüdischen  Großhandels  erregte 
Neid  und  Mißgunst.  •  Die  Universität  erfüllte  sich  mit  juden- 
feindlichem Geiste,  ließ  keinen  jüdischen  Dozenten  zu  und  er- 
schwerte jüdischen  Kanditaten  die  Prüfungen  bis  zu  völliger 
Ausschließung.  Die  Vereine  nahmen  keinen  Juden  auf.  Die 
Stadtduma  erhielt  eine  antisemitische  Mehrheit.  Schon  im 
Jahre  1881  hatte  in  Kiew  ein  Pogrom  stattfinden  können  (siehe 
oben  Seite   120  f.). 

Aber  der  freiheitliche  Geist  hatte  seit  dem  Jahre  1904  auch 
in  Kiew  seinen  Einzug  gehalten,  einen  Teil  der  Bürgerschaft 
und  zumal  fast  die  gesamte  Studentenschaft  der  Universität 
und  der  technischen  Hochschule  ergriffen.  Es  kam  zu  groß- 
artigen Manifestationen  freiheitlichen,  ja  revolutionären  Cha- 
rakters, die  wiederum  die  Übertragung  aller  staatlichen  Gewalt 
an  die  militärischen  Behörden  zur  Folge  hatten.  Diese  gingen  mit 
Massen  Verhaftungen  gegen  die  Urheber  des  seit  dem  14.  Ok- 
tober 1905  proklamierten  Generalstreiks  vor.  Eine  große  Volks- 
versammlung am  18.  Oktober  zur  Feier  des  Verfassungsmani- 
festes des  Zaren  wurde  urplötzlich,  ohne  jede  vorherige  An- 
kündigung, durch  das  Militär,  von  dem  in  Kiew  20  000  Mann 
standen,  blutig  zersprengt.  Hinter  dem  Militär  drängten  die 
..echten  Russen",  die  Huligans,  heran,  und  deren  Tätigkeit 
konzentrierte  sich  im  Nu,  nach  einem  offenbar  vorher  gegebenen 
Losungsworte,  gegen  die  Juden,  deren  ungeheure  Mehrzahl  sich 
an  den  politischen  Vorgängen  gar  nicht  beteiligt  hatte.  Die 
Juden  blieben  völlig  schutzlos.  Der  kommandierende  General 
Karaß  und  der  zeitweilige  Gouvernementschef  Rafalsky  waren 
nicht  zum  Einschreiten  zu  bewegen.  Auch  ein  Befehl  des  tele- 
graphisch angerufenen  Ministerpräsidenten  Witte,  das  Pogrom 
zu  unterdrücken,  blieb  durchaus  unbeachtet.  Der  Stadt- 
kommandant General  Drake  schloß  die  Augen.  Der  eigent- 
liche Leiter  des  Pogroms  wurde  Generalmajor  Bessonow.  Als 
ein  hochgestellter  Beamter  ihm  Vorstellungen  machte,  er- 
widerte er:  ,,Was  für  ein  Pogrom?  es  ist  eine  Manifestation". 
—  ,,Aber",  wandte  jener  ein,  ,,es  ist  doch  keine  Manifestation, 
sondern  Raub  am  hellen  Tage."  —  ,,Na,"  sagte  der  General, 
,, warum  haben  sie  das  Zarenbild  zerrissen."  Einem  anderen 
Beamten,   der   bei  ihm  einschritt,   sagte  er:    ,,Ich  werde  doch 


Die  Oktoberpogrome.  221 

auf  die  Unsrigen  nicht  schießen  lassen."  Einem  Polizeimeister, 
der  einen  Laden  schützen  wollte,  rief  er  zu:  ,.Was  machen  Sie 
dort!"  und  führte  ihn  am  Arme  weg.  ,,Wenn  ich  wollte,"  ge- 
stand er  einem  jüdischen  Militärarzte,  ,, würde  das  Pogrom  in 
einer  halben  Stunde  beendigt  sein,  aber  die  Juden  haben  einen 
zu  großen  Anteil  an  der  revolutionären  Bewegung  genommen, 
und  verdienen  deshalb  das  Pogrom."  Er  ermutigte  direkt  die 
Aufrührer.  Der  Polizeimeister  Zichotzky  grüßte  lächelnd,  als 
man  ihm  eine  Schnur  voll  gestohlener  mit  Edelsteinen  besetzter 
Ringe  vorwies.  Polizei  und  Militär  vermengten  sich  mit  den 
Scharen  der  Huligans  und  beteiligten  sich  an  deren  verbrecheri- 
scher Tätigkeit.  Die  Soldaten  erhoben  von  den  Plünderern 
regelmäßige  Abgaben  zu  ihren  eigenen  Gunsten.  Die  Polizei 
verkündete  offen,  daß  die  Plünderung  der  Juden  drei  Tage  lang, 
vom  18.  bis  zum  20.  Oktober,  erlaubt  sei,  und  drängte  zur  Eile, 
damit  niemand  leer  ausgehe.  Wohlmeinende  Christen,  die  den 
Exzedenten  entgegen  zu  treten  wagten,  wurden  von  den  Poli- 
zisten mit  Drohungen  davon  abgehalten.  Die  Massen  emp- 
fanden deshalb  ihre  Greuel  als  obrigkeitlich  anbefohlene  Taten. 

Wirklich  ging  das  Militär  noch  gewalttätiger  vor,  als  der 
Pöbel.  Versuche  der  Juden,  sich  zu  verteidigen,  wurden  von 
den  Soldaten  mit  Gewehrsalven  niedergeschlagen,  jüdische 
Häuser,  aus  denen  mrklich  oder  angeblich  ein  Scliuß  gehört 
WTirde,  blindlings  mit  Kugeln  überschüttet. 

Die  meisten  Juden  suchten  unter  diesen  Umständen  ihr 
Heil  in  der  Flucht.  Immerhin  gab  es  unter  ihnen  27  Tote  und 
300  als  solche  registrierte  Verwundete,  Tausende  sonst  Miß- 
handelter. Der  direkte  materielle  Schaden  wurde  auf  lO^/a 
Millionen  geschätzt  —  aber  die  Vernichtung  der  gewerblichen 
Tätigkeit  brachte  ungleich  größere  Verluste.  Was  wollen  da- 
gegen die  immerhin  großartigen  Spenden  für  die  Beschädigten 
in  Höhe  von  677  000  Rubel  sagen,  von  denen  die  größere  Hälfte 
aus  der  Stadt  selbst,  die  kleinere  vom  Auslande  kam  ? 

Die  Mehrheit  der  Stadtduma  hatte  den  Mut,  dem  Militär 
ein  Dankesvotum  zu  widmen !  Die  Teilnahme  des  fortschritt- 
lich oder  do3h  gerecht  gesinnten  Teiles  der  Bürgerschaft  für 
die  Verhafteten,  der  Protest  von  41  Offizieren  und  Militärärzten 
gegen  die  geschehenen  Greuel   blieben   wirkungslos.     Keinerlei 


222  Die  Oktoberpogrome. 

Strafe  traf  die  Generäle  Karaß,  Drake,  selbst  nicht  Bessonow. 
Als  Sündenböcke  wurden  Polizeimeister  Zichotzky  und  einige 
seiner  Untergebenen  entlassen,  bald  aber  anderweit  Avieder  an- 
gestellt. Die  gerichtlichen  Verhandlungen  gegen  die  80,  die 
von  den  beim  Pogrome  selbst  verhafteten  636  Exzedenten 
noch  übrig  geblieben  waren,  fanden  erst  volle  zwei  Jahre  später 
statt.  Wie  gewöhnlich  gab  es  da  ein  Zerrbild  auf  gerichtliche 
Tätigkeit.  Alle  Angeklagten  Moirden  freigesprochen,  mit  Aus- 
nahme von  16  dem  niedersten  Gesindel  Angehörenden,  auch 
diese  nur  zu  ganz  geringen  Freiheitsstrafen  verurteilt  und 
überdies  der  Gnade  des  Zaren  empfohlen !  Mit  gerechter 
Freude  feierten  die  ,,echt  Russischen"  diesen  Ausgang  des 
Prozesses  als  einen  Sieg,  selbst  in  blasphemischer  Weise  durch 
einen  Gottesdienst. 

Der  Zar  schenkte  allen  Verurteilten  jede  Buße,  bestrafte 
dagegen  die  Offiziere  empfindlich,  die  es  gewagt  hatten,  sich 
gegen  das  Pogrom  auszusprechen.  Die  Judenplünderungen 
und  Niedermetzelungen  wurden  so  von  der  höchsten  Stelle 
des  Staates  aus  gebilligt.  Damit  ist  der  Kreis  der  Verantwort- 
lichkeit wirksam  geschlossen. 

Kiew  machte  mit  den  Unruhen  nur  in  seiner  unmittel- 
baren Umgebung  Schule.  Die  entfernteren  Kreise  des  Gouver- 
nements blieben  ziemlich  von  ihnen  verschont.  Es  gab  im 
ganzen  38  Pogrome  in  sonstigen  Ortschaften  der  Provinz. 
Zum  Teil  verhinderten  die  ortsangesessenen  Bauern  selber  die 
von  der  Polizei  in  Szene  gesetzten  Unruhen.  Eine  wunderliche 
Umkehrung  aller  staatlichen  Verhältnisse !    — 

Im  Gouvernement  Podolien  wurde  die  Stadt  Balta  nur 
durch  die  Bemühungen  offizieller  Persönlichkeiten  und  be- 
sonders des  Pristaws  Koropow  der  Schauplatz  eines  von  der 
Geistlichkeit  mit  allen  Älitteln  geförderten  Pogroms.  Die  Juden 
setzten  sich  zur  Wehr,  töteten  und  verwundeten  mehr  Huligans, 
als  von  ihnen  selbst  fielen.  Aber  die  Polizei  unterstützte  die 
Exzedenten,  so  daß  Plünderung,  Brandstiftung  und  Demolierung 
ihren  Fortgang  nahmen.  Eine  Schwadron  Dragoner  machte 
ihnen  am  zweiten  Tage  —  22.  Oktober  —  ein  Ende.  Sämtliche 
jüdischen  Geschäftshäuser  der  Stadt  stellten  notgedrungen  ihre 
Zahlungen  ein.    Ungeheure  Not  fiel  über  Juden  und  Christen. 


Die  Oktoberpogronie.  223 

Noch  furchtbarer  waren  die  Greuel  in  den  drei  eng  be- 
nachbarten Ortschaften  Bogopol-Golta-Olviopol.  Das  dortige 
Pogrom  ging  von  den  Eisenbahnarbeitern  und  sonstigen 
,, Schwarzen  Hundert"  aus,  nicht  von  den  Behörden,  wurde 
aber  von  diesen  gründhch  gefördert,  einzelne  besser  denkende 
Beamte  wurden  von  ihren  Vorgesetzten  unschädlich  gemacht. 
Das   Militär   verhielt   sich   vollkommen   passiv.     Vom    20.    bis 

23.  Oktober  dauerten  die  Verheerungen,  dann  hörten  sie  auf 
ein  von  der  Bahnstation  gegebenes  Signal  auf,  da  die  Exzedenten 
begannen,  sich  auch  an  den  christlichen  Häusern  zu  vergreifen. 
Allein  in  Golta  waren  dreizehn  Juden  getötet.  85  Thorarollen 
waren  entweiht  und  zerrissen,  mehrere  Synagogen  nieder- 
gebrannt,  nur  in  Bogopol  196  Häuser  und  127  Läden  ein- 
geäschert. Der  Gesamtschade  betrug  drei  Millionen  Rubel  bei 
nur  15  000  Juden. 

In  Mohilew  Podolsk  feuerten  die  Soldaten  auf  die  Juden, 
in  Wapnjarka  und  Winnitza  verhielt  die  Polizei  sich  durchaus 
passiv.  Sonst  fanden  noch  in  32  anderen  Orten  Podoliens 
Pogrome  statt.  — 

Das  Pogrom  in  Miropol,  Gouvernement  Wolhynien,  nahm, 
obwohl  die  Polizei  es  leitete,  ein  schnelles  und  unblutiges  Ende, 
weil  dort  kein  Militär  stand,  das  auf  die  Juden  hätte  feuern 
können.  Das  Pogrom  in  Rjetschiza,  Gouvernement  Minsk, 
wurde  dadurch  besonders  tragisch,  daß  von  der  kleinen  jüdischen 
Selbstwehr  durch  Huligans  aus  dem  Hinterhalte  sechs  getötet 
wurden,  unter  Beistand  der  Polizei.    — 

Ganz  besonders  scheußlich  waren  die  Vorgänge  in  Orscha, 
Gouvernement  Mohilew.     Hier  wurde  vier  Tage  lang,   21.  bis 

24.  Oktober,  gemordet,  von  viehischen  Bauern,  unter  offizieller 
Führung  der  Polizeibehörden;  und  zwar  gemordet,  indem  man 
den  unglücklichen  Opfern  langdauernde  Martern  zufügte,  unter 
dem  wilden  Jauchzen  und  Lustgewieher  der  entmenschten 
Menge.  Es  ist  der  christliche  Bürgermeister  Stratano witsch, 
der  diese  Greueltaten  bezeugt  hat.  Den  Vorwand  gaben  Demon- 
strationen zugunsten  der  Freiheit,  an  denen  sich  übrigens  aucli 
sehr  zahlreiche  Christen  beteiligt  hatten.  Der  Mohilewer  Polizei- 
meister Misgailo  organisierte,  unter  Beistimmung  des  Orschaer 
Isprawnik  (Landrats)  das  Pogrom,    indem    er  die  Bauern  der 


224  Di^  Oktoberpogrome. 

benachbarten  Ortschaften  bewaffnet  heranzog,  und  zwar  unter 
Androhung  von  Strafe  für  die  Säumigen.  Der  Erzpriester 
MasloAv  rief  die  Menge  zur  Verteidigung  des  Glaubens  und  zur 
Abwehr  von  dessen  Feinden  auf.  Der  Isprawnik  führte  mit 
seinen  gesamten  Beamten  den  Zug,  dem  die  Kirchenfahnen 
vorangetragen  wurden.  Die  Soldaten  waren  von  den  Polizei- 
beamten Ignatiew  und  Sirin  in  antisemitischem  Sinne  be- 
arbeitet worden.  ,,Um  das  jüdische  Blut  ist  es  nicht  schade", 
diesen  Wahrspruch  gab  der  Isprawnik  aus.  Dreißig  Tote  und 
viele  Verwundete  unter  den  Juden  blieben  ungerächt.  Die 
amtlichen  Mörder  hatten  ihren  Zweck  erreicht :  die  freiheitliche 
Bewegung  in  Orscha  war  und  blieb  unterdrückt. 

Posrome  fielen  noch  an  einzelnen  Orten  der  Gouvernements 
Wolhynien,  Minsk,  Mohilew,  Witebsk  vor.  Am  grausigsten 
war  das  von  Polotzk,  wo  man  12  Tote  und  50  Verwundete 
unter  den  Juden  zählte. 

Außerhalb  des  Ansiedlungsrayons  gab  es  ein  Pogrom  in 
Rostow,  wo  Polizei  und  Soldaten  eine  sehr  zweifelhafte  Rolle 
spielten ,  mindestens  nichts  gegen  die  Huligans  unternahmen. 
Die  Juden  hatten  zwei  Tote  und  40  Verwundete,  darunter 
einige  aus  der  Selbstwehr.  Ihr  pekuniärer  Schade  wurde,  von 
ihnen  wohl  übertrieben,  auf  sechs  Millionen  Rubel  eingeschätzt. 
In  Briansk,  Gouvernement  Orjol,  bildete,  aaIc  an  so  vielen 
Orten,  eine  freiheitliche  Demonstration,  an  der  übrigens  fast 
ausschließlich  Christen  teilnahmen,  den  Vor  wand  und  Anlaß 
zum  Pogrom,  das  der  Polizeimeister  Danski  leitete.  Er  selber 
führte  die  Verwüster  zur  Synagoge,  seine  Untergebenen  zu  den 
reichsten  Judenhäusern.  In  Briansk  hatten  die  ganz  nicht- 
politischen Juden  auch  nicht  den  mindesten  Grund  zum  Wüten 
gegen  sie  gegeben.  Ebensowenig  die  207  Juden  in  der  Stadt 
Jegorjewsk,  Gouvernement  Rjasan.  Und  doch  brachte  hier 
eine  harmlose  von  Christen  gebildete  Demonstration  für  das 
Oktobermanifest,  also  für  eine  amtliche  Kundgebung  des  Zaren, 
die  Ausführung  eines  vorher  in  allen  Einzelheiten  von  der 
Polizei  organisierten  Pogroms.  Eine  Strafe  für  die  Räubereien, 
die  dabei  erfolgt  waren,  gab  es  nicht.  Als  der  Untersuchungs- 
richter sich  der  Sache  zu  ernst  annahm,  wurde  er  abberufen 
und  sein  Nachfolger  verständigt,  keinen  Eifer  zu  zeigen,  wenn 


Die  Oktoberpogrome.  225 

er  solchen  nicht  auch  büßen  wolle.  Und  so  ging  es  weiter  in 
einzelnen  Städten  des  östlichen  Rußlands;  selbst  in  Sibirien 
blieb  Tomsk  nicht  von  einem  Pogrom  verschont,  das  unter  den 
Augen  des  Gouverneurs  Asantschewsky-Asantschejew  und 
zum  großen  Teile  durch  die  Soldaten  und  Schutzleute  aus- 
geführt wurde.  Fast  alle  jüdischen  Geschäfte  wurden  ausgeraubt, 
viele  Juden  getötet.  Die  Richter,  die  die  Sache  ernstlich  ver- 
folgen wollten,  wurden  dann  versetzt,  ja  einer  Haussuchung 
als  politisch  Verdächtige  unterzogen. 

Im  großen  und  ganzen  aber  hatte  —  von  einzelnen  Ort- 
schaften abgesehen  —  die  Pogrombewegung  sich  hauptsächlich 
über  die  Gouvernements  Bessarabien,  Cherson,  Taurien,  Jeka- 
terinoslaw,  Poltawa,  Tschernigow,  Kiew  und  Wolhynien,  das 
heißt  über  den  Süden  und  Südwesten  des  Reiches  ausgedehnt. 
Polen  und  die  litauischen  Gouvernements  Grodno,  Kowno  und 
Wilna  blieben  ganz  von  ihnen  frei.  Im  Südwesten  und  Süden 
aber  hatten  die  Plünderungen  und  Metzeleien  Avährend  der 
wenigen  Tage,  die  der  Veröffentlichung  des  Verfassungsmanifestes 
des  Zaren  folgten,  vom  18.  bis  29.  Oktober,  in  660  größeren 
oder  kleineren  Orten  stattgefunden.  Die  Gesamtzahl  der 
Oktoberpogrome  beträgt  etwa  725.  In  ihnen  wurden  ungefähr 
eintausend  Juden  getötet,  7  bis  8000  verwundet  oder  auf 
lebenslang  zu  Krüppeln  geschlagen.  Vierhundert  Witwen, 
1700  Waisen  waren  des  Ernährers  beraubt.  Nicht  minder  groß 
war  der  materielle  Verlust:  201  000  Juden  waren  um  62  700  000 
Rubel  geschädigt  worden.  Aber  das  ist  nur  der  unmittelbare 
Verlust  —  viel  größer  und  dauernder  war  der  mittelbare.  Zahl- 
lose mittlere  und  große  Geschäfte  mußten  ihre  Zahlungen  ein- 
stellen und  verbreiteten  dadurch  das  Unheil  noch  weiter.  Der 
Handelsverkehr,  der  Wechseldiskont  stockten  selbst  in  den 
wichtigsten  Städten.  Zahllose  Kunden  hatten  ihre  Kaufkraft 
eingebüßt;  Haß  und  Boykott  wüteten  zmschen  der  jüdischen 
und  der  christlichen  Bevölkerung,  Zehntausende  jüdischer 
Handelsangestellter  wurden  durch  den  Niedergang  oder  die 
Schließung  der  Geschäfte  brotlos;  ebenso  viele  Handwerks- 
gesellen. Die  Vermittler,  Kommissionäre,  ,, Luftmenschen" 
waren  ganz  aus  ihrem  ohnehin  spärlichen  und  problematischen 
Verdienst   gedrängt.     Dreimalhunderttausend   Juden   verließen 

Philippson,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  lo 


226  Die  Oktoberpogrome. 

dieses  Land  des  Fluches.  Die  Einwohnerschaft  von  Odessa 
nahm  in  einem  Jahre  um  67  000  Seelen  ab ;  viele  Städte, 
wo  die  Juden  die  Mehrheit  der  Bewohner  gebildet  hatten, 
verödeten  zur  Hälfte  oder  noch  mehr.  Was  von  den  Juden 
zurückblieb,  hatte  doch  seinen  Auslandspaß  zu  sofortiger 
Abreise  in  der  einen,  den  Revolver  in  der  anderen  Tasche. 
Welches  Dasein ! 

Etwa  5  600  000  Rubel  Hilfsgelder  sind  an  die  Opfer  der 
Oktoberpogrome  verteilt  worden:  ungefähr  neun  Prozent  des 
direkten  Schadens.  Das  war  verhältnismäßig  nicht  viel,  aber 
es  brachte  doch  über  das  augenblickliche  Hungerelend  hinweg 
und  bot  die  Möglichkeit  neuer  wirtschaftlicher  Tätigkeit.  Aber 
Hunderttausende  waren  durch  die  gräßlichen  Erlebnisse  derart 
verbittert,  verängstigt,  aus  allem  seelischen  Gleichgewicht  ge- 
bracht, daß  sie  entweder  entsetzt  in  das  Ausland  flüchteten 
oder  sich  apathisch  und  untätig  der  Zukunft  überließen.  Noch 
andere  sahen  nur  in  der  Gründung  eines  eigenen  jüdischen 
Staates,  in  der  massenhaften  Rückkehr  in  die  engen  Grenzen 
Palästinas,  in  den  zionistischen  Idealen  das  Heil. 

Binnen  weniger  Tage  hat  sich  die  Pogromtragödie  in  vielen 
Hunderten  von  Orten  abgespielt,  und  diese  wenigen  Tage 
folgten  ganz  unmittelbar  auf  das  Manifest  des  Zaren  vom 
17.  Oktober,  das  mit  seiner  Verheißung  einer  ganz  freiheitlichen 
Verfassung  das  Ende  der  despotischen  Herrschaft  des  russischen 
Beamtentums  zu  verkünden  schien.  Dieses  fühlte  sich  von  Ver- 
zweiflung ergriffen  über  den  drohenden  Verlust  seiner  Allmacht 
und  der  fetten  Einkünfte,  die  solche,  verbunden  mit  der  ver- 
ruchtesten Bestechlichkeit  und  Habgier,  ihm  jahrein  jahr- 
aus verschafft  hatte.  Es  suchte  sich  die  lästige  Freiheitsbe- 
wegung vom  Halse  zu  schaffen  durch  Niedermetzelung  fried- 
licher Arbeiteraufzüge  und  Demonstranten,  Niederschießen 
von  Studenten  und  Schülern,  Bauernterrorisierungen.  Die 
Militärkommandanten  ließen  jeden,  der  sich  mißliebig  machte, 
ohne  weiteres  Verfahren  erschießen  und  sprachen  das  in 
öffentlichen  Befehlen  aus.  Und  in  den  Zusammenhang  dieser 
Bluttaten  des  um  Macht  und  Geld  kämpfenden  Beamtentums 
und  Militarismus  gehören  auch  die  Pogrome.  Erst  so  werden 
ihre  Ursachen  und  ihr  Verln^f  verständlich. 


Die  Oktoberpogrome.  227 

Die  Juden  waren  bisher  den  Beamten  nur  als  ein  Gegen- 
stand der  Ausbeutung  erschienen.  Demütig  und  unterwürfig 
mußten  sie,  wenn  sie  überhaupt  bestehen  und  erwerben  wollten, 
um  die  Gunst  der  großen,  der  kleinen  und  kleinsten  Machthaber 
buhlen.  Das  Ideal  eines  solchen  Beamten  war  der  Odessaer 
Stadthauptmann  Seljenoi  gewesen,  der  die  Juden  zwang,  vor 
ihm  den  Hut  zu  ziehen,  die  Straßenbahnwagen  zu  verlassen, 
wenn  sonst  für  einen  Offizier  oder  Beamten  dort  kein  Platz 
war,  der  alle  Juden,  auch  die  angesehensten,  duzte  und  ohr- 
feigte, aber  ebenso  seine  tributären  Leibeigenen  schützte, 
indem  er  sagte:  ,,Ich  werde  meine  Jüdchen  nicht  schlagen 
lassen."  Aus  christlichen,  zuverlässigen  Zeugnissen  geht  un- 
widerleglich hervor ,  daß  die  Beamten  die  unentwirrbare  und 
in  sich  widerspruchsvolle  Menge  der  Ausnahmegesetze  gegen 
die  Juden  zu  steter  Eintreibung  von  Bestechungen  benutzten. 
An  jedem  Quartalstage  wurden  Judenrazzias  veranstaltet, 
deren  Loskauf  den  bei  weitem  bedeutendsten  Teil  des  ,, Gehalts" 
der  Polizeibeamten.  Landräte  und  Gouverneure  ausmachte. 
Gouverneur  Fürst  Urussow  führt  an,  daß  die  Beamten  der  Pro- 
vinz Bessarabien  jährlich  eine  Million  Rubel  ,, Nebeneinnahmen" 
und  zwar  in  der  Hauptsache  von  Juden  bezogen.  Auf  das  ganze 
Reich  ausgedehnt,  wächst  dieser  Posten  auf  20 — 25  Millionen 
Rubel,  auf  etwa  50  Millionen  Mark  deutschen  Geldes  an.  Alle 
diese  Vorteile  fielen  mit  dem  xA.ugenblicke  fort,  wo  die  Juden 
gleichberechtigt  wurden  —  eine  Aussicht,  die  die  Bureaukratie 
mit  Schrecken  erfüllte,  und  die  um  jeden  Preis  vereitelt  werden 
mußte.  Daß  die  Juden  an  manchen  Orten  schon  seit  dem  Jahre 
1903  anfingen,  eine  selbstbewaißtere  Stellung  den  Beamten 
gegenüber  anzunehmen,  auf  ihre  Rechte  und  die  zukünftige 
Gestaltung  der  Dinge  zu  pochen,  die  Bestechungsgelder  zu  ver- 
ringern, galt  als  Vorzeichen  für  den  Verlust  der  von  ihnen 
bisher  erwarteten  sklavischen  Demut  und  Freigebigkeit.  Diese 
,, jüdische  Frechheit"  mußte  im  Keime  erstickt  werden. 

Aber  die  Ausplünderung  und  Niedermetzelung  der  Juden 
hatte  noch  weit  allgemeinere  Bedeutung  und  Nützlichkeit  für 
die  reaktionäre  Beamtenschaft.  Die  Juden  galten  weitesten 
Kreisen  der  planmäßig  aufgehetzten  Bevölkerung  als  ,, Fremde", 
als   ,, Feinde  der  Religion",   und   waren  ihnen  als  solche  ver- 

15* 


228  Die  Oktoberpogrome. 

dächtig  und  verhaßt.  Bezeichnete  und  bestrafte  man  sie  als 
die  eigentlichen  Träger  der  Revolution,  so  übertrug  man  auf 
diese  selber  all  die  Abneigung,  die  seit  Jahren  die  ,, Recht- 
gläubigen", die  Nationalrussen  gegen  die  Juden  hegten.  Die 
von  den  Behörden  den  Massen  gestattete  Ausraubung  der  Juden 
zog  jene  Massen  von  der  revolutionären  Bewegung  ab  und 
kettete  sie  solidarisch  an  die  Beamtenschaft;  der  ganze  Vor- 
gang trieb  einen  Keil  in  die  revolutionären  Schichten.  Wie  viele 
von  denjenigen,  die  noch  eben  an  freiheitlichen  Demonstrationen 
teilgenommen  hatten,  ließen  sich  von  der  obrigkeitlich  gebilligten 
Raubgier  zu  wilden  Pogromgenossen,  zu  brüllenden  Begleitern 
der  den  Mördern  voraufziehenden  Kaiserbildnisse  und  Kirchen- 
fahne umwandeln !  An  den  meisten  Orten ,  avo  ein  Pogrom 
stattgefunden,  war  es  mit  der  Freiheitspartei  vorbei.  Das  Be- 
amtentum und  die  ihm  ergebenen  Militärchefs  hatten  richtig 
gerechnet. 

Die  wirklichen  Verursacher  der  Revolution  waren  nicht 
die  Juden,  sondern  die  Diebe,  Betrüger,  Unfähigen  unter  den 
Ministern,  hohen  Offizieren  und  Beamten  gewesen,  die  die 
Niederlagen  der  Russen  im  Japanischen  Kriege  herbeigeführt 
und  damit  die  ganze  Nichtsnutzigkeit  und  innere  Fäulnis  des 
russischen  Beamtendespotismus  dem  entsetzten  Volke  enthüllt 
haben.  Aber  es  ist  unleugbar  und  war  naturnotwendig,  daß 
in  den  meisten  Städten,  wo  die  Juden  einen  sehr  beträchtlichen, 
ja  bisweilen  den  größten  Teil  der  Bevölkerung  bildeten,  sie 
auch  eine  große  Rolle  in  den  durch  den  Krieg  hervorgerufenen 
freiheitlichen  Bestrebungen  spielten.  Waren  sie  nicht  geknechtet, 
mißhandelt,  ausgebeutet,  in  weit  höherem  Grade  als  jede  andere 
Volksschicht  ?  Winkte  ihnen  nicht  in  der  Freiheit  eine  goldene, 
paradiesisch  schöne  Zukunft  ?  Waren  sie  nicht  die  gebildetsten, 
die  am  meisten  lasen  und  die  Gabe  schnellster  Auffassung  be- 
saßen ?  Und  doch  ist  in  dem  Stadium  der  Vorbereitung  des 
Umschwungs  ihr  Anteil  weit  überschätzt  Avorden.  Im  ganzen 
haben  sie  in  den  Jahren  1901 — 1903  zu  den  städtischen  poli- 
tischen Verurteilten  nur  das  doppelte  Kontingent  im  Verhältnis 
zur  allgemeinen  städtischen  Bevölkerung  gestellt.  Allerdings 
an  denjenigen  Orten,  wo  sie  die  Hälfte  oder  gar  die  Mehrheit 
der  Einwohnerschaft  ausmachten,   mußten  sie  als  die  eigent- 


Die  Oktoberpogi'ome.  229 

liehen  Revolutionäre  erscheinen.  Aber  das  war  ja  nur  ein 
Vorwand.  Denn  die  Pogrome  wurden  von  der  Bureaukratie 
auch  in  Städten  oder  gar  Dörfern  inszeniert,  wo  es  nur  ganz 
wenige  Juden  gab,  oder  wo  diese  überhaupt  keine  politische 
Rolle  gespielt,  sondern  in  altüberlieferter  Ausschließlichkeit 
dem  Talmudstudium  und  dem  Erwerbe  nachgegangen  waren. 
In  Ovidiopol,  Rasdjelnaja,  Bogopol-Golta-Olviopol,  Sem- 
jonowka,  Kriwoi-Rog,  Klintzy.  Koseletz,  Miropol.  Kalarasch 
und  zahllosen  anderen  Pogromortschaften  hatte  es  überhaupt 
keien  oder  doch  nur  lächerlich  kleine  freiheitliche  Demonstra- 
tionen gegeben;  in  anderen,  Avie  in  Bajramtscha,  hatten  gerade 
die  Juden  sich  von  solchen  grundsätzlich  ferngehalten.  Wenn 
die  Behörden  also  dort  Judenhetzen  veranlaßt  oder  doch  be- 
günstigt haben,  so  ist  das  ein  vollgültiger  Beweis,  daß  sie  einem 
allgemeinen  Losungsworte  gehorchten,  daß  die  Pogrome  von 
der  Bureaukratie  systematisch,  zu  bestimmten  eigennützigen 
ZAvecken  hervorgerufen  worden  sind.  Ebenso  waren  dort,  wo 
wirklich  revolutionäre  Kundgebungen  stattgefunden  hatten, 
solche  meist  seit  mehreren  Tagen  unterdrückt,  als  die  Pogrome 
losbrachen;  diese  waren  also  keine  Notwehr  der  Regierung 
gegen  aufrührerische  Judenmassen;  abgesehen  davon,  daß  eine 
solche  Notwehr  wohl  keiner  Regierung  geziemt  hätte. 

Die  große  Mehrzahl  der  Juden  schloß  sich  auch  damals 
noch  von  den  politischen  Ereignissen  grundsätzlich  ab,  und 
fast  die  Gesamtheit  hatte  dies  ein  Viertel  Jahrhundert  früher 
getan.  Alle  hervorragenden  Revolutionäre,  alle  Urheber  der 
Attentate  auf  Alexander  II.  waren  Christen  gewesen.  Trotzdem 
hatte  die  Reaktion  schon  im  Beginne  der  achtizger  Jahre  die 
Revolution  durch  die  Behauptung  zu  verdächtigen  gesucht, 
daß  sie  vorzüglich  von  Juden  herrühre.  Sie  bildete  diese  Un- 
Wahrheit  zu  einem  wahren  Systeme  aus,  um  der  loyalen  Masse 
des  russischen  Volkes  die  Hebräer  als  Feinde  des  Reiches  und 
des  Zaren  zu  schildern.  Aber  nicht  allein  die  Gesetzestreue 
des  Volkes  rief  man  gegen  die  Juden  auf,  sondern  auch  die 
sozialen  Instinkte,  indem  man  ihm  fortwährend  die  Juden  als 
Wucherer,  Ausbeuter  und  Blutsauger  darstellte.  Ferner  er- 
weckte man  die  allen,  besonders  den  Ungebildeten,  inneA\ohnende 
Herrschgier,    indem    man    darauf    hinAvies,    daß    diese    revolu- 


230  Die  Oktoberpogrome. 

tionäreii  Juden  eine  fremde,  untergeordnete  Rasse  seien,  die 
mit  Unrecht  Gleichberechtigung  und  Freiheit  fordere.  Und 
endhch  stachelte  man  den  kirchlichen  Fanatismus  gegen  die 
Feinde  Gottes,  Christi,  der  allerheiligsten  Jungfrau  an.  Diese 
Fülle  von  Motiven,  verbunden  mit  der  nacktesten  Beutegier 
und  Mordsucht,  mußte  auf  die  Massen  einen  hinreißenden  Ein- 
fluß üben.  Galten  doch  das  ,,  Schlagen"  und  das  Ausplündern 
der  Juden  als  ein  Gott  und  dem  Zaren  wohlgefälliges  Werk, 
dessen  Unterlassung  Strafe,  dessen  Vollbringung  Lohn  bringen 
werde. 

Wie  sehr  das  Pogrom  von  den  Behörden  ausging,  ergibt 
sich  noch  aus  mehrfachen  Tatsachen.  Dutzendmale  benutzten 
sie  es  als  Drohmittel:  wenn  eine  freiheitliche  Demonstration 
oder  gar  Erhebung  stattfinde,  würden  sie  ein  Pogrom  loslassen. 
Die  bureaukratische  Gepflogenheit,  den  Rabbinern  unter  deut- 
lichen Hinweisen  auf  ein  Pogrom  einzuschärfen,  daß  sie  die 
jüdische  Jugend  von  der  Freiheitsbewegung  fern  halten  sollten, 
wurde  sogar  außerhalb  des  Ansiedlungsrayons  geübt.  Nach  den 
Pogromen  pflegten  Gouverneure,  Landräte  und  Pohzeimeister 
den  Juden  zu  sagen:  ,,Ja,  wäret  ihr  doch  von  den  Versamm- 
lungen fortgeblieben."  Unter  Androhung  eines  Pogroms  ver- 
langten die  Behörden  sogar  von  den  Juden  die  Nichtswürdig- 
keit, selber  ihnen  die  Demokraten  auszuliefern  —  eine  Nieder- 
tracht, die  die  Israeliten,  es  sei  zu  ihrer  Ehre  gesagt,  nirgends 
begangen  haben.  Schon  1903,  in  Homel,  erwiderten  die  höchsten 
Beamten  den  um  Hilfe  flehenden  Juden:  ,,Wir  werden  dem 
Pogrom  unverzüglich  ein  Ende  machen,  wenn  ihr  uns  eure 
Demokraten  übergebt!" 

Es  ist  durch  amtliche  wie  durch  nichtamtliche,  öffentliche, 
nirgends  widersprochene  Zeugnisse  bewiesen,  daß  bereits  gegen 
Ende  des  Sommers  1905  eine  weitverzweigte  und  systematisch 
funktionierende  Pogromorganisation  unter  den  Mitgliedern  der 
höchsten  Verwaltungs-  und  Militärbehörden  bestand.  Ihr  Leiter 
in  der  Petersburger  Zentrale  war  General  Eugen  Bog dano witsch. 
Zahlreiche  jetzt  namentlich  bekannte  Generalgouverneure, 
Gouverneure  und  Stadthauptleute  waren  ihre  hervorragenden 
Mitglieder.  Bogdanomtsch  hatte  einen  Kampfverband  gebildet, 
der  über  6000  Leute  umfaßte;  er  zerfiel  in  lokale   , .Hundert- 


Die  Oktoberpogrome.  231 

Schäften",  die  eifrig  Anhänger  warben.  Deren  Vertreter 
hielten  Anfang  Oktober  eine  Konferenz  ab,  die  beschloß,  die 
Pogrome  auszuführen,  mit  denen  man  sowohl  der  Revolu- 
tion einen  Schlag  zu  versetzen  als  die  höchsten  Sphären  des 
Staates  der  Reaktion  nachgiebig  zu  stimmen  gedachte.  Die 
offiziellen  Amtsblätter  bereiteten  sie  durch  planmäßige  Hetzerei 
gegen  die  Juden  wirksam  vor,  und  ebenso  antisemitische  Flug- 
blätter, wie  ,,Ein  freundschaftlicher  Rat  an  die  Juden",  mit 
denen  seit  dem  Ende  des  Sommers  1905  das  Land  massenhaft 
überschwemmt  wurde.  Jener  ,, freundschaftliche  Rat"  war  von 
dem  Wirklichen  Staatsrat  Alexander  Lawrow  verfaßt  und  in 
der  Druckerei  des  Petersburger  Stadthauptmanns  hergestellt. 
Er  bedrohte  die  Juden  mit  Massenabschlachtung,  wenn  sie 
nicht  alsbald  das  heilige  Rußland  verließen. 

Diese  Organisation  erklärt  es,  daß  die  Pogrome  so  auf 
einen  Schlag,  zur  selben  Zeit,  als  Antwort  auf  die  Verfassungs- 
zusage des  Zaren  erfolgen  konnten.  Es  versteht  sich,  daß  die 
Ausschreitungen  nicht  direkt  von  den  höchsten  Provinzial- 
beamten  anbefohlen  wurden;  so  unvorsichtig  durften  sie  nicht 
auftreten.  Allein  sie  zeigten  ihren  Willen  ihren  Untergebenen 
so  klar,  daß  diese  nicht  im  Zweifel  sein  konnten,  was  sie  zu  tun 
hätten.  Sonst  hätte  es  auch  in  einer  so  strengen  Organisation, 
wie  die  der  russischen  Polizei  ist,  nicht  vorkommen  können, 
daß  deren  untere  Befehlshaber  die  Polizeidiener  zum  Schutze 
der  Tumulte  vind  zur  Teilnahme  daran  hätten  befehligen  können, 
wie  es  tatsächlich  der  Fall  gewesen  ist.  Schon  Tage  vorher 
kündigten  Polizeibeamte  einzelnen  Juden  das  kommende  Po- 
grom an  oder  warnten  sie  davor.  Diese  Weissager  des  Pogroms 
wurden  dann  seine  Ausführer;  sie  waren  es,  die  die  Menge  in 
Wut  versetzten,  sie  leiteten,  ihr  die  Häuser  und  Personen  der 
Juden  zum  Opfer  wiesen.  Sie  waren  es,  die  Wochen  vorher 
gehetzt,  antisemitische  Zeitungen  und  Brandschriften  in  Masse 
verbreitet,  die  Polizeibureaus  zu  Herden  der  Agitation  gemacht 
hatten.  Sie  veranstalteten  Versammlungen,  wo  die  Pogrome 
beschlossen  und  vorbereitet  wurden.  Sie  und  die  Militärbefehls- 
haber verteilten  Gewehre  unter  die  Bauern  zum  Angriffe  auf 
die  Hebräer.  Sie  verbreiteten  die  Gerüchte,  die  Juden  seien 
im  Anzüge,  um   die  Rechtgläubigen  abzuschlachten;   diese  be- 


232  Die  Oktoberpogrome. 

schimpften  die  Kruzifixe,  entweihten  und  zerstörten  die  Kirchen. 
Sie  führten  die  rohen  und  fanatisierten  Bauernhorden  in  die 
Städte,  um  dort  die  Juden  zu  plündern  und  zu  morden.  Sie 
bedrohten  die  Nichterscheinenden  mit  einer  Geldstrafe  von 
dreißig  Rubeln.  Sie  räumten  den  herangezogenen  Mordgesellen 
zum  Übernachten  die  Verwaltungsgebäude  ein.  Und  die  Oberen, 
die  das  sahen  und  kannten ,  und  die  mit  einem  Worte  den 
ganzen  Spuk  hätten  zerstreuen  können,  ließen  alles  wohl- 
gefällig geschehen  und  erwiesen  damit  ihre  Billigung  dieser 
wilden  Vorgänge. 

Alles  das  sind  nicht  Gerüchte,  Annahmen,  Phantasiebilder, 
sondern  es  sind  durch  gerichtliche  und  beeidete  Aussagen  der 
Angeklagten  und  Zeugen  sowie  durch  behördliche  Unter- 
suchungen bewiesene  Tatsachen. 

Besonders  drastisch  lauteten  die  Aussagen  eines  Pogrom- 
teilnehmers von  Nikolajew:  ,,Ich  bin  kein  Mörder;  der  Stadt- 
hauptmann zahlt  mir  für  vierundzwanzig  Stunden  zehn  Rubel, 
und  ich  erfülle  ehrlich  sein  Gebot." 

Ein  beliebtes  Mittel  zur  Herbeiführung  von  Pogromen 
war  die  Inszenierung  loyaler  Massenkundgebungen.  Wir  haben 
gesehen,  daß  diese  von  den  höchsten  Verwaltungs-  und  Militär- 
beamten vieler  Provinzen  veranstaltet  und  in  das  Pogrom  über- 
geleitet wurden.  An  anderen  Orten  mußten  —  verkleidete  oder 
unverkleidete  —  Schutzleute  aus  den  Häusern  schießen  und  so 
den  Schein  erwecken,  als  ob  die  Juden  auf  die  Christen  feuerten. 
Besonders  beliebt  waren  derartige  Schüsse,  wenn  Kosaken 
vorüber  ritten,  damit  man  glaube,  die  jüdischen  Revolutionäre 
hätten  es  auf  die   Soldaten  abgesehen. 

Ganz  unbegründet  ist  die  Ausrede  der  schuldigen  Macht- 
haber, sie  seien  dem  spontanen  Ausbruche  der  Volkswut  gegen 
die  Juden  nicht  gewachsen  gewesen  und  hätten  solcher  des- 
halb freien  Lauf  lassen  müssen.  Wir  wissen,  was  es  mit  jener 
Spontaneität  auf  sich  hatte.  Überdies  stand  in  den  Oktober- 
tagen 1905  neben  der  starken  Polizeimacht  ein  ganzes  Heer 
zur  Unterdrückung  der  Unruhen  zu  Gebote.  In  Odessa  gab  es 
20  000  Soldaten,  in  Kiew  25  000,  in  Jekaterinoslaw  5—6000, 
in  Kischinew  über  2000,  in  Rjäsan  an  3000,  in  Nikolajew  3200, 
und  so  weiter.   Es  bedurfte  aber  einer  solchen  Macht  gar  nicht. 


Die  Oktoberpogrome.  233 

Sobald  die  Obrigkeit  genug  von  dem  Pogrom  hatte,  genügte 
die  Ankündigung,  die  Soldaten  Avürden  schießen,  oder  das  Auf- 
treten einiger  Dutzend  Kosaken,  um  das  ganze  feige  Mord- 
gesindel auseinanderstieben  zu  lassen,  das  ja  nur  auf  seine 
Straflosigkeit  gepocht  hatte.  Nein,  Polizisten  und  Soldaten 
durften  sich  tagelang  an  dem  Rauben  und  Töten  beteiligen, 
und  ihre  Befehlshaber  ermunterten  dazu  und  billigten  es.  Der 
Gouverneur  von  Jaroslawl  hielt  eine  aufhetzende  Ansprache 
an  die  Huligansmenge ,  und  General  Kaulbars  sagte  öffent- 
lich: ,, Gestehen  wir  es  ein,  wir  alle  sympathisieren  mit  dem 
Pogrom."  Hohe  Geistliche,  wie  der  Bischof  Hermogen  von 
Saratow,  reizten  von  der  Kanzel  herab  wochenlang  das  gläubige 
Volk  zur  Vernichtung  der  Juden  auf  oder  segneten,  wie  der 
Metropolit  von  Kiew,  die  blut-  und  beutegierige  Menge.  Selbst 
der  jetzige  Ministerpräsident  Stolypin  durfte  in  der  Duma, 
ohne  daß  er  zu  widersprechen  wagte,  vor  dem  ganzen  Lande 
beschuldigt  werden,  daß  er  als  Gouverneur  von  Saratow  sich 
die   Gunst  und  Zustimmung  der  Huligans  erworben  habe. 

Die  amtlichen  Veranlasser  der  Pogrome  trafen  mit  ihren 
ruchlosen  Agitationen  nur  zu  sehr  auf  wohlvorbereiteten  Boden. 
Ganze  Kategorien  der  sonstigen  Beamtenschaft  waren  von 
dem  sorgsam  verbreiteten  antisemitischen  Geiste  ergriffen  und 
fürchteten,  die  Gleichberechtigung  der  Juden  würde  diese  zu 
ihren  Herren  machen;  sie  würden  ,,den  Juden  die  Stiefel  putzen 
müssen".  So  diejenigen  Bestandteile  des  Eisenbahnpersonals, 
die  nicht  revolutionär  gesinnt  waren;  so  die  Post-  und  Tele- 
graphenbeamten; so  die  Feuerwehr,  die  freilich  an  manchen 
Orten  nur  im  Hinblick  auf  die  bevorstehenden  Pogrome  organi- 
siert worden  war;  so  die  gesamten  Hauspförtner,  die  in  Ruß- 
land gänzlich  von  der  Polizei  abhängig,  eigentlich  deren  Ge- 
hilfen sind.  Im  ganzen  zeigten  sich  alle  Anhänger  der  Reak- 
tion wenn  nicht  als  Teilhaber,  so  doch  als  Freunde  des  Pogroms, 
da  sie  in  den  Juden  die  hauptsächlichen  Anhänger  und  Förderer 
der  liberalen  Bestrebungen  zu  erblicken  gelehrt  waren.  Die 
Mehrzahl  der  Bauern  wurde  überdies  durch  die  Aussicht  auf 
Plünderung,  auf  mühelose  Bereicherung  gewonnen.  Die  Bauern 
hegten  im  Grunde  keinen  Judenhaß  und  haben  sich  gegen 
einzelne   Juden  mitleidig  gezeigt,   auch  kaum  blutige   Greuel- 


234  Die  Oktoberpogroiiie. 

taten  verübt.  Aber  sie  meinten,  der  Zar  habe  ihnen  die  Aus- 
raubung der  Juden  gestattet,  ja  anbefohlen.  Kleinkaufleute 
und  Handwerker  wollten  sich  dagegen  bei  dieser  Gelegenheit 
der  jüdischen  Konkurrenz  entledigen  und  machten  aus  solcher 
Gesinnung  gar  kein  Hehl.  An  vielen  Orten  bildeten  gerade 
diese  Klassen  die  Hauptmasse  der  Pogromhelden.  Die  Arbeiter 
waren  vielfach  durch  die  von  den  revolutionären  Führern  an- 
befohlenen Ausstände  und  den  dadurch  be^\^rkten  Arbeits- 
mangel gegen  den  Liberalismus  gereizt  und  warfen  sich  deshalb 
auf  die  Juden  als  vermeintlich  hauptsächliche  Repräsentanten 
der  ,, Demokraten",  die  ihnen  ihr  Brot  wegnähmen.  Viele 
Arbeiter,  die  sich  früher  freisinnig,  ja  revolutionär  gezeigt  hatten, 
ließen  sich  ganz  einfach  von  dem  ansteckenden  Trieb  zur  gefahr- 
losen Bereicherung  zur  Anteilnahme  an  den  Plünderungen 
fortreißen.  Die  städtischen  Vertretungskörper  setzten  sich  zu- 
meist aus  dem  Kleinbürgertum  zusammen  und  teilten  dessen 
Gesinnungen  und  Abneigungen.  Nur  an  elf  Pogromorten  waren 
die  Stadtverwaltungen  dem  Pogrom  feindhch;  die  anderen 
sympathisierten  mit  ihm  in  mehr  oder  weniger  offener  Weise. 
Unter  diesen  pogromfreundlichen  örtlichen  Honorationen  be- 
fanden sich  leider  auch  manche  akademisch  Gebildete.  Die 
Geistlichkeit  endlich  hat  nur  an  wenigen  Orten  sich  den  Gewalt- 
taten widersetzt,  an  den  meisten  hat  der  Fanatismus  sie  zu 
Mitanstiftern   oder   doch    Gönnern   der    Judenlietzen  gemacht. 

Gab  es  denn  im  russischen  Volke  gar  keine  Elemente,  die 
sich  von  der  Pogromsünde  frei  hielten  ? 

Die  große  Mehrzahl  der  Gebildeten  verdammte  sie  von 
Herzen  und  erließ  zum  Teil  energische  Kundgebungen  gegen 
die  das  russische  Volk  entehrenden  Vorgänge.  Ebenso  die 
Sozialdemokratie,  die  schon  vorher  durch  weitverbreitete  Auf- 
rufe ihre  Anhänger  aufgefordert  hatte,  bei  etwaigen  Juden- 
krawallen für  die  Juden  Partei  zu  nehmen.  Wirklich  haben  an 
einigen  Orten  die  organisierten  Arbeiter  versucht,  die  Juden 
zu  beschützen  oder  unmittelbar  Hilfstruppen  zu  deren  Selbst- 
wehr gestellt.  Aber  die  Sozialdemokratie  zeigte  sich  im  ganzen 
weder  so  ausgedehnt,  wie  sie  behauptet  hatte,  noch  sehr  ein- 
flußreich auf  ihre  nominellen  Mitglieder.  Es  ist  ihr  nur  an  wenigen 
Orten  gelungen,   das  Unheil  von  den   Juden  abzuhalten  oder 


Die  Oktoberpogronie.  235 

es  auch  nur  zu  mindern.  Die  Parteiorgane  äußerten  ihre  herbe 
Enttäuschung  über  die  zweideutige  oder  gar  offen  pogrom- 
freundhche  Haltung  eines  großen  Teiles  der  Arbeiterschaft. 
Nach  den  Unglückstagen,  deren  gewaltige  Wirkung  zugunsten 
der  Reaktion  die  Führer  der  revolutionären  Bewegung  sehr 
wohl  erkannten,  haben  sie  dann  von  den  ihnen  ergebenen 
Arbeitern  Protestkundgebungen  gegen  die  Pogrome  ergehen 
lassen. 

In  der  Tat  hatte  alles,  was  freier  dachte,  die  dringendste 
Veranlassung,  wider  die  Pogrome  aufzutreten,  nicht  allein  aus 
menschlichem  Mitleid  mit  den  gemarterten,  geplünderten  und 
gedemütigten  Juden  —  für  diese  hegten  auch  die  linksstehenden 
Russen  nur  selten  echtes  Mitgefühl  —  als  aus  Furcht  vor  der 
anschwellenden  Macht  der  Reaktion,  die  aus  dem  leichten  Ge- 
lingen der  Pogrome  die  Überzeugung  gewann,  daß  ihr  alles  er- 
laubt sei,  daß  Liberalismus  und  Revolution  gegen  Polizei  und 
Militär  wehrlos  seien.  Das  ist  die  allgemeine,  schwerwiegende 
Bedeutung  der  Oktoberpogrome  für  ganz  Rußland. 


Kapitel  Vier. 

Die  Reaktion  und  die  Juden. 


JUie  Bedeutung  und  Möglichkeit  der  Judenverfolgung  des 
Oktober  1905  "svird  man  nur  verstehen,  wenn  man  die  Beschaffen- 
heit der  russischen  Volksseele  auf  der  einen  und  die  Gepflogen- 
heiten der  russischen  Bureaukratie  auf  der  anderen  Seite  in 
Betracht  zieht.  Erst  dann  Avird  die  anscheinende  Unbegreif- 
lichkeit der  massenhaften  Pogrome  und  das  Mißtrauen  gegen 
die  Juden  —  als  ob  diese  durch  ihre  besonderen  schlimmen 
Eigenschaften  mit  an  diesen  Vorgängen  schuldig  gewesen  seien  — 
verschwinden. 

Das  russische  Volk  ist  das  gläubigste  der  Welt,  doch  nicht 
im  Sinne  wahrer  und  abgeklärter,  von  echter  Sittlichkeit  durch- 
drungener Religiosität,  sondern  in  der  Weise  der  Naturvölker, 
aus  Aberglauben,  aus  Furcht  vor  den  höheren  Mächten  und 
dem  Wunsche  heraus,  diese  sich  günstig  zu  stimmen.  Durch 
eifrige  Befolgung  der  kirchlichen  Gebräuche  sucht  man  Gott, 
Christus,  die  heilige  Jungfrau  und  besonders  seinen  Schutz- 
heiligen zu  geAnnnen  und  ist  überzeugt,  durch  solche  rein  äußer- 
liche Frömmigkeit  diese  Mächte,  die  man  in  Bildern  jeder  Art 
anbetet,  zum  Schutze  zu  verpflichten.  Dogmen,  Formeln  und 
Überlieferung  sind  die  Grundlagen  der  russischen  Religion,  die 
keine  Sittlichkeit,  die  nur  mechanische  Erfüllung  der  Gebräuche 
und  knechtische  Unterwerfung  fordert.  Man  halte  nur  streng 
die  Festtage  und  Fastenzeiten,  und  man  ist  der  frömmste  und 
gläubigste  Christ.  Mord  und  Diebstahl,  durch  ein  Kreuzschlagen 
eingeleitet  und  geweiht,  sind,  nach  der  russischen  Volksauf- 
fassung, harmlose  und  entschuldbare  Vergehen  im  Vergleiche 
zu  dem  Verbrechen,  in  der  Fastenzeit  Fleisch,  Eier  und  Mehl- 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  237 

speise  zu  genießen,  die  heiligen  Bilder  nicht  anzubeten  oder  den 
Kirchenbesuch  zu  unterlassen.  Die  Kirche  ist  aber  auf  das 
engste  mit  dem  Zarentume  verknüpft,  in  dem  sie  ihr  Haupt 
und  ihren  Mittelpunkt  zu  verehren  gelernt  hat.  So  ist  für  die 
gläubigen  Russen  —  und  das  ist  die  ungeheure  Mehrheit  des 
Volkes  —  des  Zaren  Wille  Gottes  Wille.  Selbst  dem  Verbrecher, 
dem  Räuber  ist  der  Zar  noch  immer  der  Inbegriff  alles  Heiligen 
auf  Erden.  Was  er  befiehlt,  Gutes  oder  Übles,  ist  göttliches 
Gebot;  denn  Gott  schickt  seinem  Volke  einen  Zaren,  wie  es 
ihn  verdient,  bald  einen  milden,  bald  einen  harten,  und  dem  muß 
man  sich  demütig  unter Averfen.  Erhöht  der  Zar  jemanden,  so 
hat  man  sich  diesem  zu  unterwerfen;  befiehlt  er,  diese  oder  jene 
zu  vernichten,  so  muß  man  sie  töten. 

Solches  sind  noch  heute,  mit  Ausnahme  der  Gebildeten 
und  eines  Teiles  der  städtischen  Arbeiterschaft,  die  Anschau- 
ungen und  Empfindungen  des  russischen  Volkes. 

Das  Beamtentum  hat  sie  benutzt,  um  alles,  was  an  Selbst- 
ständigkeit auch  nur  anstreifte,  rücksichtslos  mit  allen  JMitteln 
der  Grewalt  auszurotten.  So  geschah  es  noch  jüngst  mit  der 
unschädlichen  Sekte  der  Duchoborzen,  der  Quäker  Rußlands: 
im  Jahre  1895  überfielen  allenthalben  auf  höheren  Befehl  die 
Kosaken  die  Duchoborzen,  töteten  die  Männer  und  verge- 
waltigten die  Frauen,  von  den  übriggebliebenen  wurden  die 
Führer  nach  Sibirien  verschickt.  Nicht  anders  verfuhren  die 
Regierungsorgane  gegen  die  Armenier  in  Transkaukasien,  die 
sich  die  Einziehung  ihrer  gesamten  Kirchenschätze  durch  den 
Staat  nicht  ruhig  gefallen  lassen  wollten.  Bis  in  die  ersten  Jahre 
unseres  Säkulums  hatten  dort  die  mohammedanischen  Tataren 
und  die  christlichen  Armenier  trotz  der  Verschiedenheit  ihres 
Bekenntnisses  und  trotz  der  Neigung  der  Tataren  zu  Gewalt- 
tätigkeiten zunächst  in  friedlichem  Einvernehmen  gelebt.  Erst 
der  von  oben  her  gepflegten  systematischen  Verhetzung  gelang 
es,  blutige  Zwietracht  zwischen  beide  Nationalitäten  zu  säen. 
Es  kam  1906  an  vielen  Orten,  besonders  in  Elisawetpol,  Nachi- 
tschewan,  Eriwan,  Baku,  Tiflis  selbst,  zu  Angriffen  der  Tataren 
auf  die  Armenier,  zu  Plünderungen  und  Metzeleien,  die  einen 
um  so  schrecklicheren  Verlauf  nehmen  konnten,  als  die  Soldaten 
auf  Befehl  ruhig  zusahen.   Also  ganz  wie  bei  den  Judenpogromen  ! 


238  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

Und  wohl  gemerkt,  hier  handelte  es  sich  um  Verfolgungen,  die 
die  Regierung  durch  die  ., Ungläubigen"  gegen  Christen  ins  Werk 
setzte,  dieselbe  Regierung,  die  sich  emphatisch  als  eine  ,, christ- 
liche" bezeichnete,  sich  als  Verteidigerin  des  Christentums  gegen 
dessen  Feinde  laut  proklamierte.  Die  traurige  Heuchelei  und 
sewissenlose  Herrschsucht  des  russischen  Beamtentums  können 
gar  nicht  deutlicher  erwiesen  werden. 

Nicht  anders  ging  es  in  den  Ostseeprovinzen  gegen  die 
Deutschen.  Schon  seit  lange  war  hier  unter  Nikolaus  II.  die 
planmäßige  Russifizierung  wieder  aufgenommen,  die  Volks- 
schule nur  auf  dieses  Ziel  hin  eingerichtet  und  verwendet  worden. 
Daneben  wurden  die  ,, unter  drückten"  Letten  zum  Kampfe 
gegen  die  Deutschen  aufgerufen,  durch  Verheißungen  aller  Art 
und  Schnaps  dem  ,, deutschen  Luthertume"  abtrünnig  gemacht 
vmd  für  die  orthodoxe  Kirche  gewonnen.  Es  war  den  Macht- 
habern  ganz  gleichgültig  geblieben,  daß  darüber  Volksbildung, 
Sittlichkeit  und  Religiosität  heillos   in  Verfall  gerieten. 

Es  bildete  sich  also,  von  der  Regierung  begünstigt,  eine 
nationalistische  Partei  unter  den  Letten.  Kaum  war  sie  hin- 
reichend erstarkt,  befahl  ihr  die  Regierung,  sich  zu  russifizieren. 
Darüber  trat  aber  eine  Spaltung  unter  den  Letten  ein:  die 
jüngeren,  freisinnigen  unter  ihnen  warfen  sich  lieber  der  Sozial- 
demokratie in  die  Arme,  indem  sie  deren  Lehren  aus  der  massen- 
haft aus  Deutschland  bezogenen  einschlägigen  Literatur 
schöpften.  Die  Polizei  führte  1897  gegen  die  lettische  Demo- 
kratie einen  furchtbaren  Schlag.  Aber  im  geheimen  erholte 
letztere    sich    von  diesem  und    trieb  eine  starke  Propaganda. 

Außer  der  lettischen  entstand  in  den  Ostseeprovinzen  auch 
eine  jüdische  Sozialdemokratie,  die  sich  dem  ,,Bund"  anschloß. 
So  bildete  sich  im  September  1904  ein  sozialistisches  Föderativ- 
komitee, bestehend  aus  drei  Vertretern  des  Zentralkomitees 
der  lettischen  sozialdemokratischen  Partei  und  aus  drei  Ab- 
geordneten des  jüdischen  Bundes;  dazu  traten  im  Frühjahr 
1905  noch  drei  Erwählte  der  Rigaschen  Ortsgruppe  der  russischen 
Sozialdemokratie.  Aber  fern  von  dieser  Organisation  stand  die 
weit  radikalere  ,,Ssawenniba",  die  Partei  der  lettischen  Sozial- 
revolution, die  mit  dem  ,, Föderativkomitee"  ganz  gebrochen 
hatte.    Sie  war  es,  die  im  Anschluß  an  die  russische  Revolution 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  239 

im  Februar  und  März  1905  Unruhen  gegen  die  deutschen  Guts- 
besitzer und  große  Arbeitseinstellungen  der  städtischen  Fabrik- 
arbeiter hervorrief.  In  auffallender  Weise  verweigerten  die 
Gouverneure  Swerbejew  von  Kurland  und  Paschkow  von  Liv- 
land  jede  Repressivmaßregel.  Ja,  die  Polizei  hetzte  überall  die 
Bauern  gegen  die  Gutsbesitzer  auf,  und  die  Gendarmen  ver- 
brüderten sich  vielfach  mit  den  Revolutionären.  Nur  durch  das 
Geschehenlassen,  ja  die  stille  Förderung  der  Regierung  konnte 
die  soziale  Revolution  in  den  Ostseeprovinzen  so  furchtbar 
anwachsen. 

Der  Gouverneur  von  Estland  dankte  völlig  vor  den  revolu- 
tionierenden Arbeitern  Revals  ab ;  als  aber  die  Stadtverwaltung 
mit  Hilfe  des  gutgesinnten  Teiles  der  Arbeiterschaft  die  Ruhe 
hergestellt  hatte,  ließ  er  auf  die  nun  friedlichen  Massen  schießen ! 
In  Dorpat  überantwortete  der  plötzlich  ,, erkrankte"  Polizei- 
meister dem  sozialistischen  Komitee  den  Schutz  der  öffent- 
lichen Sicherheit. 

Die  Regierung  wollte  damit  ein  Doppeltes  erreichen :  einmal 
die  Freiheitsbestrebungen  bei  allen  ruhig  denkenden  Elementen, 
namentlich  den  Gebildeten  und  Wohlhabenden  in  den  baltischen 
Provinzen  verhaßt  machen;  und  dann  die  Eigenart  der  Deut- 
schen dort  brechen,  sie  wohl  oder  übel  dem  Russentum  unter- 
würfig stimmen.  Die  ,,Nowoje  Wremja"  vom  16.  Mai  sprach 
das  offen  und  triumphierend  aus :  nur  völliger  Anschluß  an  das 
Russentum  vermöge  die  baltischen  Deutschen  zu  retten. 

Zur  Beschleunigung  dieses  Prozesses  suchte  die  Regierung 
auch  in  den  Ostseeprovinzen  Pogrome  ins  Werk  zu  setzen.  So 
in  Libau  seit  dem  18.  Oktober  1905.  Und  hier  zeigte  sich,  daß 
die  große  Mehrheit  der  baltischen  Juden  die  Richtung  des 
sozialistischen  ,, Bundes"  verurteilte  und  vielmehr  dem  ge- 
mäßigt liberalen  Konstitutionalismus  angehörte.  Ein  Beweis 
dafür  ist  der  Aufruf,  den  die  Libauer  Israeliten  am  22.  Oktober 
erließen  und  in  der  ,, Libauer  Zeitung"  veröffentlichten: 

,, Übelgesinnte  Persönlichkeiten  verbreiten  in  der  Stadt 
Proklamationen  und  Aufrufe,  in  denen  gegen  die  Juden  schwere, 
vollkommen  unbegründete  Beschuldigungen  erhoben  werden. 
Sie  erklären,  daß  die  Juden  mit  der  vom  Zaren  verliehenen 
Konstitution  unzufrieden  sind  und  nach  einer  republikanischen 


240  Die  Reaktion  \ind  die  Juden. 

Verfassung  streben,  um  die  Macht  in  ihre  Hände  zu  bekommen. 
Bürger !  Eure  jüdischen  Mitbürger  protestieren  mit  tiefen  Un- 
willen gegen  diese  Insinuationen.  Sie  erklären,  daß  sie  zu- 
zammen  mit  ihren  Mitbürgern  ehrlich  für  die  Rechte  aller,  für 
einen  Rechtsstaat  und  eine  konstitutionelle  Monarchie  gekämpft 
haben.  Es  lebe  die  Brüderlichkeit.  Es  lebe  die  friedliche  Kultur- 
arbeit !    Es  lebe  die  konstitutionelle  Monarchie !" 

Damit  war  dem  Libauer  Pogrome  jeder  Boden  entzogen. 

Auch  in  Riga  suchten  die  Regierungsorgane  am  Ende  des 
Oktober  1905  ein  Pogrom  herbeizuführen,  um  die  freiheitliche 
Bewegung  zu  lähmen.  Man  fand  russisch  geschriebene  Zettel 
in  den  Straßen:  ,, Schlagt  die  Juden!"  Wirklich  kam  es  am 
23.  Oktober  zu  einem  Pogrome  seitens  der  Rigaer  Soldaten 
und  des  russischen  Pöbels.  Aber  die  Juden  setzten  sich  zur 
Wehr;  ein  heftiger  Kampf  brach  aus,  und  zehn  Tote,  siebzig 
Verwundete  blieben  auf  dem  Platze.  Selbstverständlich  wurde 
nachher  die  amtliche,  schon  durch  das  Dasein  jener  aufreizenden 
Zettel  mderlegte  Lüge  ausgesprochen,  die  Juden  hätten  das 
Gemetzel  angefangen.  Die  Arbeiter  wußten  wohl,  wie  es  sich 
mit  dieser  kecken  Unwahrheit  verhielt:  sie  veranstalteten  am 
1.  November  1905  über  den  Polizeiregistrator  Kluge  in  Libau 
förmliches  Gericht  und  erschossen  ihn,  weil  er  die  ..Schwarzen 
Hundert"  zu  einem  Pogrome  gedungen  hatte.  Die  Waffen  der 
Bureaukratie  waren  überall  dieselben:  List,  Gewalttaten,  Mord, 
gegen  Armeiüer  und  Deutsche  ebensogut  wie  gegen  die  Juden. 

Allein  im  ganzen  hatten  die  reaktionären  Umtriebe  des 
russischen  Beamtentums  einen  großen  Erfolg.  Die  Revolution 
war  mißglückt.  Sie  war  das  Werk  der  Gebildeten  und  des 
sozialistisch  gesinnten  Teiles  der  Arbeiterschaft  gewesen.  Die 
große  Mehrzahl  des  russischen  Volkes  stand  ihr  gleichgültig, 
ja  feindlich  gegenüber.  Und  was  die  Hauptsache  war,  das 
Militär  blieb,  wenige  Regimenter  und  die  Besatzung  eiiüger 
Kriegsschiffe  abgerechnet,  der  Regierung  treu,  und  gegen  die 
furchtbar  zerstörende  Gewalt  der  modernen  Schußwaffen 
konnten  Aufstände  nichts  ausrichten.  Dazu  kam,  daß  die  mit 
großer  Tatkraft  und  bewundernswerter  Selbstaufopferung  aus- 
geführten revolutionären  Stöße  in  der  Vereinzelung  blieben. 
Es   fand   sich   keine   mächtige   Persönlichkeit   von   alles   über- 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  241 

ragender  Größe,  von  allgemeinem  Einflüsse,  es  fand  sich  nicht 
einmal  eine  Organisation,  die  die  Revolution  im  Zusammen- 
hange und  planmäßig  geleitet  hätte.  So  blieb  bei  allen  Zu- 
sammenstößen die  Regierung  Siegerin.  Auch  der  zum  ersten 
Male  geglückte  Generalstreik,  zumal  seitens  der  Eisenbahner, 
scheiterte  bei  dem  zweiten  und  dritten  Wiederholungsversuche. 
Damit  gewannen  die  reaktionären  Elemente  und  das  Be- 
amtentum immer  stärkere  Zuversicht  und  wußten  den  Zaren 
in  diesem  Sinne  zu  bearbeiten.  Dieser  freilich  war  durch  den 
unglücklichen  Ausgang  des  Japanischen  Krieges  und  durch  die 
revolutionären  Putsche  derart  niedergedrückt,  daß  er  noch  eine 
Zeit  lang  in  dem  liberalen  Sinne  sich  fortschieben  ließ.  Am 
1.  November  1905  A\Tirde  ein  einheitlicher  Ministerrat  mit 
Unterordnung  unter  einen  Präsidenten  eingesetzt,  eine  offen- 
bare Beschränkung  der  zarischen  Macht;  und  zum  Minister- 
präsidenten wurde  der  mit  Westeuropa  und  dem  Liberalismus 
kokettierende  Graf  Witte  ernannt.  Das  Wahlrecht  zur  allge- 
meinen Duma  gewährte  sehr  weitgehende  volkstümliche  Rechte. 
In  der  Tat  fielen  die  Wahlen  überwiegend  demokratisch  aus. 
Auch  zwölf  Juden  wurden  Abgeordnete,  und  darunter  nur 
zwei  von  solchen  Wahlkörpern,  wo  die  Juden  die  Mehrheit 
der  Stimmen  besaßen.  Aber  gerade  der  demokratische  Cha- 
rakter der  Wahlen  stieß  den  Zaren  ab,  und  da  er  die  Furcht 
vor  der  Revolution  allmählich  verlor,  setzte  die  Reaktion  bei 
ihm  siegreich  ein.  Witte  erhielt  seine  Entlassung,  und  sein 
Kabinett  wurde  durch  ein  Ministerium  Gorcmykin  ersetzt 
(Mai  1906),  dessen  hervorragendstes  Mitglied  der  neue  Minister 
des  Innern,  der  erst  dreiund\aerzig  jähr  ige  Peter  Arkadjewitsch 
Stolypin  wurde,  ein  gemäßigter  Reaktionär,  der  übrigens  schon 
nach  drei  Monaten  an  Goremykins  Stelle  die  Präsidentschaft 
übernahm.  Am  10.  Mai  1906  war  die  erste  russische  Volks- 
vertretung eröffnet  worden;  als  sie  aber  sich  entschlossen  demo- 
kratisch-konstitutionell erwies,  verfiel  sie  schon  am  21.  Juli 
dem  Schicksal  der  Auflösung.  Stolypin,  der  in  dieser  Versamm- 
lung gar  keine  Anhänger  gefunden  hatte  und  den  in  den  höchsten 
Kreisen  wehenden  Wind  sehr  wohl  erkannte,  warf  sich  einst- 
weilen dem  reaktionären  Verbände  echt  russischer  Leute  in 
die  Arme,  der  dadurch  eine  wesentliche  Stärkung  erfuhr. 

Philipp.^on.   Xeueste  Geschiclito  der  Juden,  Inl.  III.  16 


242  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

Stoljrpin  gibt  sich  dem  Auslande  gegenüber  gern  als  ein 
aufgeklärter,  auch  den  Israeliten  wohlwollender  Mann.  Seine 
wahre  Gesinnung  aber  hat  er  im  Jahre  1910  bei  dem 
Empfange  der  Abordnung  des  jüdischen  Kongresses  aus- 
gesprochen, die  von  dem  Baron  David  Günzburg  geführt  wurde. 
Als  sie  die  Hoffnung  ausdrückte  auf  Besserung  der  Lage  ihrer 
Glaubensgenossen,  erwiderte  der  Ministerpräsident:  die  Juden 
hätten  durch  ihre  Teilnahme  an  der  Revolution  sich  selbst  ge- 
schadet, und  zumal  der  ,,Bund"  habe  einen  bitteren  Nach- 
geschmack hinterlassen.  Das  russische  Judentum  sei  dem  alten 
Testament  abtrünnig  geworden,  während  es  dem  neuen  sich 
nicht  angeschlossen  habe.  Solchen  Anklagen,  die  ganz  dem 
Stichworte  der  Bureaukratie  und  der  echt  russischen  Leute 
entnommen  waren,  entsprach  die  Aussicht  für  die  Zukunft: 
wenn  die  Juden  fernerhin  im  Geiste  der  Religion  und  der 
Treue  dem  Zaren  gegenüber  erzogen  würden,  dürfe  man  all- 
mählich eine  Besserung  ihrer  Lage  erwarten;  eine  Bürgschaft 
könne  er  jedoch  hierfür  nicht  geben.  Baron  Günzburg  hatte 
nur  noch  Zeit,  wahrheitsgemäß  zu  erwidern,  daß  der  Umfang 
der  Teilnahme  der  Juden  an  der  Revolution  sehr  übertrieben 
werde  —  dann  war  die  Audienz  schon  zu  Ende,  die  kaum  eine 
Viertelstunde  gedauert  hatte. 

Wenn  solche  Abneigung  an  hoher  Stelle  sich  unverhohlen 
aussprach,  durfte  sie  in  allen  Kreisen  des  Tschin  sich  in  derbster 
und  gewalttätigster  Weise  Luft  machen.  Stolypin  hat  offenbar 
durch  seine  Haltung  lediglich  die   Judenfeinde  ermutigt. 

Er  duldete  tatsächlich  das  Zusammentreten  eines  ,, Kon- 
gresses der  monarchischen  Parteien",  das  heißt  der  Ver- 
fassungsgegner, in  Kiew,  der  unter  Führung  zweier  wohl- 
bekannter Judenverfolger  Gringmut  und  Dubrowin  den  Um- 
sturz der  Verfassung  und  die  Judenhetze  verherrlichte.  Dubro- 
win, der  Vorsitzende  des  Verbandes  echt  russischer  Leute, 
wurde  bei  Hofe  empfangen  und  erhielt  bedeutenden  Einfluß 
auf  die  Regierungssphären.  Der  Zar  selber  bekundete  deut- 
lich seine  Vorliebe  für  den  Verband,  empfing  dessen  Depu- 
tationen und  legte  demonstrativ  selber  dessen  Zeichen  an, 
wenn  hohe  Beamte  sich  bei  ihm  über  dessen  Ausschreitungen 
zu  beklagen  kamen.    So  weit  war  es  mit  dem  Monarchen  ge- 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  243 

kommen,  der  wenige  Monate  früher  das  freiheitliche  Oktober- 
manifest verkündet  hatte,  gegen  das  doch  der  Verband  be- 
gründet worden  war.  Dessen  Ausgaben  wurden  nunmehr  zum 
großen  Teile  durch  Staatsgelder  gedeckt;  die  allmächtige  ge- 
heime Polizei  stand  unter  seiner  Leitung.  Die  Mordtaten  an 
politischen  Gegnern,  zum  Beispiel  dem  Abgeordneten  Herzen- 
stein, die  der  Verband  anordnete,  wurden  durch  Beamte  der 
kaiserlichen  Geheimpolizei  verübt ;  der  Anstifter  der  Ermordung 
Herzensteins  war,  wie  durch  gerichtliche  Aussagen  unzweifel- 
haft beAAdesen  ist,  Dubrowdn  selber,  der  Freund  des  Zaren. 
Die  Waffenniederlagen  des  Verbandes  wTirden  von  der  Re- 
gierung gefüllt.  Mit  Recht  konnte  der  zweite  Vorsitzende  des 
Verbandes,  Purischkemtsch,  als  ihm  Ende  Sommers  1906  die 
Stellung  eines  Vizedirektors  im  Polizeidepartement  angeboten 
wurde,  die  Ernennung  mit  der  stolzen  Begründung  zurück- 
weisen, er  beherrsche  lieber  die  Regierung,  als  sich  von  ihr 
beherrschen  zu  lassen.  In  der  Tat  standen  zahllose  Beamte, 
von  den  Ministern  und  Gouverneuren  hinab  bis  zu  den  Polizei- 
meistern, unter  dem  Einfluß  des  Verbandes,  dem  sie  zum  Teile 
als  Mitglieder  angehörten. 

Diese  mächtige  Organisation,  die  ihre  Stärke  nicht  ver- 
barg, sondern  in  pomphaften  Verkündigungen  noch  übertrieb, 
übte  auf  die  öffentliche  Meinung  einen  lähmenden  Einfluß, 
der  sich  bei  den  Wahlen  zur  zweiten  Duma  deutlich  erwies. 
Zumal  in  dem  größten  Teile  des  jüdischen  Ansiedlungsgebietes 
erzielten  die  Erfolge  der  Reaktion  und  der  ins  Maßlose  angefachte 
Judenhaß  das  Ergebnis,  daß  ein  bedeutender  Teil  der  christ- 
lichen Bevölkerung  für  die  extremst  reaktionären,  pogrom- 
freundlichen Kandidaten  stimmte.  Das  schärfere  Hervortreten 
der  judenfeindlichen  Elemente  sowie  die  Entmutigung  der 
Israeliten  hatten  zur  Folge,  daß  nur  die  kleine  Zahl  von  vier 
Juden  zu  Abgeordneten  gewählt  wurde.  Im  ganzen  war  die 
zweite  Duma,  die  am  5.  März  1907  zusammentrat,  weit  kon- 
servativer als  die  erste,  aber  doch  in  ihrer  Majorität  aufrichtig 
konstitutionell  gesinnt.  Die  Folge  davon  waren  Streitigkeiten 
mit  der  Regierung  und  die  Auflösung  auch  der  zweiten  Duma 
schon  nach  dreimonatiger  Dauer  (16.  Juni  1907).  Sie  hatte 
nicht  die  Zeit  gefunden,  die  traurige  Lage  der  Juden  irgendwie 

16* 


244  Dip  Reaktion  und  die  Juden. 

ZU  erleichtern.  Der  Zar  oktroyierte  dann  ohne  weiteres  ein  neues 
Wahlgesetz,  das  die  reaktionären  Elemente  in  Stadt  und  Land, 
besonders  die  agrarisch  gesinnten  Großgrundbesitzer  außerordent- 
lich begünstigte.  So  kam  eine  in  ihrer  Mehrheit  wenn  nicht 
reaktionäre  doch  durchaus  konservative  und  den  nichtrussischen 
Bestandteilen  des  Reiches  geradezu  feindliche  Duma  zu- 
sammen, die  übrigens  von  ihrer  Machtlosigkeit  gegenüber  der 
Regierung  vollkommen  durchdrungen  und  bereit  war,  sich 
dieser  in  allen  wesentlichen  Beziehungen  zu  unterwerfen  (seit 
14.  November  1907).  Einhundertunddreißig  ^litglieder  sind 
Anliänger  der  ,, Schwarzen  Hundert",  140  Gemäßigte  (Okto- 
bristen),  die  tatsächlich  mit  der  Regierung  durch  dick  und  dünn 
gehen,  nur  147  ,, Kadetten",  das  heißt  freiheitlicher  Über- 
zeugung. Die  Rechte  unternahm  sofort  einen  wahren  Kreuz- 
zug gegen  die  Juden,  der  bis  auf  den  heutigen  Tag  andauert. 

Zuerst  hatte  man  den  Juden  den  Zugang  zur  Reichsduma 
in  der  neuen  Wahlordnung  ganz  versperren  wollen.  Allein  die 
einmütige  Stimmung  Europas,  auf  die  man  wegen  der  immer 
von  neuem  notwendig  werdenden  Anleihen  Rücksicht  zu  nehmen 
veranlaßt  war,  zwang  schließlich  die  Gewalthaber  in  Peters- 
burg, den  Juden  eine  geringfügige  Beteiligung  zu  gewähren. 
So  sind,  als  Vertreter  von  sechs  Millionen,  ganze  zwei  Juden 
in  die  dritte  Duma  gelangt  und  können  dort  den  Schmerzen 
und  Wünschen  der  Stiefkinder  Rußlands  Ausdruck  verleihen. 

Mehrere  Mitglieder  der  Rechten  unternahmen  sofort  Ver- 
suche, nach  dem  Muster  des  österreichischen  Parlamentes  grobe 
und  rohe  antisemitische  Schimpfereien  zu  veranstalten.  Der 
Vorsitzende  zeigte  sich  zuerst  gewillt,  solche  zu  unterdrücken; 
nachdem  er  aber  in  Erfahrung  gebracht,  daß  sie  an  höchster 
Stelle  nicht  mißfiel,  ließ  er  sie  gewähren,  ja  beschränkte 
jede  Verteidigung  der  pöbelhaft  Angegriffenen  innerhalb  der 
Volksvertretung.  Die  beiden  einzigen  Abgeordneten  jüdischen 
Glaubens,  Friedmann  und  Nisselo witsch,  taten  was  sie  ver- 
mochten, um  die  Rechte  und  Interessen  der  Juden  zu  verfechten. 

Ein  Antrag  der  Rechten,  den  Juden  den  Eintritt  in  das 
Heer  zu  sperren,  um  sie  dann  sämtlicher  politischer  Rechte 
zu  berauben,  wurde  noch  glücklich  abgewehrt.  Ebenso  fiel 
der  Antrag,  ihnen  die  Beamtenstellen  bei  der  lokalen   Selbst- 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  245 

Verwaltung  zu  nehmen,  mit  156  gegen  107  Stimmen;  desgleichen 
ein  weiterer,  das  Amt  der  lokalen  Unterrichts  Verwaltung  den 
eigentlichen  Russen  vorzubehalten,  mit  der  schwachen  Mehrheit 
von  104  gegen  98.  Dagegen  fand  der  folgenschwere  Antrag  der 
Rechten  nach  heftiger  Debatte  mit  der  großen  Majorität  von 
171  gegen  101  Annahme,  die  Juden  von  den  lokalen  Semstwos, 
also  von  den  gewählten  Behörden  der  Selbstverwaltung  aus- 
zuschließen (Mai  1910).  So  ging  das  ,, konstitutionelle"  Ruß- 
land in  der  Beschränkung  der  politischen  Rechte  der  Juden 
noch  hinter  die  fanatische  Autokratie  zurück,  die  diesen  wenig- 
stens einen  schwachen  Anteil  an  der  örtlichen  Selbstverwaltung 
gestattet  hatte ! 

Das  Beamtentum,  eng  verknüpft  mit  dem  Verbände  echt 
russischer  Leute,  triumphierte,  und  es  hat  seinen  Sieg  mit 
grenzenloser  Grausamkeit  ausgenutzt.  Ohne  Rücksicht  auf 
die  Verfassung  wütete  die  Polizei  gegen  jede  freiheitliche  Äuße- 
rung. Der  einige  Zeit  hindurch  bei  dem  Zaren  allmächtige 
Petersburger  Stadthauptmann  Trepow  gab  das  Programm  aus : 
mit  Patronen  dürfe  nicht  gespart  werden.  Die  Hauptgendar- 
merieverwaltung traf  eigenmächtig  die  Anordnung,  daß  Agita- 
toren, Streikhetzer  und  überhaupt  politische  Verbrecher  unter 
Kriegsrecht  zu  stellen  seien.  Ja,  einzelne  Militärchefs  ersparten 
sich  auch  die  Formalität  des  Kriegsgerichtes  und  befahlen,  alle 
diejenigen,  die  nur  den  Mund  zum  Widerspruche  öffneten,  ohne 
weiteres  niederzuschießen.  Jede  Aufnahme  eines  politischen 
Agitators  durch  einen  Hausvater  sollte  mit  dem  Tode  bestraft 
werden.  Noch  weitergehende,  noch  barbarischere  Befehle 
drohten  bei  jeder  Kundgebung  politischer  oder  auch  nur  ökono- 
mischer Unzufriedenheit  geradezu  Massenmorde  an.  Niemals, 
auch  nicht  zu  den  ärgsten  Zeiten  der  Reaktion  unter  Nikolaus  I. 
und  Alexander  III.,  sind  so  viele  politische  Prozesse  geführt 
worden,  me  in  der  Zeit  der  ,,  Verfassung",  des  ,,  Völkerfrühlings". 
Hat  man  doch  1906  zwölf-  und  dreizehnjährige  Knaben  und 
Mädchen  als  ,, politische  Verbrecher"  hingerichtet !  Die  Inquisi- 
tion ist  in  Rußland  neu  erwacht,  und  trotz  aller  entgegenstehen- 
den Gesetzesparagraphen  wurde  die  Folterung  der  politischen 
Gefangenen  in  großem  Maßstabe  betrieben,  Avie  in  der  zweiten 
Duma  öffentlich  festgestellt  Avurde.     Seit  Iwan  dem  Schreck- 


246  Die  Reaktion  vind  die  Juden. 

liehen  sind  in  Rußland  nicht  so  viele  Todesurteile  gefällt  worden, 
wie  unter  dem  Friedenskaiser  Nikolaus  II.  Im  Jahre  1907 
wurden  1692  „Politische"  zum  Tode  verurteilt,  2422  zu  lang- 
jähriger oder  auch  lebenslänglicher  Zwangsarbeit  in  Sibirien, 
1401  zur  Einreihung  in  die  Strafkompanien,  427  in  die  Diszi- 
plinarbataillone,  3311  zu  Gefängnisstrafen,  981  zu  Festungs- 
und 779  zu  einfacher  Haft.  Unter  diesen  11  066  Verurteilten 
waren  nicht  weniger  als  211  frühere  Dumaabgeordnete.  Und 
doch  hatte  es  in  diesem  Jahre  keine  revolutionären  Kämpfe 
mehr  gegeben.  Ebensowenig  im  Jahre  1908,  wo  sogar  1959 
,, Politische"  gehängt  oder  erschossen  A\Tirden.  Nicht  mehr 
als  die  persönliche  Freiheit  oder  das  Versammlungsrecht  wurde 
die  feierlich  vom  Zaren  verheißene  und  ein  Jahr  hindurch  ge- 
duldete Preßfreiheit  geachtet.  Die  Petersburger  Zeitungen 
wurden  den  ordentlichen  Gerichten  entzogen  und  der  dikta- 
torischen Gewalt  des  Stadthauptmanns  unterworfen.  Die  Be- 
sprechung politischer  Fragen  wurde  unter  Strafandrohung 
eingeschränkt,  die  Erwähnung  von  Mitgliedern  der  kaiserlichen 
Regierung  durfte  nur  in  den  Grenzen  der  offiziellen  Hofnotizen 
geschehen.  In  dem  einzigen  Jahre  1907  -wurden  413  Zeitschrif- 
ten unterdrückt,  davon  nur  81  durch  das  Gericht.  332  durch 
administrative  Willkür.  Die  Verwaltung  verurteilte  außerdem 
die  Presse  zu  163  950  Rubel  Geldstrafen. 

Wie  die  Freiheit,  so  wurde  avich  die  ohnehin  geringe  Eigen- 
macht der  fremdvölkischen  Bestandteile  des  Reiches  bekämpft 
und  eingeschränkt.  Der  finnische  Generallandtag  verfiel  wieder- 
holt dem  Schicksale  der  Auflösung,  weil  er  es  wagte,  die  ver- 
brieften und  beschworenen  Rechte  seines  Landes  gegen  die 
russische  Zentralisation  zu  wahren.  Ein  entschlossener  Feind 
dieser  Rechte  wurde  Generalgouverneur  von  Finnland,  und 
endlich  n?.!im  die  Duma  auf  Vorschlag  der  Regierung  eine  Reihe 
von  Gesetzen  an,  die  Finnland  gegen  dessen  Willen  in  eine  rus- 
sische Provinz  verwandelten. 

Der  Zar  zeigte  sich  als  eifriger  Freund  aller  dieser  Be- 
strebungen. Während  Stol3rpin  sich  nicht  dauernd  zum  Sklaven 
des  echt  russischen  Verbandes  erniedrigen  wollte,  auch  vor 
dessen  gewaltsamem  und  blutdürstigem  Vorgehen  zurück- 
schreckte, so  daß  er  hier  und  da  gegen  ihn  durch  die  Gerichte 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  247 

vorgehen  ließ,  erwies  Nikolaus  II.  jenem  fortdauernd  seine 
höchste  Gunst.  Er  schenkte  ihm  persönlich  zum  Osterfeste 
des  Jahres  1909  hunderttausend  Rubel.  Er  lud  den  Führer 
der  äußersten  Rechten  in  der  Duma,  Markow,  zu  einer  Sonder- 
audienz nach  Zarskoje  Selo  und  beauftragte  ihn,  seiner  Frak- 
tion den  kaiserlichen  Gruß  zu  entbieten. 

Der  Zar  betrachtet  offenbar  alle  russischen  Untertanen,  die 
nicht  der  Staatsreligion  angehören,  als  Ungläubige,  als  Feinde 
des  Vaterlands,  gegen  die  alles  erlaubt  ist.  Bei  den  christlichen 
Dissidenten,  die  gesetzlich  den  Griechisch-Orthodoxen  völlig 
gleichgestellt  sind,  mußte  die  Regierung  ihre  Verfolgungssucht 
immerhin  einschränken.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  Juden, 
die  sie  um  so  rücksichtsloser  mißhandeln  konnte,  als  ihr  gegen 
diese  das  unerschöpfliche  Arsenal  der  zahllosen  und  dehnbaren 
Ausnahmegesetze  zu  Gebote  stand.  Und  noch  schlimmer  als 
die  Ausnahmegesetze  sind  die  willkürlichen  Auslegungen,  die 
das  "wirtschaftliche  Dasein  vieler  Hunderttausende  von  Juden 
zu  vernichten  gestatteten. 

Freilich,  als  noch  die  freiheitliche  Ära  nachwirkte,  Ende 
Oktober  und  Anfang  Dezember  1906,  hatte  der  Ministerrat 
eine  Reihe  von  Erleichterungen  für  die  ökonomische  Lage  der 
unglücklichen  Juden  beschlossen.  Es  sollte  ihnen,  wenn  auch 
nicht  der  Kauf,  so  doch  die  Pachtung  ländlicher  Grundstücke 
innerhalb  des  Rayons  gestattet,  die  Städte  Kiew,  Nikolajew, 
Sewastopol  und  Jalta  wieder  in  die  Besiedlungszone  aufge- 
nommen, den  Privilegierten  unter  ihnen  das  Wohnrecht  in  den 
Kosakenbezirken  Don,  Kuban  und  Terek  von  neuem  einge- 
räumt werden.  Jüdische  Handwerker,  die  bisher  nur  solange 
sie  ihr  Handwerk  ausübten,  außerhalb  des  Rayons  wohnen 
durften,  sollten  jetzt,  wenn  sie  hier  zehn  Jahre  lang  ihr  Ge- 
werbe betrieben  hatten,  auf  immer  da  zu  bleiben  das  Recht 
erhalten.  Damit  wäre  der  verhängnisvolle  Fehler  des  Gesetzes 
von  1865  beseitigt  worden.  Ferner  sollten  Gattinnen,  Kinder 
und  minderjährige  Geschwister  der  zum  Aufenthalte  außerhalb 
des  Rayons  Berechtigten  an  diesem  Vorzuge  teilnehmen.  End- 
lich sollten  die  entehrenden  und  drückenden  besonderen  Vor- 
beugungs-  und  Straf bestimmungen  in  betreff  jüdischer  Deser- 
tion wegfallen. 


248  Die  Reaktion  und  die  Jnden. 

Aber  selbst  diese  bescheidenen  Besserungsvorschläge  des 
Ministerrates  haben  die  Zustimmung  des  Zaren  nicht  erhalten. 
Und  dann  trat  mit  voller  Wucht  die  Reaktion  ein,  die  jeden 
Gedanken  einer  judenfreundlichen  Maßregel  beseitigte. 

Von  der  Gesinnung  des  russischen  Beamtentums  im  all- 
gemeinen und  seiner  geflissentlichen  Verdächtigung  aller  an- 
geblich revolutionären  Elemente  als  ,. jüdisch"  gibt  ein  Vorfall 
Zeugnis,  der  sich  im  Sommer  1907  zugetragen  hat.  Zwei  rus- 
sische Damen  begaben  sich  auf  ihre  Güter  im  Gouvernement 
Tambow  (Zentralrußland),  um  dort  in  den  von  furchtbarer 
Hungersnot  betroffenen  Ortschaften  teils  aus  eigenen  Mitteln 
teils  aus  Gaben  der  Ökonomischen  Gesellschaft  Speisehallen  zu 
errichten.  Beide  waren  blonde,  blauäugige  Vollrussinnen.  Vor 
ihnen  kam  jedoch  bei  dem  Gouverneur  folgende  Depesche  aus 
Petersburg  an:  ,,Zwei  Subjekte  von  jüdischem  Typus  reisen 
zu  widergesetzlichen  Zwecken  unter  dem  Vorwande  der  Er- 
richtung von  Speisehallen  ins  Gouvernement ;  diese  Propaganda 
ist  zu  unterdrücken."  Der  Gouverneur  wagte  es  nicht,  die 
Damen  verhaften  zu  lassen,  half  sich  aber,  indem  er  durch  die 
Popen  den  Aberglauben  der  Bauern  aufstachelte.  Als  die  wohl- 
tätigen Frauen  begannen,  die  Namen  der  Notleidenden  auf- 
zuschreiben, schrien  die  Bauern:  ,,Ihr  seid  der  Antichrist !  Ihr 
seid  vom  Teufel  geschickt,  um  uns  zu  notieren,  damit  wir  in 
die  Hölle  kommen.  Zehnmal  besser  ist  es,  Hungers  zu  sterben 
und  in  den  Himmel  zu  fahren."  Mit  solchen  Elementen  konnte 
man  leicht  beliebige  Pogrome  ins  Werk  setzen. 

So  nahm  das  Beamtentum  den  Kampf  gegen  die  unglück- 
lichen Juden  wieder  auf.  Zunächst  wurde  die  Untersuchung 
der  Pogrome  durch  die  dazu  entsandten  Senatoren  Thurau  und 
Kusminski  so  gedreht,  daß  die  Hauptschuld  auf  die  angebliche 
revolutionäre  Tätigkeit  der  Juden  fiel.  Ebenso  geschah  es  in 
den  Strafprozessen  gegen  die  Urheber  und  Teilnehmer  der 
Pogrome.  Staatsanwälte  und  Untersuchungsrichter  waren  in 
großem  Umfange  selber  deren  Gönner  und  Freunde  gewesen; 
und  die  wenigen  unter  ihnen,  die  ihre  Aufgabe  ernst  nahmen 
und  im  Sinne  der  Gerechtigkeit  zu  lösen  wünschten,  wurden 
versetzt  oder  noch  schlimmer  gemaßregelt.  So  durften  fast 
allerorten  stadtbekannte  Mörder  unbehelligt  umhergehen  und 


Die  Reaktion  uiid  die  Juden.  249 

Vorbereitungen  zu  neuen  Pogromen  treffen.  Die  Bureaukratie 
hätte  ja  sich  selber  verurteilen  müssen,  wenn  sie  eine  Bestrafung 
der  Schuldigen  zugelassen  hätte.  Überdies  wurde  es  von  Woche 
zu  Woche  klarer,  daß  die  allerhöchste  Stelle  die  Tätigkeit  und 
Ergebnisse  der  Pogrome  billigte  und  deren  Anstifter  mit  Gunst- 
beweisen bedachte.  Wer  im  Tschin  hätte  da  noch  gegen  die 
Pogromhelden  aufzutreten  gewagt  ?  Das  Verfahren  gegen  den 
Odessaer  Gouverneur  Neidhardt,  dessen  verbrecherisches  Wirken 
offen  auf  der  Hand  lag,  endete  im  dirigierenden  Senate  mit 
glänzender  Freisprechung ;  dagegen  wurden  der  Rektor  und  Pro- 
rektor der  Odessaer  Universität  abgesetzt,  weil  sie  den  ver- 
folgten Juden  eine  Zuflucht  in  den  Räumen  der  Hochschule 
gewährt  hatten.  Und  dieser  Hohn  auf  jede  Gerechtigkeit 
waltete  weiter.  An  Orten  der  blutigsten  Ausschreitungen 
wurden  des  Scheines  halber  kleine  Häuflein  untergeordneter 
Tumultanten  zu  leichten  Strafen  verurteilt,  aber  auf  die  regel- 
mäßig erfolgende  Einreichung  eines  Gnadengesuches  seitens 
des  Verbandes  der  russischen  Leute  jedesmal  begnadigt.  Fünf- 
hundert Pogromhelden  blieb  schon  in  den  ersten  Zeiten  die 
Buße  ihrer  Freveltaten,  dank  der  allerhöchsten  Gnade,  erspart ! 
Die  Versuche  des  Grafen  Witte,  gegen  diese  staatsgefährdende 
Tätigkeit  des  Beamtentums  zu  A\"irken,  blieben  vergeblich.  War 
doch  sein  eigener  Minister  des  Inneren,  Durnowo,  ein  Gönner 
des  ,, Verbandes",  entdeckte  doch  Witte  im  Zentral-Polizei- 
departement  selbst  die  geheime  Pogromschriftendruckerei ! 
Zuerst  fiel  der  liberale  Justizminister  Manuchin  (Dezember 
1905),  dann  Witte  selber  ihrem  Gegensatze  zu  den  Pogrom- 
bestrebungen zum  Opfer.  Sein  Nachfolger  Stolypin  mußte, 
trotz  seiner  entgegenstehenden  Behauptungen  vor  der  Duma, 
das  Dasein  einer  vom  ,, Verbände"  geleiteten  Nebenregierung 
dulden,  die  bei  dem  Staatsoberhaupte  größeren  Einfluß  besaß, 
als  das  offizielle  Ministerium.  An  der  Spitze  dieser  Neben- 
regierung stand  General  Trepow,  jetzt  Palastkommandant, 
dem  der  Zar,  ohne  Wissen  der  Minister,  eigene  Mittel  zu  poli- 
tischen Zwecken  in  die  Hand  gab.  Die  untergeordneten  Ver- 
waltungsorgane gehorchten  deshalb  nicht  ihren  amtlichen  Vor- 
gesetzten, deren  Befehle  sie  als  nichts  bedeutend  beiseite  legten, 
sondern   folgten    den   Anweisungen    des   wahren   Machthabers, 


250  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

des  „Verbandes".  Das  ist  durch  den  früheren  Gouverneur 
Urussow,  durch  den  ehemaligen  Direktor  des  Polizeideparte- 
ments  Lopuchin  und  andere  in  öffentlicher  Dumasitzung 
widerspruchslos  festgestellt  worden.  Wir  Avissen  also,  daß  die 
Verantwortung  für  die  Greueltaten  nicht  nur  bei  untergeord- 
neten Stellen,  sondern  bei  den  Spitzen  des  Staates  zu  suchen  ist. 

So  kam  es  bald  zu  neuen  Pogromen.  Die  Hetzereien  zu 
solchen  nahmen  ihren  Fortgang.  In  Alexandrowsk,  Gouverne- 
ment Jekaterinoslaw ,  war  der  Chef  der  Gendarmerie ,  Ritt- 
meister Bugodawski,  selber  der  unermüdliche  Verbreiter  massen- 
hafter Brandschriften  gegen  die  Juden,  wurde  dabei  von  der 
gesamten  Polizei  des  Bezirkes  unterstützt  und  von  oben  her 
ausgezeichnet.  Der  Petersburger  Polizeidirektor  Trepow  gab 
den  Pogromaufforderungen  seine  amtliche  Druckerlaubnis. 
Die  politische  Abteilung  des  Polizeidepartements  unter  der 
Leitung  des  Wirklichen  Staatsrats  Ratschkowsky  rief  in  ihren 
Druckschriften  das  Heer  zum  Kampfe  auf  gegen  die  ,, Polen, 
Armenier  und  Juden".  Diese  in  ihren  Folgen  ganz  unberechen- 
bare Proklamation  wurde  in  den  Provinzen  durch  die  Polizei- 
verwaltung in  einträchtigem  Zusammem^irken  mit  den  ört- 
lichen Gruppen  des  ..Verbandes"  unter  den  Soldaten  verbreitet. 
Ratschkowsky  mußte  von  Stolypin  in  seinem  Range  belassen 
und  überdies  mit  einer  Belohnung  von  75  000  Rubel  bedacht 
werden ! 

Verwaltung  und  Militär  waren  in  den  Stand  gesetzt  worden, 
neue  Pogrome  herbeizuführen.  Zunächst  erholten  sich  die 
Soldaten,  die  in  den  Ostseeprovinzen  den  Kampf  gegen  die 
Revolutionäre  und  Agrarverbrecher  führten,  von  ihren  An- 
strengungen an  dem  Vermögen  der  dortigen  Juden,  die  sie 
gründlich  plünderten,  ausraubten  und  noch  dazu  mißhandelten. 
Überdies  wurden,  ohne  jede  Veranlassung  seitens  der  dortigen 
jüdischen  Gemeinden,  diesen  schwere  Kontributionen  auferlegt. 
Man  forderte  einfach  von  den  Juden  den  Ersatz  des  Schadens, 
den  die  aufrührerischen  Bauern  angerichtet  hatten,  und  sie 
mußten  unweigerlich  zahlen,  um  schlimmerem  Schicksal  zu 
entgehen. 

Aber  ein  förmliches,  von  der  Regierung  veranstaltetes 
Pogrom  trug  sich  in  dem  unglücklichen,  schon  zwei  Jahre  früher 


Die  Reaktion,  und  die  Juden.  251 

heimgesuchten  Homel  zu.  Die  offizielle  Untersuchung  hat  später 
ergeben,  daß  die  Vorbereitungen  von  dem  Chef  der  politischen 
Polizei  der  Stadt,  dem  Grafen  Podgoritschany,  seit  lange  ge- 
troffen waren.  Er  hatte  nicht  nur  die  dortige  Ortsgruppe  des 
,, Verbandes  echt  russischer  Leute"  gestiftet,  sondern  ihr  auch 
eine  Druckerei  begründet  und  sie  mit  Revolvern  bewaffnet. 
Aber  die  Bevölkerung  von  Homel  war  damals  nicht  antisemitisch 
sondern  revolutionär  gesinnt.  Knotenpunkt  zweier  großer 
Eisenbahnen  und  an  dem  den  Schiffsverkehr  mit  Südrußland 
und  dem  Schwarzen  Meere  vermittelnden  Flusse  Sosch  ge- 
legen, hatte  die  Stadt  sich  allmählich  zu  einem  bedeutenden 
Handelszentrum  mit  einer  starken  Arbeiterbevölkerung  ent- 
wickelt. Diese  hatte  sich  ganz  von  den  revolutionären  und 
sozialistischen  Bestrebungen  jener  Jahre  gewinnen  lassen:  Ende 
Dezember  1905  war  sie  in  einen  die  ganze  Stadt  umfassenden 
Ausstand  getreten,  während  dessen  sie  die  Herrin  von  Homel 
war  und  die  Tätigkeit  der  Polizei  völlig  brach  legte.  Letztere 
beschloß,  Rache  zu  nehmen  und  die  Revolution  einzuschüchtern 
—  durch  ein  Pogrom.  Zu  diesem  aber  konnte  sie,  außer  den 
wenig  zahlreichen  Anhängern  Podgoritschanys,  nur  das  Militär 
verwenden,  das  dann  auch  in  Masse  —  Infanterie,  Artillerie 
und  Kosaken  —  herbeigezogen  wurde.  Anfang  Januar  1906 
war  es  ohne  nennenswerten  Widerstand  Herr  der  Stadt,  und 
die  Polizei  konnte  Massen  Verhaftungen  vornehmen.  Hierbei 
ließ  sie  sich  schwere  Mißhandlungen  zuschulden  kommen,  und 
zur  Strafe  dafür  erschoß  ein  christlicher  Arbeiter  einen  der 
brutalsten  Büttel,  den  Pristawgehilfen  Anossow.  Das  war  für 
die  Behörden  der  Avillkommene  Vor  wand,  um  das  seit  lange 
sorgfältig  und  bis  in  alle  Einzelheiten  vorbereitete  Pogrom  in 
Szene  zu  setzen.  Am  26.  Januar  1906  brach  eine  Rotte  von 
Huligans  los,  schoß  die  begegnenden  Juden  nieder  und  begann 
die  jüdischen  Läden  auszuplündern  und  in  Brand  zu  stecken. 
Vor  ihr  her  ging  Militär  und  trieb  durch  Salvenfeuer  die  Menschen 
von  den  Straßen,  so  jeden  Widerstand  von  vornherein  unmög- 
lich machend.  Die  Waren  aus  den  Geschäften  wurden  auf  die 
Straße  geworfen,  dann  die  Läden  mit  Petroleum  begossen  und 
angezündet.  Die  Waren  selber  packte  man  ganz  systematisch 
auf  Wagen  und  schaffte  sie  unter  mihtärischer  Bedeckung  fort. 


252  Die  Reaktion  und  die  Jviden. 

Als  die  Feuerwehr,  von  den  Juden  herbeigerufen,  zum  Löschen 
erschien,  ward  sie  von  der  Polizei  durch  Revolverschüsse  ver- 
trieben; dann  setzte  diese  das  Telephon  außer  Tätigkeit,  um 
die  Feuerwehr  ganz  brach  zu  legen.  Die  Juden  hielten  sich 
nunmehr  mit  Recht  versteckt,  da  die  Selbstwehr  gegen  das 
die  Brandstifter  und  Räuber  schützende  Militär  nichts  aus- 
gerichtet hätte.  Am  27.  Januar  dauerten  die  Greuel  unbe- 
hindert fort.  Die  Zahl  der  geplünderten  und  verbrannten  Ge- 
schäfte belief  sich  auf  173,  die  der  beschädigten  Häuser  auf 
151;  unter  diesen  befand  sich  die  Bank  der  Kreditgenossen- 
schaften auf  Gegenseitigkeit.  Der  Gesamtschade  betrug  drei 
Millionen  Rubel  und  betraf  ausschließlich  Juden,  obwohl  diese 
bei  den  revolutionären  Vorgängen,  die  nur  von  den  Arbeitern 
ausgegangen  waren,  beinahe  gar  nicht  beteiligt  gewesen.  Christ- 
liche Läden  wurden,  selbst  wenn  sie  inmitten  von  jüdischen 
lagen,  sorgfältig  verschont,  jüdische,  die  sich  zwischen  christ- 
lichen befanden,  zwar  ausgeraubt,  aber  nicht  verbrannt.  Eine 
Anzahl  jüdischer  Ladenbesitzer  konnte  sich  von  der  Plünderung 
loskaufen ;  die  an  die  Soldaten  zu  zahlende  Taxe  betrug  zwischen 
sechs  und  sechzig  Rubel.  Auch  sonst  fehlte  es  nicht  an  tragi- 
komischen Vorfällen.  Dr.  Sacharin,  Mitglied  des  Hilfskomitees, 
wurde  verhaftet,  weil  man  in  seinem  Hause  eine  Bombe  und 
kompromittierende  Schriftstücke  gefunden  habe.  Als  man 
näher  zusah,  stellte  sich  heraus,  daß  die  ,, Bombe"  ein  Globus 
und  die  ,, kompromittierenden  Schriftstücke"  alte  Kollegienhefte 
des  Doktors  waren !  Das  Pogrom  in  Homel  war  erwiesener- 
maßen ausschließlich  ein  Werk  der  Behörden. 

Nach  diesen  Ereignissen  fand  die  Regierung  es  für  an- 
gemessen, eine  Pause  in  der  Judenverfolgung  eintreten  zu 
lassen.  Sie  sah  sich  genötigt,  von  neuem  mit  Ansprüchen  an 
den  Kredit  Europas  vorzugehen,  und  fürchtete,  die  israeli- 
tischen Großbankiers  würden  ihr  solchen  nicht  gewähren,  wenn 
sie  nicht  für  den  Augenblick  eine  judenfreundliche  Maske  vor 
das  Gesicht  nähme.  Sie  verkündete,  13.  und  14.  März  1906, 
der  Ministerrat  habe  alle  Lokalbehörden  zur  Niederhaltung 
jeder  Art  von  Hetzereien  gegen  die  Juden  angehalten  und  die 
Bestrafung  derjenigen  Beamten  in  Homel  beschlossen,  die  sich 
bei  den  letzten  Unruhen   ,, untätig"  gezeigt  hätten.    Überdies 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  253 

sollten  die  die  Juden  betreffenden  Ausnahmegesetze  mild  aus- 
gelegt werden.  Der  neue  Generalgouverneur  von  Kiew,  Suchom- 
linow,  faßte  die  Sachlage  ganz  richtig  auf,  indem  er  seinen 
Untergebenen  mitteilte,  jetzt  könnten  keine  Judenkrawalle 
geduldet  werden,  weil  sie  sehr  schädlich  für  die  allgemeine 
Politik  seien.    Der  naive  Herr  plauderte  aus  der   Schule. 

Dabei  wurde  aber  gleichzeitig  von  der  Zensur  die  Ver- 
treibung einer  Flugschrift  gestattet,  die  sich  ,,  Auf  ruf  an  das 
russische  Volk,  Maßregeln  zur  Entfernung  der  von  den  Juden 
verursachten  Übel"  betitelte  und  an  nichtswürdiger  Verleum- 
dung und  blutdürstigen  Ermahnungen  das  äußerst  Denkbare 
leistete ! 

Wie  so  durchaus  die  ganze  Pogrombewegung  von  den 
höchsten  Beamtenkreisen  abhängig  war,  zeigte  sich  in  der 
Tatsache,  daß  sie  in  den  vier  Monaten  Februar  bis  Mai  des 
Jahres  1906  völlig  stockte.  Inzwischen  erlangte  die  neue 
russische  Anleihe  einen  vollständigen  Erfolg.  Es  war  ja  klar: 
nur  unter  einer  Bedingung  konnte  die  ganze  politische  Komödie, 
die  die  Petersburger  Regierung  aufführte,  zur  Wahrheit  werden, 
konnte  ein  liberales  und  verfassungsmäßiges  Regiment  in  Ruß- 
land Platz  greifen,  konnten  damit  auch  die  Juden  wahlberechtigte, 
an  Leben  und  Gut  geschützte  Staatsbürger  werden:  wenn  die 
europäische  Finanzwelt  dem  Selbstherrscher  die  geforderten 
Milliarden  versagte  und  deren  BeA\'illigung  von  der  Zustimmung 
der  Duma  abhängig  machte.  Aber  das  Gegenteil  geschah.  Da 
die  russische  Regierung  das  Geschäft  für  die  Finanz  weit  sehr 
vorteilhaft  gestaltet  hatte,  gab  diese  dem  Zaren  die  Milliarden 
her.  Und  mit  der  rühmlichen  Ausnahme  des  Hauses  Roth- 
schild some  einiger  Großbankiers  in  Brüssel,  London  und 
Berlin  beteiligten  sich  gerade  die  jüdischen  Finanzmänner  mit 
großem  Eifer  an  dem  Blutgeld  und  scheuten  sich  nicht,  um 
des  schnöden  Mammons  Avillen  Mitschuldige  der  Mörder  der 
russischen  Freiheit  und  ihrer  eigenen  russischen  Glaubens- 
genossen zu  werden.  Sie  halfen  sich  mit  der  kläglichen  Aus- 
rede von  Dieben  und  Betrügern:  wenn  wir  es  nicht  getan, 
hätten  es  eben  andere  getan. 

Und  kaum  hatten  die  Leute  um  Nikolaus  IL  schmunzelnd 
das  Geld  eingestrichen,  so  machten  sie  der  ganzen  Maskerade 


254  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

ein  Ende,  lösten  die  Duma  auf,  änderten  das  Wahlgesetz  in 
reaktionärem  Sinne  und  veranstalteten  neue  Pogrome. 

Vorher  hatten  die  zwölf  jüdischen  Mitglieder  der  ersten 
Duma,  infolge  eines  Beschlusses  der  Delegiertenversammlung 
der  ,, Vereinigung  für  die  Gleichberechtigung  der  Juden  in 
Rußland",  eine  besondere  Gruppe  gebildet,  aber  nicht  im 
nationalistischen  Sinne,  sondern  nur  in  Hinsicht  auf  die  Be- 
strebungen zu  völliger  Emanzipation  ihrer  Glaubensgenossen. 
Sie  nahmen  lebhaften  Anteil  an  der  Interpellation,  die  die 
Linke  der  Duma  an  den  Minister  des  Innern  wegen  der  Teil- 
nahme von  Beamten  und  Militärs  an  den  Oktober-  und 
Dezemberpogromen  richtete,  und  die  zu  einem  Bruche 
zwischen  der  Mehrheit  der  Volksvertretung  und  Stolypin 
führte.  Unter  den  Zurufen:  ,, Mörder,  Mörder!"  mußte  dieser 
den  Saal  verlassen. 

Das  russische  Beamtentum  nahm  seine  Rache  für  diese 
Exekution;  es  nahm  sie  wieder  an  den  Juden. 

Sie  hatte  von  langer  Hand  die  Soldaten  systematisch  gegen 
die  Juden  aufgehetzt.  So  hielt  der  Kommandeur  des  in  Warschau 
garnisonierenden  38.  Tobolsker  Infanterieregiments  am  12.  Mai 
an  seine  Untergebenen  eine  Ansprache,  in  der  er  als  die  Mehr- 
zahl der  Umstürzler  Juden  und  Polen  bezeichnete;  ,, Brüder, 
denkt  immer  daran,  wer  eure  Feinde  sind,  und  vernichtet 
sie  bei  jeder  Gelegenlieit.  Wenn  ihr  bei  der  Verfolgung  eines 
Aufwieglers  diesen  mederschießen  wollt,  aber  irrtümlich  einen 
anderen  töten  werdet,  so  wird  euch  deshalb  nichts  geschehen. 
Im  Gegenteil,  man  wird  euch  für  eure  gute  Absicht  auszeichnen. 
Vergeßt  nicht,  daß  unsere  inneren  Feinde,  die  Juden,  Polen 
und  Sozialisten,  viel  gefährlicher  sind,  als  die  äußeren."  Ein 
Kompaniechef  sagte  am  selben  Tage  zu  seiner  Mannschaft: 
,,Das  ganze  Unheil,  unter  dem  unser  Vaterland  leidet,  kommt 
ausschließlich  von  den  Juden,  die  unser  Blut  aussaugen  und 
dabei  so  tun,  als  ob  sie  um  den  Muschik  und  den  russischen 
Arbeiter  besorgt  wären.  Doch  glaubt  ihnen  nicht."  Darauf 
ließ  er  von  den  Soldaten  ihren  jüdischen  Kameraden  ins  Gesicht 
spucken ! 

Aber  auch  die  bürgerliche  Bevölkerung  wurde  nicht  ver- 
gessen.    Die    politische    Polizei    entsandte    Agitatoren    in    die 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  255 

Provinz,  um  gegen  die  Duma  und  zugleich  gegen  die  Juden 
zu  wühlen. 

Diese  furchtbare  Saat  des  Hasses  und  der  Verleumdung 
ging  nur  allzubald  blutig  auf. 

Im  Gouvernement  Grodno,  an  dem  Flusse  Biala,  liegt 
die  Stadt  Bialystok  mit  etwa  60  000  Einwohnern,  ein  betrieb- 
samer Fabrikort  mit  zahlreicher  jüdischer  Bevölkerung  —  48  000 
Seelen  —  die  bisher  mit  den  christlichen  Einwohnern  in  Frieden 
gelebt  hatte.  Seitdem,  im  Juli  1905,  das  Militär  die  ,, Revolu- 
tionäre", das  heißt  in  Wahrheit  Juden  in  Masse  niedergeknallt 
hatte,  war  es  dort  politisch  ganz  still  geworden,  wie  die  Obrig- 
keit selbst  höhnisch  anerkannte.  Um  nichts  destoweniger  be- 
absichtigte sie  eine  Wiederholung  der  Metzelei  vom  Juli,  um 
die  Juden  vollends  zu  schrecken  und  mit  ihnen  die  liberale 
Opposition  einzuschüchtern.  Es  gab  noch  ein  Hindernis:  der 
Polizeimeister  Derkatschow  war  ein  wohlmeinender  und  auf- 
geklärter Mann,  der  stets  die  Juden  beschützt  hatte  und  des- 
halb dem  Schwarzen  Hundert  gründlich  verhaßt  war.  Am 
10.  Juni  (28.  Mai  a.  St.)  1906  wurde  er  ermordet:  offenbar 
auf  Anstiften  der  ,,Echt  Russischen",  weil  sie  gerade  Bialystok 
zum  Schauplatze  eines  neuen  Pogroms  ausersehen  hatten. 
Als  die  Juden  von  Bialystok,  im  Einvernehmen  mit  der  Witwe, 
einen  Kranz  bei  der  Beerdigung  des  Ermordeten  niederlegen 
wollten,  verbot  ihnen  das  der  Pristaw  Scheremetjew  mit  den 
drohenden  Worten:  ,,Wir  sind  Christen,  keine  blutdürstigen 
Juden",  beschuldigte  die  Israeliten,  Derkatschow  getötet  zu 
haben,  und  fuhr  fort:  ,,Es  soll  nicht  geschehen,  ich  werde  es 
nicht  zulassen.  Der  Kranz  ^vird  nicht  der  Familie,  sondern 
dem  Polizeimeister  gewidmet,  wir,  seine  Amtsgenossen,  prote- 
stieren dagegen.  Sollten  die  Juden  aber  trotzdem  darauf  be- 
stehen, so  wird  das  nach  zwei  Tagen  die  ganze  jüdische  Be- 
völkerung bedauern"  (12.  Juni). 

Das  war  eine  offene  Pogromandrohung.  Die  Juden  be- 
schlossen, die  Niederlegung  des  Kranzes  zu  unterlassen,  und 
sandten  eine  Deputation  an  den  Gouverneur  in  Grodno,  Küster, 
um  dessen  Schutz  zu  erbitten.  Es  wies  sie  mit  harten  Worten 
zurück,  bezeichnete  sie  als  Revolutionäre,  gegen  die  gerechte 
Erbitterung  bei   Polizei  und  Militär  herrsche,  und   drohte  mit 


256  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

scharfem  Schießen  —  auf  die  Juden.  Ähnlich  äußerte  sich  der 
Divisionskommandeur  General  von  Bader.  Beide  warnten 
A^or  Schüssen  oder  Bombenwerfen  seitens  der  Juden;  sobald 
solches  eintrete,  werde  man  die  Soldaten  auf  dieselben  los- 
lassen. Vergebens  wies  die  jüdische  Absendung  auf  etwaige 
Provokation  seitens  der  Huligans  hin. 

Die  hohe  Obrigkeit  hatte  damit  den  künftigen  Gang  des  Po- 
groms selber  vorgezeichnet.  Am  14.  (1.)  Juni,  dem  Fronleich- 
namsfeste, brach  er  aus.  Von  einem  dazu  angestellten  Menschen 
wurde  aus  einem  Hause  eine  Bombe  gegen  die  orthodoxe  Pro- 
zession geschleudert.  Sofort  begann  das  Militär,  unterstützt 
von  Bauern  der  Umgebung,  die  vorher  mit  Waffen  versehen 
und  in  die  Stadt  gerufen  waren,  ein  Gemetzel  gegen  die  Juden, 
dabei  geleitet  und  unter ^\^esen  von  der  Polizei.  Die  Greuel 
dauerten  fünf  Tage  lang,  bis  zum  18.  Dumamitglieder  hatten 
die  Zentralregierung  um  deren  Eingreifen  gebeten;  sie  erhielten 
beruhigende  Zusagen,  die  aber  nicht  ausgeführt  wurden. 
78   Juden  wurden   getötet,    84  verwundet. 

Das  Bialystoker  Pogrom  bedeutet  etwas  Neues,  eine 
Steigerung  in  dem  furchtbaren  Trauerspiele.  Bisher  hatten 
die  Behörden  die  Pogrome  vorbereitet  und  hinter  der  Szene 
geleitet;  hier  hatten  sie  es  ganz  offiziell  selber  veranstaltet 
und  durchgeführt.  Nicht  die  Huligans  hatten  das  Gemetzel 
verübt,  sondern  die  Soldaten.  Die  Hauptleute  Burakow,  Workal, 
Soschinski  hatten  antisemitische  Hetzschriften  schlimmster  Art 
unter  den  Soldaten  verbreitet  und  die  Abschlachtung  der  revo- 
lutionären Juden  gepredigt. 

Die  zweite  Duma  interpellierte  die  Regierung  wegen  dieser 
unerhörten  Vorfälle.  Nach  eindrucksvollen  Reden  von  jüdischen 
und  christlichen  Abgeordneten  —  unter  ihnen  der  Pope  ^\fanas- 
siew  —  nahm  die  Versammlung  einstimmig  den  Antrag  Aladjin 
an,  daß  zwei  xA.bgeordnete  nach  Bialystok  entsendet  werden 
sollten,  um  die  Ursachen  der  Judenhetze  festzustellen.  Aber 
ehe  dies  noch  geschehen  konnte,  löste  der  hohe  Beschützer  des 
Verbandes  echt  russischer  Leute,  der  Zar,  die  zweite  Duma  auf. 

Der  jüdische  Advokat  Gillerson,  der  Sachwalter  einiger 
Juden  in  dem  wegen  des  Bialystoker  Pogroms  anhängig  ge- 
machten Scheinprozesses,  wurde  viel  später,  unter  ungeheurer 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  257 

Teilnahme  der  gesamten  russischen  Advokatur,  die  die  Freiheit 
der  Verteidigung  in  ihm  verletzt  sah,  am  26,  Oktober  1909 
von  dem  Kreisgericht  zu  Grodno  zu  einjähriger  Festungshaft 
verurteilt,  weil  er  in  seiner  Rede  die  verschiedenen  Bevölkerungs- 
klassen gegeneinander  aufgehetzt  habe.  Der  wahre  Grund  der 
Verfolgung  war  aber  gewesen,  daß  er  den  Bialystoker  Gerichts- 
hof aufgefordert  hatte,  die  wegen  des  Pogroms  Angeklagten 
sämtlich  freizusprechen,  da  sie  doch  auf  Antrag  des  Justiz- 
ministers von  der  allerhöchsten  Stelle  begnadigt  werden  würden. 
Gillerson  hatte  allzukühn  den  Finger  in  die  schlimmste  Wunde 
gelegt,   die  der   Gerechtigkeit  in  Rußland  beigebracht  war. 

Überall  wühlten  die  ,,Echt  Russischen",  des  Schutzes 
seitens  des  Zaren  versichert.  In  ganz  West-  und  Südrußland 
wurden  die  antisemitischen,  bluttriefenden  Hetzschriften  zu 
Hunderttausenden  verbreitet.  Und  nicht  ohne  Erfolg.  Zwar 
ein  beginnendes  neues  Pogrom  in  Odessa  (Juli  1906)  wurde 
bald  durch  den  Gouverneur  Generalmajor  Grigorjew  unter- 
drückt, freilich  nicht  ohne  daß  jüdisches  und  christliches  Blut 
geflossen  war.  Aber  im  September  1906  fand  eine  abermalige, 
und  zwar  noch  schlimmere  Wiederholung  der^i  Vorgänge  in 
Bialystok  statt,  und  zwar  in  der  kleinen  polnischen  Gouverne- 
mentshauptstadt Siedice,  die  unter  ihren  28  000  Einwohnern 
15  000  Juden  zählte.  |r>er  hauptsächliche  Veranstalter  des 
seit  lange  wohlvorbereiteten  Pogroms  war  der  Chef  der  poli- 
tischen Polizei  der  Provinz,  Dragoneroberst  Tichanowsky, 
der  offenbar  von  oben  her  unterstützt  Avurde,  Das  Infanterie- 
regiment Ostrolenka,  das  die  Besetzung  von  Siedice  bildete, 
weigerte  sich,  die  Judenmetzelei  vorzunehmen;  es  wurde  ent- 
fernt und  durch  das  Regiment  Libau  ersetzt,  das  schon  in  Liv- 
land  und  Bialystok  Beweise  seines  tatkräftigen  Judenhasses 
gegeben  hatte.  Seitdem  ahnten  die  Juden  von  Siedice,  was 
ihnen  bevorstand.  Einige  Schüsse,  die  tatsächlich  von  Soldaten 
abgefeuert  und  nachträglich  den  in  der  Stadt  gar  nicht  vor- 
handenen Revolutionären  zugeschrieben  wurden,  gaben  den 
Vorwand  und  das  Signal,  nebst  einer  an  dem  Rathausturme 
aufgehängten  roten  Laterne,  Tichanowsky  hat  später  be- 
hauptet: ,,Die  Revolutionäre  überfielen  meine  Soldaten,  und 
die  müssen  sich  doch  verteidigen."   In  Wahrheit  ist  kein  Soldat 

Philippson,    Xeueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  17 


258  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

verwundet,  ist  trotz  eifrigen  Nachforschens  niemand  gefunden 
Avorden,  der  auf  sie  gefeuert  hätte.  Das  Militär  aber  schoß  auf 
die  Juden,  wo  es  sie  fand,  und  zündete  deren  Häuser  an.  Eine 
um  Einstellung  des  Gemetzels  flehende  Bürgerabordnung 
herrschte  Tichanowsky  an:  ,,Gebt  die  Revolutionäre,  die  auf 
das  Militär  feuern,  heraus,  sonst  lasse  ich  die  Stadt  bombar- 
dieren." —  ,,Es  feuern  ja  aber  keine!"  —  ,,Gebt  die  Revolu- 
tionäre heraus,  sonst  lasse  ich  bombardieren."  Da  keine  Revolu- 
tionäre vorhanden  waren,  konnte  man  sie  nicht  ausliefern, 
und  das  Bombardement  fand  statt.  Neunzehn  Häuser  wurden 
ganz  zerstört,  150  arg  beschädigt.  Einige  Hundert  Läden  waren 
geplündert,    142  Menschen  getötet,    450  verwundet. 

Der  logische  Beschluß  der  Tragödie  war  der  Korpsbefehl 
des  Kommandanten  des  Warschauer  Militärbezirks,  General- 
adjutanten Skalon,  vom  7.  Februar  1907.  Dieser  General 
sprach  dem  Oberstleutnant  Tichanowsky  und  den  ihm  unter- 
stellten Truppen  warmes  Lob  aus  für  die  schnelle  Unterdrückung 
des  —  imaginären  —  ,, Aufstandes"  in  Siedice. 

Die  Ereignisse  in  dieser  Stadt  bildeten  den  Höhepunkt 
und  den  gloriosen  Abschluß  der  Pogrome,  zugleich  den  tat- 
sächlichen Beweis  für  den  Ausspruch  des  Gendarmerieoffiziers 
Kommissarow,  der  bei  der  Geheimdruckerei  der  ,, Echt-Rus- 
sischen" in  Petersburg  angestellt  war:  ,,Wir  können  ein  be- 
liebiges Pogrom  veranstalten;  wenn  Sie  wollen,  können  zehn 
Personen  oder,  nach  Belieben,  auch  10  000  niedergemetzelt 
werden."  Diese  Tatsache  hat  Fürst  Urussow  in  seiner  Rede 
in  der  Reichsduma  vom  8.  Juni  1906  widerspruchslos  mit- 
geteilt. 

Der  Zar  trat  immer  entschiedener  für  den  ,, Verband  der 
echt  russischen  Leute"  ein:  ,,Bald  wird  die  Sonne  der  Wahrheit 
über  der  Erde  erglänzen",  telegraphierte  er  an  dessen  Ver- 
sammlungen. Wenn  die  Juden  aber  die  Keckheit  hatten,  sich 
gegen  die  Totschläger  und  Räuber  zur  Wehr  zu  setzen,  wurden 
sie  von  den  feilen  Gerichtshöfen  als  die  eigentlich  Schuldigen 
verurteilt  und  mit  vielen  Jahren  Zuchthaus  bestraft,  als  ,, Zu- 
gehörige einer  verbrecherischen  Gesellschaft".  Und  alles  das 
,,von  Rechts  wegen".  Alle  Organisationen  zum  Selbstschutze 
gegen  Pogrome  wurden  verboten  —  wehrlos  sollten  die  Juden 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  259 

ihren  SchLächtern  überliefert  werden.  Die  gebildete  Gesell- 
schaft Rußlands  hat  längst  ihre  Teilnahme  für  die  Juden 
aufgegeben  und  ist  in  ihrer  Mehrheit  antisemitisch  gestimmt. 
Größere  Pogrome  fanden  seit  1907  nicht  mehr  statt,  aber  zahl- 
reiche Fälle  vereinzelter  Plünderungs-  und  Mißhandlungs- 
szenen kamen  vor.  Besonders  herrschte  der  schwarze  Schrecken 
in  Odessa,  avo  die  jüdische  Bevölkerung  fortwährend  ange- 
griffen, geprügelt  und  totgeschlagen  wurde,  unter  der  väter- 
lichen Aufsicht  der  Polizei.  Die  Gouverneure  und  Militär- 
kommandanten wechselten;  das  System  blieb  das  gleiche. 
Die  Ausschreitungen  richteten  sich  gelegentlich  auch  gegen 
freisinnige  Christen.  Die  Kaufmannschaft  flehte  also  die  Re- 
gierung an,  Vorgängen  ein  Ende  zu  machen,  die  den  Handel 
und  damit  den  Wohlstand  der  Stadt  zu  vernichten  drohten 
—  ohne  Erfolg.  Vergebens  wies  sie  darauf  hin,  daß  die  Ein- 
fuhr in  Odessa  von  61.  700000  Rubel  im  Jahre  1902  auf  41  350  000 
in  1906,  die  Ausfuhr  in  denselben  Jahren  von  116  auf  80  Millionen 
Rubel  gesunken  war.  Das  alles  waren  Vorkommnisse,  die  in 
ihrer  Brutalität  und  Beharrlichkeit  ohne  Beispiel  unter  einer 
monarchischen  Regierung  sind. 

Und  doch  war  ebenso  unwahr,  wie  die  Anschuldigung 
revolutionärer  Gesinnung,  der  Vorwurf,  daß  die  Juden  sich  in 
besonderem  Maße  der  Militärpflicht  zu  entziehen  suchten.  Es 
gab  im  Jahre  1907  im  aktiven  russischen  Heere  53  194  jüdische 
Soldaten,  während  ihrer  nach  dem  Verhältnis  der  Seelenzahl 
nur  42  709  sein  sollten,  also  10  845  Soldaten  oder  24  Prozent 
über  die  normale  Zahl.  Das  sind  nackte,  unwiderlegliche 
Ziffern,  die  die  Ungeheuerlichkeit  und  Verlogenheit  der  gegen 
die  russischen  Israeliten  erhobenen  Anklagen  abermals  erweisen. 

Die  leitenden  Kreise  des  Zarenreiches  zeigen  sich  nichts- 
destoweniger den  Juden  fortgesetzt  ungünstig.  Der  Minister- 
präsident Stolypin  brachte  einen  Gesetzentwurf  ein,  der  den 
Übertritt  vom  Christentum  zu  einer  anderen  Religion  wesent- 
lich erschAverte.  Dabei  erniedrigte  er  die  nichtchristlichen 
Religionen  zu  Bekenntnissen  zweiten  Ranges.  Er  wünsche 
nicht,  sagte  er,  daß  in  dem  streng  orthodoxen  russischen  Staate 
in  die  Gesetzgebung  Grundsätze  Eingang  fänden,  die  in  den 
Augen  des  Volkes  die   Orthodoxie  und  das  Christentum   mit 

17* 


260  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

NichtChristentum  gleichmachten.  Ein  Gesetz,  das  dem  Glauben 
eines  jeden  Freiheit  gewähre,  werde  das  Volk  begreifen,  doch 
nicht  ein  Gesetz  rein  reklamenhaften  Charakters,  das  aus- 
spreche, Orthodoxie  und  Christentum  seien  dem  Heidentum, 
Mohammedanertum  und  Judentum  gleichgestellt.  Nun  gibt 
es  in  Rußland  aber  14  Millionen  Mohammedaner,  6  JVIillionen 
Juden,  abgesehen  von  der  Million  Heiden.  Das  sind  doch 
keine  einfach  zu  vernachlässigenden  Quantitäten.  Und  inner- 
halb des  Christentums  stehen  den  95  Millionen  Orthodoxen 
mindestens  12^/^  Millionen  römischer  Katholiken,  mehr  als  eine 
Million  Protestanten,  P/4  Million  Armenier  gegenüber,  sowie 
die  Millionen  russischer  Sektierer.  38  Millionen  gegen  95,  und 
da  soll  diese  Mehrheit  von  71  Prozent  das  ganze  Staatsleben 
beherrschen.  Man  sieht,  meweit  dieses  Rußland  noch  von  der 
Idee  des  Rechtsstaates  entfernt  ist. 

Die  Ausweisungen  von  Juden  gingen  munter  weiter.  Stolypin 
verfaßte  am  22.  Mai  1907  mit  Genehmigung  des  Ministerrats 
ein  Rundschreiben,  das  verbot,  einstweilen  diejenigen  Juden» 
die  sich  in  ungesetzlicher  Weise  an  verbotenen  Orten  nieder- 
gelassen hätten,  auszuweisen.  Allein  dem  Widerstände  der  Echt- 
Russischen  gegenüber  mußte  der  Ministerrat  das  Rundschreiben 
zurückziehen.  Zumal  in  dem  heiligen  Kiew  verlegte  sich,  wie  seit 
alters,  die  Polizei  in  regelmäßiger  Wiederkehr  auf  den  Sport  der 
Jagd  auf  nicht  wohnberechtigte  Juden.  Im  Frühjahr  1910  er- 
folgte der  Hauptstreich :  es  wurden  etwa  zehntausend  auf  einmal 
aus  Kiew  A^ertrieben  —  wohlverstanden  nur  ärmere,  die  nicht 
ausgiebig  der  Polizei  zu  steuern  vermochten;  sie  wanderten  in 
Masse  weiter,  gleich  aus  dem  Stiefvaterlande  aus.  Ähnlich  ging 
es  zu  in  Riga,  Kasan,  Woronesch,  Torolecz  (Pleskower  Gouverne- 
ment). In  Moskau  erhielt  die  Polizei  den  Befehl,  streng  darauf 
zu  achten,  daß  kranke,  nicht  wohnberechtigte  Juden  dort  nicht 
in  die  Krankenhäuser  aufgenommen  würden,  auch  wenn  sie 
dabei  zugrunde  gingen.  Vergebens  haben  Angehörige  aller 
Klassen  der  lokalen  christlichen  Gesellschaft  gegen  diese  Gewalt- 
maßregeln  protestiert.  In  Moskau  erfand  die  Polizei  eine  in 
ihrer  Raffiniertheit  wahrhaft  erstaunliche  Variante:  wenn 
selbst  die  Eltern  wohnberechtigt  seien,  so  doch  nicht  die  Kinder 
—  und  wies  diese  letzteren  aus.     Glücklicherweise  schob  der 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  261 

Senat  wenigstens  solcher  pharaonischen  Grausamkeit  einen 
Riegel  vor.  Aus  den  Dörfern  des  Gouvernements  Kjelzi  wur- 
den 800  Familien,  die  zum  Teil  dort  seit  unvordenklichen 
Zeiten  ansässig  gewesen,  ausgetrieben;  aus  Turkestan  sämtliche 
bucharische,  afghanische  und  persische  Juden,  3000  Seelen 
in  576  Familien,  unter  denen  die  hauptsächlichen  Großkauf - 
leute  und  Vermittler  Zentralasiens  sich  befanden.  Auf  Re- 
klamation des  Oberrabbiners  der  mittelasiatischen  Juden, 
Tager,  schob  der  Generalgouverneur  von  Turkestan,  Samsonow, 
diese  Ausweisung  auf,  bis  zur  Entscheidung  des  Ministerrates. 
Dieser  beschloß,  daß  man  die  ausländischen  Juden  in  den 
Bezirken  Fergansk,  Samarkand  und  Transkaspien  belasse, 
aber  aus  dem  Bezirke  Syr-Darja  ausweise,  wo  immerhin  140 
jüdische  Familien  wohnten.  Und  so  geschah  es.  Der  größte 
Teil  aller  der  unglücklichen  Flüchtlinge  verließ  für  immer  den 
ungastlichen  Boden  dieses  barbarischen  Reiches  —  und  das 
war  wohl  der  hauptsächliche  Zweck  der  ganzen  Veranstaltung. 
Ein  barbarisches  Reich !  Die  stärkste  Erläuterung  dazu 
bildet  der  Umstand,  daß  man  arme  Kranke  und  Leidende, 
wenn  sie  ,, Hebräer"  waren,  selbst  aus  Spitälern,  Luftfrischen 
und  Kurorten  verbannte,  auch  wenn  sie  dort  schon  die  Miete 
für  den  ganzen  Sommer  vorausbezahlt  hatten.  Ohne  jede 
gesetzliche  Handhabe  wurde  den  Juden  den  Aufenthalt  in  den 
baltischen  Seebädern,  mit  Ausnahme  von  Dubbeln,  verboten. 
Der  Besuch  des  sibirischen  Badeortes  Schiro  wurde  ihnen 
untersagt;  infolge  davon  sank  die  Frequenz  dort  von  2000 
Gästen  auf  200.  Vergebens  protestierten  die  christlichen  Obrig- 
keiten und  Bewohner  dieser  Orte  gegen  eine  Maßregel,  die  ihnen 
selbst  den  größten  pekuniären  Schaden  zufügte.  Nur  die 
Bäder  im  Kaukasus  mußte,  auf  die  lauten  Beschwerden  der 
dortigen  Christen  hin,  die  Regierung  den  Israeliten  wieder  öffnen. 
Was  soll  man  aber  dazu  sagen,  daß  der  Senat  innerhalb  des 
Ansiedlungsrayons  selbst  sämtliche  Sommerfrischen  den  Juden 
verschloß,  unter  dem  Vorwande.  daß  sie  ja  dort  nicht  auf  dem 
Lande  wohnen  dürften.  Sogar  aus  Landhäusern,  die  dicht  vor 
den  Toren  der  Städte  lagen,  wurden  die  Juden  vertrieben. 
Zahlreiche  Landhausbesitzer  reklamierten  gegen  diese  sie  mit 
Ruin  bedrohende  Maßregel;  aber  der  dirigierende  Senat  schob, 


262  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

im  Februar  1910,  die  Entscheidung  ins  unbestimmte  auf, 
beließ  es  also  einstweilen  bei  der  Ausschließung. 

Die  Beschränkung  der  bürgerlichen  Rechte  der  Juden 
wurde  mit  gleicher  Beharrlichkeit  durchgeführt,  wie  diejenige 
des  Wohnsitzes.  In  den  Städten  außerhalb  des  eigentlichen 
Ansiedlungsrayons  sollen  sie  überhaupt  nicht  Mitglieder  der 
städtischen  Selbstverwaltungskörperschaften  sein,  in  den  Orten 
des  Rayons  höchstens  ein  Fünftel  derselben  ausmachen,  auch 
wenn  sie  neunzig  Prozent  der  Einwohnerschaft  bilden.  Ein 
Erlaß  des  Verkehrsministers  befahl  die  Säuberung  der  Eisen- 
bahnverwaltung von  allen  ,, nicht  russischen"  Elementen  an. 
Daraufhin  mußte  auch  der  Direktor  der  Südwestbahn,  Wirk- 
licher Staatsrat  M.  Abramsohn,  einer  der  anerkanntesten  Eisen- 
bahningenieure Rußlands,  seine  Entlassung  nehmen.  Der  Justiz- 
minister ging  nicht  ganz  so  weit  wie  sein  Kollege :  er  verordnete, 
daß  innerhalb  des  Ansiedlungsrayons  nur  35,  außerhalb  des- 
selben nur  20  Prozent  der  Rechtsanwälte  Juden  sein  dürften. 
Die  jüdischen  Advokatengehilfen  wurden  von  der  Tätigkeit 
an  den  Gerichten  ausgeschlossen,  die  in  Smolensk  wohnenden 
jüdischen  Zahnärzte  ausgewiesen,  in  die  Feldscherschulen  nur 
zehn  Prozent  Juden  aufgenommen. 

Am  schlimmsten  trieb  es  in  den  letzten  Jahren  der  neue 
Gouverneur  von  Odessa,  General  Tolmatschow,  ehemals  Haupt- 
führer der  Huligans.  Er  beherrschte  die  unglückliche  Stadt 
durch  den  Schrecken,  setzte  die  Wahlen  zum  Gemeinderat  und 
zur  Reichsduma  nach  seinem  Willen  durch.  Unter  dem  infamen 
Vorwande,  daß  die  jüdischen  Ärzte  des  jüdischen  Kranken- 
hauses Revolutionäre  seien  und  ferner  die  dort  untergebrachten 
christlichen  Patienten  durch  Einspritzung  von  Syphilisgift  in- 
fizierten, unternahm  er  es,  jene  sämtlich  zu  vertreiben  und 
durch  christliche  Ärzte  zu  ersetzen. 

Überhaupt  galt  dieses  Mal  der  Feldzug  der  russischen 
Regierung  in  erster  Linie  der  jüdischen  Intelligenz.  Früher, 
unter  Alexander  I.  und  sogar  unter  Nikolaus  I.,  hatte  man 
sie  mit  aller  Macht  begünstigt  und  zu  entwickeln  gesucht; 
jetzt  bekämpfte  man  sie,  aus  Furcht,  sie  könnte  sich  der 
rusisschen  Intelligenz  überlegen  erweisen.  Man  untersagte 
Fortbildungskurse  für  jüdische  Lehrer  in  Wilna.    Die  jüdische 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  263 

Volksuniversität  in  Warschau,  die  für  den  kulturellen  Fort- 
schritt der  jüdischen  Masse  segensreich  gewirkt  hat,  wurde 
seitens  der  Verwaltung  derart  drangsaliert,  daß  man  sie  schließen 
mußte.  Der  in  der  Freiheitszeit  unbeachtet  gebliebene  Grund- 
satz, daß  an  höheren  Schulen  und  Universitäten  die  Juden  nur 
einen  geringen  Prozentsatz  der  Schüler  ausmachen  dürften, 
wurde  nun  mit  aller  Strenge  A\deder  durchgeführt,  und  da  wäh- 
rend der  Freiheitszeit  ihre  Anzahl  sehr  angewachsen  war, 
wurden  einstweilen  Gymnasien  und  Universitäten  überhaupt 
für  jüdische  Aspiranten  geschlossen,  bis  der  ,, normale"  Pro- 
zentsatz hergestellt  sei.  An  den  verschiedenen  Petersburger 
Hochschulen  MTirden  für  das  Unterrichtsjahr  1910/11  nur 
125  Juden  aufgenommen,  gegen  5000  Christen.  An  der  neuen 
Universität  Odessa  wies  man  400  jüdische  Studenten  zurück 
und  ließ  nur  21  zu,  obwohl  die  Hörsäle  noch  für  500  Besucher 
Platz  boten.  Die  ganze  Ungeheuerlichkeit  der  Maßregel,  die 
den  Juden  nur  drei  Prozent  an  den  Hochschulen  der  beiden 
Hauptstädte  Petersburg  und  Moskau  einräumt,  wird  durch 
den  Umstand  erläutert,  daß  56  Prozent  aller  russischen  Stu- 
dierenden gerade  diese  Hochschulen  besuchen.  Von  den  in 
dem  Reiche  vorhandenen  33  Hochschulen  verschiedener  Art 
befinden  sich  nur  vier  im  Ansiedlungsrayon ,  wo  allein  die 
jüdischen   Studenten   15  Prozent  ausmachen  dürfen. 

Kein  Jude,  auch  der  von  den  Fakultäten  bestempfohlene, 
wurde  mehr  zur  Dozentur  an  den  Universitäten  zugelassen. 

In  den  Handelsschulen,  wo  auch  allgemeine  Fächer  gelehrt 
werden,  konnten  ehemals  die  Juden  in  unbeschränkter  Anzahl 
Zutritt  finden;  1909  wurde  auch  hier  die  prozentuale  Beschrän- 
kung angeordnet,  die  die  Schließung  der  Mehrzahl  dieser  An- 
stalten zur  Folge  hatte. 

Ein  weiterer  ,, Fortschritt"  war,  daß  man  diese  Einschrän- 
kung auch  auf  das  bisher  davon  unberührte  Gebiet  der  Künste 
ausdehnte.  Man  nahm  in  die  Architekturabteilung  der  Peters- 
burger Kunstakademie  nur  noch  drei  Prozent,  in  die  Malklasse 
gar  nur  zwei  Prozent  Juden  auf.  Künftighin  wurden  zu  den 
internationalen  Musikkonkurse  in  Petersburg  von  Juden  aus- 
schließlich die  in  der  Hauptstadt  wohnberechtigten  zugelassen, 
entgegen   der  vom  Kaiser    bestätigten    Statuten    dieses  Wett- 


264  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

bewerbes,  die  jedem  Befähigten  die  Beteiligung  gestatteten; 
im  Widerspruche  auch  mit  der  Tatsache;  daß  bisher  fast  ledig- 
lich Ausländer  an  der  Bewerbung  teilgenommen  hatten.  Diese 
neue  Maßregel  war  derart  ungeheuerlich,  daß  die  meisten 
Jurymitglieder  ihr  Amt  niederlegten. 

Vergebens  forderte  sogar  der  antisemitische  Stadtrat  von 
Kischinew  die  Aufhebung  der  die  Anzahl  der  jüdischen  Schüler 
beschränkenden  Norm  an  den  höheren  Schulen,  als  diesen  ver- 
derblich. Im  Gegenteil,  der  Kultusminister  Schwartz  erstreckte 
am  10.  Februar  1910  diese  Norm  auch  auf  die  privaten  höheren 
Lehranstalten  mit  staatlicher  Berechtigung,  und  zwar  mit 
sofortiger  Wirkung;  in  striktem  Widerspruche  mit  einem  ein- 
stimmigen Beschlüsse  des  Ministerrats,  der  nur  die  allmähliche 
Einführung  der  Beschränkung  bei  den  höheren  Privatschulen 
angeordnet  hatte.  Die  schlimmste  Gewalttat  aber  wurde  ver- 
übt, indem  gegen  die  von  den  Juden  auf  eigene  Kosten  ein- 
gerichteten und  von  der  Regierung  genehmigten  und  ordnungs- 
mäßig beaufsichtigten  Mittelschulen  der  ,, Minister  für  Volks- 
aufklärung", Schwartz  —  und  dabei  war  er  den  ,,Echt  Rus- 
sischen" noch  nicht  reaktionär  genug  —  einen  erbitterten  Krieg 
führte.  Das  erste  jüdische  Privatgymnasium  war  1903  in  Odessa 
eröffnet  worden,  1906  erfolgte  die  Gründung  jüdischer  Gymna- 
sien in  Petersburg,  Wilna,  Homel  und  Riga  soaWc  einer  Real- 
schule in  IVIinsk.  Zunächst  ließ  man  die  jugendbildende  Tätig- 
keit der  Juden  gewähren;  aber  im  Frülijahr  1910  erwachte 
die  Furcht,  die  jüdische  Intelligenz  könne  hieraus  neue  Kräfte 
ziehen.  Man  zog  von  den  Kuratoren  der  Lehrbezirke  Aus- 
künfte ein,  wie  es  um  die  privaten  jüdischen  Mittelschulen 
stehe;  sie  fielen  sehr  günstig  aus.  Der  Wirkungskreis  dieser 
Unterrichtsanstalten  war  sehr  ausgedehnt:  sie  wnirden  von 
2000  jüdischen  Kindern  und  dazu  von  etwa  500  christlichen 
besucht.  Im  Juli  1910  aber  entzog  Schwartz  durch  eine  Ver- 
fügung an  die  Kuratoren  des  Wilnaer  und  des  Odessaer  Lehr- 
bezirks den  jüdischen  höheren  Schulen  für  den  Fall,  daß  sie 
mehr  als  fünfzehn  Prozent  jüdischer  Zöglinge  aufnähmen,  alle 
staatlichen  Rechte,  so  daß  sie  weder  zum  einjährigen  Militär- 
dienst noch  zur  Universität  entlassen  konnten.  Beide  Even- 
tualitäten aber  bedeuteten  den  Untergang  dieser  Schulen,  den 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  265 

Verlust  der  Mühe,  der  Arbeit,  des  Kapitals,  die  auf  sie  ver- 
wandt waren,  und  das  Abschneiden  aller  Möglichkeit  höherer 
Bildung  für  Tausende  von  jüdischen  Kindern.  Denn  was  sollten 
sie  in  Schulen  suchen,  deren  Besuch  keinen  Nutzen  für  das 
praktische  Leben  brachte;  und  wdederum  war  die  Durch- 
führung der  15-Prozent-Norm  unmöglich,  da  es  ganz  ausge- 
schlossen war,  85  Prozent  christlicher  Kinder  zu  finden,  die 
Aufnahme  in  die  jüdischen  Schulen  gefordert  hätten.  Es  war 
die  Verfügung  des  Kultusmiiüsters  eine  unerhörte,  in  keinem 
Staate  jemals  nur  in  Erwägung  gezogene  Gewalttat.  Eine 
Konferenz  jüdischer  Notabilitäten  in  Petersburg  beschloß,  da- 
gegen bei  Schwartz  selbst  durch  eine  Abordnung  Beschwerde 
zu  führen,  und  sie  erhoffte  von  diesem  Schritte  Erfolg,  da 
man  gehört  hatte,  sogar  Stolypin  sei  ein  überzeugter  Wider- 
sacher jener  Verfügung.  Sie  hatte  dann  tatsächlich  die  Wirkung, 
daß,  angesichts  der  Unzufriedenheit  des  Ministerrates  mit 
seinem  Vorgehen,  Schwartz  sein  Rundschreiben  wegen  der 
höheren  Privatschulen  auf  ein  Jahr  suspendierte.  Aber  es 
hängt  noch  über  ihnen  wie  ein  Damoklesschwert. 

Einzelne  Kuratoren  der  Lehrbezirke  erstrecken  wider- 
gesetzlich die  Beschränkungsnorm  auch  auf  die  Volksschulen. 
Ja,  in  manche  von  diesen  werden  Juden  überhaupt  nicht 
mehr  aufgenommen;  so  wies  man  in  den  Volksschulen  von 
Nowogradwolynsk,  einer  Kreisstadt  im  Gouvernement  Wolhy- 
nien,   fünfhundert   jüdische  Kinder  zurück. 

Das  nennt  man  die  Juden  der  allgemeinen  Kultur  zu- 
führen !  Und  dann  beschuldigt  man  die  Israeliten,  sich  in 
fanatischer  Beschränktheit  von  Zivilisation  und  Vaterland  ab- 
zuschließen. 

Trotz  aller  Demütigungen  und  Mißhandlungen  aber  blieben 
die  russischen  Juden  ihrem  Glauben  treu.  Ja,  noch  mehr:  im 
Jahre  1909  sind  dort  nicht  weniger  als  vierhundert  getaufte 
Juden  zum  Bekenntnis  ihrer  Väter  zurückgekehrt,  trotz  aller 
materiellen  und  moralischen  Nachteile,  die  dieses  ihnen  bringt. 
Es  scheint  den  Feinden  des  Judentums  doch  recht  schwer  zu 
werden,  es  zu  vernichten. 

Die  entsetzliche  Tragödie  der  Pogrome  hatte  freilich'  der 
freiheitsdurstigen,  menschheitsfreudigen,  patriotisch  gerichteten 


266  Die  Reaktion  und  die  Juden. 

russischen  Judenheit  eine  furchtbare  Ernüchterung  gebracht. 
Die  „teuren  russischen  Brüder"  mordeten  die  Juden,  plünderten 
und  verbrannten  ihre  Wohnungen  und  Geschäfte,  schändeten 
ihre  Frauen.  Wo  war  da  die  erträumte  Gleichheit,  die  christ- 
liche Bruderliebe,  das  freie  Volkstum  ?  Es  war  eine  grausame 
Enttäuschung,  die  einen  klaffenden  Riß  im  Ghetto  hervorrief. 
Ein  großer,  und  zwar  der  bisher  vorzugsweise  politisch  tätige 
Teil  der  Juden  hatte  überhaupt  jeden  Boden  und  jedes  Ziel 
verloren,  wurde  unsicher,  blasiert,  ohne  Ideal.  Man  irrte  un- 
ruhig von  Stadt  zu  Stadt,  von  einem  Lebensplan  zum  anderen, 
stets  in  Gefahr  sittlichen  und  materiellen  Untergangs.  Opti- 
mistischere Gemüter  endlich,  die  weder  verzweifeln  noch  sich 
dem  überlebten  Alten  wieder  ergeben  wollten,  suchten  das  Heil 
in  Bildungsbestrebungen  leider  ungeregelter  und  deshalb  oft  un- 
fruchtbarer Art.  Sie  wurden  Freunde  spitzfindiger  Debatten, 
Nachbeter  der  westeuropäischen  Gedanken,  dabei  skeptische 
Verächter  der  Frauen.  Auch  die  jungen  Mädchen,  die  sich  in 
den  letztverflossenen  Jahren  mit  glühender  Begeisterung  der 
Politik  zugewandt  hatten,  verfielen  dieser  Skepsis.  So  blieb 
ihnen,  neben  der  Hinneigung  zur  Literatur,  namentlich  der  west- 
europäischen, die  ihrem  Geschlechte  und  Alter  eigene,  aber  bei 
ihnen  sich  despotisch  entwickelnde  Sehnsucht  nach  der  Liebe, 
Die  verschiedenen  Stimmungen  in  der  damaligen  russischen 
Judenheit  sprach  sich  in  der  Dialektdichtung  feurig  aus.  Der 
Verzweiflung  über  das  Geschehene  gab  S.  Frug  in  seinem 
Gedichte  ,,Aber  die  Sterne"  Ausdruck: 

,,Es  hat  sich  erfüllt!  .  .  .  Wie  Sand  und  wie  Steine 
Zerstreut  und  zerstoben  zu   Schande  und   Spott ! 
Nun  aber,  die   Sterne  mit  leuchtendem   Scheine, 
Die  Sterne,  die  Sterne,  wo  sind  se,  mein  Gott  ?" 

Schon  zuversichtlicher,  dem  lebensbejahenden  Optimismus 
des  jüdischen  Stammes  mehr  entsprechend,  sang  Moritz 
Rosenfeld : 

,,Wir  duldeten  Martern  wohl  sonder  Zahl, 
—  Die  schwachen  Körper  mußten  erliegen  — 
Doch  lebt  in  uns  ein  Ideal, 
Das  Völker  könnt  ihr  nie  besiegen."   — 


Die   Reaktion   und  die   Juden.  267 

Die  Abwendung  der  Juden  von  der  Politik  und  zumal  von 
den  revolutionären  und  sozialistischen  Bestrebungen  zeigt  sich 
in  dem  Schicksale  des  jüdischen  sozialistischen  .,Bi^irides".  Die 
Zahl  seiner  Mitglieder  nahm  reißend  ab;  die  eigentlichen  Ar- 
beiter verließen  ihn,  und  schließlich  versank  er  zu  gänzlicher 
Bedeutungslosigkeit. 

Es  gab  noch  einzelne  sozialistische  Schwärmer,  aber  ihre 
Anzahl  wurde  immer  geringer.  Die  Hauptmasse  der  Juden 
wandte  sich  von  der  tätigen  Politik  ab.  Würde  man  ihnen 
die  Gleichberechtigung  gewähren,  so  würden  sie  zweifellos  in 
ihrer  großen  Mehrheit  der  konservativen  Partei  beitreten.  Eine 
günstige  Folge  der  schrecklichen  Verfolgung,  die  alle  betroffen 
hatte  und.  noch  weiter  betraf,  war  die  Herstellung  des  Friedens 
zwischen  den  Misnaggedim  undChassidim;  der Chassidismus  trat 
in  Rußland  überhaupt  zurück  und  spielte  keine  beträchtliche 
Rolle  mehr.  An  Stelle  der  politischen  Bestrebungen,  die  sich  als 
aussichtslos  erAviesen  haben,  ist  dann  allmählich  bei  den  russi- 
schen Israeliten,  sogar  bei  den  orthodoxen,  die  Überzeugung  ge- 
treten, daß  nur  die  Bildung  die  traurige  Lage  in  ökonomischer, 
geistiger  und  sozialer  Hinsicht  zu  verbessern  imstande  sei.  Es 
ist  hier  in  der  Masse  der  russischen  Juden  eine  große,  segens- 
reiche Wandlung  eingetreten.  Auch  bei  den  Gebildeten :  sie  haben 
eingesehen,  daß  ihr  Schicksal  auf  das  engste  mit  dem  der  ganzen 
Gemeinschaft  verbunden  ist,  und  sie  widmen  sich  mit  großer 
Aufopferung  an  Kraft,  Geld  und  Einfluß  dem  Schicksale  ihrer 
unglücklichen  Brüder.  Die  Jugend  ist  entschieden  fortschritt- 
lich gesinnt  —  allerdings  liegt  die  Gefahr  vor,  daß  sie  sich 
künftigliin  der  jüdischen  Überlieferung,  dem  religiösen  Geiste 
entfremde.  Einstweilen  herrscht  nach  den  jüngsten  so  traurigen 
Erfahrungen  unter  den  russischen  Israeliten  eine  bewunderns- 
werte Solidarität;  das  , .jüdische  Herz"  macht  sich  unter  ihnen 
auf  das  glänzendste  und  segensreichste  geltend.  Das  nationale 
Unglück  ist,  wie  so  oft  in  der  Geschichte  der  Israeliten,  die 
Quelle  einer  inneren  Wiederlebung,  einer  wahren  Renaissance 
geworden.  Diesen  russischen  Juden  steht  noch  eine  große 
Zukunft  bevor. 

Auch  die  jüdische  Presse  hat  in  den  letzten  Jahren  einen 
bedeutenden  Aufschwung  genommen.   In  Petersburg  erscheinen, 


268  Die   Reaktion   und  die   Juden. 

neben  einer  Anzahl  feuilletonistisch  gehaltener  Jargonblätter, 
mehrere  jüdische  Zeitschriften  in  russischer  Sprache  und  von 
ernster,  sei  es  politischer,  sei  es  wissenschaftlicher  Bedeutung. 
Das  verbreiteste  dieser  Blätter,  ,,Rasw3et",  ist  ein  zionistisches 
Parteiorgan;  das  zweitwichtigste,  „Jewreiskij  Mir",  gehört  der 
national-demokratischen  Richtung  an;  das  dritte  Wochenblatt, 
,,Nowy  Woschod",  bekennt  den  gemäßigten  Liberalismus. 
Der  jüdischen  Geschichtsforschung  ist  die  Vierteljahrsschrift 
Dubnows  ,,Jewreiskaja  Starina"  vorzugsweise  ge^\ddmet.  Die 
hebräische  Presse  —  von  ihren  sieben  Organen  erscheinen  zwei 
täglich  —  besitzt  ihren  Mittelpunkt  in  Wilna.  Die  älteste  der 
hebräischen  Tageszeitungen  ist  der  1886  von  Dr.  L.  Kantor  in 
Petersburg  begründete  ,,Hajom",  der  sich  bestrebt,  die  heilige 
Sprache  den  Ereignissen  und  Anforderungen  der  Gegenwart 
anzupassen  und  damit  auf  die  Entwicklung  dieser  Sprache 
einen  sehr  bedeutenden,  auch  heute  noch  nachwirkenden  Ein- 
fluß übte.  Auch  in  Odessa  und  Lodz  erscheinen  jüdische  Zeit- 
schriften. Sie  alle  sind  ein  wichtiges  Zeugnis  des  immer  stärker 
erwachenden  geistigen  Lebens  unter  den  russischen  Israeliten. 
Alle  Einsichtigen  unter  den  russischen  Juden  haben  er- 
kannt, daß  man  der  allmählichen  Besserung  der  politischen 
und  sozialen  Zustände  ihrer  Glaubensgenossen  am  wirksamsten 
dient,  indem  man  wahre  Aufklärung  und  Bildung  unter  ihnen 
verbreitet,  das  einer  jeder  Bevölkerungsklasse  angemessene 
Wissen,  sittliches  Empfinden  und  kultiviertes  Wesen  bei  ihnen 
befördert.  Eine  sehr  lebhafte  wissenschaftliche  Tätigkeit  ist 
unter  den  Juden  Rußlands  entstanden.  Aus  der  historischen 
Sektion  der  längst  bestehenden  Gesellschaft  zur  Verbreitung  von 
Bildung  unter  den  Juden  hat  sich  eine  ,, Jüdische  historisch- 
ethnographische Gesellschaft"  entwickelt,  die  eine  Fülle  ge- 
schichtlicher Veröffentlichungen  veranstaltet  hat,  unter  anderen 
eine  Sammlung  von  Urkunden  und  Memoiren  zur  Geschichte 
der  russischen  Israeliten.  Bedeutende  Gelehrte,  wieDubnow  und 
Hessen,  stehen  an  ihrer  Spitze;  ihr  oberster  Leiter  ist  der  als 
Politiker  hoch  angesehene,  für  seine  jüdischen  Brüder  herzlich 
begeisterte  Rechtsanwalt  Winawer.  Der  leider  jung  verstorbene 
Baron  David  Günzburg,  der  mit  dem  lebhaften  Opfersinn  und 
der  echt    jüdischen  Gesinnung    seines    edlen  Vaters  gründliche 


Die   Reaktion  und   die   Juden.  269 

wissenschaftliche  Bildung,  besonders  auf  dem  orientalistischen 
Gebiete,  vereinte,  hat  eine  private  Lehranstalt  für  die  Wissen- 
schaft des  Judentums  ins  Leben  gerufen,  an  der  er  selbst  Vor- 
lesungen hielt.  Eine  sehr  wertvolle  ,,  Jüdische  Enzyklopädie"", 
nach  dem  Muster  der  amerikanischen  ,,Jewish  Encyclopaedia", 
aber  ganz  unabhängig  von  ihr  und  mit  besonderer  Berücksichti- 
gung der  russischen  Zustände  und  Persönlichkeiten,  erscheint 
in  russischer  Sprache  und  hat  schon  8000  Abnehmer.  Auf  die 
Masse  des  Volkes  waren  die  Israelitischen  Literaturvereine  be- 
rechnet, die  nach  dem  Vorbilde  der  deutschen  seit  1909  ins 
Leben  getreten  sind  und  sich  mit  reißender  Schnelligkeit  über 
ganz  Rußland  ausdehnten  —  bis  die  russische  Regierung  sie 
auflöste  (1911)  und  damit  von  neuem  ihre  tödliche  Feind- 
schaft gegen  jedes  Bildungsstreben  unter  den  Israeliten  dar- 
tat. Selbst  in  den  Baltischen  Provinzen  sind  die  Juden 
wissenschaftlich  tätig  und  geben  dort  ,, Urkunden  und  Regesten" 
ihrer  Provinzialgeschichte  heraus.  Diese  wissenschaftliche  Arbeit 
ist  ein  erfreuliches  Zeichen  der  inneren  Kraft  der  russischen 
Judenheit. 

Während  die  Besseren  und  Klügeren  an  den  Bildungs- 
bestrebungen mit  aller  Kraft  arbeiten,  hat  das  eindringende 
Licht  die  Dunkelmänner  unter  den  Rabbinern  aufgestört,  die 
jeder  Neuerung  mit  Bannflüchen  begegnen,  die  mit  so  vielen 
Opfern  tätigen  jüdischen  Zeitungen  verwünschen,  sogar  Frauen, 
die  ihr  eigenes  Haar  tragen,  den  Eintritt  in  die  Synagogen  ver- 
bieten. Möge  es  diesen  Leuten  nicht  ebenso,  wie  in  früheren 
Jahren,  gelingen,  die  Masse  der  russischen  und  polnischen  Juden 
in  ihrer  geistigen  und  sozialen  Verkommenheit  festzuhalten, 
und  damit  von  neuem  den  Machthabern  die  \^dllkommene  Ge- 
legenheit geben,  sie  für  unverbesserlich  zu  erklären.  Unter 
Alexander  I.  und  IL  haben  sie  die  damals  wohlmeinenden  Ab- 
sichten der  Herrscher  vereiteln  helfen  und  damit  das  Unglück 
der  Juden  besiegelt. 

Eine  feindselige  Haltung  gegen  ihre  rabbani tischen  Brüder 
nahm  jederzeit  die  etwa  10  000  Seelen  umfassende,  hauptsäch- 
lich in  der  Krim  wohnende  Sekte  der  Karäer  ein,  Juden,  die 
nur  die  Bibel  anerkennen  und  die  gesamte  rabbinische  Über- 


270  Die   Reaktion  und  die   Juden. 

lieferung  verwerfen.  Ihrer  Gegnerschaft  gegen  die  Mehrheit 
der  Juden  hatten  sie  es  zu  danken,  daß  die  russische  Regierung 
sie  von  allen  die  „Hebräer"  betreffenden  Beschränkungen  von 
jeher  befreit  hat.  Doch  scheint  der  jetzige  Zar  seine  Abneigung 
gegen  alles  Jüdische  nunmehr  auch  auf  die  Karäer  übertragen 
zu  wollen. 

Von  bedeutender  Wichtigkeit  für  die  gesamte  Weiter- 
entwicklung der  russischen  Judenheit  ist  die  Frage  der  Ge- 
staltung des  Rabbinertums,  der  religiösen  Fülirung  der  ganzen 
Gemeinschaft.  Bedauerlicherweise  fehlte  nach  dem  Eingehen 
der  Institute  von  Wilna  und  Schitomir  ein  Rabbinerseminar 
überhaupt:  es  gibt  entweder  im  hebräischen  Schrifttume  ganz 
unwissende  oder  welthch  durchaus  ungebildete  Rabbiner.  Ge- 
setzlich muß,  seit  Nikolaus  I.,  jeder  Rabbiner  sechs  Gymnasial- 
klassen durchgemacht  und  ein  entsprechendes  Abgangszeugnis 
erlangt  haben.  Man  weiß  aber,  daß  diese  ,, Kronrabbiner",  die 
allein  von  der  Regierung  anerkannt  werden,  keinen  Einfluß  auf 
ihre  Glaubensgenossen  besitzen,  und  das  ist  um  so  erklär- 
licher, als  man  sie,  bei  dem  Mangel  theologisch  und  zugleich 
allgemein-wissenschaftlich  ausgebildeter  Kandidaten,  aus  der 
Zahl  der  Rechtsanwälte,  Zahnärzte  u.  dgl.  ergänzt.  Die 
Heranziehung  von  Rabbinern  aus  dem  Auslande  ist  verboten. 
Die  wirklichen  geistlichen  Führer  der  Gemeinden  sind  die  aus 
dem  Jeschibot  hervorgegangenen,  sonst  gänzlich  ungebildeten 
Rabbis.  Um  diesen  schweren  Übelständen  abzuhelfen,  rief  die 
Regierung  1910  eine  sogenannte  Rabbinerkommission  zusammen, 
daneben  aber  einen  jüdischen  Kongreß,  der  durch  Wahl  ge- 
bildet wurde.  Da  aber  jüdische  Gemeinden  in  Rußland  über- 
haupt nicht  vorhanden  sind,  sondern  nur  ,, Bethäuser"  mit 
deren  Getreuen,  ließ  man  die  Wähler  zur  Kommission  durch 
die  einzelnen  Bethäuser  ernennen.  So  ergaben  die  Wahlen  ein 
bedeutendes  Übergewicht  der  Orthodoxen.  Einige  gemäßigte 
Fortschrittliche  wurden  in  den  großen  Städten  ernannt:  wie 
in  Petersburg  Baron  David  Günzburg,  der  den  Vorsitz  in  der 
Kommission  erhielt,  Staatsrat  Poliakow  in  Moskau.  Die  Fort- 
schrittlichen widersetzten  sich  den  allzu  einseitigen  Anträgen 
der  Orthodoxen,  allein  mit  geringem  Erfolg.  Die  Beschlüsse 
des  Kongresses  liefen  auf  eine  völlige  Verkennung  der  Forde- 


Die   Reaktion  und   die   Juden.  271 

rungen  der  Zeit  und  der  wahren  Interessen  der  russischen 
Judenheit  hinaus.  Er  verlangte  von  der  Regierung  Anerkennung 
der  staatlich  nicht  diplomierten  Rabbiner,  die  freilich  die 
russische  Sprache  verstehen  und  handhaben  müßten.  Also  im 
Grunde  die  Beibehaltung  der  nur  etwas  russisch  gefärbten 
alten  Jeschiwoh-Rabbis  —  ein  schweres  Hindernis  für  jede 
Kulturentwicklung  unter  den  russischen  Juden.  Aber  damit 
noch  nicht  genug.  Eine  jede  Gemeinde  solle  befugt  sein,  neben 
•dem  offiziellen  Rabbiner  noch  einen  „geistlichen"  Rabbiner  oder 
Moire- Geraa  für  die  Entscheidung  religiöser  Fragen  und  für 
Überwachung  der  Vollziehung  der  Religionsgebräuche  anzu- 
stellen, wobei  es  nicht  notwendig  sei,  daß  dieser  die  russische 
Sprache  kenne.  Also  das  Schwergewicht  sollte  tatsächlich  wieder 
auf  einen  Rabbi  ohne  jede  Spur  weltlicher  Bildung  gelegt 
werden,  der  zugleich  als  Glaubensinquisitor  über  die  absolute 
Unterwerfung  seiner  Herde  unter  das  Zeremonialgesetz  zu 
wachen  habe.  Ein  Rückschritt  in  das  Mittelalter,  anstatt  des 
Fortschritts,  in  die  Vergangenheit  an  Stelle  zukunftsreicher 
Veranstaltung ! 

Die  Bildungsfeindschaft  der  Mehrheit  des  Kongresses  sprach 
sich  noch  in  weiteren  Beschlüssen  aus.  Die  Gründung  einer  be- 
sonderen jüdisch-theologischen  Hochschule  sei  unnötig,  dagegen 
solle  die  Errichtung  von  Jeschiwohs  wieder  erlaubt  werden.  Die 
Lehrer,  die  in  den  jüdischen  Fächern  unterrichten,  brauchen 
dem  für  Lehrer  sonst  festgelegten  Bildungsgrad  nicht  zu  ent- 
sprechen. Also  der  gesamte  Religionsunterricht  sollte  wieder 
in  die  Hände  roher  Bachurim  und  sonstiger  gescheiterter 
Existenzen  gelegt  werden.  Aus  diesem  frommen  Wunsche  ging 
ferner  der  Antrag  hervor,  daß  der  Unterricht  in  den  ,, jüdischen 
Fächern"  auch  im  Jargon  gestattet  sein  solle,  anstatt  der 
russischen  Sprache.  Der  in  Polen  für  alle  jüdischen  Elementar- 
schulen bestehende  obligatorische  Unterricht  in  Gegenständen 
allgemeiner  Bildung  sollte  abgeschafft  werden.  Auch  sonst  strebte 
der  Kongreß  nur  die  Einrichtung  möglichst  zahlreicher  Talmud- 
Toras,  Cheders  und  Jeschibot  mit  vorwiegend  hebräischen 
Unterrichtsgegenständen  an.  Die  Ehescheidungen  sollten  jüdi- 
schen Gerichten  vorbehalten  bleiben.  Alles  Beschlüsse,  die  die 
Absonderung  der  Juden  von  der  Nation  und  die  Ausschließung 


272  Die   Reaktion  und  die   Juden. 

jeglichen  Kulturfortschrittes  unter  ihnen  zu  verstärken  be- 
stimmt waren,  im  Gegensatze  zu  den  richtigen  und  notwendigen 
Bestrebungen  aller  Einsichtigen  und  Verständigen  unter  den 
russischen  Israeliten  und  der  großen  Mehrheit  der  Jugend. 

Im  übrigen  sprach  sich  der  Kongreß  für  die  Errichtung 
staatlich  anerkannter  Zwangsgemeinden  aus,  denen  die  Ver- 
waltung der  religiösen,  Wohltätigkeits-  und  Bildungsanstalten 
unterstehen  soll,  und  die  ihre  Ausgaben  durch  von  allen  ihren 
Mitgliedern  zu  zahlende  Kultussteuern  zu  decken  befugt  sind. 
Aber  die  Regierung  fürchtet  zu  sehr  die  Stärkung  des  Gemein- 
sinnes unter  den  Juden,  als  daß  sie  diesem  Vorschlage  zu- 
stimmen wird. 

Auch  sonst  haben  die  Bildungsbestrebungen  noch  mit 
vielen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen:  mit  der  Armut  und  dem 
Mißtrauen.  Die  Armut  veranlaßt  die  Eltern,  die  billigste 
Unterrichtsweise  aufzusuchen  und  anderseits  ihre  Kinder  mög- 
lichst bald  des  Erwerbes  halber  aus  der  Schule  zurückzuziehen; 
das  Mißtrauen  gegen  jede  staatliche  oder  jüdische  Anstalt  läßt 
sie  in  den  allgemeinen  Schulen  lediglich  die  Verleitung  der 
Kinder  zum  Abfall  vom  alten  Glauben  erblicken.  So  kommt  es, 
daß  zahlreiche  jüdische  junge  Leute,  die  von  der  umgebenden 
Welt  nichts  wissen,  eine  Last  für  ihre  Familie  und  die  Gemein- 
samkeit bleiben,  daß  sie  durch  ihre  Unwissenheit  außerstand 
gesetzt  werden,  sich  in  dem  kampfesfrohen  Wesen  der  Jetztzeit 
ihren  Platz  zu  schaffen,  daß  sie  zum  Dasein  hungernder  Pro- 
letarier verurteilt  sind. 

Die  Armut  der  jüdischen  Bevölkerung  des  Ansiedlungs- 
rayons  und  Polens  ist  sehr  groß.  Fast  ein  Fünftel  (18,8  Prozent) 
verlangt  dauernde  Unterstützung ;  während  es  in  Deutschland  nur 
3,4,  in  Frankreich  4,7,  in  England  2,9  Prozent  unterstützte  Arme 
gibt.  In  Odessa  verlangten  von  der  130  000  Köpfe  starken 
jüdischen  Bevölkerung  während  der  Osterf eiertage  60000  — 
beinahe  die  HäKte !  —  Unterstützung  von  der  Gemeinde.  In 
Mohilew  ist  ein  Viertel  der  Juden  dauernd  hilfsbedürftig;  in 
Berditschew  ein  Drittel.  Dabei  nimmt  in  Rußland  die  Armut 
unter  den  Juden  beständig  zu,  ungefähr  um  sieben  Prozent 
jedes  Jahr.  Die  vielfachen  Handelskrisen  der  letzten  Jahre, 
die  Pogrome,    die  schlechten  Ernten  und    der  Rückgang    des 


Die   Reaktion  und  die  Juden.  273 

Getreidehandels  haben  ungünstig  gewirkt.  Neben  diesen  vor- 
übergehenden Ursachen  des  Sinkens  des  Verdienstes  für  die 
Juden  finden  sich  aber  allgemeine  und  bleibende:  die  Ent- 
wicklung der  Eisenbahnen  hat  zahlreichen  jüdischen  Fracht- 
fuhrleuten das  Brot  genommen;  die  Errichtung  von  Getreide- 
elevatoren sowie  die  Erweiterung  des  Bankkredits  für  Kauf- 
leute haben  die  Existenz  vieler  Kommissionäre,  Vermittler  und 
kleinerer  Geldhändler  vernichtet.  Das  System  des  Staatsmono- 
pols für  den  Spirituosenhandel  hat  viele  Tausende  jüdischer 
Familien  des  Erwerbes  beraubt.  Endlich  wirkt  in  Polen  der 
nationale  Boykott  gegen  die  Juden  überaus  verderblich. 

Die  traurige  Lage  der  Juden  wird  noch  verschärft  werden 
durch  das  Gesetz  über  die  Wahrung  der  Sonntagsruhe,  das  die 
Duma  im  Juni  1910  angenommen  hat.  Wenn  man  weiß,  daß 
die  jüdischen  Händler  und  Handwerker  nur  mit  allergrößter 
Anstrengung  den  notwendigsten  Lebensunterhalt  erarbeiten, 
und  daß  sie  durch  die  jüdischen  Feiertage  und  Sabbate  schon 
an  Abelen  Tagen  des  Jahres  zu  feiern  genötigt  sind:  so  wird 
man  begreifen,  welch  furchtbarer  Schlag  für  sie  ein  Gesetz  ist, 
das  ihnen  den  Erwerb  auch  an  den  Sonntagen  und  den  zahl- 
reichen Festen  der  griechischen  Kirche  untersagt;  für  mehr  als 
ein  Drittel  des  Jahres  sind  die  Juden  damit  zur  Untätigkeit 
verurteilt.  Das  fällt  für  Menschen  sehr  schwer  ins  Gewicht,  die 
im  strengsten  Sinne  des  Wortes  von  der  Hand  in  den  Mund 
leben.  Die  gesamte  Linke  der  Duma  beantragte  Milderungen 
zugunsten  der  Juden  und  Mohammedaner;  ihre  Vorschläge 
wurden  aber  mit  194  Stimmen  gegen  101  abgelehnt. 

Den  in  Armut  versunkenen  Juden  wird  die  Lebenshaltung 
noch  erschwert  durch  die  Koscherfleischsteuer,  die  Korobka. 
Sie  ist  von  beträchtlicher  Höhe :  während  der  Preis  des  Fleisches 
in  Rußland  etwa  achtzig  Pfennige  pro  Kilo  beträgt,  schwankt 
die  Korobka  zwischen  30  und  48  Pfennige  pro  Kilo,  also  zwischen 
35  und  60  Prozent.  Kein  Wunder,  daß  für  die  besitzlose 
Klasse  unter  den  Juden  der  Fleischgenuß  einen  Luxus  aus- 
macht, den  sie  sich  höchstens  an  den  Feiertagen  gönnen  kann. 
Alle  nicht-orthodoxen  Juden  aber,  die  den  Speisegesetzen  keinen 
Wert  mehr  beilegen,  sind  von  der  Steuer  frei.  Die  Korobka  ist 
also  recht  eigentlich  eine  Besteuerung  des  jüdischen  Religions- 

Philippsoii,   Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III.  18 


274  Die   Reahtion  und  die   Jviden. 

gesetzes.  Dabei  ist  die  Verwendung  der  Korobka  eine  ebenso 
ungerechte  Avie  ungesetzliche.  Laut  gesetzlicher  Vorschrift  sind 
die  Überschüsse  dieser  Steuer,  über  die  finanziellen  Bedürf- 
lüsse  der  jüdischen  Gemeinde  hinaus,  für  deren  sonstige  Auf- 
gaben bestimmt.  Tatsächlich  werden  sie  zumeist  für  staatliche 
Zwecke  verwandt,  die  mit  den  Angelegenheiten  der  Gemeinden 
nichts  zu  tun  haben  —  und  zwar  mit  allerhöchster  Zustimmung : 
zum  Beispiel  für  die  örtliche  Staatspolizei,  für  Straßenpflaste- 
rung. Dagegen  schlägt  man  den  Juden  die  Verwendung  dieser 
ihrer  eigensten  Mittel  für  ihre  Unterrichtsanstalten  oder  Wohl- 
tätigkeitsinstitute rundweg  ab.  Der  Minister  des  Innern  ver- 
fügt über  die  Korobka-Überschüsse  ohne  jede  Kontrolle,  so 
daß  die  Gemeinden  über  deren  Bestand  und  Verwendung  völlig 
in  Ungewißheit  bleiben.  Veröffentlicht  mrd  darüber  nichts. 
Große  Summen  der  Steuer  bleiben  schon  bei  den  Steuerpächtern 
hängen.  Kaum  die  Hälfte  mrd  für  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
derselben  wirklich  aufgewendet. 

Das  Massenelend  der  russischen  Israeliten  hat  freihch,  zu- 
mal in  dem  eigentlichen  Rußland,  eine  glänzende  Entfaltung 
der  jüdischen  Stammestugend,  der  Wohltätigkeit,  hervor- 
gerufen. Man  darf  sagen,  daß  die  gesamte  jüdische  Bevölkerung 
Rußlands  in  zwei  Klassen  zerfällt:  in  Unterstützte  und  Wohl- 
täter. Dabei  ist  die  ganze  Wohlfahrtspflege  durchaus  der 
privaten  Anregung  und  Tätigkeit  überlassen,  da  es  ja  im  eigent- 
lichen Rußland  jüdische  Gemeinden  nicht  gibt.  Die  Wohltätig- 
keit nimmt  die  verschiedensten  Formen  an.  Neben  den  unzähli- 
gen Almosen  von  Hand  zu  Hand,  neben  der  Verteilung  von 
Mazzot  zum  Passahfeste  und  von  Holz  zur  Winterheizung 
gibt  es  allein  in  Westrußland  zweitausend  bleibende  jüdische 
Wohltätigkeitsanstalten.  Sie  sind  entweder  allgemeiner  oder 
besonderer  Art:  Unterricht  für  arme  Kinder,  Krankenliilfe, 
Vorschußkassen,  Alter-  oder  Waisen  Versorgung,  Tag-  und 
Nachtasyle,  Volksbäckereien,  Kleiderverleihung,  Aussteuer  für 
arme  Bräute.  In  vielen  kleinen  Städten  sind  sämtliche  Juden, 
die  selber  keine  Almosen  empfangen,  Mitglieder  der  Wohltätig- 
keitsanstalten. Ein  im  Jahre  1897  ausgearbeitetes  Normal- 
statut hat  in  deren  Mehrzahl  Zusammenliang,  Gleichmäßigkeit, 
strenge  Ordnung  und  Öffentlichkeit  der  Rechnungslegung  ge- 


Die   Reaktion   und   die   Juden.  275 

bracht.  Die  Ausdehnung  und  Hochherzigkeit  der  Wohlfahrts- 
pflege bildet  einen  Glanzpunkt  und  ein  überaus  ehrendes 
Zeugnis  für  die  russische  Judenheit. 

Die  allgemeine  ökonomische  Entwicklung  ist  am  gün- 
stigsten im  Südosten  des  Ansiedlungsrayons :  in  den  Gouverne- 
ments Taurien,  Cherson,  Jekaterinoslaw,  Tschernigow.  Wir 
beobachten  deshalb  eine  beträchthche  Abwanderung  von  Juden 
aus  dem  Nordwesten  des  Rayons  nach  den  südlichen  Provinzen. 
Aber  sie  verschwindet  neben  der  in  ungeheurem  Maßstabe  nach 
den  furchtbaren  Ereignissen  der  letzten  Jahre  stattfindenden 
Emigration. 

Selbstverständlich  war  eine  Folge  der  Pogrome  eine  ge- 
waltige Zunahme  der  Auswanderung  der  russischen  Juden. 
Vom  1.  Juli  1905  bis  zum  30.  Juni  1906  trafen  nur  in  New  York 
an  107  000  russische  Juden  ein;  und  so  fort  in  dem  folgenden 
Jahren.  Innerhalb  eines  Vierteljahrhunderts  überstieg  diese 
Immigration  die  Million.  Eine  solche  umfassende  Orts  Verände- 
rung in  so  kurzer  Zeit  hat  es  seit  der  Besitznahme  Palästinas 
durch  die  Israeliten  in  deren  Geschichte  nicht  gegeben.  Aber 
so  herzlich  auch  der  Einzug  dieser  Scharen  in  das  Land  der 
Freiheit  zu  begrüßen  war,  er  änderte  an  der  Lage  der  Zurück- 
bleibenden nichts.  Die  natürliche  Volks  Vermehrung  läßt,  trotz 
der  Emigration,  die  Zahl  der  Juden  in  den  russischen  Provinzen 
nicht  abnehmen.  Die  Judenfrage  blieb  und  bleibt  dort  in  ihrer 
vollen  Schärfe  bestehen. 

Eine  Abhilfe  könnte  die  Zuwendung  der  Juden  zum 
Ackerbau  bieten.  Allein  wenn  solche  unter  Nikolaus  I.  und 
Alexander  IL  wenigstens  theoretisch  gefördert  wurde,  so 
haben  Alexander  III.  und  Nikolaus  IL  die  Juden  von  der  Land- 
wirtschaft geradezu  ausgeschlossen.  Es  bestehen  nur  noch  die 
alten  Ackerbaukolonien  in  Südrußland  und  einigen  Gouverne- 
ments des  Westens;  aber  auch  diese  leiden  unter  mannigfachen 
Beschränkungen  und  dem  Verbote  weiteren  Landankaufs.  Im 
ganzen  leben  in  ihnen  etwa  50  000  Juden.  Außerdem  beschäf- 
tigen sich  solche  mit  der  Gemüsezucht,  dem  Tabakbau,  der 
Milchproduktion,  dem  Weinbau  und  der  Bienenzucht;  andere 
sind  ländliche  Tagelöhner.  Die  Zahl  dieser  das  Land  bebauenden 
Juden  außerhalb  der  Kolonien  beläuft  sich  auf  annähernd  hun- 

18* 


276  Die   Reaktion  und  die   Juden. 

derttausend.  Man  sieht,  nicht  die  Lust  und  Befähigung 
fehlt  den  russischen  Juden  zum  Ackerbau,  sondern  nur  die 
Möglichkeit. 

Um   so   größer   ist   die   Zahl   der   jüdischen   Handwerker: 
innerhalb  des  Rayons  beträgt  sie  mehr  als  eine  halbe  Million, 
und  ihre  Menge  wächst  fortwährend.    Sie  machen  dort  zwischen 
zwei  Drittel  und  drei  Viertel  aller  Handwerker  aus  und  be- 
herrschen die  Kleinindustrie,   bilden  also  einen  ^^dchtigen,  ja 
unentbehrlichen  Faktor  im  Erwerbsleben  des  russischen  Westens. 
Am  meisten  ist  bei  ihnen  die  Bekleidungsbranche  vertreten: 
38,7    Prozent    aller    jüdischen    Handwerker.       Dann    kommen 
Schuhmacher  und  Lederarbeiter  mit  17,  Wirte  und  Nahrungs- 
bereiter mit   11,6  und  Holzarbeiter  mit   10  Prozent.     Metall- 
arbeiter (Schlosser,  Schmiede,  Kupferschmiede)  gibt  es  9,8  Pro- 
zent.  Leider  zwingt  ihre  Armut  sie  zum  Ankauf  minderwertiger 
Rohprodukte  und  zu  sehr  mangelhafter  Erlernung  ihres  Be- 
triebes, so  daß  ihre  Erzeugnisse  meistenteils  billig  und  schlecht 
sind.    Ihr  Einkommen  ist  daher  ein  sehr  geringes,  und  zwar  um 
so  schmäler,  je  größer  die  Konkurrenz  ist,  die  sie,  dicht  zusammen- 
gedrängt in  die  Städte  des  Rayons,  einander  machen  müssen. 
Sie  sind  genötigt,   die  Rohprodukte  auf  Borg  zu  nehmen  und 
zahlen  dafür  durchschnittlich  den  Ungeheuern  Wucherpreis  von 
1 20  Prozent !    So  verdienen  die  Schneider  in  überwiegender  Zahl 
nur  100  bis  300  Rubel  im  Jahre,  die  Wäschenäherinnen  gar  nur 
bis  100  Rubel.   Die  Gesellen  kommen  auf  2  Rubel  in  der  Woche. 
Und  nun  erst,  wenn  die  Arbeit  fehlt,  wie  es  bei  den  jüdischen 
Handwerkern    sich    nur     zu    oft    begibt !      Dann    nagen    diese 
Menschen,  die  selbstverständlich  in  der  Zeit  ihrer  Beschäftigung 
nichts  zurückzulegen  vermögen,  am  Hungertuche,  suchen  ander- 
weite Arbeit  oder  verlegen  sich  aufs  Betteln.  Nur  die  Überf ülirung 
in  andere  Gouvernements  und  bessere  Unterweisung   könnten 
hier  helfen.   Aber  selbst  zum  Innehalten  der  notwendigsten  Zeit 
in  den  gewerblichen  Schulen  fehlen  ihnen  die  Existenzmittel. 
Wir  haben  die  Gründe  kennen  gelernt,  aus  denen  die  ge- 
setzlich gestattete  Übersiedelung  jüdischer  Handwerker  in  die 
Gouvernements    außerhalb    des    Rayons    tatsächlich    nur    eine 
sehr  begrenzte  sein  kann.    Wir  finden  außerhalb  der  Zone  nur 
etwa  2000  jüdische  Werkstätten  neben  24  000  christlichen.    Sie 


Die   Reaktion  und  die   Juden.  277 

sind  meist  in  kleinstem  Maßstabe:  beinahe  70  Prozent  der 
jüdischen  Meister  haben  weder  Gesellen  noch  Lehrlinge,  20  wei- 
tere Prozent  nur  einen  Lehrling.  Fast  die  Hälfte  der  jüdischen 
Handwerker  des  Innern  sind  Schneider,  weitere  20  Prozent 
Metallarbeiter.  Auch  hier  ist  die  Vorbildung  eine  geringe, 
immerhin  vollständiger  als  bei  den  Handwerkern  des  Rayons. 

Ungelernte  Arbeiter  gibt  es  bei  den  Juden  Rußlands  und 
Polens  etwa  105  000,  also  ungefähr  zwei  Prozent  ihrer  Gesamt- 
zahl. Unter  ihnen  bemerken  wir  zahlreiche  Lastträger,  sowie 
Kutscher  und  Frachtfuhrleute.  Letztere  verdienen  durch- 
schnittlich 75  Kopeken  im  Tage,  die  übrigen  Arbeiter  bei  weitem 
weniger.  Auch  hier  kann  von  einem  selbst  den  bescheidensten 
Ansprüchen  genügenden  Erwerb  kaum  die  Rede  sein. 

Unter  den  Fabriken  des  Ansiedlungsrayons  gibt  es  etwa 
3000  jüdische.  Man  sieht  hieraus,  daß  die  oft  ausgesprochene 
Behauptung,  die  Juden  zögen  die  gesamte  Großindustrie  Ruß- 
lands an  sich,  ein  bloßes  Phantasieerzeugnis  ist.  Es  fehlt  den 
Juden  hierzu  schon  das  nötige  Kapital.  Gewiß  findet  man  unter 
ihnen  einige  schwer  Reiche ;  aber  die  ungeheure  Mehrheit  selbst 
unter  den  Bessersituierten  von  ihnen  besitzt  höchstens  Mittel 
für  den  Handel  und  das  Handwerk.  Infolgedessen  sind  auch  die 
jüdischen  Fabriken  im  Durchschnitt  kleiner  als  die  christlichen, 
und  die  Menge  der  Dampfkräfte  ist  bei  ihnen  geringer  als  in 
diesen.  Die  Juden  begründen  gewöhnlich  industrielle  Anlagen, 
die  kein  großes  Kapital  erfordern:  Ziegeleien,  Leder-,  Lichter-, 
Ölfabriken,  Tabakmanufakturen,  Teersiedereien,  Mühlen.  Viele 
von  ihnen  tragen  nur  einen  provisorischen  Charakter,  wegen  der 
Unsicherheit  der  gesetzlichen  Lebensbedingungen  der  russischen 
Juden.  Die  meisten  jüdischen  Fabriken  sind  in  Wahrheit  nur 
größere  Werkstätten,  deren  Jahresabsatz  sich  auf  einige  Tau- 
sende von  Rubeln  beschränkt. 

Die  jüdischen  Fabrikarbeiter  befinden  sich  in  einer  be- 
sonders ungünstigen  Lage.  Die  einzige  Möglichkeit  des  Ar- 
beiters, sich  einer  förmlichen  Lohnsklaverei  zu  entziehen,  liegt 
ja  in  seinem  Rechte,  den  Ort  seiner  Beschäftigung  nach  Be- 
lieben zu  wechseln.  Dieses  Recht  ist  für  den  jüdischen  Arbeiter 
in  Rußland  sehr  beschränkt,  ja  beinahe  aufgehoben.  Er  muß 
sich  also  jeder  Lohnbedingung,  die  ihm  auferlegt  ^\^rd,  hilflos 


278  Die   Reaktion  und  die   Juden. 

unterwerfen.  Im  eigentlichen  Rußland  gibt  es  35  000  jüdische 
Fabrikarbeiter.  Unter  ihnen  findet  man  zahlreiche  Frauen  und 
Kinder :  unter  den  22  270  Arbeitern  des  Südwestens  5492 
Frauen,  1749  Mädchen,  1389  Knaben  —  zusammen  5830  oder 
21,5  Prozent.  Man  sieht,  wie  der  Ruf  der  Fabrikglocke  zahl- 
reiche jüdische  Familien  geradezu  auflöst. 

So  führt  die  Betrachtung  der  ökonomischen  Verhältnisse 
der  russischen  Juden  zu  recht  traurigen  Ergebnissen.  Und  diese 
arme,  hungernde,  bestenfalls  von  der  Hand  in  den  Mund  lebende 
Masse  ist  seit  der  Pogromzeit  mehr  denn  je  den  Quälereien  und 
Verfolgungen  seitens  der  offiziellen  Gewalten  ausgesetzt. 

Es  ist  eine  Pflicht  der  Geschichte  der  zeitgenössischen 
russischen  Israeliten,  der  großen  Dienste  zu  erwähnen,  die 
die  ,,Jewish  Colonization  Association"  ihren  dortigen  un- 
glücklichen Glaubensgenossen  leistet.  Ihre  landwirtschaft- 
lichen Schulen,  ihre  Musterfarm  in  Soroki  und  ihre  Dar- 
lehen haben  die  jüdischen  Ackerbaukolonien  wesentlich  ge- 
fördert. Die  Weinkultur  in  Resina  (Gouvernement  Bess- 
arabien)  hat  erfreulichen  Aufschwung  genommen  und  gibt 
einen  Nettoertrag  von  1200  Mark  pro  Jahr.  Der  Anbau  von 
Tabak  wird  in  vorzüglicher  Weise  betrieben.  Mais  und  Lupine 
werden  mit  bestem  Erfolge  gezogen.  Spar-  und  Darlehnskassen 
wirken  segensreich.  Leider  wanderten  viele  von  den  Ackerbau- 
schülern nach  Argentinien,  Nordamerika  und  Palästina  aus  und 
entzogen  so  ihren  russischen  Brüdern  die  Früchte  ihrer  Erziehung. 
Die  Handwerkerschulen  geben  nur  unvollkommene  Resultate, 
infolge  der  Unstätigkeit  vieler  ihrer  Zöglinge.  Das  Jahr  1908 
hatte  mit  1398  Schülern  begonnen  und  endete  mit  nur  1333. 
Während  359  Zöglinge  die  Schule  vor  Beendigung  der  Lehr- 
zeit verließen,  schlössen  208  diese  regelmäßig  ab,  von  denen  die 
große  Mehrzahl  —  85  Prozent  —  im  praktischen  Leben  das 
Handwerk  ausübten,  das  sie  auf  der  Schule  erlernt  hatten,  und 
damit  wesentlich  zur  Hebung  des  jüdischen  Handwerkerstandes 
in  Rußland  beitrugen.  In  den  Gewerbeschulen  für  Mädchen 
nahm  1908  die  Zahl  der  Zöglinge  zu,  von  2549  auf  2781.  Auch 
hier  üben  die  meisten  der  aus  ihnen  Hervorgegangenen  das 
Gewerbe  aus,  das  sie  dort  erlernt  haben.  Daneben  gibt  es 
Abendkurse  für  jüdische  Handwerker  in  Wilna,    Odessa   und 


Die  Reaktion  und  die  Juden.  279 

Mohilew,  mit  gutem  Erfolge.  So  wurden  die  jüdischen  Hand- 
werker in  den  Stand  gesetzt,  gute  und  solide  Arbeit  zu  liefern 
und  den  Wettbewerb  mit  ihren  christlichen  Genossen  unter 
günstigen  Bedingungen  zu  bestehen. 

Einundfünfzig  Volksschulen  der  „Gesellschaft  für  die  Ver- 
breitung von  Elementarunterricht  unter  den  russischen  Juden" 
wurden  von  der  „Association"  unterstützt.  Allerdings  bildet 
die  Armut  der  Eltern,  die  ihre  Kinder  schon  in  zartester  Jugend 
wirtschaftlich  verwerten,  ein  ernstes  Hindernis  für  die  Wirk- 
samkeit dieser  Schulen.  Im  Laufe  des  Jahres  1908  sank  die 
Zahl  ihrer  Zöglinge  um  volle  dreißig  Prozent,  von  8028  auf 
5632.  Man  lehrt  dort  Realien,  Hebräisch,  bisweilen  auch 
Deutsch.  Es  hat  sich  leider  von  neuem  gezeigt,  wie  die  ökono- 
mischen Verhältnisse  und  das  Mißtrauen  gegen  geistige  Kultur 
der  Bildung  der  russischen  Juden  schwer  besiegbare  Hinder- 
nisse in  den  Weg  stellen.  Die  Gesellschaft  zur  Verbreitung  von 
Elementarunterricht  unterhält  mit  Hilfe  der  ,, Association"  ein 
Seminar  für  jüdische  Elementarlehrer  in  Grodno,  wo  Geschichte, 
Geographie,  Naturwissenschaften,  Pädagogik,  Mathematik, 
Russisch,  jüdische  Geschichte  und  Literatur,  Bibelkenntnis, 
hebräische  Grammatik,  Gesang,  Zeichnen  und  Turnen  gelehrt 
werden. 

Allgemeine  Unterstützung  für  das  gewerbliche  Leben  bieten 
die  548  teilweise  von  der  ,, Association"  begründeten  oder  unter- 
stützten, teilweise  der  Privatirütiative  entsprungenen  Darlehns- 
und  Sparkassen.  Sie  sind  für  die  bescheideneren  Klassen  von 
Gewerbetreibenden  bestimmt,  da  ihr  Maximaldarlehnsbetrag 
zwischen  100  und  300  Rubel  beträgt.  Abgesehen  von  der  peku- 
niären Hilfe,  verbreiten  sie  den  Sinn  für  geschäftliche  Ordnung 
und  Sparsamkeit;  jeder  jüdische  Gewerbetreibende  kann  seine 
Spargelder  dort  anlegen.  Mit  geringen  Ausnahmen  gehen  die 
ausgeliehenen  Gelder  auf  das  pünktlichste  wieder  ein.  Im 
Jahre  1909  hatten  die  Teilnehmer  von  270  dieser  Kassen  1  850  000 
Rubel  eingeschossen,  die  Sparer  5098000  Rubel  eingelegt,  wo- 
bei 18  690000  Rubel  ausgeliehen,  16  263  000  Rubel  zurück- 
gezahlt wurden.  Gewiß,  ein  überraschend  günstiges  Ergebnis, 
das  die  jüdischen  Gewerbetreibenden  Rußlands  in  unverhofft 
vorteilhaftem  Lichte  zeigt.  Außerdem  bestand  in  Ekaterinoslaw 


280  Die   Reaktion  und  die    Juden. 

eine  ,,Kj*editgesellschaft",  der  488  Mitglieder,  Kaufleute  und 
Kleinkrämer,  angehörten.  Webereien,  genossenschaftliche  Ver- 
kauf smagazine,  Gesellschaften  für  hygienische  und  billige 
Wohnungen  und  ähnliche  Einrichtungen  suchen  das  Elend  der 
armen  jüdischen  Bevölkerung  zu  mildern.  Einstweilen  Tropfen 
auf  heißem  Steine,  aber  doch  verheißungsvolle  Anfänge  einer 
Bessergestaltung  dieser  traurigen  Verhältnisse. 


Kapitel  Fünf. 

Die  Juden  Polens  unter  Alexander  111. 
und  Nikolaus  11. 


Uie  politische  und  soziale  Lage  der  Juden  in  Polen  ist  bei 
weitem  günstiger  als  in  Rußland  —  wenigstens  in  der  staats- 
rechtlichen Theorie.  Sie  können  dort  überall  wohnen,  Grund- 
stücke erwerben,  sind  gleichgestellte  Staatsbürger.  Aber  in 
Wirklichkeit  liegen  die  Dinge  ganz  anders :  ein  scharfer  Gegen- 
satz hat  sich  zwischen  der  christlichen  Mehrheit  und  der 
jüdischen  Minorität  in  Polen  herausgestellt. 

Das  Anwachsen  der  Bedeutung,  Betriebsamkeit  und  Wohl- 
habenheit des  Bürgertums  in  Polen  während  des  letzten  Drittels 
des  neunzehnten  Jahrhunderts  hatte  die  Folge,  daß  diese  Bour- 
geoisie in  scharfen  ökonomischen  Wettbewerb  mit  den  dortigen 
Juden  geriet,  die  bis  dahin  überwiegend  die  gewerbliche  Tätig- 
keit ausgeübt  hatten.  Es  war  ein  Vorgang,  wie  er  im  Mittelalter 
der  Entrechtung  der  Juden  in  ganz  West-  und  Mitteleuropa  seit 
dem  elften  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  zugrunde  gelegen 
hatte.  Er  erweckte  bei  den  Polen  selbstverständlich  den  Kon- 
kurrenzneid gegen  die  Juden  und  damit  den  Wunsch,  diese  aus 
Handel,  Industrie  und  Handwerk  möglichst  zu  verdrängen. 
Diese  Stimmung  brachte  bald  den  Antisemitismus  zur  Geltung, 
und  zwar  besonders  in  der  Gestalt  des  nationalen  Gegensatzes, 
da  der  Nationalimus  ja  in  Polen  alle  anderen  Gesichtspunkte 
im  öffentHchen  Leben  überwuchert.  Hiermit  nahm  aber  die 
Sache  eine  für  die  Juden  recht  bedrohliche  Gestalt  an.  Denn 
dem  nationalen  Gedanken  huldigen  auch  die  liberalen,  die 
demokratischen  und  sogar  die  sozialistischen  Polen,  und  so 
entstand  für  die  Juden  die  Gefahr,  ganz  vereinzelt  zu  werden, 


282      Die   Juden   Polens  unter  Alexander  III.    und   Nikolaus   II. 

in  Gegensatz  zu  der  gesamten  polnischen  Bevölkerung  zu  treten. 
Die  nationaldemokratische  Zeitschrift ,,  Glos"  wurde  eine  Führerin 
in  dem  Bestreben,  die  Juden  als  „Fremde",  mindestens  als  recht 
bedenkliche  Mitbürger  zu  bekämpfen.  Die  Hartnäckigkeit,  mit 
der  die  große  Masse  der  polnischen  Juden  sich  jeder  Art  der 
Annäherung  an  das  Polentum  und  die  allgemeine  Kultur  wider- 
setzte, bildete  einen  in  seiner  Berechtigung  nicht  wegzuleug- 
nenden Grund  für  die  Abwendung  der  polnischen  Nationalisten 
von  ihnen.  Denn  unter  den  polnischen  Juden  hat  der  Chassi- 
dismus  eine  noch  weit  größere  Macht,  als  unter  ihren  russischen 
Glaubensbrüdern;  man  kann  sagen,  daß  er  die  polnisch- jüdische 
Masse  beherrscht.  Neben  ihm  machen  sich  die  jüdischen 
Nationalisten,  zumal  die  Zionisten  geltend,  die  wiederum  den 
Riß  z^vischen  den  Juden  und  deren  katholischen  Mitbürgern 
erweitern.  In  Polen  hat  die  ungeheure  Mehrheit  der  Israeliten 
noch  ihre  besondere  Tracht  bewahrt  —  die  in  Rußland  fast 
ganz  abgelegt  worden  ist  —  und  trägt  so  die  Trennung  von  den 
nationalen  Gewohnheiten  offen  zur  Schau.  Auch  von  den 
allgemeinen  Schulen  halten  sich  die  Juden  zumeist  aus  Grund- 
satz fern.  Freilich  haben  die  Polen  den  Gegensatz  in  unzu- 
lässiger und  leidenschaftlicher  Weise  übertrieben,  indem  sie  die 
Juden  nötigen  wollten,  alle  ihre  Besonderheiten,  auch  die 
religiösen,  aufzugeben  und  sich  ganz  der  Mehrheit  der  Bevöl- 
kerung in  Wesen,  Sitten  und  Anschauungen  anzuschließen. 

In  ihrem  kulturellen  Leben  brauchten  die  Polen  die  jüdische 
Konkurrenz  nicht  zu  fürchten,  da  die  Zahl  der  intelligenten, 
europäisch  gebildeten  Juden  auch  in  den  80  er  Jahren  noch  ver- 
hältnismäßig sehr  gering  war.  Dagegen  auf  ökonomischem  Ge- 
biete waren  sie  bedrohliche  Konkurrenten,  da  fast  der  ganze 
polnische  Handel  sich  in  jüdischen  Händen  befand,  wie  denn 
auch  im  polnischen  Volke  der  Name  ,, Kaufmann"  statt  ,,Jude" 
häufig  gebräuchlich  ist.  Die  Juden  haben  sich  tatsächlich 
die  größten  Verdienste  um  den  polnischen  Handel  erworben, 
und  ihnen  gehört  die  Initiative  des  Import-  und  Export- 
handels. Sie  waren  es,  die  die  polnischen  Erzeugnisse  nach  den 
inneren  Gouvernements  Rußlands  bis  nach  Sibirien  und  Kau- 
kasus versandt  haben,  ebenso  wie  sie  ausländische  Waren  nach 
Polen  kommen  ließen.    Aber  gerade  avif  ökonomischem  Gebiete 


Die   Juden   Polens  unter  Alexander  III.   und   Nikolaus   II.    283 

setzte  die  antisemitische  Bewegung  der  Polen  an,  und  von  hier 
aus  übertrug  sie  sich  auf  die  anderen.  Die  Sachlage  verschlim- 
merte sich  noch  durch  die  massenhafte  Immigration  derjenigen 
russischen  Juden,  die  im  Jahre  1880  aus  den  neutralen  Gou- 
vernements Rußlands  ausgewiesen  wurden  und  in  Polen  ihre 
Zuflucht  gesucht  und  gefunden  haben.  Diese  russisch-jüdischen 
Ankömmlinge  betrachtete  die  polnische  Gesellschaft  als  neue 
Russifizierung  Polens,  wobei  die  radikal-nationalen  und 
antisemitischen  Elemente  hierin  neue  Beweise  zugunsten  ihrer 
anti jüdischen  Propaganda  geschöpft  haben. 

Die  Abneigung  der  Polen  gegen  die  Juden  fand  in  dem 
Warschauer  Pogrome  am  25.,  26.  und  27.  Dezember  1881  ihren 
gewalttätigen  Ausdruck.  Es  wandte  sich  nur  gegen  die  ärmeren 
und  kulturell  zurückgebliebenen  jüdischen  Einwohner  und  Avar 
nicht  sowohl  gegen  deren  Personen  als  gegen  ihr  Eigentum  ge- 
richtet. Wer  die  eigentlichen  Anstifter  gewesen,  ist  unbekannt 
geblieben;  jedenfalls  fraternisierten  die  Plünderer  mit  der  Polizei 
und  dem  Militär,  was  darauf  schließen  läßt,  daß  das  Pogrom 
nicht  von  der  eigentlichen  nationalistischen  Partei  ausgegangen 
ist.  Der  materielle  Schaden  war  im  Verhältnis  zu  der  Zahl  der 
jüdischen  Bevölkerung  Warschaus  kein  allzu  beträchtlicher: 
etwa  700  000  Rubel. 

Die  jüdische  Intelligenz  Polens  suchte  die  Bedeutung  des 
Pogroms  abzuschwächen,  indem  sie  auf  die  vereinzelten  Sympa- 
thiebezeugungen und  Hilfsspenden  christlicher  Mitbürger  hin- 
wies und  sich  nur  um  so  enger  an  diese  anzuschließen  suchte. 
Aber  sie  fand  damit  wenig  Gegenliebe.  Wenn  die  Juden  sich 
absonderten,  so  schalten  die  Polen  auf  deren  Fremdheit  und 
religiösen  Fanatismus;  suchten  jene  sich  am  nationalen  Leben 
zu  beteiligen,  so  jammerte  man  darüber,  daß  die  Juden  die 
Polen  aus  deren  Stellungen  im  öffentlichen  und  ökonomischen 
Leben  verdrängen  wollten.  Kurz,  die  Verhältnisse  blieben 
ebenso  unsicher  und  zweideutig  wie  bisher ;  im  Stillen  machte  der 
Antisemitismus  unaufhörliche  Fortschritte,  da  immer  mehr 
Polen  in  den  Wettbewerb  mit  der  jüdischen  Bourgeoisie  traten 
und  diese  ihnen  immer  lästiger  erschien. 

In  den  90er  Jahren  erwachte  das  politische  Leben  in  Polen : 
sozialistisch  -  revolutionäre      Gedanken     brachen      sich     Bahn, 


284     Die   Juden   Polens  vmter   Alexander  III.    und   Nikolaus   II. 

sozialistische  Organisationen  wurden  überall  gegründet,  aber 
parallel  mit  ihnen  erstanden  auch  nationale  Organisationen,  die 
dann  im  Jahre  1897  zu  der  populärsten  aller  Parteien,  der 
„National-Demokratischen"  führen  sollte.  In  bezug  auf  Juden 
hatte  diese  Partei  ein  geschlossenes  Programm:  sie  erklärte 
den  bittersten  Kampf  allen  jüdischen  Parteien  oder  Gruppen, 
die  jüdische  Sonderinteressen  irgendwelcher  Art  vertreten 
wollten,  und  stellte  es  sich  zur  Hauptaufgabe,  die  Erziehung  des 
polnischen  Volkes  zu  einem,  wenn  auch  in  kulturellen  Formen 
jedoch  deswegen  nicht  minder  intensiv  geführten  Kampf  mit  dem 
Handel  und  der  Industrie  der  Juden.  ,, Nationaler  Egoismus" 
und  ,, nationale  Ausschließlichkeit"  — so  hießen  die  neuen  Schlag- 
worte, die  in  die  breitesten  Schichten  der  polnischen  Bevöl- 
kerung getragen  wurden.  Die  Juden  ihrerseits  flüchteten  — 
soweit  sie  nicht  eigene  nationale  und  sozialistische  Parteien 
gebildet  haben  —  zu  den  polnischen  sozialistischen  Parteien, 
und  die  ,, Polnisch- Sozialistische  Partei"  (P.  P.  S.  genannt), 
sowie  die  ,, Sozialdemokratie  Polens  und  Litauens",  die  alle 
Elemente  Polens  ohne  Unterschied  von  Konfession  und  Natio- 
nalität auf  der  breiten  Plattform  von  Gleichheit  und  Freiheit 
vereinigen  wollte,  zählten  in  ihren  Reihen  hunderte  und 
hunderte  von  Juden. 

Aber  die  Stimmung  der  weit  überA^iegenden  rein  nationalen 
Partei  unter  den  politischen  Führern  Polens  übertrug  sich  auch 
auf  die  unteren  Klassen,  und  so  kam  es,  daß  im  Mai  1892  ein 
Ausstand  der  Arbeiter  in  Lodz  und  deren  Feindseligkeiten  gegen 
die  Fabrikanten  bald  in  ein  Pogrom  ausarteten,  das,  von  den 
Juden  mutig  bekämpft,  eine  große  Zahl  von  Tötungen  und 
Verwundungen  zur  Folge  hatte.  Sonst  entlud  sich  die  antise- 
mitische Gesinnung  der  Massen  nur  in  einzelnen  Schlägereien 
ohne  größere  Bedeutung.  Am  schlimmsten  ging  es  am  11.  Sep- 
tember 1902  inCzenstochau  zu,  wo  infolge  eines  Streites  z\\dschen 
einem  jüdischen  Händler  und  einer  polnischen  Frau  eine  regel- 
rechte Plünderung  der  Juden  stattfand,  die  aber  von  dem 
ÄliHtär  mit  scharfen  Schüssen  unterdrückt  ^^a^rde.  Das  waren 
üble  Anzeichen  für  die  wahre  Gesinnung  der  polnischen  Massen 
gegenüber  den  Juden.  Allein  zu  einer  starken  und  dauernden 
Pogrombewegung  ist  es  in  Polen  nicht  gekommen  und  konnte 


Die   Juden   Polens  unter  Alexander  III.    und   Nikolaus   II.    285 

es  nicht  kommen.  Einmal  sind  die  Polen  weit  gebildeter  und 
zivilisierter  und  viel  weniger  roh  und  bestialisch  als  die  Russen. 
Zweitens  fühlen  die  Polen  sich  selber  von  den  Russen  unter- 
drückt und  hegen  deshalb  keine  Neigung,  über  einen,  wenn  auch 
unpopulären  Teil  ihrer  Landesgenossen  herzufallen;  am  wenig- 
sten im  Bündnis  mit  dem  russischen  Beamten-  und  Soldatentum, 
das  ihnen  auf  das  schlimmste  verhaßt  ist.  Sie  fühlen  durchaus 
kein  Verlangen,  sich  zum  Werkzeuge  dieser  Regierung  zu 
machen,  um  in  ihrem  eigenen  Innern  Zerrüttung  und  Kampf 
hervorzurufen.  Das  einzige,  in  Siedice  vorgekommene  Pogrom 
war,  ^^de  notorisch  festgestellt  ^^^lrde,  das  Werk  nicht  polnischer 
sondern  russischer  Hände. 

Die  Revolution  endete  bekanntlich  mit  der  kläglichen 
Niederlage  der  sozialistischen  Parteien,  wobei  sich  ihr  voll- 
ständiger Mangel  an  Bereitschaft  deutlich  geoffenbart  hatte. 
Die  nun  aufgekommene  Anarchie  ebenso  wie  die  immer  mehr 
um  sich  greifende  Reaktion  benutzte  die  National-Demokratische 
Partei,  die  während  der  revolutionären  Kämpfe  in  den  Hinter- 
grund geschoben  wurde,  um  die  Macht  wieder  an  sich  zu  reißen. 
Sie  unternahm  jetzt  die  energischsten  Schritte,  um  die  Sozia- 
listen zu  vernichten,  und  zu  diesem  Zwecke  identifizierte  sie  sie 
mit  den  Juden.  Der  Gegensatz  zeigte  sich  von  neuem  bei  den 
Wahlen  zur  ersten  Reichsduma.  Die  Polen  betrachteten  schon 
den  natürlichen  Wunsch  der  jüdischen  Bevölkerung,  einen 
glaubensgenössischen  Deputierten  in  die  Duma  zu  entsenden, 
als  eine  große  Schmach  für  Polen  und  ent^^dckelten  in  dieser 
Richtung  eine  gewaltige  Agitation.  Der  bekannte  Dramaturg 
Kisielewski  schämte  sich  nicht  antisemitische  Aufrufe  an  die 
Wähler  zu  richten,  und  allgemein  bekannt  ist  die  Rechnung 
des  greisen  polnischen  Schriftstellers  Boleslaw  Prus,  wonach 
die  Juden  nur  auf  einen  Bruchteil  von  einem  Delegierten  Recht 
hätten,  und  zwar  auf  einen  Bruchteil,  dessen  Zähler  kleiner  ist, 
als  der  Nenner.  ,, Pogrome  wünschen  wir  nicht,  aber  jüdische 
Freiheit  (gemeint  ist  der  Wunsch,  jüdische  Delegierte  in  die 
Duma  zu  entsenden)  wird  nach  Gebülir  bestraft  werden"  — 
heißt  es  einmal  in  einem  Flugblatt.  Das  Resultat  war,  daß  bei 
den  Wahlen  in  die  zweite  Duma  der  progressive  Block  schon 
keinen  jüdischen  Kandidaten  aufgestellt  hatte,  und  daß  an  den 


286    Die   Juden   Polens  unter   Alexander   III.    und   Xikolaiis   II. 

Wahlen  in  die  dritte  Duma  die  Juden  fast  überhaupt  nicht 
mehr    teilgenommen    haben. 

In  den  letztverflossenen  Jahren  ist  den  Polen  die  politische 
Betätigung  wieder  arg  beschnitten  worden.  Die  harten  Repressiv- 
maßregeln der  Petersburger  Regierung  und  die  offenbare  Ab- 
neigung der  Mehrheit  des  russischen  Volkes  gegen  die  polnischen 
Absonderungsgelüste  haben  die  übermütigen  Hoffnungen  der 
Polen  im  Zarenreiche  sehr  herabgestimmt.  Um  so  leidenschaft- 
licher warf  der  polnische  Nationalismus  sich  auf  die  Bekämpfung 
des  einheimischen  jüdischen  Elementes,  und  zwar  nicht  nur  auf 
ökonomischem  sondern  auch  auf  kulturellem  Gebiete.  Männer 
von  literarischer  Bedeutung  wie  Prus,  Salientochowski,  Niemo- 
jewski  scheuten  sich  nicht,  hierbei  mit  dem  ganzen  Gewichte 
ihres  Namens  und  ihrer  Schriften  hinzuwirken.  Geistig,  gesell- 
schaftlich, geschäftlich  wollte  man  die  Juden  verdrängen,  un- 
schädlich machen:  die  Polen,  die  so  laut  für  Freiheit  schwärmen, 
richteten  ein  beständiges  unblutiges  Pogrom  auf.  Man  schloß 
die  Juden  von  allen  intellektuellen,  finanziellen  und  industri- 
ellen Unternehmungen  aus  und  ersetzte  sie  durch  katholische 
Polen.  Man  gründete  polnische  Geschäfte,  mit  der  ausge- 
sprochenen Absicht,  ganze  Handelszweige  den  Juden  zu  ent- 
reißen; dieses  Streben  macht  sich  überall  in  den  kleineren 
Städten  und  den  Dörfern  bemerkbar.  Viele  Kreditgesellschaften, 
Spar-  und  Leihkassen  weisen  die  Juden  als  Teilnehmer  wie  als 
Kunden  grundsätzlich  zurück.  Die  Korporativbewegung  in 
Polen  hat  hauptsächlich  den  Zweck,  den  jüdischen  Z\\'ischen- 
handel  auszuschalten.  Die  Folge  von  dem  allen  ist  eine  sichtbare 
Abnahme  des  jüdischen  Handelsstandes  in  Polen.  Bei  der 
großen  Armut  des  übe^^\iegenden  Teiles  seiner  ^Mitglieder  be- 
darf er  andauernd  des  Kredits;  aber  der  durch  die  öffentlichen 
Kassen  vermittelte  billige  ist  ihm  aus  antisemitischen  Gründen 
verschlossen,  und  der  teurere,  von  Privatpersonen  verschaffte, 
setzt  die  Reineinnahmen  des  Betriebes  auf  ein  jMinimum  hin- 
unter. 

Ebensowenig,  \ne  der  Handel,  blüht  das  Handwerk  unter 
den  Juden.  Die  Zahl  der  jüdischen  Handwerker  in  Polen  ist 
freilich  sehr  groß:  unter  den  1,106  414  Israeliten,  die  die  Volks- 
zählung von  1897  nachwies,  gab  es  63  654  Meister  und  55  717 


Die   Juden   Polens   unter   Alexander   III.    und   Xikolaus  II.    287 

Gesellen  und  Lehrlinge,  zusammen  beinahe  elf  Prozent  der  ge- 
samten jüdischen  Bevölkerung.  Mehr  als  ein  Viertel  dieser 
Handwerker  sind  Schneider  und  Näherinnen;  sie  verdienen 
zwischen  hundert  und  300  Rubel  jährlich;  nur  ein  Fünftel  hat 
größere  Einnahmen.  Viele  andere  —  15,7  vom  Hundert  — sind 
Schuhmacher,  deren  Verdienst  noch  geringer  ist  als  der  der 
Schneider.  Die  Mehrzahl  aller  dieser  Menschen  lebt  also  in 
bitterster  Dürftigkeit.  Sie  sind  zu  arm,  um  sich  gute  Rohstoffe 
zu  verschaffen ;  der  elende  Zustand  ihrer  Familien  hat  ihnen  die 
Möglichkeit  genügender  gewerblicher  Schulung  genommen. 
Sie  verkaufen  schlechte  und  billige  Ware.  Und  dabei  müssen 
sie  bisweilen  48  Prozent  Zinsen  für  das  Geld  bezahlen,  dessen 
sie  zum  Einkauf  der  Rohprodukte  benötigen.  So  geht  es  dem 
jüdischen  Handwerker  ebenso  schlimm  wie  dem  Handelsmann. 
Trotzdem  vollzieht  sich  allmählich  ein  bedeutender  Übergang 
vom  Handels-  zum  HandMerkerstande,  in  dem  der  Jude  wenig- 
stens nicht  angefeindet  und  bekämpft  wird;  die  jüdischen 
Gemeinden  und  Wohltätigkeitsveranstaltungen  suchen  ihm 
durch  Gründung  und  Unterhaltung  von  Gewerbeschulen  mannig- 
facher Art  aufzuhelfen. 

Noch  unter  den  Handwerkern  stehen  die  jüdischen  Fabrik- 
arbeiter. Es  gab  1897  in  Polen  1416  jüdische  Fabrikunter- 
nehmungen mit  43  011  Arbeitern  verschiedener  Religion, 
so  daß  auf  jedes  Unternehmen  durchschnittlich  wenig  mehr 
als  30  Arbeiter  kommen.  In  nicht-jüdischen  Fabriken  waren 
nur  sehr  wenige  jüdische  Arbeiter  beschäftigt:  426;  in  den 
jüdischen  11  954,  darunter  etwa  2500  Frauen,  870  Knaben, 
970  Mädchen.  Man  sieht,  daß  im  Verhältnis  zur  ganzen 
israelitischen  Bevölkerung  die  Zahl  der  Fabrikarbeiter  —  wenig 
über  ein   Prozent    —  eine   verschwindend  geringfügige   ist. 

Der  Kultus  und  der  religiöse  Unterricht  wird  von  den 
jüdischen  Gemeinden  selbständig  verwaltet.  Die  Regierung  hat 
es  sich  nur  vorbehalten,  die  Gemeindeverfassung  ein  für  alle 
Male  zu  regeln  und  über  die  Gemeindebehörden  die  Oberaufsicht 
zu  führen.  Die  meisten  dieser  Gemeinden  stehen  unter  der 
Leitung  streng  orthodoxer  oder  chassidischer  Vertreter.  Die 
Rabbiner,  die  —  anders  als  im  eigentlichen  Rußland  —  gesetz- 
lich keinerlei  weltliche  Bildung  nachzuweisen  haben,  entbehren 


288    Die   Juden   Polens  unter   Alexander   III.    und   Xikolaus   II. 

einer  solchen  durchaus.  Die  Gemeinden  würden  gar  keinen  ge- 
bildeten Rabbiner  haben  wollen.  Nur  in  den  größeren  Städten 
haben  die  „Assimilanten"  es  erreicht,  daß  gebildete  Prediger 
angestellt  wurden,  die  aber  nicht  die  Funktionen  des  Rabbiners 
ausüben.  Die  Assimilanten  beherrschen  meist  den  Vorstand  der 
Warschauer  Gemeinde,  dessen  siebzehn  Mitglieder  alle  drei 
Jahre  von  jedem  Gemeindemitgliede,  das  mindestens  15  Rubel 
Kultussteuer  bezahlt,  gewählt  und  von  dem  Generalgouver- 
neur bestätigt  werden.  Die  Assimilanten  werden  bei  den  Wahl- 
kämpfen merkwürdigerweise  gegen  die  Nationaljuden  (Zio- 
nisten)  durch  die  Chassidim  unterstützt,  die  von  dem  Nationalis- 
mus innerhalb  des  jüdischen  Lebens  nichts  M^issen  wollen. 
Werden  durch  dieses  Bündnis  die  Assimilanten  schon  zu  man- 
cherlei Zugeständnissen  an  die  Chassidim  genötigt,  so  ist  ihre 
Macht  überhaupt  eine  mehr  nominelle  als  tatsächliche.  Sie 
üben  keinerlei  Einfluß  auf  die  jüdischen  Massen  aus,  mit  der 
sie  nicht  den  geringsten  Zusammenhang  besitzen.  Die  Abnei- 
gung der  Masse  gegen  jede  Amalgamierung  mit  dem  Polentum 
hat  wiederum  die  gebildeten  Juden  ihrer  Gemeinschaft  und 
Religion  entfremdet;  sie  haben  sich  völlig  polonisiert,  und  in 
jeder  gebildeten  jüdischen  Familie  haben  sich  einzelne  Mit- 
glieder sogar  getauft.  Dagegen  fühlen  die  Kleinbürger  und  Ar- 
beiter jüdisch-national  und  demokratisch,  streben  eine  eigene 
jüdische  Kultur  an  und  fordern  die  Nationalisierung  und  Demo- 
kratisierung der  Schulen,  Wohltätigkeitsanstalten  und  sozialen 
Einrichtungen.  Die  trüben  Erfahrungen,  die  die  Juden 
während  der  Revolution  und  überhaupt  an  der  feindseligen 
Haltung  der  Polen  gegen  die  Israeliten  gemacht,  haben  sie  in 
der  eigenen  nationalen  Richtung  noch  bestärkt;  sie  erwarten 
nichts  mehr  von  den  andersgläubigen  Bewohnern  ihres  Landes. 
Selbst  die  jüngere  Generation  unter  den  Chassidim  geht  immer 
mehr  in  das  national- jüdische  Lager  über.  Die  Nationalisten  und 
Zionisten  Warschaus  verfügen  über  fünf  Tageblätter  und  z^^ei 
Wochenschriften  im  Jargon  (darunter:  ,, Unser  Leben",  ,,Die 
neue  Welt,"  ,,  Jiddisches  Wochenblatt,"  ,,  Jiddisches  Tagblatt," 
,,Der  Fraind"),  drei  ständige  Jargontheater  in  Warschau, 
Literaturvereine  und  Gesellschaften  zur  Verbreitung  und  För- 
derung der  jüdischen  Kunst. 


Die   Juden   Polens  unter   Alexander   III.   und   Nikolaus   II.     289 

Der  jüdische  Nationalismus  in  Polen  zieht  seine  beste 
Nahrung  aus  der  verwerflichen  Unduldsamkeit,  die  dieselben 
Polen,  die  sich  über  die  gegen  sie  geübte  Unterdrückung  be- 
klagen, in  immer  steigendem  Maße  den  Juden  gegenüber  be- 
tätigen. Der  Gesetzentwurf  über  die  Selbstverwaltung  der 
polnischen  Städte,  der  1910  der  Duma  vorlag,  war  so  gestaltet 
worden,  daß  die  Israeliten  in  denjenigen  Städten,  wo  sie  die 
Mehrheit  der  Bevölkerung  bilden,  nicht  mehr  als  zwanzig  Pro- 
zent der  Stadträte  ausmachen  sollen,  dort  wo  sie  eine  Minderheit 
sind,  nicht  mehr  als  zehn  Prozent.  Diese  jeder  Gerechtigkeit 
Hohn  sprechende  Anordnung  wurde  nur  dadurch  mit  einer 
Stimme  Mehrheit  in  der  Dumakommission  angenommen,  daß 
die  dort  sitzenden  Polen  sich  der  Abstimmung  enthielten.  Und 
diese  Nationalität,  die  Juden  wie  Ruthenen  überall  mißhandelt, 
wo  sie  selber  die  Macht  in  Händen  hat,  verlangt  von  Europa 
Sympathie  für  die  eigene  Notlage ! 

Viele  Juden  verzweifeln  an  der  Zukunft  im  eigenen  Lande 
und  wandern  nach  Amerika  oder  Palästina  aus.  Besonders  sind 
es  Juden  aus  kleineren  Städten,  die  den  Wanderstab  ergreifen. 
Man  kann  die  Zahl  der  jüdischen  Emigranten  aus  Polen  auf 
mindestens  20  000  im  Jahre  anschlagen. 

Trotzdem  ist  die  Zahl  der  Juden  in  Polen  in  dem  Jahrzehnt 
von  1897  bis  1907  um  mehr  als  eine  halbe  Million  angewachsen, 
auf  1,655  546  Seelen,  also  um  volle  49  Prozent  —  offenbar  zum 
großen  Teil  durch  Zuwanderung  aus  dem  eigentlichen  Rußland. 
Sie  bilden  jetzt  14  Prozent  der  Gesamtbevölkerung  Polens. 

Die  starke  Emigration  der  russischen  Juden  nach  Polen  ist 
bisher  nicht  genügend  beachtet  worden.  Man  muß  diese  für 
das  genannte  Jahrzehnt  mindestens  auf  250  000  Seelen  an- 
schlagen. Sie  wird  der  polnischen  Judenheit  lediglich  von  Vor- 
teil sein.  Denn  die  eingeborenen  polnischen  Juden  sind  eine 
minder  kräftige  Rasse  als  ihre  litauisch-russischen  Glaubens- 
brüder. Sie  stehen  ihnen  an  Charaktereigenschaften  nach  und 
ebenso  in  der  bewundernswerten  Solidarität  und  gegenseitigen 
Hingebung,  die  diese  letzteren  bewähren.  Den  festen  Kern  des 
zahlreichen  und  bisher  so  unglücklichen  östhchen  Judentums 
machen  die  Israeliten  des  eigentlichen  Rußland  aus.  Viel- 
leicht    beruht    auf    ihnen    die    Zukunft    der    Judenheit    über- 

Philippson,   Neueste  Geschichte  der  Jiulen,  Bd.  III.  19 


290     Die   Juden   Polens  unter   Alexander  III.   und   Nikolaus   II. 

haupt,  sei  es  im  eigenen  Lande,  sei  es  drüben,  jenseits  des 
großen    Wassers. 

Denn  die  russische  Judenheit  wird  getragen  und  erfüllt 
von  dem  alt  jüdischen  Idealismus.  Es  ist  derselbe  Idealismus  — 
nur  Unverstand  oder  Übelwollen  bezeichnen  ihn  als  Hartnäckig- 
keit —  der  einst  das  kleine  jüdische  Volk  zum  verzweifelten 
Kampfe  gegen  das  übermächtige  Weltreich  der  Römer  zu  den 
Waffen  rief;  der  im  Mittelalter  Zehntausende  um  der  Religion 
willen  alle  Mißhandlung,  Verbannung,  Tötung  über  sich  ergehen 
ließ ;  der  noch  in  der  Gegenwart  die  Juden  die  feinere  aber  nicht 
minder  schmerzliche  Art  der  Verfolgung  durch  Hohn,  Zurück- 
setzung, Ausschließung  ertragen  läßt,  um  nur  der  väterlichen 
Glaubensgemeinschaft  treu  zu  bleiben.  Nirgends  aber  ent- 
faltet dieser  Idealismus  sich  glänzender  als  bei  den  verachteten 
und  geschmähten  Juden  Rußlands.  Da  verzichten  zahllose 
wissensdurstige  jüdische  Jünglinge  auf  das  geliebte  und  be- 
gehrte Studium,  um  nicht  ihre  Religion  verlassen  zu  müssen, 
oder  suchen  es  unter  unglaublichen  Schwierigkeiten  und  Ent- 
behrungen im  Auslande.  Da  lassen  Millionen  sich  zum  ewigen 
Hunger  verurteilen,  ehe  sie  ihre  Empfindungen  und  Überzeu- 
gungen opfern.  Da  forscht  der  Schriftgelehrte  freudig  und 
wunschlos,  bei  dürftiger  Kost  von  Brot  und  Wasser,  im  Talmud 
und  in  den  rabbinischen  Schriften:  ein  vielleicht  steriles  aber 
für  ihn  ideales  ,, Lernen." 

Nur  dieser  Idealismus  erklärt  die  Tatsache,  daß  das  Juden- 
tum in  Rußland  allen  Verlockungen  und  dem  unmenschlichen 
Drucke  des  Staates  und  der  Kirche  gegenüber  sein  Eigendasein 
behauptet  hat,  daß  die  ungeheure  Macht  des  Zaren-  und  des 
Beamtentums  trotz  fortgesetzter  systematischer  Marter  seiner 
nicht  hat  Herr  zu  werden  vermocht.  Aber  was  können,  was 
werden  diese  unscheinbaren  Menschen  nicht  alles  leisten,  wenn 
sich  ihnen  einstmals  die  goldenen  Pforten  der  Freiheit  eröffnen  ? 
— leisten  nicht  nur  zum  eigenen  Nutzen,  nein,  für  das  Judentum, 
für  Rußland  und  für  den  Fortschritt  der  Menschheit ! 


Anhang. 


19^ 


Der  jüdische  Arbeiterbund  in  Rußland 

und  Polen. 

Die  Bedeutung  des  „Bundes"  für  die  Art  der  Beteiligung 
von  Juden  an  der  jüngsten  revolutionären  und  sozialistischen 
Bewegung  in  Rußland  ist  eine  ganz  überwiegende.  Anderseits 
ist  außerhalb  der  russischen  Grenzen  die  Entstehung,  Organi- 
sation und  Ausdehnung  dieses  Bundes,  einer  ebenso  neuen  wie 
eigenartigen  Erscheinung  in  der  Geschichte  der  Judenheit, 
ganz  unbekannt.  Es  schien  deshalb  dem  Verfasser  dieses  Buches 
ratsam,  seinen  Lesern  eine  Übersetzung  der  beiden  ausgezeich- 
neten den  Bund  betreffenden  Artikel  vorzulegen,  die  in  der 
Ewreiskaja  Enziklopedija,  Band  V  (Petersburg,  1910)  er- 
schienen sind.  Die  Übersetzung  rührt  von  Herrn  Roman 
Streltzow,  Halensee-Berlin,  her. 

„Bund"  —  Abkürzung  von  ,, Allgemeiner  jüdischer  Ar- 
beiterbund, in  Litauen,  Polen  und  Rußland",  eine  sozial- 
demokratische Handwerkerorganisation.  Der  B.  ist  aus  Ar- 
beiterzirkeln entstanden,  die  im  nordwestlichen  Rayon  und  in 
Warschau  tätig  waren. 

I.  Von  der  Entstehung  der  Arbeiterzirkel  bis  zum 
ersten  Parteitag  des  B.  —  Die  ersten  propagandistischen 
Arbeiterzirkel  sind  in  Wilna  im  J.  1886/87  entstanden.  Sie 
wurden  zwecks  Vorbereitung  von  unterrichteten  zielbewußten 
Sozialdemokraten  gebildet  und  hatten  den  Charakter  von' 
Zirkeln  zur  Selbstbildung.  In  Verbindung  mit  der  Propaganda 
wurden  in  Wilna  die  ersten  Versuche  zur  Bildung  von  Berufs- 
organisationen gemacht.  Als  äußerer  Anlaß  zur  Verstärkung 
der  Gewerkschaftsbewegung  diente  die  Erklärung  des  Wilnaer 
Bürgermeisters  (1892),  wonach  die  Arbeit  in  den  Werkstätten, 


294  Der  jüdische   Arbeiterbund  in   Rui31and  xmd  Polen. 

gemäß  einem  alten  Gesetz  aus  der  Zeit  der  Katharina  II.,  nicht 
mehr  als  10  Stunden  dauern  darf.  Die  Arbeiter  wollten  diese 
Erklärung  ausnutzen  und  versuchten  durch  Streiks  eine  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  bis  zur  gesetzHch  festgesetzten  Grenze 
herbeizuführen.  Die  Notwendigkeit  von  der  engbegrenzten 
theoretischen  Propaganda  zur  praktischen  Tätigkeit  unter  den 
Massen,  und  zwar  auf  ökonomischer  Grundlage,  überzugehen 
wurde  im  J.  1892  auf  einer  Arbeiterversammlung,  die  zuerst 
den  1.  Mai  feierte,  ausgesprochen.  Der  Gedanke  stieß  auf  Wider- 
spruch. Die  Leiter  der  Bewegung  beabsichtigten  eine  Förderung 
der  Klassenorganisation  des  Durchschnittsarbeiters.  Die  Mehr- 
heit der  in  den  Zirkeln  organisierten  Arbeiter  hielt  dagegen  die 
alte  Tätigkeitsweise  aufrecht,  die  in  der  Vorbereitung  von  ziel- 
bewußten Persönlichkeiten  bestand.  Dieser  Gegensatz  führte 
zur  Frage  über  die  anzuwendende  Sprache.  Die  einen  ver- 
teidigten die  Sprache  der  Zirkelpropaganda  —  die  russische; 
die  anderen  wollten  dagegen  die  Sprache  der  Massenagitation  — 
den  jüdischen  Jargon.  Dieser  Kampf  verstärkte  sich  besonders 
im  J.  1893.  Die  Arbeiter  verließen  die  Zirkel,  und  die  Arbeit  in 
Wilna  hörte  fast  völlig  auf.  Im  J.  1894  siegte  aber  die  Idee  der 
Massenagitation,  und  die  Gegensätze  hörten  auf.  Die  neue 
Richtung  wurde  im  J.  1894  in  zwei  handschriftlichen  Broschüren 
formuliert  —  ,,Ein  Brief  an  die  Agitatoren"  (Verfasser  ist  Lonn; 
die  Broschüre  behandelt  auch  praktische  Fragen)  und  ,,Über 
die  Agitation"  (prinzipielle  Stellungnahme;  im  J.  1896  wurde 
diese  Broschüre  in  Genf  mit  einem  Vorwort  von  P.  Axelrod 
gedruckt).  Im  J.  1893  wurde  diese  wirtschaftHche  Richtung 
aus  Wilna  nach  Warschau  getragen,  soAAäe  in  das  Rayon  der 
Lederfabrikation  —  Älinsk,  Smorgonj  —  und  im  J.  1895  nach 
Brest — Litowsk,  Bialostok,  w^o  zu  dieser  Zeit  ein  unorganisierter 
Streik  von  26  000,  darunter  3000  jüdischen,  Arbeitern  ausge- 
brochen ist.  Außerdem  ging  die  Bewegung  in  kleine  Städte 
über,  wo  die  Borstenindustrie  verbreitet  ist.  Die  Bewegung  hatte 
einen  rein  ökonomischen  Charakter,  ohne  jede  politische  Fär- 
bung. Die  aufgestellten  Forderungen  galten  der  Verkürzung 
der  Arbeitszeit,  die  im  Ansiedelungsrayon  durchschnittlich 
14  Stunden,  mitunter  aber  auch  16,  ja  sogar  18  dauerte,  sowie 
der  Hebung  des  Arbeitslohnes,  der  sehr  niedrig  war.    In  Wilna 


Der   jüdische   Arbeiterbiind   in   Rußland  und  Polen.  295 

z.  B.  verdienten  in  den  80er  Jahren  die  Strumpfwirkerinnen, 
die  zu  Hause  arbeiteten,  nicht  mehr  als  16  Kopeken  pro  Tag ! 
Nicht  selten  war  es,  daß  die  Arbeiter  zu  diesem  Zwecke  beim 
Fabrikinspektor  oder  beim  Gouverneur  (im  J.  1894  in  Mnsk, 
Bialostok  usw.)  sich  beklagten.  Die  Behörde  verhielt  sich  damals 
neutral  zu  dieser  Bewegung.  Im  August  1894  wurde  zum  ersten- 
mal die  Forderung  der  bürgerlichen  Rechtsgleichheit  für  die 
Juden  aufgestellt.  Die  politischen  Fragen  wurden  zuerst  auf 
der  Maifeier  im  J.  1895  in  Wilna,  in  einer  Rede  des  L.  Martow 
(Zederbaum)  aufgeworfen.  Später  formulierte  Martow  auch 
andere  Strömungen  in  der  jüdischen  Arbeiterbewegung  (s.  seine 
Broschüre  ..Die  naje  Epoche",  oder  (russisch):  ,,Der  Wende- 
punkt in  der  Geschichte  der  jüd.  Arbeiterbewegung",  1900,  und 
,,Der  Stodtmagid").  Anfangs  waren  nationale  Motive  in  der 
Tätigkeit  der  Sozialdemokratie  unter  der  jüdischen  Masse  nicht 
zu  beobachten.  Die  Bewegung  im  Ansiedelungsrayon  war  für 
sie  ,,ein  Anhängsel  der  allgemein  russischen  Bewegung".  Später 
aber  entstand  die  Idee  von  selbständigen  Aufgaben  und  einer 
speziellen  jüdischen  Organisation.  Das  eben  wurde  von  Martow 
ausgesprochen;  der  auch  darauf  hinwies,  daß  ,,das  Erwachen  des 
nationalen  und  des  Klassenbewußtseins  Hand  in  Hand  gehen 
müßte".  Auf  der  Maifeier  im  J.  1896  wurden  schon  die  Forde- 
rungen in  bezug  auf  politische  Freiheiten  aufgestellt  und  von 
diesem  Momente  an  beginnt  die  Behörde  ihre  Verfolgung  der 
Arbeiter.  Die  politische  Agitation  wurde  aber  noch  längere  Zeit 
auf  der  Basis  der  Verbesserung  der  wirtschaftlichen  Lage  der 
Arbeiter  geführt.  Auf  dem  Londoner  internationalen  sozia- 
listischen Kongreß  (1896)  "wairden  die  jüdischen  Arbeiter  zum 
erstenmal  durch  4  Delegierte  vertreten  (aus  Warschau,  Wilna, 
Minsk  und  Smorgonj).  Die  Ortsorganisationen,  die  in  den 
Städten  arbeiteten,  bestanden  aus  1.  Arbeiterversammlungen, 
die  die  Arbeiter  eines  Berufes  vereinigten,  2.  Gruppen  zum 
periodischen  Lesen,  3.  Zirkel  zur  Selbstbildung,  4.  Kollegien, 
die  die  örtliche  Arbeit  leiteten,  und  5.  einer  kleinen  Gruppe,  die 
die  Gesamtarbeit  der  Organisation  leitete  und  die  Beziehungen  zu 
den  Organisationen  der  anderen  Städte  pflegte.  Von  Zeit  zu  Zeit 
fanden  Versammlungen  aller  Mitglieder  der  Ortsorganisationen 
statt  (die  erste  Versammlung  war  1891  in  Wilna,  300  Menschen). 


296  Der  jüdische  Arbeiterbund  in   Rußland  luid   Polen. 

II.  Die  Periode  bis  zum  vierten  Kongreß.  —  Im 
J.  1895  fand  in  jVIinsk  eine  Konferenz  der  Leiter  der  Bewegung 
aus  JVIinsk  und  Wilna  statt.  Die  Konferenz  erkannte  die  Not- 
wendigkeit einer  speziellen  jüdischen  Organisation  an  und  stellte 
die  Forderung  der  Rechtsgleichheit  auf.  Die  bevorstehende 
Bildung  einer  sozialdemokratischen  Partei  in  Rußland  gab  den 
Anlaß  zur  Einberufung  des  ersten  Bundestages  (September  1897), 
der  in  Wilna  stattgefunden  hat.  An  dieser  Zusammenkunft 
nahmen  13  Personen  teil,  u.  a.  die  Redakteure  der  „Arbeiter- 
stimme" und  des  „Jüdischen  Arbeiters",  sowie  die  Vertreter  der 
Organisationen  aus  verschiedenen  Städten.  Die  Notwendigkeit 
einer  speziellen  Organisation  wurde  durch  die  speziellen  Inte- 
essen  der  jüdischen  Arbeiter  motiviert  —  Aufhebung  der  jü- 
dischen Rechtlosigkeit  und  Schaffung  einer  Jargon-Literatur. 
Die  allgemeine  sozialdemokratische  Partei  Rußlands  wäre  nicht 
imstande  die  notwendige  Arbeit  zu  leisten,  da  sie  mit  den 
Stimmungen  und  Bedürfnissen  des  jüdischen  Proletariats  nicht 
vertraut  sei.  Es  wurde  beschlossen,  die  Organisation  nicht  als 
Partei  zu  bezeichnen;  sondern  als  eine  Verbindung,  die  die 
Agitation  unter  dem  jüd.  Proletariat  sich  zur  Aufgabe  gemacht 
habe.  Die  Verbindung  erhielt  den  Namen  ,, Allgemeiner  jüdischer 
Arbeiterbund  in  Rußland  und  Polen".  Das  Zentralkomitee 
soUte  in  jVIinsk  funktionieren;  als  Zentralorgan  wurde  die  ,, Ar- 
beiter-Stimme"  anerkaimt.  Im  März  1898  fand  in  Älinsk  der 
erste  Parteitag  der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei  Ruß- 
lands statt,  auf  welchem  drei  Delegierte  vom  B.  vertreten  waren 
(einer  von  ihnen  wurde  in  das  Zentralkomitee  gewählt).  Der 
Bund  wurde  als  ein  Teil  der  Partei  anerkannt,  der  in  Fragen, 
die  speziell  das  jüdische  Proletariat  betreffen,  autonom  ist.  Der 
B.  erkannte  seinerseits  vollkommen  das  Programm  der  Partei, 
welches  in  bezug  auf  die  nationale  Frage  das  Recht  jeder  Nation 
auf  Selbstbestimmung  feststellt.  Nach  Konstituierung  des  B. 
schlössen  sich  ihm  alle  im  Ansiedelungsrayon  tätigen  Arbeiter- 
gruppen an.  Die  Tätigkeit  des  B.  äußerte  sich  in  der  Schaffung 
regelrechter  Verbindungen  unter  den  verschiedenen  Städten 
und  in  der  Veröffentlichung  neuer  Literaturerzeugnisse.  Im 
Juli  1898  wurde  in  Bobrujsk  die  Haupt dr uckerei  des  B.  ent- 
deckt und  in  verschiedenen  Städten  70  ]Mitglieder  der  Organi- 


Der   jüdische   Arbeiterbund    in    Rußland   und   Polen.  297 

sation  verhaftet.  Die  Tätigkeit  der  Organisationen  hörte  aber 
nicht  auf.  Die  Bildung  des  B.  wurde  in  den  Reihen  der  Polnischen 
Sozialistischen  Partei  (P.  P.  S.)  sehr  unfreundlich  aufgenommen. 
Als  der  Warschauer  sozialdemokratische  Verein,  der  mit  der 
Gleichgültigkeit  der  P.  P.  S.  in  bezug  auf  die  Agitation  unter 
den  jüdischen  Arbeitern  unzufrieden  war,  nachher  zum  B.  über- 
ging, ergaben  sich  z^\^schen  dem  B.  und  der  P.  P.  S.  verschiedene 
Reibereien.  Auf  dem  IV.  Kongreß  (Ende  1897)  der  letzteren 
wurde  eine  Resulution  angenommen,  wonach  die  ,, program- 
matische und  organisatorische  Isoliertheit  des  B.  ihn  in  eine 
feindliche  Stellung  zu  uns  setzt".  Dieser  Kampf  verschärfte  sich 
mit  der  Zeit  immer  mehr.  Im  September  1898  fand  in  Kowno 
der  II.  Kongreß  des  B.  statt.  Im  Dezember  desselben  Jahres 
wurde  das  ausländische  Komitee  gebildet,  welches  den ,,  Jüdischen 
Arbeiter",  das  offizielle  Organ  des  Bundes  im  Auslande,  grün- 
dete. Im  Dezember  1899  fand  der  III.  Parteitag  statt,  und  zwar 
in  Kowno.  Die  administrativen  Repressalien,  die  zu  dieser  Zeit 
sich  wesentlich  verstärkt  haben,  erschwerten  den  \\'irtschaft- 
liclien  Kampf.  Im  B.  wurde  die  Frage  aufgeworfen,  betreffs 
Änderung  des  bisherigen  Charakters  der  Arbeit,  und  es  wurden 
neue  Methoden  der  politischen  Agitation  genehmigt  —  Demon- 
strationen und  offene  Betätigungen.  Die  Bewegung  trug  dessen- 
ungeachtet immer  noch  einen  mehr  A\-irtschaftlichen  Charakter, 
und  in  Verbindung  damit  waren  die  früheren  Streikkassen  immer 
noch  die  Grundlage  der  ,,B"-Organisation.  Nur  allmählich  ent- 
standen die  Anfänge  einer  politischen  Organisation,  in  welchen 
die  aufgeklärteren  sozialdemokratischen  Arbeiter  versammelt 
wurden.  Diese  Organisationen  lehnten  sich  an  die  gewerkschaft- 
lichen Kassen  an.  Im  J.  1900  zählte  man  in  diesen  Kassen  iNIit- 
glieder:  in  Bialostok  1000,  in  Wilna  1900,  in  Minsk  etwa  1000, 
in  Homel  fast  360,  unter  den  Borstenarbeitern  700,  unter  den 
Lederarbeitern  700.  —  Der  Parteitag  zu  Kowno  nahm  in  bezug 
auf  das  Verhältnis  zwischen  dem  wirtschaftlichen  und  politischen 
Kampf  folgende  Resolution  an:  ,,Der  wirtschaftliche  Kampf 
ist  das  beste  Mittel  zur  Verbesserung  der  materiellen  Lage  der 
Arbeiter  und  dient  zugleich  als  eine  Schule  der  politischen  Er- 
ziehung. Er  ist  aber  ungenügend  als  politisches  Mittel".  Auf 
demselben  Parteitag  wurde  vorgeschlagen,  die  Forderung  der 


298  Der  jüdische   Arbeiterbuiid   in   Rußland  und   Polen. 

bürgerlichen  Rechtsgleichheit  durch  eine  umfassendere  Forde- 
rung der  nationalen  Rechtsgleichheit  zu  ersetzen.  Dieser  Vor- 
schlag AVTirde  aber  vom  Parteitag  nicht  unterstützt,  da  man 
alles  vermeiden  wollte,  was  die  Auf  merksamkeit  der  Arbeiter  von 
ihren  Klasseninteressen  ablenken  könnte.  Der  Parteitag  be- 
schloß jedoch  eine  Diskussion  in  bezug  auf  die  nationale  Frage  im 
,, Jüdischen  Arbeiter"  zu  eröffnen.  Am  Ende  des  Jahres  1900 
hatte  der  B.  Organisationen  in  den  Gouvernements :  Wilna, 
]Minsk,  Kowno,  Grodno,  Witebsk,  Mohilew,  teilweise  auch 
Suwalki,  in  Warschau  und  in  Lodz.  Die  Arbeit  in  den  Städten 
befand  sich  in  den  Händen  der  Ortskomitees.  Vom  J.  1899  an 
gaben  mehrere  von  diesen  Komitees  eigene  Organe  aus.  Mitte 
1900  betrug  die  Gesamtzahl  der  Exemplare  dieser  vom  B.  (inkl. 
Zentralorgane)  herausgegebenen  Zeitungen  mehr  als  45000.  Die 
Leitung,  besonders  die  Herstellung  und  Lieferung  der  Literatur, 
lag  dem  Zentralkomitee  ob.  Das  ausländische  Komitee  sorgte 
seinerseits  für  Herstellung  der  Druckerzeugnisse  und  Beschaf- 
fung von  Geldmitteln.  Mitte  1900  zirkuherten  in  Rußland  82 
verschiedene  Zeitungen  und  Broschüren.  Das  Hauptorgan 
des  B.  war  der  Parteitag,  der  das  Zentral  -  Komitee  wählte. 
Bis  1906  wurden  die  Delegierten  zum  Parteitag  nicht  von  der 
Masse  direkt,  sondern  von  den  städtischen  Komitees  gewählt. 
II.  Vom  IV.  Parteitag  (Bialostok,  April  1901)  an  be- 
ginnt eine  neue  Periode  in  der  Ent\%icklung  des  B.,  die  durch 
die  Verstärkung  der  politischen  Note  some  durch  die  Aus- 
arbeitung eines  nationalen  Programms  charakterisiert  wird.  Der 
Kongreß  (24  Delegierte)  erkannte  die  ,, Notwendigkeit  des 
Überganges  zu  einer  intensiveren  politischen  Agitation"  an. 
die  einen  selbständigen,  von  der  wirtschaftlichen  Agitation  vm- 
abhängigen  Charakter  tragen  sollte.  In  bezug  auf  die  Streiks, 
die  im  Ansiedelungsrayon  zu  einer  chronischen  Erscheinung 
wurden,  stellte  der  Kongreß  die  Unterscheidung  zwischen  Streiks, 
die  zur  Verteidigung,  und  solchen,  die  zum  Angriff  dienen,  auf 
und  warnte  die  Arbeiter  vor  der  Überschätzung  der  letzteren. 
Der  Kongreß  äußerte  sich  auch  gegen  den  wirtschaftlichen 
Terrorismus  (Angriffe  auf  die  Unternehmer,  Fabrikangestellte 
etc.),  ,,der  das  sozialdemokratische  BewTißtsein  der  Arbeiter 
verdunkelt,  ihr  moralisches  Niveau  herabsetzt  und  die  Arbeits- 


Der  jüdische   Ai-beiterbund   in   Rußland  und   Polen.  299 

bewegung  diskreditiert".  Er  verurteilte  ebenso  die  Beteiligung 
der  Organisationen  an  dem  politischen  Terror  (gegen  den  Terror 
als  System  trat  der  Bund  schon  im  J.  1899  auf;  s.  „Arbeiter- 
Stimme",  14).  Der  Kongreß  hat  außerdem  die  Ausnutzung  der 
legalen  Wege  zur  Anklage  der  Mßbräuche  der  Behörden  emp- 
fohlen. Was  das  nationale  Programm  anbetrifft,  so  dienten  dem 
Kongreß  dazu  als  Richtschnur  die  Debatten  auf  dem  Brünner 
Parteitag  der  österreichischen  Sozialdemokratie  (1898)  sowie 
die  Resolution,  die  von  ,,der  südslawischen  soz.-dem.  Partei" 
beantragt  wurde.  Diese  Resolution  spricht  sich  für  die  ,, natio- 
nale Autonomie"  und  gegen  die  , ,territorale  Autonomie"  aus. 
Es  wurde  vorgeschlagen,  den  nationalen  Charakter  stark  zu 
imterstreichen  und  unverzüglich  die  Forderung  einer  nationalen 
Autonomie  aufzustellen.  Der  Kongreß  äußerte  sich  dagegen, 
da  er  glaubte,  daß  ,,der  Kampf  um  die  Aufhebung  aller  Aus- 
nahmegesetze gegenwärtig  genügend  ist".  In  Verbindung  damit 
wurde  beschlossen,  daß  der  Bund  in  die  Sozialdemokratische 
Partei  Rußlands  als  der  Vertreter  des  jüdischen  Proletariats 
eintreten  solle;  die  Partei  aber  sollte  eine  Föderation  aller 
nationaler  sozialdemokratischer  Parteien  darstellen.  Auf  die- 
sem Kongreß  wurde  zum  erstenmal  Stellung  auch  zum  Zionis- 
mus genommen,  als  zu  einer  Bewegung,  die  das  nationale 
Gefühl  anfeuert  und  die  Entwicklung  des  Klassenbewußtseins 
verhindert.  Außerdem  w-urde  eine  Resolution  angenommen 
betreffend  die  Gewinnung  der  Sympathien  der  öffentlichen 
Meinung.  Die  Verschärfung  der  politischen  Stimmung  und  die 
verstärkten  Repressalien  der  Behörden  führten  zum  Attentat 
Hirsch  Lekerts  auf  den  Wilnaer  Gouverneur  von  Wahl  (Mai 
1902).  Als  prinzipieller  Gegner  des  Terrorismus  hatte  der  B. 
zunächst  eine  schwankende  Haltung  angenommen.  In  dem 
Aufruf  des  Zentralkomitees  und  im  Zentralorgan  (Arb.-Stim. 
Nr.  27,  ,,Wie  soll  man  auf  Ruten  antworten")  verteidigte 
er  teilweise  die  extremen  Kampfesmittel.  Eine  Konferenz  in 
Berditschew  (Aug.  1902)  nahm  eine  ähnliche  Resolution  be- 
treffend die  ,, organisierte  Rache"  an.  Das  ausländische  Komitee 
sprach  sich  aber  entschieden  dagegen  aus.  Z\nschen  ihm  und 
den  Zentralkomitee  entstand  ein  Gegensatz  auf  diesem  Ge- 
biete.   Der  B.  betrat  aber  nicht  den  Weg  des  Terrorismus.    In 


300  Der  jüdische   Arbeiterbund  in   Rußland  und   Polen. 

der  ,,Arb. -Stimme"  (vom  31.  N.  an)  wurde  eine  Diskussion 
über  die  „organisierte  Rache"  eröffnet,  und  ein  Jahr  später  hob 
der  V.  Parteitag  den  Beschluß  der  Konferenz  auf.  Der  poHtische 
Kurs,  den  der  B.  in  diesen  Jahren  eingeschlagen  hat,  kam  be- 
sonders klar  in  der  Stellung  zu  der  ,, Unabhängigen  jüdischen 
Arbeiterpartei"  (entstanden  im  Juli  1901  in  Minsk,  dann  in 
Wilna  und  in  Odessa,  1903)  zum  Ausdruck.  Die  ,, Unabhängige" 
Partei  predigte  rein  ökonomische  legale  Organisationen  und  war 
Gegnerin  der  politischen  Tätigkeit.  Der  B.  äußerte  sich  gegen 
diese  Partei  (Arb.-Stimme,  Nr.  25,  28  usw.),  sowie  gegen  die 
Überschätzung  rein  ökonomischer  Agitation.  Die  neuen  pro- 
grammatischen Ansichten  in  bezug  auf  die  nationale  Frage,  die 
der  B.  sich  angeeignet  hat,  führten  zu  einem  Konflikt  mit  der 
sozialdemokratischen  Partei  Rußlands,  die  in  der  Zeitung 
,,Iskra"  vertreten  war.  In  der  Nr.  7  äußerte  sich  diese  Zeitung 
gegen  die  neuen  Ansichten  des  Bundes.  In  Nr.  8  erschien  eine 
Antwort  des  B.,  die  diese  Ansichten  verteidigte.  Anfangs  des 
J.  1902  veröffentlichte  der  B.  eine  Broschüre  gegen  die  Iskra: 
,,Zur  Frage  der  nationalen  Autonomie  und  der  Umgestaltung 
der  sozialdemokratischen  Partei  Rußlands  auf  föderativer 
Grundlage"  (Verfasser:  Wl.  Kossowskij),  wo  die  Ansichten  des 
B.  entwickelt  woirden:  ,,Die  nationale  Autonomie  ist  Selbst- 
verwaltung auf  dem  Gebiete  der  Sprache  und  der  Kultur", 
diese  Angelegenheiten  dürfen  nur  von  einem  ,, nationalen  Or- 
ganismus" verwaltet  werden,  d.  h.  ,,von  einer  Gesamtheit  von 
Personen,  die  frei  ihre  Zugehörigkeit  zu  einer  Nation  anerkennen.' 
Die  anderen  Fragen,  die  mit  der  nationalen  Kultur  nichts  zu 
tun  haben,  gehören  in  das  Ressort  allgemeiner  staatlicher  oder 
örtlicher  Organe.  Im  Juni— Juli  1903  fand  in  Zürich  der  V.  Kon- 
greß des  B.  statt.  Er  beschäftigte  sich  hauptsächlich  mit  dem 
Verhältnis  des  B.,  als  nationaler  Organisation,  zur  Gesamt- 
partei und  arbeitete  Statuten  aus,  mit  denen  die  Delegierten 
des  B.  zu  Parteitagen  gehen  sollten  (u.  a.  beschloß  der  Kongreß 
den  Zionismus  zu  bekämpfen).  Im  Juli  1903  fand  in  Brüssel 
der  zweite  Parteitag  der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei 
Rußlands  statt.  Es  waren  da  43  Delegierte  versammelt,  da- 
runter 5  vom  B.  Die  letzteren  verteidigten  die  Ansicht,  daß 
,,der  B.  eine  sozialdemokratische,  in  ihrer  Tätigkeit  durch  keine 


Der  jüdische   Arbeiterbund  in   Rußland  und   Polen.  301 

Eayonsgrenzen  beschränkte  Organisation  des  jüdischen  Prole- 
tariats sei,  und  daß  er  (der  B.)  in  die  Partei  als  der  einzige  Ver- 
treter dieses  Proletariats  aufgenommen  werden  müsse"  (§  2  der 
Statuten).  Von  selten  der  Partei  trat  gegen  das  föderative 
Prinzip  des  B.  auf  L.  Martow,  der  von  12  Juden,  Mitgliedern  des 
Kongresses,  unterstützt  woirde  (Trotzkij,  Deutsch,  Martynow, 
Liadow  usw.).  Die  vom  V.  Kongreß  ausgearbeiteten  Statuten 
"wurden  abgelehnt,  und  die  B. -Delegation  gab  die  Erklärung  ab, 
daß,  auf  Grund  der  Instruktionen  des  V.  Kongresses,  der  B. 
aus  der  soz.-dem.  Arbeiter-Partei  Rußlands  austrete  (18.  Aug.). 
Die  Gegensätze  verschärften  sich  später  z^^dschen  beiden  Or- 
ganisationen, besonders  nachdem  im  nordwestlichen  Rayon 
im  Juni  1904  ein  Komitee  der  Partei  gegründet  wurde  und  die 
bundistischen  Organisationen  im  Süden  erschienen.  Glitte  1903 
bestanden  bundistische  Organisationen:  in  Odessa,  in  den  Gou- 
vernements Kiew,  Tschernigow,  Podol,  Poltawa,  außerdem  auch 
in  Riga,  Libau,  Mitau.  Auf  dem  internationalen  sozialistischen 
Kongreß  zu  Amsterdam  (1904)  bestand  die  Delegation  des  B. 
aus  8  Personen  und  hatte  27  Mandate  von  17  Komitees,  10  Or- 
ganisationen und  60  Gruppen,  die  in  der  Gesamtheit  etwa  23  000 
organisierte  Arbeiter  umfaßten.  Die  ökonomische  Tätigkeit  des 
B.  äußerte  sich  wie  früher  in  der  Organisation  von  Streiks  und 
Bildung  neuer  Vereine,  wie  z.  B.  des  Vereins  der  Handlungs- 
gehilfen. Die  dominierende  Rolle  spielte  aber  die  politische 
Tätigkeit,  die  Zahl  der  ökonomischen  Streiks  sank,  die  der  po- 
litischen dagegen  wuchs  immer  mehr.  —  Im  Zusammenhang 
mit  den  Pogromen  in  Kischinew  und  Homel  organisierten  sich 
innerhalb  des  B.  Gruppen  der  ,, Selbstverteidigung"  (,,samso- 
borona"),  von  denen  zuerst  im  J.  1902  die  Rede  war  (Arbeiter- 
Stimme,  Nr.  30,  ,,Der  Pogrom  in  Czenstochau").  Der  Kampf 
gegen  den  Zionismus  verstärkte  sich  besonders  seit  1903,  als 
der  Arbeiter-Zionismus  ,,Poialei  Zion"  auftauchte  (A.-S.,  Nr.  21, 
,,Der  vierte  zionistische  Kongreß";  Nr.  29,  ,,Der  Kongres  zu 
Minsk";  Nr.  35:  ,,Der  sechste  Kongreß"  usw.).  Im  Januar  1905 
beteiligte  sich  der  B.  an  der  allgemeinrussischen  Konferenz,  die 
dem  Problem  des  Duma-Boykotts  gewidmet  wurde.  Nach  der 
Konferenz  entwickelte  der  B.  eine  Agitation  für  diese  Boykot- 
tierung.   Bis  zum  VI.  Kongreß  existierten  folgende  Ortsorgane 


302  Der  jüdische   Arbeiterbund  in   Rußland  und   Polen. 

des  B.:  seit  1901:  „Fraihaits-Glock"  in  Lodz  und  „Der  Ar- 
beiter" in  Ponewesh;  seit  1902:  ,,Flugblättel"  in  Lodz,  Wilna, 
Dwinsk,  Kowno;  seit  1903  und  1904:  „Flugblättel"  in  Ber- 
ditschew,  Witebsk,  Schawli,  sowie  bei  den  Borstenarbeitern. 
Das  ausländische  Komitee  begann  seit  Febr.  1904  die  Heraus- 
gabe des  ,,Westnik  Bunda"  in  russischer  Sprache,  wo  eine 
Reihe  Artikel  betreffend  die  nationale  Frage  abgedruckt  wurde : 
von  W.  Medem  (im  J.  1906  erschienen  in  Broschürform),  W. 
Kossowski,  Bassin  usw.  In  polnischer  Sprache:  ,,Glos  Bundu" 
—  seit  Mai  1904;  seit  Jan.  1904  erschien  das  Zentralorgan  ,,Der 
Bund".  Im  J.  1905  veröffentlichte  das  Zentralkomitee  mehr 
als  2  Millionen  gedruckter  Seiten,  wobei  die  periodische  Presse 
nicht  mitgerechnet  ist.  Es  veröffentlichte  13  Broschüren  in 
jüdischer  und  6  in  russischer  Sprache.  Außerdem  gab  es 
,, Bulletins"  in  französischer  und  deutscher  Sprache  heraus. 
Die  Einnahmen  des  Zentralkomitees  überstiegen  im  letzten 
Jahre  die  Summe  von  33  000  Rubel. 

IV.  Der  sechste  Parteitag  fand  im  Oktober  1905  in 
Zürich  statt.  Der  B.  wurde  dort  durch  14  Komitees  und  6  Or- 
ganisationen vertreten.  Der  Parteitag  billigte  die  Haltung  der 
B. -Delegation  auf  dem  IL  Parteitag  der  sozialdemokratischen 
Partei  Rußlands  und  äußerte  zugleich  die  Meinung,  wonach  die 
nationalen  Konflikte  durch  die  Schaffung  staatsrechtlicher  In- 
stitutionen in  Form  von  nichtterritorialer  national-kultureller 
Autonomie  beseitigt  werden  könnten.  Zu  diesem  Zwecke  ist 
erforderlich  ,,die  Loslösung  der  mit  den  Kulturfragen  (Volks- 
bildung etc.)  verbundenen  Funktionen  des  Staates  sowie  der 
Selbstverwaltungsorgane  und  deren  Übergabe  an  die  Nation, 
d.  h.  an  besondere  Institute,  die  von  den  Mitgliedern  dieser  Na- 
tion gewählt  werden".  Der  Kongreß  äußerte  sich  gegen  die 
Forderung  einer  Wiederherstellung  Polens  sowie  gegen  kon- 
stituierende Versammlungen  für  die  Grenzmarken  und  bekräf- 
tigte die  Resolution  betreffend  die  Bekämpfung  der  zionistisch- 
sozialistischen Fraktionen.  —  Seit  den  Oktobertagen  des 
J.  1905  beginnt  eine  neue  Periode  in  der  Entwicklung  des  B. 
als  einer  revolutionären  Organisation.  Es  wurden  neue  Methoden 
zur  ,, eigenmächtigen  Aneignung  bürgerlicher  Freiheiten  und 
zur   Ausnutzung   legaler   Möglichkeiten"   geschaffen.      Der   B. 


Der  jüdische   Arbeiterbund  in   Rußland  und   Polen.  303 

arbeitete  in  voller  Öffentlichkeit,  löste  aber  die  geheimen  Or- 
ganisationen nicht  auf.  Aus  den  innerorganisatorischen  Fragen 
trat  die  Frage  betreffend  die  Einigung  mit  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  Rußlands  und  die  Reorganisation  des  B.  auf. 
Außerdem  beschäftigte  den  B.  die  Frage  wegen  der  Stellung 
zur  Duma,  zur  Gründung  von  Gewerkschaften,  zu  den  ,, Ex- 
propriationen" usw.  Die  praktische  Notwendigkeit  einer  Eini- 
gung führte  während  der  Periode  der  politischen  Belebung  zu 
einer  Koordinierung  der  Tätigkeit  des  B.  mit  der  Tätigkeit  der 
Gesamtpartei,  sowie  zur  Schaffung  vorübergehender  Koali- 
tionen (Wilna,  Riga  usw.).  Im  Dez.  1905  schlug  die  Partei  eine 
Konferenz  vor,  die  die  Einigungsfrage  behandeln  solle.  Der  B. 
nahm  den  Vorschlag  an,  die  Konferenz  blieb  aber  aus,  kurz  vor 
dem  Parteitag  fand  in  Bern  (März  1906)  die  VII.  Konferenz 
des  B.  statt.  Die  Delegierten  wurden  auf  den  allgemeinen  Ar- 
beiterversammlungen gewählt.  Die  Konferenz  genehmigte 
folgende  Einigungsbedingungen:  Unbeschränktheit  der  Tätig- 
keit des  B.  in  territorialer  Hinsicht,  Beibehaltung  des  natio- 
nalen Programms  und  Autonomie  in  den  Angelegenheiten  der 
inneren  Organisation.  Im  April  1906  fand  der  ,,Einigungs"- 
Parteitag  der  sozialdemokratischen  Partei  Rußlands  (in  Stock- 
holm) statt,  der  die  Einigungsbedingungen  mit  den  polnischen 
und  lettischen  Sozialdemokraten  sowie  mit  demB.  durchberaten 
hat.  Der  Parteitag  genehmigte  den  Entwurf  der  Einigungs- 
statuten mit  dem  Paragraphen  von  der  territorialen  Unbe- 
schränktheit, ließ  aber  die  Frage  wegen  des  nationalen  Pro- 
gramms des  B.  offen.  Nach  dem  Parteitag  begann  in  den  bun- 
distischen  Reihen  eine  lebhafte  Polemik  wegen  der  Einigungs- 
bedingungen (Wochenschrift  ,, Unser  Wort"):  die  Minderheit 
war  gegen  die  Einigung,  die  Mehrheit  dafür.  Im  August  1906 
fand  in  Leipzig  der  VII.  Kongreß  des  B.  statt,  wo  etwa  22  700 
organisierte  Mitglieder  von  68  Delegierten  vertreten  wurden. 
Außerdem  waren  26  Personen  mit  einer  beratenden  Stimme 
anwesend.  Der  Kongreß  kam  zur  Ansicht,  daß  die  Einigungs- 
bedingungen ungenügend  seien  (Nichtvorhandensein  des  national- 
föderativen Prinzips),  genehmigte  aber  die  Statuten,  da  man 
erhoffte,  daß  die  B. -Prinzipien  eher  zur  Anerkennung  kommen 
würden,  wenn  der  B.  innerhalb  der  Gesamtpartei  sie  verfechten 


304  Der  jüdische   Arbeiterbund   in   Rußland  und   Polen. 

würde.  Nach  dem  Kongreß  wurde  mit  der  Durchführung  dieses 
Beschlusses  begonnen.  In  das  Zentralkomitee  der  Partei  traten 
zwei  Vertreter  des  B.  ein.  —  Die  Haltung  des  B.  zur  Reichs- 
duma hatte  verschiedene  Änderungen  erfahren.  In  bezug  auf  die 
Wahlen  zur  ersten  Reichsduma  vertrat  der  B.  wie  fast  alle 
revolutionäre  Organisationen  den  boykottistischen  Standpunkt. 
Aber  schon  im  Juni  1906  hob  ein  Zirkular  des  Zentralkomitees 
die  wichtige  Bedeutung  der  Duma  hervor  und  empfahl  die  Ein- 
wirkung auf  die  linksstehenden  Elemente  des  Parlaments  (zu 
der  Taktik  der  jüdischen  Deputierten  verhielt  sich  der  B.  schroff 
abweisend).  Der  VII.  Kongreß  erblickte  in  der  bevorstehenden 
zweiten  Duma  „einen  Stützpunkt"  für  die  politische  Tätigkeit 
und  beschloß  die  aktive  Teilnahme  an  den  Wahlen.  Das  Zentral- 
komitee veröffentlichte  eine  Wahlplattform  und  Direktiven, 
wonach  zur  Beseitigung  eines  rechtsstehenden  Kandidaten  Ver- 
einbarungen mit  nicht  sozialdemokratischen  Parteien  zulässig 
seien.  Die  Vereinbarungen  mit  der  „konstitutionell-demokra- 
tischen Partei"  wurden  solchen  mit  den  zionistischen  Sozialisten 
vorgezogen.  Der  B.  gründete,  in  einigen  Fällen  im  Verein  mit 
anderen  sozialdemokratischen  Organisationen,  sozialdemokra- 
tische Wahlkomitees,  die  die  ,, jüdischen  Wahlkomitees"  be- 
kämpften. Der  Wahlkampf  wurde  hie  und  da  (besonders  gegen 
die  Zionisten)  in  sehr  scharfen  Formen  gefülirt.  Der  B.  ver- 
einigte um  sich  30  Wahlmänner,  aber  in  die  Duma  kam  kein 
einziger  Bundist.  Die  Haltung  des  B.  zu  den  taktischen  Lo- 
sungen, die  im  Zusammenhang  mit  der  Fähigkeit  der  zweiten 
Duma  herausgegeben  wurden,  fiel  im  allgemeinen  mit  dem 
,,menschewistischen",  rechten  Flügel  der  sozialdemokratischen 
Fraktion  zusammen  (gegen  den  linken  Block  in  der  Duma  usw.). 
Auf  dem  Londoner  Parteitag  der  Gesamtpartei  (Mai  1907) 
wurde  auf  Vorschlag  der  B. -Vertreter  eine  Resolution  ange- 
nommen, die  der  sozialdemokratischen  Dumafraktion  eine 
größere  Aufmerksamkeit  für  das  nationale  Problem  empfahl. 
In  bezug  auf  die  Wahlen  zur  dritten  Duma  war  die  Meinung 
innerhalb  des  B.  geteilt,  aber  die  in  der  Presse  eröffnete  Dis- 
kussion (Volkszeitung  Nr.  377,  379,  380  und  390)  ergab  die 
Neigung  zur  Beteihgung  Im  Juli  1907,  auf  der  Konferenz  der 
Gesamtpartei,   äußerten  sich   die   Vertreter  des   B.  gegen   den 


Der  jüdische   Arbeiterbund   in   Rußland  und   Polen.  305 

Boykott  der  Duma,  und  die  Konferenz  beschloß  dement- 
sprechend. Vom  B.  wurden  20  Wahlmänner  gewählt.  Im  No- 
vember 1907  auf  der  Konferenz  der  Gesamtpartei  plädierten  die 
Vertreter  des  B.  für  die  Position  der  „Menschewiki".  —  In  der 
Gewerkschaftsfrage  äußerte  sich  der  B.  von  jeher  gegen  neu- 
trale Organisationen.  Die  VII.  Konferenz  sprach  sich  für  so- 
zialdemokratische Parteigewerkschaften  und  für  nationale  Sek- 
tionen innerhalb  der  allgemeinen  Vereine  aus.  Auf  der  II.  all- 
russischen Konferenz  der  Gewerkschaften  (Febr.  1906)  waren 
aus  18  Delegierten  der  Gesamtzahl  vier  Vertreter  der  bun- 
distischen  Gewerkschaften.  —  In  der  Frage  der  sogenannten 
„Partisanenkämpfe",  der  anarchistischen  Taktik  und  der  ,, Ex- 
propriationen" sprach  sich  der  B.  entschieden  ablehnend  aus 
und  bekämpfte  all  diese  Strömungen  (teilweise  auf  dem  VII. 
Kongreß;  Volkszeitung  Nr.  7,  19,  118, 149  visw.).  In  der  Pogrom- 
frage wurde  auf  der  VII.  Konferenz  eine  Protestresolution  an- 
genommen, und  im  Sommer  1906  wurde  auf  Initiative  des  B. 
eine  Konferenz  der  revolutionären  Organisationen  einberufen, 
die  sich  mit  der  Bekämpfung  der  Pogrome  beschäftigte.  —  Nach 
dem  Manifest  vom  17./30.  Oktober  1905  begann  eine  intensive 
Entwicklung  der  legalen  Presse,  hauptsächlich  in  Wilna.  Seit 
Dezember  erschien  eine  Tageszeitung  in  der  Jargonsprache: 
,, Wecker",  nach  deren  Unterdrückung  ,, Volkszeitung",  nach- 
her ,, Hoffnung"  usw.,  die  Wochenschrift  ,, Morgenstern",  die 
bald  unterdrückt  wurde.  In  russischer  Sprache  wurden  die 
Wochenschriften:  ,,Der  jüdische  Arbeiter"  (1  Num.),  ,, Unser 
Wort",  nachher  ,, Unsere  Tribüne"  (für  die  Wahlkampagne  vor 
der  zweiten  Duma)  herausgegeben,  sowie  gewerkschaftliche  Or- 
gane. Seit  Ende  1907  ist  die  Existenz  der  legalen  Presse  un- 
möglich geworden.  Die  neuen  Verhältnisse  führten  dazu,  daß 
die  Tätigkeit  des  B.  ^viederum  einen  geheimen  Charakter  an- 
genommen hat.  Er  \^airden  illegale  Organe  gegründet  (das 
Zentralorgan:  ,,Die  Stimme  des  B."  in  der  Jargon- Sprache, 
,,Das  Flugblättchen"  in  Odessa,  ,,DerGlock"  usw.).  Gleichzeitig 
damit  beginnt,  wie  bei  allen  revolutionären  Parteien,  ein  Rück- 
gang. Zum  VII.  Kongreß  zählte  man  in  den  Reihen  des  B. 
etwa  34000  Mitglieder  und  274  Organisationen,  von  denen  heute 
mehrere  nicht  funktionieren.     Die  allgemeine  politische  Krise 

Philippson,  Neuest©  Geschichte  dor  Juden,  Bd.  111.  ■^^ 


306  Der  jüdische   Arbeiterbuud  in   Rvißlaiid   und   Polen. 

übte  ihre  Wirkung  auf  die  Stimmung  mehrerer  Mitglieder  des 
B.,  besonders  der  Intellektuellen  aus  (W.  Medem:  „Briefe  über 
die  jüd.  Arbeiterbewegung"  im  „Morgenstern";  auch  „Die 
Stimme  fun  Bund").  Die  Gewerkschaften  stellten  fast  ganz 
ihre  Tätigkeit  ein.  Im  J.  1909  wurden  folgende  Vereine  ge- 
schlossen: in  Wilna  der  Bauarbeiter  (800  Mitgl.),  der  Strumpf- 
wirkerinnen (700),  der  Handlungsgehilfen  (1000),  der  Schneider 
(700- — 800)  usw.;  in  Smorgon  der  Lederarbeiter  (1800);  in  Lodz 
der  Drucker,  Bäcker,  Textilarbeiter  usw. 

Der  B.  wurde  von  den  ausländischen  Gruppen  unterstützt. 
In  der  Schweiz  existierten  seit  den  90er  Jahren  sozialdemokra- 
tische studentische  Gruppen,  die  sich  dem  B.  angeschlossen 
haben.  Außer  den  studentischen  entstanden  auch  Arbeiter- 
vereine seit  1901  (,, Kämpfer")  in  Paris,  London  (,, Wecker") 
usw.  Im  Dez.  1901  fand  der  erste  Kongreß  der  ausländischen 
Gruppen  des  B.  statt.  Im  J.  1906,  vor  der  VII.  Konferenz  des 
B.,  legten  sich  diese  Gruppen  den  Namen  ,, Vereinigte  Organi- 
sation der  Arbeitervereine  und  Gruppen  zur  Unterstützung  des 
B.  im  Auslande"  bei.  Auf  Grund  des  Beschlusses  des  VII.  Kon- 
gresses hat  die  Organisation  eine  beratende  Stimme  auf  den 
Parteitagen  des  B.  Im  Jan.  1907  fand  der  VI.  Kongreß  der 
Vertreter  von  15  Unterstützungsvereinen  und  zwei  Arbeiter- 
vereinen statt.  —  In  Amerika  entwickelten  sich  die  Unter- 
stützungsgruppen ganz  unabhängig  und  erreichten  einen  be- 
deutenden Umfang.  In  New  York  wurden  Klubs,  Landsmann- 
schaften und  Gesellschaften  zur  Unterstützung  des  B.  ge- 
gründet. Die  Unterstützung  wurde  hauptsächlich  in  Form  von 
Geldsammlungen  geleistet.  Im  Dez.  1903  fand  der  erste  Kon- 
greß aller  Sektionen  des  B.  statt,  auf  welchen  ein  ,, Zentral- 
verband der  bundistischen  Organisationen  in  Amerika"  ge- 
gründet wurde.  Der  ,, Verband"  verzweigte  sich  auch  auf 
andere  Länder  in  Amerika  (in  Argentinien  wurde  aus  den  bun- 
distischen Gruppen  der  Verband  ,,Avangard"  gegründet,  der 
ein  Organ  mit  demselben  Namen  besaß).  Am  Ende  des  J.  1905 
begannen  die  B. -Organisationen  die  Herausgabe  des  ,, Kämp- 
fers". Die  Oktober-Pogrome  im  J.  1905  gaben  den  Anlaß  zur 
Vermehrung  solcher  Gruppen.  Unterstützungsgruppen  des  B. 
tauchten   auch   in  Südafrika   auf.   —  Der  B.  übte  eine   große 


Der  jüdische  Arbeiterbiind  in   Rußland  und   Polen.  307 

Wirkung  auf  die  Bildung  einer  besonderen  jüdischen  sozial- 
demokratischen Partei  in  Galizien,  die  ein  dem  Bundistischen 
ähnliches  nationales  Programm  angenommen  hat. 

J.   Tscherikower. 

Die  bundistische  Jargon- Literatur.  —  Die  An- 
hänger der  Massenagitation  (s.  oben)  haben  mit  der  Herstellung 
von  Agitationsliteratur  in  der  Jargonsprache  im  J.  1893  be- 
gonnen, und  zwar  zuerst  in  der  primitivsten  Form  von  Hand- 
abschriften. Die  ersten  Broschüi^  waren;  „Vier  Reden" 
(gehalten  am  1.  Mai  1892),  ,, Briefe  an  die  Agitatoren"  und  ,,Über 
Agitation",  populäre  Broschüren  über  den  Arbeitstag  und  Ar- 
beitslohn,  über  Mehrwert,  über  die  Entstehung  der  Bourgeoisie, 
über  den  Tod  Alexanders  III.  Die  letzte  Broschüre  ist  interes- 
sant, weil  in  ihr  nicht  nur  das  wirtschaftliche,  sondern  auch 
das  nationale  Joch  der  jüdischen  Arbeiter  unterstrichen 
wurde.  Mit  der  Ausdehnung  der  Agitation  begannen  auch 
,, hektographische"  Abschriften  zu  zirkulieren  (1895).  Die  erste 
Broschüre,  die  auf  einem  Hektographen  vervielfältigt  wurde 
(500  Exemplare)  war  eine  Übersetzung  aus  dem  Polnischen: 
,,Was  soll  jeder  Arbeiter  wissen  und  beherzigen".  In  derselben 
Zeit  schritt  man  im  Auslande  zur  Drucklegung  (in  2  — 3  Tausend 
Exempl.)  revolutionärer  Broschüren  in  Jargonsprache,  M^obei 
zwecks  Einfuhr  nach  Rußland  die  Broschüren  ein  ,, legales" 
Aussehen  (sie  trugen  die  Stempel:  ,,Von  der  Zensur  erlaubt") 
trugen.  Die  Titel  waren  ganz  harmloser  Natur.  Die  Broschüre 
über  die  Maifeier  wurde  z.  B.  betitelt:  ,,Gut  Jom-tow",  über 
den  Arbeitstag:  ,,A  wikuach  über'n  Masel"  usw.  Gleichzeitig 
fuhr  man  fort,  die  Broschüren  hektographisch  zu  vervielfältigen. 
Auf  diese  Weise  wurden  abgedruckt  die  Broschüren  ,.Der  Stadt- 
mogid"  von  Martow  (300Exempl.),  ,,Edelstein's  Streik"  usw.  Im 
J.  1896  verbreitete  die  Arbeitergruppe  in  Wilna  6400  Exempl. 
von  Broschüren  sowie  1000  Exempl.  der  ersten  Nummer  der 
Zeitschrift  ,,Der  jüdische  Arbeiter".  Im  J.  1897  wurden  15  Jar- 
gon-Broschüren (11400  Exempl.)  vertrieben  und  zwei  Doppel- 
nummern des  ,, Jüdischen  Arbeiters".  Im  selben  Jahre  wurde 
in  Minsk  der  Versuch  gemacht,  eine  Arbeiterzeitung  ,,Arbeiter- 
Blättel"   in   der    Jargonsprache   herauszugeben.      Die   Zeitung 

20* 


308  Der  jüdische  Arbeiterbiuicl   in   Rußland  luid   Polen. 

wurde  in  70 — 80  hektographiscli  hergestellten  Exempl.  ver- 
öffentlicht. Bald  nachher  verschaffte  sich  eine  Arbeitergruppe 
in  Wilna  eine  primitive  Druckmaschine,  vermittelst  welcher 
man  dies  erste  Nummer  der  „Arbeiter-Stimme",  die  nachher 
ein  Organ  des  Bundes  wurde,  abgedruckt  hat.  Gleichzeitig 
erschien  im  Auslande  der  ,, Jüdische  Arbeiter"  (in  Form  von 
Heften  ä  5 — 8  Druckbogen),  der  für  die  aufgeklärteren  Arbeiter 
bestimmt  war  (im  ganzen  sind  17  Nummern  erschienen).  Auch 
die  Ortskomitees  beschäftigten  sich  mit  der  Veröffentlichung 
von  illegalen  Jargonzeitschriften  und  Flugblättern  (von  1000 
bis  3000  Exempl.  von  jeder  Nummer):  in  Lodz:  1.  ,,Fraihaits- 
glock"  (3  Nummern;  die  erste  im  Sept.  1901);  2.  ,, Flugblatt" 
(1  Nummer  im  April  1902);  in  Minsk:  1.  ,, Minsker  Arbeiter" 
(6  Nrn.  im  Dez.  1900);  2.  „Flugblatt"  (2  Nummern).  Ortsorgane 
gab  es  auch  in  Homel  (,, Kampf",  seit  Sept.  1900),  Bialostok 
(,,Bialostoker  Arbeiter",  seit  April  1899),  in  Ponewesh  (,,Der 
Arbeiter",  seit  Nov.  1901).  Flugblätter  wurden  veröffentlicht: 
in  Minsk  (Febr.  1902),  Kowno  (1902),  Grodno  (1901),  Berdit- 
schew  (1903),  Witebsk  (1903),  Schawli  (1904).  Außerdem  gab 
es  ein  spezielles  Organ  der  Borstenarbeiter  ,,Der  Wecker" 
(12  Nrn.).  Der  V.  Kongreß  des  B.  beschloß  die  Einstellung  der 
Ortsorgane.  Statt  dessen  wurde  mit  der  Herausgabe  des  Organes 
,,Der  Bund"  begonnen,  das  eine  große  Popularität  genoß.  Seine 
erste  Nummer  erschien  in  6000  Exemplaren  im  J.  1904.  Die 
nächsten  5  Nummern  wurden  in  derselben  Zahl  verlegt.  Die 
siebente  Nummer  erschien  in  7000,  die  8.  und  9.  in  8000  Exem- 
plaren; die  weiteren  zwei,  die  in  den  ,, Oktobertagen"  des  J.  1905 
veröffentlicht  wurden,  erschienen  in  30  000  Exempl.  Außer  den 
Nachrichten  aus  dem  Parteileben  wurden  in  der  Zeitung  Artikel 
über  soziale  und  nationale  Fragen  abgedruckt.  Diesen  Fragen 
wurden  auch  spezielle  Broschüren  gewidmet,  die  im  Auslande 
gedruckt  wurden.  Einige  unter  ihnen  trugen  einen  rein  agita- 
torischen Charakter  (,,A  Maase  fun  vier  Brider",  ,,Spinen  un 
Fligen").  Sozialwissenschaftlichen  Charakters  waren  die  Bro- 
schüren von  Marx  (Kommunistisches  Manifest),  von  Lassalle 
(Über  Verfassungswesen)  von  Kautsky  (Das  Erfurter  Programm). 
Außerdem  erschienen  Broschüren  aus  der  Geschichte  der  revo- 
lutionären Bewegung  und  Biographien  hervorragender  Revo- 


Der  jüdische  Arbeiterbiind  in   Rußland   nnd   J'olen.  309 

lutionäre  sowie  belletristische  Sachen  (,,In'm  Kampf",  „Var'n 
Sunnenaufgang"  usw.).  Der  nationalen  Frage  sind  die  Bro- 
schüren: „Di  Konstituzie  un  unsere  Forderungen",  „Autonomie 
oder  Federazie",  „Der  Zionism"  (Lonn),  „Der  Poel-Zionism". 
(M.  G.)  u.  a.  gewidmet.  In  besonderen  Fällen  wurden  zu  Agita- 
tionszwecken Flugblätter  veröffentlicht.  Besonders  oft  griff 
man  zu  den  Flugblättern  in  den  bewegten  Jahren  1904/05. 
Hunderte  von  Proklamationen  wurden  sowohl  von  den  Orts- 
wie  von  dem  Zentralkomitee  in  Umlauf  gebracht.  Die  ersteren 
veröffentlichten  die  Flugblätter  in  der  Zahl  von  1000  bis  20  000 
Exemplaren,  das  letztere  in  der  Zahl  von  20  000  bis  120  000 
Exemplaren.  Nach  dem  Manifest  vom  17./30.  Oktober  erschien 
das  erste  legale  tägliche  Organ  „Der  Wecker",  der  im  Untertitel 
die  Vermerkung  hatte:  ,, Unser  Program  is  dos  Program 
vun  Bund".  Nach  Verlauf  von  3  Monaten  wurde  ,,Der  Wecker" 
verboten,  und  die  ihm  nachfolgende  ,, Volkszeitung"  und  ,, Hoff- 
nung" hatten  schon  keinen  Untertitel.  Die  legale  bundistische 
Tagespresse  existierte  im  ganzen  2  Jahre.  Die  früher  illegalen 
Schriften  erschienen  nunmehr  legal.  Aber  seit  dem  Herbst  1907 
mußte  die  bundistische  Literatur  auf  ihre  legale  Existenz  ver- 
zichten und  der  illegalen  Platz  machen.  Außer  der  periodischen 
Presse  wurden  in  der  Zeit  nach  Oktober  1905  auch  verschiedene 
Broschüren  legal  veröffentlicht.  Es  wurden  insgesamt  etwa 
200  verschiedener  Schriften  herausgegeben  —  publizistische, 
populär -wissenschaftliche,  belletristische  Werke,  Gedicht- 
sammlungen, Dramen  usw.  — Die  bundistische  Jargon-Literatur 
hat  eine  große  Wirkung  auf  die  Entwicklung  des  Jargons  aus- 
geübt. Sie  hat  einen  bedeutenden  Kreis  von  Lesern  herangebildet 
und  somit  den  Boden  für  eine  normale  Entwicklung  der  natio- 
nalen Jargon  -Literatur  geschaffen.  Indem  sie  allgemeine  und 
wissenschaftliche  Fragen  in  leichtfaßlicher  Form  darzustellen 
suchte,  erweiterte  und  veredelte  sie  den  Jargon  und  machte  ihn 
fähig,  die  kulturellen  Bedürfnisse  der  Masse  zu  befriedigen. 

A.  L. 


Anmerkungen. 


Buch  Acht. 

Kapitel  Eins.  Zur  Geschichte  der  russischen  Juden  im 
allgemeinen.  M.  N.  Mysch,  „Rukowodstwo  k  russkomu  zakonodatielstwu 
o  jewrejach"  (russisch)  St.  Petersburg  1896;  Friede,  „Zakony  o  prawie 
schitelstwa  jewrejew  w  tschertie  ich  osiedlosti  i  wnie  onoj"  (russisch)  Izdanie 
nieofficiahioe  St.  Petersburg  1909;  Sliosberg,  „Zbornik  diejstwujuschtchich 
zakonow  o  jewTejach"  (russisch)  St.  Peter.sburg  1909;  Julij  Hessen,  ,,0  schizni 
jewrejew  w  Rossii"  Zapiska  w  Gosud.  Dumu  (russ.)  St.  Petersburg  1906; 
Orschansky,  „Jewrei  w  Rossii"  (russisch)  St.  Petersburg  1887;  M.  G.  Margulis, 
,,Woi5rosy  jewrejskoj  schizni  (russisch);  S.  Dubnow,  ,,Istoritscheskija  soob- 
schtschenja"  (russisch)  Woschod  1901,  Buch  V;  ,,Tschto  takoje  jewrejskaja 
istoria"  (russ.),  Woschod  1893,  Buch  XII;  ,,Pisma  o  starom  i  nowom 
jewrejstwie"  (russ.),  Woschod  1897  bis  1907;  „Zbornik  matierjalow  ob 
ekonomitscheskom  poloschenii  jewrejew  w^  Rossii",  2  Bände  (russ.),  Ausgabe 
d.  JKA;  A.  P.  Subbotin,  ,,W  tschertie  jewrejskoj  osiedlosti"  (russ.),  Wypusk  II, 
St.  Petersburg  1896;  Bramson,  K  istorji  natschalnowo  obrasowanja  jeA\Tejew" 
(russ.);  S.  M.  Posner,  ,,Jewreji  w  obschtschich  utschebnych  sawedienjach" 
(russ.),  Woschod  1903;  P.  Marek,  ,,Otscherki  po  istorji  proswieschtschenja 
jewrejew  w  Rossii"  (russ.),  Moskau  1909;  S.  Klausner,  „Nowoje^\Tejskaja 
literatura  19  wieka"  (1785 — 1899)  (russ.);  Jzdanie  Tuschya,  Warschau  1900; 
0.  M.  Lerner,  „Jewreji  w  noworossijskom  Kraje"  (russ.),  Odessa  1901; 
„Pereschitoje"  —  Zbornik  poswiaschtschennyj  obschtschej  i  kulturnoj  istoryi 
jewTejew  w  Rossii  —  Band  I;  Russ.  jüd.  Encyklopedie,  4  Bde,  Petersburg  1909; 
Moses  Silberfarb,  Die  Verwaltung  der  jüdischen  Gemeinden  in  Rußland 
(Berner  Doktor-Dissertation  von  1910).  Ich  durfte  das  Manuskript  dieser 
ausgezeichneten  Schrift  einsehen. 

Für  die  Geschichte  der  Juden  in  Polen:  Hilary  Nuss- 
baum,  ,,Historya  zydow  w  Polsce"  (polnisch),  Bd  V,  Warschau,  ,,Sakice 
historyczne  z  zycia  zydow  w  Warszawie"  (poln.),  Warschau  1881;  Wochen- 
schrift „Izraelita":  „Z  niedawnych  lat"  (poln.),  Advokat  S.  Colin,  9.  März 
1879;  „Zydzi  w  Polsce",  Tresciwy  rysichdziejöw  oraz  praw  wzgladem  nich 
rzadzacych  od  najdawTiiejszych  czasow",  Warschau  1880  (poln.);  Leon 
Hollaenderski,  ,,Les  israelites  de  Pologne",  (franz.),  Paris  1896;  Paperna, 
„Jewrejskijaobschtschestwennyja  zawedenja  w  gubernjach  Carstwa  Polsk.  wich 
istoritscheskom  razwitii"  (russ.),  Woschod  X,  XI,  XII,  1901.  Z  dziejöw 
gminy  starozakonnych  w  19  stul.  Tzkolnictwo  Tom  I  (poln.),  Warschau  1907; 
Przesady  antysemickie  w  swietle  cyfr  i  faktow",  przj^czynek  do  kwestyi  zy- 
dowskiej  (poln.),  ELmicie  Wydanie  ,,Wiedzy";  Ratsch,  „Polskaja  emigracya 
do  i  wo  wremja  posliedniowo  miatescha"  (russ.),  1831 — 63;  „Swjedenja  o 
polskom  miateschie  1863  w  siewero-zapadnom  Kraje  (russ.);  Agaton  Qilla, 
,,Historya  powstania  narodu  polskiego"  (poln.),  1861^ — 64;  M.  Grabienski, 
„Dzieje  historyi  polski",  Krakau  1906;  Graschdanin  1889  (65),  „Korrespon- 
dencya iz WarschaA\y",  (russ.);  Jutrzenka  1861 — 63,  Wochenschrift  (poln.)  — 

Im  besonderen:  Erziehung  Nikolaus'  I.:  Arthur  Kleinschmidl,  Drei 
Jahrhunderte   russischer    Geschichte   (Berlin   1898),    S.    324  ff .    —   Charakter 


Anmerkungen.  311 

Nikolaus' I.:  Th.  Schiemann,  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser  Nikolaus  I.. 
Bd  II,  Berlin  1908),  S.  86,  91  ff,  97  ff,  399.—  Nikolaus'  T.  Wahrspruch:  Lilien- 
thal,  Russische  Skizzen  (AUg.  Zeit.  d.  Judent.,  1847,  S.  684).  —  Nikolaus  Ver- 
fahren in  den  baltischen  Provinzen:  J.  Eckhardt,  Fünfzig  Jahre  russischer 
Verwaltung  in  den  baltischen  Provinzen  (Leipzig  1883).  —  Verordnungen  vom 
21.  6.  1838  und  27.  11.  1836;  Allg.  Zeit.  d.  Judent.,  Jahrg.  1839.  S.  102,  136.  — 
,, Juden  in  den  allgemeinen  Schulen"  (1840),  russisch  geschriebener  Aufsatz 
von  S.  M.  Posner,  Woschod,  1903.  —  Über  Lilien  thal  und  sein  Wirken:  Allg. 
Zeit.  d.  Jud.  1840 — 43  und  besonders  Lilienthals  „Russische  Skizzen",  cbendas. 
Jahrg.  1847;  sowie  L's.  Schilderungen  ,, Meine  Reisen  in  Rußland",  Jüdi- 
sches Volksblatt,  1856.  —  Liberaler  Ausspruch  Nikolaus'  I. :  Allt;.  Zeit.  d. 
Jud.,  1842,  S.  743. 

Kapitel  Zwei.  Genehmigung  des  Zaren  zu  der  Reise  Lilienthals: 
Leon  Scheinhaus,  Die  Geschichte  der  russischen  Juden  im  19.  Jahrhundert 
(Berlin  1901),  S.  34.  —  Über  die  jüd.  Kolonisation  unter  Nikolaus  I. :  Jui.Elk,  Die 
jüd.  Kolonien  in  Rußland  (Frankfurt  a.  M.,  1886),  nach  amtlichen  Quellen. 
Daneben  die  Allg.  Zeit.  d.  Judentums.  —  Wirkung  der  Vertreibung  der  Juden 
vom  flachen  Lande:  Jos.  Meisl,  Ein  Memorandum  der  russischen  Regierung 
(Monatsschr.  f.  Gesch.  u.  Wissensch.  d.  Judent.  Jan. -Febr.  1910,  S.  6).  — 
Domänenminister  Graf  Paul  Kisselew  ehemals  Mitglied  des  russischen  ,, Tugend- 
bundes": M.  Wischnitzer,  Die  Universität  Göttingen  und  die  liberale  Idee  in 
Rußland  (Berlin  1907),  S.  164.  —  Katharina  IL  an  den  Fürsten  Wjasemsky: 
B.  V.  Bübassow,  Geschichte  Katharinas  IL,  deutsche  Übersetzung,  Bd.  IL,  I 
(Berlin  1893),  8.  .'jSI  ff.  —  Protassow  und  die  Russifizierung  der  Griechisch- 
LTnierten:  Arth.  Kleinschmidt,  Drei  Jahrhunderte  russischer  Geschichte  (Berlin 
1898),  S.  342  f.  —  Verfolgung  des  Deutschtums  vind  Luthertums  in  den  bal- 
tischen Provinzen:  J.  Eckardt  a.  a.  0.,  S.  19,  21  f.  73  f.  84  ff.;  Die  baltische 
Revolution  (eingeleitet  und  verbürgt  von  Prof.  B.  Schiemann),  Bd.  I  (Berlin 
1906),  S.  3,  76  ff.  — Die  Denkschrift  des  Judenkomitees  von  1843:  Jos.  Meisl, 
a.  a.  O.,  S.  1 — 13.  —  Über  die  jüdischen  Krons-  und  Rabbinerschulen  besonders: 
Leon  Scheinhaus,  a.  a.  O.,  S.  44  ff .  —  Charakterisierung  der  Juden  im  nörd- 
lichen Polen:  Schalom  Asch,  Das  Kolaer  Gäßchen;  Bilder  aus  dem  Ghetto, 
übertragen  von  Stefania  Goldenring  (Berlin  1907).  —  Schilderung  eines  fast 
ausschließlich  jüdischen  Ortes  bei  Schalom  Asch,  Das  Städtchen  (deutsche 
Übersetzung,  Berlin  1909).  —  Ebendas.  S.  92  ff .  158,  der  Einfluß  der  Chassidim 
auf  die  gesamte  jüdische  Bevölkerung.  —  Über  die  zivilisatorische  Wirkung 
der  Allg.  Zeit.  d.  Judentums  im  damaligen  russischen  Judentum:  Max  Lilien- 
thal, Meine  Reisen  in  Rußland  (Jüdisches  Volksblatt,  1856,  S.  130).  —  Über 
die  Chronik  der  russischen  Juden:  Bericht  des  Ministers  des  Innern,  Lanskoi, 
an  .Alexander  IL;    Aug.  Scholz,  Die  Juden  in  Rußland  (Berlin  1900),  S.  21  f. 

Kapitel  Drei.  Wochenschrift  Izraelita,  1879,  1880.  —  Allg.  Zeit.  d. 
Judent.  —  Über  die  Zurückweisung  der  Juden  durch  die  Polen  während  der 
revolutionären  Kämpfe  des  Jahres  1830,  s.  meinen  Bd.  I,  S.  236  ff.  —  Brief 
Ostrowskis:  Leon  Hollaenderski,  Les  Israelites  de  Pologne  (Paris  1846),  ein 
Buch,  das  auch  sonst  mehrfach  als  Quelle  gedient  hat.  —  Ferner  Katsch, 
Polnische  Emigration  vor  und  während  des  letzten  Aufstandes,  1831 — 1863 
(russ.).  —  Über  das  innere  Leben  der  polnischen  Judenheit  1831 — 1855: 
A.  Paperna  im  Woschod,  1901;  Z  dzieje  gminy  Starozakonnj^ch  w  19  st. 
Szkolnictwo,  Bd.  I  (Warschau  1907).  —  Über  die  jüd.  Ackerbaukolonien  in 
Rußland:  Sbornik  materjalow^  ob  ekonomitscheskow  poloschenii  jewrejew  w 
Rossii;  sedanic  sea. 

Buch  Neun. 

Kapitel  Eins.  Über  Alexander  IL :  Arthur  Kleinschmidt,  a.  a.  O., 
S.  390;  V.  Samson.-Himmelstjerna,  Rußland  unter  Alexander  III.  (Leipzig  1891), 
S.  71;  Cardonne;  L'empereur  Alexander  IL  (Paris  1883);  Iwan  Golowin,  Rußland 


312  Anmerkvmgen. 

unter  Alexander  II.  (Leipzig  1870).  —  Graf  Lanskoi:  Scholz,  a.  a.  O.,  S.  21  ff.  — 
Der  Protest  der  russischen  Schriftsteller  gegen  die  Jllustrazija,  das.  S.  241  ff. 

—  Zu  den  Reformen  in  den  ersten  Zeiten  Alexanders  II.:  Scholz,  a.  a.  O. 
S.  23,  244  ff.  —  Die  Wirkungen  des  Handwerkergesetzes  von  1865:  J  e  w  i  s  h 
Colonization  Association,  Recueil  des  materiaux  pour  la  Situation 
economique  des  Israelites  de  Russie,  Bd.  I  (Paris  1906),  S.  401  ff.  —  Die  Schule 
von  St.  Petersburg:  Allg.  Zeit.  d.  Judent.,  1896,  S.  235  f.  —  Die  Schule  in  Mos- 
kau: das.  1871,  S.  640.  —  Die  Zahl  der  Juden  an  den  höheren  Schulen: 
Posner:  Jewrei  w  obschtschach  wezchn.  zawedenjach  koschod  1903.  —  Die 
Juden  in  Sibirien:  Allg.  Zeit.  d.  Judent.,  1872,  S.  834  f;  878,  S.  697.  —  Über 
die  damalige  jüdische  Journalistik:  Simon  Dubnow,  Pisma  a  starom  i  nowom 
jewreistwie  (Odessa    1897,  1907).  — 

Kapitel  Zwei.  Über  die  Schulennot  der  Juden  in  Polen:  Allg.  Zeit, 
d.  Judent.,  1857,  S.  110  f.  —  Feindschaft  der  russischen  Regierung  in  Polen  gegen 
die  Juden:  Russische  und  jüdische  Encykiopädie,  Bd.  II.  — Die  Erwählung  von 
Juden  in  die  Distriktsräte:  Izraelita,  8.  Mai  1879.  —  Über  Chassidismus : 
S.  M.  Dubnows  ausgezeichnete  Abhandlung  in  der  Jewish  Encyclopaedia, 
VI,  251  ff. ;  Hilary  Nusbaum,  Szkice  historyczne  z  Zycia  Zydow  w  Warszawie 
(Warschau  1881);  Low,  Vergangenheit  und  Gegenwart  der  Chassidäer  (1859). 

—  Über  die  Beteiligung  der  Juden  am  polnischen  Aufstande  des  Jahres  1863: 
B.  Ratsch,  CBij;iiiiH  o  no.ii,eKOMi  (u)  MaxeiKi  ISbS  r.  Et  ctBcpo  sanajiiOMt  Kp;\t. 

—  Die  Kämpfe  innerhalb  der  Warschauer  Gemeinde:   Hil.  Nusbaum,  a.  a.  O. 

—  Eröffnung  des  Staatsdienstes  für  die  Juden  Polens:  Allg.  Zeit.  d.  Judent., 
1866,  S.  237. 

Kapitel  Drei.  Die  Partei  der  Altrussen  oder  Slawophilen:  Liwoff, 
Michel  Katkow  et  son  epoque  (Paris  1897);  N.  J.  Danilewsky,  Rußland  und 
Europa  (3.  Aufl.  Petersb.  1888).  —  Dostojewsky  über  die  Juden:  Tagebuch  eines 
Schriftstellers  im  ,,Graschdanin,"  März  1877.  —  Reaktionäre  Wendung  des 
Zaren  seit  der  Glitte  der  sechziger  Jahre:  Ferd.  Neubiirger,  Rußland  unter 
Kaiser  Alexander  III.  (Berlin  1894),  S.  33.  —  Bigotterie  und  Verfolgungssucht 
des  Zaren:  Art.  Kleinschmidt,  a.  a.  O.,  S.  413.  —  Das  Rundschreiben  Markows 
vom  April  1880:  Allg.  Zeit.  d.  Judent.,  1882,  S.  571.  —  Über  die  Schulzustände: 
Leon  Scheinhaus,  a.  a.  O.,  S.  62.  —  Jüdische  Ackerbaukolonien:  Allg.  Zeit.  d. 
Judent.,  1879,  S.  169,  777.  —  Vgl.  das  mehrfach  zitierte  Buch  von  Aug.  Scholz, 
Die  Juden  in  Rußland. 

Buch  Zehn. 

Kapitel  Eins.  Über  Alexander  III. :  Die  bereits  angeführten  Werke 
von  Neubürger,  Samson -Himmelstjerna,  Kleinschmidt:  dann  Notowitsch, 
Alexander  111.  und  seine  Umgebung  (Deutsche  Übers.,  Leipzig  1894);  Denk- 
würdigkeiten Chlodwigs  von  Hohenlohe,  Bd.  II  (Stuttg.  1907),  S.  482.  —  Vor- 
gehen gegen  Luthertum  und  Deutschtum  (Schiemann),  Die  lettische  Revo- 
lution (Berlin  1906,  1907),  I  84 ff..  112  ff,  135  ff.,  II  33  ff.  41  ff.  61  f.  —  Die  Po- 
grome von  1881  und  1882  nach  den  damaligen  jüdischen  Zeitungen,  sowie  nach 
dem  noch  oft  anzuführenden  Werke:  ,,Die  Judenpogrome  in  Rußland,  heraus- 
gegeben von  dem  Zionistischen  Hilfsfonds  in  London",  Bd  I  (Köln  und  Leipzig 
1910),  S.  16  ff.  189.  —  Die  Teilnahme  der  Polizei  an  den  Judenkrawallen  von 
1881  ist  durch  die  sonst  durchaus  antisemitische  ,,Nowoje  Wremja"  vom 
3Iai  1881  bezeugt.  —  Katharinas  IL  ^Manifest  gegen  den  russischen  Wucher: 
C.  von  Bilbassow,  Geschichte  Katharinas  IL,  deutsche  Übers.  (Berlin  1893), 
Bd.  II,  I  276  ff.  Über  die  Unredlichkeit  des  russischen  Volkes  und  zumal  des 
Kaufmanns:  der  ausgezeichnete  Kenner  der  nissischen  Zustände  Sir  Donald 
Mackenzie  Wallace,  Rußland  (4.  deutsche  Auflage,  von  Friedr.  Purlitz,  Würz- 
burg 1906),  S.  212.  —  Ökonomische  Folgen  der  ^laigesetze  für  die  Juden: 
Alexander  Ular,  Die  russische  Revolution  (Berlin  1905),  S.  304  ff.  —  Über  Smo- 


Anmerkungen.  313 

lenski,  Lilienblum  und  den  Vorzionismus  s.  meinen  Bd.  II,  S.  155  f ;  über 
Lilienblum  noch  den  Aufsatz  von  Sim.  Bernfeld  in  „Ost  und  West",  1910,  S.  212  ff. 
—  Zu  den  freundlichen  Äußerungen  der  meisten  Lokalkommissionen  sowie 
Erklärung  durch  die  ,,Nowoje  Wremja"  bei  Scheinhaus,  a.  a.  O.,  S.  72  ff.  — 
Erklärung  Leo  Tolstois  und  seiner  Genossen  zugunsten  der  Juden  im  Berliner 
Börsenkourier,  16.  Dez.  1890.  —  Über  die  Judenkommission  von  1883: 
L.  Errera,  Les  Juifs  nasses  (Brüssel  1893),  S.  20  ff  —  Auszüge  aus  der  Schrift 
Demidows:  Scholz,  a.  a.  O.,  S.  249  ff. 

Kapitel  Zwei.  Rußland  und  Armenien:  Lehmann  > Haupt,  Arme- 
nien einst  und  jetzt  (Berlin  1910),  S.  63  f.  —  Die  angeblichen  jüdischen 
Prostituierten:  Errera,  a.  a.  O.,  S.  31,  nach  Leroy-Beaulieu.  —  Die  gesetz- 
geberischen Vorgänge  nach  ,,Die  Judenpogrome  in  Rußland",  Bd.  I,  und  den 
jüdischen  Blättern  der  Zeit.  —  Auswanderung  1891:  Pogrome  I  120,  1892 — 94: 
AUg.  Zeit.  d.  Jud.,  1895. 

Kapitel  Drei.  Zu  diesem  hauptsächlich:  Sbornik  materjalow  ob 
ekonomitscheskom  jjoloschenji  jewrejew  w  Rossii,  Bd.  I  (Izdanic  ICA,  1904); 
ferner :  Bureau  für  Statistik  der  Juden,  Die  sozialen  Ver- 
hältnisse der  Juden  in  Rußland. 


Buch  Elf. 

Kapitel  Eins.  Jüdische  Blätter,  besonders  die  Allg.  Zeit.  d.  Judent. 
und  ,, Pogrome",  Bd.  I. 

Kapitel  Zwei.  Die  Pogrome  des  Jahres  1903:  ,, Die  Judenpogrome 
in  Rußland",  Bd.  II,  S.  5 — 44.  —  Weiteres  hauptsächlich  nach  den  jüdischen 
und  allgemeinen  Blättern. — Vorzugsweise  Verwendung  jüdischer  Arzte  im  Kriege 
und  ihre  Gründe:  Ular,  Die  russische  Revolution,  S.  311.  —  Dass.  S.  308  f.  die 
Beteiligung  des  Gouverneurs  am  Pogrom  von  Kischinew  (I).  —  Die  Juden  und 
die  Anfänge  der  Revolution:  S.  J.  Onauchi,  Chajim  Woltersmann,  übertragen 
von  Th.  Zlocisti,  Aus  einer  stillen  Welt,  Bd.  II  (Berlin  1910).  —  Georg  Zepeler 
über  die  jüdischen  Revolutionäre  in  Rußland:  „Neue  Demokratie"  (Berlin 
1909),  S.  130  f.  —  Die  Vorgeschichte  der  Revolution  im  allgemeinen  bei  D.  M. 
Wallace,  Rußland  (4.  deutsche  Auflage,  Würzburg  1906),  II,  330  ff.  —  Über 
den  „Bund",  s.  Anhang. 

Kapitel  Drei.  Hier  war,  neben  einzelnen  Zeitungsnachrichten,  die 
Hauptquelle  das  schon  öfter  genannte  zweibändige  Werk:  Die  Judenpogrome 
in  Rußland,  herausgegeben  von  der  zionistischen  Kommission,  Köln  und 
Leipzig  1910,  durchaus  auf  aktenmäßigen  Angaben  beruhend.  —  Ferner:  Die 
Ms.-Sammlung  des  Hilfsvereins  der  deutschen  Juden  (s.  Vorwort  dieses  Ban- 
des). —  Über  die  früheren  friedlichen  Verhältnisse  zwischen  Juden  und  den 
niederen  Massen  des  russischen  Volkes:  Alexander  Ular,  Die  russische  Revo- 
lution (Berlin  1905)  S.  301. 

Kapitel  Vier.  Für  dieses  ganze  Kapitel  die  Als. -Sammlungen  des 
Hilfs Vereins  der  deutschen  Juden  (s.  Vorwort.).  — Die  russische  Religiosität: 
Beruh.  Stern,  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Rußland,  Bd.  I  (Ber- 
lin 1907),  S.  112  ff.  (übrigens  ist  das  ganz  unwissenschaftliche  Buch  nur 
mit  großer  Vorsicht  zu  gebrauchen,  lediglich  da,  es  wo  sich  auf  beglaubigte 
Vorfälle  stützt).  Aber  auch  Wallace  sagt  1169:  „Die  religiösen  Vorstellungen 
der  russischen  Bauern  sind,  obgleich  sie  Christen  heißen,  von  denen  der  heid- 
nischen Finnen  nie  sehr  verschieden  gewesen ;  auch  sie  setzen  unbedingtes  Ver- 
trauen in  religiöse  Formeln  und  Zeremonien".  —  Über  die  offiziellen  Schläch- 
tereien der  Drahoborzen:  J.  W.  Blenstock,  Tolstoi  et  les  Doukhobors,  faits 
historiques,  reunis  et  traduits  du  Russe  (Paris  1902).  — Über  die  Armeniergreuel: 
Lehmann- Haupt,  Armenien  einst  und  jetzt  (Berlin  1910),  S.  64.  113.  130.  150  f. 
—  Über  die  Vorgänge  in  den  Ostseeprovinzen:  „Die  lettische  Revolution".  Mit 


314  Anmerkungen. 

einem  Geleitworte  von  Prof.  Theod.  Schiemann  (der  die  volle  wissenschaftliclie 
und  moralische  Verantwortung  übernimmt),  2  Bde.  Berlin  1906 — 07 ;  „Baltische 
Revolutionschronik,"  als  Beilage  zur  „Baltischen  Monatsschrift",  1906 — 1909. 
—  Die  Stimmung  unter  den  russischen  Juden  nach  den  Pogromen:  ,,Chajim 
Woitermann"  von  J.  S.  Onauchi,  übertragen  von  Th.  Zlocisti,  Eine  stille  Welt 
(Berlin  1910),  Bd.  II.  —  Die  Dichtersteilen  bei  Berth.  Feiwel,  „Junge 
Harfen",  und  in  der  Übersetzung  von  Morris  Rosenfelds  ,, Lieder  des  Ghetto" 
von  demselben  Feiwel.  —  Die  Hungersnot  und  die  angeblich  jüdischen  Damen: 
Alexander  lllar,  Bericht  über  seine  Erlebnisse  in  Rußland;  Wiener  ,,Zeit", 
13.  Jan.  1907.  —  Rede  Stolypins  in  der  Duma  über  die  bevorzugte  Stellung  der 
Orthodoxen  in  Rußland,  vom  4.  Juni  1909:  Schultheß=Rieß,  Europäischer  Ge- 
schichtskalender, Jahrg.  1910,  S.  566  f.  —  Über  die  Tätigkeit  der  ICA.  in  Ruß- 
land, die  Rapports  pour  l'annee  1908  und  1909  (Paris  1909  und  1910).  —  Die 
Vorgänge  im  IJexcmber  1905  und  im  Jahre  1906:  ,,Allg.  Zeit.  d.  Judent."  und 
„Jüdische  Presse".  — Die  gegenwärtigen  Verhältnisse  unter  den  russischen  Juden 
großenteils  nach  den  Angaben  eines  vorzüglichen  Kenners  Herrn  D.  Feinberg, 
sowie  nach  dem  von  der  ICA.  herausgegebenen  Recueil  des  Materiaux  sur  la 
Situation  economique  des  Israelites  de  Russie  (2  Bde.  Paris  1906  u.  1908). 
Ferner  die  Berichte  der  AUiance  Israelite  Universelle  für  die  Jahre  1908  u. 
1909.  Endlich  M.  J.  Mysch,  Handbuch  der  russischen  Gesetze  betr.  die 
Juden;  Ergänzung  für  1908  u.  1909  (russisch,  St.  Petersburg  1910).  —  Die 
jüdische  Presse  in  Rußland:  J.  B.  Wolffsohn,  Die  Zeitungswelt  in  Rußland 
(St.  Petersburg  1910). 

Kapitel  Fünf.  Die  Pogrome  in  Polen  1881—1902  in  „Die  Juden- 
pogrome in  Rußland",  I  134 — 186.  —  Die  gewerblichen  Daten  nach  dem 
Recueil  des  materiaux  sur  la  Situation  economique  des  Israelites  en  Russie, 
herausgegeben  von  der  Jewish  Colon  ization  Association, 
Bd.  I,  II  (Paris  1906  u.  1908).  —  Sonst  nach  freundlichen  Angaben  des 
Herrn  D.  Feinberg  und  der  Frau  Dr.  Salomea  Levite.  —  Über  die  Zahl  der 
Juden  Polens  nach  der  Volkszählung  1907:  Zeitschr.  f.  jüd.  Stat.  1911,  S.  15  f. 


Alphabetisches  Personenregister 

für  alle  drei  Bände. 

Die  römische  Ziffer  bezeichnet  den  Band,  die  arabische  die  Seitenzalil. 


A. 

Abasa,   russischer  Minister,   III   107. 
Abd-el-Kader,  Führer  der  algerischen 

Moslemin,  I  220. 
Abd-er-Racliman,   Sultan,  II  325. 
Abdul-Asis,  türkischer  Sultan,  II  312. 
Abdul  -  Asis,    Sultan    von    Marokko, 

II  326. 

Abdul-Hamid  II,  Sultan,  II  162,  312, 

314  f. 
Abdul-Medschid,    Sultan,    300,    308, 

310  f. 
Abel,     bayrischer    Ministerpräsident, 

I  245. 
Aberdeen,  Lord,  II  150. 
Abraham,  Dr.  Mayer,  II  270. 
Abramowitsch,    Jakob,    Novellist,    II 

172. 
Abramsohn,  M.,  Wirklicher  Staatsrat, 

III  262. 

Acsadi,  Ignaz,  Historiker,  II  279. 
Adams,      Hannah,      Geschichtschrei - 

berin,  I  170. 
Adler,  amerikanischer  Rabbiner,  1 389. 
Adler,  Distriktsrabbiner,  I  363. 
Adler,    Hermann.    Chief-Rabbi    von 

England,  II  181. 
Adler,  Landrabbiner,  I  350  f. 
Adler,    Nathan    Markus,    Chiefrabbi, 

I  224,  226. 
Afanassiew,  Pope,  III  256. 
Agai,  Adolf,  Schriftsteller,  II  280. 
Aguilar,    Miß    Grace,    Novellistin,    I 

224. 
Ahlwardt,    Rektor,    II    41,    47—49, 

54  f. 
Aker-Douglas,     englischer     Minister, 

II  207. 


Aksakow,    Iwan  Sergej e witsch,    rus- 
sischer Politiker,  III  62,  95,  104. 
Alexander,   Bernhard,  Ästhetiker,  II 

279. 
Albedinsky,     russischer     Generalgou- 
verneur, III  128. 
Alexander,     Fürst     von     Bulgarien, 

II  341. 

Alexander  III.,  Zar,  II  150,  174. 
Alexander   L,   Kaiser   von   Rußland, 

I  73—75,  94,  1351,  141  f.,  III 
322,  24. 

Alexander  IL,  Kaiser  von  Rußland, 

III  38.  43,  55,  59—68,  70  f.,  73  f., 
76—78,  87  f.,  94,  102—104,  106 
bis  108,  112,  115,  117,  153,  161, 
229,  275. 

Alexander  III.,  Kaiser  von  Rußland, 
III  67,  93,  115—119,  125  f.,  139, 
142—144,  153,  157,  159,  180,  245, 
275. 

Alter,  Meyer,  Warschauer  Oberrab- 
biner, III  83. 

Amyritor,  Gerhard  von,  Schriftsteller, 

II  16. 

d'Ancona,  Alessandro,  Philologe  und 
Literaturhistoriker,  Bürgermeister, 
II  282. 

Ancillon,  von.  preußischer  Kultus- 
minister, I   111. 

Andrassj-,  Graf  Julius,  ungarischer 
Ministerpräsident,  I  392. 

Andre,  französischer  Kriegsminister, 
II  111. 

Angel,    Schemaja,     Bankier,    II    309. 

Anossow,  russischer  Polizist,  III 251. 

Antokolsky,  jüdischer  Bildhauer,  III 
145,  172. 

Anspach,  Jules,  Schriftsteller,  I  219  f. 


316  Alphabetisches   Personenregister   für   alle   drei   Bände. 


Anton,  König  von  Sachsen,  I  252. 

AntoneUi,  Kardinal -Staatssekretär,  I 
338. 

Apponyi,  Graf,  ungarischer  Kultus- 
minister, II  94,  199. 

Arbib,   Edvardo,   Journalist,   II  282. 

Arendt,  Otto,  Politiker,  II  260. 

Arnheim,  Dr.,  Landtagsabgeordneter, 
II  269. 

Arnhold,   Großhändler,  II  261. 

Arnim,  Graf,  I  310. 

Arnstein,  Baronin  Fanny  von,  I  86. 

Artom,  italienischer  Diplomat,  I  385. 

Aronsohn,  Abgeordneter,  II  263. 

Ascherson,   Paul,   Botaniker,   II  260. 

Ascoli,    Graziadio,   Professor,    II  282. 

Asantschewsky-Asantschejew,  russi- 
scher Gouverneur,  III  225. 

Asch,  Schalom,  Schriftsteller  III  41. 

Askenasi,  Bohor  Effendi,  Unter- 
präfekt,  II  315. 

Askenfeld,  Israel,  Dramatiker,  II  171. 

Asser,  Karl,  niederländischer  Staats- 
rat, I  127. 

Assing,  Dr.,  Mihtärarzt,  I  84. 

Astruc,  Z.,  Bildhauer,  II  283. 

Aub,  Rabbiner,  I  351. 

Auerbach,  Benjamin  Hirsch,  Landes- 
rabbiner, I  199. 

—  Berthold,  Romanschriftsteller,  II 
258. 

—  Isak  Levi,  jüdischer  Reformer, 
I  159,  164,  III  14. 

—  Samuel,  II  262. 
Aufrecht,  Orientalist,  II  259. 
August,  preußischer  Prinz,  I  118. 
Augusta,  Kaiserin,  II  16,  19. 
Auspitz,     Rudolf,     Zuckerfabrik,     II 

272. 
Avigdor,  französischer  Sekretär,  I  16. 
Aylesworth,  kanadischer  Minister,  II 

219. 
Azeglio,     Massimo     d',     italienischer 

Schriftsteller  und  Politiker,  I  291. 

Bach,  Alexander,  österreichischer  Mi- 
nister, I  317. 
Bachem,  Abgeordneter,  II  53. 
Bacher,  Eduard,  Redakteur,  II  274. 

—  Simon,   Dichter,   II  278. 

—  Wilhelm,  Literarhistoriker,  II  279. 

—  Wilhelm,  Orientalist,  II  279. 
Bachmann,   L.,   Ingenieur,  II  283. 
Badeni,     Graf,     österreichischer     Mi- 
nisterpräsident, II  86. 


Bader,  von,  russischer  General,  II 
256. 

Baginski,   A.,   Mediziner,   II  260. 

Bail,  französischer  Schriftsteller,  I  91, 
121. 

Bakonyi,  Samuel,    Politiker,    II  280. 

Balassa,  Josef,  Sprachforscher,  II  279. 

Balfour,  englischer  Premierminister, 
II  208. 

Ballai,  Ludwig,  Ministerialrat,  Jurist, 
II  279. 

Ballin,  Albert,  Direktor  der  Ham- 
burg-Amerika-Linie, II  261. 

Bamberger,    Ludwig,     Abgeordneter, 

II  5,  27,  32,  261,  264. 

—  Salomon,  Distriktsrabbiner,  1 198, 
363. 

Banaczi,  Josef,    Literarhistoriker,    II 

279. 
Bank,  Advokat,  III  126. 
Baranow,    Graf,    russischer    General - 

gouverneur,  III  104. 
Bardowski,  russischer  Polizeibeamter, 

III  217. 

Barkany,  Maria,  Opernsänger,  II  278. 
Barnay,  Ludwig,  Schauspieler,  II  259, 

278. 
Baron-Hirsch-Stiftung  II  277. 
Baron,  Julius,  Jurist,  II  260. 
i   —  Jonas,  Mediziner,  II  279. 
Barrafael,   jüdischer  Major  in   Rom, 

I  68. 
Baruch,  Handelskammerpräsident,  II 

264. 
Baruch    von    Tulschin,    Führer    der 

Chassidim,  III  82. 
Bassermann,  badischer  Abgeordneter, 

I  252. 

Bator,  Isidor,  Komponist,  II  278.' 
Battyany,  ungarischer  Ministerpräsi- 
dent, I  303. 
Bauer,  Bankier,  II  273. 

—  Landrat,  I  300. 
Bauernfeld  II  275. 

Baumann,  Gustav,  Domänendirektor, 

II  223. 

—  Isaak,  Bankdirektor,  II  223. 
Baumgarten,     Isidor,     Kronanwalts- 

Substitut,  II  279. 

—  Professor,  II  27. 

Baumhorn,  Leopold,  Architekt,  II 
278. 

Baur,  Ferd.  Christ.,  christlicher  Theo- 
loge, I  202. 

Beck,   Dionysius,   Finanzier,   II  280. 

—  Hugo,  Senatspräsident  d.  König!. 
Kurie,  II  279. 


Alphabetisches   Personenregister  für  aUe  drei   Bände 


317 


Beck,  Karl,  Lyriker,  II  258. 
Bedarrides,  Rechtswissenschaftler,  II 

283. 
Beer,  Adolf,  Historiker,  II  259. 

—  Dr.  Bernhard,  jüdischer  Philan- 
throp, I  201. 

Beer,  Frau,  I  54,  83. 

—  Jakob,  Bankier,  I  159. 

—  Peter,  jüdischer  Reformer  in  Böh- 
men, I  173. 

—  Philanthrop,  II  283. 

—  Wilhelm,  Geheimrat,  I  309. 
Beer-Bing,  Jesaia,  Elsässer  Apologet, 

I  5. 

Beeth,  Lola,  Sängerin,  II  259. 

Behrend,  Dr.  Privatdozent,  I  369. 

Belochostow,  russischer  Polizeibe- 
amter, III  216. 

Benas,  L.,  Kaufmami,  I  300. 

Ben-Avigdor,  Romanschriftsteller,  II 
169. 

Benckendorf,  russischer  Minister,  III 
23. 

Benda,   Georg,  II  267. 

—  Stadtrat,  I  268. 

Ben-David,  Lazarus,  jüdischer  Philo- 
soph, I  53,  149  f.,  152,  168. 

Bendemann,  Eduard,  Maler,  II  259. 

Benedikt,  Dr.,  Hofkapellmeister,  II 
267. 

—  Finanzier,  II  266. 
Benfey,  Orientalist,  II  259. 
Benjamin,  Juda  P.,  Senator,  Staats- 
sekretär, II  295. 

Benjamin  von  Tudela,  Reisender,  II 
299. 

Ben-Jehuda,  Redakteur,  II  170. 

Beniowski,  polnischer  Major,  III  47  f. 

Bensabath,  Marcos,  portugiesischer 
Offizier,  I  134. 

Berek  Jusilowicz,  jüdischer  Freiheits- 
kämpfer in  Polen,  I  74  f. 

Berg,  Graf,  Statthalter  von  Polen. 
III  87  f.,  90  f. 

Bergson,  H.  L.,  Philosoph,  II  283. 

Bergtheil,  Jonas,  südafi-ikanischer  Ab- 
geordneter, I  339. 

Berlin,    Max,    Oberlandesgerichtsrat, 

II  267. 

Bernard,  Sarah,  Schauspielerin,  II 283 ; 

III  122. 

Bernays,  Jakob,  Philologe,  I  342,  371 ; 
II  259,  264. 

—  Isaak,   Oberrabbiner,   I  164,  207  f. 

—  Michael,  Literaturhistoriker,  II 
259,  264. 

Berner,  Professor,  II  44. 


Bernheim,  Ernst,  Historiker,  II  259. 

—  Hijjpolyte,  ^Mediziner,  II  283. 
Bernstein,  Dramatischer  Schriftsteller, 

II  283. 

—  A.,  Romanschriftsteller,  II  258. 

—  Aron,  Schriftsteller,  I  205  f. 

—  Prof.  Dr.  Julius,  Naturwissen- 
schaftler, I  371;  II  260. 

Bernuth,  von,  ])reußischer  Justiz- 
minister,  I  367. 

Berolzheimer,  Kommerzienrat,  II 268. 

Berr,  Michel,  jüdischer  Apoleget,  1 24. 

Bert,  Paul,  Gouverneur  von  französ. 
Indochina,  II  209. 

Beseler,  preußischer  Justizminister, 
II  67,  189. 

Bessonow,  russischer  General,  III 
220—222. 

Bethmann-HoUweg,  von,  preußischer 
Kultusminister,  I  367  f. 

Bettelheim,  Karolina,  Sängerin,  II 
274. 

Beugnot,  Graf,  französischer  Staats- 
mann, I  34. 

Bialyk,  Dichter,  II  168. 

Biedermann,   Karl,   Politiker,   I  255. 

Bielschowsky,  Literaturhistoriker,  II 
259. 

Bihari,  Alexander,  INIaler,  II  277. 

Billot,  französischer  Kriegsminister, 
II  112,  114. 

Biourd,  Generalgouverneur  von  fran- 
zös. Indochina,  II  209. 

Bischofsheim,   Finanzier,   II   283. 

Bismarck,  Otto  von,  I  368,  371; 
II  12,  33,  37,  336. 

Blau,Ludwig,Literarhistoriker,  II  279. 

Bleichröder,  Bankier,  II  5. 

—  Gerson,    Finanzier,    II   261. 
Bloch,   A.,   Rechtswissenschaftler,   II 

283. 

—  Gustav,  Archäologe,  II  283. 

—  Josef  Samuel,   Rabbiner,  II   194. 

—  Moses,  Literarhistoriker,  II  279. 

—  Philipp,  Rabbiner,  II   16. 

—  Rosine,  Schauspielerin,  II  283. 
Biowitz,  Journalist  u.  Politiker,  II  283. 
Bludow,   russischer  Minister,   III  23. 
Blum,  Ernest,  dramatischer  Dichter, 

II  283. 
Blumenthal,  Oskar,  Lustspieldichter, 

II  258. 
Boas,    Franz,    Anthropologe,   II  295. 
Bock,  Dr.  M.  H.,  Schulmann,  I  67. 
Böckel.  Führer  der  Antisemiten,  II  35 

bis  37,  39,  41,  52. 
Bodenheimer,  Max,  II  158  f. 


318  Alphabetisches   Pei'sonenregister  für   alle   drei   Bände. 


Bogdanowitscli,  Eugen,  russischer  Ge- 
neral, III  230. 

Bognar,  Friederike,  Schauspielerin, 
II  259. 

Boisdeffre,  General,  II  101,  112—114. 

Bonald,  de,  französischer  klerikaler 
Schriftsteller,  I  12. 

Bonaparte,  Nai^oleon,  s.  Napoleon  I. 

Bordiert,  Hirsch  Isaak,  jüdischer  Phi- 
lanthrop, I  151. 

Borkenau,  Moritz  Pollak  von,  Mit- 
glied im  Gemeinderat,  II  271. 

Borközy,  Baron,  Ministerialdirektor, 
II  94. 

Börne,  Ludwig,  Schriftsteller,  I  37, 
175  f.,  178. 

Bosse,    Kultusminister,    II    187  f. 

Boulanger,   General,  II  99. 

Boyen,  General  von,  preußischer 
Kriegsminister,  I  267. 

Brahm,  Otto,  Journalist  und  Schrift- 
steller, II  258. 

Braffmann,  jüdischer  Renegat,  III 
96  f. 

Brandon,  E.,  Maler,  II  283. 

Brandstetter,  Novellist,  II  168. 

Bratianu,  Johann,  rumänischer  ]Mi- 
nister,  II  331  f. 

Braun,  Ritter  von,  Ministerialrat, 
Direktor  der  Südbahn,  II  280. 

Breal,  Michel,  Sprachwissenschaftler, 
II  283. 

Brentano,  L.  von,  Professor,  II  85. 

Breitenbach,   Wolff,   Hofagent,   I  25. 

Breslauer,  Bernhard,  Justizrat,  II  61, 
151. 

Bresselau,  Notar,  I  103,   162  f. 

Breßlau,    Harry,    Historiker,   II  259. 

Breuer,  Moritz,  Direktorstellvertr. 
der  Südbahn,  II  280. 

Brill,  Abgeordneter,  I  295. 

Brisson,  französischer  Ministerpräsi- 
dent, II  109,  114. 

Brodsky,  jüdischer  Philanthrop,  III 
110,   124,   128. 

Brody,  Alexander,  Schauspieldichter, 
II  278. 

Brougham,  Lord,  englischer  Staats- 
mann, I  285. 

Brüll,  Ignaz,  Komponist,  II  259. 

Brunnetiere,  Literarhistoriker,  II  98. 

Brunner,  Sebastian,  Publizist,  II  70. 

Buda,  Goldberger  de,  Großindustri- 
eller, II  280. 

Büdinger,  Max,  Historiker,  II  274. 

Bugadowskij,  Gendarmerierittmeister, 
IIT  215,  250. 


Bülow,  Bernhard  von,  Reichskanzler, 

II  63. 
Buls,  Bürgermeister  von  Brüssel,  II 29. 
Burakow,  russischer  Hauptmann,  III. 

256. 
Burg,     Meno,      pi'eußischer      Major, 

I  118;  II  186. 

Buschoff,   Adolf,    Schächter,   II  45  f. 

c. 

Caheu,  J.,  Gymnasialprofessor,  1319. 

—  S.,  Bibelübersetzer,  I  219. 
Gallier,  Major,  II  301. 

Cambon,   Generalgouverneur  von  Al- 
gerien, II  105  f. 
Camondo,    Graf  Abraham,    Bankier, 

II  311. 

Cantor,  Moritz,  Mathematiker,  II  260. 
Canovas  del   Gastillo,  spanischer  Mi- 
nisterpräsident,  II  215. 
Cantacuzenu,    rumänischer    Minister, 

II  338. 

Caprivi,  von,  Reichskanzler,  II  49. 
Cardozo,    Oberrichter,    I    388. 
Caro,  Prof.  Dr.,  Historiker,  I  371;  II 
259,  263. 

—  David,  hebräischer  Schriftsteller, 
I  163. 

—  Großindustrieller,  II  261. 
Carp,  rumänischer  Minister,  II  338. 
Cavaignac,     französischer     Kriegsmi- 
nister, II  114. 

Cerfberr,  französischer  Oberst  und 
Politiker,  I  220,  291. 

Champagny,  französischer  Minister 
des  Innern,  I  17,  20  f. 

Chanschenkow,  Polizeimeister,  III 183. 

Charusin,  russischer  Gouverneur,  III 
207. 

Chasse,  General  Baron  von,  I  128. 

Cherin,  Aaron,  Rabbiner,  I  74,  208. 

Chiarini,  Abt,  I  143. 

Chlopicki,  Diktator,  I  237. 

Chmerkin,  Professor,  172  f. 

('horin.  Franz.  Mitglied  d.  Magnaten- 
( Herren-)  Hauses,  II  280. 

Christian  VIL,  König  von  Däne- 
mark, I  71. 

Chronegk,  Ludwig.  Schauspieler,  II 
259. 

Chwolson,  Daniel,  russischer  Orien- 
talist, III  101. 

Chwostow.     russischer     Gouverneur, 

III  216—218. 

Ciceruachio,  römischer  Volksführer, 
I  289. 


Al]:)habetisches   Personenregister   für   alle   drei   Bände. 


311» 


Clemenceau,    Politiker,    II    113,    115. 
Clermont-Tonnere,    Graf    Stanislaus, 

französischer  Politiker,  I  6  f. 
Cochelet,  Konsul,  II  307. 
Coen,  italienischer  General,  II  212. 
Cogalniceanu,    rumänischer  Minister, 

II  332  f. 
Cohen,   australischer   Finanzminister, 

I  383. 

—  Ernest,  Musiker,  II  283. 

—  Herrmann,  Philosoph,  II  259. 

—  Leonce,  Musiker,  II  283. 

—  Mendes,   Ingenieur,   II  295. 
Cohn,  Baron,  Finanzier,  II  261. 

—  Albert,  Philanthrop,  I  383;  II  316. 

—  Ferdinand,  Botaniker,  II  260. 

—  Gustav,  Nationalökonom,    II  260. 
Cohnheim,  Mediziner,  II  263. 

—  Julius,  Mediziner,  II  260. 
Consolo,  Federico,  Musiker,  II  282. 
Coralie-Cohen,  Philanthropin,  II  283. 
Creagh,  irischer  Priester,   II  207. 
Creizenach,     Dr.   Michael,     Gelehrter 

und  Schulmann,  I  98,    181,    203; 

II  264. 

—  Theodor,  Schulmann  und  Schrift- 
steller, I  203,  243;  II  264. 

Cremer,  Abgeordneter,  II  11,  33. 

Cremieux,  Adolf,  Advokat,  Politiker 
und  Philanthrop,  I  218,  220, 
291,  382—384;  II  283,  305—309. 

—  Hector,  dramatischer  Schriftsteller, 
II  283. 

Cretet,    Graf,    französischer    Minister 

des  Inneren,  I  21. 
Cronecker,    Leopold,    Mathematiker, 

II  260. 
Csernatony,  Abgeordneter,  II  70. 
Cuignet,  Major,  II  114. 
Cusa,    Alexander,    Fürst  der  Moldau 

und  Wallachei,  II  330  f. 
Czartoryski,   Fürst  Adam,  polnischer 

Politiker,  III  47,  85. 
Czvnski,  polnischer  Ober-Offizier,  III 
■'  45,  48  f. 


D. 


Da  Costa-Atias,  Isaak,  holländischer 
Staatsmann,  I  65. 

Dahlberg  s.  Karl  Theodor. 

Dimrosch,  Leopold,  Musiker,  11  259. 

D  mski,  russischer  Polizeibeamter,  III 
224. 

Darmesteter,  Arsene,  Sprachwissen- 
schaftler, II  283. 


Darmesteter,  James,  Sprachwissen- 
schaftler,   II  283. 

David,  Samuel,  Musiker,  II  283. 

Davidsohn,  Chaim,  Warschauer  Ober- 
rabbiner, III  83. 

Dawidow,  LTntersuchungsrichter,  111 
182. 

Davison,  Bogumil,  Schauspieler,  II 
259. 

Debie,  Bürgermeister,  I  287. 

Deckert,  Pastor,  II  84. 

de  Cologna,  Pariser  Oberrabbiner, 
I  121. 

Deisey,  Sigmund,  Senatspräsident  der 
Königl.  Kurie,  II  279. 

Deljanow,  Graf,  russischer  Minister, 
III  161. 

Delitzsch,  Franz,  Professor,  II  16. 

Della  Torre,  Lelio,  jüdischer  Ge- 
lehrter, I  230,  386. 

Delyannis,  griechischer  Ministerpräsi- 
dent, II  121. 

Demidow-San  Donato,  Fürst,  russi- 
scher Staatsmann,  III  141,  147. 

De  Mist,  Jakob  Abraham,  General, 
I  225. 

Denon,   Zeichner  und  Radierer,   I  9. 

De  Pass,  Daniel,  südafrikanischer 
Pflanzer,  I  339. 

Derblich,  Regimentsarzt,  I  377. 

Derenburg,  Hartwig,  Sprachwissen- 
schaftler, II  283. 

—  Josef,  Sprachwissenschaftler,  II 
264,  283. 

Dernburg,  Heinrich,  Jurist  und 
Rechtslehrer,  II  260,  264. 

Derjugin,  russischer  General,  III  210. 

Derkatschow,  russischer  Polizei- 
meister, III  255. 

Derschawin,  russischer  Staatsmann, 
I  73. 

Desportes,  Henri,  Schriftsteller,  II  99. 

Distelkamp,  Prediger,  II  14. 

Deutsch,  Bernhard  von,  Großindu- 
strieller, II  280. 

Deutsch,  Willy,  Klaviervirtuose,  II 
278. 

Divai,  Ignaz,  Kurialrichter,  II  279. 

Divekar,  Samuel,  II  347. 

Dohm,  von,  preußischer  Staatsmann, 

I  25. 

Dolgoruki,  Fürst,  russischer  (leneral- 
gouverneur,   III    139—141,    149. 

—  Fürstin  Katharina,  III  115. 
DöUinger,    von,    Stiftspropst,    I  247; 

II  27. 

Donath,  Julius,  Bildhauer,  II  278. 


320 


Ali:)liabetisches   Personenregister  für   alle   drei   Bände. 


Dostojewsky,  russischer  Schriftsteller, 
III  98  f. 

Douglas,   Graf,  II  37. 

Drake,  General,  Stadtkommandant 
von  Kiew,  III  220,  222. 

Drenteln,  russischer  General  und  Ge- 
neralgouverneur, III  121,  124, 
139,  141. 

Dreyfus,  Alfred,  Hauptmann,  II  101 
bis  104,  109,  111—116. 

Drumont,  Eduard,  Antisemitenführer, 

II  97—102,   107,  109  f. 
Dubassow,  russischer  General,  II  218. 
Dubnow,  jüdischer  Geschichtschreiber. 

III  268. 

DubroAvin,  Vorsitzender  des  Ver- 
bandes echt  russischer  Leute, 
III  242  f. 

Dühring,  Eugen,  Privatdozent,  II  15, 
18. 

Du  Paty  de  Clam,  Major,  II  102  f., 
113  f. 

Duport,  französischer  Abgeordneter, 
I  7. 

Dupuguet,  Erzieher  Nikolaus'  I.,  III 3. 

Dupuy,  französischer  Ministerpräsi- 
dent, II  109,  111. 

Durnowo,  russischer  Minister,  III 
174,  249. 

Dux,  Adolf,  Schriftsteller,  II  280. 

E. 

Ebers,   Georg,   Orientalist,   II  259. 

Eberstadt,   Bürgermeister,   II  264. 

Ebner-Eschenbach,  Marie  von,  Schrift- 
stellerin, II  83. 

Edel,  Dr.,  I  353. 

Edinger,  Landtagsabgeordneter,  II 
264. 

Eger,  Akiba,  Rabbiner,  1 163, 174,  182. 

Egidy,  Oberst  von,  II  44. 

Ehrenreich,  Rabbiner,  II  213. 

Ehrlich,  Heinrich,  Musiker,  II  259. 

Ehrlich,    Paul,    Mediziner,    II   260. 

—  V.,  Handelskammerpräsident,  II 
223. 

Eichhorn,  von,  preußischer  Kultus- 
minister, I  268. 

—  David,  reformistischer  Rabbiner, 
I  215. 

—  David,  Rabbiner,  I  346,  348,  389. 
Einsiedel,  Graf,  sächsischer  Minister, 

I  252. 
Eisenbaum,   Seminardirektor,  III  49. 
Elimelech  von  Lizianko,  Führer  der 

Chassidim,  III  82. 


EUstätter,  Max,  Minister,  II  260,  265. 
Engel,  Georg,  Journalist  und  Schrift- 
steller, II  258. 
d'Ennery,  Adolf,  dramatischer  Dichter 

II  283. 
Eötvös,    Baron  Joseph,    Dichter  und 

Staatsmann,  I  279,  358. 
—  Karl,  Abgeordneter,  II  78. 
Epureanu,   rumänischer   Minister,    II 

333. 
Ernst  August,  König  von  Hamiover, 

I  258  f. 
Erter.     Isaak,     hebräischer    Dichter, 

I  195. 
Esterhazy,  Major,  II  112  f. 
Ettinger,  Dichter,  II  171. 
Ettlinger,  Jakob,  Oberrabbiner,  I  208, 

353. 
Ewald,    Job.    Ludw.,    Ministerialrat, 

I  94. 

Ezekiel,  Moses,  Bildhauer,  II  295. 

F. 

Falk,  preußischer  Kultusminister,  I 
371,  373;  II  185. 

Fassel,  Hirsch  C,  Rabbiner,  1 186.  215. 

Faure,  Felix,  Präsident  der  franzö- 
sischen Republik,  II  109,  111. 

Faust,  Karl,  juristischer  Schriftsteller, 

II  267. 

Fejervary,  ungarischer  Ministerpräsi- 
dent, II  94. 

Feld,  Sigmund,  Theaterdirektor.  II 
278. 

Fellner,  von,  Alexander,  Architekt, 
II  278. 

Felsenthal,  Rabbiner,  II  159. 

Fenyer,  Adolf,  Maler,  II  278. 

Fenyvessy,  Adolf  von,  Chef  d.  Steno- 
graphenbüros d.  ung.  Reichstages, 
II  281. 

Ferdinand,  Fürst,  dann  König  von 
Bulgarien,  II  340,  342. 

Ferdinand  III.,  Großherzog  von  Tos- 
kana, I  132. 

Ferdinand  IV.,  Kaiser  von  Österreich, 
I  275,  280,  302,  306. 

Fichte.  Philosoph.  I  26. 

Finzi,  Dr.  Mose,  I  289. 

Fischer,  Weihbischof,  II  46. 

—  Moritz  von,  Großindustrieller,  II 
280. 

—  Ignaz  von,  Großindustrieller,  II 
280. 

Fischhof,  Adolf,  österreichischer  Ab- 
geordneter, I  302;  II  270. 


Alphabetisches   Personenregister  für   alle  drei   Bände. 


321 


Fito,  Fidel,  Orientalist,  II  214. 

Flatau,  Joseph  Jakob,  II  262. 

Flaxner,  Simon,  Pathologe,  II  295. 

Fleischer,  Max,  Architekt,  II  259. 

Flottwell,  von,  preußischer  Ober- 
präsident, I  262  f. 

Fontanes,  französischer  Schriftsteller 
und  Politiker,  I  12  f. 

Forkenbeck,  von,  Oberbürgermeister, 
II  19. 

Formstecher,  Rabbiner,  I  194,  315; 
II  264. 

Förster,  Oberlehrer,  II  38,  66. 

Fould,  A.,  französischer  Finanzmann, 

I  291,  382  f.;  II  283. 
Fourtado,  Phüanthrop,   II  283. 
Franck,  Adolf,  Philosoph,  I  219.  319: 

II  98,  283. 
Fränckel,  Jonas,  I  342. 
Francolm,  Prediger  Dr.,  I  116. 
Frank,  Adolf,  Chemiker,  II  260. 
Fränkel,  Jakob  Emanuel,  Rabbiner, 

II  16. 

—  David,  Direktor  der  Dessauer 
Franzschule,  I  42,  167. 

—  Säckel,  Hebraist,  I  162. 
Frankel,   Zacharias,    Oberrabbiner,    I 

201,  212  f.,  254,  342,  353. 

Frankenberger,  Wolf  gang,  Landtags - 
abgeordneter,  II  269. 

Frankfurter,  Prediger,  I  208. 

Frankowski,  Leon,  jüdischer  Frei- 
heitskämpfer, III  87. 

Franz  L,  Kaiser  von  Österreich,  160, 
108. 

Franz  IV.,  Herzog  von  Modena  I  132. 

Franz  Joseph  L,  Kaiser  von  Öster- 
reich, I  307,  316—318,  328,  338, 
356,  358;  II  71,  80,  83  f.,  91  f., 
195—197. 

Frantz,  Konstantin,   Pubhzist,   II  4. 

Franzos,  Karl  Emil,  Romanschrift- 
steller, II  258. 

Frensdorf,  Ferdinand,  Jurist,  II  260. 

Freund,  Dr.  Wilhelm.  Gymnasial- 
direktor, I  298. 

—  Wilhelm,  Philologe,  II  259. 
Freudenthal,  J.,  Philosoph,  II  260. 
Freycinet,  de,  Kriegsminister,  II  100. 
Freymann,  russischer  jüdischer  Offi- 
zier, III  103. 

Freystetter,  Major,  II  163. 
Freytag,  Gustav,  Dichter,  II  2,  49. 
Friedberg,   E.,   Politiker,   II  261. 
Friedberg,  H.,  Jurist,  II  260. 
Friedenthal,  R.,  Politiker,  II  261. 


Friedländer,  David,  jüdischer  Auf- 
klärer, I  48,  52—54,  57—59,  140  f., 
152,  158  f.,  167  f.,  261. 

—  Fritz,   Großhändler,  11  261. 

—  Ludwig,  Historiker,  II  259. 
Friedjung,    Heinrich,    Historiker,    II 

274. 
Friedmann,  jüdisches  Dumamitglied, 

III  244. 
Friedrich,  König  von  Württemberg, 

I  38.  ^ 

Friedrich  IL,  König  von  Dänemark, 

I  71. 

Friedrich  III.  (als  Kronprinz  Friedrich 
Wilhelm),  König  von  Preußen  und 
deutscher  Kaiser,  II  16,  18  f.,  37. 

Friedrich,     Großherzog    von    Baden, 

II  19. 

Friedrich,  Herzog  von  Anhalt,  II  47. 

Friedrich  August  L,  König  von 
Sachsen  und  Großherzog  von  War- 
schau, I  75,  163. 

Friedrich  der  Große,  König  von 
Preußen,  I  46. 

Friedrich  Franz  L,  Großherzog  von 
Mecklenburg-Schwerin,  I  44,  106, 
256. 

Friedrich  Karl  Joseph  (von  Erthal), 
Kurfürst  von  Mainz,  I  27. 

Friedrich  Wilhelm  IL,  König  von 
Preußen,  I  25,  47—51. 

Friedrich  Wilhelm  III.,  König  von 
Preußen,  I  51,  57,  83,  111—113, 
116,  119,  235,  260,  262,  264. 

Fries,  Professor  der  Philosophie,  I  93. 

Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von 
Preußen,  I  264—268,  271,  274, 
294,  306—308,  324  f.,  365. 

Friesen,  von,  Kammerherr,  II  47. 

Frug,  S.,  Jargondichter,  III  266. 

Fuchs,  J.  L.,  Mathematiker,  II  260, 
263. 

—  Eugen,  Justizrat,  II  63. 
Fulda,   Ludwig,  Dramatiker,   II  258. 
Funkelstein,  Nahiim,    Begründer  der 

jüdischen     Ackerbaukolonien     in 

Rußland,  I  76. 
Fürst,  Julius,  Orientalist,  I  192,  254. 
Furtado,  Abraham,  Vorsitzender  der 

jüdischen    Notahclnversammlung, 

I  14. 

ii. 

Ganghofer.  LudAvig,  Schriftsteller,    II 

83 
Gans,  Eduard.   Jurist,   I    113  f.,    165 

bis  170. 


PhilippsoTi,    Xeucslc  Goschichtc  der  Juden,  Bd.  HI. 


21 


;]22 


A]phabetisfli(>s    Personenregister   für   alle   drei    Bände. 


Garibaldi,  Giuseppe,  italienischer  Ge- 
neral,  I  385. 

Geiger.  Abraham,  jüdischer  Gelehrter 
und  Reformator,  I  179—181,  198 
bis  200,  208,  210  f.,  213,  249  f.; 
II  194;  III  14. 

—  Ludwig,  Literarhistoriker.  II  259. 

Gelleri,  Moritz,  Direktor  d.  Landes- 
industrievereins  etc.  und  Schrift- 
steller, II  280. 

Gentz,  Friedrich  von,  Publizist,  I  87f. 

Georg  Friedrich  Heinrich,  Fürst  von 
Waldeck,  I  104. 

Gerlach,  von,  Ober-Appellationsge- 
richtspräsident, I  310. 

Germain-Levy,  Louis,  Rabbiner,  II 
180. 

Gerngroß,  von,  Kommerzienrat,  II 
268. 

Gernsheim,  Friedrich,  Komponist, 
II  259. 

Gesundheit,  Jakob,  Warschauer  Ober- 
rabbiner, III  90. 

Ghika,  rumänischer  Ä'linister,  II  332. 

Gillerson,  jüdischer  Advokat,  III  256. 

Ginsberg,    Großindustrieller,    II   261. 

Ginsburg,  M.  J.,  Schriftsteller,  II  154. 

Ginzberg,  Ascher,  II  169. 

Gladstone,  Herbert,  englischer  Mi- 
nister, II  208. 

Glagau,  Publizist,  III  9. 

Glaser,  österreichischer  Justizminister, 
II  70,  260. 

—  Eduard,  Forschungsreisender,  II 
260. 

Glaubrech ,  Obergerichtsrat,  I  245. 
252. 

Gluge,   G.,  Mediziner,  II  260. 

Gneist,  Rudolf.  Professor,  II  19,  44. 

Godefroy,  niederländischer  Justizmi- 
nister, I  382. 

Goldberger,  Ludwig  Max,  Finanzier, 
II  261. 

Goldenthal,  Universitätsprofessor,  I 
317. 

Goldfaden,  Abraham,  Theaterdichter, 

II  172. 

Goldmark,  Karl,  Komponist  und  Mu- 
siker, 11  274,  278. 
Goldrins,  Bürgermeister,  II  262. 
Goldschmidt,  Ä.  M.,  Rabbiner,  I  343; 

III  11. 

—  Adalbert  von,  Komponist,  II  259. 

—  Levin,  Jurist,  II  260. 
Goldschmidt,    Theodor    von,    Archi- 
tekt,  II  259. 


Goldsmid.  Miß  Anna  Marie,  Schrift- 
stellerin, I  224. 

—  englischer  Oberst,  II  204. 

—  Sir  Francis,  I  286. 
Goldstücker,  Orientalist,  II  259. 
Goldzieher,    Wilhelm,    Mediziner,    II 

279. 

Goldziher,  Ignaz,  Orientalist,  II  279. 

Golowin,  Eugen,  russischer  General- 
gouverneur, III  6,  28. 

Gomperz,  Theodor,  Professor,  II  91, 
273. 

—  (Schwestern)  II  275. 
Gonse,  General,  II  101,  112  f. 
Gordon,  David  Baer,  II  155. 

—  Leon,  II  167. 

—  Michael,  II  172. 

Goremykin,  russischer  Minister,  III 
175,  241. 

Goethe,  Wolfg.   von,  1  36  f.,   104. 

Gotonzew,  Gehilfe  des  russischen 
Ministers  des   Innern,   III   132. 

Gottheil,  Professor,  I  159. 

Gotthelf,  Philipp,  juristischer  Schrift- 
steller, II  267. 

Goudchaux,  Michel,  Minister,  II  283. 

Grant,  Robert,  englischer  Abgeord- 
neter, I  284. 

Graser,  Regierungsrat,  I  103. 

Grattnauer,  judenfeindlicher  Schrift- 
steller, I  26. 

Graetz.  Heinrich,  Historiker  des  Ju- 
dentums, I  342;  II  155,  280. 

Gregoire,  Abbe,  später  Bischof,  I  6  f., 
12  f. 

Gregor  XVI.,  Papst,  I  288  f. 

Grigorjew,  russischer  Generalmajor, 
III  257. 

Gringmut,  russischer  Antisemit,  III 
242. 

Großmann,  Superintendent,  I  323. 

Gruben,  Pastor,  II  19. 

Grund,  Christoph,  Rechtsanwalt,  I  24. 

Grillparzer  II  275. 

Groß,  Rabbiner,  II  268. 

Gruby,  David,  Mediziner,  II  260. 

Grünfeld,  Alfred,  Klaviervirtuose,  II 
274. 

—  Heinrich,  Musiker,  II  259. 
Grünhut,  Karl  Samuel,  Jurist,  II  273. 
Guggenheimer,  Moritz,  Handelsrichter 

II  268. 

Guizot.  französischer  Premierminister, 
II  308. 

Gumpertz,  Rüben.  Berliner  Gemeinde- 
ältester,  I  152. 


Alphabetisches    Personenregister   füi-   alle   drei    Bände. 


323 


Günsburg,  genannt  Hurwitz,  Schrift- 
steller, 11  171. 

—  Karl  Siegfried,  Prediger,  1  159. 
Günther   Friedrich   Karl,    Fürst   von 

Schwarzburg-Sondershausen,l  104. 
Günzburg,    Baron    David,    III    242, 
268,  270. 

—  Gabriel  Jakob,  III  18. 

—  Horace,  jüdischer  Philanthrop, 
III  110,  126. 

—  Joseph,  III  18. 

—  Mordechai,  III   17. 
Gunzenhäuser,    Justizrat,    Landtags- 
abgeordneter, II  269. 

Gurauer,  Literarhistoriker,  II  259. 

Gurland,   Gelehrter,  II  168. 

Gustav  V.,  König  von  Schweden, 
II  202. 

Gutmann,  Baron  von,  Großindustri- 
eller, II  280. 

—  Gebrüder,  Kohlenberswerke  und 
Eisenwerke,  II  272. 

—  Ritter  David  von,  Fabrikant, 
II  272. 

—  Ritter  von,   Gutsbesitzer,  II  272. 

—  Wilhelm  Ritter  von,  Fabrikant, 
II  272. 

H. 

Hagyi,  Bela,  Komponist,  II  278. 
Hahn,  Samuel  Ritter  von,  Finanzier, 

II  261. 
Halasz,  Ignaz,  Sprachforscher,  II  279. 
Halevi,  Leon,  Schriftsteller,  II  283. 
Halevy,    Eha,     hebräischer    Dichter, 

I  10,  194. 

—  Fromental,    Musiker,    II   283. 

—  Josef,  Sprachwissenschaftler,  II 
283. 

—  Ludovic,     dramatischer     Dichter, 

II  283. 

Hammerstein,  von,  Chefredakteur  der 
Kreuzzeitung,  II  55. 

Hänel,  Professor,  II  19. 

Hannaux,  Emmanuel,  Bildhauer.  II 
283. 

Hapke,  Prediger,  II  30. 

Harari,  Pascha,  II  314. 

Harburger,  Heinrich,  Oberlandesge- 
richtsrat, II  267,  268. 

Harden,  Maximilian.  Journalist  und 
Schriftsteller,  II  258. 

Hardenberg,  Freiherr  von,  preußischer 
Staatskanzler,  I  58,  86—90,  93, 
Ulf.,  117,  160. 

Harkavy,   Gelehrter,  II  168;  III  110. 


Harris,  David,  Oberst,  II  222. 

Hart,  Daniel,  Landwirt,  I  225. 

Hartmann,  Moritz,  Schriftsteller  und 
Politiker,  I  295;  II  271. 

Hartwig,  Antisemitenführer,  II  55. 

Hatvany-Deutsch,  Alexander,  Mit- 
glied des  Magnaten-  (Herren-) 
Hauses  II  280. 

Hausdorff,  Dr.  Prof.,  II  270. 

Hausmann,  von,  juristischer  Schrift- 
steller, II  267  f. 

Hayem,  Georges,  Mediziner,  II  283. 

Haynau,  von,  Feldzeugmeister,  I  318, 
329. 

Haynald,  Kardinal-Erzbischof  von 
Kalosza,  II  80. 

Heine,  Philanthrop,  II  283. 

—  Heinrich,  I  167.  170,  175—178. 

Helene,   Großfürstin,  I  371. 

Hellai,  Franz.  Nationalökonom,  Di- 
rektor des  Budapester  Handels- 
museums II  280. 

Henle,  Hauptmann,  II  268. 

—  Dr.  Jakob  von,  Regierungs- 
direktor,  II  268. 

—  Siegfried  von,  Geheimrat,  Land- 
tagsabgeordneter. II  269. 

Henoch,  E.,  Mediziner,  II  260. 
Henrici,  Lehrer,  II  21 — 23.  f  ■ 

Henry,  Major,  II  102  f.,   113  f.       '< 
Henschel,   Wilhelm,   Maler,   I   59. 
Herrfurth,  Minister,  II  45,  48. 
Hermogen,     Bischof     von     Saratow. 

III  233. 
Herrmann,  L.,  Physiologe,     II    260. 
Herschel,  Salomon,  Chiefrabbi,  I  221 

bis  223. 
Hertz,  Heinrich,  Physiker.  II  260. 

—  J.  H.,  Prediger,  II  223. 
Hertzka,    Theodor,    Nationalökonom, 

II  279. 
Herxheimer,  Rabbiner,  I  196  f.,  255. 
Herz  11  263. 

—  Henriette,  I  54  f.,  57. 

—  Hofrat  Dr.  Markus.   I  54  f. 

—  Dr.  Koppel,  II  268. 

—  Robert,   Oberlehrer,   II  270. 
Herzberg,   G.   F..  Historiker,   II  259. 
Herzel,   Emanuel   von,   Mediziner,   II 

279. 
Herzenstein,    Abgeordneter.    III   243. 
Herzfeld.  Bürgermeister.  I  313. 

—  L.,  Rabbiner,  I  343. 

Herzl,   Theodor,   Publizist,   II   157  f., 

160—163.  268. 
Heß,  M.,  Realschullehrer.  I  94.  164, 

243. 

21* 


32-i  Alphalietisclies   Personenregister    für   alle   drei   Bände. 


Heß,  Moritz,  Scliriftsteller,  II  154. 

—  Mendel,  reformistischer  Rabbiner, 

I  182,  204,  255. 

Hessel,  George,  Oberrichter,  I  382. 
He-ssen,  jüdischer  Gelehrter,  III  268. 
Hildesheimer,  Hirsch,  jüdischer  Publi- 
zist, II  127. 

—  Israel,  Rabbiner,  I  353  f.,  357,  359. 
Hilfsverein  der  deutschen  Juden   II 

277. 
Hiller,  Ferdinand,  Komponist,  II  259. 
Hilsner,  Leopold,  II,  90. 
Hirsch,  Baron,  jüdischer  Philanthrop, 

II  143,  219,  221;  III  157. 

—  Baron  Jakob  von,  I  245  f. 

—  Baronin,    Philanthropin,    II    283. 

—  Alfons,  Maler,  II  283. 

—  Am  eile,  Schauspielerin,  II  283. 

—  August,  Mediziner,  II  260. 

—  Josef,  Ingenieur,  II  283. 

—  Max,  Nationalökonom,  II  27,  189, 
261. 

—  Samson  Raphael,  Begründer  der 
jüdischen  Neu- Orthodoxie,  I  183  f., 
198,  344,  355. 

—  Samuel,  Rabbiner,  I  194. 

—  Samuel,  Philosoph,  I  348. 
Hirschberg,  Julius,  Mediziner,  II  260. 
Hirschfeld,  Georg,  Dramatiker,  II 258. 

—  Gustav,  Mediziner,  II  260. 

—  Otto,  Mediziner,  II  260. 
Hirschhorn,  Landtagsabgeordneter,  II 

264. 
Hirschler,  Ignaz,  Mediziner,   II  279. 
Hirtz,  Mathieu,  Mediziner,  II  283. 
Hoffmann,  Fleischer,  II  58. 

—  J.    G.,    Statistiker,    I   267. 
Hofmansthal,     I.    von,    Dramatiker, 

II  258. 
Holdheim,     Samuel,     reformistischer 

Rabbiner,  I  204,  206,  208,  213  f. 
Holländer,  Alexis,  Musiker,  II  259. 

—  Felix,  Romanschriftsteller,  II  258. 

—  Gustav,    Musiker,    II   259. 
Homberg,  Herz,  jüdischer  Reformer, 

I  174. 
Homberger  II  263. 

Honig,   Israel,   Tabakbauer,   I  60. 
Hörn,  Eduard,  Politiker,  II  280. 
Horowitz,  Leopold,  Maler,  II  274,  277. 
Horwitz,   Maximilian,    Rechtsanwalt, 

II  51. 

Hruza,  Agnes,  Näherin,  II  90. 
Hulschinsky,     Großindustrieller ,     II 

261. 
Humboldt,   Wilhelm    von,    I   58,    86, 

111,  165. 


Hundt,  Hartwig,  antisemitischer 
Schriftsteller,  I  102. 

Hurwitz,  Heimann,  hebräischer  Dich- 
ter, I  194. 

—  Salkind,  Schriftsteller  und  Ge- 
lehrter, I  6,  75. 

Hüvös,  Josef  von,  Generaldirektor 
der  elektrischen  Bahn,  II  280. 


J. 


Jacobowski,  Ludwig,  Romanschrift- 
steller, II  258,  263. 

Jacobs,  Simeon,  General-Staatsan- 
walt, I  389. 

Jacobsohn,  Eduard,  Lustspieldichter, 
II  258. 

Jacobson,  Israel,  jüdischer  Philan- 
throp und  Aufklärer,  I  25,  29—32, 
36 f.,  93,  106,  158  f.,  167. 

Jacoby,  Jakob,  II  59. 

—  Dr.  Johann,  preußischer  Politiker, 
I  295,  309;  II  261. 

Jacques,  Heinrich,  Jurist,  I  377. 
Jadassohn,  Sah,  Musiker,  II  259. 
Jaffe  II  262. 

—  Philipp,   Historiker,   II  259,   263. 
Jarno,  Josef,  Schauspieler,  II  259. 
Jastrow,  Nationalökonom,  II  260, 263. 

—  Morris,  Orientalist,  II  295. 
Jawitz,   Geschichtschreiber,  II  169. 
Jellinek,  Adolf,  Rabbiner,  I  343. 

—  Arthur,  Jurist,  II  279. 

—  Heinrich  von,  Generaldirektor  der 
Budapester  Straßenbahn,  II  280. 

Jeröme  (Bonaparte),  König  von  West- 
falen, I  28,  30  f. 

Jessurun,  Spitzenfabrik,  II  282. 

Jewish  Colonization  Association  II 
276. 

Ignatiew,  Nikolaus  Pawlowitsch,  rus- 
sischer Minister,  III  116  f.,  124  bis 
127,  130—132,  136  f.,  139—141, 
173,  175. 

—  ru.ssischer  Polizeibeamter,  III  224. 

Joachim  (Murat),  König  von  Neapel, 
I  67. 

—  Joseph,  Musiker,  II  259. 

Joel,  Manuel,  jüdischer  Gelehrter, 
I  342. 

Johann,  König  von  Sachsen,  I  253. 

Jolson,  Realschullehrer,  I  164,  167. 

Jones,  Henry,  Begründer  der  Bnei- 
Brith,  I  349. 

Joseph  (Bonaparte),  Könis  von  Ne- 
apel, I  67. 


Alphabetisches   Personenregister   für  alle   drei    Hände.  325 


Joseph  II.,  Kaiser  von  Deutschland, 

I  25,  62,  174. 

Josephthal,  Geh.  Hof-  und  Justizrat, 

II  268. 

Jost,  Isak  Markus,  Geschichtschrei- 
ber, I  170  f.,  343;  III  14. 

I. 

Irmer,  Oberlehrer,  II  31. 
Isaacs,     Isaak     Alfred,     australischer 
Bundesrichter,  II  225. 

—  Nathaniel,  Forschungsreisender,  I 
226. 

Isaak  Molcho,  Pascha,  II  314. 
Israel  ben  Elieser,  gen.  Baal-Schem- 

Tob,   Stifter  der  Sekte  der  Chas- 

sidim,  III  81  f. 
Israel,  J.,  Mediziner,  II  26Ü. 

—  N.,   Großhändler,  II  261. 
Israelski,  Schächter,  II  58. 
Istöczy,  Viktor,  Abgeordneter,  II  70, 

76  f.,  79. 
Itzig,   Elias  Daniel,  Fabrikant,   I  59. 

—  Familie,  I  53. 

Jussuf,  Pascha  von  Rhodus,    II  303. 

Jutrosinski,    Dr.,    I    368. 

Iwanow,     russischer     Polizeibeamter, 

III  209. 

K. 

Kadelburg,   Gustav,  Lustspieldichter 

II  258. 

Kahn,     Zadok,      Großrabbiner     von 

Frankreich,  II  159,  210. 
Kaiisch,   David,   Lustspieldichter,   II 

258. 
Kalischer,  Zebi  Hirsch,  Rabbiner,  II 

155. 
Kallav,     ungarischer     Abgeordneter, 

I  303. 
Kankrin,    russischer    Finanzminister, 

III  22. 

Kantor,  Dr.  L.,  Zeitungsredakteur. 
III  268. 

Kantoromcz,  Nazary,  II  262. 

Karaß,  russischer  General,  III  220, 
222. 

Karl,  Herzog  von  Braunschweig, 
I  104,  234. 

Karl,  Herzog  von  Mecklenburg  I  111, 
115. 

Karl,  Herzog  von  Modena,  I  304. 

Karl  VII,  König  von  Frankreich,  I  3. 

Karl  X.,  König  von  Frankreich,  I  124. 

Karl  Albert,  König  von  Sardinien, 
I  304,  320. 

Karl  Friedrich,  Großherzog  von  Ba- 
den, I  38  f. 


Karl  XIV.  Johann  (Bernadotte), 
König  von  Schweden,  I  283. 

Karl  Theodor  (von  Dalberg),  Kur- 
fürst und  Fürst- Primas,  I  34 — 37, 
87  f. 

Karman,  Moritz  von,  Philosoph  und 
Pädagoge,  II  279. 

Karol,  Fürst,  später  König  von  Ru- 
mänien, II  331,  334. 

Karpeles,  Gustav,  Gelehrter,  II  147. 

Karpow,  A.,  russischer  Ministerialrat, 
III  103. 

KasjDar,  Bankier,  I  58. 

Katharina  IL,  Kaiserin  von  Rußland, 

I  72. 

Katkow,  Michael  Nikiforowitsch,  rus- 
sischer Politiker,  III  62,  95, 
138  f..  143,  157. 

Katona,  Ferdinand,  Maler,  II  278. 

Katschek,  Berthold,  Zoologe,  II  273. 

Kaufmann,  Großindustrieller,  II  261. 

—  L^niversitätsprofessor,  II  267. 

—  David,  Literarhistoriker,  II  279. 

—  Isidor,   Maler,   II  274,   277. 
Kaulbars,     von,     russischer    General, 

III  208—212,  233. 

Kaulla,  Finanzier,  II  266. 

Karavelow,  bulgarischer  Minister- 
präsident, II  341. 

Kayserling,  Mayer,  Rabbiner,  I  387 ; 

II  279. 

Kellermann,  französischer  Marschall, 

I  12. 

Kepes,  Dr.  Julius,    Generalstabsarzt, 

II  280. 

Kinsky,   Graf  Arthur,  II  83. 
Kirjakow,    russischer   Historiker,  III 

95. 
Kisch,  Hei  mann  W.,  Generaldirektor 

der  indischen  Posten,  II  203. 
Kisielewski,    polnischer    Dichter,    III 

285. 
Kiss,  Josef,  Dichter,  II  278. 
Kisselew,     Graf    Nikolai,     russischer 

Staatsmann,  III  62  f. 

—  Graf    Paul,     russischer    Minister, 

III  23. 

Klaczko,  polnischer  Schriftsteller,  111 
48. 

Klar,  Emil,  Sänger,  II  259. 

Klasing,    Rechtsanwalt,    II   49. 

Klee,  Dr.,  preußischer  Abgeordneter, 
I  325,  331. 

Klein,  J.  L. ,  Literarhistoriker,  II 
259. 

Kleist-Retzow,  von,  preußischer  Po- 
litiker, I  310. 


326 


Alphabetisches   Personenregister  flu*   alle   drei   Bände. 


Kley,  Eduard,  Prediger,  I  159,   162. 

KHngenberg,  russischer  Gouverneur, 
III  186. 

Kluge,  Polizeiregistrator,  III  240. 

Knauth,  Nachod  und  Kühne,  Bank- 
geschäft, II  270. 

Knopp,  Emerich,  Maler,  II  278. 

Kohen,  Salomon,  hebräischer  Dichter, 

I  194. 

Kohler,  Kaufmann,  Rabbiner,  II  182. 
Kohn,  Rafael  III  85. 

—  Markus,  III  85. 

—  Michael,  Magistratsrat,  Gerberei- 
besitzer, II  269. 

Kohner,  ]\Ioritz,  I  362. 
Kohut,  Adolf,  Schriftsteller,  II  280. 
Kolkmann,  Josef,  Kreisrichter,  II  16. 
Kompert,     Leopold,      Romanschrift- 
steller, II  258. 

—  Leopold,  Mitglied  im  Gemeinde - 
rat,  II  271. 

König,  antisemitischer  Agitator,  II  33. 

—  Julius,  Mathematiker,  II  279. 
Königsberger,     Leo,     Mathematiker, 

II  260,  263. 
Königswarter,  Philanthrop,  II  283. 
- —  Baron  Jonas,  Bankier,  II  273. 

—  Dr.  Wilhelm,  II  268. 

Konrad,  Bischof  von  Paderborn,  II 11. 
Konstantin,  russischer  Großfürst,  III 
79,  87. 

—  Großfürst,  I  141  f. 

Konti,  Josef,  Komponist  und  Kapell- 
meister, II  278. 

Konyi,  Emanuel,  Chef  des  Steno- 
graphenbüros des  ung.  Reichs- 
tages. II  281. 

Kopoel,  Dr.  Richard,  Prof.  der  Königl. 
Handelsschule,  II  269. 

Körber,  von,  österreichischer  IMinister- 
präsident,  II  90. 

Kornfeld,  Siemund,  Mitglied  des  Mag- 
naten-  (Herren-)  Hauses,   II  280. 

Kosch,  Dr.,  preußischer  Abgeordneter. 
I  295  f.,  309;  II  263. 

Kosciuszko,  polnischer  Freiheitsheld, 
I  74. 

Kessler,  Tuchmanufaktur,  II  282. 

Kossuth,  Diktator  Ungarns.  II  78. 

Kostomarow,  russischer  Historiker, 
III  101. 

Köves,  Josef,  Maler,  II  278. 

Krafft,  Prediger,  II,  14. 

Krämer,  Aug.,  Bibliothekar,  I  94. 

Kramstyck,  jüdischer  Prediger,  III  89. 


Krochmal,    Nachman,    jüdischer    Ge- 
lehrter, I  175,  192,  194. 

—  Abraham,  II  194. 

Kroner,  Rabbiner.  II  16,  267. 

Kronawetter,  Abgeordneter,  II  83. 

Krösel,  Pastor,  II  58. 

Krüger,     Präsident     von     Transvaal, 
II  223. 

Kruschewan,  russischer  Publizist,  III 
182,  207. 

Kucbiawzew,    russischer    Oberst.    III 
128. 

Kuh,  Ephraim.  Dichter.  I  53. 

Kühne,    Bankier.  II  270. 

Kuhnheim.  W.,  Großhändler,  II  261. 

Kujarow.   Polizeibeamter,  III  205. 

Kunewalder,  Joseph,  I  280.  |^ 

Kunos,  Ignaz,   Orientalist,  II  279. 

Kunfy,  LudAvig,  Maler,  II  278. 

Kuranda,  Ignaz,  österreichischer  Po- 
litiker. 1295,  357;  II  271. 

Kurländer,  Ignaz,  ^Meteorologe,  II  279. 

Kuropatkin,    russischer    Oberbefehls- 
haber, III  194. 

Kurz,  Selma,  Sängerin,  II  274. 

Kusel,    Rechtsanwalt,    Abgeordneter, 
II  265. 

Kusminski.    russischer    Senator,    III 
211  f..  248. 

Küster,    russischer    Gouverneur,    III 
255. 

Kutaissow,  Graf.  III  123. 


Laband,  Paul,  Jurist,  II  260. 

Ladenberg,  von,  preußischer  Kultus- 
minister, I  310. 

Ladenburg,  Dr.  Leopold,  Jurist,  I  251. 

—  Geh.  Kommerzienrat,  Abgeord- 
neter, II  265. 

Lafayette,   General,  III  49. 

Laferriere,  Generalgouverneur  von 
Algerien,  II  107. 

Lagarde,   Paul   de,   Professor,   II   35. 

Lambert,  frnzösischer  General,  II  209. 

Landau,  Kloses.  Buchdrucker.  T  173. 

Landauer-Gerabronn,  Direktor,  Land- 
wirt, II  267. 

Landsberg,  Ernst.  Jurist,  II  260. 

Lanskoi.  Graf,  russischer  Minister, 
III  61,  63. 

Lapuya,  Lopez,  spanischer  Senator, 
II  214. 

Larronge,  Adolf.  Lustspieldicliter.  II 
258. 


Alphabetisclies   Personenregister  für   alle  clrei   Bände. 


32- 


Lasker,  Eduard,  deutscher  Abgeord- 
neter, I  355  f.;  II  5,  27,  32,  176, 
261,  263. 

Lasalle,  Ferdinand,  Politiker,  II  261. 

Lassar,   O.,  Mediziner,  II  260. 

Lassen,  Edmund,  Komponist,  II  259. 

Lattier,  Marquis  von,  antisemitischer 
Schriftsteller,  I  123. 

Lauchheimer,  Oberst,  II  295. 

Laurin,  Generalkonsul,  II  302. 

Lautenburg,  Siegmund,  Schauspieler, 
II  259. 

Lawrow,  Alexander,  russischer  Staats- 
rat, III  231. 

Lazare,  Bernhard,  Publizist.  II  104, 
111. 

Lazarus,  Moritz,  Philosoph,  I  351, 
387;  II  18,  260,  263. 

Lebensohn,  Abraham,  Dichter  und 
Gelehrter.   III  17. 

Lefin,  Mendel,  Schriftsteller,  II  171. 

Lehfeld,   Otto,    Schauspieler,   II   259. 

Lehmann,  Redakteur,  I  354,  363. 

—  Emil,  Rechtsanwalt,  1362;  II  24, 
269. 

Leitenberger,  Baron,  II  83. 
Leitersdörfer,  Bela,  Architekt,  II  278. 
Lelewel,   Joachim,    Schriftsteller   und 

Politiker,  I  236;  II  147  f. 
Lenbach,  Maler,  II  275. 
Lenel,  Kommerzienrat,  Abgeordneter, 

II  265. 
Leo  XII.,  Papst,  I  131. 
Leone,  Leone  di,  Vorsitzender  des  rö- 
mischen Konsistoriums,  I  68. 
Leonhardt,  preußischer  Justizminister, 

I  371  f. 
Leopold  L,  Großherzog  von  Toskana, 

I  132. 
Leopold  IL,  Großherzog  von  Toskana, 

I  320. 

Leopold  IL,  König  der  Belgier,  I  287. 

Lepine,  Generalgouverneur  von  Al- 
gerien,  II  106  f. 

Lerchenfeld,  Freiherr  von,  bayrischer 
Staatsmann,  I  332. 

Leroy-Beaulieu,    Anatole,  Historiker, 

II  100,   104,   110. 
Lessing,  Gotth.  Ephr.,  I  25. 
Letteris,    Meyer  Halevy,    hebräischer 

Schriftsteller,  I  195. 
Leuß,  Antisemitenführer,  II  55. 
Levi,  Giulio,  italienischer  Gesandter, 

II  212. 

—  Giuseppe,  I  357. 

—  Herrmann,  Musiker  und  Kapell- 
meister, II  259,  268. 


Levi,  Mose,  Großrabbiner  der  Türkei, 

II   159. 
Levin,  Rahel,  I  55  f. 
Levinson,  Isak  Ber,  jüdisch -russischer 

Schriftsteller,  111   17. 
Levinstein,   Gustav,  II  178. 
Levy,      Alfred,      Großrabbiner      von 

Frankreich,  II  211. 

—  Professor,  II  106,  265. 

—  Albert,  Astronom  und  Natur- 
wissenschaftler, II  283. 

—  Emile,  Maler,  II  283. 

—  Julius,  II  262. 

—  Ludwig,  Architekt,  II  259. 

—  Maurice,  Ingenieur,  II  283. 

—  Michel,  II  262. 

—  Uriah  E.,  Commodore,   II  295. 

—  Sara,   I  53. 

Lewald,  Fanny,  Romanschriftstellerin, 

II  258. 

LcAvanda,  Schriftsteller,  III  73. 
Lew}',  Moritz,  Fleischer,  II  59. 

—  Jakob,  Bankier,  1  111. 
Libermann,  Bürgermeister,  II  222. 
Lichtenberg,    Kornel,     Mediziner.    11 

279. 
Lichtenstein,  Fürst  Alois,  II  82. 
Lieban,  Julius,  Sänger,  II  259. 
Lieben,  Adolf,  Chemiker,  II  273. 
Lieber,  Parlamentarier,  II  53. 
Liebermann,  Max,  Maler,  II  259. 

—  hebräischer    Schriftsteller,    I    163. 

—  von  Sonnenberg,  Führer  der  Anti- 
semiten, II  35  f.,  39,  41,  52,  54, 
58,   66. 

Liebreich,    Oskar,    Phafmokologe,    II 

260. 
Lievre,  Eduard,  Maler,  II  283. 
Lilien,  Zeichner,  II  259. 
Lilien  blum,  russisch-jüdischer  Literat, 

III  136. 

—  Moses  Lob,  Schriftsteller,  II  156, 
167. 

Liilienthal,  Dr.,  jüdischer  Theologe, 
III  13—15,  18—20,  22,  26  f. 

—  Dr.   Max,   Oberrabbiner,   1  228. 
Linetzki,  Dichter.  11  171. 

Lippe,  Graf  von  der,  preußischer 
Justizminister,   I  368  f. 

—  Wilhelm,  Tafelrichter  (Oberlandes- 
richter), II  279. 

Lippmann,  Gabriel,  Astronom  und 
Naturwissenschaftler.  II  283. 

Lippscliütz,  Dr.  Bernhard,  Ober- 
rabbiner, I  346. 

Lipschitz,  Salomon,  Warschauer  Ober- 
rabbiner, III  83. 


328 


Alphabetisches   Personenregister   füi"   alle   drei   Bände. 


Lips,  Universitätsprofessor,  I  101. 
Lister,   Lord  Josef,   Chirurg,   II   101. 
Ljutostanski,  Hippolyt,  russischer  Pu- 
blizist, III  100  f. 
Lob,  Oberrabbiner,  I  229. 
Loeb,  Jacques,  Biologe,  II  295. 

—  Louis,  Maler,  II  295. 
Loewe,  Orientalist,  II  306. 
Loewy,  Moritz,  Astronom,  II  279,  283. 
Löhning,  Edgar,  Jurist,  II  260. 
Lombroso,  Cesare.  II  282. 

Lopes,  Sabatino,  Dramatiker,  II  282. 

Lopuchin,  russischer  Ministerialdirek- 
tor, III  250. 

Loris-Melikow,  Graf,  russischer  ^li- 
nister,  III  107,  116,  141. 

Lorm,  Hieronymus,  Romanschrift- 
steller, II  258. 

Loubet,  Emil,  Präsident  der  franzö- 
sischen Republik,  II  111,  115,  11 7f. 

Louis  (Napoleon),  König  von  Holland, 
I  65  f. 

Louis  Ferdinand,   preußischer  Prinz, 

I  56. 

Low,  Leopold,  Rabbiner,  I  174,  215, 

278,  354,  380. 
Löwe,   Ludwig,    Großindustrieller,   II 

27,  32  f.,  47,  261. 

—  Joel,  jüdischer  Aufklärer,  I  150  f. 
Löwenstein,    Gabriel,    Landtagsabge- 
ordneter, II  269. 

—  Rudolf,  Journalist  und  Schrift- 
steller, II  258. 

Löwy,  Dr.,  Rabbiner,  I  172. 
Lubienski,  Graf,  Oberst,  I  237. 
LubUner,  Hugo,  Lustspieldichter,  II 

258. 
Luden,   Geschichtschreiber.  I  104. 
Ludwig,     Maximilian,     Schauspieler, 

II  259. 

Ludwig,  Großherzog  von  Hessen,  I  43. 

Ludmg  L,  König  von  Bayern,  I  246, 
294. 

Ludwig  XVI.,  König  von  Frank- 
reich, I  4. 

Ludwig  XVIII. ,  König  von  Frank- 
reich, I  124. 

Ludwig  Philipp,  König  der  Franzosen, 

I  221,    234—236,    293;    II    308: 

III  49. 

Ludwig  IV.,  Großherzog  von  Hessen, 

II  46. 

Lueger,  Karl,  erster  Bürgermeister 
von  Wien,  II  81  f.,  86—88. 

Luise,  Großherzogin  von  Baden,  II 19. 

Luzzniti.  Luiei,  italienischer ^linister, 
II  212,  2S1. 


Luzzatti,  Äütglied  der  provisorischen 
Regierung  in  Udine,  I  305. 

Luzzattc,  Samuel  David,  jüdischer 
Gelehrter  und  Dichter,  I  193  f., 
230,  368;  II  194. 

Lvon-Caen,  Rechtswissenschaftler,  II 
'  283. 

JH. 

Macaulay,  Lord,  englischer  Schrift- 
steller und  Staatsmann,  I  285. 

Mac-Mahon,  Marschall  und  Präsident 
der  französischen  Republik,  I  383; 
II  3,  96. 

Madarassy-Beck,  Baron  Ferdinand, 
Finanzier,  II  280. 

Magnus,  Eduard,  Maler,  II  259. 

:\Iahler,   Eduard,   Historiker,   II  279. 

:\rahmud,  Sultan,  II  300. 

Maier,  von,  Kjrchenrat,  Gelehrter, 
II  267. 

Maimon,  Salomon,  jüdischer  Philo- 
soph. I  52. 

Majunke,  Publizist  und  Abgeordneter, 
II  11. 

Major,  Julius,  Komponist  und  ^lu- 
siker,  II  278. 

Maison,  Konsul  Karl,  Landtagsab- 
geordneter, II  269. 

Makai,  Emil,  Schauspieldichter,  II 
279. 

Makower,  Justizrat,  II  151. 
Malbim,  chassidischer  Rebbe,  III  109. 
Malczewski,    Bischof    von   Kujavien, 

I  140  f. 

Malesherbes,    französischer    Staats- 
mann, I  4. 

Manassein,  russischer  Senator,  III 
118,  143  f. 

Mandelkern,   Gelehrter,  II   168. 

Mandelstamm,  Max,  Professor,  II  158. 

—  Schulmann,   III  33. 
Manheimer,  V.,  Großhändler,  II  261. 
Mannheimer,  Isaak     X'oa,  Prediger,  I 

159.  164,  173,  185,  208,  215,  302; 

II  270;  III   14. 

—  Gustav,  I\Ialer,  II  278. 
Manuchin,    russischer   Justizminister, 

III  249. 

Mansch,  Rechtsanwalt,  II  193. 
Manuel,      Ester     (Luise     Grafemus), 

Kämpferin    im    Befreiungskriege, 

I  85. 
Mapu,   Abraham,   Roniandichtcr,   III 

17. 


Alphabetisches   Personeiu'egister   für  alle  drei    Bände. 


329 


Marcus,  Sir  Samuel,  Lord-Mayor  von 
London,   II  204. 

—  Dr.,  mecklenburgischer  Abgeord- 
neter, I  299,  313. 

Marczah,  Heinrich,  Historiker,  II  279. 

Marguhes,  Rabbiner,  II  214. 

^laria    Alexandrowna,    Kaiserin    von 

Rußland,  III  102. 
Marix,     amerikanischer    Admiral,     II 

218. 
Mark,  Ludwig,  Maler,  II  278. 
Marko w,  russischer  Minister,  III  167, 

175. 
Markus,  Desiderius,  Kurialrichter,  II 

279. 

—  Ludwig,  jüdischer  Reformer,  1 167. 
Marmorek,   Alexander,   Mediziner,   II 

158. 
Marr,  Wilhelm,  Publizist,  II  13,  55. 
Martow,  L.,  jüdischer  Sozialdemokrat, 

III  197  f. 
Marx,  Universitätsprofessor,   II  267. 

—  Major,  II  268. 

—  Karl,  Politiker,  II  261. 
Maslow,  russischer  Erzpriester,  III 224, 
Masloff  II  59. 

Massaryk,  Professor,  II  90. 
Masserani,  TuUo,  Dichter,  II  282. 
Mauthner,    Eduard,    Journalist    und 
Schriftsteller,  II  258. 

—  Fritz,  Journalist  und  Schriftsteller, 
II  258. 

Matthes,  Pastor,  II  23. 
Maury,  Abbe,  16. — 
Max  Joseph,  König  von  Bayern,  I[40. 
Maybaum,  Sigmund,  Rabbiner,  II 159. 
Mayer,    Geheimer    Regierungsrat,    II 
265. 

—  Hauptmann,  II  100. 

—  Martin,  II  263. 

Mehemed  Ali,  Vizekönig  von  Äe;ypten, 
II  300—302,  304,  306—308. 

Meiggs,  Henry,  II  220. 

Meisel,  Rabbiner,  I  278,  302,  341. 

Meiseis,  Dob  Berusch,  Warschauer 
Oberrabbiner,  III  85  f. 

—  Rabbiner,  Mitglied  des  Reichs- 
tages, II  271. 

Meline,    französischer    Ministerpräsi- 
dent, II  109.  114. 
Mendel,  E.,  Mediziner,  II  260. 
Mendelssohn,   Moses,  I  25,   52  f.,   175. 

—  Finanzier,  II  261. 

Mendes,  Catulle,  Schriftsteller,  II  283, 
Monde y,a,Daniel,  jüdischer  Boxer,  I  70, 
Menzel,  Wolfgang,  Schriftsteller,  1 249, 


Mercier,    General,   Kriegsminister,   II 

102  f. 
Merilhou,    französischer    Kultusmini- 
ster, I  217,  235. 
Merlato,  Konsul,  II  302. 
Messel,  Alfred,  Architekt,  II  259. 
Metternich,     Fürst,    österreichischer 

Staatskanzler,   I  86—89,  96,  110, 

245;  II  83. 
Metsch,    von,    Staatsminister,  II  47. 
Meyer,  Arthur,  Journalist  iind  Poli- 

'tiker,  II  283. 

—  Johannes,  Landgerichtsrat,  II  269. 

—  Jonas     Daniel,     Nationalökonom, 

I  127. 

—  Richard  M.,  Literarhistoriker,  II 
259. 

—  Viktor,  Physiker,  II  260. 

—  Wilhelm  N.,  Mathematiker.  II  260. 
Meyerbeer,  Giacomo,  I  163. 
Meyerheim,  Paul,  Maler,  II  259. 
Mezei,  Moritz,  Jurist,  II  279. 
Michael   Obrenowicz   III.,   Fürst  von 

Serbien,  II  343. 
Mickiewicz,  polnischer  Dichter,  III  48. 
Milch,  IMoritz  II  262. 
Miliutin,  russischer  Minister,  III  107. 
Milland,     Journalist     und     Politiker, 

II  283. 

jNIilosch  Obrenowicz,  Fürst  von  Ser- 
bien, II  343. 

Minkowski,  J.,  Mathematiker,  II  260. 

Mirabeau,  Graf,  französischer  Poli- 
tiker, I  5—7,  26. 

Misgailo,    russischer    Polizeibeamter, 

III  223. 
Modebadze,  Sara,  III  102. 
Mohammed-El-Telli,    von   Damaskus, 

II  302. 
Mohammed-es-Zadok,  Bey  von  Tunis, 

II  322. 
Mohl,  Moritz,  Abgeordneter,  I  295. 
Moldar,  Samuel,  hebräischer  Dichter, 

I  194. 

Mole,  französischer  Staatsrat, 1 12 — 14, 

16. 
Molnar,  Franz,  Schauspieldichter,  II 

278. 
Mommsen,     Theodor,     Professor,     II 

19  f.,  80. 
Montague,  Sir  Samuel,  II  203. 
Montalivet,  französischer  Minister  des 

Innern,  I  21  f. 
Montefiore,    Sir   Moses,    I   286,    347; 

II  305,  310,  316,  325  f. 

—  Claude,  II  181. 


330 


Alphabetisches   Personenregister  für   alle   drei   Bände. 


Montefiore,  Jakob,  Städtegründer,  I 
226. 

—  Lady  Judith,  II  305,  307,  326. 
Mordecai,  Artilleriemajor,  II  295. 
Mores,  Marquis  von,  Politiker,  II  100. 
Morsrenstern,    Dr.,    bayerischer    Ab- 
geordneter, "I  269,  311. 

Morineau,  Antisemitenführer,  II  109. 
Morpurgo,  Abraham  Vita,  Redakteur, 

I  386. 

—  Senator,  I  68. 

Morris,  Sabato,  Rabbiner,  II  182. 
Mortara,  Edgar,  I  338. 
Mosenthal,  j.,  II  121. 
Moser,    Moses,    Buchhalter   und    Re- 
former, I  165  f. 
Moses,  Oberrichter. 

—  Gouverneur  von  Südkarolina,  I 
389. 

Mosse,    Rudolf,    Verlagsbuchhändler, 

II  261. 

Mosenthal,  S.H.,  dramatischer  Schrift- 
steller, II  274. 

Moszkowski,  Alexander,  Journalist 
und  Schriftsteller,  II  258. 

—  Moritz,  Komponist,  II  259. 
Moureaux,  Advokat.  I  122. 
!Mühler,    von,     preußischer     Kultus- 
minister, I  368  f.,  371,  373. 

Müller,  David  Heinrich,  Semitist,  II 

273. 
Munk,    Salomon,    Orientalist,    I    193, 

219;  II  259,  283,  306. 

—  Hermann,  Physiologe,  II  260,  263. 
Munkacsi,  Bernhard,  Sprachforscher, 

II  279. 

Murawjew,  Graf,  Statthalter  von 
Litauen,  III  87,  89. 

Mussin-Puschkin,  von,  Großgrund- 
besitzer, III   136. 

Muzaffer  Ed-din  Mirza,  Schah  von 
Persien,  II  320. 

X. 

Nachod,  Bankier,  II  270. 

Naef,  Rechtsanw.,  Abgeordneter,  II 
265. 

Nahum ,  Chaim ,  türkischer  Groß- 
rabbiner, II  315. 

Napoleon,  Prinz,  I  336. 

Napoleon  I.  (Bonaparte).  I  9—23, 
34,  65,  67,  79,  121. 

Napoleon  III.  (Louis  Napoleon),  Kai- 
ser der  Franzosen,  I  319,  323, 
336,  338.  N 

Naß  II  263. 


Nathan,  Ernesto,  Bürgermeister,  II 
282. 

—  Sir  Matthew,  hoher  englischer  Be- 
amter, II  203. 

—  Paul,  II  151,  313,  318. 
Nathanson,    Jakob,    Universitätspro- 
fessor, III  86. 

—  M.  B.,  jüdischer  Aufklärer,  I  72. 
Navarra,  Hercolano,  Maler,  II  282. 
Neidhardt ,      Stadthauptmann      von 

Odessa,  III  208—212,  249. 

—  Gouverneur  von  Jekaterinoslaw, 
III  215. 

Neisser,  Alb.,  Mediziner,  II  260. 
Nekludow,    N.    A.,    Kriminalist,    III 

103,  172. 
Neuberger,  Ignaz,  Senatspräsident  der 

Königl.  Kurie,  II  279. 
Neuda,  Max,  Jurist,  II  260. 
Neufeld,  Daniel,  jüdischer  Publizist, 

III  84. 
Neumann,  Hermann,  Jurist,  II  279. 

—  J.,  Mediziner,  II  260. 

—  Salomon,  vSanitätsrat,  II  27. 
Ney,  David,   Opernsänger,  II  278. 
Niemirower,   Oberrabbiner,   II  340. 
Niemojewski,  polnischer  Schriftsteller, 

III  286. 

Nikolaus  I.,  Kaiser  von  Rußland, 
I  136—139,  142  f.;  II  300:  III  1, 
3—8,  10,  12  f.,  18,  20—22,  24—30, 
37,  39,  41  ff.,  47,  52,  54,  61—63, 
70,  88,  94,  103,  145,  245,  270,  275. 

Nikolaus  IL,  Kaiser  von  Rußland, 
III  143,  171—173,  176  f.,  180, 
191,  222,  238,  241—244,  246  bis 
248,  253,  258,  275. 

Nisselo  witsch,  jüdisches  Dumamit- 
glied  III  244. 

Neuda,  Abraham,  Rabbiner,  I  186, 
215. 

Noel,  französischer  Diplomat,  I  64  f. 

Nöldicke,  Professor,  II  46. 

Nordau,  Max,  Schriftsteller,  I  158, 
160,  163  f.;  II  258. 

Norden,  Josua  D..  jüdischer  Offizier, 
I  225. 

Nothnagel,  Professor,  11  83. 


O. 

Obermaier,  Bankier,  Oberst  der  Land- 
wehr, II  268. 
Ochs,   Siegfried,   Musiker,   II  259. 
Onodi,  Adolf,  Mediziner,  II  279. 
Onody,  Antisemitenführer,  II  79. 


Alphabetisches   Personenregister   für   alle   drei   Bände. 


331 


Oppenheim  ,  Moritz ,  Maler,  II  259 ; 
III  26. 

—  Max  von,  Forschungsreisender, 
II  260. 

—  Wolf,  I  58. 

—  Abgeordneter,  II  5. 
Oppenheimer,  Jakob,  Bankier,  I  103. 
Oppert,   Gustav,   Orientalist,   II  259. 

—  Julius,  Orientalist,  II  259,  283. 
Oppler,  B.,  Architekt,  II  259. 
Orbescu,  rumänischer  Minister,  II  330. 
Orleans,  Herzog  von,  II  110. 
Ormody,  Wilhelm,  Finanzier,  II  280. 
Ortenau,     juristischer    Schriftsteller, 

II  267  f. 

—  Hauptmann,  II  268. 
Ortenstein,  Landgerichtsrat,  II  269. 
Orterer.   Abgeordneter,  II  53. 
Oser,  Dr.,  Arzt,  II  273. 

Oskar  II..  König  von  Dänemark,  II 

201. 
Osman  Bey,  Major,  II  96. 
Ostrowski,   Graf,  jiolnischer   General, 

III  45  f. 

—  Graf  Anton,  I  236. 

Oettinger,  Rabbiner,  I  160. 

Ottolenghi,  Giuseppe,  General,  ita- 
lienischer Kriegsminister,  II  212, 
281. 

P. 

Paalzow,      judenfeindiieher      Schrift- 
steller,  I  26. 
Paasch,  Karl,  Führer  der  Antisemiten, 

II  42,  55. 

Pallien,  Graf,  russischer  Staatsmann, 

III  141. 

Palmerston,  Lord,  englischer  Mi- 
nister,  II  302. 

Panizzardi,  Militärattache,  II 112, 114. 

Pap,  David,  Jurist,  II  279. 

Papp,  Gabriel,  reformierter  Bischof, 
II  150. 

Pappenheim,  Max,  Jurist,  II  260. 

—  Bertha,  II  149. 
Pappenheimer,    Isr.    Hirsch,    Führer 

der  bayerischen  Juden,  I  103. 
Paschküw,  russischer  Gouverneur,  III 

239. 
Passower,  Advokat,  III  126. 
Paul,  Kaiser  von  Rußland,  I  72  f. 
Paulus,     Geheimer    Kirchenrat     und 

Professor,  I  94,  243,  250. 
Paur,  bayerischer  Abgeordneter,  I  374. 
Pattai,   Antisemitenführer,   II  73. 


Patte rson,  kanadischer  Minister,  II 
219. 

Peixotto,  Benj.  Franklin,  nordameri- 
kanischer Diplomat,  II  216,  334. 

Peltasohn,   Abgeordneter,   II  263. 

Pereire,  Finanzier,  II  283. 

Peretz,  Isaak  Lob,  Novellist,  II  173. 

Perl,  Joseph,  jüdischer  Reformer, 
I  175. 

Perles,  Rabbiner,  II  268. 

Perlmutter,  Isak,  Maler,  II  278. 

Peters,  Musikverlag,  II  270. 

Pflaum,  von,  Geh.  Kommerzienrat, 
Finanzier,  II  266. 

Pfeiffer,  Finanzier,  II  266. 

Philippi,  Antisemitenführer,  II  108. 

Philipps,  C.  S.,  Londoner  Alderman, 

I  286. 

Philippson,  Alfred,  Geograph,  II  260. 

—  Franz,  II  149. 

—  Dr.  Gustav,  anhaltischer  Abgeord- 
neter, I  313. 

—  Dr.  Ludwig,  Rabbiner  und  Schrift- 
steller, I  186—191,  203,  208—215, 
261,  315f.,266f.,  328,  331,  338,  343, 
350—353,    356,    363,    366,    369  f.; 

II  15,  311;  III   14  f. 

—  Martin,  Historiker,  II  60  f.,  185, 
259. 

—  Moses,  Schulmann  und  Gelehrter, 
I  42,  161. 

Phiseldeck,  Geheimrat  von,  I  104. 
Picard,  Edmund,  Politiker,  II  119. 
Picquart,  Oberstleutnant,  II  112  bis 

114,  116. 
Pincherle,     venezianischer     Handels- 

minister,  I  305. 
Pineles,  Gelehrter.  II  194. 
Pines,  Michel,  II  167. 
Pinner,  A.,  Chemiker,  II  260. 
Piesker,  Leo,  Schriftsteller,  II  156. 
Pissarschewsky,  Notar,  III  183,  185. 
Pius  VI.,  Papst,  I  67. 
Pius  VIL,  Papst,  I  130  f. 
Pius  VIIL,  Papst,  I  131. 
Pius  IX.,    Papst,    I    289,    304,    320, 

337—339,  386,  392;  II  2  f. 
Plauth,  H.  C,  Bankgeschäft,  II  270. 

—  Jakob,  II  270. 

Plechanow,    russischer   Politiker,    III 

189. 
Plehwe,  von,  russischer  ^linister,  III 

180  f.,  184,  189  f.,  194  f. 
Pobjedonoszew,     Konstantin     Petro- 

witsch,    russischer  Gelehrter    und 

Staatsmann,    II    115,     141,     143, 

157,   176,   180.   191. 


332  Alphabetisclies   Personenregister  für   alle  drei   Bände. 


Podgoritschany,  Graf,  III  251. 
Pogrebnoj,  russischer  Polizeibeamter, 

III  209. 
Pohl,  Max,  Schauspieler,  II  259. 
Polonyi,    ungarischer    Justizminister, 

II  94. 

Poljakow,  Lazar  von,  russischer  Ge- 
heimer Staatsrat,  III  135,  270. 

—  S.  S.,  russischer  Eisenbahnmagnat, 

III  124—126. 

Politzer,  Adam,  Otologe,  II  273. 

Pontremoli,  E.,  I  337. 

Popow,  russischer  Polizeibeamter,  III 

217. 
Popper,  David,  Musiker,  II  259. 

—  Leopold,  I  359. 

—  Ignaz,  Staatengouverneur,  II  220. 
Porieß,  Naturwissenschaftler,  II  168. 
Portalis,  französischer  Staatsrat,  I  10, 

12—14. 
Posner,  S.,  jüdischer  Wohltäter,  III 54. 
Possart,  Ernst,    Schauspieler,  II  259. 
Potemkin,  russischer  Polizeibeamter, 

III  218. 
Pringsheim,  N.,  Botaniker,  II  260. 
l^ronin,  antisemitischer  Agitator,  III 

182,  207. 
Frus,    Boleslaw,    polnischer    Schrift- 
steller, III  285  f. 
I'ückler,   Graf,  II  56—58. 
Puttkamer,  von,  preußischer  Minister, 

II  17,  20,  37,  185. 
I  'urischkewitsch,  zweiter  Vorsitzender 

des     Verbandes     echt     russischer 

Leute,  III  243. 


R. 


Raaben,  von,  russischer  Gouverneur, 
III  184. 

Rabbinowicz,  Rabbiner,  I  389. 

Rabinowitsch,  Ossip,  Publizist,  III  73. 

—  Salomon,  Schriftsteller,  II  173. 

Rachel,  Schauspielerin,  II  283. 

Racoch,  L.,  Redakteur,  I  386. 

Radetzky,  österreichischer  Feldmar- 
schall, I  304,  306,  337. 

Rafalsky,  russischer  Gouverneur,  III 
220. 

Rapoport,  Salomon  Jehuda,  jüdischer 
Gelehrter,  I  175,  192,   194. 

Rathenau,  Emil,  Begründer  der  Allge- 
meinen Elektrizitätsgesellschaft, 
II  261. 

Ratschkowsky,  russischer  Staatsrat, 
HI  250. 


Ratti-Menton,   Konsul,   II   301—303, 

307  f. 
Rau,  juristischer  Schriftsteller,  II  267. 
Rauscher,    Kardinal -Erzbischof    von 

Wien,  II  69  f. 
Ra3Tial,  Da\ad,  französischer  Minister, 

II  210,  283. 
Rebbert,  Professor,  II  10,  16. 
Reggio,   Isak   Samuel,   jüdischer   Ge- 
lehrter, I  193. 
Regis,    Max,    Antisemitenführer,    II 

106—109,  116. 
Reichenheim,     Großindustrieller,     II 

661. 
Reicher,    Emanuel,    Schauspieler,    II 

259. 
Reichstein,  Julius,  III  85. 
Reinach,  Finanzier,  II  283. 

—  Theodor,    Sprachwissenschaftler, 
II  180,  283. 

—  Josef,  Journalist  und  Politiker, 
II  283. 

—  Salomon,  Sprachwissenschaftler,  II 
283. 

Reitern,  russischer  Minister,  III  65  f. 

Reitlinger  (Brüder),  Berg-  und 
Hüttenwerke,  II  272. 

Remak,  Dr.,  INIediziner,  I  274. 

Rethy,  Moritz,  Mathematiker,  11  279. 

Reuleaux,  Professor,  II  42. 

Rewbell,  Advokat,  I  6. 

Richter,  Professor,  II  85. 

Ries,  Theresa,  II  274. 

Rieß,  Dr.,  Physiker,  I  268. 

Rießer,  Dr.  Gabriel,  Jurist  und  Poli- 
tiker, I  100,  207,  240—244,  251, 
259—261,  295  f. 

—  Lazar,  jüdischer  Gelehrter,  I  163. 
Ring,    Max,    Romanschriftsteller,    II 

258. 
Robert,    Emmerich,   Schauspieler,   II 

259. 
Rocholl,  Divisionsprediger,  II  23. 
Rochow,    von,    preußischer   Minister, 

I  265. 

Rodenberg,      Julius,      Romanschrift- 
steller, II  258. 
Rodes,  Cecil,  englischer  Kolonisator, 

II  222. 

Rohling,   Theologie-Professor,  I  392; 

II,  3,  10,  16,  73. 
Roi,  de  la,  Prediger,  II  14. 
Rokitansky,  Professor,  II  83. 
Romanili,  Samuel,  hebräischer  Lehrer, 

I  194. 
Rona,  Josef,  Bildhauer,  11  278. 


Alphabotisclies  Personenregister   füi'   alle   drei   Bände.  333 


Roosevelt,  Präsident  der  Ver.  Staaten 

von  Nordamerika,  II  217,  339. 
Rosas,    Dr.,    Professor    der    Medizin, 

I  275. 

Roschdestwensky,  russischer  Admiral, 

III  188. 
Rosen,  Matthias,  III  79. 
Rosenfeld,  Moritz,  Jargondichter,  III 

26G. 
Rosetti,  rumänischer  ^Minister,  II  337. 
Rosenthal,     Prof.     Dr.,     Physiologe, 

II  260,  268. 

—  Leo,  jüdischer  Philanthrop,  III 
110. 

—  Moritz,  Musiker,  II  259. 

—  Toby,  Maler,  II  268. 
Rosin,  H.,  Jurist,  II  260. 
Rothauser,  Theresa,  Sängerin,  II  259. 
Rothmül,  N.,  Sänger,  II  259. 
Rothschild,  Finanzier,  II  283. 

—  Baron  Anselm  von,  I  378. 

—  Edmund  von,  II  317. 

—  Baron  Lionel,  I  286,  336. 

—  Karl  Meyer  von,  Finanzier,  II  261. 

—  Baron  Nathan,  II  305. 

—  Nathaniel  von,  II  203. 

—  S.  M.  von,  Bankier,  II  273. 

—  Rabbiner,  II  264. 

Rotteck,  Geschichtschreiber  und  Po- 
litiker, I  251. 

Rottenberg.  Dr.,  III  27. 

Rouanet,  Gustav,  Abgeordneter,  II 
108. 

Rovighi,  Cesare,  Journalist,  1 230,  290. 

Rubenson,  Gemmy,  Polizeipräsident, 
II  216. 

Rubo,  E.,  Jurist,  II  260. 

Rudis,  Mendel,  III  184. 

Rühs,  Chr.  Fr.,  Professor.  I  92. 

Rülf,  Isaak,  Rabbiner.  II  156. 

Rybinski,  General,  I  238. 

S. 

Saalschütz,  Dr.,  Rabbiner,  I  261,  268, 

298. 
Saar  II  275. 

Sacharin,  Dr.,  Arzt,  III  252. 
Sachs,  Michael,  Kanzelredner,  I  202, 

213,  347. 

—  Salomo,  Bauinspektor,  I  118. 
Sack,  Bankdirektor,  III  126. 
Sagaramskij  -Kissel,   Stadthaujjtmann 

von  Nikolajew,  III  213. 
Sailer,  Friedrich,  Schriftsteller,  II  16. 
Salerasfeld,      Theodor      Edler      von, 

Hauptmann,  I  377. 


Salfeld,  Rabbiner,  II  264. 

Salientochowski,  polnischer  Schrift- 
steller, III  286. 

Salkind,  Salomon,  Gelehrter,  III  18. 

Salman  von  Liozna,  Führer  der  Chas- 
sidim,  III  82. 

Salomon,  Gotthold^  Lehrer  und  Pre- 
diger, I  42,  94,  161,  196,  208. 

—  Sir  Julian,  australischer  Staats- 
mann, II  225. 

—  N.  L.,  Premierminister  von  Süd- 
australien, II  225. 

Salomons,  David,  1  286,  335;  II  305. 
Salvador,   Geschichtschreiber  des  Ju- 
dentums, I  219. 

—  Philanthrop,  II  283. 

Salvano,  Giacomo,  italienischer  Ge- 
neralsekretär des  Äußeren,  II  212. 

Samarin,  russischer  Nationalökonom, 
III  95. 

Samson,  Isaak  Herz,  jüdischer  Philan- 
throp, I  29. 

Samsorow,  russisclier  Generalgouver- 
neur, III  261. 

Samuel,  Herbert,  englischer  Minister, 
II  203. 

—  australischer  Abgeordneter,  I  383. 
Sandherr,  Oberst,  II  101. 

St.  Jean  d'Angely,  Regnault  de,  fran- 
zösischer Abgeordneter,  I  7. 

Sanders,  Daniel,  Sprachforscher,  II 
259. 

Sandheim,  Philanthrop,  I  83. 

Sandor,  Paul,  Politiker,  II  280. 

Santa-Anna,   Präsident   von  Mexiko, 

I  226. 

Sarda,  Schneider.  II  120. 

Saro,   Samuel,   Oborlandesgerichtsrat, 

II  195. 

Sassoon,  Sir  Albert,  II  348. 

—  David,  II  348. 
Saussier,  General,  II  100. 

Sattler,  Fabrikant  und  Abgeordneter, 

I  247. 
Schapira,  C.  A.,  Lyriker,  II  168. 
Scharf,  Josef,  Synagogendiener,  II  77. 

—  Moritz,  II  77  f. 

Schauer,  Rechtsanwalt,  IT  159. 
Schelling,  von,  Minister,  II  45,  186. 
Scheremetjew ,       GendarmericAvacht- 
meister,  III  206,  255. 

—  russischer  Generalgouverneur,  III 
174. 

Scherif-Pascha,  Gouverneur  von  Da- 
maskus, II  301  f.,  304,  307  f. 
Scheurer-Kestner,  Senator,  II   112. 


334  Alphabetisches   Personenregister   füi-    alle   drei   Bände. 


Schiff.  Jakob  H. ,  Philanthrop,  II 
294  f. 

—  Moritz,  Physiologe,  II  260. 
Schimmelpenninck.  batavischer  Rats- 

pensionar,  I  65. 
Schlegel,  Friedrich,  Schriftsteller,  I  56. 
Schlesinger,    Ludvdg,    ^lathematiker, 

II  279. 
Schlösser,  Maler,  II  264. 

—  Musiker  und  Hofkapellmeister, 
II  264. 

Schmal,  Dr..  Regierungsrat,  II  267. 
Schmerling,    Anton   von,    österreichi- 
scher Minister,  I  317. 
Schmidt,  Publizist,  I  94. 

—  Xaver  von,  Geistlicher  und  Ab- 
geordneter, I  100. 

—  Universitätsprofessor,  II  267. 
Schmidt,     Alexander,     Bürgermeister 

von  Kischinew.  III  184. 

Schmiedl,  Rabbiner,  I  215. 

Schneider,  Abgeordneter,  II  128. 

Schnitzer,  Eduard  =  Emin  Pascha, 
II  260. 

Schnitzler,  Arthur,  dramatischer 
Schriftsteller,  II  274. 

Schönberger,  Baron  Sigmund,  Groß- 
grundbesitzer, II  280. 

Schönerer,  Georg  Ritter  von,  Anti- 
semitenführer, II  71,   74,  76,  82. 

Schönstedt,  preußischer  Justizmi- 
nister, II  63,  186. 

Schorlemer-Alst,   von,   Abgeordneter, 

II  53. 

Schorr,  Josua  Heschel,  II  167,   194. 
Schreiber,   Simon,   Rabbiner,   II   192 

bis  194. 
Schreyer,  Jakob,  Jurist,  II  279. 
Schröder,  Domvikar,  II  11. 
Schröder-Bergstadt,  Abgeordneter,  II 

11. 
Schroetter,  von,  preußischer  ^Minister, 

I  165. 

Schtschedrin.  russischer  Schriftsteller, 

III  137. 

Schuckmann,     preußischer     ]\Iinister 

des  Innern.  I  111. 
Schukowski,  russischer  Dichter,  III 59. 
Schwab,  L.,  Rabbiner,  I  174,  205. 
Schwartz,  russischer  jNIinister,  III  264f . 
Schwarz,  Arthur,  ]Mediziner,  II  279. 

—  Eduard.  Forschungsreisender,  II 
260. 

Schwarzkoppen,   von,   ]\Dlitärattache, 

II  112,   114. 

Schweitzer,  Eduard  von,  Feldmar- 
schall-Leutnant, II  274,  280. 


Sdorow.     russischer     I'olizeibeamter, 

III  216. 
Sedlyczek,  Antisemitenführer,  II  55. 
See,  Germain,  Mediziner,  II  283. 
Segre,  Enrico,  Hauptmann,  II  282. 
Seljenoi,    Odessaer   Stadthauptmann, 

III  227.; 
Seligmann.  Josef,  II  121. 

—  L.,  Rabbiner,  I  230. 

Senator,  H.,  Mediziner,  II  260,  263. 

Senger,  russischer  ]Minister,  III  194. 

Sergei  AlexandroA^-itsch,  russischer 
Großfürst,  III  191. 

Sessa,  Karl,  Possendichter,  I  93. 

Sichel,  Nathanael,  Maler,  II  259,  264. 

Sieghart,  (Dr.  jur.  Singer),  Ministe- 
rialdirektor, II  274. 

Silbermann,  Redakteur,  I  344. 

Siemens,  'Werner  von,  Physiker,  II  19. 

Simon,  James,  II  149,  261. 

Simons,    preußischer    Justizminister, 

I  367. 

Simonsfeld,  G.,  Historiker,  II  259. 

Simson,  Eduard,  Reichstags-  und 
Reichsgerichtspräsident,  II  260. 

Sinadino,  antisemitischer  Agitator, 
III  207. 

Singer,  Dr,  jur.  (Sieghart),  Ministe- 
rialdirektor, II  274. 

—  sozialdemokratischer  Führer,  II  32, 
261. 

Sirin,   russischer   Polizeibeamter,   III 

224. 
Skalon.    russischer    Generaladjutant, 

III  258. 
Smolenski,  jüdischer  russischer  Literat, 

III  136. 

—  Perez,  Schriftsteller,  II  156,  167  f. 
Sokolow,Nahum,  Schriftsteller,  II 169. 
Soldi,   Emile,   Bildhauer,   II  283. 
SoljTnessi,  Esther,  Dienstmagd,  II  77f. 
Sonnemann,   Leopold,    Abgeordneter, 

II  27,  261. 

Sonnenthal.   Adolf,    Schauspieler,    II 

274. 
Sontheim  H.,  Sänger,  II  259. 
Sopher,  ^lose,  Rabbiner,  I  163,   173, 

183. 
Soschinski,     russischer     Hauptmann, 

III  256. 

Soult,  ^larschall,  französischer  Pre- 
mierminister, II  303. 

Spanjer-Herford.  Advokat,  I  255. 

Spektor.  ^Mordechai,  Scliriftsteller,  II 
173. 

Sper,  Leib,  jüdischerWohltäter,  III 54. 


Alphabetisches    l'crsouenregister   für   alle   drei   Bände. 


335 


Speyer,  James,  Finanzier,  II  29ö. 
Spitzer,  Leibarzt  des  Sultans,  II  310. 

—  Salomon,  Rabbinatsassessor,  I  357. 
Springer,  Baron  Gustav,  II  272. 

—  Max,  Fabrikant.   II  272. 
SsagußjeAvitsch-Hanko,  russischer  Be- 
amter, III  205. 

Stadion,  Graf  Franz  Seraphim,  Statt- 
halter von  Galizien,  1  277. 

Stahl,  Friedrich  Julius,  Professor  und 
Politiker,  I  239. 

Stanislaus  Poniatowsky,  König  von 
Polen.  III  53. 

Staub,  H.,  Jurist,  II  260. 

Stein,  Reichsfreiherr  von,  I  88. 

—  Ludwig,  Philosoph,  II  260. 

—  Leopold.  Rabbiner,  1 205,  212,  315. 
Steindorf,  G.,  Historiker,  II  259. 
Steiner,  K.  von.  Geh.  Kommerzienrat, 

Bankier,  II  267. 

Steinheim,  Salcmon,  Ludwig,  Ge- 
lehrter und  Schriftsteller,  I  181, 
282. 

Steinthal,  Haim,  Philosoph,  II  260. 

Stern,  Abraham,  ^Mathematiker,  I  75. 

—  Julius,  Musiker,  II  259. 

—  Dr.  Sigismund,  ^litbegründer  der 
Berliner  Reformgemeinde,  I  205  f., 
270. 

Sternau,  Graf  Wenzel,  badischer 
Staatsmann.  I  39. 

Sternfeld,  :Moritz,  Dichter,   II   173. 

Stettenheim,  Julius,  Journalist  und 
Schriftsteller,  II  258. 

Stiassny,  Baurat,  ^litglied  im  Ge- 
meinderat, II  271,  274. 

Stiller,  Moritz,  Jurist,  II  279. 

Stöcker,  Adolf,  Hofprediger,  II  11, 
13  f.,  23,  27,  30—33,  36—41,  45, 
48,  185. 

Stolypin,  Peter  Arkadjewitsch,  russi- 
scher Minister,  III  197,  233,  241  f., 
2491,  254,  259,  265. 

Strack,  Hermann,  Professor,  II  46. 

Straschun,  ^latthias,  gelehrter  Ban- 
kier, III  17. 

Straßburger,  Eduard,  Botaniker,  II 
260. 

Straßmann,  Dr.,  Stadtverordneten- 
vorsteher in  Berlin,  II  21. 

Strauß,  David  Friedrich,  christlicher 
liberaler  Theologe,  I  202. 

—  Oskar  Salomon,  nordamer.  Diplo- 
mat, II  217. 

—  Oskar,  Komponist,  II  274. 
Stratanowitsch,     Bürgermeister     von 

Orscha,  III  223. 


Streckfuß,  Adolf,  preußischer  Ge- 
heimrat und  Schriftsteller,  I  260 
bis  262,  270. 

StreLnikow,  russischer  Genera],  kaiser- 
licher Prokurator,  III  129. 

Strobach,  Bürgermeister,  II  87  f. 

Stroganow,  Generalgouverneur,  III 
62,  65. 

Struck,  Maler,  II  259. 

Struensee,  preußischer  Finanzminister 

I  51. 

Suchonikow,  russischer  Polizeibe- 
amter, III  213. 

Suchomlinow,  russischer  Generalgou- 
verneur, III  253. 

Sueß,  Professor,  II  83. 

Sulzer,  Kantor,  I  173,   186. 

Surrabi,  Salomon,  II  347. 

Sußmann-Hellborn,  Bildhauer,  II  259. 

Sutro,   Oberrabbiner,  I  366. 

Suttner,  Baron,  Schriftsteller,  II  83. 

—  Baronin,  Schriftstellerin,  II  83. 
Suworin,  russischer  Publizist,  III  100. 
Svab,   Karl  von,    Großgrundbesitzer, 

II  280. 

Swerbejew,     russischer     Gouverneur, 

III  239. 
Swjatopolsk-Mirski,    Fürst,    Hetman, 

III  174. 

—  Fürst,  russischer  Minister,  III  195. 
Sybel,    Heinrich   von;    Direktor  der 

Staatsarchive,  II  19. 
Szanto,  jNIichael,  ^linisterialrat,  Jurist, 

II  279. 
Szell,  Antisemitenfübrer,  II  79. 
Szechenyi,     Graf     Bela,     ungarischer 

Staatsmann,  I  380. 
Szekely,  Franz,  Finanzier,  II  280. 
Szenes.  Philipp,  Maler,  II  278. 
Szilasi,  Moritz,  Sprachforscher,  II 279. 
Szih,  Adolf  von,  Mediziner,  II  279. 
Szterenyi,  L'nterstaatssekretär,  II  274. 


Taaffe,  Graf,  österreichischer  Minister- 
präsident, II  71,  82,  84. 
Tager,  Oberrabbiner,  III  261. 
Taussig,  Anton,  Musiker,  11  259. 

—  Siegmund,    Hof  rat,    Architekt,  II 
274. 

—  Theodor     Ritter     von,     Bankier, 
II  273. 

Tedeschi,  Achille,  Journalist,  II  282. 
Teles,  Eduard,  Bildhauer,  II  278. 
Teller,  Propst,  I  54. 


33 G  Aliihabetisches   Personenregietor   für  alle   drei    Bände 


Theotokis,  griechischer  Ministerpräsi- 
dent, II  346. 

Thierey,  Advokat,  I  6. 

Thiers,  Adolf,  französischer  Minister- 
präsident, I  254;  II  304.  306, 
308. 

Thomas,  Kapuzinerpater,  II  301. 

—  Emil,   Schauspieler,  II  259. 
Thun,   Graf,  österreichischer  Kultus- 
minister, I  357. 

—  A.,  deutscher  Schriftsteller,  III 
119. 

Thurau,  russischer  Senator,  III  248. 
Tichanowsky,     russischer     Dragoner- 
oberst, III  257  f. 
Tietz,  Hermann,  Großhändler,  II  261. 
Tiktin,  Salomon,  Rabbiner,  I  199  f. 
Tisza,  ungarischer  Ministerpräsident, 

II  79—81. 

Todesco,  Baron  Eduard,  II  273  f. 

Todt,  Pfarrer,  II  13. 

Tolmatschow,  russischer  Gouverneur, 

III  262. 

Tolstoi,  Graf  Dmitri  Andrejewitsch, 
russischer  Minister,  III  139  f., 
155,  175. 

—  Graf  Leo,  russischer  Schriftsteller, 
III  138. 

Touro,  Juda,  II  316. 

Toussaint   Descjuiron  de    St.-Agnan, 

französischer  Präfekt,  I  121. 
Traube,  S.,  Mediziner,  I  371 ;  II  260. 
Trefort,    ungarischer   Kultusminister, 

II  79,  196. 
Treitschke,   Heinrich  von,   Professor, 

II  15,  27,  35. 
Trepow,     Petersburger     Stadthaupt- 
mann, III  245  f.,  250. 
Treves,  Claudio,  Journalist,  II  2^2. 
Trier,    Salomon  Abraham,  Rabbiner, 

I  203. 
Triesch,  Irene,  Schauspielerin,  II 259. 
Tsarfati,  reformierender  Schriftsteller, 

I  219. 
Tscherkaski,  Fürst,  III  95. 
Tschernichewsky,    Paul,    Dichter,    II 

169. 
Tugendhold,  Seminardirektor,  III  50. 

r. 

Uchtomsky,  Fürst,  III  172. 
Ullmann,  Adolf,  Finanzier,  II  280. 
Ulmann  II  267. 

—  Benjamin,  Maler,  II  283. 

—  Joseph,  Rauchwarengeschäft,  II 
270. 


Unger,  Minister,  II  275. 

—  Josef,  Jurist,  II  260. 
Ungerleider,  Rabbiner,  I  354. 
Urussow,    Fürst,    russischer    Gouver- 
neur, III  207,  227,  250,  258. 

Ury,  Lesser,  Maler,  II  259. 
Usischkin,  Zionisten-Führer,  II  165. 
Ustiugow,  russischer  Vizegouverneur, 

III  182. 
Uwarow,  Graf,  russischer  Unterrichte- 
minister,  III  13—15,  19  f.,  22. 

V. 

Valabregue,       Albin,      dramatischer 

Schriftsteller,  II  283. 
Valentin,  Rektor,  II  201. 

—  Prof.  Dr.,  Physiologe,  I  387;  II 
260. 

Vamberv.  Hermann,  Orientalist,  II 
279.^ 

Varzsonyi,  Wilhelm,  Politiker,  II  280. 

Vay,  Baron  Nikolaus,  I  280. 

Veit,  Dr.,  Buchhändler  und  Abgeord- 
neter, I  295. 

—  Dorothea,  I  56. 

Venture,  Orientalist,  I  9. 

Verhovay,  Publizist,  II  80. 

Victor  äigo,  Dichter,  II  29. 

Viktor  Emanuel  II.,  König  von  Sar- 
dinien, dann  von  Italien,  I  320, 
385. 

Viktoria,    Königin    von    England,    II 

150,  222,  348. 
Viktoria,    Kronprinzessin    und    dann 

Kaiserin    von    Deutschland    und 

Königin  von  Preußen,  II  19. 
Virchow,  Rudolf,  Professor,  II  42. 
Visontai,  Kornel,  Politiker,  II  280. 
Vogel,  Sir  John,  Premierminister  von 

Neu-Seeland,  II  225. 
Vogel,  Simon,  Oberst,  II  274. 
Vogelstein,  Rabbiner,  II  159. 

Wagener,  Hermann,  preußischer  Ab- 
geordneter, I  331  f.,  345. 

Wagner,  Adolf,  Professor,  II  31,  35. 

Wahrmann,  Moritz,  Pohtiker,  II 280. 

Wahrmimdt,  Adolf,  Professor,  II  35. 

Waldeck-Rousseau,  französischer  Mi- 
nisterpräsident, II  111,  115  f. 

Waldersee,  Graf,  Generalstabschef,  II 
36. 

Waldteufel,  Jonas,  Musiker,  II  283. 

Walter,  Abgeordneter,  I  310. 

Waluwjew,  russischer  Minister,  III  66. 


Alphabetisches   Personenregister  für  alle  drei   Bände. 


337 


Wannowski,  russischer  ^Minister,  III 
175  f. 

Warburg,  Emil,  Chemiker,  II  260. 

Wassermann,  von,  Kirchenrat,  Ge- 
lehrter, II  267. 

—  Jakob,  Romanschriftsteller,  II 258. 
Weigert,  P.,  Mediziner,  II  260. 
Weil,   Gjrmnasialprofessor,  I  319. 

—  Gustav,  Orientalist,  II  259. 

—  Dr.  Karl,  Kollegien-Assessor,  1 249. 
Weill,   H.,    SprachA\issenschaftler,   II 

283. 

Weitlof,  Abgeordneter,   II  75. 

Wellington,  Arthur  Herzog  von,  I  285. 

Wergeland,  Henrik,  norwegischer  Ab- 
geordneter, I  283,  335. 

Wertheim,  Georg,  Großhändler.  II 261. 

Wertheimer,  Joseph  von,  I  275,  329. 

Wertheimstein,  von,  Franz,  II  275. 

—  Ritter   Leopold  von,  II  274. 
Wessely,  Universitätsprofessor,  I  317. 

—  Naftali  Hartwig,  Hebraist  und 
jüdischer   Aufklärer,    I   52,    194. 

Westphalen,     von,     preußischer     ]\Ii- 

nister,  I  367. 
Weyl,  jüdischer  Apologet,  I  94,  167. 
Wjasemsky,  Fürst,  III  27. 
Wied,  Fürst  von,  II  83. 
Wiegand,  Otto,  sächsischer  Politiker, 

I  255. 

Wielopolski,  Marquis  Alexander,  pol- 
nischer Staatsmann,  III  77 — 80, 
84,  86  f. 

Wiener,  J..  Publizist,  II  16. 

Wiener  Hilfsverein,  II  277. 

Wiesinger,   Albert,  kath.    Geistlicher, 

II  70. 

Wiggers,  Deutscher  Abgeordneter,   I 

372. 
Wilbrandt.  Adolf,  II  275. 
Wilczek,  Graf  Hans,  II  83. 
Wilhelm,  Herzog  von  Braunschweig, 

I  244. 
AVilhelm  I.,  König  der  Niederlande, 

I  126—128. 

Wilhelm  IV.,  König  von  England  und 

Hannover.  I  258,  285. 
Wilhelm  L,  König  von  Preußen,  Kaiser 

von  Deutschland,  I  338,  365,  368; 

II  12,   185,  336;  III  3. 
Wilhelm    IL,    deutscher   Kaiser   und 

König  von  Preußen,  II  36—38,  55. 
Willich,     bayerischer     Abgeordneter, 

I  245  f. 
Wilmans,  Richter,  II  12. 
Wilmersdörfer,  von,  Konsul,  II  268. 
Winawer,  Rechtsanwalt,  III  260. 


Windisch- Grätz,  österreichischer  Feld- 
marschall,  I  307,  317;  II  84. 

Windthorst,  Ludwig,  Parlamentarier, 
II  19,  124. 

Winter,  Ernst,    Gymnasiast,   II  58  f. 

Winternitz,  Wilhelm,  Mediziner,  II 
260. 

Winterstein,  österreichischer  Handels- 
minister, I  379. 

—  Simon,  Mitglied  des  Reichsrates 
und  Herrenhauses,  II  271. 

Wise,  Isaak  Mayer,  Rabbiner.  I  348; 

II  183. 
Witte,    von,   russischer   Minister,    III 

181,  195,  220,  241,  249. 
Wittenberg,     Ignaz,     Oberinspektor, 

II  280. 

Wittgenstein,    von,    preußischer    Po- 
lizeiminister, I  111. 
Wladimir  Alexandrowitsch,  Großfürst, 

III  124. 

Wodianer,  Arthur,  Buchdruckereibes. 
und  Verleger,  II  281. 

—  Philipp,  Buchdruckereibes.  und 
Verleger,  II  281. 

Wolf,  Joseph,  Schulmann  und  Ge- 
lehrter, I  42,  161,  167. 

—  Immanuel  (auch  Wohlwill),  Re- 
former, I  167  f. 

—  Simon,  II  263. 

Wohlfarth,  von,  Generalkonsul,  II 332. 
Wolff,   Abgeordneter,   II  263. 

—  A.  A.,  Oberrabbiner,  I  229. 

—  Albert,  Journahst  und  Politiker, 
II  283. 

—  Julius,  Mediziner,  II  260. 

—  Oberst  der  westfälischen  Garde, 
I  33. 

Wolfskehl,  Otto,  Landtagsabgeord- 
neter, II  264. 

Wolfenstein,  Richard,  Architekt,  II 
259. 

Wollheim,  Cäsar,  Großhändler,  II 261. 

W^ollenberg,  Leo,  italienischer  Mi- 
nister, II  212. 

Wöllner,  preußischer  Minister,  S.  47. 

Workal,  russischer  Hauptmann,  III 
256. 

Worms,  Baron  de,  II  203. 

—  Jules,  Maler,  II  283. 
W^ormser,  Abraham,  I  254. 
Woronzew,  russischer  Generalgouver- 
neur, III  30. 

Wrangel,  General  von,  I  306. 
W^ünsche,  Orientalist,  II  6. 
Wurm,  Schauspieler,  I  93. 
W>szinski,  Pater,  III  85. 


Philippson,  Neueste  Geschichte  der  Juden,  Bd.  III. 


22 


338  Alphabetisches   Personenregister  für   alle   di'ei   Bände. 


Z. 

Zajonzek,     Statthalter     von     Polen, 

I  142. 
Zanger,  Johannes,  Pfarrer,  II  57. 
Zangwill,     Israel,     Romandichter,    II 

164,  284. 
Zay,   französischer  Rabbiner,   I  218, 
Zedernbaum,   Schriftsteller,   II   172. 
Zepler,  Georg,  Schriftsteller,  III  J96. 
Zerboni  di  Sposetti,  Oberpräsident  der 

Provinz  Posen,  I  117. 
Zichotzky,  russischer   Polizeibeamter, 

III  221  f. 


Zichy,   Graf,  II  83. 

Zimmermann,  Führer  der  Antisemiten, 
II  54,  66. 

Zimmern,  S.,  jüdischer  Apologet,  I  94. 

Zola,  Emil,  Romandichter,  II  100, 
105,  113  f. 

Zöpfl,  Heinrich  Mathias,  Staatsrechts- 
lehrer, I  242. 

Zuckerkandl,  Emil,  Anatom,  II  273. 

Zuckermann,  Benedikt,  I  342. 

Zunz,  Leopold,  jüdischer  Gelehrter, 
I  115,  153,  159.  165—171,  192  f., 
196  f. 


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