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Full text of "Neue studien zur geschichte der begriffe v. 2, 1878"

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illliii 



2 MS Cm23 a7äl 

ISfeUH Btudieii 



i (jloscliirlitc (l(i' ücjiriii'c 



Gustav Toicitmüllir, 

II, ncfi. 

P»eiiiiohippoki«t«8 de dwieta. — Hcmklcitoa ak 
Theolog. — Ap&oriaiien. 




OottlA. 

l'riwtiricU Amlreii« l'erthos. 



Neue Studien 



Geschichte der Begriffe. 
U. 



Neue Studien 



Geschichte der Begriffe 



Gustav Teichmüller, 

entlichem Profeeäor'^r Philuaophic siii Dorpit. 



n. Heft. 

FseudohippokrateB de diaeta. — HeraUeitos ab 

Theolo^. — Apboriamen. 




QrOtH. 

Friedrich Andreas Perüies. 
1878. 



v,n5^; 




Vorrede. 



Unter dem Titel „Pseudohippokrates de diaeta" 
untersuche ich die philosophischen Begriffe im fünften 
Jahrhundert v. Chr. Wäre es mir um eine mehr künst- 
lerische Gruppirung des Stoffes zu thun gewesen, so 
hätte ich die Eücksicht auf jenes der Abfassungszeit nach 
strittige Buch bei Seite lassen müssen. Da sich aber 
Zeller um die Datirung dieses wichtigen Buches viel Mühe 
gegeben und (in der Vorrede zum ersten Bande der Philo- 
sophie der Griechen, vierte Auflage) seine Methode mit 
glänzenden Farben gegen die angeblich von mir befolgte 
vertheidigt hat, so glaubte ich, dass es wegen des ver- 
dienten Ansehens dieses Gelehrten von einem wissen- 
schaftlichen und sachlichen Interesse sei, seine Methode 
einer kleinen Probe zu unterwerfen und die Abfassungs- 
zeit des Buches zugleich mit den Begriffen im fünften 
Jahrhundert festzustellen. Desshalb möge man hier die 
kritische Form verzeihen, in welcher der durchaus posi- 



IfXif 



VI Vorrede. 

tive Inhalt der Untersuchung erscheint. Sollte, wie ich 
zu vermuthen wa^e, der Leser auf meine Seite tret(»u, 
so würde grade wegen der eingemischten Kritik ein 
doppelter Gewinn sich herausstellen, indem einerseits die 
alten, fehlerhaften Vorstellungen beseitigt, andererseits 
eine nicht geringe Anzahl neuer Begi'ifl'o bei den Philo- 
sophen des fünften Jahrhunderts festgestellt werden, zu- 
gleich würde auch die Schrift „de diaeta" die älteste 
zusammenhängende Probe griechischer Prosa abgeben. 

In dem ersten Bande meiner Neuen Studien zur 
Geschichte der Begriffe stellte ich die Philosophie Hera- 
klit's dar, indem ich von seiner Auffassung der Natur 
ausging, in der Ueberzeugung , dass Alles, was die 
früheren Griechen Metaphysisches gedacht haben, sich 
an die Auffassungen anschliessen musste, die sie von 
der Erde, der Sonne, der Luft, dem organischen Leibe, 
kurz von der durch Erfalinmg gegel)enen Natur gewon- 
nen hatten. Ich liess dabei eine Eeihe von Fragmen- 
ten ausser Acht, die ich in einem zweiten Heft zu 
untersuchen versprach und die deutlich auf einen zwei- 
ten Ausgangspunkt für das Philosophieren 
hinwiesen. Die Philosophie tritt nämlich immer erst 
auf, nachdem schon lange vorher die Religion und 
Mythologie eine Erklärung der Welt für die Phantasie 
und das Gemüth geleistet hat. Dcsshalb muss die 
Philosophie sofort in einem Gegensatz zur Theologie 
stehen. Es liegt aber nichts im Wege, dass die Philo- 



Vorrede. vii 

sophen auch auf einen rationalistischen Skepticismus in 
der Art des Xenophanes Verzicht leisten und sich in 
die poetische Ausdrucksweise der Theologen hinein- 
denken, um schliesslich zu finden, dass Philosophie und 
Religion dieselbe Wahrheit verkünden, nur in verschie- 
dener Sprache. Ich meinte nun diese Auffassung der 
Religion bei Heraklit anzutreffen, und namentlich waren 
mir, seitdem ich in Göttingen einst bei meinem Col- 
legen Brugsch die hieroglyphische Sprache studiert 
und das Todtenbuch gelesen hatte , eine Menge der 
merkwürdigsten Aehnlichkeiten in Dogmen und Aus- 
drücl^n zwischen Heraklit und den ägyptischen Theo- 
logen aufgefallen. Ich sprach darüber schon in der 
archäologischen Gesellschaft zu Basel in einigen Vor- 
trägen und will nun versuchen, diese Hypothese hier 
zu begründen, die sich mir jetzt seit vielen Jahren be- 
festigt hat, da ich nirgends in meinen Forschungen auf 
dem Gebiete der alten Philosophie Anlass fand, Gegen- 
indicien wahrzunehmen. Ich halte aber dafür, dass 
man in ungewissen Dingen, bei welchen kein zwingen- 
der mathematischer Beweis geführt, sondern höchstens 
eine grosse Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, nur 
das Recht hat von Hypothesen zu sprechen; 
doch können exact begründete Hypothesen unter den 
Instrumenten der Forschung nicht entbehrt werden. 
Auch ist es sehr schlimm, dass wir die Geheimlehre 
der (griechischen Religion so wenig kennen und daher 



vm Vorrede. 

vielleicht Manches direct auf Aegypten beziehen, was 
nur indirect daher stammt, unmittelbar aber vielleicht 
in hellenischem Geheimcult seine Begründung finden 
könnte. 

In dem dritten Abschnitte gebe ich Aphorismen 
zur Ergänzung meiner früheren Studien. Es werden 
darin einige Angriffe abgewehrt *), einige Eesultate durch 
weitere Gründe noch mehr befestigt, zugleich auch 
mancherlei neue Ergebnisse gewonnen. 

Während wir uns in diesen Untersuchungen haupt- 
sächlich in der archaischen Periode der griechischen 
Philosophie bewegen, so wird das unter der Presse befind- 
liche dritte Heft dieser Studien die reifen Früchte der 
systematischen Kraft der Griechen in's Auge fassen. 
Die Aristotelische Ethik und besonders der Begriff der 
praktischen Vernunft verlangte eine neue Untersuchung, 
deren Resultate ich vorlegen werde. 

Dorpat, im Februar 1878. 



*) Eben erst kommt mir eine Schrift von Dr. Alois Spiel- 
manu über Platon's Pantheismus zu Gesicht. Spielmann ent- 
scheidet sich nach sorgfältiger Discussion der verschiedenen Auf- 
fassungen Plato's ganz für meinen Standpunkt, da er, wie er 
sagt, durch Vorurtheile nicht an die alten Auffassungen gebunden 
sei und die gesunde Vernunft die Lösung der früheren VTider- 
spräche verlange. [Neapel, August 1878.] 



Inhaltsverzeiohniss. 



Psendohippokrates 

de diaeta. 



Einleitung: 

Meine Datirung des Buches und die Grandsätze der 
Kritik S. 3. 

Die Einwendungen Zeller's S. 6. 

§ 1. Der Stil des fünften Jahrhunderts. — Demokrit und Po- 
lybos S. 7. 

§ 2. Die frühere Literatur S. 10. 

Die Xoyoi und Medicin vor Hippokrates S. 11. 
Der Diätetiker und Hippokrates S. 14. 

§ 3. Die Philosophen des fünften Jahrhunderts S. 20. 

§ 4. Die Gleichheit der Seele und des Geistes, bei Anaxagoras 
und dem Diätetiker S. 28. 

a. Die Gleichheit der Vernunft bei Anaxagoras S. 29. 

b. Die gleiche Seele des Diätetikers S. 32. 

a. Die Verschiedenheiten der Constitution S. 32. 
ß. Die Gleichheit der Seele S. 34. 

c. Der Diätetiker und Anaxagoras S. 43. 
Die Philosophen und ihre Schulen S. 46. 

§ 5. Der Diätetiker als angeblicher Plagiator an Archelaus. — 
Diogenes von ApoUonia S. 47. 



X Inhaltsverzcichniss. 

Archelaus uDd der Diätetiker S. 48. 
Diogenes von Apollonia S. 5ü. 

§ 6. Nofiog und q)v<fig. Xenophanes, Demokrit, Heraklit S. 53. 

DemokTit S. 56. 
Xenophanes S. 56. 
Heraklit S. 57. 

§ 7. Excurs zur Entwicklung der BegrüTc von Gesetz (vofiog) und 
Natur {cpvaig) S. 61. 

Die Hebräer S. 61. 

Die Griechen S. 63. 

Die theologische Periode S. 64. 

Die Anfänge der Wissenschaft S. 65. 

Xenophanes S. 66. 

Heraklit S. 67. 

Sophisten und Atomiker S. 68. 

Hippokrates S. 70. 

Sokrates S. 72. 

Ueberblick der Entwicklung S. 72. 

Plato S. 73. 

Sokrates und Plato S. 75. 

§ 8. Die sieben ax^f^ara und Zeller's Vocale S. 78. 

Schluss S. 83. 



Corollarien: 

1. Ueber das Schülerverhältniss im Allgemeinen und Kra- 
tylos im Besonderen S. 85. 

2. Muthmassliche Erwähnung der Schrift von der Diät bei 
Aristoteles S. 89. 

Die Stelle in der Schrift über die Auslegung der 
Träume S. 89. 

Die Stelle in den Problemen S. 94. 



Inhaltsverzeichniss. xi 



Merakleitois als Theolog. 



Erstes Kapitel. 

Bekanntschaft der grieehisehen Philosophen mit 

der ägyptischen Ctiltnr. 

ünbekanntscliaft; Heraklit's mit ägyptischer Weltanschauung anzu- 
nehmen, ist gegen alle Wahrscheinlichkeit S. 105. 

Hcrodot über die ägyptisirenden griechischen Gelehrten S. 110. 

Xenophanes und die ägyptische Theologie S. 112. 

Parmenides und die ägyptische Theologie S. 114. 

Religion und Philosophie S. 116. 

Heraklit und ägyptische Theologie S. 117. 

Frühere Meinungen über diese Frage und Feststellung der Kri- 
terien S. 118. 

Meine Aufgabe S. 121. 



Zweites Kapitel. 
Die Offenharnng als Erkenntnissquelle, 

Persönliche Lebensstellung S. 124. 

Die Sibylle S. 126. 

Credo ut intelligam S. 128. 

Die änigmatische Sprache S. 129. 



XII Inhaltsyerzeichnifis. 

Drittes Kapitel. 

Allgemeine Uelbereinstlmiiinng In den Grund- 
gedanken. 

Tylor's Anfäoge der Cultur S. 138. 
§ 1. Physische Weltansicht S. 141. 
§ 2. Das Eine. Kein Entstehen und Vergehen S. 143. 
§ 3. Actus und Potenz S. 144. 

Excurs über eine Stelle des Phädrus S. 145. 
§ 4. Die Emheit der Gegensätze S. 155. 
§ 5. Ewiger Pluss, Krieg und Harmonie S. 164. 
§ 6. Die Reinen S. 168. 
§ 7. Der Logos S. 170. 
§ 8. Weltpcrioden S. 177. 

CoroUar über griechische Volksreligion und Mysterien S. 180. 



Viertes Kapitel. 
Specielle Senüotlk. 

§ 1. Der ägyptische Horus und das Heraklitische Gott -Kind 
S. 188. 

Eine ägyptische Statuette im Museum zu Basel S. 188. 

Heraklit's spielendes Gott-Kind S. 188. 

Kritik der Erklärungen von Bemays und Zeller S. 189. 

Neue Erklärung des Heraklitischen Gott-Kindes S. 193. 
§ 2. Das Brettspiel des Gottes {nsaasvtoy), 

Erinnerung an Aegypten S. 195. 

Die teleologische Nothwendigkeit und vernünftige Ord- 
nung in diesem Spiel S. 195. 

a. Gewöhnliche Bedeutung dieses Spiels in den Ver- 
gleichungen S. 196. 

b. Heraklit kann das Brettspiel nicht mit dem 
Würfelspiel verwechseln S. 198. 



Iiih^ts?€rzeickuss. xin 

Der Krieg in den Dingen (ffta^e^ofnvog) S. 201. 
Prüfung der Conjectur uron Bemays S. 201. 
Neue Erklämng der Stelle. Das BeMBfäeL bedeutet den 
Krieg im Wesen d» Welt S. 202. 

§ 3. Der täglich neue Helios S. 305. 

Urheber dieser Lehre ist nicht Hecaklit S. 208. 

Brugsch und Lepsius über die ägyptische Kosmologie 

S. 208. 
Bestätigung durch das Zeugniss Plutarch's S. 210. 
Proclus zeigt die Verbindung der altea Theologie und 

Kosmologie S. 211. 
Folgerungen: Heraklit's Helios ist Dionysos und Horus 

S. 212. 
Die Inschrift der Basler Statuette S. 214. 

Analoge Vorstellungen, von der vergleichenden Mytho- 
logie gesammelt S. 215. 

Der Herakles der Ephesier S. 217. 
§ 4. Die Kähne (axd<f<u) der Gestirne S. 224. 
§ 5. Die Leichen S. 236. 
§ 6. Tag und Nacht ist dasselbe S. 238. 
§ 7. HeUos, Dike, die Hölle und die Wächter S. 239. 
§ 8. Das Blechen im Hades S. 244. 

Schluss S. 247. 



Aphorisnten. 



Lotze S. 257. 

Ueber den Titel: Geschichte der Begriffe S. 261. 

§ 1. Platonisches und Aristotelisches S. 263. 

Unsterblichkeitslehre bei Plato und Aristoteles S. 263. 
Aristoteles aus Plato zu erklären. Novs ohne o^yavov 
S. 266. 

Eristische Kritik des Aristoteles. Begriff der (poga S. 268. 



XTV Inhaltsvorzcidiniss. 

j$ 2. Anaximandrisches S. 273. 

licmcrkung über die Vertreter der inytludogiBchcn Natur- 

auffassung S. 274. 
Die Apsifi der Sonne S. 27G. 
Ueber die Gestalt der Erde S. 278. 

§ 3. HcraklitiRches S. 279. 

J. Mohr. — Der Arcturua S. 279. 

Sonnenbahn und Sonnenkahn S. 283. 

Kreyenbübl über die Bewegung und- das Heraklitiscbe 

Feuer S. 285. 
Heinzc. Das Selbstbewusstsein des Logos S. 28G. 



^Pseudoliippokrates 

de diaeta. 



TeichmfiUer, Zar QescU. d. Begriffe. l 



4 



Einleitung. 



Meine Datirung des Buches nnd die Grundsätze der Kritik. 

Das Buch „von der Lebensweise", welches sich in 
dem überlieferten Körper der Hippokratischen Werke 
findet, ist in vielen Beziehungen, ganz besonders aber 
für die Geschichte der alten Philosophie wichtig und 
merkwürdig. Ein rechter Gebrauch desselben ist jedoch 
nicht eher möglich, als bis die Abfassungszeit desselben 
festgestellt ist. Nun glaubte Galen darin die Spuren des 
grössten Alterthums zu entdecken und führte die Meinungen 
der Gelehrten an, wonach es dem Philistion oder Ariston 
oder Euryphon oder Philetas zugeschrieben wird. Das 
zweite Buch hielt er würdig, von Hippokmtes selbst 
verfasst zu sein*); die Neueren aber, unter Anderen 
Zeller, Bemays und Schuster, nahmen eine Bekanntschaft 
mit Aristotelischer Philosophie bei dem Verfasser an 
und setzten das Buch also in die Aristotelische oder 
auch in die Alexandrinische Zeit. Um diese Wider- 
sprüche zu untersuchen und womöglich die Bestimmung 



*) De alim. facult. I, p. 473 (Kühn). 

1* 



4 Pseudohippokrates. 

der Abfassungszeit in enge Glänzen einzuschliessen, 
unternahm ich es*), die philosophischen Begriffe des 
Verfassers genau festzustellen, und gelangte zu dem 
Eesultate, dass der Verfasser noch keine Ahnung von 
Aristotelischer und Platonischer Philosophie habe und 
dass er auch die entscheidenden neuen termini und zu- 
gehörigen Anschauungen von Empedokles, Demokritos 
und Anaxagoras noch nicht kenne, dagegen aber deut- 
liche Spuren des Heraklitismus zeige. Ich setzte daher 
die Abfassungszeit zwischen die Q ranzen, die durch die 
Namen von Heraklit und Anaxagoras annähernd bestimmt 
werden können. 

Philosophische Begriffe liefern ebenso bestimmte 
chronologische Indicien, wie angeführte Namen und That- 
sachen. Wenn ein Schriftsteller z. B. den Terminus 
Entelechie braucht, so ist es ebenso gewiss, dass er 
nicht vor Aristoteles gelebt haben kann, wie ein Schrift- 
steller nicht zu Augustus Zeit schreiben konnte, der die 
Zerstörung Jerusalems durch Titus irgendwo erwähnt. 
Ich bin mir aber wohl bewusst gewesen, dass durch die 
philosophischen Begriffe unseres Diätetikers allein 
keine unbedingte Gewissheit der Datirung zu erreichen 
ist, und liess desshalb die Möglichkeit offen, dass mein 
Eesultat durch Eücksicht auf medicinischeBegriffe 
und andere Fragen modificirt werden könnte. Dagegen 
erinnerte ich an die durch Artemidorus Capito und 
Dioskorides bekannter Massen verübten Interpolationen 
und behauptete desshalb, dass bloss vereinzelte Ana- 
chronismen in Ausdrücken und Ansichten, wenn sie sich 
finden sollten, dennoch nicht ohne Weiteres das von mir 
gewonnene Eesultat umstossen könnten, sofern, um Inter- 
polationen von der Theorie unseres Verfassers zu unter- 



") Neue Studien zur Geschichte der Begriffe, Bd. I, S. 249 ff. 



Kcheideu, nur die in dem ganzen Werke zu Grunde 
Hegende und alle Theile durchdringende GeBammt- 
anschauuug massgebend sein dOrt'te. 

Obgleich diese Grundsätze der Kritik mir unanfecht- 
bar zn aein scheinen, so will ich doch bemerken, dass 
es auch immerhin einige Denker giebt, die, von dem 
gemeinsamen Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit 
unberührt, con amore ihren eigenen Gedanken nach- 
hängen und deren Producte man bloBS nach den Grund- 
auachauungen chronologisch schwer bestimmen könnte, 
die man daher nur richtig bestimmen wird, wenn man 
die aus der Atmosphäre ihrer Zeitbildung einfliessendeu 
Elemente in den Kenntnissen, Ausdrücken, Vorurtheilen, 
gemeldeten Thatsachen und Namen u. a. w. in Rech- 
nung zieht. So würde man z. B. die modernen Volks- 
bücher von Moleschott und Büchner u, A, nach den 
Vorstellungen, die sie sich von der Seele und der Materie 
machen, in das sechste Jahrhundert vor Christi Geburt 
zn setzen geneigt sein; nach den Kenntnissen aber, die 
sich ihre Verfasaer nebenbei aus den exacten Wissen- 
schaften angeeignet haben, musa man sie für Producte 
unserer Zeit erklären. 

DazQ kommt, dass ein Buch und ein Mann auch 
nicht immer sofoi-t al^emein bekannt und berücksichtigt 
wird, sondern mehrere Jahrzehnte fast unbeachtet bleiben 
kann, wie z. B. Spinoza und Schopenhauer, Es ist 
daium durchaus nicht nothwendig, daas die späteren 
Schriftsteller immer genaue oder irgend welche Kunde 
von den früheren Lehren besitzen und darauf kritisch 
Bneksic)it nehmen müssten, voraöglich in einer Zeit, 
wo der Buchhandel nicht florirte und noch keine Jahres- 
berichte geschrieben wurden. 

Dies sind die Gründe, wesshalb ich nicht glaube, 
die Zeit des Buches de diaeta abschli^send und un- 
zweifelhaft festgestellt zu haben; denn er konnte mSg- 



6 Pseadohippokrates. 

lieber Weise auch gleichzeitig mit Anaxagoras, Empe- 
dokles und Demokritos leben, wenn man nur voraus- 
setzt, dass er von den Lehren dieser Männer nichts ge- 
hört und nichts angenommen und überhaupt von den 
Brennpunkten der damaligen wissenschaftlichen Arbeiten 
abseits gewohnt habe. Obgleich mir also eine gewisse 
Latitüde der Zeitbestimmung noth wendig. erscheint, wenn 
man allen Forderungen exacter Kritik genügen will, so 
können wir uns doch, wenn die eingewobenen Kenntnisse 
und Ausdrücke und Namen nicht in Discrepanz stehen 
zu den Grundanschauungen, nur an diese halten, da die 
Fortschritte der Wissenschaft sich an diesen am Be- 
stimmtesten erkennen lassen. Ich sehe desshalb bis jetzt 
keinen Anlass, von dem gewonnenen Eesultate auch nur 
einen Schritt zurückzuweichen. 

Die Einwendung Zeller's. 

Gegen meine Auffassung hat nun Zeller in seiner 
vierten Auflage der Geschichte der Philosophie der Grie- 
chen S. 633 ff. einige Einwendungen erhoben, obwohl 
er zugesteht, dass seine früheren chronologischen Ansätze 
falsch waren und an eine Bekanntschaft des Verfassers 
mit der Aristotelischen Lehre von den Elementen nicht 
mehr zu denken sei. Allein er weicht von meinem 
Ansatz doch noch mindestens um ein halbes Jahrhundert 
ab, da er die Schrift de diaeta nicht in das zweite 
Drittel des fünften, sondern in die ersten Jahrzehende 
des vierten Jahrhunderts setzen und von einem com- 
pilatorischen Jonier in Athen schreiben lassen will. Die 
Feststellung der Zeit einer Schrift ist aber von grossem 
Interesse, sofern dadurch die Geschichte der Begriffe 
Licht erhalten kann, und wir dürfen es daher nicht ver- 
nachlässigen, die sieben Gründe Zeller's sorgßlltig zu 
erwägen. Sollte sich auch herausstellen, dass sie etwas 
eilfertig aufgerafft sind, so wird die Kritik derselben 



§ 1. Der Stil des fiinl'taii Jalirliundertn. 7 

doch nicht bloss der Eiactlieit unserer Auffassung dien- 
licli sein , soudurn uns zugleich den Anlass geben , die 
Zösamnienhänge der philosophischen Theorien in dem 
»ach dieser Seite ziemlich dunklen fünften Jalii'hundcrt 
sorgfältig KU stndiren. 



§ 1- 
Der Stil des fünften Jahrhonderts. 

Deiuokrit und Poljbos. 

Der erste Grund, den Zeller anzuführen weiss, be- 
trifft den Stil des fünften Jahrhunderts, unser Ver- 
fasser soll ao nach empirischer Vollständigkeit streben, 
so mit Einzelnheiteo überladen sein, „daas er von dem 
Stil jener Zeit, wie er in allen philosophischen Fi'ag- 
menten des fünften Jahrhunderts hervortritt, weit ab- 
liegt", und „selbst die Bruchstücke des Diogenes und 
Demokrit und die unter Hippokrates' Werken befindliche 
Schrift des Polybos ntpJ fvmog ücS-piünou sind um ein 
merkliches einfacher und alterthümlicber gehalten". 

Diese Bemerkungen Zeller's können nur für solche 
Gelehrte geschrieben sein, die weder die Schrift de diaeta, 
noch die Demokritischen Fragmente, noch das Büchlein 
TTjpi tpvaiog gelesen haben. Wer sich auch nur wenig 
mit Demokrit abgegeben hat, wird Mullach zustim- 
men müssen, wenn er sagt(Fragm.,p. 338): „Quae quum 
ita sint, nemo dubitabit, quin philosophus Abderitanus 
in eorum fuerit numero quorum vis aingnli singidis 
saeculis naacuntur. Fnit ille, (juamquam in caeteris 
dissimÜia, in hoc aequabili omni um artium 
stndio simillimus Aristotelis. Atque haud scio 
an Stagirites illam qua reliquos philosopboa 



8 Psendohippokrates. 

süperat eruditionem aliqua ex parte Demo- 
criti librorum lectioni debuerit. Inde illa fre- 
quens apud Aristotelem Democriti raentio est." Es gehört 
in der That eine merkwürdige Sorglosigkeit dazu, die 
genaue Theorie Demokrit's von den Figuren {a/Jfnaxa) 
der Atome, durch die er die Qualitäten der Erscheinungen 
erklärt, die überall herangezogene Natur des Leeren, 
wodurch das specifische Gewicht der Körper und die 
Wahrnehmungsvorgänge gedeutet werden, die über- 
raschende Unterscheidung des subjectiven und objectiven 
Elementes in der q)avTaüia^ die systematische und tech- 
nische Durcharbeitung aller bisherigen Kenntnisse, die 
wir bei Demokrit finden, — diese ganze mit Aristoteles 
in der That verwandte Art der wissenschaftlichen Arbeit 
für „alterthümlicher und um ein merkliches einfacher" 
zu erklären, als die in dem erstea Buche de diaeta ge- 
gebenen einfältigen Anschauungen. Wenn es daher 
richtiger Grundsatz der Kritik ist, die Schriften für 
älter zu halten, welche die später aufgekommenen Be- 
griffe und Distinctionen und Methoden noch nicht kennen, 
so kann kein Urtheilsfähiger zweifeln, dass der Verfasser 
der Schrift de diaeta viel älter sein muss als Demokrit 
und dass es unmöglich ist, ihn zu seinem Compilator 
zu machen. 

Was nun die Schrift mQi (fvaiog ayd^Qwnov betrifft, 
die nach Galen von dem grossen Hippokrates selbst*), 
nach Andern aber von dem Schwiegersohne des Hippo- 
krates herrühren oder wenigstens ausgearbeitet sein soll 
und nach Zeller's wunderbarer Meinung „ um ein merk- 
liches alterthümlicher" sei, als unsere Schrift de diaeta: so 



*) Galeni opp. XV ed. Kühn p. 11: oi nXtlaioi fjihv yaQ ttav 
yvovttov InnoxQttteiov T^;|fyi?y toT^ yv^aioig avyxniitQid^fAovai^ 
vofjtCl^ovxsg rov f^eyaXov 'innoxQttjovg avyygccfÄa, tivig de üoXvßov 
xov (Aad^titov X, r. A. 



p 



g 1. Der Stil des fünften .Tahrliundprte. 9 

bezweifle ich, dass, wer dies behauptet, beide Schriften 
mit einiger Aufmerksamkeit gelesen und verglichen haben 
kann. Denn beide stimmen zwar darin nberein, dass 
sie. die Natur der Dinge nicht aus einem einzigen Ele- 
mente erklären wollen, sondern ans einer Mischung; 
der Vari'asser von der Schrift de diaeta aber geht höchst 
einfältig und alterthümlich auf die Mischung von Feuer 
und Wasser zurück, woraus er alle Dinge ableitet, wäh- 
rend der angebliche Polybos viel subtiler und gelehrter 
ist, den Melisaos citirt, an gelehrte Disputationen er- 
innert und die menschliche Natur aus der Mischung 
von Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle erklärt, 
wovon unser Verfasser de diaeta nichts weiss. Mau 
vergleiche nur die beiden Grundgedanken , die immer 
wiederkehren in der ganzen Durchfuhrung, und man 
wird keinen Augenblick zweifeln, daas der Mischer von 
Feuer und Wasser wohl simiiler und alterthümlicher sei, 
als der die vier Grundstoffe des animalischen Körpers 
distingTiirende gelehrtere Polybos*). 

Wollte man die Ausrede versuchen , der Diätetiker 
sei philosophischer und habe von diesen vier Elementen 
und ihren animalischen Gegenstücken ahstrahirt, um die 



•) De diaeta I, 3 (Ermeriiis) : Sfviazmi» itiv obv iii Ziöa i« 
le äi-iu nana xal 6 äv9gai7iog änä Junft, iiatpögna' fiev nji" 
(fiivUjUii', iuiitfDQoiv di rijv /p'^w, 7iv(ji\i Xeyia xai vitnTaq. Viy- 

lybos aber de natura hominis 3 (Enn,) geht von vier Elemen- 
ten ans, die ilire Eigenschaften nnd Kräfte in das Miscliungs- 
product mitbringen und nach dessen Anfli5snng ein jedes wieder 
zu dem ihm Gleicbaitigcn zurüdigehe : lö it iy^är ngät itS {'y^öv 

Xal T& il^öv -ngös t6 il^äv xai lä 9eg/idv npdc lu Oepfiiy xtd 
lö ijniji^nv TtQos 10 ilivxgör. Aus diesen besteht Alles: änij/xi 
joirttv lilf ifvamg roiavTijg vna^/ai'ni]; xai Ttüv aXkaiv ri 



xal 1 



livIfQiiiitov, /ti EV etyai i 



Sy»pia7 



Und cap. i : 



To #£ tliSfia toS ftVflpu/fau Ijjfti Je iioeii^ iri/in »oi tpliy/ia 



W lVn'i"hin'"i<ntcji. 

Lehre einfacher m maclicn: hu wäre <lii'»i ziemlich ab- 
Huril, Ja er daiin dwli mit eiiifiu Worte aaf »eine Lei- 
»tant; anspielen mäHstii and irgendwo verrathen wQrde, 
dww ihm die twliwarzo und gelbe Galle nicht anbeksnat 
sei, Hondern von ibm anf noch eiurachere Principion za- 
rflckgi-nihrt werde. AUuiii unser Difitt-tikor weiss eben 
von diesen L'nterHchieden noch nichta und bleibt danun 
getrost bei seinem Wasser und Feuer. 



9 2. 
Die fHUiere Ltteratnr. 

Zeller bemerkt femer: „Der Veriässer sagt «du ja 
aber aocli eelb^t, dasn er einer literarisch vorgeacbritte- 
nen Zeit angehöre, wenn er c. 1 der Violen erwähnt, 
welche schon über die fOr die Gesnndbeit zaträglic^ate 
Diät, ebenso II, iJ» aller derer, welche (oxöaoi) über die 
Wirkong des Süiiaen, Fetten u. s, w. geschrieben haben. 
DasH es aber die<ie Oegenstünde Bcbon vor 
RippokratOB eine ganze Literatur gegeben 
haben xollte, ist höchst unwahrscheinlich, and 
Wenn Teichmüller hiegegen an Herablit erinnert, der sich 
Prag. 1 3 gleichfalls aufsein Studium der früheren Literatur 
berufe, so trifft dies nicht zur Sache: denn 1) spricht 
Heraklit dort nur von Xöyoi, die er gehört, nicht 
von einer Literatur, die er studirt habe, und 2) han- 
delt es sich nicht darum, ob es damals überhaupt Schrif- 
ten (mit EinschloBs der homeriacheu, lieBiodischen, xeno- 
pbani«chen und anderer Gedichte), sondern ob es auch 
schon über die oben bezeichneten Fragen eine bände- 
reiche Literatur gab." — Wir haben nun Zeller'a 
Worte gehört; doch nein, er wird nicht gestatten, dasa 
wir so ungenau uns ausdrücken, wir haben ja nur Schrift- 





2. Die friiliere Literatur. 



11 



esen. Doch wir werden uns wohl wenig nm 
solche Pedanterei bekümmern; denn wie könnte er be- 
weisen, daas Heraklit nichts gelesen hätte, sondern 
den Hebitäus und Xenopbanes und Heaiodua bloss ge- 
hört oder von Hörensagen kennen gelernt hat! Eine 
solche Behauptung wäre ganz aus der Luft gegriffen und 
dass der Ausdruck Xöyog und Xöyoi im Griecliisehen 
niemals ausschliesslich Worte oder Reden bedeutet hat, 
sondern immer auch den Inhalt dieser Reden, nämlich 
die dadurch kundgegebenen Gedanken, Erzählungen, Lehr- 
meinungen oder auch die Aufzeichnungen dieses Inhalt» 
in Schriften, das noch zu beweisen, würde in der 
That überflüssig seiu. 

Die loym und Medicin vor Hltipokrates. 
Wenn Zeller aber für höchst unwahrscheinlich hält, 
dass es schon vor Hippokrates eine ganze Literatur ge- 
geben habe, so ist diese Meinung, die M. Double in 
der Akademie der Medicin ebenfalls aussprach (qu' Hippo- 
orate seul, saus antäc^dents, saus rien avoir empruntä aux 
ai&cles qui l'avaient pr&ede, puisqu'ils n'avaient 
rien produit, ouvre ä l'esprit la route de la vraie 
medecine), durch Daremberg glänzend widerlegt Ich 
citive ans seiner Hiatoire des sciences medicales (Paris 
lö7(j) nur ein paar Stellen. Pag. 89: Nulle part, 
dans la Collection hippocratif4ue, les auteurs 
ne so donnent comme les premiers qui aient 
ddfriche le chanip do la m^dicine. — — Tous 
nos efforts out tendu ä rattacher le sifecle d'Hippocrate 
aus aifecles prec^dents et ä juatifier cette parole d'un 
medicin de Cos (Ancienne medicine 2) : „ La medecine 
est dfes longtomps en possession de toutes choges, en 
possession d'un principe et d'une mfithode iiu'elle a trou- 
v^s; avec ces guides, de norabreuaes et excellentes dö- 
oonvertes ont 6te Mtes dans le long cours des siöeles." 



12 



Faeadohippakrates. 



Pag. 9ü: II faut n'avoir ai ^tudiü l'liiatoire greci|ue, 
ni retiechi sur les conditioDS du döveloppement do la 
scienee et des lettre« — — pour s'imaginer que la 
mödecine >8t sortie toute faite de la täte d'Hippo- 
crate, comme Minerve tout armöe du cerveau de Jupiter. 
Schon bei Homer findet Üarembeitj die anatomische 
Nomeuclatur des Hipijokrates und ebenso die Spuren der 
Rolle, die später BInt und Luft in der Physiologie spie- 
len, ebenso die Kenutniss der gefSlirlichen Stellen des 
Körpers, die Prognose der Blessuren und die Therapie. 
Enfiii nous pouvons desormais affirmer. contrairement i 
l'opinion generalement röpandue, que la m^decine avait, 
au temps d'Homere, uiie exiatence aussi reelle que la 
Chirurgie. Obgleich ich Daremberg nicht beistimme in 
seiner abfälligen Beurtheilung der Philosophen nach 
ihrem Verhältniss zur Medicin, so muaa ich doch er- 
klären, dass er in unserer Frage eine tiefere historische 
Auffassung zeigt als Double und Zeller; denn soweit 
wir auch in das Alterthum herabsteigen, immer finden 
sicli Vorgänger, soweit uns nur noch irgend eine Kunde 
geblieben ist So sagt Aristoteles auch von Homer: 
Twy fiiy ovv Tipo Oftrj^ov oväivog i'yofnv timiy touiviiiv 
nol^fia, flxog äf tivai noXXovg. Wie aber dieser viele 
Vorgänger haben musste, wenn ihre Werke auch bloss 
mündlich überliefert wurden, so werden sicherlich, seit- 
dem die Sehreibekunst aufkam , die Aerzte allein sich 
nicht enthalten haben, ihre Gedanken aufzuschreiben. 
Dasa die Griechen der Inseln aber schon mehr als ein 
Jahrhundert vor Hippokrates auch die Aegypter näher 
kennen lernten, ist wohl auch bekannt genug. Bei den 
Aegyptem aber fand sich eine ganz ausgebildete Medicin, 
sowohl Theorie als praktische Methode. Wenn es wahr 
ist, was Herodot sagt (11,77), dass sie alle Kninkheiten 
von der Ernährungsweise ableiteten, so hatten die 
Hippokratiker schon Veranlassung genug, sich neuer 



Die frühere Literatur. 



^^B Entdeckangen zu mhmen, indem sie eiuc andere Classe 
^^B von Krankljeiten auf die Einfiüase der Luft zurück- 
^^F fQhrten. Ich will liier aber nicht nälier auf die Ent- 
' wieklußg der Mediciu eingehen, obgleich das Material 

reiclilicb fliesst und die Verlockuog gi-osa ist, da wir ja 
auch achon Hei-aklit im Kampfe mit deu Aerzten er- 
blicken, die sich für ihre Kunst und ihre Praxis gut 
bezählen Hessen. Es genüge, wenn hier gezeigt ist, 
dass Zeller's Meinung als ein veraltetes TorurtheU zu 
betrachten sei. Von einer „ bändereichen Literatur", 
etwa einer medicinischen Encyclopädie mid vielen Jahr- 
gängen medicinischer Revuen und dei^leichen, spricht aber 
unser Diätetiker allerdings nicht, sondern nur von Vielen, 
die schon vor ihm über die der menschlichen Gesund- 
I heit zutrauliche Lebensweise geschrieben haben, und oh 

■ dies kurze Voi-schrtften oder umfassende Lehrgebäude 
waren, auch davon sagt er kein Wort. 
Wenn Zeller aber 11, 39 anzieht, wo der Verfasser 
I seine Vorgänger angreift, die bloss im Allgemeinen vom 

SQssen, Bittem, Fetten, Salzigen u. 3. w. die Wirkungen 
ang^eben hätten, während er verschiedene Arten von 
fettigen und salzigen Speisen unterscheide, die ganz ver- 
schiedene Wirkungen hervorbrächten, indem einige ab- 
führten, andere obstruirten, einige kühlten, andere er- 
hitzten u. s. w., ao hat Zeller schwerlich die Tragweite 
dieser Stelle recht gewürdigt. Denn es geht daraus 
wob] mit Evidenz hervor, dass der Verfasser nicht 
in dem viertenJahrhundertgesch rieben haben 
kann, wo er ja die reichen Kenntnisse der 
Hippokratischen Schule schon vor sich hatte, 
und nicht ohne ausgelacht zu werden, so etwas von 
seinen Vorgängern behaupten konnte, sondern offenbar 
in einer Zeit, die noch ziemlieb roh in der Weise wie 
Heraklit die Natur betrachtete und nach allgemeinen 
Eigenschaften, wie warm und kalt, hell und dunkel. 



14 Pmodohippokratos. 

feucht und trocken die Wirksamkeit der Dinge anal 
zu erfassen suchte, wie unser Verfasser, der auch trotz 
seines Fortschrittes in dem Studium der Wirksamkeiten 
von Wasser und Luft und Nahmng und ihren yerachie- 
denen Arten im Ganzen noch zu dem vorhippokratischen , 
Standpunkt gehört, und die Anfinge der Gewebelehre, 
d. h. die vier organischen Elemente, nicht kennt. Ich 
halte Zeller's Bemerkungen fär abgewiesen, weil sie 
ganz äiisaerlicb einherfaliren , ohne den inneren Zu- 
sammenhang in der Entwicklung der Begriffe zu beröek- 
sichtigen. 

Der VlUt«t)ber und lli)i)ioknite!>. 

Mau kann aber ganz speciell zeigen, daas Hippo- 
krates nicht nur eine umfangreiche medicinische Lite- 
ratur, sondern dass er vielleiebt auch unseren Diätetiker 
vor Augen gehabt hat. 

Wenn man mit Daremberg*) die Bücher de fractis 
et articnlis für die ächtestßn Schriften des Hippokrates 
hält, so zeigt der Verfasser sogleich seine Keuntniss 
von berühmten Aerzten vor ihm, deren Methoden er der 
Reihe nach anführt und tadelt**). Und durch das ganze 
Buch hindurch weist er immer auf eine vielfältige vor 
ihm bestehende Medicin hin, deren verschiedene Vor- 
schriften er ausführlich durch den schlimmen Erfolg 



*) HiBtoiie des scienecs medicoleB, p. 93. 

*•) De fractia 1 : lA di ir,Tqoi ao^t^ufievoi nnd oi'Ja iijrpoüf 
aotpavs iöinyms stvat anö axtf'üxiov jjfci^o'^ iv intäiau , il<p uv 
Bfitii^as avtovg ^XS'l'' ^»xiew eivai. 'jXXä yÖQ jioiiil oüru 
loiiiii; T ijg Tigris x^ifetaf id ytcQ f£vonpsni( oiinet fün- 

ort /gijtrroV, itei tö aXlöxotov !} lo BrcTijJiov. Der Verfasset bat 
hier also schon mit der Vorliebe für temdartige und ausländische 
Cunnethoden za kämpfeD und zeigt, dass es aucli in'a Einzelne 
durohgefülirte Sehrifteu üter chirargisclte Medicin gab. 



Die frühere Litcratnr. 



15 



oder durch anatomiaelie Erklärungen widerlegt *). Wenn 
man aber, wie ich, dem Ermerins zustimmt und die 
Bücher de aere, aquis et locis und de ratione victus in 
morbis acutis füi- die sichersten Quellen Hippokvatiachen 
Stils und Gedankens erklärt : so findet man überall dort 
die Vorauasetzung einer früheren in Schriftwerken nieder- 
gelegten Heilkunat. Hippokrates bezieht sich de ratione 
V. i. a. zuerst auf die KnidiscLen Gnomen, die er 
als richtige Krankengeschichten lobt, weil darin 
der Verlauf aller Krankheiten gut angegeben sei; es 
fehle aber die Anamnese (;ipox«T«^«5fiV) , die der 
Kranke nicht immer gehen könne. Er denkt wahr- 
scheinlich an die znr Zeit der Erkrankung hen-schenden 
Winde und das Tiinkwasser und die Jahreszeit und der- 
gleichen ; nicht wahrscheinlich ist es aber, dass er, was Galen 
glaubt , an die allgemeine Natur der Krankheit und ihre 
Perioden denkt, weil darüber die Krauken keine Auskunft 
zu geben haben. Zweitens erkläi't er sich mit der darin 
vorliegenden S e m i o t i k {ig lix^ia^aiv) nicht einver- 
standen nnd drittens tadelt er die Einfachheit der 
therapeutischen Verordnungen. Man sieht aus dieser 
Kritik, dass in dieser Knidischen Gnoais schon eine 
vollständige mediciniache Kunst schriftlich niedei^elegt 
wai' und zwar eine solche, die sich auf alle Krankheiten 

I »streckte**). 

Von diesen ältesten empirischen Aufzeichnungen der 

iMediein unterscheidet er spätere Bearbeiter***), die den 



^ Z. B. § 25 fln,, wo er die Nothwendigkeit seiner ans- 
pfthrlioben Darlegang angiebt. 

*•) L. L § 1: Ol fifyypK^nctSf ins tCriälng xiiXiOf/ivus 
yviä/iBs äxoTa fiiv näaxovai ol xäfiyovris iv exfiaroiai läiy 
voai/inTBii' ÖQ&äe hygailito'. 

"•) Ibid. § 3: oi /iiPTO, vaii^ov inidiaaxsväaayifi inz^i- 



16 Pseudobippotrat««. 

therapeutischen Theil wisKenschafllicher (l^ftxätt^ar) 
behandelt hätten. Was er dann aber hinzufügt, dass 
die Alten (oj ag/aToi) auch über Diät nngenngend ge- 
schrieben hätten, das beziehe ich wieder auf die Knidi- 
schen Aerate, welche die Gnomen zusammenstellten. 
Ebenso auch endlich den Tadel, dasa sie die Arten 
aller Krankheiten vollständig aufzählen wollten und 
dabei vergossen, dass eine und dieselbe Krankheit sehr 
wohl Verschiedenheiten bieten kann , die doch keine 
neue Species bilden. Galen theilt zur Erläuterung 
mit, dass die Knidischeu Aerzte sieben Krankheiten der 
Leber, zwölf der Blase, vier der Nieren u. s. w. unter- 
schieden. Wir sehen hieraus, dass Hippokrates eine 
allumfassende Nomenclatur und Eintheilung 
der Krankheiten schon den ältesten Schrift- 
stellern zuschreibt, und was daraus folgt in Bezug 
auf die Ausbildung der Technik, sieht man sehr leicht; 
denn eine so in's Specielle eingehende Beschreibung 
setzt eine lange Beschäftigung und eine durch die An- 
erkennung der Zeitgenossen getragene Praxis voraus und 
zeigt also eine lange vor Hippokrates mit Gnosis geübte 
Kunst. Es fällt daher dem Hippokrates auch nicht ein, 
sich zuerst Kunst oder wisaensehaftliche Medicin (ify,yij) 
zuzuschreiben, sondern er spricht überall von dieser als 
von einer längst bestehenden; was man auch daraus 
sehen kann, dass er den merkwürdigen Unterschied 
zwischen wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen 
Aerzten macht, welche vom Volke nicht unterschieden 
würden, weil beide dieselben Namen der Ki-ankheiten 
und dieselben Heilmittel im Munde führten. Eine vor 
ihm schon bestehende wissenschaftliche Medicin ist also 
für Hippokrates überall stillschweigende und ausge- 
sprochene Voraussetzung. 

Vielleicht hat er aber auch unseren Tractat von der 
Diät schon gekannt. Ich scliliesae dies aus seiner Be- 



§ 2. Die frühere Literatur. 17 

merkuDg über die VerordnuDg des Gerstenschleims. -Er 
sagt nämlich, dass einige Aerzte immer undurchsiebten 
Gerstenschleim verordnen und dies für die richtige Cur 
halten, während andere es für die Hauptsache erklären, 
den Schleim erst durch ein Filter durchgehen zu lassen, 
weil sie sonst grossen Schaden von der Gerste erwarten*). 
Diese zweite Classe von Aerzten kennen wir durch unsern 
Diätetiker, was man, so viel ich sehe, noch nicht bemerkt 
hat. Unser Diätetiker weist nämlich die Eigenschaft 
der ungesiebten oder ungeschälten Gerste nach, stark zu 
purgiren. Diese kathartische Eigenschaft läge aber in 
der Hülse; daher verlöre die geschälte Gerste als Schleim 
gekocht diese Wirkung und würde umgekehrt zur Küh- 
lung und Stopfung dienen, da sie von Natur kalt und 
trocken sei**). Demgemäss verordnet er bei Fieber drei 
Tage lang bloss Wasser und dann Gerstenschleim***). 
Will man aber den Fortschritt des Hippokrates gegen 
die dürftigen paar Kategorien, auf die unser Diätetiker 
Alles zurückführt, erkennen, so lese man bei Hippo- 
krates weiter die vielseitige Charakteristik des Gersten- 
schleims und seiner Wirkungen und man wird sich 
überzeugen, dass unser Diätetiker nur eine Vorstufe vor 
dem Eingang der Hippokratischen Kunst bilden kann f). 

*) L. 1. § 7: ol de riysg 71€qI nccyrog noiiovirn, oxtag xQid^i^y 
fitidsfLitttV xatccntQ 6 xafivmp ' f^sydXtjv ydg ßXdßijp i^yevvzai 
slyM ' dXXd dl ' o&opCov diij^sovTSg i6v x^Xov didoaffi. 

**) De diaeta II, 40 Enn. Es ist zwar noch ein Unterschied 
zwischen Schälen oder Reinigen einerseits und Durchlassen anderer- 
seits; allein das Wesentliche ist die Entfernung der 
Hülsen, und der Diätetiker hat diese Feinheiten der Filtrirung, 
wie es scheint, noch nicht gekannt. Bei den Gemüsen sieht er 
umgekehrt die purgirende Kraft im Saft ix^Xog) und die austrock- 
nende im Fleisch (<TffVl)> wie er den unlöslichen Faserstoff be- 
nennt. 

*♦*) Ibid. § 73. 

t) L. 1. § 10 sqq. 

Teichraüller, Zur Gesell, der Begriffe. 2 



18 Pseudobippokrates. 

Nimmt man nun das Buch de aere, aquis et locis, 
so findet sich zwar wohl keine directe Beziehung auf 
unsern Diätetiker, aber das ist jedenfalls sofort einleuch- 
tend, dass es einem viel späteren Verfasser zugehört, als 
der Diätetiker sich erweist. Denn der Unterschied der 
Kenntnisse und allgemeinen Bildung ist sehr bedeutend. 
Da dies nun in der That auf der Hand liegt, so will 
ich die allgemeine Vergleichung bei Seite lassen und 
nur ein paar einzelne Züge hervorheben. Bei dem 
Diätetiker ahmen die menschlichen Sitten und Ge- 
bräuche und Künste {vofnoiy Tiyvai) alle der mensch- 
lichen Natur nach, und er versucht diese Uebereinstim- 
mung in alterthümlicher Kürze durchzuführen; bei 
Hippokrates haben wir die klare Auffassung von der 
Willkürlichkeit der Gebräuche z. B. bei den Makro- 
kephalen (§21) und dem Gegensatz der Natur, die sicli 
jenachdem auch zeitweilig durch Vererbung der Eigen- 
schaften accommodirt. Denn da der Samen von dem 
ganzen Körper abgeht, so erzeugen sich nachher frei- 
willig auch ohne Hülfe der menschlichen Kopfpressen 
Makrokephalen. Da die Sitte aber aufhörte, stellte 
sich die Natur wieder her*). Bei dem Diätetiker haben 
wir also noch die alte an Heraklit erinnernde Auffassung 
von den Gebräuchen {vd^wi) der Menschen; bei Hippo- 
krates die freie an die Zeit der Sophisten mahnende. 



*) Ich lese mit Ermerius § 21 s. f. : 6 yccg vofAog ovxitt ia^vei 
diu (tfieXsiav icüv dy&Q(07io}y. *Es fehlt aber bei Hippokrates der 
Zwischeogedanke , dass die Natur nicht ganz von der Sitte be- 
herrscht werden kann, der aber durch (og inl t6 nXfjd^og ange- 
deutet ist, wodurch man sieht, dass die Darwin'sche Vererbung 
der gewonnenen Eigenschaften nicht völlig von ihm angenommen 
wurde und die Natur daher wieder durchbrechen kann. Man sieht 
dies auch dadurch, dass er die Eigenschaften immer als gesunde 
und krankhafte unterscheidet, als Massstab also eine feste Natur 
annimmt. 



Zugleich sieht man den grossen Abstand beider in 
der Generationslehre. Bei dem Diätetikiir sind die 
Seelen ein Gemisch aus Wasser und Luft und kriechen 
nnsiclitbar in alle Körper hinein nach der alten Vor- 
stellung, daas Alles voll von Seelen sei ; bei Hippokrates 
ist schon eine Theorie von der Erzeugung gegeben, in- 
dem die Aehulichkeit der Eltern mit den Kindern als 
Anfangspunkt genommen und daher eine Ableitung des 
Samens von allen Körpeitheilen gefordert wird, und 
wenu Aristoteles später diese Theorie aach mit seinem 
gerechten Spott nicht verschont, so sieht man doch so- 
fort, wie viel feiner und gebildeter sie ist, als die halb 
mythol(^aehe des Diätetikers. 

Vergleicht man dann die ethischen B^iffe, so bietet 
der Diätotikev die primitivsten Unterschiede und weiss 
ihren Ursprung niclit zu erklären, da sie von der Diät 
nicht direct zu beeinflussen sind: Hippokrates aber giebt 
ein reiches Gemälde der ethischen Differenzen der Menschen 
nnd Völker und versucht, wie das von Montesquieu 
und dann von Buckle in unseren Tagen auf's Neue 
vorgetragen ist, in grosaartigen Bildern sowohl die phy- 
sische Constitution der Mensclien als ihre Krankheiten 
und ihre Sitten und sittlichen Eigenschaften auf das 
Klima und die geographische Natur des Bodens zuröek- 
zufübren. Plato und Aristoteles haben von diesen 
Schilderungen nnd Argumenten noch viel gelernt, wenn 
sie auch schon viel vorsichtiger in ihren Annahmen 
sind. Aber deimoch könnte man behaupten, dasa Hippo- 
krates auf die Anfänge dieser Betrachtungsweise im 
zweiten Buche des Diätetikers sich stütze, der schon 
die Libyschen nnd Pontischen G^enden klimatologiscb 
betrachtet und Rückschlüsse auf Pflanzen- und Thierleben 
macht. 

Man nehme aber auch irgend einen beliebigen Punkt, 
wie die Winde, Jahreszeiten oder das Wasser und man 



20 P8tMi(lohipi>okratc8. 

wird (Ich Abstand der Bildunp; sofort erkennen. Dem 
Diätetiker z. IJ. ist das Wasser kalt und feucht*), und 
nach dieser tiefen Krkenntniss geht er gleich zur Er- 
klärung der Eigenschaften des Weines über. Er kennt 
eben nur die Gegensätze von warm und kalt, trocken 
and feucht und von Arbeit und Nahning, und damit 
macht er seine ganze Theorie. Selbst bei der Beurthei- 
lung der verschiedenen Arten der Fische in Bezug auf 
die Ernährung**), wo die Eigen thümlichkeiten des 
Wassers hervorzuheben so nahe lag, weiss er nichts 
Neues beizubringen. Wenn man dagegen Hippokrates 
vergleicht, so erstaunt man über die sorgfaltige Berück- 
sichtigung des specitischen Gewichtes der verschiedenen 
Arten von Wasser und über die Unterscheidungen zwi- 
schen Regenwasser und dem aus Eis aufgethauten Wasser 
und Quellwasser u. s. w. Und wenn er auch für unsre 
physikalische Bildung sehr komische Experimente em- 
pfiehlt, um die Eigenschaften des durch Schmelzung 
gewonnenen Wassers zu erkennen: so müssen wir doch 
die grosse Umsicht des Mannes bewundern und werden 
uns nicht einfallen lassen, ihn mit dem alterthümlichen 
Diätetiker in eine Reihe zu stellen, geschweige denn 
diesen für den moderneren auszugeben. 



§3. 
Die Philosophen des fünften Jahrhunderts. 

Zeller glaubt nun aber zeigen zu können, dass der 
Diätetiker die Lehre der Atomistik, des Empedokles und 



*) L. 1. § 52 Erm. 
**) Ibid. § 48. 



§ 3. Die Philosophen des fiinften Jahrhunderts. 21 

Anaxagoras schon kenne, ja „erwiesen zu haben, dass 
unser Verfasser die Physiker des fünften Jahrhunderts 
bis auf Demokrit herab vor sich hatte". Wenn wir 
einen solchen Beweis antreten sollten, so würden wir doch 
meinen, zuerst die am Meisten charakteristischen BegrifiFe 
dieser Physiker sammeln zu müssen, z. B. den aifuiQog^ 
die vier Elemente, Hass und Liebe, den vovq anu&tjg, 
die Homöomerien, die Sonne als Stein, das Leere, die 
Gestalten der Atome u. s. w. Dann würden wir nach- 
suchen, ob unser Verfasser eine von. diesen Lehren bei 
seiner Erklärung der Natur anwendet, oder ob er sie 
irgendwie direct oder indirect bekämpft. Wenn sich 
nichts davon vorfindet, so würden wir wenigstens den 
Nachweis schuldig zu sein glauben, dass unser Verfasser, 
durch so grosse Lehrer bereichert, eine tiefere und 
scharfsichtigere und gelehrtere Theorie vorbringe, die 
sich nicht erklären lasse, wenn man nicht jene grossen 
Atomistiker als Vorgänger voraussetze, und wir würden 
vor Allem nachzuweisen bemüht sein, dass die Theorie 
unseres Verfassers nicht primitiver, unerfahrener, unbe- 
sfimmter und ungeschulter sei, als die Theorien, die ihm 
vorausgegangen sein sollen. 

Nichts von all diesem glaubt Zeller nöthig zu haben. 
Er bemüht sich nur, ein paar ähnlich klingende Sätze 
bei unserem Diätetiker und bei Anaxagoras und Empe- 
dokles herauszufinden, ohne sich im Mindesten um die 
darin verborgene ganz verschiedene Theorie zu beküm- 
mern , und schilt dann auf unsern Diätetiker als einen 
„ Compilator, dem es an Schärfe und Folgerichtigkeit so 
ganz fehlt". Und damit ist sein Beweis fertig. 

Prüfen wir nun den Inhalt der angeblichen Parallel- 
stellen. Es dreht sich dort Alles um den Einen Ge- 
danken, dass alle Veränderungen der Dinge das Sein 
nicht betreffen, also nicht, wie der Schein und die Mei- 
nung der Menschen anzeigt, ein Entstehen und Ver- 



22 PiHudoliii>pokrate«. 

gehen sind, sondern in Wahrheit bloss Miscbuag nsd 
Trennung von den Beatandtheilen dor Dingo. Wenn 

Zoller nun nicbt bloas darauf au^egangon würe, eine 
Thesis zu verüieidigen , yo hätte er sofort bemerken 
müssen, da^ dieser Gediinke, der in den liegrifieu l^v/*- 
ftlayen9ai, ätuxQi'yKrS^ui, i'Moiova&ui, ylyvto&ui , aniti.Xv- 
adui, fofiü^iti&ui und ttf fj oder x«r« ifiiaiy verülaft, 
nothwondig bei allen Schiiftstellern ähnlich dargestellt 
werde, ebenso wie inau in Dutzenden von moderneu 
naturwissenschaftlichen Schriftstellern bei demselben locus 
dieselben Wendungen und Ausdrücke antriflt. Der ähn- 
liche Klang hat hier alao gar keitien Werth, weil da- 
durch uichts Charakteristisches bezeugt wird. 
Denn dieser selbe Gedanke bedeutet bei Empedokles 
etwas ganz anderes als bei Demokrit und bei Anasa- 
goras. Bei Auaxagoras sind die Elemente unsicht- 
bare kleine Knochengewebetheile und Muskelgewebetheile 
und Haargewebetheile u. s. w., die sieh aus dem gröberen 
ühaotischen Durcheinander, in weleliem sie im Wasser, 
iti der Erde und Luft sieh befinden, aussondern und 
durch Anlagerung au das Gleichartige Kuoehen, Fleisch, 
Haar u. s. w. zur Ei'sclieiuung hriugeu. Davon weiss 
Empedukles nichts. Die vier Elemente sind seine 
Principien, die er nicht in Atome auflöst, aber beliebig 
sich theilen und untereinander verbmden läast durcb 
Streit und Liebe; das Gesetz der Proportion {h'iyoö) ist 
dann der Gmnd, daas die Producte dieser in bestimm- 
ten Verhältnissen stehenden Ingredienzien eine ver- 
schiedene Erscheinung darbieten. Und wieder bei Demo- 
krit haben wir eine ganz verschiedene zu Grunde lie- 
gende Anschauung. Seine Atome sind weder von der 
Qualität der vier Empedokleiachen Elemente, noch von 
der speciüschen Qualität der Anaiagoreischen , sondern 
ganz qualitätslos und nur mathematisch durch Zahl und 
Figur bestimmt, so dass also der Gegensatz der objec- 



§ 3. Die Philosophen des fänften JahrhnndtTts. 23 

tiven Wirklichkeit und der subjectiven Erscheinung desto 
frappanter werden muss. — Von all diesen charakteristi- 
schen Bestimmungen enthalten die Parallelstellen nichts, 
und es ist daher unmöglich zu sagen, welchen von 
diesen Philosophen unser Plagiator geplündert haben 
soll. 

Hätte nun unser Diatetiker sich bloss den allgemeinen 
Gedanken angeeignet, weil wir, wie Zeller meint, „dieser 
Zurückführung des Entstehens auf die Verbindung, des Ver- 
gehensauf die Trennung unentstandener und unvergänglicher 
Stoffe nicht vor Empedokles, Leucippus und Anaxagoras 
begegnen"; so wäre es wunderlich, dass er als ein 
„Plagiator, dem es an Schärfe und Folgerichtigkeit so 
ganz fehlt", nicht auch von den vor ihm liegenden 
Schriften irgend einen der häufigsten und charakteristischen 
Ausdrucke sich angeeignet hätte. Warum fliesst denn 
nicht einmal das Atom oder das Leere, der Streit oder 
die Liebe, das chaotische Durcheinander und die Sonne 
als Stein mit in die Excerpte ? Woher die merkwürdige 
Folgerichtigkeit, mit der unser Plagiator sich vor jeder 
deutlichen Spur hütet, die seine Quellen verrathen 
könnte ? Es ist wohl aber gegen alle historische Kritik, 
den unbestimmten Standpunkt auf den bestimmten folgen 
zu lassen und zu glauben, der fötale Zustand sei ein 
Plagiat an dem an's Licht geborenen Kinde. 

Ich muss daher die Zeller'schen Parallelen als ein 
unnützes Spiel ansehen, das uns nicht belehren kann. 
Dagegen erblicken wir sofort Licht und Weg, wenn wir 
rückwärts schreiten über die Atomistiker und Hippo- 
kratiker hinaus; denn schon Xenophanes hatte das 
Eine gelehrt, was nicht entsteht und vergeht, und hatte 
der Wahrheit den Schein und die falschen Ansichten 
und Gebräuche der Menschen entgegengestellt. Nach 
ihm hatte Heraklit gezeigt, dass dies Eine mit sich 
im Streit liege und überall in Gegensätzen sich dar- 



24 Psendohippokrates. 

stelle, die wieder miteinander gemischt, wie wenn das 
das Feuer mit dem Raucher werk sich mischt, die schein- 
baren Veränderungen der Dinge hervorbringen. So ist 
nach Heraklit im Menschen Feuer, Wasser, Luft und 
Erde gemischt, und das Meer ist gemischt, und alles 
Gemischte kann wieder ausgeschieden werden, und die 
Einheit zerlegt sich in Gegensätze. Die Menschen aber 
verstehen dieses nicht, und ihre Meinungen sind weit ab 
von der Wahrheit. Auf Heraklit war wieder Parme- 
nides gefolgt, der ebenso die Meinung der Menschen 
und die Wahrheit auseinanderhielt und, obgleich er viel 
tiefer als Heraklit die ideale Natur studirte, die Er- 
scheinungen doch insofern ähnlich erklärte, dass er Ent- 
stehen und Vergehen aufhob und, um den Schein zu 
erklären, auf zwei äusserste Gegensätze, Licht und Dun- 
kel, mit den ihnen zugehörigen Kräften Alles zurück- 
führte durch Mischung und Trennung. 

Hier nun haben wir die rechten Vorgänger unseres 
Diätetikers, die nicht weiter gekommen sind, als bis 
zur Auflösung der sichtbaren Dinge in unsichtbare Ele- 
mente. Wegen der in's Kleine zerstreuten Auflösung 
merkt man nicht die verborgenen Ingredienzien, aber 
in den grossen Massen treten sie deutlich hervor. So 
entsteht nach Xenophanes die Sonne aus den kleinen 
Ausscheidungen des Feurigen aus der Erde, und das 
Wasser verdampft nach Heraklit und scheidet das Feuer 
aus; in der Mondsphäre ist es noch gemischt und 
wässerig, in der Sonne erst rein. Die Seele kann nach 
Heraklit feucht und trocken sein u. s. w. — Die ganze An- 
schauung unseres Diätetikers kann aus diesen Vorgängern 
begriffen werden, und wir haben nicht nöthig, ihn zum 
Plagiator zu machen, sondern er hat mit einer gewissen 
Selbständigkeit, die er auch im Eingang seiner Schrift 
von sich rühmt, seine Vorgänger benutzt, indem er 
Einiges als richtig erkennt und weiter lehrt. Anderes 



§ 3. Die Philosophen des fünften Jahrhunderts. 25 

verwirft und dagegen seine eigene Auffassung vorträgt, 
ohne sich in Polemik einzulassen. 

Wenn man diesen Standpunkt der Naturerklärung 
voraussetzt, nach dem alle Dinge und ihre Veränderungen 
aus den Kräften der kleinen und desshalb unsichtbaren 
Theile der StofiFe abgeleitet werden, gleichwie aus einem 
Samen: so ist die nächste Aufgabe und Neugier und 
Arbeit nothwendig darauf gerichtet, sich eine Vorstellung 
von diesem Samen oder diesen kleineu Theilen zu 
machen, d. h. der Fortschritt des Denkens führt 
von dem Standpunkt des Parmenides und 
unseres Diätetikers zur Atomistik, zu Melissoe, 
Leukipp und Anaxagoras. Man musste die unendliche 
Theilbarkeit des Raumes finden und auf das Leere stos- 
sen, man musste willkürlich kleinen Körperchen eine 
gewisse ursprüngliche Grösse und Gestalt geben, man 
musste vei*suchen, dem Samen auch specifische Kräfte 
und Qualitäten zuzuschreiben. Alle diese Dialektik und 
diese Hypothesen liegen mit Nothwendigkeit auf dem 
Wege des fortschreitenden Gedankens. Davon weiss aber 
unser Diätetiker noch nichts. Ich betrachte daher 
Zeller's Ansichten nicht als genügend, um die Forde- 
rungen historischer Kritik zu befriedigen. Ohne exactes 
Studium der Begriffe ist hier nichts zu leisten und keine 
haltbare Annahme zu gewinnen. Man darf nicht bloss 
äusserlich ähnliche Sätze aus verschiedenen Schriftstellern 
nebeneinanderstellen, sondern man muss sich in die 
ganze Denkweise dieser Männer hineinfinden. Wenn 
man es vermag, alle modernen Ansichten und Kenntnisse 
bei Seite zu lassen, so wird man immer finden, dass 
alle diese Männer des Alterthuras nicht ohne gesunden 
Verstand und mit einer gewissen Nothwendigkeit zu 
ihren Weltanschauungen kamen, und man wird dann 
auch leichter die Schwierigkeiten erkennen, die sich 
als ungelöste Fragen ihnen aufdrängten und zu den 



28 FNuiiduliippukrateE. 

folgenden Entwicklungen des Gedankens weiter fülir- 
ten. 

Dasä Zeller siub aber sehi' irrt, wenn er die der 
ganzen alten l'liysik geiueinschaftliclie Lehre, dasu alle 
Eutateliung Verbindung, alles Vergehen Trennung un- 
eutstandener Stoffe sei, erst auf Änaxagoras, Leukipp 
und Empödokles zurückführt — das wollen wir ihm 
lioljer noch durch Ariatoteles ausdrücklieh sagen lassen. 
Äristuteleä hat klar eingesehen, dass die 
atoni ist lache Hypothese erst nothwendig wird, 
wenn man jenen alten Lehrsatz annimmt, 
dass aus dem Nich tseienden nichts ent- 
stehen kann; denn nur wenn man diesen Satz der 
Physiker für wahr hält, rauss man vermuthen, dass in 
den siclithareu Körpern unendlich viele kleine unsicht- 
bare Theile stecken mit besonderen und entgegengesetz- 
ten Qualitäten oder Figuren, durch deren Ausscheidung 
und Ansammlung die sichtbaren Dinge entstehen können 
ohne aus dem Nichtaeienden hervorzugehen*). Dieser 
Satz gehört also den Vorgängern des Änaxa- 
goras an. Dass er allen Physikern gemein war, 
wiedei'holt Äiistoteles gleich noch einmal; denn alle 
mussten voraussetzen, daas die sichtbar werdenden Ver- 
änderungen von kleinen Bestandtheilen herrührten, die 
wegen ihrer Winzigkeit dem Auge nicht bemerkbar 
würden **). Aristoteles hat also den richtigen Zusammen- 



•) Ariat. Natur, nnsc. I, 4: 'Eotxt di 'AvaiayÖQa; anhiqa oÜruit 

^tiotxtäv siffii (tAij#^, iS( ov Ytiioftiirov ovi'lrög i* idü /iq 
ÖVTO; ' «firi rui>ro jTtp oiiiw Xiyovmv, Hv öfior iri nn'na «nl iri 
yivea0Bt loiöy&e xaS-^airjuiv niXowva&iUi ol di avyxftiaw xal 

**) Ibiil. td fiiv ^* fi^ ötfioy ylrnr0ai iJd'iIj'Bioi' (n ( gl yäg 
taviis ofjoyfia/tovotiiTi i <J ( äo^iii Hniivitf ol ntpl 
iptiaeiaf), lo Xotnav ^ifij avi>ßaivur il övtiyxin tvö/uenv <f 



§ 3. Die Philosophen des fünften Jahrhunderts. 27 

h^g in der Entwicklung der Begriffe deutlich gesehen 
und rechnet zu diesen Physikern auch sofort schon 
den Anaximander in erster Linie und den 
Thaies und Anaximenes; denn er sagt*) von den 
Physikern, dass einige die Luft, andere das Wasser, an- 
dere mehrere Principien setzten, und ferner**), dass Allen 
dies gemeinsam sei, die Materie als die ursprüngliche 
Einheit zu betrachten und aus dieser das Viele als die 
Unterschiede und Formen auszuscheiden. Wie die Unter- 
schiede nun in der ursprünglichen Materie stecken, das 
muss zuerst natürlich unbestimmt bleiben ; die Physiker 
sind aber überzeugt, es sei Alles, was an sichtbaren 
Unterschieden in Pflanzen und Thieren und den meteoro- 
logischen Erscheinungen hervortritt, jedenfallsirgend- 
wie in der Materie schon verborgen, weil aus 
nichts auch nichts entstehen kann. Es ist darum dem 
fortschreitenden Gedanken vorbehalten, diese unbestimm- 
ten Vorstellungen zu der bestimmten atomistischen Theorie 
auszuarbeiten. Aber selbst wenn wir den Satz vom 
Sein und Nichtsein nicht schon von Xenophanes und 
Parmenides ausgesprochen fönden, so würde auch dies 
an der Sache nichts ändern, denn er ist auch schon vor 
ihnen die stillschweigend zu Grunde liegende 
Ueberzeugung, ohne die wir die Versuche, Alles aus 
dem Wasser oder der Luft oder dem Feuer zu erklären 
durch Verdunstung und Verdichtung, Verdampfung und 
Erkaltung, Ausscheidung und Mischung, gar nicht ver- 
stehen könnten. — Ich halte darum die Zeller'sche Ein- 
wendung für erledigt. 



oyxiüP €| dvui,a^r]tb)v i)gxTv, 
*).Ibid. I, 2 init. 
**) Ibid. I, 4 init. 



pBetidoliippukrates, 



5 4. 

Die Olelolihelt der Seele und des Geistes, bei 
Anaxagoras und dem Diätetiker. 

Unter duu PiimHclatelleii , welche Zcller aiirülirt, 
muna aber die letzte, weil sie einen ganz »iidern Begriff 
beliundelt, auch besonders erOrtert wevden. Ich will 
zuerst Zeller reden lassen, damit er das Präjudiz für 
sich habe ; denn ich trage keine Soi;ge , doss es ihm je 
ÜDgen kSnnte, die scbwUcliere Saclie zur stärkeren kq 
machen. Zeller schreibt S, 6a5: „n. ätah. c. 2H jfv/ii 
fiiy ovif uiii ojxolrj xa) ty /iti^oyoi xu! fV llaanari. Anaxag. 
Pr. 8 (8U4, 1): väog di tiÜq oftowg hti nui o /itCiuw xiu 
ö ilüijfttiiy. Ich weiss nicht, ob Toichmüller auch in 
dem zuletzt angeführten Fall den Änaxagora» zum Pla- 
giator der Schrift n. diahtji; machen wird; mir scheint 
es ganz unverkennbar, dass sich die letzere hier einen 
Satz angeeignet hat, der bei Änaxagoras durch seine 
Q rund an schauung gefordert war, dagegen auf ihre aus 
Feuer und Wasser zusammengesetzte Seele schlechter- 
dings nicht passte." 

Pßr wen mag Zeller dies geschrieben haben! Fflr 
diejenigen, welchen die Quellen zugänglich sind, sicher- 
lich nicht; denn bei diesen wii"d er seinem Ansehen 
nicht wenig schaden, wenn er meint, der Diätetiker 
habe sich hier einen Satz des Anaxagoras augeeignet. 
Zeller thut so, als wenn wir von dem Diätetiker und 
Anaiagoras nur solche lose Fragmente besäaseu und dess- 
halb grossen Scharfsinn zeigen könnten, wenn wir zwei 
ähnlich klingende S&tzchen zusammenstellen , die der 
Eine vom Andern abgeschrieben habe, um sein Buch 
zu verzieren, möchten sie in das Ganze hineinj>aesen oder 
nicht. Wenn unser Diätetiker auch sehr alterthfimlich 
und einfach ist, so ist er doch kein dummer Plagiator, 




§ 4. Die Gleichheit der Seele und des Geistes. 29 

sondern zeigt mehr Folgerichtigkeit, als Zeller's Dar- 
stellung auch nur ahnen lässt. Mir aber zuzumuthen, 
dass ich den Anaxagoras, dessen grundlegende Ent- 
deckungen ich in meinen Studien zur Geschichte des 
Begriffes der Vernunft besonders hervorgehoben habe*), 
zum Plagiator unseres Diätetikers machen soll, ist ein 
harmloser Witz. Für jeden Kenner ist nun schon in 
den beiden Sätzen ein ungeheurer Unterschied vorhan- 
den durch die beiden Worte i/zv/^y und vooq\ die ganze 
scheinbare Gleichung wird aber völlig verschwinden, 
wenn wir, wie das jede einigermassen gründliche Auf- 
fassung fordert, uns um den Zusammenhang bemühen, 
in dem jene Sätze vorkommen.. 



a. Die Gleichheit der Temunft bei Anaxagoras. 

Beginnen wir der Zeller'schen Chronologie gemäss 
mit Anaxagoras. Die Lehre vom Geiste (vovq) kann 
aber nicht verstanden werden ohne den Begriff des 
sinnlichen Stoffes. Von diesem finden wir bei 
Zeller keine klare Erkenntniss. Anaxagoras ging von 
mathematischen Begriffen aus. Das Kleine ist klein im 
Verhältnis zu einem Grössern, gross aber im Verhältniss 
zu einem Kleineren. Also giebt es kein Kleinstes und 
kein Grösstes, weil die Grösse den progressus in infinitum 
in sich hat. An sich ist daher jedes gross und klein 
und darum unendlich {anu^v)**). Man hat hier die 



*) Neue Stud. z. Gesch. d. Begr. I, S. 195. 

**) Simpl. in Arist. Phys. f. 35 a: ovtb tov fffnxQov yi ion 
To ye iXcixKftoVy «AA' eXccaaoy aeC ' t6 ydg iov ovx eari ro ^^ 
ovx (fort. leg. ioy) tivai • ovtb ro fudyiarov, aXXn xal tov fi€- 
yäXov tthl ioTt fni^oy, xtti Xaov ecrrl r^ üfnxQia nX^d-og y nQog 
itovTo &6 ixaOTov itm xal (jiiya xal afjuxqov. 



80 PKcndohippokrates. 

Ursprünge des Platonischen Begriffes der Ma- 
terie als des Grossen und Kleinen*). 

Hieraus in Verbindung mit dem Continuirlichen des 
IlaumcH folgt der zweite merkwürdige Satz des Anaxa- 
goraH, der den Scholiasten so viele Erklärungsnöthe ver- 
urwicJite, dasH in jedem sinnlichen Stoffe, möge man 
ihn groHH oder klein nehmen, unendlich viele verschie- 
dene l'hoih; stecken und dass drittens daher nichts von 
einander ganz abgetrennt werden kann. Anaxagoras 
dr(i('/kt sich selir anschaulich aus: „Nicht getrennt ist, 
was in der Einen Welt gegeben ist, und nicht abge- 
UiU'Mi mit dem Heil wird das Warme von dem Kalten 
und das Kalte von dem Warmen."**) In dem Kalten 
Steckern also aucjli noch immer warme Theilchen und in 
d(jrn Warmcin kalte. Darum ist Alles in Allem, und 
wi(i dies ursprünglich war, nämlich vor der Ordnung der 
W(dl*, so auch nocJi jetzt ist in jedem materiellen 
Theih'hen die Unendlichkeit aller möglichen sinnlichen 
Vers(jhi(Mlenh<rilen auf unsichtbare Weise vorhanden. — 
Man sielit hier klar den Fortschritt und die Anknüpfung 
l'latoV; denn Anaxagoras dachte sich die verschie- 
denen Eigenschaften räumlich nebeneinander 
und durcheinander gemischt in unendlicher 
Menge wegen der unendlichen Theilbarkeit 
des Hau nies; Plato aber sah, dass einerseits diese 
Vorstellung des Atuixagoras nothwendig ist, wenn Alles 
aus Allem Wiu*d(in soll und die materiellen Dinge sich 
hesUindig in andere Erscheinungen umwandeln, dass 
andererseK-s aber das räumliche und äusserliche Neben- 
einander dem llegrilVe nicht genügt. Er kam daher auf 
die Vorstellung des Dynamischen, welche gewisser- 



♦) Vorul. nii'luo Si\ul. «. (IcHüh. d. Uejjr., S. 327. 
*^) HImpl. 11)1(1. 87 b. an n. 



§ 4. Die Gleichheit der Seele und des Geistes. 31 

massen, wie auch Aristoteles bezeugt, der Sinn des 
Anaxagorischen Eäthsels ist, und so wurde Anaxagoras 
der Vorgänger der Platonisch-Aristotelischen Auffassung 
der Materie*). 

Die Vernunft (yovg) bringt nun Bewegung hinein 
in dieses unendliche Durcheinander {o/liov navTo) und 
sondert dadurch das Leichtere vom Schwereren und giebt 
die bekannte meteorologische Weltordnung der alten 
Physik. Allein, und dies ist für uns der wichtigste 
Satz, auch die Vernunft kann unmöglich die unendlich 
verschiedenen Theilchen des Stoffes ganz von einander 
trennen, weder nach der Quantität, noch nach der 
Qualität; denn da es kein Kleinstes giebt und nichts, 
was dem anderen an Qualität vollkommen gleich ist, so 
ist auch in der materiellen Welt nichts ganz rein 
{eüixQireg) vorhanden **). 

Dieser Satz bildet desswegen, wie die Fragmente 
bezeugen, den Ausgangspunkt für die Annahmen über 
die Vernunft oder den Geist (yovg), von welchem Zeller 
seltsame Vorstellungen hat, wenn er ihn zuweilen auch 
für körperlich ausgiebt und ihm Theile zuschreibt wie 
dem Materiellen***). Anaxagoras sah nämlich ein, dass 
alles Erkennen nur möglich ist, wenn völlig reine Ab- 
scheidung der Gedanken stattfindet, und nicht z. B. der 
Begriff des Graden auch den des Krummen und Warmen 
und Flüssigen u. s. w. involvirt und ebenso, wenn das 
Allgemeine gedacht werden soll, was weder warm noch 



*) Vergl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 332. 

**) Vergl. Arist. de natur. ausc. I, 4, p. 188 a. 9 u. 187 b. 5 : 
siXiXQivfag fjihv ytiQ bXov Xfvxov ij fieXccy tj yXvxv ^ adqxa ^ oarovy 
ovx slyai, oxov &k tiXsTotop exaatov s^si, xovxo dox€iv eivai tijv 
fpvaiv Tov nQccyfÄUTog, 

***) Vergl. Zeller 1. 1. p. 888 u. 889, Anm. 3 u. 892 gegen 
F. Hoffroann. 



S2 Pscndohippokrates. 

kalt, weder weiss noch scliwarz ist. Darum sagte er, 
was uns Plato und Aristoteles von ihm berichten, dass 
die Erkenntniss wie bei der Sonnenfinsterniss getrübt 
werden würde, wenn ein fremder Körper mit im Geiste 
vorhanden wäre und mit seinen eigenen anderweitigen 
Bestimmtheiten die Erkenntniss des Geistes verdunkelte 
und beschattete*). 

Daraus folgt nun der von Zeller angezogene Satz 
des Anaxagoras, dass zwar kein Ding dem andern gleich 
ist, dass aber die Vernunft überall gleich ist, sowohl 
die grössere als die kleinere. Wir sehen den Zusammen- 
hang dieser Behauptung jetzt ganz deutlich und ver- 
stehen die tiefe Erkenntniss, zu welcher Anaxagoras da- 
mit gelangt ist. 

b. Die gleiche Seele des DiStetikers. 

Wenden wir uns nun zu dem von Zeller als Plagiat 
bezeichneten Satze unseres Diätetikers, der allerdings, 
wenn er dabei an den Anaxagorischen Begriff gedacht 
und dennoch seine Seele aus Wasser und Feuer gemischt 
hätte, ein wunderliches Vergnügen an unsinnigem Ge- 
dankenmosaik gefunden haben müsste. Vielleicht er- 
fordert aber die Gerechtigkeit gegen den Autor und die 
Gründlichkeit der historischen Forschung, dass wir den 
Zusammenhang seiner Gedanken , die ja nicht bloss in 
fragmentarischen Sätzchen vorliegen, erst ein wenig in's 
Auge fassen. 

«) Die Verschiedenheiten der Constitution. 

Die Seele, so lehrt der Verfasser überall, ist eine 
Mischung von Feuer und Wasser, und desswegen ist die 
Constitution des Menschen sehr verschieden. Denn erstens 
können diese beiden Elemente ini Gleichgewichte stehen 



*) Vergl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 333. 464 f. und 
Neue Stud. z. Gesch. d. Begr. I, S. 194 ff. 



§ 4. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 

oder das eine von beiden kann überwiegen. Ferner ist 
Wasser vom Wasser, Feuer vom Feuer sehr verschieden. 
Das Feuer kann feiner und dünner oder dichter und 
feuriger sein ; das Wasser kann ebenso dünner und dicker, 
lockerer und compacter sein. Dadurch lassen sich die 
verschiedenen Complexionen erklären. Darum sind sofort 
die Naturen der Männer verschieden von den weiblichen 
Naturen, weil bei letzteren das Feuchte und Kalte im 
Uebergewichte ist , bei jenen das Feurige und Trockene. 
Ferner sind die Menschen ganz verschieden an Verstand 
und Unverstand, einige sind besonnen und haben Ge- 
dächtniss, andere sind unbesonnen und dumm und wie 
„angedonnert" (iiuj^QoyTfjToi), andere wahnsinnig. Alle 
diese Verschiedenheiten lassen sich durch die Diät be- 
einflussen, durch gymnastische Uebungen lässt sich das 
Feuchte austrocknen, durch Brechmittel und spärliche 
Nahrung, durch Fleisch- oder Pflanzenkost oder Fisch 
u. s. w. lässt sich das Uebergewicht einer Seite oder 
die zu schnelle oder zu langsame Bewegung der Seele 
moderiren. Ausser diesen Unterschieden giebt es andere, 
die der Verfasser noch nicht mit einem gemeinsamen Begriff 
zusammenfassen kann, die aber als ethische in der spä- 
teren Zeit bezeichnet wurden, nämlich heftig und leicht- 
sinnig, trügerisch und einfältig, übelwollend und wohl- 
wollend*). Diese Unterschiede lassen sich aber durch 
die Diät nicht unmittelbar beeinflussen, weil sie Un- 
sichtbares betreffen, wohl aber indirect durch Verände- 
rungen der Poren und Gefässe des Körpers, weil die 
Sinnesart der Seele ganz von den Poren abhängt, durch 
welche sie sich bewegt, und von den Stoffen, mit denen 
sie sich mischt. Der Verfasser zeigt die Aufgabe der 
Kunst hier an einer Analogie mit der Stimme. Die 

*) Diese primitiven Versuche einer Eintheilung der ethischen Diffe- 
renzen muss man mit Demokrit's umfangreichen Schriften über ethi- 
sche Fragen vergleichen, um den Abstand der Zeit deutlich zu erkennen. 

Teichmüller, Znr Gesch. der Begriffe. 3 



st Pflonilohippokratcs, 

Luft ist unsiclitbar, bringt aber durch die Poren oderfl 
Luftwege , durch welche sie atrömt , um] durch die | 
Gegeiiätfinde, auf welche sie atösat, alle die Verschieden- 
heiten der Stimme hervor. Nun kanii man die unsichtbare 
Luft nicht durch die Diät verändern, wohl aber die Poren 
für die Luft glätter oder rauher maclien und dadurch die 
Stimme verändern. Ebenso verhält es sieh nach der Mei- 
nung des Verfassers mitdenethiachenlintei-schiedender Men- 
schen und er bemerkt noch sorgfältig, dasa alle die frflhereu 
Unterschiede von dem ursprOngliciien Mit^cbungsverhält- 
nisse der Natur abhängen, die ethischen aber mit dieser 
Proportion von Feuer und Wasser nichts 7X\ thuu haben. 

ß) Die Glcichlieit der Sealo. 

Ol^leich nun hiermit festgestellt ist. dass der Diä- j 
tetiker die Verschiedenheiten der Menschen selir wobl 1 
kennt, ja sie sogar in einer zwar primitiven, aber doch | 
folgericlitigen Art abgeleitet und eingetheilt hat: 
behauptet er dennoch zugleich die Identität (kudtö) und 1 
Gleicheit {üfiolij) der Seele in allen lebenden Wesen. 
Ich habe schon bei Gelegenheit der Lehre Heraklit'a in | 
meinen Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe her- 
vorgehoben, dass die stammelnde Spraclie der früheren 
Philosophie die termini noch nicht kennt, welche der 
späteren Philosophie geläufig sind, dennoch aber durch 
Bilder auf diese termini hindrängt. So sehen wir anch 
hier, wie bei Heraklit, dass unser Verfasser die Begriffe von 
Actus und Potenz sucht und meint und unter dem Actus 
die ideale Natur versteht, die er als das Unsichtbare 
(üipay^Q, u3ij}.oy) bezeichnet, unter der Potenz aber ( 
materiale und sinnenfällige Natur verstehen will. . 
ist nun der Meinung, dass die ideale und actuale Natur 
immer gleich ist, dass aber alle bemerkbaren Verschie- 
denheiten nur von den verschiedenen materialen Potenzen 
herrühren, in welchen die Idee zum Actus kommt, dass 



§ 4. Din Gleichhoit des Geistes und dor Seele. 3ö 

der Arzt daher auf die ideale Natur nicht einwirken 
kann, weil sie gleich und unveränderlich ist, wohl aber 
auf die sionenföllige Natur, durcli deren Modificirung 
er auch einen andern Actos hervorbringen könne. 

Wir müssen die Frage aber noch bestimmter fassen. 
Denn wenn der Verfasser sagt, dass die Seele in allen 
lebenden "Wesen identisch sei, der Leib aber bei einem 
jeden verschieden: so könnte diese Identität und Aehu- 
lichkeit vielleicht bedeuten, dass die Seele eines Men- 
schen mit den Seeleu anderer Menschen und aller Thiere 
ein und dasselbe sei und zwar entweder der Art und 
Gattung oder der Zahl nach. Das letztere würde die 
Weltseele enthalten, das orstere die Lehre des Einen und 
Vielen anticipiren. Von der Weltseele aber merken 
wir bei dem Verfasser imr sehr undeutliche Spuren, da 
er die [ndividualität der einzelnen Seelen sehr stark be- 
tont, wie wir sehen werden. Er lehrt zwar, dass Alles 
dasselbe ist, woians folgt, dass die ganze Welt in den 
beiden Gegensätzen von Feuer und Wasser, die sich 
mischen, schliesslich doch Ein lebendiges Wesen ist in 
streitender Harmonie mit sich ; aber die Einheit ist bei 
unserem Verfasser nirgends betont, sondern der Gegen- 
satz von Wasser und Feuer als Principien ist das Be- 
tonte, und die Einheit erscheint nur in den 
einzelnen Mischungen und einzelnen Seelen. — 
Andererseits ist die Lehre vom Einen und Vielen, 
wie wir sie bei Sokrates in den Anfügen und bei 
Plato in grossai'tiger Durchführung finden, bei keinem 
der Früheren anzutreffen, wenigstens nicht andere als 
in undeutlichen Ähnungen, und weder Parmenides noch 
Zeno kennt diese Lehre, soweit sie von dem progressus 
in intinitum ganz verschieden sich auf die Ideen selbst 
bezieht. Bei unserem Verfasser ist sonst auch keine 
Spur davon vorhanden. 

Also müssen wir diese beiden Bedeutungen ablehnen 



36 PseudobipiHjkrates. 

und durfeD demnach auch nicht ♦(lauben, er habe die 
Seele des Menschen mit der des Hmides oder Esels für 
ein und dasselbe gehalten ; denn wir haben seine directe 
Abweisung dieser Vermuthung in dem Satze cap. 6 s. f. : 
„ Das Passende nähert sich dem Passenden, das unpassende 
aber kämpft und streitet mit einander und scheidet sich 
voneinander. Darumwächst die Seele des Men- 
schen in einem Menschen, aber in keinem 
andern Wesen; und bei den anderen grossen Thieren 
ist es ebenso ; alles was aber in anderer Weise zusammen- 
kommt, wird von einander mit Gewalt abgeschieden."*) 
Wenn der Verfasser also alle Seelen gleich machte, so 
wäre keine Seele keinem Körper unpassend und die 
Seele des Menschen könnte, durch Zeugung in den Esel 
gelangt, ebenso gut wachsen, wie die des Esels im 
Menschen. 

Darum müssen wir den ersten Weg der Erklärung, 
wonach die verschiedenen lebenden Wesen in Bezug auf 
ihre Seelen verglichen werden, verlassen und den zweiten 
allein übrig bleibenden betreten. Die Seelen der leben- 
den Wesen können nämlich zweitens mit sich selbst 
verglichen werden und zwar danach, ob sie sich 
selber gleich und ähnlich bleiben oder sich 
auch verändern, wie der Körper, der im Stoff- 
wechsel sich fortwährend verändert. Der Ver- 
fasser ist nämlich überzeugt, dass die Seele gewisser- 
massen schon ein ganzes Thier ist und alle 
Theile, die dem ausgewachsenen Thier zukommen, in 
sich hat, so dass sie qualitativ, wie wir sagen würden. 



rpoQa noXifABl xai ^«/fr«* x«i ^inXaaati un aXXriXwv. Jia rovro 
dyrhQüinov i/'v/r) iv av^Qianfo av^dverai, iv SXXm dk ovdsyi • xai 
TiSv tiXXioy Cö>ö>r rtov fjiByilXiüv toaavjiog ' oxoaa dk aXXo}s, dn 
dXX^Xwy vno ßitjg dnoscQCvsiai,, 



§ 4. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 37 

keines Zusatzes und keines Abzuges von constitutiven 
Elementen bedürftig ist, sondern nur quantitativ durch 
Ernährung grösser oder kleiner werden kann und dess- 
halb je nach ihrer Grösse einen kleineren oder grösseren 
Platz braucht*). Darum kriechen die kleinen Seelen- 
thierchen als Samenthierchen in alle Körper mit der 
Nahning hinein, in Kinder wie in alte Leute. Bei 
Kindern aber dienen sie nur dem Wachsthum des Kin- 
des, bei alten Leuten wirken sie mit zur Verminderung 
und zur Abnahme des Körpers; nur in dem besten 
Lebensalter finden sie Gelegenheit, für sich selbst zu 
einer individuellen Entwicklung, d. h. zur Ernährung 
und zum Wachsthum zu kommen. Haben sie eine ge- 
wisse Grösse erreicht, so treten sie aus dem Körper 
heraus, um durch die Zeugung auf einen grösseren 
Schauplatz mit grösserem Eaume zu gelangen**). Da 
wachsen sie weiter, bis auch dieser Kaum (der Uterus) 
zu klein für sie ist und sie wieder durch die Ge- 
burt ausgestossen werden auf einen grösseren Platz; ist 
nun auf diesem alle Nahrung verzehrt, so verschwinden 
sie abnehmend durch den Tod in's Verborgene. 

Es ist sehr interessant, zu sehen, dass Leibnitz 



*) Ibid. 'Exaartj dk xpv^n fJtil^to xal iXäaaa) e^ovaa nsQi- 
(poiT^ T« fÄOQice T« itJVT^g, OVIS TiQoaS-saiog ovre a(paiQiai,og cffo- 
/Lieyij Tüiy fiSQSwv, y-ara de at^tjciy xal fisCtoacy icSy unaQ^oPTatv 
&sofjiivvi x^Q^^ exctata dianQr\aaitai ig iJptwu äv iaeX&n xal de- 
/fr«t td 71 Qoanimovra, 

**) L. 1. 1, 25 : >; cf^ V^v/'J, wcryie^ /not xal ngosiQriTai, ^vyxQtj- 
(Ttv e/ovaa nvQog xai vdarog, iaignsi, ig näv C^or, o ri nSQ 
dyanvieij xal cf>J xai ig dy&Qcjnov ndvta xal yemsqoy xai ngea- 
ßvTSQov, Jv^erai, de ovx iv näai ofjioitag x, r. X: — — 26. "Ott 
fjiEV ovv cty aXXooe iaiX&ii^ ovx av^erai, ' o ri, d' dy ig ji,v yv~ 
yaixa, av^SKUj tv rvxii Twr nQoatixoyjwy. J tax Qiy erat dk 
rd fieXsa dfia ndyra xal au^exai^ xal ovtb n qotsqov 
ovdkv ETßQov erigov, ov&^ varsQoy x. r. X. 



38 PtieudoliipjwkTakEi. 

ziemlich die ganze Tlieorie des Diättttikere in 
Sprache und Termini frei übersetzt utiil aiigeDoiumän 
Uat. Suhiister bemerkte diea auch (Heraklitp. 99aiq.), 
allein er konnte die ÜobereinstimmuiiK »iclit erkennen, 
weil er den Dtätetiker nur »ehr unvollständig und znm 
Thei! ganz falsch verstand und ihm also von dem zu 
Vergleichenden die eine Seite fehlte. Er bildet sich 
nämlich erstens ein, dass der Diätetiker die Welt aua 
Pener- nndWasseratomen meuhaniach mischt, wäh- 
rend der Verfasser weder den Begi'iff des Atoms kennt, 
noch den Bogriff des Mechanischeti im Gegensatz zum 
Organisclien oder Dynamischen. Dieses Missverstäudnira 
Schuster's ist sehr beträchtlich, weil er dadurch ver- 
anlasst wird, an Epiknr und Demokrit zu denken, den 
Diätetiker zum Plagiator des Plato zu machen und An- 
spielungen auf Äristotelea anzunehmen, und also den 
Sinn für die ganz alterthümliche Anschauungsweise 
unseres Veifaasers verliert. Zweitens glaubt Schuster 
ganz willkürlich den überlieferten Text dahin veräudem 
zu dürfen, daas er „ beseelte Keime ohne sexuellen IJnter- 
gehied" herausbekommt, weil man, wie er sagt, „diesen 
Gedanken erwartet". Ich erwartete diesen Gedanken 
nicht, da ich sah , dass der Verfasser ausführlich lehrt, 
wie im Uterus sich männliche und weibliche Samen- 
tbierchen, die vom Weibe und Manne in gleicher Weise 
ausgeschieden werden, treffen und wie das Geschlecht des 
Embryo allein durch die Obmacht eines von beiden schon 
geschlechtliehen Samenthierchens bestimmt wird, wenn 
sie sich zu einem Individuum vereinigen. Drittens hat 
Schuster gar nicht bemerkt, dass die Entwicklung der 
Seelen im Uterus schon die zweite Station ist 
und dass anch im Manne und Knaben schon männliche 
und weibliche Samenseelen vorhanden sind, ebenso 
im Mädchen. In deiselben Weise hat er darum die 
ganze fötale Entwicklung falsch verstanden, und Alles, 



I 



§ 4. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 39 

was er vom Keimmasse und Kernen sagt, ist reine 
Phantasie, da er die drei Symphonien ganz willkürlich 
auf drei Stadien der Entwickelung in dem mütterlichen 
Uterus bezieht, während doch die dritte hier gar noch 
nicht einmal erwähnt wird und die angebliche zweite 
(fV di devT€Qa yivboig fi) nicht auf eine chimärische, von 
dem Verfasser nicht angezeigte Kernbildung bezogen 
werden darf, sondern auf das Leben im Uterus geht. 
Die erste yiveoig ist das Einkriechen der Seelen in 
die Männer und Weiber, wo sie in den Geschlechts- 
theilen ihren kleinen Platz finden. Die zweite ylvt- 
aig ist die Zeugung, durch welche die weiblichen und 
männlichen Seelen auf dem Boden des Uterus zusammen- 
kommen und sich zu einer einzigen Seele vereinigen; 
die dritte yereaig ist die Geburt des Kindes, das 
als sichtbarer Mensch seine Entwicklung durchmacht. 
Die Symphonien des Hohen und Tiefen, die überall bei 
diesen drei Stadien des Lebens gewahrt werden müssen, 
sind nicht nach feineren musikalischen Theorien zu deu- 
ten, mit denen der Verfasser augenscheinlich nicht ver- 
traut war. Es kommt ihm nur überhaupt auf die 
Uebereinstimmung der Gegensätze an, worin die ri^ipig 
liegt (cf. c. 18) und in unserer physiologischen Anwen- 
dung handelt es sich um das angemessene Verhältniss 
des Feuers und Wassers, der Anstrengung * (tioj'o^) und 
Nahrung {TQocpl), der Seele und des Leibes, des Männ- 
lichen und Weiblichen, des Stoffverbrauchs und der 
Stoffzufuhr u. s. w. Aber auch die Dreigliederung 
des menschlichen Körpers nach Analogie des Welt- 
baues kann man hierher ziehen und ebenso die be- 
stimmten Zeiten,, in denen die Geburt des Kindes er- 
folgen noiuss. 

Darum hat Leibnitz den Diätetiker viel besser ver- 
standen, als Schuster, der in dem Samen nur ein Molecül 
aus Feuer- und Wasseratomen sieht; denn Leibnitz er- 



iO p8eudolni))K)1(ratc8. 

kannte darin mit Roclit ein ganzes Thier, das alle zu- 
kfinftij( sichtbaren Theile schon in unsichtbar kleinen 
Verhilltnissen l)(»sit'/t. Leibnitz, dem es mehr um das 
I*ositivo als um die Kritik zu thun war, übersieht nur 
den j.f{lnzlichen Mangel des idealen Prineips in der 
Theüri(^ d(^s Diiitotikors. In der That mischt er zwar die 
ideale Ursache immer mit ein, aber nur in der dunklen 
und unbestimmten Weise Heraklit's und hat auch nicht 
die leiseste Ahnung davon, dass man wie Anaxagoras 
den 9'(ng selbst zum Oegenstand der Forschung machen 
köniu» oder gar wie Sokrates die Begi'ifife definiren müsse 
oder wie Plato eine Dialektik an die Spitze aller Theorien 
zu stellen habe, .le genauer man aber unsem Diätetiker 
studirt, desto mehr wird man ihn trotz dieses Mangels 
in seiner alterthumlichen Einfachheit schätzen und an- 
erkennen. 

Wir wollen nun sehen, wie unser Verfasser auf diese 
seine Vorstellung kam und in welchen Bildern er sie 
ausdrückt. Er handelt von der Erzeugung der Men- 
schen und will lehren, wie wir es in unserer Hand 
haben, ein männliches oder weibliches Kind zu erzeugen 
durch die rechte Diät vor der Zeugung. Im Manne 
nämlich wie im Weibe giebt es Zeugungsstoflfe, die auf 
gleiche Weise bei der Zeugung mitwirken; und zwar 
hat jeder von beiden sowohl weibliche als 
männliche Zeugungsstoffe oder Seelen in sich. 
Nun kann es kommen, dass bei der Zeugung Mann und 
Weib eine männliche Seele absondern, oder beide eine 
weibliche, oder der Mann eine männliche, das Weib 
eine weibliche, oder umgekehrt und ferner kann, wenn 
sie verschiedenes Geschlecht absondern, bald das eine, 
bald das andere Geschlecht stärker sein und den Aus- 
schlag geben. Darum muss es drei verschiedene Arten 
von Männern geben und ebenso viele Arten von Wei- 
bern, je nachdem ihre Constitution ursprünglich bei dem 



§ 4. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 41 

Zeugungsact bestimmt wurde durch die dreifache Mög- 
lichkeit der Constituenten *). 

Da nun bei der Zeugung zwei verschiedoue 
Seelen zusammenkommen, so entsteht der 
Zweifel, ob diese denn zu einer Seele werden 
können, und der Verfasser antwortet darauf: ,, Zusam- 
mengehen können auch das Weibliche und das Männliche 
untereinander, weil auch beides in beiden er- 
wächst und weil die Seele identiscli bleibtin 
allenbeseeltenWesen, der Leib aber eines jeden sicli 
verändert. Die Seele ist sich wirklich immer äluilich (gleich) 
sowohl in einem grösseren als in einem kleineren (Leil)e); 
denn sie verwandelt sich nicht, weder von Natur, 
noch durch Zwang; der 'Leib aber ist niemals 
dasselbige bei Keinem, weder von Natur, noch 
durch Zwang; denn ein Theil sclieidet sicli aus in Alles, 
der andere mischt sich mit Allem."**) — „Wenn 
aber einer daran zweifeln sollte, dass die 
Seele mit der Seele sich mischen könne, so 
blicke er hin auf die nicht brennenden Kohlen, di(j er 
zu den brennenden hinzuwirft, die starken zu den schwa- 
chen, indem er ihnen Nahning giebt: alle werden ein(m 
gleichen Leib darbieten, und keine lässt sich von 
der andern unterscheiden, sondern in welcherlei 
Leib sie entflammt werden, so beschaffen wird auch da» 
Ganze sein. Wenn sie aber die vorhandene Nahrung 



*) L. L Lib. I, 27-29. 

**) Libr. I, 28: EwUJtaöi^cu di tfryatui xui to f^r^Xv xai 
TO aQCBy nqog uAhiXu^ &um xai iv dfitfoitQtnq t'.fj(f6ie(ja t(fe- 

iftSfMM duufBQU kxaarov. */'i/<i uty oi v icti ofjK^tf xui iv fiil^ov^ 
xai iy iXdaaoyi' ov ytig d'l'loiotTia, ovit xunr ifvay.^ oi^tfi di 
urayxijr ' awfia di ovöertoie Jtavto «tvdiyog, ottt xun< ^'Vir, 
ovte «f** ilyäyxr^y^ x6 fAtv yi/.o dutx^iytria eg ndvia , to dk 
^vfifuöyetai n^s unurta. 



YL^M^: catt<r]iji;^iir ♦rrfiijr: iB<:ii öi*' »enteil itiK» 
AiKiert atW lÄ <Ä Infi d«i Zwiliinff*»: äenn 

utid ^ zird v^iviiied^i^i ^V'^]«l der Gtiormotter. dk 
der Verfcuü&er eWj&lk ad^ zwei ieakt. aiivad[iäe&. CA 
er zHi die J>ei*ieii EieretCidke gedieht lotL <w<er («b er dk 
UiHi^Mkhh Get/ärfouUer Dieiual^ aoatomiddi imtersodile 
Ui«d Xiur au 7'faiereo seiüe Stadien madite. nma» idi 
aU '^ftitte Frage zurOddaaeen ^). 

I>ie Heele wird von unserem Dütetiker als» als 
gaii/>*« Tbier '>der al« Entelechie und L^bensfiamme. naeh 
'1er Arial'>$^ie 'ler brennenden Kohlen, anfgefasst Sie 
iijbs((;lit m-h mit der Xahmng, wie Heraklit'a göttliches 
Vi*u^r mit Afttn Käucherwerk ; sie gerätb theik Ton Xa- 
Uir, d, ti, durch die Alteri^tufen und Zeugungsbedingnngen. 
iJimU durch Yjwan^, d. h, durch die therapeutischen 
KiiigriflV; der Brei;hniittel und Aufschläge und Diät und 
gyiniia^titjchen Kxercitien in grössere und gerii^ere 
Jfcfwegurig, KV>HKt auf die in den Poren des Leibes ihr 
eiitgi^engeführteu Stoffe, die auch in ihre Poren ein- 
dringen, und denkt so, je nachdem ihr dies oder das zu- 
gefölirt wird, Verschiedenes: immer aber bleibt sie die 
unnlclit^dre, nich selbst gleiche Natur. Der Verfiasser 
hat aln^i als Arzt die ünveränderlichkeit der ur- 



*) IJbr. I, 2Ji Huli (in.: El di ng (Inunolij ipvxr]v fitj TtQoc- 
fjiltiyfs00m i/zu/zi , ilffjttQiiiv ii ay(^Qaxa( jutj xexav/Liivovg nQog xbjsov- 
f4(iß/iw( nQoajiuXXüßV, iaxvQovg nQog uoxfeyiag^ TQo<prjV avxolat, ifi- 
<fo'^^, AfjLoioy 10 aiZfjLu nuvieg nuQaaxuoovtut xal ov duidriXog engog 
joii hiQov , hXX^ iv öxoioi auifittti i^tonvQioyxia^ toiovrop dij ro 
nßy Stifui' (ixdtuv d' tlyuXuiautai jr^y vnitQXovaav TQo(prjv, cfi«- 
HQlyovita ig tu iid^Xav ' iwiro xal dv&Qü)7ilytj \pvxu TißVjjff*. 

•♦) Ibid. ao. 



§ 4. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 43 

sprünglichen Constitution mit ihrem character 
indelebilis erkannt. Wenn er auch, durch Erfahrung 
am Herde belehrt, die rohe Vorstellung mit ein- 
fliessen lässt, dass im Uterus zwei Seelen sich zu 
Einer Individualität vermischen können: so bleibt aucli 
dann diese durch Mischung entstandene Con- 
stitution des seelischen Individualprincips 
identisch. „Denn die unsichtbare Natur kann man 
nicht umbilden", ebenso wenig wie die Luft, obgleich 
sie nach der verschiedenen Beschaffenheit der Luftwege 
doch eine verschiedene Stimme hervorbringt ; „ diese 
Luft aber kann man durch die Diät nicht verändern 
{aXXotwaaiY^. 

Die Gleichheit der Seele bedeutet also bei dem Diä- 
tetiker die Unveränderlichkeit des unsichtbaren psychi- 
schen Princips im Gegensatz zu dem Stoffwechsel, den 
der Arzt beherrsclien kann. Die Mischbarkeit männ- 
licher und weiblicher Seelen im Uterus von Thieren, 
die zu derselben Art geliören, beweist er aber erstens 
dadurch, dass Seelen beiderlei Geschlechts in jedem Tliier 
vorkommen, also gleichartig sind, wie starke und schwache 
Kohlen, und zweitens dadurch , dass die Seele in allen 
Thieren sich ja von Jugend bis zum Alter, d. h. in einem 
kleineren und grösseren Leibe, gleich bliebe, dass also 
die verschiedenen Constituanten dei*selben (männliche 
und weibliche Seele) zu einer unveränderlichen Einheit 
zusammengehen könnten. 

c. Der Diätetiker imd Auaxagroras. 

Wir wissen also nun aufs Deutlichste, was der Diä- 
tetiker gemeint hat, und müssen billiger Weise sehr 
erstaunt sein, wenn Zeller diese alterthümlicheu An- 
schauungen für ein Plagiat an dem Anaxagoras, mit 
dessen ganzem Gedankenzusammenhange sie 
in keinem Punkte sich berühren, auszugeben 



44 Pseudohippokrates. 

versucht. Der Diätetiker hat keine Ahnung von der 
Vernunft (yovg), die das Allgemeine erkennt und dess- 
halb mit keinem Dinge gemischt, sondern rein abge- 
sondert ist; er hat keine Ahnung weder von dem Rä- 
sonnement, durch das Anaxagoras seinen Satz beweist, 
noch von dem Inhalte der Vernunft, sondern er mischt 
grade seine Seele mit Allem und macht sie abhängig 
von Allem, worauf sie stösst*). Seine Seele ist eine 
Mischung von Wasser und Feuer, den ursprünglichen 
Gegensätzen, die ebenso die Natur des Körpers bilden, 
und als ein individuelles Mischungsproduct kriecht sie 
in den Körper hinein uud bestimmt seine Complexion. 
Als unsichtbare ist sie dem unmittelbaren Einfluss des 
Arztes entzogen, aber er bestimmt doch durch indirecten 
Einfluss ihre Gedanken und ihre sittliche Beschaffenheit 
als Accidenzen an der mit sich identisch bleibenden 
Substanz der Seele. Wenn ihr die Nahrung ent- 
zogen wird, d. h. wenn der Mensch stirbt, scheidet sie 
sich aus in das Verborgene. Nirgends begegnet man 
einer Spur von Anaxagorischen Gedanken, ebenso wenig 
von Demokrit's Theorien und auch die charakteristischen 
Bestandtheile der Empedokleischen Lehre mit Ausnahme 
der Poren, die aber schon bei Anaximander vorkommen, 
fehlen gänzlich. Dagegen merken wir überall Berührungen 
mit der Anschauungsweise Hemklit's und vielleicht Po- 
lemik gegen Pythagoras. 

Wir müssen daher Zeller's Parallele für gänzlich 



*) Z. B. 1. 1. 1,35: x«i infj (pQnaacjyTM ol noQoi r^g i/;t;- 
X^Si ^^f^ ^^ ^^^ yvfjivaütfov, oxiog f^^ iyxajccXBint^m iy x^ 
aoSfÄun ro dnoxQi&ey vno rov &Q6fAov, fiij&h ^iffAfAlayrixat 
tfi ipvxj X. T. A. Und II, 61: Juc &e rrjg uxo^g ianCnovxog 
rov \p6(pov aelexai tj i/^v/ij x«l noveei, noyäovaa ^k d-eQfxaC^ 
verai xctl ^tjQaCyetai. 'Oxoaa (f^ fxtQtfjLvq üivxf^Qconog x^yi- 
erat t) ipv/^ vno xQvxtoy x. x. X. 1,35: ijy ydq firl CBiad^ii 
V ^^X^ vTio Tot; TiQoanBaoVTog , ovx äv atax^oito oxolov xC iaxi. 



§ 4. Die Gleichheit des iti»$teist mni vier Seekx 4) 

verfehlt erkläreo und grade dun*h Ver^leiohm^jr dor 
beiden Sätze, wenn wir ^ie nach ihrem Zusannueuhim^v 
verstehen, den Diätetiker in die Zeit Äwis^oheu HenikUt 
und Anaxagoras stellen. Denn er geJit xwar über Honiklit 
dadurch hinaus, dass er wie die Pvtlu^nver nud nicht 
ganz g^en den Sinn Horaklirs einen ui^prün^Hohon 
Gegensatz zur Erzeugung der Dingo bmuoht und zwei- 
tens auch einen gewissen Dualismus zwisohou der Seole. 
als dem Pormprincip oder Organismus einer- 
seits und dem Leibo als dem ab- und xu- 
fliessenden Stoffprincip oder der Nahrung 
andererseits annimmt: dennoch bleibt i^v iiiHoleni 
auf dem Heraklitischen Boden, dass er diese IJutorHe-hiinh^ 
doch wieder in dunkler Weise aus den Principion WiiHsur 
und Feuer und ihrer Mischung und Harmonhi herleitet 
und die Unvereinbarkeit von Geist und StolV und die 
Unerklärbarkeit des Organischen aus dem blosHen HtolVe 
noch nicht erkennt. Kr bildet doHshalb grade die 
Zwischenstufe zwischen Heraklit und AnaxagoruH, weil 
bei diesem nun wirklich der Geist (yovg) und der Htofl' 
ganz auseinandergerissen wird und alle OrganiHJrung 
oder Ausscheidung nur von dem GeiHt als dem IViiMjip 
des Guten und Zweckmässigen ausgeht. KbeuM^; mi\uin 
wir, wie Anaxagoras dem Motiv des Diät^jükern folgt, 
in der Materie schon die Gesammtheit der l*beile uii/U' 
nehmen, aber er geht darin wieder weit^;r, (hm (sr AUtmi 
Theile überall annimmt und nicht blosH in den Haumt' 
thierchen, und femer dadurch, dass er die Umarm y^iun 
metrischen begriffe hinzunimrnt und die l'beilurig in*u 
Uoendliche kennt und da/Jureh Q(>er di^^ rohe KnU 
gegensetznng von Wai^er und P'euer weit hitmihk^nmui 
und auch öl^er die pririiitive liMräklli'mM Aä.rof$o$t$Ui 
d/fö Diatetikefr: zu frtfmsuiigeu Ann^ännen 6b^r 4iH (ir^/^^. 
und pbmkaliöcbe Bei»chaffi^bieit \ou M/^id us$A H/ßMi^, 
weitergeht, die uuM m^r dl*: '^\m\\h v^/m Wantf^r ui^l 



46 



PsendoliipiiiikratoB. 



Teuer spielen, sondern als Weltkörper erscheinen. Wir 
sehen daher in der Entwicklung der Begriffe unsern 
Diätetiker an dem bestimmten Platze, den er sich selbst 
durch seine Begriffe giebt, nämlich in der Mitte znischeu 
Heraklit und Anaiagoias. 

Die Philosopbeii uiid ihre Scliulen. 
Wenn Zeller aber (S. G34) glaubt, Anasagoras könne 
von der Schrift des Diätetikers keine Anregung empfangen 
haben, „weil ein Anai^oras, Empedokles und Lenkippus 
dem ganzen Alterfchum als die Urheber von Systemen 
bekannt sind, von der Schrift ;t. äiuhijg di^egen Nie- 
mand etwas bekannt ist": so scheint er zu vergessen, 
dass Heraklit nnd Pythagoras ebenso grosse Philosophen 
wie jene waren und dennoch von unseren Berichterstattern 
das, was sie ihnen als Lehre znschreiben, selten nur auf 
eine Person, sondern meistens auf eine Schule, oder 
eine ganze Reihe von Männern [ol Tlvd^ayögtim und ol 
p^oiTfe) bezogen wird. Unser Verlasser ist nun im 
Wesentlichen ein Herakliteer, auch wenn er sich viele 
Abweichungen erlaubt; denn solche mehr oder wenig 
bedeutende Unterschiede der Lehre veranlassen uns auch 
nicht, die Herbartianer und Hegelianer in ebensoviele 
einzelne Schulhäupter aufzulösen, als sich etwa Unterschiede 
in ihrer Lehre finden. So gut wie wir daher den Anasagoras 
mit Heraklit's eigener Schrift bekannt sein lassen dürften, 
30 gut können wir auch annehmen, dass er von mehreren 
Schülern Heraklit's dies oder das gelesen habe, und 
nichts kann uns bestimmen, anzunehmen, es 
hätte nicht mehr Philosophen gegeben, als 
in den Lehrbüchern derGescbichte derPhilo- 
aophie stehen. Denn nur die gi'ossen Namen werden 
von den Nachkommen behalten; die vielen mittleren 
Köpfe aber dürfen wir nie vergessen, über welche die 
Koryphäen hinausragen, und welche doch im Wesent- 




Der Diätetiker als imgeblichcr Plngiator. 



47 



liehen den Einfluss und die Verbreitung der Systeme 
bedingeD. Damm soll uns der altertlifimliche herakliti- 
sireiicie Diätetiker nicht oline Weiteres als Corapilator 
des vierten Jahrhimderts beseitigt werden, sondern wir 
wollen seine Schrift als ein interessantes Monument ans 
der dunkeln Zeit vor Anais^oras besonders achätzen. 



Der Diätctikcr als angeblicher Plagiator an 
Arohelans. — Dlogoaes von ApoUonla. 

Wenn nun so alle die Voraussetzungen des Zeller'- 
aehen Urtheils über den Diätetiker sehwinden, so kann 
es nicht fehlen, dass sein Resultat sehr wunderlich er- 
scheinen muas. Da er aber meine Beweise so wenig 
sorgfältig geprüft und trotzdem wegen seiner durch 
frühere Verdienste erworbenen Autorität sogleich von 
By water Zustimmung erhalten hat: so ist es angezeigt, 
die HiuMligkeit seiner Annähme mit aller Gründlichkeit 
darzulegen. Ich will ihn desshalb wieder selbst zu Worte 
kommen lassen. 

8. 636: „Ist nun schon hiemit, wie ich glaube, 
erwieseu, dass unser Verfasser die Physiker des fünften 
Jahrhunderts bis auf Deraokrit herab vor sich hatte, so 
läsat sich eben dieses auch noch von einer andern Seite 
her darthun. Sogar der Fund, mit dem er sich am 
Meisten weiss, dass die lebenden Wesen, die mensch- 
liche Seele und alle Dinge überhaupt aus Feuer und 
Wasser zusammengesetzt seien, gehört nicht ihm seibat 
an, sondern er hat ihn von dem Physiker Archelaua 
entlehnt (s. u. S. «47, 3. Aufl.); und wenn er (c. 3) 
dem Feuer das Vermögen zuschreibt, Allea zu bewegen, 
dem Wasser, Alles zu ernähren , so folgt er jenem auch 



48 Pseadohippokratcs. 

darin wenigstens zur Hälfte; denn Ärchelans hatte das 
Warme als bewegt, das Kalte als ruhend dargestellt. 
Nach allem diesem wird unsere Schrift für das Werk 
eines Arztes aus den ersten Jahrzehenden des vierten 
Jahrhunderts zu halten sein, welcher für dieselbe die 
eben damals in Athen verbreitetsten physikalischen 
Theorien, in erster Linie die des Archelaus, nächst ihr 
die hier durch Kratylus*) bekannt gewordene Hera- 
klitische benutzte; und eben dieser Umstand lässt auch 
vermuthen, dass sie in Athen (wenn auch von einem 
Jonier) verfasst wurde." 

Wie wenig bei unserem Verfasser an eine Kenntniss 
und Benutzung des Anaxagoras und Demokrit und Em- 
pedokles gedacht werden dürfe, wenn es noch Gesetze 
der historischen Wahrheit giebt, habe ich gezeigt. 
Prüfen wir jetzt sein Verhältniss zu Archelaus, den er 
geplündert haben soll. 

Archelaus und der Biäteüker. 

Da ist nun zuerst auch nur ein ganz oberflächlicher 
Schein vorhanden, als wenn der Satz, dass Alles aus 
Feuer und Wasser gemischt sei, mit des Archelaus 
Lehre übeinstimme. Denn kein Berichtei-statter leugnet, 
ja es wird von Allen ohne Ausnahme bezeugt, dass 
Archelaus ebenso wie Anaxagoras Homöomerien als Prin- 
cipien gesetzt habe. De particulis inter se dissimilibus 
und Corpora dissimilia, sagt Augustin, ofioioinfQfj Alexan- 
der, Try fu'^iy trjg vkrjg o(,iol(x)g lAva^ayoQa^ sagt Hippo- 
lyt, fia&7]irg Idva^uyoQOv Diogenes, to anugov xu&v- 

fxvriaav uucpu)^ sagt Clemens u. s. w. Hiermit fallt jede 
Annahme, die den Archelaus mit dem Diätetiker zu- 
sammenbringen will. Der oberflächliche Schein aber 



*) Ueber diese angebliche Benutzung des Kratylus vergl. ^nten 
CoroUarien 1. 



§ 5. Die Gleichheit des Geistes und der Seele. 



49 



entsteht dadurch, weil nach Archelaus die in dem fuy^a 
immanente Vernunft {vovg) als erste Scheidung die des 
Kalten und Warmen oder nach Plutarch die Verdich- 
tung und Verdünnung hervorbrachte, die desshalb als 
erste Gegensätze und Anfänge des Werdens und Ent- 
mischens von ihm gesetzt werden. Mit dem yjv/Qoy 
und &eQin6y verwechselte nun Zeller mit Hippolytus*) 
das Wasser und Feuer, weil er sich das Wasser immer 
kalt denkt und das Feuer warm. Archelaus aber setzte 
die unendliche Mischung als Princip und wollte aus 
diesem durch Gegensätze Alles erzeugen**). Dass 
nun als erste Gegensätze Feuer und Wasser genannt 
werden, ist zwar richtig; sie haben aber als erste 
Scheidungen, denen andere Scheidungen folgen, eine 
ganz andere Bedeutung als die Principien des Diätetikers, 
die nicht erst ausgeschieden zu werden brau- 
chen, sondern von Anfang an und für immer 
geschieden sind, da sie sich immer nur par- 
tiell mischen. — Man braucht also die Behauptung 
Zeller's nur aufzufassen, um sie, wenn man einige Kennt- 
niss von den Quellen hat, sofort zu verwerfen. 

Da nun bei Archelaus das Warme in Bewegung ist 
und das Kalte ruht, so soll sich der Diätetiker diesen 



*) Hippolyt. refut. haer. I, 9 : Ovtog QiQxiXaog) €g)tj rrflf fxi^iv 
i^g vXfjg öfjioCfag 'jiya^ay6Q(jt rag ts (tQ^ccg (oaavttog , ovtog &k tw 
f^ ivvndgxsiv tl evS^stog fjiTyfjLa. Elvm &* dg^riv Trjg xivrj- 
aBiog To dnoxQCveaS^ai dn' dXXijXcov ro &eQfxov xul t6 
^XQ^^ f *<*^ ^^ h^'*' ^^Qf^ov xivsia^ttij TO de xfjvxQor TJQSf^sly. 
Tipc6(XBvov dk 10 vd(oQ elg fjLsaop Q^lv, ^v w xaxttXMOfjievov diqa 
ylvecd-ai xai yijy , (6y to fjikv avio q>4QBad^ai., to dk vfpCaTaad^ai 

**) Das sieht man sowohl aus dem abstracteren Ausdruck 
tpvxQov xtd d-eqfjLÖv, wie aus dem to dnoxqCvead-ai. und bei Plu- 
tarch aus den terminis jivxvoxrßa xai f^dytoaiv und aus der ganzen. 
Theorie, welche den vovg zur Scheidung nöthig hat. 

Teichmüller, Zur Oeseh. d. Begriffe. 4 



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so PBPQ<iiibiii|Mikr<itca. 

Satz wenigstens zur HfÜfU* auch angeüignut haben. Die 
Hälfte dieser physikalischen Meinung soll darin be- 
stehen, daüs ja das Feuer Alles bewege, wie der Diä- 
tetiker lehre. Wer aber kann diese Art von historischer 
Entwicklung der Begrifl'e gutheissen ! Bei Archelaou ist 
die Vernunft der Beweger, der alle Gegensätze iu dem 
ttifftu zur AussuheiduDg brin^ und als erste Gegensätze 
das Warme und Kalte trennt. Daas die Wärme aber 
mit Bewegung zusammenhängt, bat kein Physiker von 
Auaximander an bis auf unsere T^e hin je geläUf^net; 
wie kann man also aus solch einem Gemeinplatz die 
charakteristische Lehre eines Mannes bestimmen wollen I 
Wenn dies Princip Geltung bekommen sollte, so wüsste 
ich nicht, wie man nicht beliebig jeden Philosophen 
zum Plagiator von jedem beliebigen andern machen 
könnte. Das Chai'akteristische aber in der Lehre unseres 
Diätetikers, dass das Waaser die Nahrung des Feuere 
sei und dass man keine Principieu ausser diesen beiden 
braucht, sondern dass auch die Seele eine Mischung der- 
selben sei : das konnte er nicht von Ärchelaus entlehnen. 



Dlugenes von A|ii>llotil)t. 
Es ist aber oft leicht, eine falsche Annahme zurück- 
zuweisen, schwerer jedoch und wichtiger, das Wahre 
an die Stelle zu setzen. Um dieses müssen wir uns 
bemühen. Da ist es nun glücklich, dass uns ein guter 
Zeuge, Simplicius, denjenigen nennt, der die von Zeller 
dem Diätetiker zugeschriebene Stellung wirklich ein- 
nimmt. „Diogenes, der Apolloniate, ist es, der 
schier als der jüngste der Physiker das Meiste bloss 
zusammengetragen hat, indem er Einiges dem Auaxa- 
goras, Anderes dem Leukipp entlehnte."*) 



") Simplic. in Arist. Pbys. fol, (i &: «nl Attyiv^i iti ö 'Anoi- 
iiomiiis a^idov rtioiatof yryoriäf jür nepi Jai'jtt (Physik) 



^ 5. Dil? Gleicliheit des Geistes und der Seele. 



51 



Zugleich ist es nun aber auch deutlich, was ein 
Physiter in dieser Zeit zu tlmn hatte, wenn er an die 
alte Physik wieder anknüpfen wollte. Eine blosse Com- 
pilation war nicht möglich, wenn man nur so viel Ver- 
stand bei ihm veraussetzt, dass er die Verschiedenheit 
nnd den Widerspruch der durch die Atomistik aufge- 
kommenen Lehren erkennen konnte. Im Einzelnen konnte ' 
er allerdii^s viele Erklärungen und Anschauungen von De- 
mokrit und Anasagoras anuehmen ; was aber die Principieu 
betrifft, BO Hess sich die Homöomerie uud das Atom nicht 
vereinigen. Er musste daher entweder sich zu einem von 
diesen Standpunkten bekennen , oder die Atomistik über- 
haupt der Kritik unterwerfen uud mit Eü<:kkehr zu den alten 
Anschauungen der Physiologen eine über die Atomistik 
hinausgehende reformirte Physiologie lehren. Diea that 
Diogenes, wie ich auch schon in der Vorrede zur fünften 
Ausgabe vou Kitter und Preller (Histor. phil. Graec. et 
Born.) und in den Göttinger Gelehrten Anzeigen 1875, 
S. 1188, gezeigt habe. Diogenes bewies den Atomisteu, dass 
sie die Veränderung nicht erklären könnten, wenn 
sie Atome mit besonderer und unveränderlicher Natur 
setzten; denn das Nebeneinander gei keine Mischung der 
Eigenschaften ; auch könne dann kein Atom von dem andem 
Förderung oder Schaden empfangen, d. h. sie könnten 
nicht untereinander in Wechselwirkung stehen. Darum 
wäre von atomistisehen Voraussetzungen aus auch das 
oi^anische Leben uuerklärlich. Diogenes forderte dess- 
halb wegen der Thatsache der Veränderung eine ur- 
sprüngliche Einheit der Materie uud ging damit zu der 
alten Physiologie zurück. Aber nicht als Plagiator, 
■ BMidern gewissermassen als Reformator; denn er verwarf 
) atomistische Umgestaltung, welche die Pliysik um 






^ fit, ^Xsie, 



; ovfinegjoft^/jivms yiyQaq/C , k' /liv 



52 Ps«. u« l« »h i I •{»• > knites. 

die Mitte des fünften Jahrlinnderts allgemein erfahren 
hatte. Er verlan^^e also wieder, dass aus der einen 
Materie durch innere tjualitiitive Entjjegensetzung alle 
Dinge erklärt werden sollten. 

Den reinen Ik^griff der Materie, wie ihn demnächst 
Plato und Aristoteles aufstellten, fand er aber doch noch 
nicht. Er bildet desshalb eine Zwischenstufe zwischen 
der Atomistik und dem Idealismus. Denn er glaubte die 
Materie wieder, wie Anaximenes, in einem sinnenfalligen 
Körper zu erkennen, in der Lult, und schrieb dieser 
auch die Beseelung und das Denken zu. Obgleich er 
darum in dem Begriff' der Veniuderung die Achillesferse 
des Atomismus richtig gefunden hatte, die dann auch 
von Plato und Aristoteles zum Angriffspunkte in ziem- 
lich gleicher Weise gewählt wurde: so zeigte er sich 
doch nicht als tieferer Denker, sondern verdiente die 
abfUlligen L'rtheile, welche die Späteren über ihn aus- 
sprachen, weil er das wahre Motiv des Atomismus, 
nämlich über die sichtbare Natur zu unsichtbaren Ele- 
menten als Principien der Erscheinung zu kommen, 
nicht verstanden hatte, sondern wieder einen sichtbaren 
Körper, wie die alte Physik sich auserkor. 

An dem Vorbilde von dem Apolloniaten sehen wir 
aber, was der Diätetiker hätte lehren und wie er hätte 
schreiben müssen, wenn er die Stellung in Athen ver- 
diente, die ihm Zeller zumuthet. Der Diätetiker hat 
keine Ahnung von dem Atomismus, keine Ahnung von 
all den Schwierigkeiten der Theorie, mit denen Dio- 
genes sich auseinanderzusetzen sucht und deren Spuren 
sich überall zeigen. Die behagliche Ruhe und Sicher- 
heit, mit welcher der Diätetiker alle Dinge ohne Wei- 
teres auf Feuer und Wasser zurückführt und bei allen 
Vorschriften über die Diät und allen Erklärungen des 
Klimans und der Speisen und des Trinkwassers und der 
Zeugung u. s. w. in kindliclier Weise immer zufrieden 



§ 6. N«5fi.o? und cpuai?. 53 

ist mit seiner eintönigen Mischung: das beweist wohl 
klar gejiug, dass wir mit einem Schriftsteller zu thun 
haben, der von den gelehrten Theorien des Anaxagoras 
und Demokrit noch keine Ahnung hatte. 

Nun denke man sich aber gar die Forderung Zeller's, 
dieser alterthümliche Mann solle in den ersten Jahr- 
zehenden des viei-ten Jahrhunderts gelebt haben, also 
alle die Künste des Zeno in der Behandlung des Raumes 
und der Bewegung, alle die Feinheiten der Sophisten 
Protagoras und Gorgias in Aufdeckung der Subjectivität 
der Erkenntniss, all' die Schulung des Sokrates in Fest- 
stellung der Begriffe und in den Erörterungen der sitt- 
liclien Welt schon hinter sich haben, und man wird in 
diesem Manne, der mitten in Athen gelebt haben soll, 
ein Wunder erkennen müssen, da er so von nichts be- 
rührt wurde und trotz Compilation aus Anaxagoras und 
Archelaus so zu schreiben wusste, als hätte er sie nie 
gelesen, sondern als wie einer, der nur etwa die Lehren 
Heraklit's kennen gelernt habe. Solche Wunder bestehen 
nicht bei gesunder, historischer Kritik. 



§ 6- 

N6[Jio^ und cpuai«;. Xenophanes , Demokrit, 

Heraklit. 

Zeller beruft sich für seine Annahme noch auf den 
Ausdruck oxrif^ura, worunter er die Vocale versteht. 
Da er dieses Argument selbst für geringer hält, wollen 
wir es erst an letzter Stelle berücksichtigen. Dann fahrt 
er fort (S. 636): „Ein viel zuverlässigeres Merkmal dieser 
Zeit liegt aber in der Art, wie der Verfasser dem t^oinog 
die (pvGig entgegenstellt. Dieser Gegensatz findet sich 
erst seit den Sophisten, und was Teichmüller (S. 262) 



54 



Pneu doUi 1 ipok ratei. 



Jen einwendet, beweist oiehts: die Frage ist nicht, 
ob siuli der sauliliche Unterschied der philosophischen 
Antriebt von der herkömmlichen, aucli nicht , ob sieh die 
Ausdrücke vöfioq und ifirtii; jeder l'ür sich, sondern oh 
sich diese so formulirtc grundsätzliche Ent^egenstellung 
beider in dem Siirachgobrauch und der Denkweise der 
früheren Zeit nacli weisen lässt. Itei Heraklit nähren 
sicii die menachliclien Gesetze von dem göttlichen; 
nach unserem Verfasser stehen sie in einem natürlioheu 
Widerspruch," 

Die Streitfrage zwischen mir und Zeller in Bezug 
aul' die Abfassungszeit des liuchea de diaeta ist nicht 
bloss von gi-ossem Interesse flir die Geschichte der Philff- 
sophic im fünften Jahrhundert, sondern es handelt sich 
dabei auch um die Methode der liistorischen Forschung 
überhaupt. Zeller scheint mir trotz seiner ausgezeich- 
neten Gelehrsamkeit, trotz des unermüdlichen Fleisses 
in Berflcksiclitigung aller über den jodesmaligen G^eu- 
stand ei'schienencn Schriften doch gegeu eine Hauptforde- 
rung der Methode zu veretoBseu. In der Gföchichte der 
Philosophie hat man mit Philosophen zu thuu; diese 
mfisaea daher philusopLisch aufgefnast werden, oder man 
muss darauf verzichten, sie zu verstehen. Ich habe in 
meiner Schrift „Die Platonische Frage" dies an einem 
Beispiel gezeigt, und wemi Zellor jetzt behauptet (Vor- 
rede zur vierten Auflage der Phil. d. Gr. I), es sei ihm 
diese Forderung auch schon vorher nicht ganz uubekanut 
gewesen: so werde ich dies gewi^ nicht bezweifeln, 
umsomehr aber bedauern, dass er in seinen Arbeiten 
Ober Plato und auch über die anderen Pliiloaopheu dieser 
Forderung nicht nachgekommen ist. Zeller hat uns auch 
in der hier beliandelten Fr^e bewiesen, dass er nicht 
gewohnt ist, „bei den einzelnen Lehren uud Aussprüchen 
nach ihrem inneren Schwoqmnkto zu fragen, ihren Zu- 
sammenhang zu untersuchen, ihrer eigentliiilien Meinung 



NiljAo; und ^ 



55 



N 



nachzQBpnreD , ihr Verhältniss zum GaDzen cier Systeme 
festzustellen und ihre Bedeutung an ihm zu messen" 
(Zeller ibid. p. IV). Das Wichtigste für die Foi-scliungen 
sowohl als füi das Leben ist, wie Aristoteles sagt, nicht dasB 
man weiss, was man thun müsse, sondern dass man es thut. 

Wir werden diesen grossen Mangel an der sonst so 
verdienstvollen Arbeit Zeller's auch hier erkennen. Unser 
Verfasser setzt vÖj^oq und ipvaiq entgegen. Wenn er 
nun ein Plagiator ist, so hat Zeller Recht, dass es nicht 
darauf ankommt, ob diese Begrifte schon früher bei 
Xenophaues, Parmenides und Herafclit entgegengesetzt 
worden sind, sondern Ams man die bestimmte Formel 
schon bei Fi'Sheren suchen müsse. Allein woraus lässt 
Mch zeigen, dass er ein Plagiator ist? Ana solchen 
vereinzelten Sätzchen doch gewiss nicht. Zeller selbst 
erkennt seine Selbständigkeit Heraklit gegenüber an, und 
die angeblichen Plagiate an Archelaus haben sich ja in 
Illusionen aufgelöst. Wenn er desshalb kein Plagiator 
ist, so konnte er die Zusammenstellung zweier entgegen- 
gesetzter Begriffe, die schon vorher so nachdrücklich 
von den grossen Philosophen behandelt waren, ebenso 
gut vollziehen, wie die SopUiateu. Und wenn Zeller 
bemerkt, dieser Gegensatz fände sieb erat seit den So- 
phisten, so folgt daraus doch nichts weiter, als dass unser 
Verfasser in die Zeit der Sophisten gesetzt werden müsse, 
aber nicht , dass er in die ersten Jahrzeheude des 
vierten Jahrhunderts gehöre. 

Wenn hierdurch nun schon die Zeller'sche Schluss- 
folgeiTmg als zu eilfertig erkannt ist, so wird sich jetzt 
zeigen, dass Zeller auch bei den einzelnen Lehren den 
Zusammenhang zu untersuchen vci^isst und das Ver- 
hältniss zum Ganzen der Systeme festzustellen für über- 
flössig zu halten scheint. Er macht unseren Verfasser 
zum Plagiator an Demokrit, indem er folgende beide 
zusammenstellt (S. C35); ,,EmpedokIe3 V, 44, 



56 Psendobippokratcs. 

s. 0. Demokrit (s. u. 705, 2, 3. Aufl.) vdi.iu) yXvxt', 

vof.no 7itx(ioy U. S. f. iTffj di uiofiu xa) xfyoy, (Statt 

iitfj sagen die späteren Berichte: (fvan,) — Der Ver- 
fasser 71. diaiT, aber: o vo^iog ya^ irj (f von 7ii(n lov- 
xiov tyayiwg. C. 11. vuf.ioq yvLQ xut (fvatg . . . ov/ ofno- 
"koyltTai ofioXoytofuya ' v^ftoy yoQ l'&nuiv av&Qionoi uviol 
fiovioiaiy, ov yivumxoyitg nt^l wv iVtauv ' (ftvoiy dt 
nayrwy Otoi Önaoofitioav.''^ 

Demokrit. 

Bei Demokrit ergibt sich nun, wenn wir den Zu- 
sammenhang mit dem Ganzen seines Systemes unter- 
suchen, der Gegensatz von ^vou (oder htfi) und vofÄut 
durch seine Erklärung der Erscheinung nach der ato- 
mistischen Hypothese, und. die Wahrheit ist ihm die 
Atomistik, die Atome und das Leere. Soll unser Ver- 
fasser nun sein Plagiator sein, weil er dieselben Worte 
braucht, ohne im Mindesten Notiz zu nehmen 
von dem atomistischeu Sinne der Lehre, so 
werden schliesslich alle Menschen zu Plagiatoren, da 
oia uicht vermeiden können, sich der ürberlieferten Sprache 
zu bedienen. Von Demokrit kann unser Diätetiker daher 
„diese so formulirte Entgegenstellung" nicht entlehnt 
haben. 

Xenophanes. 

Ich hatte, um eine Anknüpfung an frühere Lehren 
zu versuchen, wobei zugleich der charakteristische Sinn 
dieser Entgegenstellung bei dem Diätetiker gewahrt 
bliebe, an die Eleaten erinnert und an Heraklit. Bei 
Beiden linden wir die scharfe Entgegenstollung der 
menschlichen Meinungen und Satzungen gegen die Natur 
und Wahrheit und das göttliche Gesetz. Xenophanes 
zeigte, dass die Gottheit eine ist und dem Menschen 
nicht ähnlich; die Menschen aber glauben, ihre Götter 



§ 6. NöfAO*; und cp6at(;. 57 

mit stimme und menschlicher Gestalt versehen zu 
müssen, und Homer und Hesiod lassen sie stehlen, ehe- 
brechen und sich einander betrügen. So setzt er überall 
die Meinung {tixfj vof^Ul^txai, t)oxoc) der Wahrheit (t« 
hvina, aoifii], öUaiov) entgegen. Bei Parmenides tritt 
dies noch schärfer durch die ganze Eintheilung seines 
Gedichtes hervor. 

HerakUt. 

Aber auch Heraklit hat diesen Gegensatz besonders 
scharf ausgebildet. Die Menschen glauben bloss zu 
wissen, wissen aber nichts. Wachend träumen sie, He- 
raklit aber hat die wahre Lehre gefunden und erklärt 
Alles nach der Natur {xaia (fvoiv). „Die menschlichen 
Gesetze nähren sich von dem einen göttlichpn.". „Di« 
menschlichen Gebräuche (ra vof.ul,o[Ätva) stimmen aber 
nicht mit dem heiligen Recht'*; denn „dem Gotte ist 
alles schön und gut und gerecht, die Menschen aber 
halten Einiges für ungerecht. Anderes für gerecht". 

Diesen Zuammenhang mit Heraklit will Zeller be- 
zweifeln ; denn „ bei Heraklit ", sagt er, „ nähren sich die 
menschlichen Gesetze von dem göttlichen, nach unserem 
Verfasser aber stehen sie in einem natürlichen Wider- 
spruch". Zeller hat hier wieder ein paar Sätzchen an- 
geführt, ohne im Geringsten den Zusammenhang des 
Gedankens zu berücksichtigen und „ihrer eigentlichen 
Meinung nachzuspüren". Wir wollen die Frage er- 
örtern, indem wir die beiden angezogenen Stellen er- 
klären. 

Die ei-ste Stelle geht von den falschen Ansichten 
über Entstehen und Vergehen aus. Der Verfasser sagt 
I, c. 4: „Wenn ich von Entstehen und Vergehen spreche, 
so rede ich so des Pöbels wegen ; ich meine aber damit 
{ravTa) Mischen und Entmischen. Es verhält sich näm- 
lich so: Entstehen und Vergehen ist dasselbe. Mischen 



K Fseuili>liipjiuhTat«K. 

und Eutmischeu ist dasselbe, Wachsen und Abnehmen 
ist dasselbe , Eutstehen , Wachsen und Mischen ist das- 
selbe. Vergeben, Abnehmen uud Entmisch twerden iat 
dasselbe: jedes ist im Vetliältnias zum Ganzen und das 
Ganze im Verhältniss zu jedem dasselbe, und nichts von 
Allem ist dasselbe; denn das Gesetz der Natur ist in 
diesen Stücken gegensätzlich," — Diese Allgemeinheiten 
worden von dem Verfasser nachher an vielen Beispielen 
erklärt. Beim Sägen z. B. wird von dem Balken das 
grössere Stück kleiner gemacht, und die kleinen Stücke 
nehmen also uothwendig in demselben Masse zu, wie 
jenes abnimmt; das Ganze wird aber weder grösser 
noch kleiner*). Die Sägenden thun also dasselbe, ob- 
gleich der Eine zieht, der Andere stösst; denn das 
Sägpu als Ganzes bonilit auf diesem Gegensätze der Ope- 
ration selbst; durch den Gegensatz erfolgt das Besultat; 
indem sie hier weniger macheti, iiiacben sie dort mehr. 
Das Ganze bleibt sieh gleich. So ist's auch mit dem 
Stoffwechsel im Leibe, Speise kommt herein und die 
Ausscheidungen entsprechen dem Gesetze ; das Ganze 
bleibt sich in diesen Gegensätzen gleich. 

Ich habe hier in dem Satze : ü co/toe j-üp t^ yto« 
TitQi Ttivzmv ivuvtloQ das Gesetz nach dem üblichen 
Gedankengange des Verfassers auf die Natur bezi^en; 
denn der vöfioq kommt ja auch der Natur zu. Man 

vergleiche Z. B. oap. 1 1. nänu, yw^i Znuta uyöfioiit h'ivta 
Kai ^vfUfiU^ nuytu dtiufOQu. tlivtu — — t nivuvtlo; 
uT{i67iag ixüatwy o/ioXoyiöfiii'Og, Hier entspricht VTtiyiw-- 
ilog dem inarjluq, tKÜarOiv dem ntp! tumtov und r^önog 



*) Subufiter deutet (S. 103) dies seltsamer Weise au: „Wie die 
Säge, wenn me van der einen Seite lüueinj^cHchulKMi wirä, auf der 
andern deatü Itlngor heranskournt." Leider ist ScLinatcr'H souat 
so Terdienetvolle Arbeit reich itn solcben Pbäutasiespiden, die vom 
Äntor nicht an die Hand gegeben Bind. 




I yö/4og. Der Sinn deckt sich völlig. Wenn man 
iaber auch mit Zeller unter vöfwg hier das mensch- 
' liehe Gesetz verstehen will, so darf man doch nicht 
im eigentlichen Sinne an die politieehen Gesetze denken, 
weil der Zusammenhang des ganeeu Kapitels nichts da- 
von enthält* und auch das folgende Kapitel nur die 
meteorologischen Procesae behandelt. Man könnte 
also nur den „Sprachgebrauch" und die „Ansichten" 
der Menschen darunter verstehen , weil die Menschen 
Entstehen und Vergehen, Wachsen und Abnehmen sprach- 
lich und in ihrer Meinung trennen und auseinander- 
halten, während die Natur doch diese Gegensätze wieder 
ausgleicht. — In welclierlei Sinn man auch den füfiag 
erklären möge, immer würde der Satz -mit Heraklit's 
Denkweise durchaus öboreiuatimmeu. 

Was nun die zweite Stelle betriüt: väfiog yä^ mii iptimg, 
outt Tiüyiu dianQijaaöfic&u, ovy_ iifwloy^tTiu ofUt^oytofAtva »tri., 
30 hat Zeller hier auch den Zusammenhang nicht be- 
achtet; denn auch hier sind eratens die vüixot durchaus 
nicht bloss die Staatsgesetze , sondern in erster Linie 
alle die Künste und Gebräuche der Menschen (rZ/voi), 
und zweitens zeigt sowohl dieses eilfte Kapitel als 
die fönenden, dasa der Verfesser im Grunde nur den 
Heraklitiachen Gedanken durchlüLrt , dass sicli „ alle 
menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen uäh- 
ren". Er drückt dies durch Nachahmen {fuftiia&ai) 
ans, was doch nicht, wie Zeller meint, einen „natür- 
lichen Widerspruch " andeuten kann , sondern grade 
umgekehrt die üebereinstiiumung, wenn diese den Men- 
schen auch nicht zum Bewusstsein kommt. Wenn der 
Verfasser s^t, dass die Vernunft der Götter die Men- 
schen lehrte, ihre Werke nachzuahmen"'): so sagte das- 



*) L. 1. I, U : S-eiu»- ynp vöos idUnii fUfiätaSta ici iiavtiäv, 
yiyi/aiaxuvia^ « noiiiivat xal av ytyyiöaxoyias ä fuftionm. Bb- 



60 Psendohippokrates. 

selbe ungefähr, nach Plato's Zeugniss, Heraklit: "n av- 

xt()<on(or aoif'dnaiog n^fog Otov nii^rjxog (^aythat. Und 

dass es sich dabei nicfit um Scliönlieit oder Hässlichkeit 
handelt, sielit man daraus, dass er nicht xuXliaiog, son- 
dern (TOifwTUTog sagt, da doch die Weisen nicht grade 
immer die Scliönsten sind *). Der Diätetiker zeigt aber 
ausführlicli an den Sehern, Schmieden, Gerbern, Schustern, 
Zimmorleuten u. s. w., dass überall die menschlichen 
Gebräuche {yo^ioi) die Natur nachahmen, ohne dass die 
Menschen dabei das Naturgesetz erkennen, welches ihnen 
im Stillen Vorbild und Mass ist. 

Es zeigt sich also auch hier, dass Zeller den Zu- 
sammenhang der Gedanken nicht berücksichtigt hat: die 
von Zeller angeführten Stellen des Diätetikers passen 
nicht im Mindesten zu den Demokritischen Worten, von 
denen sie abgeschrieben sein sollen, und passen voll- 
ständig zu den Heraklitischen Sätzen, mit denen Zeller 
sie in Gegensatz stellt, und leider können wir von der 
Zeller'schen Darstellung mit unserem Diätetiker nicht 

sagen : navia yaQ of.ioia ayo/noiu eoyra xal ^VjLKfOQa nayra 

d id(f >o()a ivyiuy denn Zeller's Behauptungen bilden keine 
sich ergänzende Gegensätze, sondern Widersprüche; wenn 
man von diesen aber das Entgegengesetzte annimmt, 
dann passt Alles vortreffich. 



raklit aber hat aucli nicht an Speisung jjedacht, wenn er sagte, 
die menschlichen Gesetze nährten sich von dem göttlichen, son- 
dern an diese natürliche und unbewusste Nachahmung. 

*) Plato drückte dies Verhältniss durch ^€T«Ai7i/;tg und /Alfitjais 
aus, Heraklit durch TQ6(pea0^ai oder wie Orig. c. Cels. VI, 698 avtjQ 
yf]niog ^xovae nQog ^uifiovog^ oxioansQ naTg nQog dv^gog. 



Excnrs zar Entwicklung der Begriffe. 61 



Exours über die Entwicklang; der Begriffe von 
Gesetz (v6[xo^) und Natur (cp6ai^). 

Die Hebräer. 

Um die Entwicklung dieser Begriffe bei den Griechen 
besser zu verstehen, gehen wir von den Hebräern aus. 
Die politische Entwicklung der Hebräer entsprang aus einer 
Gesetzgebung, die von einem die Masse des Volkes gött- 
lich überragenden Gesetzgeber vollzogen wurde. Moses 
übertrug die höchste Bildung, in die er bei einem alten 
Culturvolke eingeweiht war, an eine rohe und sich erst 
politisch constituirende Gesellschaft in Form von einem 
absoluten Sittengesetz. Dieses <3K;sütz wurde aiS 
Offenbarung des göttlichen Willens betrachtet und richtete 
sich an den Willen aller Gesellschaftsmitglieder; es ver- 
langte Geltung schlechthin und unbedingt, weil es 
das göttliche Gesetz war, und es gab keinerlei Begrün- 
dung durch Vernunft und Berathung, weil es ein unge- 
bildetes, der vernünftigen Freiheit unfähiges Volk vor- 
aussetzte und durch Begründung seine ünbedingtheit 
verloren hätte. 

An das Gesetz aber knüpfte sich eine Verheissung, 
in welcher der Gott als Gesetzgeber sich zugleich als 
Herr über die Natur hinstellte. Wer das Gesetz er- 
füllte, dem solle es wohl gehen und der solle lange 
leben. Der Sittengesetzgeber versprach zugleich eine 
regelmässige Ordnung der Natur. Es soll keine Sünd- 
fluth wieder kommen und Sommer und Winter, Tag 
und Nacht sollten in Zukunft regelmässig abwechseln, 
und Reichthum, Sieg und Glück sollten der treuen und 
frommen Erfüllung des Gesetzes folgen. Die Natur 
wurde desshalb auch als eine geordnete betrachtet, aber 
in Abhängigkeit von dem Sittengesetz und von seiner 



82 l'fleudolii)ipokratea, 

Erfüllung. Das Sittengosetz selbst galt unbedingt, die 
Naturorduung aber Culgte aus dem Contrakt {äiaä-Tjxrj) 
mit den Menschen uDd blieb desshatb in der Hand 
Gottes, der je nach der Prömmigkeit oder Gottseligkeit 
der Menschen Erdbeben und Verschüttung von Städten, 
wie Sodom und Gomorrha oder ägyptische Pestilenzen 
und syrische Augenkrankheiten und alle möglichen 
Naturki-äfte in'a Spiel setzen konnte, um seinem Willen 
Nachdruck zu geben, zu belohnen und zu bestrafen*). 

Bei den Hebrä«m behielt desshalb das Sittenge- 
aetz, obgleich es als unabänderlich und nicht als der 
göttlichen Laune preisgegeben betrachtet wurde, dennoch 
einen despotischen Charakter; denn es ruhte nicht auf 
freier Anerkennung der Vernunft, sondern hatte nur den 
einzigen Grund, der in dem Willen Gottes lag: „denn 
ich bin der Herr". Die Natur aber hatte nach der 
Meinung der Hebräer keine ebensolche Festigkeit und 
Gesetzlichkeit, sondern war der göttlichen Esecutivgewalt 
zn freier Disposition überlassen. Dies ninsste so sein, 
weil sie keine Naturwissenschaft trieben, weder Astro- 
nomie, noch Meteorologie, weder Mathematik, noch 
Medicin. Darum konnten sie nur die einem jeden Men- 
schen in's Ange fallenden Regelmässigkeiten , z. B. den 
Wechsel von Tag und Nacht u. s- w. erkennen, ohne 
die wissenschaftlichen Gründe für die scheinbaren Ab- 
weichungen von dieser Ordnung einzusehen. Da sie 
ebensowenig zu einer Philosophie kamen, so konnten sie 



*) Obgleich Eant dnrch die tranaGcendcntalcn Ekiiiente !□ 
der Erfahnuig eine GcECtzmnsBiglceit der Natm fordern itmeate, 
weil die Ertahning' durch diese sabjeotivcn FMmen etat zu Stande 
kommen kann: ho ist doch sonat die Hehraisehe Auffassung der 
eeiuigcn gewisBermusiien vorbildlich ^ denn bcid Gott vereinigt die 
Macht des Scbüpfers mit dein Sittengesetzgebec , um nach der 
„Würdigkeit znni Glück " die von der Natur nbbüngige Gtliek- 
seligkeit zu crtheileu. 



r Entwicklnng der Begriffe. 



m 



ancli nicht vernfinftige Gesetze für das politische Leben 
und für die Handlungen des einzelnen Menschen er- 
kennen, also keine Psychologie, Ethik und Politik aus- 
bilden und darum keine Kritik an dem überlieferten 
göttlichen Gesetz ausüben. Dies blieb desshalh in einer 
übermenscblicfaen Geltung unht^eiflich und unbegrilTen 
Eteben, und alle Abweichung davon wurde nur liIs Siindc 
und Contractbruch betrachtet. 



Im Contrast zu dieser Weltanschauung der Hebräer 
weiden wir nun die Entwicklung der griechischen Be- 
griffe leichter erfassen. Wir müssen aber zuuSohat die 
Spartaner absondern ; denn Lacedämon befand sich, ähnlich 
wie Israel, in einer asiatischen Atmosphäre, dadas politische 
Leben dort auch mit einer göttlichen gesetzgeberischen 
Persönlichkeit beginnt und die Philosophie und die 
NaturwlBsenscbaft keinen Platz hatten. Es ist desshalb 
angezeigt , diese vorbeizulassen und nur die übr^en 
Griechen zu betrachten, welche zu einer wissenschaft- 
lichen Bildung gelangten; denn nur bei diesen konnten 
sich die Begriffe von Gesetz und Natur entwickeln, ent- 
zweien und versöhnen. Es sind die Völker (i'3-yri), 
welche, sich selbst überlassen, ohne allmächtige theo- 
kratische Leitung dahinleben und also sich selbst ein 
Gesetz sein müssen. Natürlich standen sie auch unter 
dem Einfluss von religiösen Mittelpunkten. Priester- 
colonien, Orakeln und alten ererbten Sitten, aber bei der 
Art, wie sich ihre gesellschaftliche Verbindung geknüpft 
hatte, blieb ihnen eine grosse individuelle Freiheit und 
die Gegensätze zwischen verschiedenen Gülten und die 
seefahrende Beweglichkeit des Volkes und die politische 
Unabltängigkeit und Herrenlosigkeit machten sie fähig 
zn einer ziemlich freien Entwicklung der Wissenschaft. 



64 PscQdohipi)okratc8. 



Die theologrisehe Periode. 

Alle Philosopliie und Wissenschaft kann nur darauf 
beruhen, dass die Natur selbst Gesetze befolgt und dass 
diese Gesetze dem menschlichen Verstände erkennbar 
werden. Nun ist der Zustand der Menschheit vor der 
Ausbildung der Wissenschaft dadurch charaktcrisirt, dass 
noch keine Naturgesetze erkannt sind und die Natur- 
erscheinungen also auf den Zufall oder die Wirksamkeit 
eines oder mehrerer Götter zurückgeführt werden. Diese 
Periode ist daher noth wendig immer theologisch oder 
mythologisch oder poetisch, und Aristoteles be- 
zeichnet daher auch die Vorgänger der Philosophen als 
Theologen oder Dichter, obgleich auch ihrer Dichtung 
schon die Richtung zur Weisheit oder Wissenschaft 
innewohnt, was Aristoteles sowohl durch den Begriff der 
Poesie selbst*) als durch die allegorische Deutung ihrer 
Mythen angezeigt hat. In dieser Periode mussten sich 
aber nothwendig schon allerlei technische Fertigkeiten 
{rt/yat) und gesellschaftliche und religiöse Gebräuche 
oder Gesetze {ro/Lwi) im weiteren Sinne bilden, die eine 
um so grössere Autorität hatten, als man kein Mittel 
besass, ihren Werth zu messen und ihre Richtigkeit zu 
controliren. Da sie mit der Religion und Mythologie, 
dem Charakter der Periode gemäss, durchaus verwachsen 
waren, so wurden sie auch wohl meistens auf die Stif- 
tung eines Gottes zurückgeführt, der sie in freundlicher 
Absicht zur Erhaltung oder Verschönerung des Daseins 
den Menschen gelehrt habe. 



*) Die Poesie nähert sich durch Auffassung des Allgemeinen, 
Typischen oder Gesetzmässigen schon der Philosophie und steht 
desshalb über der Geschichte, die nur mit dem Einzelnen zu thun 
hat {^iXoao(pü)TSQov). 



Excurs zur Entwicklung der Begriffe. 65 

Die Anfänge der Wissenschaft. 

Auf diese erste Periode folgte der Ursprung der 
Wissenschaft. Mir scheint es am Natürlichsten, anzu- 
nehmen, dass nur die Musik, mit der Poesie vereinigt, 
sich bei den Griechen originell entwickelt hat. Aus 
dem Homerischen Gedankenkreise war zwar eine allge- 
meine allmähliche Entwicklung in drei dunklen Jahr- 
hunderten für alle Zweige menschlichen Wissens mög- 
lich. Gleichwohl haben sich auch nicht einmal leise 
Spuren davon erhalten, sondern die ersten historischen 
Namen der Philosophen treten gleich als fertige Grössen 
auf, als voraussetzungslose Stifter von Schulen mit viel- 
gerühmter astronomischer und mathematischer Weisheit, 
so dass wir wohl einen sprungweisen und plötzlichen 
Anfang der philosophischen Arbeit bei den Griechen 
annehmen müssen und der vorhergehenden Zeit nur die 
Entwicklung der Empfänglichkeit und des Bedürfnisses 
nach wissenschaftlicher Einsicht zuschreiben dürfen. Ich 
glaube nicht, dass die ersten Griechischen Philosophen 
ihre Wissenschaft aus sich erzeugten, sondern folge der 
Meinung Herodot's, Plato's und Aristoteles'*), dass sie 
besonders bei den Aegyptem in die Schulen gegangen 
waren und daher sofort als Weise vor dem ungelehrten 
Volke hervorragten und gleich von Anfang an einen 
grossen und zusammenhängenden Schatz von mancherlei 
Kenntnissen besassen. Da diese Weisheit eine entlehnte 
war, so erklärt es sich auch leicht, dass sie sofort von 
dem mütterlichen priesterlichen Boden sich loslöste, weil 



*) Aristoteles betrachtet Metaph. I die Aegyptischön Priester 
als die ersten Philosophen und de coelo II, 12 erwähnt er die 
astronomische Erbschaft, welche die Griechen angetreten haben: 
naq^ (oy noXXccg -nCaieig e^ofiey tisqI ixccarov r<ay aargaiy, Ueber 
die Zeit, wann diese Erbschaft gemacht sei, äussert er sich nicht; 
aber alle Griechen sonst wiesen auf Aegypten und Babylonien hin. 

Teicliinüller, Zur Gesch. der Begriffe. 5 



(jß Ppoudohippokratos. 

sie ja auf einen andern Boden verpflanzt und von geist- 
vollen Männern einer andern Nationalitat selbsiindig 
ergriffen wurde und die Weisen nicht als Religions- 
stifter auftraten , sondern nur die auf jenem religiösen 
Boden gezeitigte weltliche Frucht der Wissenschaft zu 
sich herübernahmen. Obgleich eine grosse, der priester- 
lichen ähnliche Autorität den ersten griechischen Weisen 
noch zukommt, so erschien die Wissenschaft aus jenem 
Grunde doch gleich als rein weltlich und natür- 
lich und behielt diesen freien Charakter auch im 
Ijaufe ihrer ganzen Entwicklung , im Gegensatz zu 
*allen denjenigen Völkern, bei denen die wissenschaft- 
liche Arbeit allmählich aus dem Boden ihrer eigenen 
Religion hervorwuchs, wie z. B. bei den Aegyptem und 
Indem, oder wo sie wie in dem mittelalterlichen Europa 
ausschliesslich von den Theologen gepflegt wurde. 

Die Wissenschaft bei den Griechen begann mit der 
Astronomie und Mathematik, an welche sich die Meteoro- 
logie anschloss, denn ihre ganze Naturwissenschaft war 
hauptsächlich Meteorologie. Aus dem Betreiben der 
Wissenschaft ergab sich aber ein grosser und neuer 
Gedanke, nämlich dass die Natur der Dinge 
selbst bestimmte Gesetze befolge, die unab- 
änderlich sind, und dass der Mensch diese 
erkennen könne und dadurch zum Besitz der 
Weisheit und Wahrheit gelange. Diese Weis- 
heit sehen wir desshalb schon bei Thaies gerühmt, der, 
ohne die Götter zu befragen, den Eintritt einer Sonnen- 
fiüsterniss nach menschlicher Berechnung vorausgesagt 
haben soll. Eine einzige Thatsache dieser Art musste 
orschüttefnd wirken für das ganze theologische Bewusst- 
sein der mythologischen Periode. 

Xenophanes* 

Auf die ersten Jonischen und Italischen Anfange in 
Thaies und Pythagoras und Anaximander, die mit der 



Excurs zur Entwicklung der Begriffe. 67 

bestehenden Eeligion und Sitte noch nicht in Conflict 
geriethen, folgte dann aber sofort der Skepticismus. 
Xenophanes kennzeichnet uns diese Uebergangs- 
stufe, indeüi er mit schneidenden Worten gegen die 
bisher vom Volke verehrten Autoritäten Homer und 
Hesiod einherßlhrt, ihre Göttervorstellungen lächerlich 
macht, die religiösen Feste durch spitzige Dilemmen 
verspottet, die sittlichen Werthurtheile des Volkes heftig 
schilt und eine höhere und vernünftige sittliche Ordnung 
aufstellt *). Dadurch erschien nun das göttliche Gesetz oder 
die mit der Eeligion verbundenen Gebräuche und Sitten 
{pofioi) einem neuen Gesetze gegenüber, das sich auf die 
Natur und auf die Wahrheit der Erkenntniss stützte 
und dem gegenüber alles Andere als Wahn gelten 
musste. Xenophanes bezeichnet diese neue Autorität 
als das Wahre (tu Itv^iu) und das Gerechte (äixaioy) und 
als seine Weisheit oder die gute Weisheit {aya&rj aoq)l^). 

Heraklit. 

Heraklit aber ist der erste, der den Ausdruck, 
welcher bisher das bei den Menschen Gültige (po/Liog) 
bezeichnete, auf die Natur anwandte und von einem 
Naturgesetz oder göttlichem Gesetz {&(tog ro^og) 
sprach und es. der Vernunft Q^oyog) gleichsetzte und 
darin die Erkenntniss (yvciaig) zu finden lehrte, die das 
Volk bisher in unbewusster Weise in seinen Sitten und 
Gebräuchen und ererbten theologischen Vorstellungen 



*) Vergl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr. S. 598 ff. und Mul- 
lach fragm., S. 104 fr. 19. 

Ovx ecjy a^iog (öanSQ iyto * Q(0f4^g yäg «fj,siv(av 

dv^QcSy ?J(f' l'nntoy iq/nsrdgi] aotpiri. 
UXX' sixfi f^dXoi TovTO vofjiCJ^sx aij ov&s ^txaiov 

ngoxQlvsiy Q(6f4,tjv t^g dya-&r]g <ro(pCrjg, 

5* 



68 Pseudohippokratcs. 

ZU haben glaubte*). Es tritt also bei ihm der Umschlag 
der Begriffe am Deutlichsten hervor. Das Gesetz (yo/nog) 
war bisher, von religiöser Weihe umgeben und durch 
Gewohnheit geheiligt (ra vo/Luüjnfya), als göttlich und 
massgebend betrachtet: da nun aber durch die Weisheit das 
wahre göttliche Gesetz gefunden wird, so erscheint jenes 
geltende Gesetz dagegen als ein menschliches, mit sich 
im Widerspruch befindliches, schwaches und nachahmen- 
des, das Gesetz aber, das die Vernunft des Ephesischen 
Weisen erkennt, als das göttliche, das im Einklang mit 
sich und der ganzen Natur steht und nach welchem 
sich alle menschlichen Gesetze richten müssen **). Dieser 
Standpunkt ist derselbe, der auch noch bei dem Ver- 
fasser des Buches über die Diät herrscht und von ihm für 
die Betrachtung aller Gesundheitsfragen geltend gemacht 
wird. 

Es ist aber zu bemerken, dass Heraklit bemüht war, 
nicht die philosophische Wahrheit mit ihrem Natur- und 
Vernunftgesetz gegen die alte religiöse Satzung in Con- 
trast zu stellen, sondern vielmehr sie mit dieser zu 
identificiren, indem er den Widerspruch dem Pöbel zu- 
schob, dessen vom Sinnlichen befangener Verstand und 
von der Begierde beherrschter Wille den wahren Sinn 
und die pantheistische Tiefe der alten religiösen Lehre 
nicht fassen könne und desshalb die Mysterien unheilig 
begehe und die Stimme der Sibylle nicht verstehe. 

Sophisten und Atomiker. 

Erst der folgenden Zeit, der Zeit der Sophisten 
und Atomiker, war es vorbehalten, die menschliche 



*) Vergl. meine Neuen Stud. z. Gesch. d. Begriffe, I. Hera- 
kleitos, S. 102. 127. 159 ff. 

**) Vergl. oben S. 57 und den Anfang seines Werkes in meinen 
Neuen Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 102. 



Excurs zur Entwicklung der Begriffe. 69 

Vernunft auf Kosten der göttlichen und altreligiösen zu 
verherrlichen, da sie sich ganz von der religiösen Würde 
entfernten, die Pythagoras und Heraklit und Parmenides 
noch behauptet hatten. Die Wahrheit, für Geld gelehrt, 
musste durch Einführung der Atome, mit denen sich 
der Götterglaube nur in der wunderlichsten Umgestal- 
tung vertrug, und durch das gelehrte und kunstreiche 
Disputiren den unbefangenen Glauben erschüttern. Die 
Folge wai*, dass nun erst der Begriff des vofÄog den der 
willkürlichen Satzung erhielt, und dass man daher lehrte, 
die Staatsgesetze seien aus dem Belieben des Volkes 
hervorgegangen, die Göttervorstellungen und Gebräuche 
seien bloss durch Satzung ehrwürdig, nicht an sich, 
und auch die Sprache wäre willkürlich und conventio- 
neil. Zugleich mit dieser Auffassung, die ich hier in 
der hervorstechendsten Form charakterisire und nicht 
in der milderen Form, wie sie bei Empedokles, Anaxa- 
goras und Demokrit auftrat, ergab sich auch der Verfall 
der philosophischen Wahrheit ; denn die Sophisten gaben 
auch diese auf und zielten bloss darauf hin, durch ihre 
Kunst jedem Willen und jeder Meinung zum Siege zu 
verhelfen, wenn ihre Kunstlehren dabei zur Geltung 
kämen. 

Bei den Atomikern hatte aber der Gegensatz von 
Wahrheit {q)vaH) und geltender Meinung {y6f,iio) noch 
eine Bedeutung, weil sie das wahre Wesen der Natur 
in den Atomen und dem leeren Raum zu erkennen 
glaubten; bei den Sophisten aber ist dieser Gegensatz 
selbst nur ein dialektischer üebergang zu^a vollständigen 
Subjectivismus; denn nachdem sie die bisher geltenden 
Meinungen und Gesetze der Menschen (yo/Liog) zerstört 
hatten, wussten sie selbst keine Wahrheit an die Stelle 
zu setzen, da sie das Wesen der Natur {q)vGig) nicht 
für fest und bestimmt ansahen. Es sei für den Einen 
so, für den Andern anders und wieder anders für die 



70 Pscudohippokratcs. 

Thiere, und der Mensch sei das Mass {filxQoy) der Dinge. 
So mussten sie schliesslich wieder zur Meinung {vof.iog 
= d!i^a) als ZU dem, was grade gilt (doxa), zurück- 
kehren und die Natur und Wirklichkeit {q)votg) konnte 
ihnen nur diese Erkenntniss von der Zufälligkeit und 
Nichtigkeit und dem beständigen Fliessen alles Gelten- 
den bedeuten. Indem ihnen aber der Glaube an diese 
Erkenntniss und mithin an ihre Kunst und Beredsamkeit 
blieb, behielten sie zugleich den innern Widerspruch 
dieses Subjectivismus, welchen Sokrates aufdeckte. 

Hippokrates. 

Wie aber bei den Sophisten der Gegensatz {(f^iau 
und v6f.no) von Wahrheit und geltender Meinung auf- 
gehoben und Alles auf Meinung zurückgeführt wurde, 
so konnte auch der andere Weg eingeschlagen werden. 
Bei Hippokrates finden wir nun diese sehr interessante 
umgekehrte Wendung der Sache. Denn er hat zwar 
auch überall den Gegensatz von yofxM und (fvan^ aber 
er versucht, auch die Sitten und Gesetze {vo^ioi) auf die 
Natur zurückzuführen , und so ist bei ihm gewisser- 
massen Alles Natur oder naturgemäss. Den 
Gegensatz gegen die Natur bildet bei ihm die Krank- 
heit*) und die Sitte**). Die Natur erscheint bei ihm 
aber überall als flexibel, sie gibt den Sitten nach, 
z. B. bei den Makrokephalen***). Da Hippokrates aber 
ein ächter Naturforscher war, so muss ihm einerseits 
auch das Typische als fest erscheinen, wesshalb er den 



*) De aere, aquis et locis 3 p. 244 Erm. vno v6<rov xai ov 

**) Ibid. 21, p. 268. ovrog rtjy KQ^ny 6 vofxog xarBi^yatSttio^ 
üatB vno ßitjg toiavrtjv irjv (pvai,v yevsaO^m. 

***) Ibid. 23. xccl et US yutft neipvxs dv&Qelog xai eil- 
ij^v^og dnorqinea&aL Zfjv yyüifiriy vno nSv yofjiiay. 



Excurs zur Entwicklung der Begriffe. 71 

Unterschied des Gesunden und Krankhaften trotz jener 
Darwinistischen Behauptungen nicht fallen lässt; anderer- 
seits erklärt er auch die Sitten wiederum aus allge- 
meineren Naturverhältnissen, so dass ihm schliesslich 
Alles für göttlich, d. h. für natürlich gilt*). Er 
erklärt darum z. B. die Erscheinung der avaQieg einfach 
durch die Krankheiten, welche vom vielen Eeiten ent- 
stehen müssen, und schliesst**) mit der Behauptung, 
dass nicht einige Naturerscheinungen göttlich wären 
und andere nicht, sondern alle göttlich, weil alle natür- 
lich entständen und nichts ohne natürliche Ursachen. 

Bei Hippokrates findet sich also der interessante 
Berührungspunkt mit den Sophisten, dass beide den 
Gegensatz zwischen cpvaig und vofxog aufheben 
wollen. Die Sophisten aber heben die Natur auf zu 
Gunsten des Zufalls und der Willkür, Hippokrates hebt 
mehr oder weniger die Willkür des Menschen auf zu 
Gunsten der . Alles beherrschenden allgemeinen Natur- 
gesetze. Dass er nicht ganz consequent war, ist nicht 
zu verwundern; denn er war kein eigentlicher Philo- 
soph, und so kommt es, dass sich mit Fug und Eecht 
sowohl die Darwinisten und Positivisten auf ihn berufen 
könnten, als andererseits auch die Idealisten, auf deren 
Begriffe er in der That den entschiedensten Einfluss ge- 
habt hat. Ebensowenig wie er, konnten aber, die So- 
phisten consequent sein; darum finden wir bei ihnen 



*) Ibid. 29, p. 277. *E^oi &h xal «vtw (foxft xavx« t« nad^ea 
d-sZa slvai xal jaXXa ndvta, xai ov^lv STiQov iiSQov ^eiotSQov, ovds 
av^QcjnivüijSQov «AA« ndut cc 6f4oZa xai navT a &6Za ' sxa- 
axov 6b sxii fpvciv t(oy roiovtiov xal ov6hv oipsv (pvaiog 
ylyvBxai,, 

**) Ibid. p. 279. «AÄ« yaq^ cjneQ ngoisgoy eXe^cc, S-sTa filv 
xal Tttvtä iari 6(ji.o((ag roTg aXXoig ' ytyvsrai, de xatK (pvaip 
ixaara. 



72 PscuJubippokratoti, 

einerseits deu Gegensatz von 91'irti und yü 
nud andererseita merkten sie nicht, dasa in ihrer all- 
mächtigen Kunst doch wieder feste Gesetze der Natur 
sich offenharten. 

^brates. 
Auf diese Periode der Zersetzung und Gähruug folgt 
dann das Debergewicht der Philosophie, welches durch 
Sokrates gewonnen wurde. Die Philosophie erforschte 
die Wahrheit in festen, ununistösslichen Gegriffen {o()oi), 
war sich aber bewusst, dass diese BegrÜI'e das Gesetz 
in der Natur, das Göttliche und Ewige selbst erfaaston, 
nnd dasH der Mensch durch diese philosophische Wahr- 
heit mit dem Göttlichen verwandt, selbst göttlich und 
unsterblich wäre und daher aus der Vernunft heraus das 
göttliche Gesetz ableiten könne, welches nicht im Wider- 
spruch mit dem menschlichen Vermögen stehe, sondern 
unsere innere nnd eigene Natur selbst sei. Dies ist der 
Standpunkt des Idealismus von Plato, der in dtosom 
Sinne seinen SUat uiid seine Gesetze schrieb. &r 
restaurirtfl damit die alte Frömmigkeit dos Thaies und 
die religiöse Autorität dea Herakiit, nur dadurch unter- 
schieden, dass er diese Vereinigung von Glaube und 
Vernunft im Begriff vollziehen konnte und daher keine 
andere Erkenutnissquelle als die Vernunft anerkannte, 
welche als oberste Herrin aller Gesetze in unumschr<lnkter 
Freiheit gebietet und sich eins weiss mit der göttlichen 
Vernunft der Welt. 

ItelwrbUek der Entwicklungen, 

Wir sehen also im Ganzen folgende Entwicklung vor 
uns: Zuerst erscheint die göttliche Ordnung der Natur, 
die religiöse Sitte, das gesellschaftliche Hecht und die 
Meinung der Menschen noch als im Einklang ! 
und ununterschieden. Die zweite Stufe (Xenophai 



y 



Excurs zur Entwicklung der Begriflfe. 73 

und Heraklit) ist der Gegensatz zwischen dem wahren 
göttlichen Gesetz, welches die menschliche Weisheit er- 
kennt, einerseits und dem religiösen Aberglauben und 
den Aftersitten andererseits. Die dritte Stufe ist 
die Aufhebung der göttlichen Ordnung der Natur, 
welche durch die Atomiker der mechanischen Schule 
als vernunftloses und zweckloses Naturgesetz gefasst 
wird, und zugleich Aufhebung der sittlichen Welt- 
ordnung, an deren Stelle die Klugheit und das Recht 
des Stärkeren gesetzt wird (Sophisten), und Aufhebung 
der Vernunft, indem an der Erkenntniss der Wahrheit 
verzweifelt und an die Scheinbarkeit der Gründe und 
die blosse subjective Ueberzeugung und das Gutdün- 
ken {ßo^iht) appellirt wird (Sophisten). Die vierte 
Stufe bildet die Wiederkehr des Zutrauens der Ver- 
nunft zu sich selbst durch Sokrates und Plato. Mit der 
Vernunft wird dann auch der Glaube an die objective 
wissenschaftliche Wahrheit und die Vernunft in dem 
Naturgesetz wieder gewonnen, mit dieser die Sittlichkeit 
auf feste wissenschaftliche Ueberzeugung gestellt und 
werden dem Staate Gesetze gegeben, die auf der Wahr- 
heit und der göttlichen Vernunft der Welt beruhen, 
und endlich wird zugleich auch der Einklang der wissen- 
schaftlichen Wahrheit mit dem recht verstandenen, von 
Missbräuchen und Aberglauben gereinigten alten Volks- 
glauben behauptet. 

Plato. 

Plato unterscheidet zwar auch voina {&ia€i) und 
g)vafi und braucht t« vo[.ut,6f.uva als die menschlichen 
Gesetze, die wahr und falsch sein können*); aber er er- 
kennt auch ein Gesetz der Natur an**), das von dieser 



*) Pol. 364 A. «Tolfl fj,6vov xal v6fji(^ aiaxQoy. 

**) Tim. 63 E. nagd rovg zrjg (pvasiog vofiovg „ gegen die 



74 Pscudohippokrates. 

Zweifelhaftigkeit gänzlich frei, immer wahr und richtig 
ist und durch dessen Erkeuntniss wir das Wesen der 
Natur erst verstehen und des Guten theilhaftig werden. 
Obgleich er das Naturgesetz seltener v'^iog nennt, son- 
dern mehr die Natur selbst als Princip aller Gesetze 
in's Auge fasst, so fehlt ihm der zugehörige Begriff 
keineswegs; denn die Ideen {tidrj)^ das vernünftige Ver- 
hältniss {X6yog\ das Mass (^hgov)^ die Art und Weise 
{xQonog)*) und andere Ausdrücke, vrie Gränze (nlgag)^ 
und Ordnung {ra^ig) geben ihm denselben Begriff des 
durch Vernunft Geordneten und Pestbestimmten oder des 
Gesetzes. Das Gesetz wohnt daher auch der Vernunft 
inne und das logische Denken ist solchen Gesetzen unter- 
worfen. So beschreibt Plato z. B. die Dialectik als das 
Gesetz, das man lernen müsse, fiir welches alle frühere 
Wissenschaft nur als Vorspiel zu betrachten sei**). 
Dieses Gesetz sei intelligibel und werde von der Sinn- 
lichkeit nur nachgeahmt; es führe dieses Gesetz, d. h. 
die Dialectik, zuletzt auf das Gute als das Ziel der 
intelligiblen Welt. — Plato ist aber nie auf den ver- 
kehrten Einfall gekommen, ein Gesetz, blind und leblos, 
an die Spitze der Welt zu stellen und in der Natur 
oder im Geiste zu verehren, sondern er fasst das Gesetz 



Naturgesetze ", welche hier die physiologischen Processe bestimmen 
und deren Verletzung Krankheit imd Anflösnng hervorbringt. 

♦) Legg. 804 B. xaxd tou rqonov rijs qjvaetog SiaßmcovxM, 

**) Polit. 531 D. ndvra xavta ngooi/iui iffnv avtov xov v6- 
/Äov , ov (fer (jiaSeTv, Man könnte hier zwar zunächst an eine 
musikalische Metapher denken; allein die weiteren Bestimmungen 
(p. 532 ov ro ^utXiyea^ai nsQaCyBi) und der im Allgemeinen bei 
Plato herrschende Gebrauch der Sprache, wonach er sich zunächst 
fast immer an die politischen Gesetze erinnert, verallgemeinern so- 
gleich den musikalischen terminns. Darum fugt er auch gleich 
hinzu: vo/AoO-ertjaetg drj avtoTg tavttjg fAäXiata rrjg ntudeCag 
dvuXafißdy€a&M. 



Excurs zur Entwicklung der Begriffe. 75 

nur als die Ordnung, die sich aus der lebendigen und 
sehenden Vernunft ergiebt, und verehrt darum als das 
erste und letzte immer nur die Vernunft selbst, von 
welcher in der Natm* und im Denken und Handeln 
und Schaffen alle Feststellungen und Gesetzgebungen 
ausgehen. Wesshalb ihm auch in der Medicin und im 
Staat der Weise als Arzt und Kegent für besser gilt als 
das geschriebene und unlebendige Gesetz, da das Gesetz 
unbeweglich ist, die Wirklichkeit aber als veränderlich 
und lebendig auch eine den individuellen Veränderungen 
entsprechende Kegelung durch lebendige Vernunft er- 
fordert*). Die Natur steht desshalb nach Plato nicht 
mehr dem Gesetz schlgchthin entgegen, sondern nur den 
falschen oder vermeintlichen Gesetzen; in Wahrheit ist 
sie selbst die Quelle aller Gesetze, und die menschlichen 
Gesetze der Vorzeit, die der religiöse Glaube verehrt, 
sind metaphorische Darstellungen der Wahrheit, wie das 
selige Leben (jdaxaQia ^(orj) unter der Kegierung des Kronos 
ein -mythisches Spiegelbild des wahren und besten Staats- 
lebens ist**). Die Vernunft ist darum nach Plato das 
eine in Natur und Geist, Object und Subject, an sich 
selbst die Freiheit und Quelle aller Nothwendigkeit und 
Gesetzlichkeit. 

Sokrates und Plato« 

•Sehr interessant ist aber der Gegensatz Plato's gegen 
Sokrates. Dieser war ein Mann des Volkes und brachte 
als solcher in acht demokratischer Weise seine Philo- 
sophie buchstäblich auf den Markt, indem er mit Leuten 
aller Stände und aller Bildungsstufen philosophirte. Da- 



*) Darum definirt Plato das wahre Gesetz als die aus der 
Vernunft hervorgehende Vertheilung oder Ordnung: Legg. 714. 
jijy tov vov diavofAiJv inovofxa^ovTag pofxov, 

**) Legg. 713 C sqq. 



76 



Pucud oll i f ipi pkrat*H . 



durch erndtete er die Anklage, Ami er die Götter nicht 
glaube, die dem Volke gölten (wfiuc), dass er neue 
Götter einffihre und die Jugend von dem altberge- 
bracbten Glanben and Bittlichen Gesetz abwende und 
verderbe. Plato hingegen war Aristokrat und hatte von 
Haus aus eine tiefe Verachtung der Menge. Er faaste 
deasbalb, vielleiclit unter dem Einfluss seiner probablen 
Aegyptiachen Reise und des Verkehrs mit den Pytha- 
goreern, den Gedanken, dass die philosophiscbo Erkennt- 
nisa nicht för das Volk sei, sondern nur einem kleinen 
Kreise von Krwüblten und Geprüften zuganglich gemacht 
werden dürfe, für die drauasen Stehenden sich aber auf 
die elementaren Kenntnisse und, festen Folgesätze der 
Philosophie ohne dialectiache Begründung beschränken 
oder sich hinter dem Schleier des metaphorischen Mythus 
verbergen müsse*). 

Desshalb stellt er z. B. in seinem unzweifelhaft 
ächten Dialog vom „Staatsmann" den wahrhaft könig- 
lichen und weisen Mann zwar weit über alle Gesetze, 
weil er die lebendige Vernunft in sich hat, von welcher alle 
Gesetze nur unvollkommene und starre Abbilder wären ; 
darum schilt er zwar diese eigensinnigen Gesetze , die keine 
Kritik erlaubten und schliesslich alle freie Forschung 
und alle Wissenschaft, die mit dem von dem Gesetze 
Geheiligten nicht übereinstimmten, verbieten und ver- 
nichten müssten**): weil er aber zugleich die Masse des 
Volkes fftr unfähig hielt, die Wahrheit zu erkennen und 
sich nach wahrer Einsicht selbst zu beherrschen, so 
glaubte er, es sei doch besser, eine solche despotische 
Gesetzesherrachaffc anzuerkennen, um nicht dem Bhi^eiz 
der Angesehenen und der brutalen Willkür des Pöbels 
zu verfallen, die nach ihrem Gutdünken regierend und 



♦) Vergl. meine Stud, : 
**) Polit., p. 299 B bis 



Gesch. d. Begr., S. 102 ff. 



Excurs zur Entwicklung der BegriflFe. 77 

beschliessend viel schlimmer wären, als ein leidliches 
und unabänderliches Gesetz, an dessen Feststellung doch 
immer auch mehrere gebildete Männer mitgearbeitet 
hätten*). 

Er kommt desshalb auch in seinen „Gesetzen" da- 
hin, die freie und öffentliche philosophische Kritik und 
Forschung zu untersagen, Zweifel an der geltenden 
Gotteslehre criminell zu bestrafen**) und mithin eine 
streng conservative Politik zu empfehlen mit Anerken- 
nung einer über dem Menschen stehenden Autorität des 
Gesetzes. Sokrates hatte sich zwar auch dem Gesetze 
gebeugt, aber in demokratischer Weise und nachdem er 
mit demokratischer Freiheit die Gültigkeit und den Werth 
der herrschenden Gesetze öffentlich kritisirt und eine 
ganz andere Weltanschauung rücksichtslos vorgetragen 
hatte. Plato zieht sich hingegen von dem Markt und . 
dem öffentlichen Leben in die Akademie zurück und 
hält die Philosophie für ein geheimes Gut der höher 
Gebildeten, die sich öffentlich den geltenden Ge- 
setzen accommodiren. Er stellt desshalb auch die philo- 
sophische Bildung als eine herrschaftliche und freie in 
Gegensatz gegen die banausische Bedientenarbeit der 
Sophistexi und Khetoren, die dem öffentlichen Leben 
dienen und die Jünglinge für den Staatsdienst praktisch 
vorbereiten ***). 

Wenn wir desshalb auf die Frage von j/o^w und 
qyvGii wieder zurückgehen, so hob Plato also für seine 
Schüler die Autorität des Gesetzes völlig auf und lehrte 
die Erkenntniss der Natur und der Wahrheit in vor- 
aussetzungsloser lebendiger Vernunft als ein in uns 



') Ibid. p. 300 B als devtsgog nXovg. 
') Vergl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 173. 
') Theaetet p. 172 D: cSg oixsTai nQog iXev&^govg, 






*o PseiiJolii|ipokrnteB. 

gegenwärtiges göttliches Lebeu. Für die menschliche 
Geaellsehaft aber wollte er ein öFTontlich geltendes Ge- 
setz mit einer über dem Meuacheu Bteheoden sonvertiien 

Autorität. 



§7. 
Die slebeo ayf^^aza und Zeller's Vocale. 

Es bleibt una iinn noch ein letzter Beweis übrig, 



mit dem Zeller zu zeigen gedenkt, 



i die Schrift 






diuiTTjg später als 403 v. Oir., also wahrscheinlich im 
vierten Jahrhundert abgefasst sei. Dieser Beweis dreht 
sich um die Stelle libr. I, 23, Wir wollen Zeller hören 
(3- 636): „Zu dieser Annahme ober Zeit nnd Ort ihrer 
Abfassung passt auch, was unsere Schrift c. 2a sagt; 
■ YQafiftaToiri lowvSf , Ojifjj/iuTW»' avy^iatg, a^fit'^ia atovtx 
ttfS^Qiünlvf}! ... äi' l-nnu axriftäjmv r yy/Ömg " ravia niiyia 
w&Qmno; Siang^aanui (er spricht die durch die n/^ 
fiaza bezeichneten Laute) xai ö Iniaräf nimg ypü/i/iaia 
xGu ö /Ar, fniaTiifuvog: nenn nämlich mit den sieben 
a/^/uija, welche in diesem Znaammenhang kaum etwas 
anderes als SchriftKeichen sein können, die sieben Vo- 
cale gemeint sind, die- als ftoyiinu immerhin vorzugs- 
weise atj/ifiia ifiuyig genannt werden konnton; denn 
sieben hatte man in Athen erst seit Euklides (403 vor 
Christo)." 

Die Stelle ist wegen der asyndetischen Darstellung 
und der aphoristischen Kürze in der That nicht leicht 
zu verstehen ; Zeller hätte umsomehr Grund gehabt, sicii 
und uns durch den Zusammenhang des Ganzen 
über die Absicht des Verfassers zu orieutiren. 
Statt dessen deutet er in der vorigen Auflage die nyj'i- 
ftaut auf die Kcdefiguren und nach meiner Kritik (in 
den Neuen Studien zur Gesch. d. Begr.) rettet er sich 
jetzt in der vierten Auflage unglücklich aus dem Regen 



Die sieben c^if)(iaTa und Zeller's Vocale. 79 

unter die Traufe. Denn wenn Jemand auch noch so 
hoch die Bedeutung der Vocale anschlagen möchte, so 
würde doch ohne Ausnahme Niemand sich zu Zeller's 
Vermuthung hinneigen, dass die yrwoig des Lesens und 
Schreibens uns durch die sieben Vocale zu Theil werden 
könnte*). Die einzige Entschuldigung für Zeller kann 
nur darin liegen, dass er um jeden Preis eine Zeit- 
bestimmung Süchte und diese in Euklides sieben ofßciellen 
Vocalen zu finden war. Da wir kein der Sache selbst 
fremdes Interesse verfolgen, so müssen wir uns um einen 
grösseren Zusammenhang bemuhen. 

Den Zusammenhang können wir nicht dadurch finden, 
dass wir ^n diesen paar Sätzchen herumrathen. Wir 
sehen ja doch, dass die Grammatik nur als ein Beispiel 
{roioySe) angeführt wird und in einer Keihe steht mit 
den übrigen Künsten, mit der f^ayuxry den axvThg, rix- 
Toyeg, oixoSo/Lioi, avdQiavroitoiol^ xaQUfieeg U. S. W. Folg- 
lich finden wir den Zusammenhang nur, wenn wir wissen, 
wofür alle diese als Beispiele dienen sollen. Für die 
Einzelerklärung müssen wir dann zweitens noch erkennen, 
in welcher Art alle die gegebenen Beispiele zum Be- 
weise verwerthet werden. 

Der allgemeine Lehrsatz, der durch diese In- 
ductionen erläutert werden soll, steht in c. 11 und heisst: 
„Die Menschen verstehen nicht aus dem Sichtbaren das 
Unsichtbare zu erkennen; denn Künste gebrauchen sie, 
die der menschlichen Natur ähnlich sind und erkennen 
es nicht ; denn die Vernunft der Götter lehrte, ihr Thun 
nachzuahmen, den Menschen, die wohl erkennen, was 
sie schaJBfen, aber nicht erkennen, was sie nachahmen. 
Denn Alles ist ähnlich, obwohl es unähnlich ist, über- 
einstimmend trotz des Gegensatzes" u. s. w. — Da die 



*) Vergl. meine Beurtheilung von By water's Heracliti Reliquiae 
in den Göttinger Gelehrten Anz. 1877, S. 831. 



80 pBfDdollippolrBtCH. 

Maischen dieses siso nicht wissen, so i 

Verfasser in c. 12: „Ich aber will zeigen, wie die 

sichtbaren Künste äbnücli sind den Vorgängen am 

Menschen, sowohl Jen sichtbaren als den unsichtbaren." 

Dies ist das Programm des Verfassers und die erste 

Bedingung jedes ziisammenhäiigenden Verständnisses seiner 

Worte. 

Nun kommen die Beispiele, die zum* Theil durch 
Toiüväi als Beispiele deutlich bezeichnet werden: /tur- 
tner xoiöfdt, yiuufi/iatixi, toiöfät, muAoiQißlti JOiörSi. Wir 

kennen aber zweitens aus der Betrachtung der einzelneu 
Beispiele im VerhiÜtniss zu dem Programm sehen, dass 
in jedem Beispiel zwei Glieder vorkommen müssen. In 
dem ersten Gliede werden die Werke und Oehräuche 
der einzelnen Künste vorgeführt; in dem zweiten wird 
an die Natur des menschlichen Körpers oder der Seele 
erinnert, d. h. an die sichtbaren oder unsichtbaren Vor- 
gänge am Menschen, wovon die Künste nach dem Ver- 
fasser die unbewusste Nachahmung sind. So z. B. er- 
kennt die Mautik durch das Sichtbare das Unsichtbare 
und durch das Unsichtbare das Sichtbare u. s. w. und ahmt 
dadm'ch der Natur und dem Lehen des Menschen nach, 
denn der Mann erzengt mit seinem Weibe ein Kind 
und erkennt aus dem Sichtbaren das Unsichtbare, dass 
es so werden wird u. s. w. (q^vaiy uv&^üttov xm ßlov 
tavTu ftiftüiui). So sägen die Ziniraerleut«, der Eine 
stösst, der Andere zieht, beides führt dahin, dass ein und 
dasselbe geschieht, nämlich das Sägen. Sie ahmen der 
Natur des Menschen nach; denn die Luft ziehen wir 
ein und Blossen sie aus; beides führt dahin, dass ein 
und dasselbe geschieht, nämlich das Athmen. 

Die Beispiele sind nun bald weitläuftig und an- 
schaulich angeführt, bald nur mit ein paar Worten 
angedeutet. So sagt er c. 19 in dem ersten Gliede 
z. B. nur: „DieGerber dehnen, reiben, kämmen, waschen." 




§ 8. Die sieben (siii[i.aza und Zeller*s Vocale. 81 

Und das zweite Glied besteht auch nur in den Worten : 
„Dasselbe ist die Pflege der Kinder." — Wir dürfen 
also nicht überall Ausführlichkeit in der Darstellung 
erwarten. 

Nachdem unser Verfasser daher die Töpferarbeit als 
Nachahmung des animalischen Stoffwechsels beschrieben 
hat, da auch unsere Eingeweide aus denselben Stoffen 
und mit denselben Organen lauter unähnliche Gewebe 
hervorbringen und aus dem Feuchten Trocknes machen 
(er denkt an Knochen und Haare u. s. w.) und aus dem 
Trocknen Feuchtes : so geht er sehr kurz zur Kunst des 
Lesens und Schreibens über und sagt: 

q)(x)pijg ay&QConivrjg^ dvvafjiig %a naQOi/Ofieya ftpfjf^ovevaai, 

TU noiTjTaa örjXdiaat. Das heisst: „Die Schriftkunst ist 
solch ein Beispiel. Sie besteht in Zusammensetzung von 
Figuren (Buchstaben)." Hiermit ist das erste Glied voll- 
endet. Nun kommt das zweite Glied , worin das Vorbild 
der menschlichen Natur gezeigt wird. „ Zeichen sind es der 
menschlichen Stimme. Darin liegt die Kraft, das Ver- 
gangene zu behalten, das zukünftig zu Thuende anzu- 
deuten." Das Entgegengesetzte thun wir also durch 
dasselbe Mittel, und die Kunst der Schrift ahmt die 
Natur nach. 

Diese Gedanken führen den Verfasser nun ganz von 
selbst auf die Werke der Erkenntniss {yrwaig)] denn er 
hat ja im Programm angekündigt, dass er die sichtbaren 
Werke der Künste mit den sichtbaren und den unsicht- 
baren Vorgängen am Menschen vergleichen will. Da 
nun durch die Schrift, durch Zusammensetzung derselben 
Buchstaben, Vergangenes wie Zukünftiges, also Entgegen- 
gesetztes angedeutet wird, so ist damit erstens die sinnen- 
fällige Sprache als Stimme zu vergleichen, zweitens 
aber auch die unsichtbare Erkenntniss (yj/öüffi^), die 
wir mit oder ohne Schriftkunde besitzen. Wie die Schrift 

Teichmüller, Zur Gesch. der Begriffe. Q 



82 Pseudobippokrates. 

aber eine bestimmte Zahl von Buchstaben als Formen 
bald so, bald so zusammensetzt, so besteht auch die 
Erkenntniss aus einer bestimmten Zahl von Elementen 
und zwar aus sieben. Diese als unsichtbare lassen 
sich aber auch wieder an der sichtbaren Natur des 
Menschen zeigen ; denn auch die sinnliche Wahrnehmung 
hat sieben Formen : Gehör, Gesicht, Geruch, Geschmack, 
Sprache, Gefühl und Athem. Durch diese sieben Formen 
der Wahrnehmung entsteht die Erkenntniss den Men- 
schen. 

Nachdem ich die Worte des Verfassers paraphrasirt 
habe, will ich sie citiren: di^ ima a/r^iLiuTwy r^ yvuiatg, 
(Diese kann sich nicht auf die Grammatik beziehen, da 
yiyvwaKHv, yyiofLir^f ayywfioya und in den spätem Büchem 
die didyycjGig immer den bestimmten Sinn der Einsicht 
und allgemeinen Erkenntniss hat. Noch viel weniger 
können sich die sieben Figuren auf die 24 Buchstaben 
beziehen. Von der yywaig zu reden, lag unserem Ver- 
fasser aber nahe, weil er ja eben die Kraft, das Ver- 
gangene zu behalten, das Zukünftige anzudeuten, erwähnt 
hatte, was doch grade die Sache des erkennenden Geistes 

ist.) TavTu nayTa ay&Qwnog dianQr^oatxai xal o intard- 
f^eyog yQu/nftaTU xal o fitj aniaTu/Lieyog, (i,All dieses" 

kann sich nicht auf die Buchstaben beziehen, wie Zeller 
meint, obwohl es richtig ist, dass auch in der Sprache 
des Nicht-Schriftkundigen die Buchstaben alle vorkom- 
men. Denn der Verfasser ist ja von der menschlichen 
Stinune schon übergegangen zu den Werken der geisti- 
gen Erkenntniss. Was die sieben Formen aber sind, 
wissen wir allerdings noch nicht und erwarten desshalb, dass 
der Verfasser sofort nun angiebt, was er eigentlich da- 
mit meint.) ^la inta a/r^f^uTwy xui r^ aiaS'r^aig rf dv- 
d'qwnwvj dxor xpocpcoyy oyjtg g:ay(Qwy, Qiy od/nijg, yXwaaa 
rioyijg xou ar^ditjg, aio/Lia diaXexrov, awf^a yjuvaiog, d'iQ- 
fiiw r ^XQ^ nytvfxaTog du^odoi iaio xal i<iw ' Sia xoi- 



Schluss. 83 

rcjy yvwGtg av^Qwnoiaiv. Hier haben wir die volle Sieben- 
zahl, die alterthümlich genug ist, und zugleich die re- 
capitulirende Behauptung, dass durch diese Sieben die 
Erkenntniss {yvMoig) entsteht. Wäre die yvioaig durch 
die sieben Zeller'schen Vocale entstanden und nach dem 
Verfasser, der doch auch über seine Meinung gehört 
werden muss, zugleich durch die sieben Sinne, so müss- 
ten die Sinne die Vocale *und die Vocale die Sinne 
sein. 

Am Ende aller seiner Inductionen wiederholt der 
Verfasser dann (c. 24 fin.) noch einmal sein Programm 
und erklärt seine Nachweisung als vollendet. Ovrw [xkv 

ai %iyyai naaai rfj ayd'QComprj (pvat imxoipcoyiovai. Die 
ri/yai sind die menschlichen yo/noi; die avd-QCDnivri (pvoig 
aber ist der vdf.iog der Natur, das Naturgesetz, also das- 
selbe, was Heraklit als &Hog vofxog bezeichnete, dessen 
Erkenntniss {yvwaig) die Weisheit {aocpirj) bildet. Hera- 
klit und der Diätetiker sind im Einklang; denn die 
menschlichen Gesetze nähren sich von dem göttlichen 
Gesetze oder ahmen demselben nach. 



Schluss. 

Die Kritik der Zeller'schen Einwendungen hat uns 
nun die Geschichte der Begriffe im fünften Jahrhundert 
in vielen Punkten klarer und bestimmter gemacht. Wir 
sehen deutlich, wie auf den grossen Physiologen Hera- 
klit und den grossen Eleaten Parmenides Schüler folg- 
ten, welche wie der Diätetiker die Gegensätze der Lehre 
zu vermitteln suchten und die gewonnenen philosophi- 
schen Anschauungen in einem speciellen Gebiete, wie 
z. B. hier in der Medicin, anwendeten. Da aber durch 

6* 



84 Pseudohippokrates. 

die Eleatische Schule der progressus in infinitum in den 
mathematischen Begriffen entdeckt wurde und ausserdem 
die Aufgabe, aus einem Stoffe oder aus zwei Gegensätzen 
die vielen verschiedenen Erscheinungen zu entwickeln, 
zum Fortschritt im Denken trieb: so bildeten sich drei 
besondere atomistische Systeme, welche diese Aufgabe 
zu lösen suchten, das von Anaxagoras, das von Era- 
pedokles und das von Leukipp und Demokrit. 
Hierdurch wurde aber die Wahrheit, die nun in den 
Atomen und dem Unsichtbaren lag, ganz von der Wahr- 
nehmung und der gewöhnlichen Ueberzeugung der Men- 
schen losgerissen, wie dies z. B. an dem Anaxagorischen 
Satze: „der Schnee ist schwarz", schroff hervortritt, und 
es war daher natürlich, dass sich einerseits die Skep- 
sis und Sophistik ausbilden musste und darauf die 
Sokratische Horistik, andererseits Versuche gemacht 
wurden, die alte Physiologie gegen die Atomistik zu 
restauriren, wie dies z. B. Diogenes, der Appolloniäte, 
unternahm, A&r sich auf das Wesen der Materie stützte, 
oder wie Ar che laus, der gegen den Anaxagorischen 
Dualismus die Einheit des Princips zu retten suchte, 
indem er den yovg in dem (uyiJia^ oder der Materie, 
immanent fasste. Und diese Kichtungen führen uns bis 
an die Schwelle des vierten Jahrhunderts. 



'%-' V/ v^ • 



Corollarien. 



1. lieber das Schülerrerhältniss im Allgemeinen und 

Eratylos im Besondem« 

Da ich nicht die ganze Geschichte der Philosophie 
im fünften Jahrhundert behandeln wollte, sondern nur 
Studien dazu bei Gelegenheit einer chronologischen Be- 
stimmung versprach, so darf ich mich mit der Hervor- 
hebung dieser wenigen charakteristischen Züge begnügen. 
Ich will nur noch in Bezug auf die Sophisten eine Be- 
merkung machen, welche die Geschichtschreibung der 
Philosophie überhaupt angeht. Es werden uns nämlich 
fast immer Lehrer und Schüler der Philosophen genannt 
und man glaubt sich verpflichtet, aus diesem Verhältniss 
auch auf einen übereinstimmenden Inhalt der Lehre zu 
schliessen oder sogar ein bestimmtes Altersverhältniss 
zwischen Lehrer und Schüler anzunehmen. Nichts von 
beiden ist nothwendig. 

Was zunächst den Inhalt der Lehre betrifft, so 
ist dieser durch das Schülerverhältniss nicht im Minde- 
sten gesichert. Sokrates hatte den Plato, Xenophon, 
Antisthenes, Euklides, Aristipp u. A. zu Schülern; wer 
aber wollte aus ihren Schriften die Lehre des Sokrates 
zu reconstruiren unternehmen ! Wir selbst verehren die 



86 Psendohippokrates. 

Männer, in deren Auditorien wir lernten, als unsere 
Lehrer. Wer von uns fühlte sich aber verpflichtet, die 
gehörten Doctrinen als eigene Ueberzeugung zu ver- 
theidigen! Darum, glaube ich, hat man nicht nöthig, 
die Ueberlieferung der Alten von einem Schülerverhält- 
niss desshalb zu bestreiten, weil sich keine gemein- 
schaftliche Lehre zwischen Lehrer und Schüler nach- 
weisen lässt. Andererseits finden wir zuweilen Angaben 
über ein Schülerverhältniss bei den Alten, wobei der 
Lehrer schon ein Jahrhundert oder länger gestorben sein 
muss, ehe er seinen Schüler unterrichten konnte: in 
diesem Falle muss man allen Nachdruck auf die Ge- 
raeinschaft des Lehrinhaltes legen, der entweder durch 
Schriften oder durch unbedeutendere und namenlose 
Schüler fortgepflanzt sein muss, wenn die Nachricht über- 
haupt beachtenswerth ist. 

In Betreff des Altersverhältnisses sehe ich bei 
Kitter eine Annahme, die eine gefährliche Maxime der 
Geschichtsforschung einschliesst. Er citirt in seiner 
Historia philos. Graec. et Eom. (ed. V) p. 137 aus 
Quintilian (Inst. Orat. III, 1, 8): Gorgias, Leontinus, 
Empedoclis ut traditur discipulus, und bemerkt dazu 
S. 138: Circumspecte Quintilianus : Empedoclis, ut.tra- 
ditur, discipulus. Nam Empedoclem tanto majorem 
fuisse, ut Gorgias ejus discipulus exstiterit, non veri- 
simile est. Videntur potius aequales et familiäres fuisse. 
Allein ist denn durch Gleichaltrigkeit das Schülerver- 
hältniss ausgeschlossen? Hegel war fünf Jahre älter 
als Schelling und Niemand wird läugnen, dass er den- 
noch als sein Schüler zu bezeichnen sei. 

Ich bin daher der Meinung, dass man die Angaben 
der Alten niemals ohne Weiteres wegen dieser beiden 
Vorurtheile verwerfen sollte. Häufig liegt in solchen 
Notizen über ein Schülerverhältniss trotz aller Ana- 
chronismen ein für den Historiker brauchbares Indicium 



Corollarien. 87 

über die Studien oder die persönlichen Beziehungen eines 
Mannes, was, durch andere Nachrichten verstärkt, wesent- 
lich zur Auffassung des ganzen Lebensbildes beitragen 
kann. 

Wenn uns aber über die Lebenszeit eines Schrift- 
stellers keine Nachricht übrig blieb, ja wenn nicht ein- 
mal sein Name angegeben ist: so haben wir doppelte 
Vorsicht anzuwenden, um aus der Beschaffenheit der 
Schrift auf das Zeitalter und die Person des Schrift- 
stellers und seine muthmasslichen Lehrer zu schliessen. 
Zeller hat, wie wir sahen, mit einer grossen Eile seine 
Kechnungen abgeschlossen. Ich will hier aus seinem 
Käsonnement nur noch einen Punkt hervorheben, den 
ich oben (S. 48) citirte, ohne ihn zu erörtern. Unser 
Diätetiker soll nämlich „die durch Kratylos in Athen 
bekannt gewordene Heraklitische Theorie benutzt haben". 
Zu zeigen aber, wie die vor uns liegende Schrift des Diä- 
tetikers mit ihrer eigenthümlichen Lehre uns veranlassen 
könnte, grade an Kratylos anzuknüpfen, hat Zeller für 
überflüssig gehalten, da ja Spuren des Heraklitismus bei 
unserem Verfasser offenbar vorkommen und andererseits 
Kratylos ja auch als Herakliteer gilt. Also schien ihm 
die Frage schnell abgemacht zu sein. Allein für solche 
historische Methode müssen wir unseren Stimmstein nicht 
abgeben. Wir werden erst wissen wollen, was denn bei 
Kratylos das Charakteristische der Lehre war und ob er 
etwa bloss als Krämer die alte Herakliteische Lehre auf 
den Markt in Athen brachte. Da hören wir nun von 
Aristoteles, dass Kratylos von der in der Zeit des Pro- 
tagoras, Empedokles und Demokritos herrschenden Skepsis 
in Bezug auf die Erkenntniss der Wahrheit ergriffen 
wurde und dass daraus bei ihm die radicalste Form 
dieses angeblichen Heraklitisirens aufblühte. Er glaubte 
nämlicli schliesslich, wegen der reissend schnellen Be- 
wegung und Veränderung aller Dinge, gar nicht mehr 



88 Päendohippokrates. 

reden zu dürfen, sondern bewegte bloss den Finger, nm 
anzudeuten, dass die Zeit zwischen Frage und Antwort 
schon Alles verändert habe, und schalt auf Heraklit, 
der gemeint habe, man könne nicht zweimal in den- 
selben Fluss steigen ; denn dies sei ja, glaubte er, nicht 
einmal möglich*). Diesen charakteristischen Radicalis- 
mus der Skepsis bei Kratylos kennen wir also genau 
durch Aristoteles. Was giebt es nun bei unserem Diä- 
t^tiker, das er aus dieser Quelle geschöpft haben könnte, 
er, der mit solcher dogmatischen Ruhe und Sicherheit 
seine Entdeckungen über die Wirkungen der Nahrungs- 
mittel rühmt, der über alle Dinge der grossen und der 
kleinen Welt, über die Seele und den Leib, über den 
Stoffwechsel und die Stockungen desselben, über die Ent- 
stehung der männlichen und weiblichen Nachkommen- 
schaft und über die Ursachen der langsameren oder ge- 
schwinderen Bewegung der Seele uns mit solcher Zu- 
versicht belehrt? Der ganze sophistische Skepticismus 
ist seinem Horizonte fremd, geschweige denn gar der 
bis zum Radicalismus ausartende des Kratylos, und doch 
will ihn Zeller ohne alle inneren und äusseren Gründe 
zum Schüler des Kratylos machen. Akatalepsie folgt 
auf Dogmatismus ; dieser aber kann auch auf Akatalepsie 
folgen, doch nicht ohne Polemik und kritisches Bewusst- 
sein. Von all diesen Erwägungen finden wir bei Zeller 
nichts. 



*) Arist. Motaph. I, 5, 1010 a. 10: « ;•«(> rm'rrj^ r?;< i'^rto- 

€mvTts9 4^exktitf^(ir jwri o/«r koar rko^ fiZ^r. o^ rd r€^.t r«- 
f«tbr (tr^hr ^fro dfT*' Xf'yfw. «ilr? ro»' Saxtflcm ixtru juciof, 
md I9^tatk»'rf$ inftiun fiTtcm ein <fi^ r«) artip jtorofiw orx efftir 
iftfi%wn' «rr«i ya^ ^ro ovd^ crx«^. 



CoroUarien. 89 

2. Muthmassliche Erwähnungr der Schrift nsgl &ialtf]g bei 

Aristoteles« 

Es ist aber interessant, auch die Schüler der grossen 
Philosophen in's Auge zu fassen, welche, auch wenn sie 
nichts Grossartiges leisten, doch die Signatur der Zeit 
wesentlich bestimmen, indem sie die ererbten Gedanken 
in ihren Specialkreisen verarbeiten. Wenn Zeller aber 
(S. 634 meint, dass „ von der Schrift n, dtahtjg Niemand 
etwas bekannt ist", nämlich „im ganzen Alterthum": 
so dürfte dies doch nicht ganz so sicher sein. Es ist 
ja durchaus nicht nöthig, dass sie mit Anführung des 
Titels citirt wäre, was ja nicht einmal den meisten 
Platonischen Dialogen widerfahren ist. Wenn wir nur 
irgendwo eine Kücksicht auf diese Schrift finden, wobei 
der Verfasser seiner Schule nach bezeichnet wird, so 
wäre das schon hinreichend, um zu beweisen, dass sie 
gekannt und gelesen wurde. Aber wenn sie von den 
Zeitgenossen in den schmalen Bruchstücken, die wir 
besitzen, nicht erwähnt wird, so darf das nicht Wunder 
nehmen, da ja selbst in den umfangreichen Werken 
Plato's der berühmte Zeitgenosse Xenophon und seine 
vielen auf Sokrates und die Philosophie bezüglichen Ar- 
beiten nirgends erwähnt werden. Wir dürfen daher 
kaum vor Aristoteles, der als Gelehrter {arayrwaTfjg) 
besonders gerühmt wurde, eine Andeutung von dem 
Buche erwarten. Bei Aristoteles finde ich aber schon 
mindestens zwei Stellen, die mit ziemlicher Wahrschein- 
lichkeit auf den Diätetiker bezogen werden müssen. 

Die Stelle in der Schrift über die Auslegung der Träume. 

Die erste Stelle findet sich in der dem Aristoteles 
zugeschriebenen und seiner würdigen Schrift m^l Ttjg 
xad-^ vnvov itiupTtxrig, Diese Schrift nimmt natürlich 
auch auf frühere Leistungen Kücksicht und zwar scheint 



90 Pseudohippokrates. 

ganz besonders das vierte Buch unseres Diätetikers*) 
dafür ein Beziehungspunkt zu sein. Ich kann nicht 
läugnen, dass ich in diesem vierten Buche im Ganzen 
die Hand des Diätetikers erkenne. Es sind dieselben ein- 
fachen und alterthümlichen Anschauungen über den Welt- 
bau und seine Analogie mit der Natur, es sind dieselben 
Gegensätze von Wasser und Feuer und dieselben ein- 
fältigen Deutungen, die den Naturerscheinungen und den 
seelischen Zuständen angepasst werden, und dieselben 
von natürlichem Verstände in Herodotischer Weise nüch- 
tern durchgeführten Betrachtungen, die hier wie in allen 
Büchern herrschen. Wenn man im Stande ist, sich in 
den Mangel an Kenntnissen und Methode hineinzuver- 
setzen, der im fünften Jahrhundert vor der Zeit des 
Atomismus und der Sophistik herrschte, so wird man 
nothwendig unsern Diätetiker als einen für seine Zeit 
sehr beachtenswerthen und feinen Kopf erklären müssen 
und mit grossem Interesse seine vier Bücher über die 
Diät lesen können. Dann wird man auch den unge- 
heuren Abstand erkennen, der die streng wissenschaft- 
liche Behandlung der Frage über das Träumen und die 
Deutung der Träume bei Aristoteles von der alterthüm- 
lichen und dogmatischen Zuversicht und der noch un- 
bestimmten, der philosophischen Terminologie entbehren- 
den und ihr vorhergehenden Ausdrucksweise des Diä- 
tetikers trennt. Aristoteles bezieht sich nur auf diese 
Schrift und auf eine Abhandlung Demokrit's. Die Be- 
ziehung auf Demokrit, der eine unserem Diätetiker ganz 
fremde, atomistische und gelehrtere Hypothese vorträgt, 
lassen wir hier bei Seite. Auf unser viertes Buch 
scheint sich aber direct zu beziehen, was Aristoteles 
sagt: „Auch die feinen Köpfe unter den Aerzten sagen, 
man müsse sehr auf die Träume Acht haben. Damit 



*) Ich stimme mit Foesius und Ermerins dafür, dass alle vier Bücher 
von demselben Verf. herrühren (cf. Ermerins, Prolegom., p. LXI sqq.). 



Corollarien. 91 

muss man aber übereinstimmen, auch wenn man nicht 
fachmässig und technisch die Sache behandelt, sondern 
nur etwas darüber nachdenkt und philosophirt/**) Dies 
bezieht sich, wie mir scheint, gleich auf den Anfang 
des vierten Buches: „Wer die durch Träume gegebenen 
Zeichen richtig erkennt, wird finden, dass sie in allen 
Beziehungen eine grosse Bedeutung haben."**) In den 
Eesultaten stimmt nun Aristoteles ungefähr mit unserem 
Verfasser überein, nur dass er Alles anders begründet 
und in viel engere Gränzen einschliesst. Die Abweisung 
der sogenannten d^na findet sich bei beiden; der Diä- 
tetiker überlässt dies den Mantikern, da er als Arzt 
eine andere Aufgabe habe, tadelt sie aber, dass sie auch 
die medicinischen Judicien der Träume in ihr Bereich 
ziehen, wovon sie nichts verstehen und wofür sie bloss 
Gebete an die Götter anordnen, während er dies grade 
verstehe und lehren wolle. Aristoteles verwirft die 
^^r«, weil die Vorstellung von den Göttern, welche da- 
bei zu Grunde liegt, absurd ist und sonst auch nur die 
Besten und Weisesten solche Träume haben könnten 
und nicht jeder Beliebige. Bei unserem Verfasser bleibt 
also im Wesentlichen noch der naive alterthümliche 
Götterglaube unangetastet, wie bei Herodot, und ob- 
gleich er schon eine freiere Stellung sucht, indem er 



*) L. 1. 1. p. 463 a. 4. Xeyovai yovv x«i nav iatgcSv ol /«- 
gCepteg öii, del a(p6dQa nQoaexsty totg ivvnvCotg ' BvXoyoy d' o'vrvjg 
vnoXcißttv xal rolg f^r) zexvCraig ^eV, axonovjxsyoig de ri xal (piXo- 
aoq>ovaiv, 

**) L. 1. Ermerins 86. negl dh rdiv rexfitigiojv rdSv iv roTat 
vnyoiat, öarig og&dSg yiyviaaxei,, fjiByiiXriv l/orr« dvvafxiv tvQi^aei 
TtQng anavra. Und am Schluss desselben Paragraphen: öarig ovv 
i-niaxtttca xqCvsiv rctvra oQxhciigj fj,ey(t fxsQog iniararai ifjg ao(fifji. 
Alle Ausdrücke, wie hier rexjuiJQia und ao(pftj^ sind in diesem 
Tractat noch alterthümlich und ohne einen Schatten von der durch 
Aristoteles festgestellten Terminologie. 



D2 Pseudohippokrates. 

dies ganze Gebiet bei Seite schiebt, ist er doch noch 
lange nicht so kühn wie Hippokrates *). 

Was die zweite Classe von Träumen betrifft, welche 
eine medicinische Bedeutung haben, so geht unser Ver- 
fasser sofort ohne jede Begründung ihrer Gültigkeit und 
Möglichkeit dazu über, sie nach gewissen, nicht abge- 
leiteten Gesichtspunkten der Reihe nach zu besprechen 
und die daraus indicirte Diät zu verordnen. Sein Grund- 
gedanke ist, dass die Träume dadurch entstehen, dass 
die Seele nicht wie beim Wachen in die verschiedenen 
Organe des Körpers zerstreut ist, sondern während der 
Ruhe des Leibes sich in sich sammelt und nun für sich 
alle Werke des Körpers und der Seele thut, d. h. sieht, 
hört, geht, tastet, traurig ist und denkt**). Darum 
glaubt er nun von den Träumen direct auf entsprechende 
körperliche Zustände zurückschliessen zu dürfen, ob- 
wohl er nicht untersucht, wiefern diese Folge aus 
jener Voraussetzung abfliesst. So z. B. bedeuten ihm 
die Träume vom Monde, vom Meer und Sümpfen und 
Flüssen u. s. w. die übermässige Feuchtigkeit im Körper 
und also besonders Krankheiten des Bauches und er 
verordnet demgemäss austrocknende und abführende 
Mittel und gymnastische Exercitien, Laufen und Spa- 
zierengehen bei nüchternem Magen, Drittel-Diät u. s. w. 
Feurige Erscheinungen in Träumen bedeuten ihm um- 
gekehrt übermässige Hitze des Körpers, Fieber u. s. w. 
und er verordnet das Entsprechende***). Diese Ana- 



*) Vergl. oben S. 71. Hippokrates sieht schon eine Be- 
schimpfung der Medicin darin, wenn man sie mit der Mantik ver- 
gleicht. 

**) L. 1. IV, cap. 1. 

***) L. 1. Ermer. § OOfin. Ei dl xoXvußT.v eV Xi\uvfi j iv 
^aXitaau rj iy notufxolai doxsei^ ovx ccycc&oy • vnSQßoXijy ydq vyQa' 
aifig arifxaiyei ' ^vfjKpiQH dk xal toizi^ zj diaCzj) InQJ, toXal zs 



Corollarien. ^ 

logie ist sehr einfach und unsere heutigen psychologi- 
schen Traumdeuter verfahren wieder, wie ich sehe, 
ebenso, indem sie alle auf Wasser und Spritzen bezüg- 
liche Träume ohne Umstände dem Drange zu uriniren 
zuschreiben. Während unserem Verfasser aber auch 
nicht einmal in den Sinn kommt, eine psychologische 
Erklärung hierfür zu versuchen, was bei seiner alter- 
thümlichen Psychologie auch nicht zu leisten war, so 
lässt Aristoteles das unkritische grosse Material des Diä- 
tetikers ganz bei Seite, giebt aber im Allgemeinen die 
beschränkte Möglichkeit einer derartigen Deutung zu 
und beschäftigt sich fast nur mit der Frage, wie der 
Uebergang von dem Zustande des Leibes zu den ana- 
logen Träumen wissenschaftlich zu denken sei. Er 
kommt dabei auf die von Leibnitz hierher entlehnten 
und viel benutzten unmerklich kleinen Wahrnehmungen, 
die im wachen Zustande übertäubt werden, in der Euhe 
der Nacht aber zum Bewusstsein kommen und, weil sie 
keinen Massstab finden, übertrieben stark vorgestellt 
werden und entsprechende Ideenassociationen hervorrufen. 
So, erregen kleine Geräusche in den Ohren die Träume 
von Blitz und Donnerschlägen, etwas herunterfliessender 
Schleim die Träume von genossenem Honig und süssen 
Säften, eine geringe Wärme an einzelnen Körpertheilen 
die Träume vom Wandeln durch Feuer und von furcht- 
barer Hitze *). Die ganze Schrift des Aristoteles scheint 



noroiai nXeloai. /^^ci^at • nvQsaooyri dh dyad-ov * aßsvyvTUi, yaQ 
To d-SQ/ÄOV vno rdSv vyqdSv, 

*) L. 1. p. 463 a 11 sqq. Zu vergleichen ist auch mit dem 
Diätetiker bei Aristoteles 1. 1. p. 463 b. 23. ovVe yag rdSv iy jotg 
üwfiaai avifjiiioiv x«t twv ov^avltav, oloy r« tÖjv vdfxTCjy xal rd 
T(üy nvBVfjidrfüP. Ferner die Stelle, die ihn grade auf die Erwäh- 
nung der medicinischen Traumdeutung bringt: 463 a 3. t« de 
arifjiela, oiov t(ov tisqI to acSf^a avfißmyovtcjy. Denn diese atj/ÄSta 
sind die TSXfAtJQia unseres Verfassers ausschliesslich. Und darum 



94 Psendobippokrates. 

mir aber viel verständlicher zu werden, wenn man dabei 
als Vorlage unseren unkritischen Diätetiker einerseits 
und Demokrit's atomistische Theorie andererseits vor- 
aussetzt. Denn die Beziehungen auf Demokrit sondern 
sich scharf ab von den Beziehungen auf die medicinische 
Arbeit unseres Verfassers, und die feine und systematische 
Kritik des Aristoteles scheint überall auf die alterthüm- 
lichen Vorarbeiten unseres Diätetikers hinzublicken, in- 
dem dessen Annahme in vornehmer Weise nur gestreift 
werden, ohne eine besondere Berücksichtigung zu er- 
fahren. Jedenfalls muss, wenn Aristoteles mit den 
feineren Köpfen unter den Aerzten seine Zeitgenossen 
verstanden hat, angenommen werden, dass die An- 
schauungen unseres Diätetikers sich bei den Aerzten 
fortgepflanzt hatten und wir desshalb bei diesem an 
die erste literarische Quelle gekommen sind und daraus 
die Beziehungen des Aristoteles so vollständig ver- 
stehen. 

Die Stelle in den Problemen. 

Die zweite Stelle findet sich in den Problemen. 
Wir sehen daraus erstens, dass Aristoteles viele Schrift- 
steller kennt, welche dem Heraklit folgten, und vielleicht 
einen Unterschied unter ihnen macht, indem einige dem 
Meister treuer waren, andere zu extremen Folgerungen 
übergingen. Den Kratylos rechnete er zu den angeb- 
lich Heraklitisirenden {rwy (paaxorTwv tj^ax^eiriCeiy), 
deren radicale Auffassung von der Bewegung mit Hera- 
klit's Lehre nicht übereinstimmt; die andern nennt er 



p. 463 a 17. taar* in ei fjuxgai -ndvxüiv al «^/«/, d^Xoy ort xal 
Ttüy v6a(ov x«l rtuy äXXvjy na&rifjiäiiay rtov iv rotg awfiaai fisX- 
Xoyjtay ylvtaBai. (pavigoy ovy ort xavru dvayxalov iv toig vnvoig 
Bivai xarafpav^ jjmXXov J iy Tip iyQ^yoQivai, 



Corollarien. 96 

Tiyig Twv riQaiO.HTiCovTMy'^). Ich möchte auf diesen 
Unterschied kein Gewicht legen, obgleich er Erwähnung 
verdient Aber wenn man auch beide Ausdrücke ver- 
einigt : so würde doch wenigstens constatirt, dass Aristo- 
teles eine ganze Eeihe von Herakliteern kennt, 
deren Namen er entweder selbst nicht weiss oder für 
nebensächlich oder für unbedeutend hält, deren Mei- 
nungen er aber doch vielfältig berücksich- 
tigt. Diese Männer scheinen Aerzte gewesen zusein, 
wie aus den Problemen ersichtlich ist. Dass aber die 
Schriften dieser und anderer weniger bedeutenden Männer 
auch anonym umgelaufen oder bald verloren gegangen 
sein können, sehen wir aus der heftigen Polemik, mit 
der Galen diejenigen abfertigt, welche die Behauptung 
in dem Hippokratischen Buche von der Natur des Men- 
schen, dass einige Philosophen die Erde zum Ein und 
Alles machten, nicht gelten lassen wollten, weil wir 
keinen Philosophen wüssten, der dies behauptet hätte **). 
Er tadelt bei der Gelegenheit auch mit einer gewissen 
Erbitterung den Artemidorus Capito und den Dioskori- 
des, die in ihrer Ausgabe der Hippokratischen Werke 
sich beliebige Interpolationen erlaubten, um die ihrer 
beschränkten Meinung nach vorhandenen Fehler zu ver- 
bessern, und fragt, ob man denn die Namen auch von 
denjenigen Aerzten kenne, die aus Schleim oder gelber 
Galle den ganzen Menschen deducirt hätten? Wir 
können mit dieser richtigen Argumentation Galen's 
übereinstimmen und annehmen, dass viele Schriften und 
Namen verloren und vergessen sind und dass darum 
auch viele Herakliteer als Aerzte geschrieben haben 
können, ohne dass wir Zeller's Frage zu beantworten 



*) Probl. p. 934 b. 34 u. 908 a. 30. 
**) Galen ed. Kühn XV, p. 17 sqq. 



't 



brauchten, wer in der Zeit vor Hippofcratea die Bacher 
über die Diät geschrieben habe*). 

In den Problemen werden die Heraklitisirenden zwei- 
mal erwähnt. An der ersten Stelle, um zu berichten, 
da3s einige vou ihnen die Steine und die Erde aus dem 
getrocltaeten und krystallisiitcu Triuiinasser, die Sonne ! 
aber ana der Verdampfung des Meeres abgeleitet liätten i 
und zwar aua Rücksicht auf die angeblich verschiedene { 
Temperatur des süssen und salzigen Wassers**). So ; 
seltsam auch diese Vorstellungen sind, sieht man doch, 
dass die Herakliteer sich zum Theil den Naturstudien 
hingaben und von Heraklit abwichen. 

Die zweite Stelle aber scheint sich direct auf unsere 
Schrift üfpi äiahrji; zu beziehen. Aristoteles fragt näm- 
lich, woher es komme, dass der Orin nach dem GenusE 
von Knoblauch den Genich annehme? Er widerlegt 
darauf zuerst die Physiologie der Heraklitisirenden, 
welche die Welt im Grossen mit dem menschliohea ; 
Körper vergleichen und die verdampfte Nahrung durch 
die Abkühlung dort als Wasser, hier als Urin wieder 
äe***). Dieser Gedankengang ist genau 



•) Wenn wir nun auch nach den Antoren , auf die rieh Galen 
beruft, etwa den Euryphon als Verfasser wüssten, waa hätten 
wir mehr als einen Namen gewonnen? Wir könnten Tennuthenj 
er sei ane Milet gebürtig gewesen nnd habe den Hippodamaa 
erzeugt, der nachher auch, wie Aristoteles sagt, über die ganze 
Katar halie philosoybiren wallen (Xöyioi äi xal nc^t tifli oX^ 
^veu' ciytu ßoviöfitvo;). Des Hippodaiiius Staat hat dann wiede* 
dem Flato als Vorbild gedient. So könnte man von einem Mile- 
Bischen oder Knidischen Arzte Euryphon durch Conjeetur aus- 
gehen und annähernd mit der (.'hronologie sich abfinden. Alles 
dies ist wcrthlos. 

••) Probl. p. 934 b. 3.1. Der grosse Kalkgehalt in vielen so- 
genatinten harten und sQasen Wassern wird wohl das Hotir ge- 



'*») Jbid. II. 908 a. 28. 



axÖQoda tpiiyg , i 



CoroUarien. 97 

SO bei unserem Diätetiker anzutreflfen. Denn erstens 
stimmt die Parallele ' im Ganzen zwischen dem kos- 
mischen Bau und seiner Meteorologie einerseits und 
dem Bau des Organismus und seinem Stoffwechsel an- 
dererseits*). Zweitens schreibt der Diätetiker im Be- 
sondern dem Knoblauch die Eigenschaft zu, in den Urin 
zu gehen, wie allen den herben und starkriechenden 
Kräutern**). Drittens stimmt damit die Kritik des 
Aristoteles; denn er erkennt bei dem Herakliteer die 
Grundanschauung an, dass das Kraut blähen müsse 
und Urin treiben ; aber er vermisst die Erklärung dafür, 
wesshalb sich der Geruch unten (xarw) im Urin ein- 
findet und nicht wie bei den andern starkriechenden 
bloss ausgeathmet wird. Darum löst er die Frage, in- 
dem er aus der Thatsache eine Eigenschaft macht ; weil 
nämlich von allen starkriechenden Kräutern nur der 
Knoblauch die Eigenschaft habe, Urin zu treiben, zu 
blähen und drittens dies grade in den unteren Theilen 
der Bauchhöhle zu thun, so bekomme desswegen der 
Urin den Geruch. Unser Diätetiker hat dies letztere 
allerdings nicht nachgewiesen. Er sagt vom Knoblauch 
bloss, „ dass er warm sei, abführe und Urin treibe , dem 
Körper gut, den Augen aber nachtheilig sei; denn weil 
er eine starke Purgation des Körpers hervorbringe, 
stumpfe er das Gesicht ab ; er führe aber ab und treibe 
Urin wegen seiner kathartischen Eigenschaft. Gekocht 



ovQov oCsi idsad-ipttoy j' notsgoy^ oianeg Tivhg tcHv ^QaxXeiti^op- 
xtov fpaaiv ort dvad-Vf^iatai, (önSQ iy tw oX(o, xal iv T(p aaif^azij 
slra naXiv xpv^^hv awiarcuai ixel fikv vygoyj iy ravS-a dh ovQoy, 
i) ix T^g rQO(f^g dyad-vf^iaaig» 

*) De diaeta I, 10 u. IV, 89. 

**) De diaeta II, 54. dxöaa de dgif^ia xal sv<6dea diov- 
gisrai. — Und ol ds /vAol dtovQtitixol xQiq&f^ov, aeUyov, axo- 
qodoVy xiniaov x. x. X. 

Tel chmüller, Znr Gesch. d. Begriffe. 7 



96 PeeudobippolirateiS. 

sei er schwächer als roh. Er blähe aber, weil die Luft sich 
annehmend spanne.""') Aristoteles hat also den bei dem 
Diätetiker vorkoiuraenden Prämissen nur eine Thatsache 
hinzugefügt, welche aber, beilüatig gesagt, falsch ist, 
daas nur bei dem Knoblauch die kathartiache Kraft sicli 
UDtea iu der Bauchhöhle geltend mache und nicht oben 
in den Luftwegen und iu der Perspiration durch Schweias. — 
Ich ghmbe darum, dass Aristoteles unseru Diätetiker 
gelesen und vielleicht bei der Leetüre dies Problem für 
sieh notirt hat, da ihm der eigenthömliche Geruch dea 
Urins nach Knoblauchgenuss in die Erinnerung kam, 
was sich allerdings nicht gleich aus der Darstellung des 
Diätetikers ohne Weiteres erklären liess, TOrKflglicb da 
die Chemie des Verdauungsproceasea ja nicht den Zer- 
fall in synonyme Elemente gestattet, wie der Wein sich 
nicht in Wein auflöst**) und auch die Eigenschaften 
der ätherischen Oele noch unbekannt waren. 

Es ist hierbei noch interessant zu sehen, dass Aristo- 
teles der Anachauungaweise des alten Herakliteers ziem- 
lich nahesteht. Wenn Aristoteles häufig auch mit ge- 
nügender Verachtung von den alten Physiologen spricht 
und sich eine viel höhere und gelehrtere Erkenntniss zu- 
schreibt : 80 verschiebt sich dies Urtheil über die Differenzen 
und Abstände doch ganz bedeutend, wenn wir vom heu- 
tigen Standpunkt der Naturwissenschaft aus die Ab- 
stände in anderer Perspective erblicken. Wie Galen 
mehrere Jahrhunderte nach Hippokrates erklären konnte, 
er stimme mit demselben ganz überein , sowohl der 



*) Ibid. 54 init, VioUcicht kann man die Stelle des Ariata- 
tel«a zar EntBcheidiing der Lesart in unserer Schrift da diaeta 
benutzen. Ueberliofert iat: q^eaav rf' ffmaiiei iia ia€ ■nvsvfimos 
i^ inlntuity und inliaaiv. Aristoteks aber eagt; dt» jiv»v- 
fimucdg doli dr/liui n avrioria rai aidotov. 

••) Arist, 1. J. 



CoroIlarieD. 99 

Theorie ala der therapeatiseheD Methode nach: so darf 
es uns nicht verwundern, dass wir auch bei Aristoteles, 
ahgeaehen von der philosophischen Terminolo^e, im 
Ganzen dieselbe Änsehauungaweiso von den physiologischen 
Processen, wie bei nnserem Diätetiker und bei Heraklit 
finden. Die empirischen Kenntnisse konnten sich bis 
zur Entdeckung der feineren Beobachtangsmittel nnd 
eiacten Messwerkzeugen nicht bedeutend vermehren, 
weashalb Hippokratea mit seiner Autorität bis in die 
neuere Geschichte hineinreicht und noch bei Leibnifes 
Geh5r findet. Ich habe diesen Punkt schon in meinen 
Studien zur Geachichte der Begriffe 8. 516 besprochen 
und erwähne hier nnr in Bezug auf unsere Frag'e, dass 
der Begriff der Verdunstung bei unserem Diätetiker auf 
die meteorologischen und physiologischen Procease in 
ganz gleicher Weise angewendet wird. So trocknet z. B. 
die Sonne die Luft und trinkt die Feuchtigkeit des 
Landes aus*); ebenso geben aber die Winde, die vom 
Meere in's Land wehen, Kühlung nnd Feuchtigkeit und 
bringen, wenn sie nicht zu kalt sind, Gesundheit, indem 
sie der Wärme der Seele Feuchtigkeit zuführen**). 
Dies wird rein physikalisch gedacht und die ganze Phy- 
siologie des Verfassers beruht fast nur auf Geltend- 
machung der physikalischen Wirkungen von Wärme und 
Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit, deren gute Mischung 
er im Auge hat, und oii^ends auf Beachtung der ver- 
schiedenen Gewehe und den höheren organischen Func- 
tionen. Desshalb stehen die Eippokrateischen Schriften, 
wie schon das Buch über die Natur des Menschen, eine 
Stufe über unserem Verfasser, da sie die organischen 



•) Z. B, II, 38 Enn. p. 432. oEcmvas 6 ^iws ovx 
mW', OTioSipalyaiv iSv f,iQa ixnlpBt t^v ixfvija. 

*') Ibid. 6xöaa nviei «nd t<öv n^oeigijfiivioy löipeXe 
tip i^f 'l"'X'ii O-CQfi^ ixfiäda ^iföi/ia. 






MO 



pHendoii ippot ratea . 



Homftomerien einführen, noch mehr natürlich Aristotelea, 
der auch noch die organischen AnomSomerien und die 
Entelechie hinzufügt. Aber gleichwohl ist doch auch die 
Gewehelehre bei Äriatoteles noch unglaublich dflrftig, 
und die Betrachtungg-weise Mit bei jeder Gelegenheit 
zu der Stufe des bloss Phyaikaliachen wieder herab. So 
glaubt Aristoteles hier z. B-, dasa der Knoblauch, weil 
er Blähungen in den unteren Theilen des Bauches her- 
vorbringt, wo Blase und Schamtheile nahe bei einander- 
liegen, wegen der Nähe mit in den Harn komme*), 
als wenn diese Organe nicht alle durch mehrfache Häute 
von einander getrennt wären und der Zugang zur Blase 
auch noch physikalisch und nicht bloss durch Blut und 
Nieren möglich wäre, — Ebenso behauptet er in der Schrift 
Über die Träume, daas die Kinder in der frühesten Zeit 
nicht träamen können , weil zu viel Verdampfung («>-«- 
&v/iiaaii) von der Nahrung nach oben steigt und dann 
wieder herabfallend eine zu reichliche Bewegung her- 
vorbringt , wie man ja auch beim Schlummer nach der 
Mahlzeit aus demselben Grunde nicht tväume**). Auch 
hier ist die Verdampfung des Wassers und der Regen 
die physikalische Analogie, wie Aristoteles selbst aus- 
drücklich in dem Buch über die Theile der Thiere sagt***); 



•) L. l. p. 908 b. 6. i <fh lonos d nipif i« aiioia xai T^v 

*") Arist. Tiegl iflf ÄO*' üni/ov /layrtx^g l, p, 463 b 4. 07* 
ovii fieiä r>|v t^d^s^i' xaO-vjiväaaaiv ovii loi; •nBiiiais yiretai 
ivvnviov' öaoi; j-rig loöro* zoy rgonov attVBai^xev 4 ^vms uote 
noWiiV ngaanintiiv ara^vfilaeiv npos ToV äyia jöuov, ij tiäXiV 
xata^iQoft^vii Tiaui ni^Äof xir^oew;, euldj-iuf rou'roir o^cTJv ^(. 
vtrai tpiivraofiB. Seine AuffaBäung vom Gehirn ist der Hippo- 
kratlBclieD nalie verwandt. Man vcrgi. 7i. B. de aüre, aq. et 
locie 15, p. 261 Erm. ifUyfiaios inmarogviino; änä tov iyKB- 

***) De patt. anini. II, 7. <fio xai rft (itifiaia lois aaifiaain ex 



OoroUarien. 101 

das Herz wird dabei wie die Sonne als das Erhitzende, 
das Gehirn als das Abkühlende betrachtet. — So ver- 
schwindet für unseren Standpunkt der Abstand, der die 
verschiedenen physiologischen Anschauungen im Alter- 
thum trennt, obgleich derselbe, in der Nähe betrachtet, 
immerhin recht gross erscheinen musste. Denn Aristo- 
teles nimmt zwar wie der Diätetiker die Ausgleichung 
der Gegensätze als Princip der Organisation und der 
Gesundheit*) und nähert sich ihm auch darin, dass er 
z. B. »dem Gehirn in ganz physikalischer Betrachtung 
die dem Wasser und der Erde gemeinschaftliche Natur**) 
zuschreibt ; dennoch verwirft er des Diätetikers Annahme, 
dass die Seele selbst das Feuer sei, weil dieses Beides 
ja bloss nahe aneinander sein müsse bei der organischen 
Arbeit, wie die Säge und der Zimmermann, ohne dass 
die Säge der Zimmermann und das Feuer die Seele 
sei***). Einige möchten nun vielleicht annehmen, dass 
Aristoteles bei dieser Polemik an Heraklit gedacht 
habe: das kann wohl auch sein; wahrscheinlicher aber 
ist, dass er die detaillirten medicinischen Schriften der 



rrjg x6(faXils iari rriv oQ^Wi öffoig ay n rd negi tov iyxäq>aXop 
xpvxQOTCQa Ttjg avfAfJiirqov xgdaeüjg' dva&vfuiof^ivtjg ydg did rdHy 
(fXeßüjy «reo r^g rgoip^g, to niQlTtüjfjia tpvxofJiBvov 6id ri^v jov 
Tonov TovTov ^vvafjuy qsvfJittTa noiBl (p^yfjiaxog xai i^dSgog, Jel 
dk XaßsZv , (og f^eyäXt^ nageixaCopta fxtxQov, ofxoCtog avfißalyeiv 
dianeg tiqv rdSy vettßv yiveciv. dyad-vfjmofjiiyrig ydq ix 
^^? yVS T% uTfxldog xai (pBQOfjiivrig vno. jov d-SQfÄOv ngog top 
ccyat tonov y öneg iv r^ ^71^^ tjJv yfjy yiytßai dsqi oyji ^v^Q^ 
avylararai ndXiy eig vdü}(} duc t^v tpv^iy xai qsV xnrco ngog rrjv 
yijy. Wir sehen daraus also, dass Aristoteles diese in den Pro- 
blemen dem Herakliteer zugeschriebene Analogie ganz unbefangen 
angenommen hat. 

*) L. 1. anayja deltai riig iyayriag gonrjg^ l'ya tvyj^dy^ rov 
fXBxqiov xai rov fjiiaov. 

**) L. 1. riji' q)vciv e^oy xoiyr(V vdarog xai yijg, 

***) L. 1. oti ro SQyov nBQaCysxui iyyvg dXXriXoiy ovaiy. 



102 Pseodohippokrates. 

Herakliteischen und Hippokratischen Aerzte vor Augen 
hatte; denn bei dieser Annahme werden anch die zahl- 
reichen Anspielungen auf frühere Ansichten, wie sie 
besonders bei der Theorie der Winde und in der ganzen 
Meteorologie und den kleineren naturwissenschaftlichen 
Schriften vorkommen, viel verständlicher. Dieses weiter 
im Einzelnen auszuführen, halte ich hier für übei-flüssig, 
da die aufgewiesenen Punkte die Beziehung genügend 
an den Tag legen. 

Ohne feinere Messwerkzeuge und Beobachtungsmittel 
konnte die Naturforschung keine grossen Fortschritte 
machen. Darum findet man z. B. ganz früh schon das 
Gesetz der Erhaltung der Kraft bei den Alten 
ausgesprochen, obgleich sie es nicht beweisen konnten, 
sondern nur durch halb empirische, halb speculative 
Betrachtung ahnten. Der Diätetiker erklärt nachdrück- 
lich Alles für dasselbe, obgleich es beständig in den 
Gegensätzen kreist, und Aristoteles kommt dai-über nicht 
hinaus, wenn er distinguirend sagt, dass nicht die- 
selben Theile, sondern nur die Massen dieselben 
blieben*). Denn keiner von beiden hat dies durch 
eiactes Experiment bewiesen. 



*) Meteoreol. II, 3. ovre dt\ rd avxd fi^gtj dutfisyei^ ovrs 
yw» ovTB d-aXacatis^ uXXd gAovoy 6 neig öyxog. 



Herakleitos 

als Theolog. 



Erstes Kapitel. 

Bekanntschaft der griechischen Philosophen mit 

der ägyptischen Cultur, 



ünbekanntschaft Heraklit's mit ägyptischer Weltanschauung: 
anzunehmen; ist g'Cg'cn alle Wahrscheinlichkeit. 

Da mir eine Menge ägyptischer Vorstellungen in 
den Herakliteischen Fragmenten vorzukommen schienen, 
war ich geneigt, in denselben nicht zuföllige Anklänge 
zu vermuthen, sondern dafür einen wirklichen Zusammen- 
hang der Lehre vorauszusetzen. Die üeberlegung jedoch 
musste erst vorangehen, ob Heraklit denn wahrschein- 
licher Weise überhaupt mit ägyptischer Theologie und 
Kosmologie bekannt sein konnte. In den Fragmenten 
Heraklit's kommen nirgends ägyptische Götternamen vor, 
und wir haben desshalb keine so in die Augen fallende 
Gewissheit, wie etwa bei Plato, dessen Dialoge voll sind 
von ägyptischer Weisheit*). Ehe wir aber die innere 



*) Ohne die vielen einzelnen Stellen bei Plato zu citiren, ver- 
weise ich hier nur auf Plutarch : De Isid. et Osir. 48 fin. und 
53 sqq., wo die ganze Theologie der Aegypter durch die in den 
„Gesetzen" und im „Timäus" aufgestellten Principien gedeutet 
wird. Diese Deutung geht wirklich glatt vorwärts, was nicht 



106 Herakleitos als Tbeolog. 

üebereiDstimmung der Gedanken prüfen, können wir 
eine mittelbare Gewissheit durch die Thatsache gewin- 
nen, dass Heraklit kritisch Eücksicht nimmt auf Heka- 
täus aus Milet; denn Ton Hekatäus wissen wir, dass 
er in Aegypten war*), in Theben mit den Priestern philo- 
sophirte, und dass er in seiner grossen Reisebeschreibung 
{neQioöog yPjg) SO viel von Aegypten berichtet hat, dass 
Herodot sich auf ihn mit Nennung des Namens oder 
anspielend überall bezieht, wesshalb einige Boshafte unter 
den Alten sogar behaupteten, Herodot habe in seinem 
zweiten, über Aegypten handelnden Buche aus Hekatäus 
Vieles theils abgeschrieben**), theils stark benutzt***). 
Eine Kenntniss ägyptischer Denkweise ist daher bei 
Heraklit so gut wie thatsächlich festgestellt. 

Dazu kommt, dass „die ganze Entwicklung des Ver- 
kehrs (der Hellenen) mit Aegypten von Milet aus- 
gegangen ist"t). Wie Psammetich, so begünstigten 
auch Nechos und Amasis die griechischen Handelsleute, 
und zwar so sehr, dass sich neben Naukratis eine ganze 
Reihe hellenischer Niederlassungen am Nil bildete, wo 
nicht bloss kaufmännische Geschäfte abgeschlossen wurden, 
sondern wo sich auch die Vertreter der griechischen 
Cultur in jener Zeit, nämlich die Priester mit ihren 
Heiligthümem , niederliessen und also ein Austausch 



möglich wäre, wenn sich nicht im Grossen und Ganzen wirklich 
die griechische Philosophie aus alter Mythologie und Theologie 
hervorgebildet hätte: rijr AiyvmCtüv &eoXoy(av f^aXuna tavin xj 
(piXo(To(p((f (der Platonischen) avvoixeiovyzog. 

*) Herodot H, 143. Uqoxbqov de 'ExazaCü) t^ Xoyonoup iy 
O^ßliOi yeverjXoyrlaavti icjvroy — — inolriaav ol iQseg tov Jiog, 
ocov Ti, xa\ i(Ao\ ov ytvsfjXoyijaayn ipecDvioy. 

**) Euseb. praep. evang. X, p. 466. 

***) Hermog. de form. orat. U, 12. 

t) E. Curtius, Griech. Gesch. I, S. 347, 1. Aufl. 



Lebens uuvermeidUcIi war*), Auch war ja 
in der Zeit dea Ämasis und Polykrates der Weltverkehr 



*) In dem reiolieii und künBÜerisoh schönen Roman „Die 
ägjptiflülie Königstochter" giebt uns der geiatvoUc Ebera ein 
glänzendes PhantaEiebUd dieser Zeit. Er stellt die Griechen etwas 
xa günstig dar, als ob de scbon damiilit zu der Feistigkeit der 
hoinanen, philasophiachen Lebensanschaanng gekommen waren, 
während sie in dieser Zeit oooh nberall theils in priesterlicbem 
Aberglauben, theila in skeptischer Giihrung zn stehen scheinen. IMe 
AegypteraberbeBMBsendiernhige, altbewälirte Orthodoxie undzBgleich 
eine panttieistieche , pliiloBophieche ErklSrting ihrer Dogmen. THe 
Griechen konnten sich daher zn ilinen nnr als Lernende verhalten, 
nnd wenn sie aach wegen des gewohnten freieren Lehens und 
wegen der Differenz der Sitten gleich kritisch und selbständig 
auftreten mnssten, su war doch aof Seiten der Aegjpter ein sol- 
ches Uebergewicht an Kenntnissen vorhanden , dass die Griechen 
im Anfang nicht geben . sondern nur aufnehmen konnten. So 
möchte ich auch das kleine Papstthnm, welches Pytbagorae zu 
hegrBoden enchte, anf ägyptische Anregung zurttckfBhren. Das 
Volk der Gewerbtreibendeu und Arbeiter und Ackerbaner will er 
durch einen Krtegerstand beherrschen, der aus den edebton Jüng- 
lingen gebildet wird. Diese wiedernm stehen weit ab von einem 
hierarchischen Kreise, von dem sie Bildnng und Befehl erhalten. 
Die Stufenfolge der Einweihnng in die ErkenntniBS ist ganz ägyp- 
tisch prieaterlich, nnd die mystische Persönlichkeit des letzten Ge- 
bietenden verschwindet in dem Dunkel des göttlichen Nimbus. 
Deberall Geheimni« und schweigender Gehorsam. Autorität, nicht 
demokratische Majorität. Glauben an ein Wissen höherer Naturen, 
die wie gegenwärtige Götter .verehrt werden; nicht nüchterne Por- 
Bohnng und Berathnng nach geaundeni MsnschenverBtand. Nach 
Aussen für die Niehteingeweihten überall allegorische und mytho- 
logische, in Stauneu versetzende Mittheilungen, filr die Eingeweih- 
ten eine geheime Philosophie; nicht offene, der Kritik zugäng- 
liche Beobachtung der Natur und der GeBcllaohaft. Es scheint 
mir gewissermassen nothwendig, dass die damalige Zeit, welche so 
ungeheure Ungleichheit der Bildung zeigte, an Aegyptcn sich an- 
lehnende Versnobe hervorrufen musstc, die harbariaohe Masse 
ariatokratisch und priesterlich in Zucht und Erziehung zu nehmen, 
wobei die wenigen Gebildeten gleich Göttern hervorragten nnd 
mit der Weisheit aacb die Herrschaft in die Hand zu bekommen 



lOS HenUeitoB als Theolog. 

dnrch HandelsbeziehungeD, Kriege und Freundschaft der 
Forsten sehr gross geworden und zugleich das Ansehen 
der Dichter und Denker an den Höfen und beim Volke 
sehr erhoben. Es ist daher undenkbar, dass in Milet 
und Samos und also auch in Ephesus eine Tube- 
kanntschafi; mit ägyptischer Theologie und Kosmologie 
und Mathematik bei den hervorragendsten Männern ge- 
herrscht habe, vorzäglich, da die leicht aneignenden 
Griechen von den Aegyptem mit Becht als auf einer 
niedrigeren Civilisationsstufe stehende Barbaren angesehen 
wurden, und selbst diesen Vorrang der Aegypter erken- 
nend, wie wir noch bei Plato sehen*), den Drang fühl- 
ten, die fremde Cultur kennen zu lernen und aufzu- 
nehmen. 

Eine spröde Abgeschlossenheit griechischer Cultur- 
entwicklung anzunehmen, scheint mir auch sowohl im 
Allgemeinen gegen alle Analogie zu sein, als auch im 



siicheD müssten. — Ebers durfte aber, wie ich glaube, als ächter 
Künstler etwas ADachronismiis geriDgrschätzen, weil er das T>*pi8che 
des hellenischen Geistes zum Ansdrack bring^en mosste. Dieses 
konnte aber in einer Zeit, wo die Griechen allgemein von dem 
gebildeteren Orient lernten, noch nicht genug henrortreten nnd 
dämm mnsste Ebers, indem er die Anlage schon als Entelechie 
hinstellte, die spätere Entwicklung der Griechen anticipiren. 
Abgesehen von diesen dichterischen Freiheiten, kann ich Ebers 
als meinen Vorgänger betrachten. 

*) Den grossen Respect Plato's vor den Barbaren 
sieht man nntcr Andern in einer Stelle des Phädon, die mir immer 
sehr merkwürdig erschienen ist. Sökrates nämlich fordert (78 A) 
seine Schüler auf, mn sich in dem Glanben an die Unsterblichkeit 
zn bekräftigen, zn den Barbaren za gehen nnd ihre 
Weisheit zn erforschen, auch wenn die Reise sehr 
kostspielig wäre: -noXXa de xai ra rtor ßaQßagtty ysytiy ovg 
ndrrag j[9^ diegewac^^at C^jovrrag tchoCtw into&orj fujtB Z9^" 
fiowmr ip€idofi€yovs /ui;r£ nortar. cJ; ovx itrriy eig ö ti ap cvjccri- 
^tegay waXiaxonB /^j^'^crra. Hier sind offenbar die Aegypter 
in erster Linie gemeint 



Erstes Kapitel. 109 

Besonderen dem Charakter des gilechischen Lebens zu 
widersprechen. Wie Sporen und Samenkörner durch den 
Wind, durch Insekten und Vögel viele Meilen weit von 
dem Standorte der dieselben producirenden Pflanzen wegge- 
führt und scheinbar zusammenhangslos an ganz getrennten 
Oertlichkeiten Wurzeln treiben: so muss man in noch 
höherem Grade auch für die nicht am Boden festge- 
wurzelte Menschheit eine durch Wanderungen von Stäm- 
men oder auch von Einzelnen vermittelte Uebertragung 
von Culturelementen annehmen. Für die Fabeln oder 
Märchen ist diese Auffassung schon ziemlich allgemein 
anerkannt*). Während aber Benfey und Andere die 
Quelle derselben in Indien suchen, haben Einige für die 
Griechen wenigstens als Bezugsort Aegypten angenom- 
men**). Wenn man nun bedenkt, wie namentlich in 
der Zeit der grossen socialen Bewegung vor den per- 
sischen Freiheitskriegen und vor Begründung der Demo- 
kratie zahlreich griechische Männer auch aus den vor- 
nehmsten aristokratischen Geschlechtern ***) in die 
Fremde gingen und bei den assyrischen und ägyptischen 
Königen Kriegsdienste nahmen und wieder heimkehrten: 
so scheint es mir unerlaubt zu wähnen, diese beweg- 
lichen und klugen Griechen wären in der Fremde 
sofort blind und taub geworden, oder doch wenigstens 
nach ihrer Heimkehr stumm. Ohne solche Voraus- 
setzungen aber muss man es für höchst natürlich halten. 



*) Die bildenden Künste der Griechen wollen Einige nicht 
ans der Anregung Aegyptens ableiten. Vergl. dagegen R. Lep- 
sius, Ueber einige ägyptische Kunstformen und ihre Entwicklung 
(1871). 

**) Zundel, Revue Archeol. III, S. 354 (Esope etait-il juif 
ou egyptien?), dem Ebers zustimmt; vergl. Aegyptische Königs- 
tochter I, Not. 13, und Goodwin, Uebersetzer des Märchens 
vom verwunschenen Prinzen. Records of the past II, p. 153. 

***) Vergl. z. B. Ebers a. a. 0. I, Not. 15. 



110 Herakleitos als Theolog. 

dass sich Keime barbarischer Cultnr überallhin in 
Griechenland verbreiteten. 

Zu erwähnen ist desshalb auch, dass die Griechen 
Homer's schon von dem hundertthorigen Theben sprechen 
und dass später unter den Orakeln das von Ammon 
grossen Euhm genoss und in der Zeit Heraklit's auch 
viel befragt wurde, was nicht anders möglich war, als 
wenn in dem grössern Weltverkehr auch Kunde und Ach- 
tung der Keligion sich verbreitet hatte. So scheinen auch 
die Gesetzgeber und die sieben Weisen den Heiligthümern 
der Göttersprüche (Xoyia) nahegestanden zu haben, wie 
ja ihre Weisheitssprüche auch gleich Göttersprüchen im 
Tempel zu Delphi zu lesen waren und anscheinend durch 
das Heiligthum besondere Autorität erhielten. Das 
grösste Interesse zeigt Herodot daran, seine griechischen 
Götter mit den ägyptischen zu vergleichen, wie das vor- 
her Hekatäus gethan hatte, und von den Aegyptern 
zu erfahren, welche davon sie als die ihrigen anerkann- 
ten und welche älter oder jünger oder fremd wären. 
Ammon redete auch griechisch mit den Griechen und 
diese fanden keine Schwierigkeit durch die Dolmetscher 
mit den Priestern zu verkehren. Die Aegypter ihrer- 
seits erkannten auch die griechischen Heiligthümer an, 
und so schenkte z. B., nach Herodot's Bericht, Nekos 
sein königliches Gewand, in dem er gesiegt hatte, als 
Weihgeschenk dem Apollo der milesischen Branchi- 
den *). 

Herodot über die ägryptisirenden griechischen Gelehrten. 

Wie Plato noch, ohne Widerspruch zu erheben, die 
Griechen von den Aegyptern als Kinder bezeichnen lässt 
und die Mythen derselben und selbst ihre politischen 
Einrichtungen mit Achtung in seinen Dialogen behan- 



*) Herod. U, 159. 



Erstes Kapitel. 111 

delt, SO darf es nns nicht wundern, wenn die Früheren, 
z. B. Herodot, durch die ägyptische Weisheit gleichsam 
fiberwältigt wurden. Herodot glaubte darum, dass fast 
alle Namen der hellenischen Götter von Aegypten ge- 
kommen wären*), und mit den Namen naturlich auch 
der Cult und also die Civilisation. Ja, er erklärt gradezu, 
dass die bedeutendsten Lehren der Philosophen, wie die 
Unsterblichkeit der Seele und die Metempsychose von 
den griechischen Gelehrten aus Aegypten entlehnt sei. 
Und er findet das Benehmen dieser grossen Männer un- 
würdig, weil sie fremde Weisheit als eigene ausgaben, 
nnd er enthält sich darum kaum, die Namen dieser 
Gelehrten an den Pranger zu stellen. Ohne Weiteres 
hat man dabei an Pythagoras gedacht und mit Recht; 
ob aber der Plural**) bei Herodot damit erschöpft ist, 
wäre die Frage. Man dürfte vielleicht auch an Hera- 
klit denken, welcher, wie wir sehen, in dieser Lehre 
durchaus ägyptisirt , ohne seine Lehimeister namhaft zu 
machen. Wie nach Herodot's Ueberzeugung auch die 
hervorragenden Dichter sich in Besitz der ägyptischen 
Weisheit setzten, sieht man an der Stelle***), wo er 
erklärt, dass Aeschylus, Euphorion's Sohn, jene trotzi- 
gen Worte : „ Dies sage ich, ich allein gegen alle früher 
gewesenen Dichter" (nämlich, die Artemis sei eine Toch- 
ter der Demeter), nur desshalb hätte wagen können, weil 
er die ägyptische Theologie sich aneignete, wonach Apollo 



*) Herod. H, 50. I^i^oy &k xal ndvta rd ovvofjiaxa r(dv 
S-eiSv i^ Aiyvnxov iXijXv&e ig ttjy 'EXXada. 

**) Ibid. n, 123. TOüT^ r^ Xoyto eiai oV "EXXnvtov ixQn- 
üavto, ol fJLhv TiQoxeQov, ol 6h vategov, eJ; id((i> itovrtoy 
ioVTi' T(ov iy(o eidtog t« ovvofjiaxa ov ygäfpo). 

***) Ibid. II, 156. sx zovtov dk tov Xoyov xal ovdevog SXXov 
JiaxvXog 6 Ev(poQC(ovog riqnaa^ to iyto (pgccaa) , fjLovvog dt) noitj» 
rifov, inoCijas yng ^Agt6f4iv eivai &vyaTeQa JrjfjitiTQog. 



112 Herakleitos als Theolog. 

und Artemis die Kinder von Dionysus und Isis seien, 
Isis aber Demeter. 

Auf ägyptische Priesterweisheit gestützt, wagten 
desshalb sowohl Herodot als die Früheren sogar die Au- 
torität Homer's aufzugeben, der ebenso wie Hesiod 
als verhältnissmässig jung und unerfahren erscheinen 
musste, wenn man die riesigen Zahlen in's Auge fasste, 
nach denen die Aegypter ihre Regenten und die Tra- 
dition ihrer Götter berechnen konnten. Darum ver¥mrft 
Herodot unter Anderem die Homerische Erzählung über 
die Helena und schliesst sich der ägyptischen an, in- 
dem er rationalistisch die ünwahrscheinlichkeiten her- 
vorhebt, dass die Troer die Helena nicht sollten aus- 
geliefert haben u. s. w.*). Und wie der Scholiast meint, 
folgt auch Euripides, von Homer sich emancipirend, 
in seiner Tragödie „Helena" der von Herodot über- 
lieferten ägyptischen Auffassung. Wenn daher auch 
Heraklit über Homer losfahrt, so kann man dies um 
so leichter begreifen, wenn man bedenkt,- dass dem Ho- 
mer durch die bekannt gewordene uralte ägyptische 
Weisheit der Nimbus des Alterthums schon entzogen 
war, so dass seine Dichtungen nun auf persönliche Er- 
findung und willkürliche Entstellung zurückgeführt wer- 
den konnten. 

Xenophanes und die ägryptische Theologrie. 

Wenn man Plutarch's Bericht, der den Sinn ägyp- 
tischer Weisheit, wie Brugsch behauptet, im Ganzen 
treu wiedergiebt, beachten will, so müsste man wohl 
glauben, Xenophanes sei ebenfalls ägyptischen Ein- 
flüssen nicht fremd geblieben. Denn die Stelle Theo- 



*) Herod. II, 120. Tavra fisv Aiyvnxitov ol Igisg sXeyov 
räde iniXeyofdeyog xxX, 



Erstes Kapitel. 113 

doret's, wonach Xenophanes sich über die ägyptischen 
Götterbilder lustig macht, beweist zwar bloss, dass ihm 
eine oberflächliche Bekanntschaft des ägyptischen Volks- 
glaubens nicht fehlte *) ; die berühmte Stelle bei Aristo- 
teles**) aber (wonach Xenophanes den Eleaten den Eath 
giebt, entweder die Leukothea nicht zu beweinen, wenn 
sie dieselbe nämlich für eine Gottheit hielten, oder ihr 
nicht zu opfern, wenn sie dieselbe für einen Menschen 
hielten), erinnert doppelt an Aegypten. Erstens nämlich 
soll nach Plutarch***) Xenophanes dies den Aegyptem 
gesagt haben , auf deren Cultus die Worte schlagend passen, 
und zweitens könnte der Eath des Xenophanes sehr gut auch 
wieder auf ägyptische Weisheit zurückgeführt werden; denn 
Plutarch berichtet f), dass die Bewohner von Thebais 
keinen Sterblichen für einen Gott hielten, sondern von 
ihrem Gott, den sie Kneph nennen, glaubten, er sei 
unentstanden und unsterblich, wesshalb sie keine Ab- 
gabe an die Tempel für die Bestattung der Götter zah- 
len wollten. Dass diese Betrachtungsweise und ihre 
Veranlassung genau der Xenophanischen Anekdote ent- 
spricht, liegt auf der Hand. Da nun Heraklit ein 
Gegner des Eationalismus von Xenophanes war und 
seinen Helios täglich sterben und geboren werden liess, 
wie die Aegypter ihren Horus; so könnte man auch 



*) Theodoret. Graec. affect. cur. III, 780 und 49 Sylb. xal 
Aiyvmiovg toaavtfas avtovg (sc. tovg dtovg) diu/AOQtpovv riQog 
tt]y oixeiay fJLOQtp^v. 

**) Rhetor. U, 23, p. 1400 b, 5. 

***) De Isid. et Osir. 70 fin. 

t) De Isid. et Osir. 21. elg dh tag rafpag — — rovg fxev 
ciXXovg avvT6tay/4Sva teXslv, fjLovovg dh fJLti didovai rovg ©tjßatdfc 
xaToixovvrag , cSg -d-ytirov &e6y ovdeva yofAl^oVTSg ^ dXXd oy 
xcckovai avTol Kvi^(p, dy svvrirov oyja xal dS-dyaroy, Vergl. 
ineiüc Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 609. 

Teichmüller, Zur Gesch. der Begriffe. O 



114 Hcrakloitos als Theolog. 

hier Kinflttsso der ägyptischen Weltanschauung ver- 
niuthon. Damit stimmt denn auch genau die von Ari- 
ötotolüs vorspottote Metaphysik des Xenophanes, welcher 
auf den ganzen Himmel hinblickend sagte, dies Ali sei 
KiuH und m Gott und weder entstanden, noch vergäng- 
lich, weil oö sei; denn in Sais auf dem Heiligthura der 
Athene oder Isis standen ja auch die Worte: „Ich bin 
Alles, was gewesen ist, und was ist, und was sein wird, 
und meinen Sohleier hat noch kein Sterblicher gelüftet." 
Don ersten Gott setzten die Aegypter überhaupt als 
identisch mit dem All und hielten ihn für unsichtbar 
und vorborgen, was wieder mit dem Skepticismus des 
Xenophanes und mit seiner rationalistischen Bekämpfung 
der Volksgötter im Einklang steht*). 

Parmenides und die ägyptische Theologie. 

Auch die wunderbare Lehre des Parmenides von 
der intelligiblen Welt, die mit dem Denken erkannt 
wird und damit eins ist, im Gegensatz zu der ei*scheineu- 
den Welt, die mit den Sinnen und der Meinung erfasst 
wird, darf man doch nicht plötzlich ohne alle Ver- 
anlassung entstanden glauben. Sie aus Indien zu er- 
klären, würde zu willkürlich sein, da die historische 
Vermittlung weniger einleuchtet. Wenn man aber auf 
die Aegypter zurückgeht, so wird uns die acht griechi- 
sche Speculation des Parmenides gleichwohl sehr ver- 
ständlich; denn das Charakteristische der ägyptischen 



*) Ueber die Metaphysik des Xenophanes habe ich ausführlich 
in dem angegebenen Buche gehandelt. ^Hier vergl. man Plutarch 
1. 1. 9. ro cf' iy 2ci6i r^g U-d-rjväg^ ^V xai ^av vofjLll^ovaiv y edog ini" 
yQatprfV et/€ joiavrriv „ iyat eifu näv ro yeyovog xai ov xai iao^ 
f^evov, xal rov ifiöv ninXov ovdsig nm ^yijrog dnBxaXv\pBv. — 
cfio tov 71Q(Stov ^£oV, 6V TW Tiavtl röy avrov vofxl^ovaiv , (og 
dfpay^ xal xsxgvfzfjievov oyju, xtX, 



Erstes Kapitel, 



115 



Theologie ist der Gegensatz zwisclien dem yoltsglauben 
und der Geheimlelire, Der erstere ist polytheistisch, 
verknflpft die Gotter mit den Elementen hylozoiatiach 
und dreht sich um Entstehen und Vergehen der erschei- 
nenden Dinge. Die Geheimlehre aber ist pantheiatisch 
und monistisch und vereinigt mit dem unsichtbaren 
Einzigen zugleich das Wesen des Menschen. Wenn man 
diese ägyptischen Vorstellungen voraussetzt und dab'ei 
an die verschiedenen religiösen Parteien der 
Äegypter, wie eben angedeutet, denkt, so wird uns sowohl 
Xenophanea als Heraklit und Parmenides sehr verständ- 
lich ; denn obgleich diese als ächte Hellenen philosophir- 
ten und zuerst den bei den Aegyptern unbe- 
kannten Weg des wissenschaftlichen Denkens 
fanden, da sie nicht als Gläubige in die Religion des 
Tum und Ptah und Osiris eingeweiht wurden, so könnte 
ihre Speculation doch nicht wohl verstanden werden, 
wenn man ihnen nicht solche Veranlassungen voran- 
schickte. Wie es allgemein angenommen ist, daas die 
Griechen ihre erste mathematische und astronomische 
Bildung den Aegyptern und Babyloniern verdankten, so 
sollte man ea doch höchst unnatürlich und gegen alle 
Analogie finden, wenn sie gegen die so mächtig in die 
Augen fallende ägyptische Mythologie und Theologie 
blind gewesen wären. Ein Grieche wird nicht leicht 
ägyptisch fiihlen und denken ; aber er wird mit seiner 
unbefangenen Wissbegierde erkennen und sich aneignen 
und dann zwar seine eigenen Wege verfolgen, aber 
doch mehr noch von dem Erkundeten als treibendes 
Motiv in sich behalten, als er selbst zugestehen möchte, 
und so verstehen sieb die Vorwürfe Herodot's, und so 
finden wir den ägyptischen Gegensatz zwischen Glauben 
und Wahrheit durch die ganze griechische Philosophie 
beibehalten; denn der Skepticismus des Xenophanes 
ist davon ebenso getr^en, wie der myatische Standpunkt 



116 TTerakleitos als Theolog. 

des Heraklit, der die Geheimlehre mit dem Volks- 
glauben in gewissem Sinne ausgleicht, indem er das 
Eine selbst in den Process des Werdens hineinziclit 
und seine sinnliche Erkennbarkeit im Feuer annimmt, 
ebenso der erneute Dualismus und Skepticismus des 
Parmenides, der das intelligible Eine wieder von der 
sinnlichen Erscheinung ganz scheidet und die Verbin* 
düng abbricht, und ebenso Plato, dessen Philosophie 
ganz auf diesem selbigen Gegensatz und seiner Ver- 
mittlung beruht, und ebenso der grosse Schüler des 
Plato, Aristoteles, der die Sinnen weit (aia&r^Toy) 
durch die Bewegung hindurch zur Entelechie in der in- 
telligiblen Welt {yor^rov) gelangen lässt. 

Religion and Philosophie. 

Die christliche Philosophie entwickelte sich ebenso 
bis zu unserer Zeit hin an den Problemen, die der reli- 
giöse Glaube darbot; aber die Analogie mit der Ent- 
wicklung der hellenischen Philosophie ist doch nicht 
ganz ohne Einschränkungen zuzugeben; denn bei den 
christlichen Philosophen, den patres ecclesiae, war die 
Religion die mächtige Grundlage des Gemüthslebens, 
während die philosophischen Antriebe aus dem Heiden- 
thum, aus den Philosophenschulen entlehnt wurden ; bei 
den Griechen aber scheint die ausgebildete Theologie 
eines fremden Volkes die erste Quelle der Einsicht und 
Besinnung gewesen zu sein, während sie an die poly- 
theistische, nationale Religion, die ausserdem zu keiner 
eigentlichen Theologie fortgeschritten war, weniger gut 
anknüpfen konnten. Die philosophischen Antriebe aber 
lagen in dem wissenschaftlichen Genius der Hellenen 
selbst, und so mussten die Begriffe erst allmählich ge- 
schaffen werden, die von den ersten philosophirenden 
Christen schon als fertige Formen gebraucht werden 



Erstes Kapitel. 117 

konnten. Es scheint mir aber gewiss zu sein, 
dass sich nirgends in der Welt Philosophie 
entwickelt hat ohne Voraussetzung der Re- 
ligion. In der Religion werden die philosophischen 
Ideen erzeugt, nachher erst kommt die Zeit der Be- 
griffe, und die Philosophen als Vertreter der Begriffe 
werden daher wegen der mythologischen Darstellung der 
Ideen entweder mit der Religion in Kampf treten oder 
in dem poetischen Gewände der Ideen doch die Grund- 
formen der Begriffe wiedererkennen und die Religion 
desshalb hochhalten. 



Heraklit und ägyptische Theologie. 

Durch diese Erwägungen werden wir nun, wie ich 
denke, zu dem Schlüsse berechtigt, dass die Annahme 
einer Bekanntschaft Heraklit's mit ägyptischen Lehren 
natürlich und wahrscheinlich ist, ja dass die entgegen- 
gesetzte Voraussetzung vielmehr unglaublich und viel 
wunderbarer wäre, als wenn ein moderner Hindugelehr- 
ter keine Kunde von der Religion der Engländer besässe. 
Eine solche Voraussetzung für Heraklit müsste als be- 
rechtigt erst erwiesen werden. Wenn wir nun viele 
auffallende Uebereinstimmungen zwischen Heraklitischer 
und ägyptischer Weisheit antreffen, so ist von vornherein 
die Wahrscheinlichkeit grösser, dass hier kein Zufall, 
sondern ein historischer Zusammenhang im Spiele war. 
Man kann aber kaum jemals genug skeptisch sein, und 
so halte ich auch hier eine Erklärung Heraklit's durch 
ägyptische Weisheit nur für eine erlaubte Hypothese; 
denn da die Hellenen sich mit dem alten Stammgute 
indogermanischen Glaubens nicht begnügten , sondern 
wie wohl alle Völker ohne Ausnahme, auch 
fremde Götter iraportirten und viele Elemente 
ihrer Mythologie und ihres Cultus von den Aegyptem 



118 Herakleitos als Theolog. 

oder überhaupt von den Barbaren*) empfingen und die- 
selben hellenisirten, so konnte Heraklit auch recht gut 
ohne directe Rücksicht auf die „Zungen"**) des Todten- 
buchs bloss wegen seiner Familiarität mit dem Ephesi- 
schen Heiligthum die Lehren vorgetragen haben, deren 
ägyptischer Charakter in die Augen föllt. 

Frühere Meinungen Über diese Frage und Feststellung der 

Kriterien. 

Orientalische Einflüsse hat man aber von jeher bei 
Heraklit gesucht und geglaubt. Der erste, der meines 
Wissens an einen Zusammenhang der Heraklitischen 
Lehre mit der ägyptischen Theologie erinnerte, war 
Plutarch***). Einige, wie z. B. Schuster, haben 
aber bei Plutarch eine Zurückführung auf die Religion 
Zoroaster's finden wollen. Schleiermacher bezeich- 
net die Beziehung zum Parsismus als eine offene und un- 
erledigte Frage. Creuzer und Andere traten dafür 
ein. Am eifrigsten aber hat Gladisch sich dafür 
erklärt und seine Gründe sind noch nicht widerlegt; 
denn die Einwendungen Zeller'sf) würden wohl ge- 



*) So sagt H. Geizer (Lepsius' Aegypt. Zeitschr. 1875, S. 128) : 
„AUe Versuche der Neueren, eine pelasgische oder griechische 
Aphrodite heraus zu construiren, Nachwirkungen des Aberglau- 
bens von der 'EXXug fjiv^orvxog, müssen definitiv aufgegeben 

werden." 

**) Die Erklärungen des Todtenbuchs beginnen immer mit 
dem Bilde einer Zunge, welche Xoyog bedeutet. 

***) De Is. et Os. c. 27 (ed. Parthey). Bei Gelegenheit des 
Sarapis und seiner Zurückführung auf Osiris und Pluton und 
Dionysus führt Plutarch Heraklit's "Ji&rjg xal Mvvaog (ovrdg an 
als Bestätigung. Ebenso erklärt er dies sehr gut c. 79, p. 139 
ibid. Ebenso kann c. 48, p. 85 sehr wohl auf die ägyptische 
Theologie bezogen werden. 

t) PhU. d. Gr., S. 603. 



Erstes Kapitel. 



119 



nügen, die Hypothese zu zerstören, die aber weder von 
Gladisch, noch von aonat Jemand aufgestellt ist, uämlicli 
dass Heraklit nichts als Zoroaatrische Lehren vorgetragen 
habe. Wenn mau aber zugiebt, daas Heraklit ein grie- 
chischer Philosoph war, so beweisen sie nichts; denn 
dass ein solcher, auch wenn er die Anregungen für sein 
Denken hauptsächlich dem Culte der in Jonien obherr- 
sehenden Perser verdanit hätte, doch auch selbständig 
diese Anregungen weiter verarbeiten konnte und niusste, 
versteht sich von selbst. Es bleibt also die von Gladisch 
aufgewiesene Analogie stehen. 

Viel zutreffender urtheitt Schuster*). Er meint, 
dass immer, wenn eine Anknüpfung der occidentalischeu 
Speculation an den Orient versucht werden soll, der 
Blick sich mit auf Heraklit richtet, „und zwar sind 
es die Medo-Perser, welche, nach allem zu urtheilen, auf 
ihn von Einfluß gewesen sein müssten, wenn überhaupt 
ein solcher von uichtgriecbischer Seite stattfand. An 
sich wäre dies nun gar kein Ding der Unmöglichkeit 
oder auch nur der Unwabrscheinlichkeit. Denn die Zeit 
Heraklit's föUt fast genau zusammen mit der Dauer der 
ersten persischen Herrschaft über Ephesus vom Jahr 
545 — 479 und — — es wäre nicht undenkbar, dass 
neben der politischen auch eine geistige Abhängigkeit 
von den Fremden Platz gegriffen hätte." „Hat Ephesus 
doch von den Lydern, als diese noch Herren waren, den 
Dienst seiner Artemis übernommen; warum sollte es 
also spröder sein g^en die alfcbaktrische Weisheit der 
Magier?" Obgleich also Schuster die Möglichkeit zu- 
giebt, so verlangt er doch für den Beweis der Wirklich- 
keit mehr als „eine Aehnlichkeit in den allgemeinsten 
Zügen", wohin man „von den verschiedensten ßichtungen 
aus gelangen kann". Von dem aber, was Schuster als 



•) A. a. 0. £ 



120 Herakleitoa als Tbeolog. 

Beweis fordert, oetiine ich jedoch das erate StAck nicht 
an. Er sagt; „Das Beweisende ist hier vor allem der 
ganze methodische Gang, den die Betrachtung 
nimmt." Wie kann man solche Bedingung stellen? 
Hat die Mythologie einen methodischen Gang? Die 
Abhängigkeit einer Philosophie von theologiachen Vor- 
aussetzungen wird am Wenigsten die Methode treffen. 
Wir müssen daher eine andere Forderung stellen ; der Philo- 
soph , welcher unter der Macht der Mythologie steht, 
muss nämlich immer noch neben und über den welt- 
lichen Erkenntnissquellen eine Offenbarung einräu- 
men. Das zweite Stück dagegen ist Schoster ohne Be- 
dingung zuzugestehen. Er fordert nämlich sehr scharf- 
sinnig „von Einzelnheiten absonderliche Ausdrücke 
und Gedanken, die schwer mit dem Einheimischen 
zu reimen sind, dagegen leicht in deni Fremden ihre 
Erklärung finden". Das sind in der That sichere In- 
dicien, und so kann man denn drei Forderungen an den 
Beweis stellen, erstens die allgemeine Uebereinstimmung 
der Gedanken, zweitens die Anerkennung einer die Er- 
&hrung und gemeine Vernunft überschreitenden Offen- 
barung, und drittens absonderliche Einzelheiten, die sich 
aus der fremden Mythologie erklären lassen. 

Wenn man nach diesen Kriterien die Arbeit von 
Gladisch prüft, so sieht man, daas er nur die erst-e 
Forderung berücksichtigt, und es ist ihm allerdings ge- 
lungen, zu zeigen, dass der iillgemeine und beständig 
fortfliessende Kampf der Lichtwelt mit der Welt des 
Dunkels als Entzweiung des Guten und Bösen im Gan- 
zen bei den Persern und Heraklit bedeutsam hervor- 
treten. Das Schlimme für Gladisch aber ist, dass hierin 
fast alle Mythologien übereinstimmen, und es erfordert 
wahrlich keine Möhe, mit denselben Mitteln zu bew^ 
sen, dass Heraklit in Abhängigkeit siohe von der I 
wegen des Kampfes der Aseu mit Loki und £ 




Erstes Kapitel. 121 

wegen des Weltbrandes und Balduf s Tod und wegen 
der Bunen, die dem Heraklitischen Xoyog entsprechen, 
u. s. w. Ebenso könnte man sehr leicht die Abhängig- 
keit von der Hindu- Weisheit und von dem Todtenbuch 
der Aegypter zeigen. Kurz es giebt wohl keine Mytho- 
logie, die nicht in einigen Zügen mit der Heraklitischen 
Weltauffassung übereinstimmt. Was dagegen die beiden 
andern Forderungen betrifift, die eben das Speciellere 
enthalten, so liefert Gladisch nichts Haltbares; ja man 
kann umgekehrt sagen, dass sich gmde Spuren zeigen, 
die dem Parsismus entschieden fremd sind. Denn z. B. 
die bedeutsam bei den Persern hervortretenden Wagen 
und Pferde der Gestirne fehlen gänzlich bei Heraklit, 
bei dem die Gestirne mit Nachen {axaq)ai) zusammen- 
hängen und also schiffen. Diese Vorstellungsweise ist 
grundverschieden von der Persischen. 

Meine Aufgabe* 

Ich will nun in dem Folgenden versuchen, in Rück- 
sicht auf die drei angegebenen Kriterien, die auffallende 
Uebereinstimmung Heraklit's mit der ägyptischen Welt- 
anschauung zu zeigen , wobei ich es jedoch durchaus 
dahingestellt sein lasse, ob Heraklit direct von dem 
Todtenbuche und den Denkmälern der Aegypter ausging, 
oder ob er bloss von denjenigen Bestandtheilen der 
hellenischen Geheimlehren besonders ergriffen 
wurde, welche am Nächsten mit Aegypten zusammenzu- 
hängen scheinen. Dass er nicht ägyptische Namen braucht 
und seine Quellen weiter nicht angiebt, darf aber nicht 
als Gegenzeugniss betrachtet werden, da Herodot dies ja 
als gemeinsamen Fehler der griechischen Gelehrten de- 
nuncirt, dass sie, wie Pythagoras und Aeschylus, die 
fremde Weisheit als eigene vorgetragen hätten. Damit 
ich nicht missverstanden werde, will ich nochmals her- 
vorheben, dass ich durch die in dem Folgenden ausge- 



122 Henkkitofl als Tbcolog. 

fBhrten Analogien nicht glaube, Heraklit als Schäler 
der ägyptischen Priester erkannt zu haben, sondern dass 
ich es nur fnr sehr interessant halte, diese üeberein- 
stimmang sich vor Aogen zu stellen. Andere werden 
dnrch diese Gesichtspunkte vielleicht zu weitergehenden 
Forschungen angetrieben und sind dann möglicher Weise 
im Stande, alle die angeführten homologen mythischen 
Glieder dieser Gleichung auf hellenische Mystik zu- 
rückzuführen. Jedenfalls aber wird das stehen bleiben, 
dass Heraklit, da er kein eigentlicher exacter Natur- 
forscher war, sich mehr als fast alle die andern Philo- 
sophen an die Offenbarungen der alten Theologie an- 
gelehnt hat. 



Zweites Kapitel. 

Die Offenbarung als Erkenntnissquelle. 



Das Erste, was wir festzustellen haben, ist die An- 
erkennung einer Erkenntnissquelle, die über die Sinne 
und die Vernunft hinausgeht. Wenn Heraklit bloss der 
Erfahrung und dem Eäsonnement Achtung erwiesen 
hätte, so wäre wenig Aussicht, bei ihm eine Vertiefung 
in die religiösen Geheimlehren zu finden. Darum wird 
es Niemand in den Sinn kommen, z. B. bei Aristoteles 
dergleichen zu suchen, da dieser in seinen Analytiken, 
wie Kant, das ganze Erkenntnissvermögen ausgemessen 
und alle unmittelbaren und mittelbaren Quellen der 
Erkenntniss aufgezeigt hat, ohne nur im Geringsten die 
Offenbarung dabei nöthig zu haben und ohne ihr irgend 
eine Stelle freizulassen, oder ihr irgend einen Werth 
zuzuerkennen ; ja er verhöhnt beinahe die Orakel, indem 
er meint, sie träfen die Wahrheit nur wegen ihrer 
Zweideutigkeit, die er als einen Kunstgriflf betrachtet, 
um ihre eigene Ohnmacht zu verbergen. Wenn Hera- 
klit also eine ähnliche Stellung zur Offenbarung ein- 
nähme, so wäre diese ganze Untersuchung müssig. 



124 Herakleitos als Theolog. 

Persönliche Lebensstellnngr. 

Zuerst ist nun die persönliche Lebensstellung Hera- 
klit's zu berücksichtigen, worüber Schuster am Aus- 
gezeichnetsten geforscht hat. Möge Heraklit selbst die 
Würde eines Priesterkönigs bekleidet haben oder 
nicht; jedenfalls war in seiner Familie diese Würde 
erblich, und wir lesen nirgends, dass er sich in Gegen- 
satz gegen die göttliche Autorität des alten Heiligthums 
von Ephesus gestellt habe. Vielmehr erscheint seine ganze 
aristokratische Stellung nicht als die des Junkerthums, 
wie bei Theognis, sondern als von einer prophetischen 
Hoheit und Weisheit getragen. Und es ist bezeichnend 
genug, dass er sein philosophisches Werk, das „Buch 
des Lebens" oder „der Weltnatur" in dem Tempel der 
Artemis niederlegte, was doch unmöglich gewesen wäre, 
wenn er damit nach Schuster's Meinung die Autorität 
der göttlichen Offenbarung hätte bestreiten und allein 
die Eechte der empirischen Methode anerkennen wollen. 
Vielmehr ist diese Thatsache vielleicht ohne zu gi'össe 
Kühnheit in die Eeihe anderer und grösserer zu stellen, 
wie z. B. dass die heiligen Bücher des Gesetzes im 
Tempel zu Jerusalem aufbewahrt und von hervorragen- 
den Priestern gedeutet und vermehrt wurden*). Aus- 



*) Man darf nicht meinen, er habe sein Buch bloss in den Depo- 
sitenschrank des Tempels gegeben ; wenigstens steht nichts davon in 
der Ueberlieferung, die von dvaSr^fxa und nicht von TiaQay.aTad-tjxfj 
spricht. Ein Buch wird auch in der Eegel zur Veröffent- 
lichung geschrieben; darum scheint es mir natürlicher, anzu- 
nehmen, er habe es dem Heiligthum geweiht, um es nicht für 
jeden zugänglich zu machen, sondern nur für Eingeweihte 
und Schüler und mit Erlaubniss der Priester, weil seine phy- 
siologische Auslegung der mystischen Theologie oder, was dasselbe 
ist, seine Theologisirung der Natur, wie die Alten dies bezeich- 
neten, von der grossen Mas.se miss verstanden und zur Irreligiosität 
benutzt werden musste. Sowohl sein Buch als die Mysterien 
mussten verächtlich werden, wenn diese seine Auslegung dem or- 



Zweites Kapitel. 125 

legung der göttlichen Ueberlieferung {&eiog 
Xoyog) oder Offenbarung schien sein Buch gleich 
nach den einleitenden Worten zu bezwecken, und so 
gehörte es als heilig und über den Verstand der 
Menge erhaben dem Heiligthum. So ist es auch be- 
greiflich, dass er selbst den Beinamen der gött- 
liche {&Hog) erhielt, dass der Kirchenvater Justin 
ihn mit Sokrates, Abraham und Elias zusammen- 



dinären Verstand preisgegeben wurde. In demselben Sinne wahr- 
ten auch die ägyptischen Priester ihre mysteriöse pantheistische 
Auslegung der Volkstheologie, wie dies von dem genialen Ebera 
in der „ Uarda " so anschaulich dargestellt ist, und ähnlich war bei 
den Griechen die Sorge vor Profanation der Mysterien und bei den 
Pythagoreern der Bann gegen die Verräther der Geheimlehre. Dies 
scheint mir auch Diog. Laert. IX, 6 richtig zu überliefern: «Vt- 
^rjxs de avTo (to ßißkCov) eig ro t'^g ^Jgräfjiidog legoy ' cos fitp 
TLveg, iniTijdevoag dacKpkaxsQoy ygatpai,^ öntag oi dvydfjieyoi, ngo^ 
aloiev avTip , xal f^rj ix rov &ijfji(ü&ovg evxcttccgjgoytjTov 5. Ich 
halte es darum nicht für zu gewagt, an den Hohenpriester Chel- 
kias unter dem König Josia und an Zantpav zdv ygafAfiaria zu 
erinnern, der das im Heiligthum wiedergefundene oder neu um- 
gearbeitete Gesetz auslegte; denn Heraklit gehörte als Priester- 
könig zum Heiligthum, und ihm oder seinem Bruder war die Pflege 
desselben anvertraut, wie er auch vom Volke zum Gesetzgeber 
verlangt sein soll. — Den Heraklitischen Standpunkt der tcniarlij 
äyad-ijf gemäss welcher man müsse xgvnrsiy rd trig yytoaecjg 
ßä^tj, exponirt sehr gut Proclus (in Parm. 134): noXXä ydg iy 
ctnoggriToig xgvntofAev^ iv roig T^ff \pv;^fjg egxeoiy avzcc tpgovgely 
i^eXovTeg ' ovie öaa dicc koyov ngotpegofjii^a , ygufx^aai, naga- 
didof4€Vj dkXd ydg xard fxvi^fjiriv dygdtptag atoJ^eadai, ßovXöfxed-a — 
ovie öaa ygilcpofjisv, ravta elg ndvrag dxgCimg ix<p^gofji6y, dXX' 
eig Tovg d^iovg rijg tovtfov fÄezovalag xrX, Dies ist nicht neu- 
platonische Geheimnisskrämerei , sondern genau angemessen der 
ächten platonischen Forderung, wie Plato dies überall geltend 
macht. Und in gewissem Sinne ist dies noch heute richtig und 
üblich, wenn auch wegen des öffentlichen Charakters unserer Bil- 
dungsanstalten in abgeschwächter Strenge. Unsere Universitäten 
kämpfen rait Eecht dagegen, ohne Auswahl (ixXoytj) Jodermann 
zuzulassen und verlangen Zeugnisse über sittliche Führung und 
genügende Vorbildung. 



126 Hemkldtoe als Theolog. 

stellt, ibn als einen Christen vor Christas des göttlichen 
Logos theilhafkig macht und dass sein Bnch b esonders in 
der Zeit derönostiker die grösste Verehrung 
genoss, wo man versuchte, Offenbarung und Speculation 
ohne Eücksicht auf die empirische Wissenschaft zu ver- 
quicken, indem man nur, wie Heraklit, höchstens die täg- 
liche Erfahrung des gesunden Menschenverstandes benutzte, 
der sich mit den Heimlichkeiten der Mythologie sehr 
gut verträgt, während die tiefer gehende Naturforschung 
gewöhnlich gleich in Streit mit dem herrschenden Offen- 
barungsglauben geräth. 

Die SibyUe. 

Die Frage, welche Sibylle Heraklit bei seinem be- 
rühmten Ausspruch im Auge hatte, ob die Pythia oder 
die Cumäische oder Erythräische oder vielleicht eine 
Ephesische*), lasse ich hier bei Seite. Uns muss vor 
Allem die Thatsache interessiren , dass er die Sibylle 
verherrlicht. Er sagt: „ Die Sibylle aber, mit rasendem 
Munde nicht Menschenwitz und nichts Ausgeschmücktes 
und Salbenduftendes hervortönend, reicht über Tausende 
von Jahren hinaus mit ihrer Stimme durch den Gott." **) 



*) Nicolaus Dainasc. Fr. 66, p. 64, 7 Bind.; vergL die ein- 
gehenden üeberlegungen von Schuster a. a. 0. S. 373 ff. Mir 
scheint, wenn man meine Neue Stud. I, S. 71 vergleicht, durch 
die Betrachtungen Plutarch's zunächst an die Pythia erinnert zu 
werden. Doch sind Schuster's Zweifel sehr sachlich und be- 
achtenswerth. 

**) Plutarch de Pyth. orac. c. 6. I^ßvXXa ^k fAUivofxivt^ axo- 
f^azi xad-* 'HgdxXeiTov dyeXaaia xai axaXXionioTa xal ccfÄVQiara 
(pd-tyyofi^vij Xi>Xl(av iraiy i^ixyetzai tj tpcDvg &id rbv S-eoy 
Schuster übersetzt: „Die Sibylla aber, die mit stammelndem- 
Munde ihre unwitzigen, ungeschminkten und ungesalbten Sprüche 
redet, reicht über ein Jahrtausend hinaus mit ihrer Stimme, weil 
der Gott aus ihr spricht." Die Ausdrücke „unwitzig und unge- 
salbt" sind tadelnd; „ungeschminkt" aber ist lobend. Dadurch 
wird aber die Auffassung etwas unsicher; denn Heraklit will die 



Zweitee Kapitel. 



127 



Diese Aeuasermig Heraklit's bat den Werth einer ganzeu 
Theorie; denn aie enthält kurz die Gmndzüge der In- 
spirationslehre. Die Wahrheit , welche von der 
Sihjlle verkündet wird, aoll nicht aus menschlicher 
Weisheit stammen ; denn ihr Mund ist rasend. An 
diese Auffassung schliesst sich später Plato an, ura die 
göttliche loapiration der wahren Seher und Dichter zu 
fordern; ebenso die Theologen, um die Offenbarung aus 
der unmittelbaren Gegenwart der Gottheit abzuleiten. 
Unterstützt wird dieser Gedanke durch dit Kritik der 
Sibyllinischen Sprache, die alle Reize der Redekunst 
vernachlässigt und doch eine Kraft hat , welche alle 
Wirkungen der Kunst hinter sich läast. — Da nun 
Niemand diese Stelle Heraklit'a in Zweifel zieht, so 
haben wir darin ein festes Zeugniss für aeiue Anerken- 
nung der Offenbarung und eine Bestätigung iles theo- 
logischen Charaktera seiner Philosophie. 

Darum ist es nun auch natürlich, dass er g^en die 
empirische Gelehraamkeit dea Pythagoras, Xenophanes, 
Hekatäua und Hesiodus auftritt*); denn diese waren 
stolz auf ihre menschlichen Kenntnisse, die durch Rei- 
sen und Sammlung von Nachrichten und Erfahrungen 
und Mathematik erworben werden, während Heraklit 
Vertiefung in das eigene Innere verlangt, wo der Gott 
sich offenbart. Darum s^t er, dass der menachliche 
Verstand keine Einsicht hat, sondern nur der gött- 
liche **)v und dasa der weiseste Mensch gegen Gott an 



Sibylle otlenbar von allen Beizen menschlicher Rhetorik entlileidon, 
um die Krait des Gottes Qachdiücklicher zn zeigen , der io dem 
Scliwacheo mächtig ist. — DasB die Theorie derTheapneuBtte 
wahiBcheinlicli auf Heraklit znrückgelit, habe ich schon (Nene 
Studien I, S. 71) angemerkt. 

•) Vergl. meine Nene Stud. I, S. 6. 

*•) EbendaB. S. 1G3. 



12S Herakleitos als Theolog. 

Weisheit nur wie ein Affe ist*), und dass der Mensch 
von Gott gelernt, wie das Kind vom Manne**). 

Credo ut intelligram. 

Darum wird auch sehr theologisch von ihm das 
Glauben und Hoffen empfohlen. „Wenn einer nicht 
glaubt, so wird er das Nichtgeglaubte nicht heraus- 
finden, da es ihm als unerforschlich und unzugänglich 
gilt.*'***) Man hat Heraklit zum Verehrer der leeren 
Hoffnung gemacht, da man VknriTai hier nicht als „ glau- 
ben", sondern als „hoffen" übersetzte. Allein das immer 
hoffende, optimistische Naturell war nicht Heraklit eigen 
und verdiente desshalb schwerlich sein Lob. Die Hoff- 
nung, welche nicht bloss Sache des Temperaments sein 
soll, ist aber immer vom Glauben getragen; wer 



*) Plat. Hippias maj. p. 289. öxi av^gointov 6 aocptatarog 
TiQog S-sSy nCd-rjxog tpavelTai, xai aotpüji xrX. 

**) Vergl. Neue Stud. I, S. 162. 

***) Clem. Alex. Strom. II, 437 Pott. «* toCvvy ^ nttnig ov- 
&€y aXXo ^ TiQoKrixfjig iatt diavoCag 716qI t« Xeyofieva , xal 
TOVTO imaxoij re fXQrjtcci avvialg xe 7i6i>^(o , ov firjy fzaO^tj' 
aexai xtg ay^v nioxstog, inel fAijdk ccyev nQoXtjxjjsoDg. aXij^hs 
<f' ovv ov n«yjcng fmXXov dnodsixyvxm xd vno xov ngotpr^rov 
BiQfifxivov (Jes. 7, 9) „««y (xri jnaxevatße , ov^k fx^ ovyrixe". 
xovxo xal 'HgdxXeixog ö *E(piaiog xd Xoyioy naQafpQaaag eXQt^xey ' 
idy fArl eXnriTM, dyeXniaxoy ovx i^tvQtjaeiy dys^tqevvrixov iov xai 
linoQoy. Die letzten Worte könnten entweder mit Schuster 
„da es ohnedem unauffindbar und unzugänglich ist^' übersetzt 
und also auf die Natur der Wahrheit an sich bezogen werden, 
wesshalb Seh. auch hinzufügt: „Das einzige, was nach oben erhält 
in diesem Meer des Irrthums, ist sonach die Hofihung '' ; oder man 
könnte sie, was ich vorziehe, auf a'yiXniaxoy beziehen und in die- 
sem Participialsatz die Aetiologie sehen; denn was man nicht 
glaubt, das gilt uns auch als unzugänglich und ungeeignet zur 
Erforschung, und man wird keine Mühe daran wenden. Wer z. B. 
an die Gotteskraft der Sibylle nicht glaubt, wird sich nicht be- 
mühen, den Sinn ihrer Sprüche zu erforschen. 



Zweites Kapitel. 12d 

glaubt, hofft; wer zweifelt, verliert die Hoffnung. Darum 
heisst iknead^ai auch annehmen und glauben, da dieser 
Gemüthszustand die Grundlage des Hoffens bildet*). 
Ich sehe desshalb in dieser Stelle Heraklit's ungefähr 
den Augustinischen Gedanken des credo ut intelligam 
und finde es darum sehr natürlich, dass Clemens, der 
das Fragment überliefert und im Zusammenhange ge- 
lesen hat**), an die Worte des Propheten Jesaias er- 
innert, die von Heraklit bloss paraphrasirt sein sollen. 
Ebenso fasst auch Theodoret den Sinn dieser Worte auf, 
da er sie zum Beweise citirt, dass auch Heraklit auf- 
gefordert habe, sich vom Glauben {nlang) fuhren zu 
lassen in die Erkenntniss***). 

Die änigrmatische Sprache. 

Mit dem theologischen Charakter Heraklit's hängt 
nun wohl auch seine berühmte Dunkelheit zusammen, und 
man streitet ja noch immer, ob er dunkel aus Absicht 
oder aus Ungeschickt) war. Dass er an manchen Stellen 



*) Z. B. in dem Ausspruch der Pythia hei Herodot I, 65: 
*A}X hl xal fxäXXov S-edy iXnofXtti, (S Avxoogye. 

**) Dass Clemens noch das ganze Buch vor sich hatte, hält 
auch Schuster für gewiss. L. 1. p. 255. 

♦**) Theod. Graec. affect. cur. I, 716 Mign. Die ganze Auf- 
fassung desselben ist dem Geiste Heraklit's nicht fremd. Ich ci- 
tire die einleitenden Worte : Totg ydg äf^vi^oig naig av rig nQoae- 
piyxot, T« dsta naidev/^ccra; ndSg dk av fivijd-elrj rtc, ^ij rp nC- 
(TTf* xgctTvvag iv iccvrip td nagd t(ov didaaxdXtov nQofftpSQo- 
(xeva doyfittra; 

t) Zell er, Phil. d. Gr., 3. Aufl., S. 527: „Die Dunkelheit 
scheint vielmehr theils von der allgemeinen Schwierigkeit philo- 
sophischer Darstellungen für jene Zeit, theils von der individuellen 
Eigenthümlichkeit des Philosophen herzurühren, der seine tief- 
sinnigen Anschauungen in möglichst prägnante, grossentheils 
blffliche Ausdrücke fasste, weil ihm diese am meisten zusagten, 
und der dabei zu wortkarg und zu ungeübt im Satzbau war, 

Teichmüller, Zur Gesch. d. Begriffe. 9 



130 Herakleitos ab Theolog- 

seiiies Werkes die glänzendste Deutlichkeit erreichte, 
wird Tom Alterthum bezeugt ; und auch wir können nach 
den wenigen Fragmenten nur zugestehen, dasa er wie nur 
einer der Besten sich auszudrücken vormag. Wenn er 
deaahalb räthselhaft schrieb und die Beziehung der Satz- 
glieder oft nicht genug bezeichnete , so dürfen wir 
ihn nicht grade der „üugeübtheit" beschuldigen, son- 
dern müssen darin einen von Heraklit beabsichtigten 
Kunstcharakter erkennen, Heraklit will nicht filr 
den Pöbel schreiben. Er liebt , wie die aiebeu Weisen, 
die räthselhafte Sprache'*'), weil sie die tiefsinnige und 
geistreiche ist; von den Erfordernissen eines wisseu- 
schaftlichen Handbuchs bat er noch keine Ahnung. Sein 
Stil ist seine Natur und entspricht der Rede der Götter, 
die er bewundert und von der er, wie das Kind vom 
Manue, gelernt haben will. Sein Stil ist daher genau 
so, wie er ihn will und liebt, und er hat den Kunat- 
cbarakter darin deutlich erkannt und selbst bezeichnet. 
Der Kunst Charakter des Heraklitischen 
Stils ist dem Vorbild des Apollo angepasst, 
wie Heraklit seibat zu verstehen giebt: „Der König, 
dem das Orakel in Delphi gehört, erklärt nicht, noch 
verbirgt er, sondern deutet an,"**) So spricht auch 
Heraklit und verkündet gleich am Anfang seines Buches, 
dass die ewige Wahrheit, welche er lehrt, unverstanden 
sei, ehe man sie gehört, und unverstanden bliebe, nachdem 
man sie gehört; denn die Masse der Menschen komme 



am jene von Äiistutcleti bemerkte Unklarheit der Bjnt&ktiBclien 
Beziehung za vermeiden." — Wdt Hamann xu angeübt im Satzbau ? 
Ist die Dunkelheit und Räthaelhaftigkeit des Guetbc'achen Faust 
eine üngeöbtheit? 

•) Vgl. meine Stud. z. Geach. d. Begr., S. 672. 

•*) Fiat, de Pj-tb, orac. 21, lösiavai, oS id /tufjeiöy ^ffii'»o' 



I 



Zweites Kapitel. 



131 



mit barbarischen Seelen heran und habe taube Ohren 
und sei abwpsend trotz ihrer Anwesenheit. Darum dürfe 
man vor den unreinen Ohren nicht die tiefe Wahrheit 
enthüllen; denn sie würde missveratanden und miss- 
braucht. „ Die Tiefen der Erkenntnisa zu verbergen, 
ist gerechtes Missijauen." *) 

Es ist klar, dass eine solche vorsichtige Sprache lächer- 
lich wäre, wenn es sieb um nüchterne Naturwissenschaft 
handelte, um Meteorologie oder Medicin. Sie hat einzig und 
allein einen Sinn, wenn es sich um die Theologie handelt. 
Und darnm finden wir überall hei den Alten diese Vorsieht 
geübt und empfohlen. Wenn Herodot auf die Geheim- 
lebre der Aegypter kommt, legt er immer den Finger 
auf die Lippen; Pindar vertheidigt den tieferen Sinn 
der Mythen gegen die gemeine Auslegung; Aescbjlus 
sagt, man müsse, wenn man die gemeine Auslegung 
der Geheimlehre höre, ausspeien und den Mund reini- 
gen**); Plato verlangt überall Achtung vor der heiligen 
Ueheriieferung , verbietet den Atheismus und züchtigt 
alle rationalistische nnd skeptische Spötterei***), obwohl 
er lehrt, da^ allein in der Philosophie die Wahrheit 
acht erkannt werden könne ohne mythische Bilder, und 
obwohl er alle religiöse Autorität ablehnt als Kriterium 
der Erkenntniss. Denselben Standpunkt hält später Pro- 
clus+) wieder fest, nachdem inzwischen seit der Aristo- 
telischen Zeit die religiöse Autorität der Philosophie 
geschwunden war, 

Schuster hat daher entschieden Recht, wenn er in 



■•) Clem, Alex. Strom. V, 13, p. 699. äXiä jb fiir i^i yyiü- 
«luf ßiiSii xQÜinsii/ änunli^ äyaS-i xa»' 'B^äxitttov. 

**) Plnt. do Isid. et Ob., cap, 20. önamvaat ifel xal xoflij- 

•*•) Vgl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr., s. v. Atlieism. 
t) Vgl. oben 8. 125. 



132 Henkleitos als Theolog. 

Heraklit'3 Bache des Lebens einen theologischen Ab- 
schnitt annimmt*), aof den sich die Torsichtige Sprache 



*) Ich erlaube mir, ans der Arbeit Ton Schuster eine 
längere Betrachtung anzuführen, die toU der trefi^dsten Bemer- 
kungen ist und ihn, wenn er nicht das Yorurtheil Ton einem sen- 
sualistischen Heraklit vorher in sich befestigt hätte, wohl ebenso 
leicht auf den dem seinigen entgegengesetzten Weg hätte führen 
können, den ich hier anzudeuten, nicht Tollkommen zu entwickeln 
▼ersuche. Schuster wäre durch seine Studien über die Orphische 
Theogonie dazu besonders ausgerüstet gewesen und würde die Frage 
wohl yiel reicher haben ausbeuten können. Er schreibt S. 52 ff. : 
,, Freilich eine ausgebildete Theologie wird man auch dann, wenn 
man die Existenz eines theologischen Theils gelten 
lässt, nicht annehmen dürfen, sondern eben nur Beispiele aus dem 
Bereiche des Götterglaubens zu Gunsten des im Anfang aufge- 
stellten Satzes (?). Im Kratylus des Plato, in den^phy- 
siologischen Erklärungen der Götter, wie sie von 
Eleanthes und andern Stoikern überliefert sind, 
dürfte leicht ein Nachklang, wenn nicht gar eine 
directe Entlehnung des von Heraklit in diesem Theil 
Gegebenen zu sehen sein (!). Denn durch Etymologien der 
Göttemamen seine Lehre zu rechtfertigen und gegenüber feind- 
lichen Angriffen oder misstrauischer Zurückhaltung ihr einige Ver- 
breitung zu gewinnen, das scheint mir der Zweck, den Hera- 
klit mit seinem theologischen Theile verfolgte (?). Unerhört wäre 
das wenigstens nicht für seine Zeit. Schon in den beiden ältesten 
Theogonien des Hesiod und des Orpheus finden sich besonders im 
Eingang eine Menge Göttergestalten, die reine Gedankenbilder und 
halbphilosophische Begriffe sind; noch mehr tritt dies dann hervor 
bei Pherekydes und den andern Halbphilosophen und in der Orphi- 
schen Literatur, welche durch attische Pythagoreer wie Ono- 
makritus begründet wurde. Von dieser Art, neue Begriffe durch 
neue Götter zu hypostasiren , ist dann die Methode nicht wesent- 
lich verschieden, vermittelst deren man den alten Volksgöttem 
und Mythen einen modernen Inhalt gab, wie wenn die Pytha- 
goreer den ersten Cubus Poseidon nannten u. s. w., oder in ihrer 
Weise von der Uyayxtj, Udgaateut^ 'Earla, Parmenides von der Mxti, 
Empedocles von der ^iXoTiig und dem Netxog u. a. redeten. Ja seit 
Theagenes, dem Zeitgenossen des Kambyses, fing man zunächst 
zur Ehrenrettung des Homer an, mit Bewusstsein auf den Wegen 



Zweites Kapitel. 133 

beziehen muss. Nach meiner Meinung ist dies sogar 
vielleicht der Hauptinhalt des ganzen Werks; denn wenn 



der theils moralischen, theils physiologischen allegori- 
schen Interpretation zu wandeln, so dass die &iayoiai und 
vnovoat, des Glaucon, Stesimbrotos und Jon, die mythologischen 
Erklärungen und Erzählungen des Prodicus und des Protagoras 
bald gang und gäbe wurden, warum sollte nun für Heraklit das 
Bedürfniss geläugnet werden, sich in ähnlicher Weise mit dem 
Volksglauben abzufinden? (!) Er verräth oft hinter seiner Derb- 
heit und seinem Sarkasmus ein sehr weiches, sinniges Gemtith, 
und in seiner politischen Bichtung hängt er so am Alten, dass 
er ein bitterer Feind der Demokratie stets geblieben ist; sollte 
es nun ihm, dessen Ahnherr Androclus einst Ephesus 
gegründet hatte, und in dessen Geschlecht die Hut 
der eleusinischenFiliale ausser anderen königlichen 
Vorrechten geblieben war, so leicht ankommen, mit 
den alten Göttern zu brechen?" (!) — Dies ist sehr 
treffend, dagegen vermisse ich in den folgenden Worten Schuster's 
eine annehmbare Vorstellung über den Ursprung des Heraklitischen 
Philosophirens, Denn seine Gedanken sind weder von der Natur- 
forschung ausgegangen, noch können sie ihm plötzlich ohne alle 
Vorbereitung eingefallen sein, sondern es wird die erbliche theo- 
logische Weisheit mit ihrer geheimen Deutung der Mythen sich 
ausgeglichen haben mit den philosophischen Versuchen, die er 
kennen lernte und die er alle verwarf; denn er will Niemandes 
Schüler sein, sondern nur von dem Gott gelernt haben. Schu- 
ster's Auffassung, als wenn Heraklit seine Philosophie erst fix und 
fertig gemacht hätte, um sie dann erst beliebig mit Leben und 
Religion in Einklang zu bringen, scheint mir der Entwicklung 
des speculativen Denkens im Allgemeinen und des Heraklitischen 
im Besonderen nicht zu entsprechen. Im Kampf mit dem Volks- 
glauben entwickelte Xenophanes seine Gedanken, wie Heraklit 
umgekehrt von der Mystik ausgehend die Philosophie damit ein- 
stimmig fand. Ich will Schuster's Worte noch weiter mittheilen, 
damit man sehe, wie ganz nahe er selbst meinem Gedankengange 
stand und nur durch seine Auslegung der Fragmente über Dio- 
nysus davon abgetrieben wurde. „Solche nicht eben von dem 
philosophischen Interesse, sondern eher vom Herzen eingegebenen 
Beweggründe könnten ihn leicht bewogen haben, nach Bewährung 
seiner Lehre an dem Weltall und an den Verhältnissen der mensch- 



134 Herakleitos als Theolog. 

Schuster die Fragmente, welche von Dionysus handeln, 
anders verstanden hätte, so hätte sich ihm gezeigt, dass 



liehen Gesellschaft auch noch schliesslich den Versuch zu machen (?), 
dieselbe mit den gangbaren theologischen Vorstellungen in Ein- 
klang zu bringen. Ja vielleicht sind dazu noch gröbere Erwägungen 
hinzugetreten. Mir wenigstens ist es nicht so unwahrscheinlich, 
dass auch die Furcht vor einer Anklage wegen Gottlosigkeit 
einigen Antheil hat an seiner Dunkelheit, indem diese ihn bewog, 
nicht zwar seine Gedanken ganz zu verbergen , aber doch auch 
nicht so schlank herauszusagen, sondern sie nur anzudeuten^ wie 
das Orakel zu DelphL" — Meine Auffassung ist hier ganz ent- 
gegengesetzt; denn nach Schuster will sich Heraklit wegen seiner 
Philosophie durch Dunkelheit vor den Theologen schützen und 
verstecken, während ich einen Einklang mit der mystischen Theo- 
logie annehme und ihn nach dem Vorbild dieser Richtung die 
Dunkelheit als Knnstcharakter anwenden lasse zum Schutze gegen 
das gemeine Verständniss des Pöbels. Die folgenden Worte Schu- 
ster's (S. 54 Anm.) dienen wohl eher meiner Auffassung: „Es 
hatten sich damals mit den Eleusinien die Orphischen Mysterien 
vielfach verknüpft. In den letzteren aber ging seit dem An- 
fang des 6. Jahrhunderts ein mystischer Pantheis- 
mus im Schwange, der alle Gegensätze in Zeus aufhob 
und denselben auch dem verachtetsten Ding imma- 
nent sein Hess, wenn auch die Mythen von Phanes und Za- 
greus theils noch nicht vorhanden, theils noch nicht überall in 
die Mysterien aufgenommen sein mochten. Es ist wohl mög- 
lich, dass Heraklit aus diesen mystisch-priester- 
lichen Kreisen Anregung erhielt, da er ihnen, wie 
gesagt, durch seine Geburt nahe genug gestellt 
war." — Dass Schuster diesen Gedanken nicht weiter verfolgte, 
ist im Interesse der Sache zu bedauern. Seine folgenden Worte 
erklären, was ihm die Bahn verschloss: „Indessen findet sich in 
den Fragmenten fast nichts, was nothwendig auf einen solchen 
Einfluss zurückgeführt werden müsste. (?) Sein herber Tadel über 
die Verehrung des Dionysos (?), also wahrscheinlich die Orphischen 
Mysterien, deutet auch nicht grade auf einen solchen hin. Kennt- 
niss von der mystischen Theologie musste er freilich 
damals fast haben; aber damit ist noch nicht bewiesen, dass 
sie von starkem Einfluss auf ihn war." — Hätte Schuster diese 
Fragmente anders gedeutet und kein Vorurtheil , die sensualistische 



Zweites Kapitel. 



isa 



Heraklit grade die Gelieimlehre aas gelegt 

hat, und seine ganze sogenannte Physiologie 
ist nichts als eine Uebersetzung des Theo- 
logischen in' b Philosophische, wesshalb die Alten 
von ihm äusserten, er theologisire die Natur. Der po- 
litische und eigentlich physische Abschnitt ist nur An- 
wendung und Polgerang aus dem Grundgedanken von 
der Einheit von Dionysus und Hadea, von dem ewig 
fliessenden Kampf und üebergang beider ineinander, 
wodurch der Wechsel von Oben und Unten ja zum 
Stichwort wurde, womit Plato und Philo und Plutarcli 
iuimer den Heraklit bezeichneten, wobei aber dann auch 
wegen der Scheidung des Reinen vom Dunkeln die sitt- 
liche nnd intelleetuelle Katharsis mit der Mystik sich 
verbinden liess, und die meteorologischen Processe zu- 
gleich einen pantbeistisch - theologischen Hintergrund 
erhielten. Dass die eigentliche Naturforschung 
aber völlig vernachlässigt wnrde, habe ich im 
ersten Bande dieser Studien zu zeigen versucht, und es 
ist dies auch dem ganzen Chai'akter Heraklit's ent- 
sprechend. — Darum lobe ich den Sinn des Epigrammos, 
das man auf Heraklit machte; denn darin wird der 
Bath ertlieilt, das Buch Heraklit's nicht so ohne Wei- 
teres nach dem gesunden Menscbenverstande auszulegen, 
da es sonst ganz unzugänglich und dunkel erscheine; 



BrltenntniBstheorie Heraklit's betreffend, gehabt, so wSrde der 
kenntnisBrciclie Mann ims wahrecb ein lieh ein gänzlicli verschiedenes 
Boeli über Heraklit geeohrieben haben, so nahe lag ihm der Weg, 
anf don ich darcb die Basler Statoette und die ägyptischen mcägm 
nnd die Stellen über Diünjsns and die Sibylle kam. Grade weil 
die NatnrEurschnng so schwach ist bei Heraklit und 
so weit herabsinkt in Vergleich zn Anasiinander nnd Pythagoras, 
darnni hat man Grund zn yermuthen, dass ein anderes Element, 
das theologische, einen grösseren Einfloes auf Heraklit ausgeübt 



136 Heraklcitos als Theolog. 

wenn uns aber cinMystc einführe, so sei es klarer 
als die helle Sonne*). Auch des Sokrates oder Krates 
Ausspruch scheint in diesem Sinne gedeutet werden zu 
müssen. Denn Sokrates soll über Heraklit's Buch ge- 
äussert haben: „Was ich davon verstand, ist von edler 
Art; ich glaube auch das, was ich nicht verstand; aber 
es bedarf eines Delischen Tauchera." **) Tiefsinnigkeit, 
die immer auf das Göttliche oder den tiefsten Grund 
zurückgeht, wird dadurch jedenfalls bezeugt^ da die ge- 
wöhnlichen Schwimmer, wie Krates sagte, vorher er- 
sticken und zu den Tiefen dieses Genies nicht herab- 
zutauchen vermögen. 



*) Diog. Laert. IX, 16: 

Mi} Ta)[vg 'HQaxXßlrov in ofi<paX6p eVXeo ß^ßkov, 
Tov(peotov ' /läXa to^ dvaßaros dtQannog, 
\)Qqivrj xul axoTog iaxlv (iXtcfinerov. 'Hy de es fivortjg 
EiaayäyHj q^avsqoij Xa/jmqoTeq iqeXCov, 

**) Ibid. II, 22: "A fikv awtflta, yeyvaia' oifuti dk xal « fitj 
aw^xa ' nXrjy J^XCov yi xivoq dsttai xoXvfißniov, 



Drittes Kapitel. 

Allgemeine Uebereiiistiuiniung in den Grund- 
gedanken. 



Das zweite Kriterium, das wir festsetzten, um daran 
einen Zusammenhang unseres Philosophen mit einer reli- 
giösen üeberlieferung zu erkennen, war eine Ueberein- 
stimmung in den Grundgedanken. Und es ist daher nun 
unsere Aufgabe, zuerst eine Eeihe solcher Grundgedanken 
aufzuzählen und dann die Vergleichung Heraklit's mit 
der ägyptischen Weisheit zu versuchen. Es kann nicht 
fehlen, dass einige dieser Grundgedanken auch unter das 
dritte Kriterium gestellt werden könnten, da sich schwer 
das Allgemeine von dem Absonderlichen rein abtrennen 
lässt. Um dies zu leisten, müsste man erst alle Mytho- 
logien neben einander stellen und das in ihnen Gleiche 
als das Allgemeine herausheben. Diese Arbeit, so in- 
teressant sie ist, hat noch keinen Forscher gefunden. 
Wir thun desshalb wohl gut, der Einfachheit wegen 
uns hier an den Faden der Darstellung Heraklit's im 
ersten Bande dieser Studien zu halten, und ich werde 
daher zuerst an die physische Auffassung der Welt er- 
innern und darauf die allgemeineren Begriffe, wie sie 
in den sieben Paragraphen des zweiten Kapitels erörtert 
sind, zur Vergleichung benutzen. 



138 Herakleitos als Theolog. 

Tylor's Anfängre der Oaltnr. 

Wir haben mit einer Geschichte der B^riffe zu 
thun und verfolgen diese bis in ihre Anfange. Dadurch 
kommen wir aber in das Gebiet des Mythus und müssen 
uns dagegen verwahren, als wenn wir etwa alle diese 
Gebiete gleichsetzten. Desshalb will ich hier eine An- 
merkung über diese Frage einschieben, um meinen Stand- 
punkt deutlich zu bezeichnen. 

Eine Vergleichung der Geschichte der Cultur, wie 
sie Tylor in seinem ethnologischen Werke*) behandelt, 
mit einer Geschichte der Begriflfe ist ebenso interessant, 
wie nothwendig. Tylor's Arbeiten sind sehr verdienst- 
voll; er hat eine grosse Masse von Material zusammen- 
gebracht und dasselbe gut gesichtet, so dass er jede Be- 
hauptung durch eine Fülle passend gewählter Beispiele 
belegen und erhärten kann. Es ist nur schade, dass er 
auf dem beschränkten Standpunkt des Positivismus steht. 
Dadurch geht ihm der Begriflf der Philosophie derart 
verloren, dass er den seltsamsten Auffassungen folgt und 
von einer Geschichte der Begriffe keine Ahnung hat. 
Denn z. B. seine Abhandlung über die Ursprünge der 
Zählkunst, so interessant sie ist, verwechselt sichtlich 
die Begriffe von Zahlen und arithmetischen Opera- 
tionen mit den Darstellungsmitteln derselben, in- 
dem er die Arithmetik gewissermassen an den Besitz 
der Finger und Zehen knüpft. Wenn dadurch aber auch 
das Decimal- und Vigesimal-System veranlasst wurde, 
so ist eine Veranlassung doch nicht entfernt einer Ur- 
sache gleich. Denn sonst müssten die Affen zu den- 
selben arithmetischen Auffassungen gelangt sein, da bei 
ihnen dieselbe Veranlassung geboten war, und es müssten 
die Pferde und Esel Anhänger des Systems der Viel- 



*) Tylor, Anfänge der Cultur. 



Drittes Kapitel. 

Allgemeine Uebereinstimniuiig in den Grund- 
gedanken. 



Das zweite Kriterium, das wir festsetzten, um daran 
einen Zusammenhang unseres Philosophen mit einer reli- 
giösen üeberlieferung zu erkennen, war eine üeberein- 
stimmung in den Grundgedanken. Und es ist daher nun 
unsere Aufgabe, zuerst eine Eeihe solcher Grundgedanken 
aufzuzählen und dann die Vergleichung Heraklit's mit 
der ägyptischen Weisheit zu versuchen. Es kann nicht 
fehlen, dass einige dieser Grundgedanken auch unter das 
dritte Kriterium gestellt werden könnten, da sich schwer 
das Allgemeine von dem Absonderlichen rein abtrennen 
lässt. Um dies zu leisten, müsste man erst alle Mytho- 
logien neben einander stellen und das in ihnen Gleiche 
als das Allgemeine herausheben. Diese Arbeit, so in- 
teressant sie ist, hat noch keinen Forscher gefunden. 
Wir thun desshalb wohl gut, der Einfachheit wegen 
uns hier an den Faden der Darstellung Heraklit's im 
ersten Bande dieser Studien zu halten, und ich werde 
daher zuerst an die physische Auffassung der Welt er- 
innern und darauf die allgemeineren Begriffe, wie sie 
in den sieben Paragraphen des zweiten Kapitels erörtert 
sind, zur Vergleichung benutzen. 



140 Herakleitos als Theolog. 

Zeugnissen des Aberglaubens in der vorhistorischen Zeit 
in eine Linie zu stellen*). 

Im Ganzen aber beniht Tylor's Verfahren auf seinen 
positivistischen Voraussetzungen, d. h. auf einer gründ- 
lichen Verkennung des Wesens der Vernunft und der 
Wissenschaft. Wie ihm dadurch die Möglichkeit der 
Metaphysik verloren geht, so sieht er auch nicht, dass 
eine Geschichte der Begriffe himmelweit verschieden ist 
von einer ethnographischen Geschichte der Mythen. Und 
darum sucht er auch bei der Beurtheilung der heutigen, 
positiven Theologie mehr den Zusammenhang mit dem 
Aberglauben der Wilden, als den Einfluss der philo- 
sophischen Begriffe, die doch einzig und allein im Stande 
sind, eine mythische Vorstellung in ein definirtes Dogma 
umzuwandeln. Begriffe giebt es nur, wo die Me- 
thode der Untersuchung zum Bewusstsein gekommen, 
und wo das Wesen der Definition und Division und der 
Schlüsse eingesehen ist. Die Geschichte der Wissen- 
schaften und im Speciellen die Geschichte der Begriffe 
ist desshalb nach einer ganz anderen Methode zu be- 
handeln und von der ethnographischen Geschichte als 
von einem davon gänzlich verschiedenen Gebiete abzu- 
sondern, da diese letztere die Vorgeschichte des 
wissenschaftlichen Lebens enthält und daher mit diesem 
nur an der Gränze sich berührt. 



*) Diese wunderliche Vorstellung von Ideen, die Bewegung 
und Vernunft haben, wird bei üeberweg und Zeller nicht dem 
Eomödiendichter, sondern dem Philosophen Plato zugeschrieben. 



Drittes Kapitel. 141 



§ 1. 
Physische IVeltansioht. 

Heraklit's Ansicht von der Welt habe ich im ersten 
Bande dieses Buches dargestellt. Wir müssen nun die 
ägyptische Mythologie daneben stellen, bei welcher sich 
sofort der entscheidende Gegensatz der oberen und 
unteren Welt zeigt; denn die Aegypter scheinen die 
Erde nicht als Kugel gedacht zu haben, sondern dehnen 
wie Heraklit den Horizont bis in's Unendliche oder in's 
Unbestimmte hin aus. Was unter dieser Fläche liegt, 
i&t Unterwelt (Amentet), was darüber liegt, Oberwelt. 
Die Erde hat an beiden theil. 

Der Darstellung der ägyptischen Mythologie stehen 
aber unendliche Schwierigkeiten entgegen, weil wir nicht 
eine einfache und ursprüngliche Eeligion, sondern ein 
vielverschlungenes Durcheinander der verschiedensten Gott- 
heiten überliefert erhalten haben. Derselbe Gott ist nach 
den Ortschaften, wo er verehrt wird, vervielfacht durch 
Modificationen; verschiedene Götterhaben dieselben Werke 
zu leisten; dieselben Götter sind historisch veränderlich in 
ihren Attributen ; die von allen Seiten zusammengebrachte 
Götterwelt ist häufig schon theologisch zu einem System 
verarbeitet, das aber keine Klarheit und Bestimmtheit 
gewinnen kann, weil die vielen Namen oder Werke und 
Eigenschaften wegen der ursprünglichen Totalität jedes 
Gottes vielen Göttern auf gleiche Weise zuerkannt wer- 
den. Dies alles zu sondern und historisch und philo- 
logisch zu erklären ist eine Aufgabe der Aegyptologie. 
Wir müssen hier auf diese Specialforschung verzichten, 
und es fragt sich nur, welche Quellen wir für unsere 
Erkenntniss benutzen sollen. Von den Griechen ist be- 
sonders Plutarch über Isis und Osiris brauchbar, 
der von Brugsch anerkannt wird. Von den ägyptischen 



142 



HwatlL'itüs uh Tbi'ülrig'. 



Quellen besonders das Todtenbncli, da dieses nicht 
indiTiduelle Ansichten ägyptischer Theologen enthält, 
sondern den beim Tode, wo man nur Wahrheit brauchen 
kann, sich bewährenden Glauben des Volkes aufgezeichnet 
entbält und zwar in der Form, wie die Erkenntnisa der 
Eingeweihten {hnnjui) ihn üarstellen komite*). 

Man wird aber finden, dass trotz des Wechsels der 
Götteinameu auch in allen übrigen ägyptischen Monu- 
menten und Papyrus im Ganzen eine und dieselbe all- 
gemeine Auffassung von der Welt herrscht; denn 
ob wir den Gott Kueph oder Amun oder Tum oder Ea 
u. s. w. nennen , ist ziemlich einerlei , wenn ihm nur 
dieselbe Function , derselbe B^riff entspricht. Wir 
dürfen desshalb durch die varschiedenen MytbenIcreiBe, 
wie ich glaube, für unsere Zwecke hier wonigsteus be- 
liebig hindurchgreifen, sofern wir nur dieselbe aUge- 
meine Auffassung darin finden. Auch die historischen 
Diflerenzen dürfen uns nicht kümmern. Ja auch zwischen 
den ältesten und jüngsten mythischen Erzeugnissen für 
uns kein beträchtlicher Unterschied heraustritt. 

Die sichtbare Welt ist den Aegyptem aus dem 
Wasser entstanden, und unter ihr ist das Reich 
des Dunkels. Die obere Welt gehört dem Feuer, der 
Sonne, und auch diese ist aus dem Wasser geboren. 
Von diesen Vorstellungen handle ich unten insbesondere. 
Wie Heraklit's Sonne täglich aus dem Wasser neu ge- 
boren wird, 80 gebt Horus als Ra der Sonne t^lich 
aus dem Wasser oder dem Lotus hervor, der auch das 
Wasser repräsentirt. Dem entspricht der tägliche Tod 
der Sonne und des Ea. Wie bei Heraklit das Leben 
der Seele ein Verbrennungsprocoss {üvaS-vfiiaaig) 
ist, so stellen die Aegypter die Seele auch dar, indem 
sie neben dem Sarkophag ein kleines Gefaas malen, aus 



) Vargl. Lndw. Stern, AubI. 187J, S. ' 



Drittes Kapitel. 143 

dem die Flamme des Weihrauchs emporschlägt, wobei 
sie „ba" d. h. Seele schreiben*). Wie Heraklit's Ele- 
mente in beständigem Werden nach Oben und 
nach Unten wandeln, so steigen auf der Treppe in Her- 
mopolis die Götter der Elemente auf und ab**). 



§ 2. 
Das Eine. Kein Entstehen und Vergehen. 

Nehmen wir nun zuerst die grundlegende Auffassung, 
wonach kein Entstehen und Vergehen im eigentlichen 
Sinne die Welt betriflft, sondern Alles als Eins und sich 
selbst gleich, ewig sich aus sich selbst erzeugt und in 
sich selbst zurückgeht, so ist dieser Gedanke aufs 
Deutlichste bei den Aegjrptem in dem Namen des 
Gottes Kamatef gegeben, welches bedeutet „Mann 
seiner Mutter", oder „der sich selbst erzeugt"***). 
So hat auch das Isisbild nach Plutarch die Aufschrift: 
„Ich bin alles Gewordene, Seiende und Zukünftige."!) 
Und es heisst so auch im Todtenbuch: „Ich bin Tum 
als das Seiende und Eine" und: „Ich bin das Gestern 



*) Es braucht dies kaum weiter bewiesen zu werden, da diese 
Darstellungsweise allgemein bekannt ist; doch erinnere ich auch 
z. B. an den Hymnus auf Osiris auf der Stele im Louvre (Chabas). 
Dort wird gleich in den ersten Zeilen die Seele als verborgene 
(ba scheta) und als Seele der Sonne (ba ra) mit demselben Zei- 
chen des brennenden Weihrauchs geschrieben. 

**) Vergl. Lepsius, Ueber die Götter der vier Elemente. 

***) Vergl. Bd. I, S. 153 undBirch, Egypt's place V,p. 172: 
I am the great god creating himself. 

t) De Isid. et Os. 9. iy(o ei/ii. näv t6 ysyovog xal öv xai 
iaofieyov. 



144 Herakleitos als Theolog. 

und das Morgen"*). Wie bei Heraklit dieses Eine 
und Göttliche aber viele Namen hat**), so 
heisst auch bei Plutarch die Isis die „vielnamige "***). 
Und derselbe Gedanke kehrt hundertmal im Todtenbuche 
wieder. — Wie Heraklit aber die Seele mit dem 
Princip der Welt identificirt, so ist dies auch der 
Grundgedanke im Todtenbuche, wo die Seele als Lebens- 
flamme und Wesen des Leibes und als identisch mit 
der Gottheit erscheint f). 



§3. 

Actus und Potenz. 

Ebenso tritt bei den Aegyptern der Gegensatz von 
Actus und Potenz, den wir oben (Bd. I, S. 97) bei 
Heraklit studirten, bedeutsam in den Vordergrund; denn 
es dreht sich die ganze ägyptische Theologie um die 
Apokrypsis und Epiphanie des Gottes. Tum ist 
das Eine, allein Seiende; er ruht im Dunkel verborgen; 



*) Todtenbuch, Papyrus in Berlin Nr. 18 init. Birch 1. c, 
vol. V, p. 172. 

**) Vergl. meine Neuen Stud. I, S. 72. 

***) De Isid. et Os. 53 fivQnawfxog xexXtjzai, Hymnus an 
Osiris (Chabas): „aschu ranu" = fivQuovvfiog, 

t) Birch 1. c, introduction, p. 144: In all this chapters 
(sc. of the book of the dead) the deceased states himself emphati- 
cally to be the respective type of the deities figured in the vig- 
nettes. The mystical notions connected with these chapters appear 
to represent the soul as permeating space, time and matter, 
and being absorbed or identified with the Demiourgos himself. 
The soul, in the 79*^^ chapter , is the Creator himself, and in the 
81*^ the germ of light; celestial food is supplied to it, while 
the soul itself is the seif or body of the deceased and dies and 
is renewed like the sun daily. 



Drittcg Kapitel. 



145 



I 



aus ihm aber eutateM Licht, Leben und Seele, nnd der 
Ba der Sonne ist seine Epipbanie *). TJeberall haben 
wir im Todtenbuch und in den Hymnen diesen Gegeu- 
satz zwischen dem verborgenen Wesen, das unterschieden 
wird und doch identisch bleibt mit seinem Aufgange, 
i. h. mit der aufgehenden Sonne oder dem Ursprung 
des Lebeus; denu Sonnenaufgang und Gebart zum Da^ 
sein ist dasselbe in der Sprache der Aegypter. Darum 
ist Tum, Ra, Oairis und Horus dasselbe, indem die Seele 
des einen in dem andern wohnt, und sie untersclieiden 
sich, wie Apokrjpsis und Epiphanic. Dies ausführlich 
Bu Stellen des Todtenbuchs zu beweisen, ist überflüssig, 
da fe.at jede Seite davon spricht. 

Exenra Über eine Stolle des Fliüdras. 

Ich habe schon oben**) aaf die merkwürdige Stelle 
im Phädon aufmerksam gemacht, wo Sokrates seinen 
Schülern Beisen zu den Bai'baren empfiehlt, um über 



•) Cf-Biroh LcV.p. 136:„PiijsieiilIr, theytEctlietwoago- 
iiistic lieiiiga) are divided into light and darknesa; ajmboli- 
oally, they are represented by the Sun and the great dragon 
Apopliis" (dieser bat nuclt meiner Meinung dieselbe Rolle, wie 
der Okeanos, der eicli nm die Welt schlangelt nnd in dem die 
Sonne erlischt; dieselbe wie in der Edda die Midgardscblangc 
oder Jörmnngander, welohe ancb Simrock als das weltamgörtende 
Meer faaate, yergl. Handb. d, deutschen Mytbol. 1863, S. 9(i). 
„Nextto these tbeGodTnni, the Solar demiourgofl or Creator, not 
only appearB at an eaily period, bnt playa a prominent part in 
the Eitnal. It is Tum the Sun, invisihle in datkneas, 
fiom whom all heing proceedcd, and to whom the deceased is 
isdebted fot the vital principle of breath. The sonl, indeed, 
not being described as a created, may be eonsidered as uncreated, 
"befng; but the eiistenoe, the breath of life, is the espedal 
g^ft of Tom." D. h. allea Geschaffene geht hervor aus der Kraft 
' unsichtbaren Gottes; die unaichtbare, unerechaffene Seele aber 
sein Actus und ist ebenso unsichtbar wie er selbst. 

*•) VergL S. 108. 

roicbmülUi, Zur GsBOb. dei Begriffe. lU 



14« 



Herakicitos als Tbcolog. 



das Wesen und die Scliicksale der Seele tiefere Be- 
lehrung zu empfangen. Steinhart hat diese Stelle fiber- 
aehen, sonst würde er nicht meinen*), daas Plato nur 
mathematische Bildung in Aegypteu gesucht, ohne nach 
den „tiefen, philosophiscli-religiösen Mysterien zu for- 
schen ". Ich glaube vielmehr , dass diese Stelle im 
Phädon einen weiteren Beweisgrund zn den von Stein- 
hart herTorgehübenen abgiebt, um daraus zu ersehen, 
dass die übereinstimmenden Nachrichten der Alten von 
dem Aufenthalte Plato's in Aegypten eine grosse Wahr- 
scheinlichkeit enthalten, da ja Plato schwerlich ohne 
eigene Erfahrung von dem Werthe dieser barbarischen 
Cultur den Sokrates hätte behaupten lassen- dürfen, dasa 
man sein Geld zu keinem besseren Zwecke als zu Keisen 
in's Barbarenlaud ausgeben könnte. 

Doch dies nur nebenbei. Ich wollte die Erklärung 
einer Stelle des Phädrus versuchen**). Der Gott Theuth 
aus ünterägypten , so erzählt Sokrates, habe seine Er- 
findungen betreffend die Mathematik, die Astronomie, 
das Brettspiel, Würfelspiel und die Buchstabenschrift 
dem in Oberägypten, und zwar in Theben, residirenden 
König über ganz Aegyptenland mit Namen Thamus zur 
BeurtheUung vorgelegt, indem er besonders den Nutzen 



*) Platon's Leben S. 135. Ich halte sonst Steinhart's Batrach- 
tnogen für lieEonDen genug, um Qua beisali znEtimioeD zu können, 
wenn er die ägyptische Beiae Plato'a filt eine Thataache hält. 
Die TOD Strabo (XVII, 1) angenommene AnfentbaltBiJaner von 
13 Jahren aber mnss diesem seibat abentenerlich Torgekommen 
Bein, weil er gleich andeutet, dasa dieae Nachriciit dot von Eini- 
gen (also im Widerspruch mit andern) überliefert sei, und weil 
die Motivirang durch den mystischen, »erbergenden und wenig zur 
Mitthuilung geneigten Charakter der PrieEter immer nicht hin- 
reicht, am eine ao lange Lehrzeit auch nur entfernt glaublich zu 
machen. 

**) Phaedma p. 274 G. 



Drittes Hapitel. 



147 



I 
I 



rder Schrift für Gedächtnisä und Weisheit heirorhoh. 

I Dieser habe aber erklärt , dass die Schrift nur zur 
Wiedereriimerung und sonst nur zu einer eitlen Viel- 
wisserei dieuen könne, dem Gedächtniss aber und wirk- 
licher Weisheit nachtheilig sei. 

Ich bemerke nun zunächst, daas diese angebliche 
Antwort des Gottes auffallend an Heraklit's Urtheil über 
die Vielwisserei des Pyth^oras, Hekatäua u. s. w.*) 
erinnert. Entweder spielt Plato, wenn er die ganze 
ägyptische Geschichte erfunden hat, auf Heraklit's Meinung 
an, oder es wird, wenn der Erzählung ein ägyptischer 
Mythna zu Grunde liegt, nicht anglaublich, dass auch 
HeraklJt die Richtung auf die Selbsterkenntniss 
z zu der Polymathie durch ägyptische 



Wenn wir nun den bekannten Gott Theuth bei 
Plato mit allen seinen Attributen exact abgeschildert 
sehen, so mu^ es uns doch wundern, dass wir für den 
König Tbamus in der Reihe der ägyptischen Könige 
keinen analogen Namen finden. Sollte Plato hier aus 
Hangel an Kenntnissen aus der Rolle gefallen sein ? Es 
ist merkwürdig, dass die Erklärer Plato's über dieses 
Problem so leicbt weggehen konnten. Cousin sieht zwar 
ein, dass Plato an der betreffenden Stelle**) den König 
Thamus auch als Gott Ammou bezeichnet; aber so rich- 



') Vergl. Neue Stud., Bd. I, S. 6. 

*♦) L. 1. ßauMtai rf" «v loie Sproc Aiyimiov Siijt ön/jop 
«Sgl njV [iSYÜXttv noJij' ro? Öria xänav, ^v TlAijvt^ jfiyvmiag 
9nßae xaioiiH xal tnv 9eav "Afiftiava, na^ä tovtov iX3wv ö 
»tv» tat rizviti ijf{Jci^s xii. Cousin, TraJnct.,T. VI, p. 121: 
„Le dies cat ici eviilemment Ic roi, lo mfme qne AinoQB on Am- 
nione, le Jupiter Tbfbain. Heiodote II, 43, Platarqne Isis et 
Osirie!)." Au beiden Stellen ist allerdings von Amiuon die Rede, 
aber mit l;eiiicr Hylbe von Tliainns. 

10* 



148 



Harakleitos als Tbealog, 



tig und wichtig die Identificirung von TliamoB und ' 
AmmOQ auch ist, ao werden wir dadui'ch doch nicht 
klüger; denn der Name Thamus bleibt so räthaelhaft 
wie zuvor. 

Die Lösung dieses Problems ist einfach; denn Tha- 
mus kann nichta anderes sein, als der im Todtenbuch 
an der Spitze aller Götter bedeutsam hervorragende so- | 
genannte Tum oder Atum oder Atmu. Dass diese Aus- 
legung dem Sinne der Erzählung am besten ent- 
spricht, ist einleuchtend; denn Tum, wie Ammon, ist 
der Verborgene, der nicht in die Erscheinung hervor- 
tretende Gott, der aber doch Erzeuger aller Dinge und 
identisch mit unserem Geist ist*). Dass ein solcher die 
VeräuBserlicbung des Geistes in der Schrift nicht liebt, 
liegt in seinem Charakter. 

Die Richtigkeit dieser Erklärung läast sich aber auch 
sprachlich, wie mir scheint, bis zur Evidenz nach- 
weisen. Der Gott wird nämlich durch das Sjlbenzeicheu 
für die Verbindung von tm**) geschrieben, indem dabei 
einerseits häufig die Consonanten t und m noch hinzuge- 
fügt , andereraeits noch Aleph vor und u hinter das 
Sylbenzeichen gesetzt werden. Für die Lesung des 
Worts bieten sich also als Möglichkeiten: Tum, Atum, 
Atmu, Tmu, Temu und Tamu. Bisher wurde meistens 
Tum und Atum und Athmu gelesen ; Brugsch und Stern 
lasen Tum, ersterer auch Temu***); Bireh hat in seinem 
Lexikon Temu und Tomos; Eduard Navillo liest jetzt 



») Vergl. Nene Stod. I, S. 110 u. 74 ff. 

*•) Nach den T0nLepHinB(Zeit8chr. 1875)ititroiiucirtenliieri)- 
gljphisclien Typen von Theinliardt anb TT nr. 14, S. 21. 

•**) Urugach, Geogr. Inachr. I, S. 3: „Temu, Herr von 
Heliopolis (An) ", während Chainpolljon diese InBchrift maaver- 
Btanden and „Athmon le seigneiir de la contria de c 
daraus gemacht liatte (vcrgl. tiramra., p. 430. 8). 



Drittes Kapitel. 149 

Tmu*). So sind wir, denke ich, also auch berechtigt, 
das Platonische Qaf,iov als eine erlaubte Aussprache 
dieses hieroglyphischen Namens anzuerkennen ; denn die 
Schrift zeigt nicht zwingend an, ob ein Vocal als An- 
laut, Inlaut oder Auslaut des Wortes gelesen werden 
soll. Das t- Zeichen dieses Wortes entspricht aber 
griechisch ^, wie griechisch Qevd^ für ägyptisch Tehuti 
beweist. 

Die Aegyptologen werden vielleicht im Stande sein, 
den Platonischen Mythus als ägyptisch wenigstens in 
den Umrissen nachzuweisen, obwohl die Ausführung 
wohl dem Plato angehört. Plato legte aber Werth 
darauf, die Mythologien der Orientalen zu kennen und 
in seiner Weise zu deuten**). Dass Hermes {Qevd) 
neben Zeus {ßa^ioiS) gerade in TheJ)en eine Eolle 
spielte und besonders, wie hier im Phädrus auch ange- 
deutet wird, als Vertreter des astronomischen Wissens, 
sehen wir u. A. bei Strabo***). Auf den ägyptischen 



*) Zeitschr. für ägypt. Sprache von Lepsius u. Brugsch 1874, 
S. 58. 

**) Ich sehe in den Worten des Phädrus p. 275 B: £1 I(6~ 
XQttreg, gadloog av Aiyvnriovg xai onoffanovg av i^sX^g Xoyovg 
noiBlg nicht ein Zeichen, dass Plato diese Geschichte witzig er- 
fanden, sondern eher eine Anspielung auf die Bekanntschaft 
Plato's mit allerlei Mythologie. Denn erstens beweist dies die 
Antwort des Sokrates, dass man bei diesen Mythen nicht 
die Fabelhaftigkeit berücksichtigen, sondern die darin 
liegende Wahrheit bedenken müsse,' wie man ja früher in Dodona 
auch „die Reden der Eiche'' angehört habe. Er sagt also nicht, 
dass- man sich über die Piction von seiner Seite, sondern 
über die mythische Form, in der die 'Vfahrheit auftritt, hin- 
wegsetzen sollte. Zweitens erinnere ich wieder an die Stelle im 
Phädon (vergl. oben S. 108), wo der Platonische Sokrates auf die 
philosophische Bedeutung der barbarischen Mythologie hinweist. 

***) Strabo XVII, 1. "Avar^Hatsi, (die Thebaner) dh rto'EQfzS 
näaav trjy roucvttjp cocpCav rt^ dk Jit, ov fjioiXifSxa rif^iocw^ 

X, T. X, 



150 Herakleitos als Theolog. 

Denkmälern und den Papyrusbildern und Sarkophagen 
finden wir Hermes überall als Vertreter der Schrift*). 
Er schreibt die Worte des Gottes auf, z. B. wenn die 
Seele von Osiris gerichtet und das Herz auf der Wag- 
schale der Wahrheit, oder der Dike gewogen wird**). 
Ganz besonders aber möchte das neunzigste Kapitel des 
Todtenbuches hierher gehören, wo die Seele vor Thoth, 
dem Schreiber und Gelehrten, steht, der die Papyrosrolle 
in der Hand hat; leider ist es jedoch bis jetzt nicht in 
einer zuverlässigen Uebersetzung gedeutet***). Vielleicht 
liegt in den Worten Einiges von dem Platonischen 
Mythus, dass die Schrift allein nicht genügt, sondern 
dass die Wahrheit, wie sie in dem einundneunzigsten 
Kapitel angedeutet ist, in der lebendigen Seele wohnt, 
die den Weg zu allen Göttern weiss und das grosseste 
aller Wesen ist. 

Darum könnte man auch glauben, dass der Sinn 
dieser ansprechenden ägyptischen Geschichte sich schon 
einfach für Plato durch eine philosophische Deutung 
der Thatsache ergeben habe, dass dem Todten in dem 
sogenannten Todtenbuche eine Schrift mitgegeben wird. 
Denn die Worte des Phädrus können als eine Keflexion 
über diesen Gebrauch gelten, da die Schrift ja nur Sym- 



*) Z. B. Hymne ä Osiris. „Ra spricht, Thot schreibt auf." 

**) Birch (Egypfs place V, p. 275) übersetzt die Prädicate 
des Hermes im Todtenbuch durch „Thoth, weigher of the words of 
the Gods " und „Thoth, the husband of Truth **, während Zeus eben- 
daselbst heisst „Tum, creator'*. — Thoth als Schreiber dargestellt 
z. B. Lepsius, Todtenbuch L. 

***) Es macht einen komischen Eindruck, wenn man die Ueber- 
setzung von Uhlemann, Handbuch IV, 264, neben die von 
Birch stellt, da beide denselben Text vor sich haben und doch in 
keinem Wort und Gedanken uns daran erinnern, dass sie denselben 
Text wiedergeben. Birch's Uebersetzung, obwohl correcter, bleibt 
unverständlich. 



Drittes Kapitel. 



151 



bol für die lebendige Brkenntnisa der zum Osiiis heim- 
kehrenden Seele sein soll*). Sokratea: „Der Logos (ala 
Schrift) versteht nicht zu sprechen, mit wem er soll und 
mit wem nicht. Verkehrt behandelt und unrecht ge- 
tadelt, bedarf er immer seines Vaters zum Schutz; denn 
er selbst kann sich nicht wehren und sieh selbst nicht 
schützen." Phädrua : „ Das ist sehr wahr bemerkt." So- 
krates: „Wie aber? Kennen wir nicht einen andern 
Logos, den ächten Bruder vou diesem, und wissen, wie 
er entsteht und wie viel besser und mächtiger der von 
Natur ist?" Phädrus: „Welcher ist das und wie s^t 
du, daas er entstehe?" Sokrates: „ Der mit Einsicht ge- 
schrieben wird in der Seele des Lernenden. Der kann 
sich vertheidigen und weiss zu reden und zu schweigen, 
wann er soll." Phädrus: „Du meinst in dem Wissenden 
den lebendigen und beseelten Logoa, von welchem der 
geschriebene mit Recht nur ein Abbild genannt werden 
muss." Sokrates : „ Ja ganz so." — Der gestorbene A^iyp- 
ter, von Hermes oder Theuth als Psychopompos geführt, 
soll sich rechtfertigen in der Unterwelt durch Einsicht 
in alle Geheimnisse der Welt, die er zu deuten ver- 
steht. Das Todtenbuch aber, das er bei sich hat, weiss 
nicht, wann und mit wem es dies oder das zu sagen 
bat. Es dient nur zur Erinnenmg an die, Wahrheit, 
oder, besser gesagt, es ist nur Symbol für die lebendige 
Erkenntniss der Wahrheit, die der Selige (maxer)**) 
besitzt, und wodurch er rein und gerechtfertigt zum 
Osiris wird***). 



*) Phaedr, 276 B. id* lov bWoVdc iöyav i-eycic fürin xat 
l/itlivXov, ov 6 yeyQafi/livos iWoJÄo* öf ti iiyoiia dtxadag und 
275 E. iiokXijs Sv evti^iCas j-ifioi xal tip ö'*j* tijV 'Jfifiaiva; finv- 
Tiiav äyvoot, iiXioy ii olöftcvag tivm Ko-yovc ycyga/iftiyovg loC 
loV etäöia inoftv^aci iitgi iSy äy 5 rd ycy^a/ifidi/tt, 

**) Daa Wort erinnert aji die ftänaQcg &iai. 

***) Manche von diesen Gedanken wird man in der vonBiich 




Hcnikkit.DO alt TLoolug. 

Dass die Verchruiig des Tmu odor &afiov im Todtc 

hudiden ersten Platz elnniiuiat aud dieser Gott ) 
zu den ältesten Gottheiten Aegjptena gehört, ist allgfr-* 
mein zugestanden. Da &afiov nun der Gott ist, der als 
achftpferische Einheit in der Verborgenheit wohnt 
und doch in aeiuer heiligen Barke sitzend als Sonne 
anff^eht und wieder stirbt, so müssen ihui natürlich 
einerseits als dem Lebenden, süssen Äthem Verleihenden*) 
Freudenfeste, ala dem Sterbenden und in die Ver- 
neinung Uebei^oheuden Traiierfeate folgen. Denn 
nach der Analogie mit der auf- und untergehenden 
Sonne wird sich auch der Frühling und Herbst 
dieser Ideeuassociatiou anBchliesseu. Daas mit dem ZeuSr« 
in Theben Trauerfeste verknüpft waren, bezeugt Strabo**)^J 



übersetzten Kgyptiuchcn „Yerbcrrtioliatigdea Wieacn«" Ünden. 
kann zwar nicht sogen, das» dieae Ucbcractzung mehr als elkil 
Versuch sei; man sieht aber dennoch einiges luit genDgenda 
Doutlichleit darin, z. B. duss dos Wissen als freie Ttiätig^l 
It e i t in Gogenaats gestellt wird gegen die durch die leibliohen B^'1 
dOrbisse erzwungene (ijtoiov) induatriello Arbeit, da^a der WiasentUia 
über allen andern Ständen steht und acin GIScIj nnd sein Leben in 
hat, im Intclligiblen,iuiddass fQr ihn die Zeit aufgehoben ist. Birofan 
setzt tho praise of leaming (Becorda of tbe past Till, p. 14^)1 
in eine sehr frühe Periode, obglcicli die Mannscripte i 
19. Dj'nastie stammen. Ich mache besonders aufmerksani auf 
„Vera 12 ond 13, I have seeii one free fiora labonra. Censidt 
thore ia not anj-thing bejond letters. 18. He ia not inactivo i; 
it. 179. Consider there it is not an cniploynient destitute of a. 
pcrior ones, 180. Eicept the scribe who Icnows lettera." 
Verse 248 bis zum Schluss enthalten offenbar theologische I 
doiion und sind noch nicht genügend verstanden, 
der Wissende, obgleich jünger, doch nlhir ist als Ändere, die älterl 
sind als et, dasa der Wiaacndo das Vergangene (the day of hia 
birtli) ala Gegenwärtiges bei sich hat u. s. w. 

•) Todtenbnoh LIV. Bircl 
delicioua breatli of thj nostril." 

••) Strabo XVII, l. niv!>u<, i'lynoi. 



: „ Oh Tom I gtve tue the 



t 



Drittes Kapitel. 153 

Indem auch der Nil mit seinem Ursprung im Süden 
und Untergang im Meere des Nordens in diese Be- 
ziehungen hineingezogen wurde, da er die Bedingungen 
des Lebens für ganz Aegypten enthält, so giebt es natür- 
lich auch ein Freudenfest und ein heiliges Klagelied 
auf den Kronos*), der wiederum mit Tmu zu identi- 
ficiren ist. Dass Tmu daher auch mit Kneph, dem un- 
entstandenen und unsterblichen, mit Ammon, dem ver- 
borgenen, und mitDionysus und Pan zusammenfällt, ist 
ganz ersichtlich. 

Es ist nach meiner Meinung der grösste Fehler 
in der Deutung der Mythologie, wenn man 
versucht, ein Göttersystem zu construiren 
und die verschiedenen Namen der Götter in 
einen logischen oder socialen und dramati- 
schenTZusammenhang zu bringen, weil man da- 
durch gezwungen wird, die Götter einseitig aufzufassen 
und nach einem einzelnen Momente ihres Begriffs und 
ihre andern und entgegengesetzten Eigenschaften fallen 
zu lassen. Die Gottheit scheint aber ursprünglich bei 
allen Völkern dieselbe gewesen zu sein, die Sonne mit 
den Ideenassociationen von Leben, Wahrheit, Gutem und 
Recht. Da sie untergeht, musste sich die Idee des 
feindlichen Princips der Nacht bilden mit den Vor- 
stellungen des Kampfes, und da die Sonne wiederkommt, 
musste sich die Idee der Einheit des Alls, des schöpfe- 
rischen Princips bilden und dieses patripassianistisch 



*) Plutarch de Isid. et Osir. 32. d^Q^vos iariv Uqos inl tov 
Kqovov yepofjievog , d-gtp'sV (fe roV iv toTs dgiaregoTg ysvofjLSvov 
/usQsaiv, iv ^k rolg de^iotg (p&^EiQOfJLBvov, Da^s der Nil mit 
Thamu identificirt wird, sieht man auch aus den identischen 
Attributen, z. B. „Vater der Götter, der Einzige, der sich selbst 
erschaffen hat" u. s. w. Vergl. Ludw. Stern: „Die Nilstele 
von Gebel Silsileh", in Zeitschr. f. ägypt. Spr., p. 130, 1873. 



154 Herakleitos ab Theolog. 

mit den zosammeiigehörigen Gegensätzen Ton Leben nnd 
Tod yerschmolzen werden. Diese Ideen erhielten bei den 
yerscbiedenen Völkern verschiedene Namen, nnd es 
wird auch bald die dualistische, bald die monistische Seite 
mehr betont Damm haben wir verschiedene (rötter, die durch 
die historischen Beziehungen der Völker wechselseitig 
oder einseitig anerkannt und zu gemeinsamem Gottesdienst 
vereinigt wurden. Daher entstehen die Verwirrungen 
der Mythologien und der Versuch, die (rottheiten durch 
ihre Attribute, Namen und Orte der Verehrung zu in- 
dividualisiren und zu systematisiren, was niemals ge- 
lingen konnte, und darum giebt es im Heidenthum 
nirgends eine consequente Theologie und Dogmatik, 
weder bei den Indem, noch bei den Aegyptem und am 
wenigsten bei den Griechen. Wenn daher die Identi- 
ficirang der verschiedenen Götter auch willkürlich zu 
sein scheint^ so ist dies doch nur ein Schein; denn die 
Betrachtung der Grandideen zeigt unwiderleglich ihre 
Einheit. Die dogmatisch-systematische Bearbeitung der 
Götterlehre verwerfe ich daher principiell; dagegen 
scheint mir die statistische, geographische und 
historische Betrachtung über die Verbreitung des 
Cultus eines Gottes und die Nachweisung der Ueber- 
traguDg desselben von einem Volke zum andem die 
einzige frachtbare Aufgabe zu sein*). 

Die auffallende Uebereinstimmung des Trauercidtus 
(nlv&og) bei dem Gotte Thammuz und dem ägyptischen 
Tbamu scheint mir die Hypothese der Identität beider 
zu rechtfertigen, ohne dass man sofort nöthig hätte, die 
etymologische Frage zu berücksichtigen oder zu ent- 
scheiden. Bei Ezechiel sitzen die Weiber im Norden 
des Thores des Hauses des Herrn und singen das Klage- 



♦) Man erinnere sich an die Listen des Horos in den ver- 
schiedenen Nomen von Aegypten (L. St.). 



Drittes Kapitel. 165 

lied auf den Thammuz, während die Männer umgekehrt zur 
Sonne flehen*). Es handelt sich dabei offenbar um 
Tod und erflehte Wiederbelebung der Sonne ; denn diese 
beiden Akte gehören zusammen, so dass Thammuz von 
den Propheten mit der Sonne identificirt wird. 



§4. 
Die Einheit der Gegensätze. 

Im ersten Bande dieser Studien habe ich zu zeigen 
versucht, wieHeraklit durch den täglichen Wechsel von 
Tag und Nacht, von Ernährung und Leben, von Wasser 
und Dampf und allen den andern sich wechselseitig aus- 
lösenden Erscheinungen dazu gelangte, in dem Wesen 
der Welt überhaupt einen Gegensatz anzuerkennen, der 
sich doch durch den Uebergang des einen in den andern 
als Einheit bewährt. Der Gott ist nach Heraklit Krieg 
und Frieden, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Die 
Sonne stirbt im Wasser, und aus dem Wasser geht 
durch Verdampfung wieder die Sonne hervor in bestimmt 
geordnetem Wechsel. 

Wir wollen diese Gedanken jetzt bei den Aegyptem 
verfolgen und können gleich den Anfang machen mit 
ein paar kritischen Bemerkungen zu den verdienstvollen 
Erklärungen Naville's. Die ägyptischen Texte dürfen 
nämlich, wie mir scheint, sofern sie Mythologisches 
enthalten, nicht einfach als historische Berichte 
übersetzt werden, sondern man " muss die philosophischen 
Gesichtspunkte dabei festhalten. 



*) Ezech. VIII, 14. xcci i&ov ixet yvvcctxsg xcc^t^fiSPai d^Qfj" 
vovauv rov ©af^fxov^. — 16. ttxoai avdfteg — xai ovtoi nqo- 
axvyovai rw nXCo), 



IM 



HerakleitOB ab Tbeolog. 



Nun übersetzt Naville: „Je suis Trau, loraqtfu 
est l'unique; je suis Nuu, je suis Ra portant son dia- 
tleme au commencemoiit de la aouverainotö qu'il a exercie. 
G'cät Ra apparaidsant d'abord dans sa royautä, lors- 
qu'il n'j avait point eiicore de firmaiuent et qu'il 
ßtait 8ur la liauteur d'ÄmseBennu." *) Hier ist von 
Naville nicht beachtet, das3 es sich um keiue histori- 
schen Ereignisse hmidelt, sondern um dogmatische 
Begriffe. Die ägyptiBche Coujunction M darf daher hier 
nicht als temporale durch loraque wiedergegeben wer- 
den, sondern ist das griechische lug und ,^**), das la- 
teiuische qua and quateous, das deutsche sofern und 
als. Ich übersetze daher: „Ich hin Tmu, sofern er 
das Eine (rö tv) ist." Dies Eine ist das ?v mi näv, 
denn nur dieses ist wahrhaft „allein" {ftöfav) ohne alle 
Gesellschaft, was die hieroglyphischen Attribute erfordern. 
Dieser Gedanke ist von Pythagoras***) und den joniscbea 
Philosophen anerkannt. Der Gott ist das Eine und 
darnm das Verborgene, wesabalb Tum und Ämmon in 
diesem Sinne durchaus übereinstimmen. 

Das Folgende darf auch nicht historisch ver- 
atauden werden, obwohl es, wie Naville bemerkt, zu der 
Vermuthung berechtigt , dass die Aegypter die Vor- 
stellung des Chaos ebenfalls hatten; denn die dogma- 



*) Bmgaoh: Chemeimii. 

**) Wia z. B. Aristotelea sagt: lo Sf p Öv, und wie in der 
philoBophificben Sprache Oberhaupt die Bcziebnng des GedaailieiiB 
auf ein beBtijurateB Merkmal des Gegenstandes anagedrückt wird. 

•**)Ln.dw. Stern („Seelenwanderangd. Aegypter", Analand 
1870, ä. BOG f.) lässt den PytbagoraB die MetempsycboBe von 
Aegjpten entlehnen und fägt hinzu: „Vun Indien, scheint es, 
hat die griechische Philosophie nichts entlehnt, mit Aegypten 
her&hrt aie sich nnaofhörlich , wie die clasaischen Autoren ein- 
stimiuig bezeagen." 



Drittes Kapitel. 



157 



tischen Begriffe bleiben immer zeitlos stehen, und 
Tmn ist noch immer vorhanden als verehrungawürdigster 
und höchster Gott, obwohl das Chaos nicht mehr be- 
steht. Dies wäre nicht denkbar, wenn wir die Dar- 
stellung historisch fassten, statt begrifflich. Es be- 
deutet daher das Folgende, dass die Einheit Tmu auch 
als (M ^ fi) zerlegt betrachtet werden kann in die 
beiden Gegensätze von Nan und Ka, d. h. Wasser 
und Sonne. Ra wird dabei in den beifolgenden, ver- 
schiedeneu Glossen als Epiphanie des Tmu gefasst, der 
in seiner Einheit verborgen bleibt, während Ra durch 
seinen Aufgang als Sonne die Herrschaft der Welt hat. 
Es ist nicht gesagt, dass vor dem täglichen Erscheinen 
der Sonne Chaos herrschte, weil diese Bestimmung keine 
historische ist. Aber mit der Zerlegung der Eiuheit in 
Nun und Ra beginnt doch erst die Scheidung von 
Himmel und Erde oud die ganze Wirksamkeit des 
Gottes. Man mag daher diese begrifflichen Bestimmungen 
immerhin historisch ausdrücken, mu^ aber eingedenk 
bleiben, dass man mit Dogmen zu thun hat und nicht 
mit Eönig^eschichte. 

Dieser Grandgedanke einer Einheit, welche in 
zwei Gegensätze zerfallt, die sich bekriegen und 
doch zusammen eine Harmonie bilden, indem sie im 
Grande Eins sind, und die desshalb in einem bestän- 
digen Fluss in einander übergehen, dieser Grundgedanke 
findet sich wie bei Heraklit, so überall im Todtenbuch. 
So z. B. heisst es im sogenannten siebzehnten Kapitel 
S, 42 des Todtenbuchs: „Ich schaue, wie die Sonne 
gleich wird dem Westen (Hades). Ich bin die Seele in 
ihrer Syzygie (Doppeltheit, Dualität oder Gegensatz in 
der Einheit). Ein anderer sagt*): Osiris ist's, er geht 



■) Lndw. Stern („Katechisnuia der alten Aegjpter", Äoa- 
lond 1871, S. 800) hat die Worte ti zed zuerst so übersetzt, wäh- 



I 



158 



HorakUitOB als Thpolog. 



nach Dadu (d. h. er stirbt); er hat gefunden die Seele 
der Sonne dort (d. h. im HadeB): siehe, da vereinigt 
sich der Rine mit dem Ändern, und siehe, es wurde seine 
Seele zur Doppeltheit, nämlich einmal ?.u Horus, der da 
ehrt seinen Vater und dann zu Horus, der in der Ver- 
neinung ist."*) Das Veratändniäfl ist sehr einfach; denn 



rend man frQber „aliter dictum" sagte, oder auch „erkläre es so" 

Teratand. Ks sind damit Varianten gemeint, oder wenn man es 
eachlicb bezelclinen will, sü maea mm. wie mir Bcheint, es als 
yergleichende Mythologie anffaaaen, da die Priester den- 
Belben Gedanken in Teruhjcdenen mythischen Cildem aiugedrQclit 
fanden und daliei diese vcrsciüedenen und doch dem Sinne noch 
identischen Aosdrilcke nebeneinander stellten. 

*) Ich übersetze nach Brugscb. Birc]i(li!g)*pt'BplaceT, p. 176) 
Übersetzt: „I am the Soul in his two halves. Let him eiplam it. 
Osiris goes into Tattu, he flnds the aonl of the Sun there. One 
and tho other are united. He is transforraed into liis sonl from 
bis two halves, who aie Herus the suataioer of bis fatber, and 
HoruB who dwells in the shrine," — Ladw, Stern („Katechis- 
B der alten Aegjjitet", Ansland 1871, S. 85i) Qbersetzt: „lob 
bin die Seele in ihrer Zweiheit, Was ist das? Als Osiris Dodu 
betrat, fand er die Seele des Ea dort: sieb da verband sich der 
Eine mit dem Andern, nnd so ward seine Seele zmr Doppelscele. 
Das ist Horus, der Eäober seines Vaters, und Homs der Doppel- 
äugige (in Seobem), Nach andern: die Seele in ihrer Zweihait 
ist die Seele des Ba und des Osiris; es ist die Seele des Schu 
und der Tefnut; es sind die Seelen in Dedu." (Col. 42 — iö.J Ich 
fühie noch dabin gebGrige BemerlcnngeD von Stern an. Er oi- 
innert daran, daas oap. 125, 3 der Gott auch Zwilling genannt 
wird, nnd sagt zu dem ganzen Passus: „Die ganze ägyptisclie 
Mythologie beruht auf jenem Duoliemne, der die Gottheiten paar- 
Ecbuf." (Ich halte den Ausdruck Dnalismua nicbt fQr ganz 
zutrefiiind, da dieZweiheit ja immer in die Einheit vcracbnindet und 
das eine in dos andere sieb verwandelt. Ea ist also nur schein- 
barer Dualismus and wahrer Moniemas oder Zweiheit der Er- 
scheinung, Einheit des Wesens. Stern tbeilt übrigens diese Auf- 
fassung vollkommen, nnd nur sein Ausdruck war uiiflsveratändlich). 
„Indess, oh man Ba und Osiris, ob man Horus und Osiris als 
die Doppelseele aufTasst, man findet immer i^icdcr die ZuEammen- 



Drittes Eapitol. 



159 



die Sonne, als Princip der oberen Welt, stirbt und geht 
im Westen unter den Horizont (nacb Dadu, d. h. Men- 
dea oder Busiriä, wo das Grab des Oairia ist)*). Nun 
würde die Sonne ein für alle Mal veruichtet sein, wenn 
in der unteren Welt, welche die Verneinung des Lebens 
oder das Grab aller Dinge der Lichtwelt ist, nicht doch 
auch dasselbe Wesen verborgen steckte, welches als Sonne 
oben erscheint. Also rausa der Gegensatz zur Harmonie 
durch die Einlieit des Wesens mit sich zusanimengehen, 
und dies Princip in seiner Doppeltheit (ra zauif) ist dess- 
halb Beides, sowohl der Horns, der seineu Vater ehrt, 
d. h. die neue Sonne, als auch der Horiis in der Ver- 
neinung des Hades, oder wie Heraklit sich kurz aus- 
drflctt; dasselbe ist Hades und Dionysus. 

Im Todtenbuch wird derselbe Gedanke durch weitere 
synoptische dogmatische Auffassungen erläutert; „Was 
die Seele als Doppeltheit (hir zauif) betrifft, so ist das 
die Seele des Ra (Dionysus als Sonne) und die Seele 
des 08iri3(Hades)"**). Statt der beiden Formen des 



Stellung des Licbtgottes und des Gottes derTodten. Sehn 
ist der StlStzerdesFimiaDients, der Gott der Luft; mit ihm zoeam- 
men wird fast immer seine löwenköpflge Gattin Teftint, eigentlich 
Schaum des Oceana, eine Form der ägyptiachen Aphrodite, ge- 
nannt." — Aehnlich tat bei den Griechen HephästoH und Ares 
als Gatte mit Aphrodite verbünden. Sehn ist wörtlicii der 
„Brenner"; dies ist meteorologisch die dvaSvfAlamg , welche Luft 
und Himmel bildet imd liält, 

*] Genau genommen muea man zwei verschiedene Ausdrücke 
fOr die Unterwelt trennen. Yergl. Ladw. Stern (Aualand 1870, 
Nr. 26, S. 611j „Ueber die Seelenwanderung der Aegypter"): 
„Doaut and Amentet. Beides ist die Unterwelt, mit dem Unter- 
schiede, das« sich mit jenem die Niilie des Ba, mit dieeem die des 
Osirifi verbindet, was auch die Etymologie befiirwortct, denn 
Duant ist der Margen, Amentet der Westen." 

**) Birch 1. I, übersetzt: „Or, The aoul in bis two lialvea 



160 Harakleitos als Theolog. 

Horus tritt hier also als Aequivalent der Gegensatz von 
Ra und Osiris auf. Die vergleichende M}i;hologie des 
Todtenbuehs ist aber noch nicht zu Ende; der philo- 
sophirende Priester sieht ein^ dass auch noch ein anderer 
Gegensatz hiermit identisch ist: „Es ist die Seele des 
Schu (Apollo) und die Seele der Tafenet (Hathor 
oder Aphrodite*) und bliese bedeutet die Seelen, welche 



is the sonl of the Sun and the sonl of Osiris, the soul of Shu« 
tbe äOTÜ of Tefim, the souIs who belong to Tatto.'* 

*) Noch Champollion (Grammaire 121) gleich Daphne. Wenn 
ilies richtig ist, so haben wir deutlich wieder denselben Gegen- 
satz; denn Daphne ist nach Pansaniaa (X, 5. 3) die Prophetin 
der Ge im delphischen Tempel, welcher ursprünglich der Ge zu- 
gehorte, obwohl auch Poseidon, nach Mnsans, gemeinschaftlich 
mit ihr das Orakel besass. Sie ist also Vertreterin der unteren 
Welt, die aus Erde und Wasser besteht. Dass Daphne auch das 
Wasser repräsentirt, sehen wir aus dem Mythus, den Pausauias 
(Yin, 20) erzahlt; denn da Leukippos. der naturlich schon wegen 
der Etymologie an den Sonnengott erinnert, sie liebt, wird er von 
.ihr und ihren Jungfrauen im Flusse Ladon getödtet. Die Sonne 
stirbt ja tagUch im Wasser, wenn sie die untere Welt erreicht. 
Dass die Daphne das mannliche Geschlecht flieht (oTicrr rd aifc^r 
y&fo^ <p€vyowraw), ist sehr nothwendig, da die untere Welt ihrem 
Wesen nach ewig weiblich und junglraulich bleiben muss. (VergL 
Neue Stud., S. 40 und Stud. z. Gesch. der Begr., S. 338.) Die 
dichterisch ausgeführten M}'then behalten also immer die Zuge 
bei, aus doien man die ursprüngliche Idee wieder construiren 
kann. Darum Mit hier auch der Zug nicht, den Ovid aufge« 
nommen. dass die Daphne vor des Apollo Liebe in den Schooas 
der Mutter Ge flieht und in den Baum verwandelt wird; denn 
wir kennen ja den Sinn dieses Mythus (vergL oben Neue Studien 
I, S. 36 f.) und wundom uns nicht über seine Wiederholung in 
den Terschiedensten Mythoi, da die Gottergeschichten ja alle an» 
einer Grundidee herstaönmen. So sagt Pausamas (X, 5. 5) : Ilout* 

sm^uitf^ifyftt Sk rovg xla^ows ano t^s Satpvtig r^g 4v zotg T^^-> 
;ictf«- JttcXvßng d* ühf <r/i^Ka ovrmg ys ay s*Jr naQ^üx^fum^ 
0f»i^f 6 wmof. Philo würde hier gleich in der Verhüllung 



Drittes Kapitel. 161 

in Dadu sind." Schu, d. h. der Brenner, ist das Feuer 
Heraklit's ; Schu stützt auf dem berühmten schönen Pa- 
pyrus in Leyden den Körper der Nenet*), und auf 
diesem fährt der Sonnengott Ka im Boot. Schu hat 
hier also die Stelle des Apollo ; die Tafenet aber erklärt 
Brugsch durch Taf (Schaum) und Nenet (des Meers). 
Wenn dies richtig ist, so wäre sie danach also Aphrodite 
und Hathor. Hathor bedeutet hieroglyphisch „Haus 
des Horus" und dies bezeichnet wieder die untere 
Welt, denn die Sonne stirbt im Meere, und alle Leben- 
digen gehen in das Haus der „grossen Mutter" 
in Dadu, d. h. sterben. Plutarch erklärt daher sehr 
gut die Hathor durch das Platonische weibliche 
Princip, welches Alles aufnimmt, und aus welchem 
Alles erzeugt wird. Wenn Tafenet daher Aphrodite ist, 
so ist damit wohl auch die Heraklitische Geburt der 
Sonne aus der Verdampfung des Meeres angedeutet.. 
Die Todtenwelt, aus welcher alles Lebendige entsteht 
und welche durch Tafenet repräsentirt wird**), soll also 



wieder das Zelt des Abraham finden und den Baum, unter den 
sein Gott kommen soll (vergl. Neue Stud. I, S. 38). Die Apo- 
krypsis des Gottes ist deutlich angezeigt, und die Analogie mit 
dem Dionysus- Mythus bei Clemens und mit den Anspielungen 
Heraklit's scheint mir ohne Weiteres verständlich (vergl. Neue 
Studien, S. 82 u. 35). 

*) Nenet bedeutet das Wasser im Luftraum, welches bis zum 
Monde reicht nach der alten Meteorologie. Dass Shu die Nenet 
stützt, bedeutet die dvu&vfxlaaig, deren letzter Akt Ra ist. 

**) Als Hades erinnert Tafenet an den Tatpsd in Jeremias 
VII, 31. xal (O7co66(xriaav top ßüjfÄOV tov T«q)4d', ög botiv iv 
tpccQayyi, vlov ^Evvof^, rov xaraxaCsiv rovg vlovg avtcüv xal rccg 
&vyaT6Qttg avrdSv iv nvqi. — 32. ß(0fji6g rov Tcc(pkS- xal q)d- 
Qay^ vlov ^vvofjiy «AA' »J q){CQay^ iwr duijQrjf^ispojy ' xeci d-dxpov- 
aiv ev TW Ta(pB&, Der Wechsel des Geschlechts hat in der 
Mythologie keinen Anstoss, doch will ich natürlich niclit die ety- 
mologische Identität behaupten, sondern nur bemerken, dass die Idee 

Toichmüllor, Zur Gesch. dor Begriffe. 11 



162 I(crakk'it«j8 als Theolog. 

nach der kühnen, dogmatisclien , vergleichenden Mytho- 
logie des Todtenbuchs mit Schu, dem Itepräsentanten 
der oberen Lichtwelt in eine Einheit, die zugleich 
eine gegensätzliche Doppelheit ist, zusammen- 
gefasst werden. Hades und Dionysus ist dasselbe nach 
Heraklit. 

Die Rolle, die hier der Tafenet zugetheilt wird, 
spielt sonst auch Bubastis*), die entsetzlich als 
Sexet und freundlich**) als Bast ist. Sie ist Isis, 
Astarte und Hathor. Ihr zu Ehren wurde das grosse 
Becher- und Trunkenheitsfest gefeiert, bei dem 
nach Herodot Niemand nüchtern bleiben durfte, und die 
entsprechende Feier der Liebe, wie dies der „ Premden- 
aphrodite des Herodot und der Venus Urania" geziemt. 
Denn der Sonnengott Ea geht ja Abends in das Wasser, 
er wird wässerig nach Heraklit, und es ist ihm eine 
Lust zu Wasser oder trunken zu werden. 

Diese Vorstellungen scheinen in fast allen Mytho- 
logien vorzukommen; darum mag es erlaubt sein, ab- 
schweifend auch an unsere Edda zu erinnern. Wir sehen 
da, wie Odin als Bölwerkr bei Gunnlödh in Liebe liegend 
einen Trunk des theueni Meths trinkt, aus Odhrörir ge- 
schöpft, dem verjüngenden Göttertranke***). So trinkt er 
auch einen Trunk aus Mimir's Quelle und setzt sein 
Auge (die Sonne) zum Pfand. So trinkt Thor (Donar) 
bei Thrym drei Kufen Meth zum Erstaunen des Biesen, 

Abgrund und Todtenwelt, letzteres von Jcremias in bitterer Ironie 
betont, an dieselbe Vorstellung erinnert. 

*) YergL darüber auch Ebers: Durch Gosen zum Sinai 
S. 482 if. 

**) Der Ausdruck hotep entsi)richt dem griecliischen al&oltj, 
von dem ich Bd. I, S. 29 gebandelt habe. Der Hades muss noth- 
wendig diese beiden Attribute haben, weil er Tod bringt und 
durch Vermischung oder Liebe Leben giebt. 

♦♦*) Simrock, Mythologie, S. 216. 213. Ü8. 



Drittes Kapitel. 163 

so trinkt er bei Utgardloki aus dem Hörn, welches das 
Meer bedeutet, wo auch die Katze (Bubastis), welche die 
untere Welt bedeutet, wieder erscheint*), die er als 
Herkules aufzuheben versucht. 

Die „ Herrin des Festrausches ", Bubastis, spielt aber 
nicht nur die KoUe des Wassers in der untern Welt, 
sondern, da Ea (die Sonne) nach seinem Untergang 
wieder von Westen nach Osten segelt, auch die Rolle 
der Liebe, denn sie muss die neugeborene Sonne er- 
zeugen; darum werden ihr zu Ehren die Liebesge- 
nüsse gefeiert und darum wird sie im Todtenbuch als 
die Mutter**) des Nefer-Tum, d. h. des Sonnengottes 
Thmu bezeichnet***). Der Dionysus hat also in der 
unteren Welt zwei Aufgaben zu erfüllen; er muss sich 
berauschen, oder wässerig werden nach Heraklit, d. h. 
sterben, und muss der Liebe pflegen, um wieder als 
junger Gott, als täglich neue Sonne, aufgehen zu können. 
Diese beiden Aufgaben beziehen sich auf den Gegensatz 
und das Werden der Dinge; die Einheit der Welt aber 
tritt in einer andern Vorstellung heraus, von der wir 
unten weiter zu handeln haben. 



*) S i m r c k 1. c, S. 247 iF. In der Auslegung weiche ich viel- 
fach von Simrock ab. 

**) Es ist auch interessant, zu bemerken, dass im Aegyptischen 
das Wort mau oder mu-t sowohl Mutter als auch sterben 
bedeutet (vergl. Goodwin und Chabas in Eevue arch^ol. 1860, 
p. 235), nur die hinzugefugten Determinativzeichen, die sitzende 
Frau und le signe du suicide oder statt des letzteren auch das 
Hörn des typhonischen Thieres unterscheiden die beiden Bedeu- 
tungen. Die Erde ist das Grab der Dinge und ihre Geburtsstätte 
und die Göttin der Erde und Unterwelt ist immer zugleich Tod 
und Liebe. 

***) Vergl. Ebers a. a. 0. Todtenbuch 17, 55. 



11* 



164 Herakleitos als Theolog. 



§5. 
Ewiger Fluss, Krieg und Harmonie. 

Der ewige Fluss aller Dinge ist bei den Aegyptern 
eine sehr hervortretende Lehre. Dazu gehören zwei 
wesentliche Bestimmungen, erstens, dass Alles einen An- 
fang und ein Ende hat, also der Beständigkeit und des 
Stillstands entbehrt, und zweitens, dass bei den Ueber- 
gängen in alle Formen des Daseins doch auch Alles 
dasselbe ist, da ja das Endende wieder in das An- 
fangende übergeht. 

Der Uebergang der Dinge in einander tritt in der 
Seelenwanderungslehre deutlich hervor; ich erinnere z. B. 
an den merkwürdigen Mythus von Anepu und Batau, 
wo der jüngere Bruder der Eeihe nach in den Stier, in 
einen Perseabaum und in die Thürschwellen und in 
einen Holzsplitter derselben sich verwandelt und in 
den Leib der Königin fährt und so zum Fötus und dann 
zum Pharao wird. Trotz aller Verwandlungen ist er 
immer derselbe*). Der Wandel aller Dinge ist dem 



*) Vergl. hierüber auch Lud w. Stern („ Seelenwanderung der 
Aegypter ", Ausland 1870, Nr. 26, S. 608), der mit Recht den volks- 
thümlichen Charakter dieser Erzählung im Gegensatz zum Stil 
der Hermetischen Literatur hervorhebt. — Meines Wissens ver- 
danken wir erst L. Stern 1. 1. die etymologische Erklärung des 
von jeher merkwürdigen Pythagoreischen Verbotes, Bohnen zu 
essen. Die Bohne heisst koptisch „ aro ", ägyptisch „ aaru ", und mit 
Nasalirung entsteht daraus „ anuro ", welches nebst „aro" der Name 
für das Land der Seligen im Hades ist. An diese Zufälligkeit 
knüpfte die Vorstellung der Metempsychose an, und so findet z. B. in 
der oben erwähnten Erzählung Anepu das Herz seines Bruders 
Batau in einer Bohne. Vom Herzen geht nach ägyptischer und 
griechischer Physiologie das Lehen aus, wesshalb Batau wieder 
lebendig wird, da sein Herz, Geist oder Leben in der Bohne 
steckte. — Es ist darum beachtenswerth, dass Diog. Laert. VIIT, 19 



Drittes Kapitel. 165 

Aegypter eine so allgemeingültige Thatsache, dass er 
sogar den höchsten Gott nicht davon ausnimmt; denn 
auch dieser als Thmu oder Osiris entsteht aus dem 
Wasser, geht als Sonne auf und stirbt täglich, indem 
er zur unteren Welt durch das Thor des Westens wieder 
zurückkehrt. Immer aber bleibt er sowohl in der hei- 
ligen Barke um den Himmel fahrend als auch im Hades 
derselbe Gott, trotz wandelnder Namen und Erscheinungs- 
formen *). 



diese beiden Begriffe eng verknüpft: xuQ&iag re ccnex^cfd-ai xai 
xvd fJLtav, 

*) Darum ist Nut die Mutter des Thmu einerseits und 
andererseits seine Gemahlin; er ist sowohl Gott der oberen Welt 
(t6 aVw), als auch der Unterwelt {rö x«Ta)), und desshalb ist er 
auch derselbe wie der Gott Sokar, der im Hades herrscht und 
alle Dinge aus Feuer fabricirt, die wieder an's Licht treten. Man 
vergleiche Todtenbuch 15, 42 ff. (L e p s i u s' Aegypt. Zeitschr., p. 133, 
1872) die Uebersetzung von Brugsch: „Das sind die Worte an 
den Sonnengott Ra, wenn er untergeht in der Welt des Lebens 
(d. h. in den Hades). Der Osiris N. (d. h. der Verstorbene) spricht 
also zum Preise des Tum, wann er untergeht in der Welt des 
Lebens und [wann er spendet] den Strahlenglanz der Tiefe: Sei 
gegrüsst! der du untergehst in der Welt des Lebens, du Vater 
der göttlichen Wesen. Du vereinigst dich mit deiner 
Mutter im Lande der Memnonien (d. h. im Hades). Es em- 
pfangen dich ihre Hände alltäglich. Es hat Theil deine Majestät 
an dem Heiligthume des Gottes Sokar." — Ra ist desshalb auch 
Tum und beides Horus. Vergl. ebendas. 36 : „ Zum Preise des Ra, des 
Horus der beiden Lichtsphären, wann er untergeht in der Welt 
des Lebens: Anbetung sei dir Ra! Anbetung sei dir Tum bei 
deiner Ankunft (nämlich im Hades)!" Und ebendas. 39: „Herr 
des Himmels, Fürst der Tiefe! Es umarmt dich deine 
Mutter Nut, erkennend ihren Sohn in dir als den Herrn der Ehr- 
furcht und als die allmächtige Urkraft. Du gehst unter in der Welt 
des Lebens in der Abenddämmerung." — Darum muss, wie 
ich glaube, auch Oedipus, der Mann seiner Mutter, sich die 
Augen ausstechen, nicht aus moralischen Qualen, wie der Dichter 
es motivirt, sondern weil Oedipus der Ra ist, dessen Auge die 



I(ü) llenikkitos !il.s Tho(ili>g. 

IUP. (ie^fiisat/o, ilio bei dipson Uiiiwaiidluiigeii aaf- 
trctrii, Hind ihm Ao^^ptorii wühl zum Bcwusstsein ge- 
koinnuMi und der Huuiitsaclu' nach auf Wasser and 
Feuer yAirfick/ufuhren; denn Isis und Nephthys^) sind 
in crätor Linie das Wasser als Ant'an<( und Ende, Osten 
und Westen des (luttes, der als Thum oder Ka oder 
Hör US aus dem liOtus, d. h. aus dem Wasser, sich er- 
hebt und als Stmnenfeuer die Welt behcrräclit. Die 
Kntsteliun^ des üuttes ist daher eine Verdampfung 
(aya^i'fiiu(7tg)j wie bei der Seele, die überall als die ans 
dem Itauchergeiass aufsteigende Flamme bezeichnet 
wird. 

Da durch die Umwandlungen jedesmal eine Form 
des Daseins zu (j runde geht, so nmsste die Vorstellung 
des Krieges entstehen**). Daher haben wir die Mythen 
von Osiris und seinen Kampf mit Typhou. Der Osiris 



Sonne ist, die täglicli crlöseht, wie «las Auge des Mondes monat- 
lich aiiHlilult, was im Todtciibucli 17, "27)- 'M aiisnihrlich f^*8clnl- 
dert und dogniatiscli erklärt wird. KIxmiko verliert Odin sein 
Auge in der Quelle Miniir*s. — Mir scheint Edouard Nä- 
vi Ue Recht zu haben, wenn er unter Sekor („Un chapitre inedit 
du livre de» niortn", Lepsius' Acgjpt. Zeitschr., p. 92,1873) „le 
dieu internal Sokaris" versteht. Denn die unteieWelt ist ja 
von dem Feuer nothwcndig angelullt, diis sich als Sonne wieder 
auH ilir erhebt. Mithin mu88 da unten immer ein Schmied und 
Fabricator wohnen, der mit Hülle des Feuers Alles bildet und 
uchaflt, was an's Licht der Oberwelt tritt, und mithin können 
auch die herrlichen Werke der Menschen nach den Werken dieties 
IlephaestuB benannt werden. 

*) Nach Todtenbuch 17, 87 sind Isis und Nephtys beide an 
der Conccption und dem Auferziehen des üottes betheiligt. 

**) Ich erwähne hier die sehr interessante Abhandlung von 
Ch. Clermont-Ganncau (Revue archeolog. 1876, p. 372 — 399), 
der den Horus mit Perscus, dem Khidrc und unserem hei- 
ligen Georg zusammenbringt, letzteres nach dem Basrelief im 
Louvre (1*1. XVI 11), welches allerdings sehr dafür spricht. Horus 
ist wesentlich kriegerisch als Kächer seines Vaters. 



Drittes Kapitel. 167 

geht durch List zu Grunde, indem er sich in den 
Grabkasten legt. Der Grabkasten ist die untere Welt 
(der Hades), in welche sich der Sonnengott täglich Abends 
zur Euhe legt. Nachher wird der Gott zerschnitten und 
zerstückt in der ganzen unteren Welt verbreitet, d. h. 
das in den Hades einkehrende Sonnenfeuer verbreitet sich 
daselbst überall und befruchtet es, wie denn insbesondere 
sein Schaamglied als Princip seiner Wiederentstehung 
in das Wasser fällt. Die Isis als Wasser sammelt aber 
seine Glieder, und so entsteht denn der Gott wieder und 
führt als Horus den Krieg gegen Typhon weiter, in- 
dem er als neue Sonne im Osten wieder aufgeht und 
die Nacht besiegt, um dann als Sieger über alle Feinde 
strahlend und herrlich wieder im Westen, im Lande des 
Lebens, einzukehren*). Horus und Osiris ist dasselbe, 
obwohl Osiris im Ganzen mehr die Macht des seelischen 
Lichts auch im Hades repräsentirt, während Horus die- 
selbe Bolle für die Oberwelt spielt; dennoch wird auch 
Horus in seiner Doppelheit oben und unten (aVw, xarw) 
anerkannt. 

Wenn nun dieser kriegerische Fluss durch 
Vernichtung der Einen Parthei jemals zum Stillstand 
käme, so wäre damit das Princip dieser Mythologie auf- 
gehoben; denn da sie das Abbild der bedeutendsten 
Thatsache dieser wirklichen Welt darstellt und den täg- 
lichen Sieg der Sonne über die Nacht und den täg- 
lichen Tod des Gottes, von dem alles Leben und alle 
Erkenntniss abhängt, bildlich wiederholt: so darf der 
Sieg niemals ein endgültiger sein, weil sonst die Har- 
monie der wirklichen Ordnung der Dinge in Widerspruch 
käme mit der Mythologie. Die Harmonie kann daher 
nur durch zwei Formen ausgedrückt werden. Erstens 
muss dem Typhon durch Horus das Leben gelassen wer- 



') Todtenbuch 15, 28 u. 34. 



1()8 Hcrakleitos als Theolog. 

den, damit er aufs Neue weiter kämpfen kann und da- 
mit sich also die sichtbare, gegensätzliche Harmonie 
der Welt erhält ; zweitens aber muss auch dem Bedürf- 
niss des Gedankens genug geschehen ; denn das Licht ist 
das Bessere und die Wahrheit und das Leben; 
also muss die innere und unsichtbare («(/.arjj?) Har- 
monie darin bestehen, dass die mit der Sonne associirten 
Ideen von Wahrheit, Recht imd Leben die Herrschaft 
behalten trotz des Wechsels von Tod und Leben in der 
sichtbaren Welt. Dieser Forderung genügt die ägyp- 
tische Mythologie reichlich dadurch, dass sie den in 
den Hades einkehrenden Gott daselbst zum 
Richter macht; denn Hades und Dionysus ist das- 
selbe ; er sitzt auf seinem Throne als Herr des Lebens 
und übt das Gericht; auf der Wage der Wahrheit 
oder der Dike (ma) wird die Seele (ba) oder das 
Herz des Verstorbenen gewogen, und so behält das Gute 
den Sieg. Die Welt löst sich desshalb nicht in einen 
dualistischen Krieg von Gegensätzen auf, sondern der 
Akt der Welt, der lichte reine Geist, von allem Un- 
reinen abgesondert, vereinigt sich mit Osiris, dem Princip 
der Welt*). 



§ 6. 
Die Reinen. 

Wie nun bei Heraklit die Verdampfung des Irdischen 
die Rückkehr zum Princip ist, und die Seele als reines 



*) Danim ist so viel von dem verborgenen Gott der Tiefe 
die Rede, der zugleich das geistige Leben, die Erkenntnis» 
und Wahrheit re])räsentirt. Vergl. z. B. Todtonbuch 15, 28 
und 47. Brugsfch in Lepsius' Acgypt. Zeitschr., p. 133, 1872. 



Drittes Kapitel. 169 

trockenes Feuer in ewiger Bewegung erscheint, so tritt 
dieser selbige Gedankengang auch bei den Aegyptern 
auf; denn wenn alles Unreine abgethan ist, so erscheinen 
die wenigen Auserwählten als die Leuchtenden, oder 
Glänzenden (a/u) und vereinigen sich mit Osiris und 
vollziehen mit ihm den ewigen Lauf am Himmel. Die 
Auserwählten werden ägyptisch Teramu genannt*); sie 
heissen aber auch die A/u, die Herrlichen und Glän- 
zenden und Seligen (user und mae;(r). Diejenigen, welche 
alle Unreinheit (asfetu) abgethan haben, werden selbst 
zu Osiris. Darum heisst der Verstorbene als Gerecht- 
fertigter und Keiner ein Osiris und identificirt sich mit 
allen Göttern. Er wandelt mit Ka um den Himmel, 
die Federn auf seinem Haupt bedeuten die Wahrheit 
und Gerechtigkeit**). 

Man darf aber von der Mythologie niemals einen 
streng logischen, systematischen Zusammenhang erwarten ; 
denn sie muss sich ja immer anlehnen an die grossen 
Thatsachen der Erfahrung, die für das menschliche Leben 
entscheidend sind und doch niemals ohne Spiel der 
Ideenassociation rein in ethische und metaphysische Be- 
griffe aufgehen können. Da nun die Sonne, um in den 
Hades zu gelangen, nothwendig immer erst im Westen 
durch das Meer hindurch muss: so ist es natürlich, dass 
der Aegypter auch ein grosses Wasch- und Keinigungs- 
bassin (ab) annimmt, welches zur Vertilgung aller Un- 
reinheit und Sünde dient. Die Seele wird dadurch 
aber nicht feucht, sondern erscheint im Hades immer 
als glänzendes Licht; und Osiris ist der Fürst des Lichts 



*) Vergl. Lud w. Stern, Nilstele von Gebel Silsileh, p.2u. 4. 
Aegypt. Zeitschr., p. 132 f., 1873. 

**) Ueber alle diese termini z. B. im Hymnus an Osiris vergl. 
C ha Las. 



IxskiäsSMf m. Tunu«:. 






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^. J Jtfly i(i''^i>;Ä< <iv**^ ,; yni'A^^ diTJÄWfc ~ viödozitil. der aLer a»cii. 



Drittes Kapitel. 171 

angedeutet wird, dass der Logos als Weisheit und Ver- 
nunft dem Verstorbenen innewohne, dass er ein Wissen- 
der sei, der die Weltordnung verstehe und alle Eäthsel 
auflösen könne und darum alle Schwierigkeiten bei 
der Wanderung durch die Pforten des Hades über- 
winde*). 

Folgen wir dem Todtenbuch, so besteht die Kraft 
dieses Logos offenbar darin, dass der Selige (ma/er) alle 
Dinge erkennt und alle Gegensätze auflöst, indem er 
ihre Identität zeigt. Es kann ihm nichts widerstehen, 
weil das Widerstehende auch als Eins gefunden wird 
mit dem Thmu, welcher das allein Seiende ist. Alle 
Götter verschwinden vor dieser Analyse des Todteubuchs 
in dem Einen Gott, und damit kein Best übrigbleibe, 
so identificirt sich der Gestorbene noch selbst mit Thmu 
und dadurch mit der Weltordnung und allen Göttern, 
welche als Erscheinungsformen und Wirksamkeiten des- 
selben aufgefasst werden. 

Wie aber Heraklit den vernünftigen Geist und das 
ordnende Mass und Gesetz der Welt in das Feuer setzte 
und der sichtbaren Materie so ein Inneres, eine leben- 
dige Seele gab, offenbar nach der groben Analogie mit 
den Thieren und Menschen, die sinnliches und übersinn- 
liches Dasein zugleich besitzen: so konnten auch die 
Aegypter die geistigen Eigenschaften, die sie als Er- 
kenntniss, Wahrheit, Recht und Heiligkeit beschreiben, 
nicht von der sinnlichen Erscheinung des Lichtes und 
Feuers loslösen. Der Schöpfer (kepher) ist die Sonne 
und wird in den verschiedensten Formen immer mit dem 
Feuer und Licht symbolisch bezeichnet und damit iden- 
tificirt. Wie Heraklit aber dem Feuer auch die Rolle 



*) Diese ägyptische Auffassung scheint dem menschlichen Geiste 
überhaupt zu entsprechen; denn sie findet sich auch ganz analog 
in der Edda überall. 



172 Herakleitos als Theolog. 

der Verniclitiing neben der positiven Entelechie ein- 
räumen nuisste, da sieb Alles gegen Feuer umtausclit 
und das Feuer Alles ergreifen wird, wodurch sieb die 
Einbeit des Princips allein beweisen kann: so findet sicli 
dasselbe auch im Todtenbuch; denn das Feuer, welches 
die Frevler (xcftu) ergreifen und die Seelen der Un- 
reinen verzehren wird, ist bei dem Aegypter Grund der 
Angst vor dem Hades als Typhon, dem Fresser von 
Millionen*), der sich von dem Fleisch der Gestorbenen 
nährt und von dem Stinkenden lebt**). Das Feuer hat 
also hier wie dort die negative und die positive Bolle. 

Darum findet sich denn auch für Heraklit wie für 
die ägyptische Weltanschauung die Schwierigkeit, 
wie man sich das Feuer in der untern, der 
verborgenen Welt, denken soll. Es gab dafür 
nur zwei Auswege; denn die Schwierigkeit dadurch zu 
umgehen, dass man sich die Erde sammt dem Meer 
als begränztc Kugel vorstellt, um welche die Sonne auch 
nach ihrem Untergang unverletzt und herrlich herum- 
wandeln könnte, dieser Gedanke gehört nicht in das 
Todtenbuch und nicht in Heraklit's Naturphilosophie. 
Für beide ist die Welt auf den Gegensatz von Oben 
und Unten eingeschränkt, und die untere Welt, um- 
schlossen von dem Meere, empfängt Abends die heim- 
kehrende, heilige Barke des siegreichen Gottes, und der 
Gott muss in seinen Sarg hinein, in das Haus der 
Hatlior, bis ihm Morgens wieder die Thür geöffnet wird, 
und er aus dem Lotos als Schlange oder Käfer oder 
Sonnendiskus mit seinen Wind und Leben bringenden 
Flügeln sich erhebt. Und so alle Tage. 



*) Todtenbuch 17, Q(j : „ Am hehii ran-f ", Fresser von Millionen 
ist sein Name. 

**) Todtenbuch 17, 73. 



Drittes Kapitel. 173 

Zwei Auswege aber boten sich dar. Einmal nämlich 
kann das Feuer in der verborgenen Welt wie das un- 
sichtbar unter der Oberfläche des Leibes versteckte Feuer 
der Seele mehr nach seiner übersinnlichen und 
geistigen Seite gefasst werden. Und dies geschieht 
im Todtenbuche durchaus; denn die höchsten geistigen 
Kräfte werden vorzugsweise erst imLandedesLebens, 
d. h. im Hades, offenbar. Obwohl der ßa in seiner 
Barke um den Himmel schiffend auch alle Herrlichkeit 
und Macht hat, so werden doch, durch den angegebenen 
Gedankengang veranlasst, die überschwänglichsten 
Attribute geistiger und sittlicher Vollendung 
vorzugsweise demOsiris in der Unterwelt zu- 
geschrieben. 

Zweitens aber kann das Feuer dort auch mehr nach 
seiner potentialen Seite betrachtet werden. Der Gott 
muss Abends in den Kasten, in das Holz. Der Sar- 
kophag enthält die Eingeweide des Osiris*). Er muss 
darin gesucht werden, denn er ist verborgen ; bald sucht 
ihn in der Mythologie die Schwester, bald die Isis**). 
Darum heisst es auch in dem Hymnus an Osiris: 
„ Osiris, Herr in Ewigkeit, König der Götter, vielnamiger, 
grosses Wesen, verborgenen Wesens in den Tempeln, 

als Schepeska in Busiris als Herr der Erinnerung 

in Theben, als verborgene Seele in Kerer"***). 
So kommt der Gott auch aus dem Lotos hervor, wie 
das die vielen Abbildungen versinnlichen; er steckte 
also in der Pflanze oder im Wasser f). Darum wird 



*) Todtenbuch 17, 81: „Set entiger amchetu n Osiri". 

**) Ebendas. 17, 86 : „ Ntof Isi kam nek su ". 

*♦*) Hymne ä Osiris ; Chabas, Revue archeoL, p. 65. 2, 1858. 

t) Darum müssen auch (Todtenbuch 17, 89) die Bewohner 
von eher und Heliopolis dem Osiris zwei Palmen schaffen. 
Zwei, wegen der Dualität des Gottes, der Mann und Weib zu- 



174 Henkldtoe als Tlie<dog. 

die Unterwelt auch mit Schlingen dargestellt, nm die 
Bewegung festzuhalten , und das Todtenbach erklärt 
deutlich: „Versteckte Gestalten w^en der Ver- 
borgenheit ist der Name der Schlinge"*). Der Name 
des Kastens ist auch der Name des Bleibens, im Gegen- 
satz zu der Bewegung**); denn wenn Osiris wieder auf- 
geht, tragt er die Federn und Flügel der Bewegung. 
Die Potentiale Gestalt zeigt sich auch in dem Phallus 
des Osiris oder des Ba, welcher der Unterwelt zu- 
kommt und symbolisirt wird durch den lenchtenden Löwen 
als EröSher dessen, was vom ist, d. h. als Ursache des 
Sonnenaufgangs***). Darum ist auch die Auflösung der 
Haare auf dem Haupte an derselben Stelle (17, 93) des 
Todtenbuchs als Symbol der Verborgenheit erklärt: 
„Das Wesen ist es der Isis in ihrer Verborgenheit." 

Obgleich also in diesen beiden Wegen sich das 
Princip des Feuers in der Unterwelt denken liess, so 
begnügte sich die Phantasie damit doch nicht, sondern 
das Feuer tritt auch noch als eigentliches Höllen- 
feuer vernichtend auf in dem dunklen Hades, und 
andererseits behält der leuchtende Helios auch seinen 
himmlischen Sonnenglanz in der Unterwelt. Wie sich 
das denken lasse, wurde nicht genauer untersucht. Solche 
Widersprüche beunruhigen aber auch den Keligiösen 
keineswegs; denn die Ideenassociation musste ihm 
bei dem Gedanken an Ba auch immer das Sonnenlicht 



gleich ist; das Götterlöwenpaar (Sehn und Tafiiet) wird ja auch 
durch das Determinativzeichen von Mann und Weib näher be-' 
stimmt. 

*) Todtenbuch 17, 91: „Schetau aruu m dot amen ran 
a had''. 

•♦) Ebenda». 17, 92: „Ran n kerau qi tot ran n /enu". 

*♦*) Ebenda».: „R iHjdes tep hun pu Osiri qi tot hunnu pu 
n Ra". 



Drittes Kapitel. 



175 



zuführen; ebenso wie der Tod des Gottes am Abend 
ihm die verborgene Gestalt im Kasten zuführte. Das 
muss sich nun )iarnalos vertragen in der religiösen Phan- 
tasie; denn Beides entwickelt sich nacli den psycho- 
. logischen Reproiiuctionsgesetzen mit gleicher Nothwen- 
digkeit. 

Der Logos wird aber bei Heraklit auch nach der 
Bedeutung yon Mass und Proportion gebraucht. Die 
Sonne bat ein bestimmtes Mass, das sie nicht über- 
schreiten kann ; deun der Tag hat eine bestimmte Länge ; 
er kann nicht länger und nicht kürzer sein, als er nach 
der Jahreszeit sein muss. Auf den Tag folgt im Wechel 
die Nacht, die ebenfalls ihr Mass hat. Wollte Helios 
sein Mass überschreiten, so würden die Gehülfen der 
Gerechtigkeit (Dike) ihn finden. Die Gerechtigkeit wird 
so von Heraklit, wie das von Aristoteles in den Niko- 
machien acceptirt zu sein scheint, auf die Gleichung 
zurückgeführt. Der Richter ist der Mittler, der die bei- 
den gleichen Seiten findet. — Ganz ähnliche Vorstellungen 
enthält das Todtenbuch. Dort ist es besonders das Bild 
der Wage, welches die Gerechtigkeit (Dike = Ma) re- 
präaentirt *). Die Dike der Aegypter sorgt für gerechte 
Wägung, und ihre Geholfen sind Änubis und Horus, 
während die gi'osse Zahl der Todtenrichter mit dem Feder- 
symboi der Dike auf dem Haupte ebenfalls für die 
Richtigkeit der W^ung bürgen. Was nun ungleich 
erfimden wird, wird abgeschlagen, wie es im Todtenbuch 
beständig heisst: „Abschneiden oder Abschlagen der Sünde 
I und Unreinheit" Aber auch die besondere Vorstellung, 
dass die Nacht um der Gleichung willen die Massüber- 
achreitung des Osiris (Helios) hindere, findet sich im 
Todtenbuche. Denn es heisst von dieser „Nacht der 
Abrechnung"; es sei „diese Nacht das Verbrennen der 



") Todtenliuch h. 



17C n«.Taklfito8 als Tli<*olog. 

Oefallonen, die Fessfilung dar Unreinen, das Tödten der 
Seelen"*;, und dies wird wieder erklärt, es sei dies 
nämlich „der Pressen<lo, der die Massfiberscli reitung des 
O-siris hindert, die Sclilange Sop"**). Diese Sehlange 
ist das Meer, welches die Sonne aufnimmt. Dass es 
sich hier um Erstarrung in der Unterwelt handelt, sieht 
man auch aus dem weiteren Commentar uel)st Gebet: 
„Kettet den Osiris von der Hand dieser Wächter der 
Kückkehrenden (d. h. der Sterbenden); rettet ihn von 
diesen Göttern, welche Schwäche und Verderben berei- 
ten, aus deren Festhaltung niclit herauskommen können 
die, welche bei Osiris sind (d. h. die Gestorbeneu); 
mögen sie nicht Macht haben über mich!" u. s. w.***) 
Diese gefesselte Todtenwelt ist doch aber zugleich das 
Land des Lebens, und dici Keinen und Gerechtfertigten 
werden wieder frei und zicdien selig und glänzend mit 
dem wiederaufgehendeu Helios um den Himmel als 
Sieger über die Nacht, wie dies Plato in seinem schönen 
Mythus im Phädrus benutzt Ijat. 



*) Todtenbuch 17, 53. 

**) E])enda8. 17, 54. Das Pressen wird durch ncm bczcichct. 
Dies bedeutet die Traubcnprcsse, worunter also Fesselung oder auch 
Marterung zu verstehen ist. Die Hinderung der Massübersclircitung 
sati wird durch das Detenninativzeichen eines Beins, das an seiner fort- 
schreitenden Bewegung durch ein einschneidendes Messer gehindert 
wird, aufs Deutlichste verf'innlicht. Oh Osiris hier als Mensch 
oder Gott gedacht wird, ist einerlei, da ja die ganze moralische 
Bedeutung dieses Vorgangs doch immer auf die der ganzen ägyp- 
tischen Mythologie zu Grunde liegende Lebensgeschichte der Sonne 
zu bezichen ist. Vergl, hier auch Stern, Katechismus d. Aegj-pt. 
(Ausl. 1871, S. 855). 

***) Todtenbuch 17, 57. 



Weltperloden. 

Für den Aegjpter ist die Welt ein ewiger Fluss, 
bestäniiig im Wechsel; aie ist der Gott, der eich selbst 
erzeugt liat nnd der einzig und allein Eins und Alles 
ist. Dieser Gott aber theilb sich selbst in zwei ent- 
gegengesetzte Hälften, eine männliche und eine weib- 
liche. Die weibliche ist die untere Welt, die männ- 
liche die obere mit ihrer Vollendung in der Sonne. Die 
Sonne stirbt täglich und umarmt dann wieder unten 
die Mutter, und steigt so täglich neu erzeugt aus dem 
Wasser wieder auf. Dieser ewige kreisläufige Pluss der 
Welt ist der Ausgangspunkt der optischen Religion, 
und insofern ist die Welt ewig. 

Nach dieser Analogie musste auch die grössere Pe- 
riode des Jahres erklärt werden, und die Mythologie 
wurde deashalb von den priesterlichen Beobachtern des 
Laufes der Sonne durch den Thierkreia mit vielen Göttern 
angefüllt, die bei dieser Periode mas^ebend sind. 

Ebenso folgte dieser Analogie die Lebensgesehichte 
des Mondes. Denn bis zum Monde dachte man sich 
die Wasserregion reichend, und der Mond erscheint darum 
notliwendig wie die untere Welt als weiblich und muss 
mit der Isis vereinigt werden. Sein periodisches Ab- 
nehmen his zum Neumond and sein periodisches Wachsen 
bis zum Vollmond war eine Wiederholung dea täglichen 
Sonnen Schicksals und wurde in ähnlicher Weise mytho- 
logisch ausgestaltet. 

Dieselbe Analogie beherrscht die Periode des mensch- 
lichen Lebens. Die Seele des Menschen ist der Sonnen- 
gott, mit dem sie sich identificiit, und es wird die Seele 
daher bald als das Eine dargestellt, bald als Legion 
ndliche Vielheit von Seelen , die dem 
Sonnengott folgen und sich in ihrer Herrlichkeit mit 



, Zur OcBcU. dsr liegt 



12 



178 Herakleitos als Theolog. 

ihm vereinen*). Die Seele des Menschen stirbt, wenn 
sie in dem Körper geboren wird ; der Leib ist der Kasten 
oder Sarkophag, in dem Osiris begraben liegt Wenn 
der Mensch aber stirbt, so gelangt die Seele in das 
Land des Lebens, und wenn sie gerechtfertigt wird, so 
geniesst sie wieder mit Osiris das Brot des Himmels 
und lebt vereinigt mit dem König und Steuermann**) 
der Welt auf seinem siegreichen Zuge um den Himmel. 
Diese ümkehrung derjenigen Auffassung, welche dem 
gesunden Menschenverstand die natürliche zu sein scheint, 
ist charakteristisch für Aegypten: das Leben ist der 
Tod, der Tod bringt das Leben. Diese ägyptische Auf- 
fassung klingt schon früh fremdartig in die hellenische 
Welt hinein. „Das Beste von Allem ist nicht geboren 
zu sein für die Irdischen", singt Theognis, „und 
nicht zu schauen den Glanz der hellen Sonne; wenn 
aber geboren, doch möglichst schnell in die Thore des 
Hades hinüberzuwallen und da zu liegen mit viel Erde 
bedeckt."***) Hier fehlt nun freilich die glänzende 
Hoffnung des jenseitigen Lebens; bei Heraklit aber 
tritt die ägyptische Auffassung vollständig und ganz 
hervor und zwar in beiden Formen, so dass bald die 
Verwandlung in Heroen und Dämonen betont wird und 
die Vielheit der Seelen vor Augen steht, bald die 
Auflösung in das Eine Seiende, das sich selbst in 
Alles umwandelt, wie dies im Todtenbuche vorherrscht. 
Es ist aber sehr natürlich, dass diese selbige Ana- 



*) Dies hat Plato auch aufgenommen, der von den Seelen 
im Timaeus sagt, sie seien icfccQithfÄOL lolg aargoig. 

**) Das Bild des Steuermanns, das in der griechischen 
Theologie der Philosophen eine so grosse Rolle spielt, findet sich 
tiberall auf den ägyptischen Denkmälern ausgeführt für Thmu, Ba 
und Horus. 

*) Theognis, v. 425 Bekker. 



***\ 



I 



Drittes Kapitel. 179 

logie auch weiter ausgemalt werden musste; denn die 
spätere gelehrte Beobachtung des Himmels zeigte noch 
grössere Perioden, nach denen der heliakische Aufgang 
des Sirius wieder in dieselbe Jahreszeit fallt. Mit der 
fortschreitenden Himmelskunde mussten daher auch die 
Dogmen modificirt, ergänzt oder auch gradezu mit 
neuen Vorstellungen bereichert werden. Ich betrachte 
darum die grosse Sothisperiode nicht als zur 
ursprünglichen ägyptischen Religion gehörig 
und sehe auch die Verlegung des Tages der Abrechnung 
auf diese wissenschaftlich berechnete Zeit nicht als dem 
Geiste des Todtenbuchs entsprechend an*). Es sind 
die darauf bezüglichen Texte als spätere Glossen zu be- 
trachten, die nur mehr oder weniger der Analogie des 
Grundgedankens angepasst sind. Eine eigentliche Welt- 
zerstörung und neue Weltentstehung haben wir aber 
auch in diesen moderneren Auffassungen nicht; denn die 
ewig fortdauernde tägliche Entstehung des Helios bleibt 
unerschüttertes Dogma. Der göttliche Phönix**) ver- 
brennt sich täglich und wird täglich neu geboren, trotz 
der astronomischen neuen Zuthaten, die seinem Lebens- 
process eine grössere Periode ausrechnen. — Diese Un- 
sicherheit oder Verwirrung, welche durch die Astronomie 
in die ägyptische Religion gekommen, macht sich 
auch bei Heraklit geltend; denn noch jetzt sind die 
Meinungen getheilt, ob man den Lebensprocess der 
Welt als einen ewigen mit täglichem Wechsel und be- 
züglichen SchwankuDgen innerhalb der Jahresperiode 



*) Hiermit stimmt die neue astronomische Untersuchung von 
Carl Riehl, Das Sonnen- und Siriusjahr der Ramessiden, 1875. 
Was sich uns aus der Analyse der mythischen Dogmatik ergab, 
beweist Riehl durch astronomische Analyse der Denkmäler. Die 
Sothisperiode und ihre religiöse Verwerthung gehört erst späterer 
Zeit an. 

**) Todtenbuch 17. 10 bennu ist Osiris. 

12* 



ISO HerakleitoR a1.-i TLeolog. 

setzen soll, oder ob man ihm unter dem Einfluas per- 1 
sischer oder ^yptischer Berechnungen die grosse Periode ' 
mit entapreehender SSndfluth und Weltverbrennung vin- 
diciren dürfe. — Die ursprüngliche Mythologie musa 
aber sorgfältig von aller spateren Gelehrsanikoit abge- 
sondert werden , wenn man sie richtig verstehen will. 
In der mythischen Periode gab es keine Sternwarten; 
ohne diese weiss man aber nichts von der Siriusperiode. 
Damm kann für die Mythologie immer nur der Wechsel 
von Tag und Nacht, Sommer und Winter und Leben 
und Tod massgebend gewesen sein , und darum gehört 
die ^y])tische Keligion wie die älteste israelitische 
sicherlich zu derjenigen Weltanschauung*), wonach die 
Welt ein ewiges immanent periodischea Leben führt. 



Corollar über griechische Volkareligion und 
Mysterien. 

Wenn man die Theogonie Hesiod's mit Heraklit's 
Weltanschauung vergleicht, so kann es nicht fehlen, dass 
man mit Heraklit sich über die leere und gedanken- 
lose Vielwisserei des Mythologen auflialten iiiuss. Denn 
ganz sinnlos spricht er von der „ Entstehung " der 
„ewig seienden Göttei'" und zählt sie auf mit Attri- 
buten und Werken und Abkunft, ohne zu merken, daaa 
sich dieser bunte Haufen nicht zusammen denken lässt. 



•) Vorgl. Neue Stiid. I, S. 204. 



Drittes Kapitel. 



ISl 



I 



I 



eine Menge Götter dieselbe Function liaben und 

dass die theils seltsamen, theils absurden Gescbicbten 
etwas dahinter Verborgenes bedeuten müssen. Heraklit 
hat also ßeebt, es fehlte dem Hesiod an Geist {voig). 

Dennoch hat Heaiod wahrscheinlich nicht übel das 
zusammengestellt, was sich im Volksmunde über die 
Götter fortpflanzte, äholich aber besser bearbeitet, wie 
später die Edda und die Kalewala gesammelt wurde. 
Und aneh dadurch ungleich, dass er vielleicht selbst 
Hoch nicht bloss eine gelehrte Freude an Autiquitäten 
Jiatte, sondern mit seinem eigenen Bewusstsein in diese 
bunte Götterwelt halbgläubig verloren war. 

Dui'cb eme tiefe Kluft scheidet er sich desshalb von 
Heraklit, der das Erstaunlicbe sagt: Hades und Dionysus 
ist dasselbe. Da^ wir schon mit diesem einzigen Aus- 
spruch sofort in einer anderen Gedanken- und Gefühls- 
welt stehen, ist offenbar, in der Welt der Mysterien. 
Zwischen Hesiod und Heraklit liegt die Zeit, wo in die 
gi'iechischen Lande die geheimnissvollen religiösen Culte 
eindrangen, und es entsteht nun die Frage, woher sie 
kamen. Sind Religionsstifter in Griechenland aufgetreten, 
inspirirte Propheten? Oder sind diese Cultfl durch Be- 
rührung mit Asien oder Aegypten henorgenifen und 
eingeführt ? 

Ich will hier besonders Bursiau erwähnen, der 
liese Frage neuerdings interessant behandelt hat*). Bursiau 



') fiursian, Ueber den religiösen Charakter des griecbiBchen 
■JfythoB (München 1875), S. 18: „Aus diesem geBteigciten Bcdürf- 
dem VerlSiiigen nach einer, wenn auch nicht grade reineren, 
go doch tiefereo Gottesidee ist die Geheimlehro und der Gehoim- 
iiE der Gogenannten Mysterien hervorgangen, die sich 
zwar nirgends der alten Volksreligion feindlich entgegenstellen, 
vielmehr duichans an gewisse Gestalten derselben anknltpfcn, aber 
doch ihren Theilnehniern eine reichere Befriedigung ihrer religiösen 
ipedüT&iisiio , eine tiefere EiDwiibang aqf das GepSthslebeii, als si^ 




182 Herakleitoa ald Theolog. 

vertritt den ersten der beiden möglichen Standponkte, 
indem er diese nenen Mysterien als eine ,, geoffenbarte 
Religion'' anffasst, die von pessimistisch gestimmten^ 
religiös angelegten Naturen in Griechenland selbst zuerst 
verkündet sei. Er unterscheidet dann die ältere und 
mehr aristokratische Form derselben in den eleasini- 
sehen Mysterien von der gröberen und populäreren und 
weniger kostspieligen, die durch den orphischen My- 
steriencult aufkam und ihre eigene „heUige Schrift** 
(uQOi kltyoi) hatte. — Allein diese Auffassung wäre wohl 



in den poetisch verklärten Mythen nnd dem änsserlichen Treiben des 
öffentlichen CnltiiB finden konnten, in Alissicht stellten nnd nach allem, 
was wir von dem angesehensten dieser Geheimcnlte, den elensini- 
sehen Mysterien wissen, auch wirklich ^währten : Beweise dafür sind 
zahlreiche Aeussemngen athenischer Dichter und Prosaiker der 
classischen Zeit, welche die Seligkeit der Geweihten im Jenseits 
gegenüber dem unseligen Geschick der Unge weihten preisen, 
Aeusserungen, die, da ihre Urheber jedenfalls selbst in die Mysterien 
eingeweiht waren, von der Befriedigung und dem beseligenden Tröste, 
mit welchen dieselben ihre , Epopten * erfüllten, vollgültiges Zeug- 
niss ablegen« Diese Mysterien sind keineswegs, wie 
man oft angenommen hat, Ueberreste alter, durch 
die Umwälzungen der Wanderzeit zurückgedrängter 
und un ter drü ck t er Religionsansc hauungen einzelner grie- 
chischen Stämme, sondern sie sind nachinbalt undFormNen- 
Schöpfungen, ausgegangen von einzelnen Männern> 
welche ähnlich den Religionsstiftern bei anderen 
Völkern, selbst durchaus religiös angelegte Naturen, das reli- 
giöse Bedürfniss ihrer Zeit verstanden und demselben dadurch 
Befriedigung schufen, dass sie gewisse alte Mythen, welche 
das Volk bisher ebenso wie die übrigen Mythen als eine für sein 
eigenes Seelenleben bedeutungslose Ueberlief erung hin- 
genommen hatte, in leicht durchsichtige, inhaltreiche Allegorien 
verwandelten, welche die Thaten und Schicksale der Götter zu 
denen der Menschen in eine Art von vorbildlichem Parallelismns 
setzen und so das gläubige Auge wie durch einen dünnen Schleier 
in eine jenseits der Trübe des Erdenlebens und des Dunkels des 
Todes liegende lichte Zukunft hindurch blicken Hessen/' 



Drittes Kapitel. 183 

nur unserer Zustimmung sicher, wenn sie zwei Be- 
dingungen genügte, die wir aus vergleichender Betrach- 
tung der menschlichen Keligionsformen stellen müssen. 

In erster Linie sehen wir, dass alle übrigen Eeligionen 
einen öffentlichen Charakter tragen. Ein begeisterter 
Keligionsstifter wird sein Licht nicht unter den Scheffel 
stellen ; ein Moses, Buddha und andere haben nicht Ge- 
heimnissthuerei getrieben mit einer Offenbarung, die das 
Wesen und die Aufgabe aller Menschen enthüllte. Die 
Mysterien aber haben, wie wir ganz deutlich sehen, 
Bedeutung nicht bloss für diesen oder jenen, sondern 
für alle Menschen, die sich einweihen lassen. Es fehlt 
darum bei der Auffassung von Bursian die Erklärung 
dafür, wesshalb die Mysterien sich nicht zur Volks- 
religion erweiterten und gar nicht diese Tendenz hatten. 
Damit hängt zusammen, dass die Keligionsstifter auch 
in Griechenland nicht bekannt wurden und nicht wie 
Abraham oder Moses oder auch nur wie die Propheten 
der Hebräer oder wie Manu und Zoroaster in der Er- 
innerung der Menschen hervorragten, sondern, obgleich 
sie später als Hesiod auftraten, doch im Vergleich zu 
diesem bloss sammelnden und compilirenden Gelehrten 
in Dunkelheit verschwanden. 

Eine zweite Bedingung, die wir fordern müssen, um 
4er Auffassung von Bursian beipflichten zu können, ist 
die Originalität. Wenn die Offenbarung in Griechen- 
land erfolgt wäre, so müsste sie originell sein und sich 
von allen anderen Eeligionen durch eigenthümliche Ideen 
und Bilder unterscheiden. Es wird zwar immerhin 
wegen der Gleichheit der menschlichen Natur in allen 
Eeligionen vieles Aehnliche und dem Begriffe nach 
Identische sich zeigen ; dennoch erscheint dies Identische 
überall in verschiedener Form und Ausdrucksweise, mit 
verschiedenen Mythen und Allegorien ausgestattet, und 
wenn der nordische Thor auch Herakles ist, so kostet 



m 



Hcrakluitü» als Tlitiolog. 



63 doch die Arbeit des Denkens, in der Verschiedenheit 
das Gleiche zu erkennen. Die Mysterien der Griechen 

aber enthalten, ao viel wir davon wiasen, nichts Origi- 
nelles, sondern zeigen sich deutlich als ein Abbild de» 
ägyptischen Vorbildes, das in allen Vorstellungen vom 
Elysium und den höllischen Strafen und dem Richter 
und Hunde und der Verklärung und den Weihen und 
im Ganzen und Einzelnen copirt wurde. 

Darum kann ich mich nicht davon fiberzeugen, dass 
wir in Griechenland originelle Keligionsstifter anzuneh- 
men hätten, sondern ich halte die Mysterien für importirt 
aus Aegypten. Kein Gegenstand ist auch so inter- 
national, so leicht von einem Volke zum anderen über- 
zufahren, als die Märchen und die Religionen, und ich 
glaube , man mösste sich eher darüber wundern , dass 
nicht schon in der Homerischen Zeit, wo Theben schon 
von den Griechen gekannt und angestaunt war, die Re- 
ligion von den Aegyptern zu den Griechen hinüberfloss. 
Einen Grund für die Verspätung oder die Langsamkeit 
dieses fast nothwendigen Geschehens sehe ich nur ia 
der verhältnissraässigen Eohheit der Hellenen und der 
entsprechenden Abgeschlossenheit der Äegypter. Als 
Aegypten sich aber den Griechen öfl'nete und grosse 
Krieger und hochbegabte Männer dort Dienst und Zu- 
gang fanden, da muss bei ihrer Heimkehr auch die ße- 
ligion mit nach Hellas gewandert sein. Möge man sich 
dies nun so vorstellen, wie etwa ägyptischer Cult unter 
Salomo mit den ägyptischen Weibern einwanderte, oder 
so, wie Herodot glaubt, daBS Dodona und das Ammonium 
ägyptische Filialen gewesen seien, gegründet durch die 
allegorischen schwarzen Tauben , d. h. durch Sibyllen 
auB Theben*), oder möge man annehmen, dass ein hel- 



) Herod. U, 54. 55. 



leniseher Mann selbst ergriffen worden sei von der Tiefe 
und Wahrheit ägyptischer Frömmigkeit und heimgekehrt 
zuerst in seiner Familie die Mysterien festgehalten habe. 
Es würde sich daraus die aristokratische Natur dieser 
Religion sehr einfach erklären ; denn es Hess sich in der 
, That der Inhalt dieser Wahrheiten dem roheu Volke 
■ nicht ohne Weiteres mittheilen; auch verpflichtete das 
l-Hgyptische Dogma zur Geheimhaltung*), und da der 
r Grieche nicht selbst Roligionsstifter war, dem in hoher 
Fülle der Kraft die Offenbarung zu Theil geworden 
wäre, so brauchte er auch die missionirendo Tendenz 
nicht zu besitzen. Er war nur einer von den Vielen, 
die mit zum Genuss dieser Geheimnisse zugelassen 
waren, und mithin zum Geheimuiss verpflichtet, und 
konnte daher, wenn er in der Heimath selbst als 
Priester in seiner Familie die sacra verwaltete , auch 
nur immer einzelne Würdige gegen den Eid des Schwei- 
gens zur Theilnahme zulassen. Dieser ganze Charakter 
des hellenischeu Mysteriendienstea erklärt sich also nur, 
wenn die Religion nicht original in der Bmab eines 
Griechen geoffeubart wurde, sondern wenn sie als eine 
alte schon längst geoffenbarte Wahrheit von einem höheren 
Culturvolke hinübergenommeu wurde. Denn die Ge- 
heimnisse können sich nur ausbilden, wo die Priesterscbaft 
mächtig geworden ist und ihre Herrschaft durch ver- 
borgene Wahrheiten schützen muss. 

Unter diesem Gesichtspunkte ist es nun ganz ver- 
ständlich, wesshalb Pythagoras, der angeblich durch 
die Themistokleia mit Delphi im Bunde stand , wie 
Heraklit, der mit dem ephesischen Heiligthum zu- 



•) Stern, Ansland (1870), Nr, 26, S. 609: „Halt es ge- 
heim, geheim! «da es nicht aus zu jedermaun, die Wahrheit ver- 
klärt dan Menscheu im Hades, daes et lebt in reinen Gewänderu 
DneDdliche Aeonen," 



186 Herakleitos als Theolog. 

sammenhing, gemeinsam gegen die Volksreligion des 
Homer und Hesiod auftraten *). Andererseits aber leuchtet 
auch ein, dass Heraklit, der, wie es scheint, immer in Ephe- 
sus geblieben war und nicht durch Keisen grosse Kennt- 
nisse und Wissenschaft gesammelt hatte, sondern sich 
auf eine allegorische religiöse Auffassung der Welt be- 
schränkte und im Ganzen bloss den eigenthümlichen 
Pantheismus der ägyptischen und hellenischen Mysterien 
kannte, gegen die gelehrten Vielwisser und Keisenden, 
Pythagoras, Xenophanes und Hekatäus sich erheben 
musste. 



*) Gegen die genealogische Ableitung des Götterstaates bei 
Hesiod ist Heraklit's Auffassung in der That vernichtend; denn 
in seiner mystischen Grossartigkeit sagt er kühn: „Einer ist der 
Gott, jeder aber nennt ihn nach seinem Belieben.** Vergl. meine 
Neuen Studien I, S. 72. 



Viertes Kapitel. 

Specielle Semiotik. 



Nachdem wir so bei Heraklit zuerst die Offenbarung 
als Erkenntnissquelle anerkannt fanden und zweitens 
auch eine durchgehende Uebereinstimmung in der Welt- 
auffassung zwischen ihm und der ägyptischen Geheim- 
lehre nachweisen konnten, so bleibt uns nun übrig, ein- 
zelne Züge aus seiner Schrift hervorzuheben, die nicht 
so leicht mit der sonstigen griechischen Denkweise zu 
vereinigen sind, sich aber leicht und vollständig aus dem 
ägyptischen Glauben erklären lassen. Diese einzelnen 
Züge werden als ebensoviel specielle Zeichen so lange 
und soweit Beweiskraft haben, als es nicht gelingt, sie 
aus näher liegenden griechischen oder persischen Vor- 
stellungen zu erklären. Ich habe schon mehrfach darauf 
liingewiesen, dass wir in dem giiechischen Mysterien- 
dienst allerdings eher Analoga finden, dass diese Mysterien 
selbst aber ihrem Ursprung nach aus der griechischen 
Volksreligion unerklärt geblieben sind und somit auch 
für sie eine Anregung von einem fremden theokratischen 
Volke aus nicht unwahrscheinlich ist. 



188 Viertes Kapitel. Herakleitos als Theolog. 



§ 1. 

Der ftgypUsche Homs und das HerakUtische 

Gott-Kind. 

Eine ägyptische Statuette im Museum zu Basel. 

Das Baseler Museum besitzt eine kleine Statuette 
aus Thon, die mir durch ihre hieroglyphische Inschrift 
auf der Eückseite sehr merkwürdig geworden ist. Sie 
stellt unzweifelhaft Horus, das Kind, vor, den sogenann- 
ten Harpokrates, nämlich Hör pe chrot*). Beweis da- 
für ist der an den Mund gehaltene Finger, die Haarlocke 
an der rechten Seite des Kopfes, die sichtbare Bezeich- 
nung des Geschlechts und die symbolischen Zeichen auf 
dem Kopfe. Die flache Rückseite enthält nur die fünf 
Worte: „Hör du auch haru neb", die ich vorläufig 
nach der einfachsten Erklärung übersetzen will, wie sie 
ja ohne alle Schwierigkeiten nothwendig erscheint, näm- 
lich „Horus, welcher Leben giebt alle Tage"; am 
Schluss dieser Abhandlung werde ich aber eine andere 
üebersetzung versuchen. 

Wenn man nun diese kleine Figur mit ihren Attributen 
zu dem Begriff zusammenfasst, den sie symbolisch an- 
deuten soll, so haben wir darin offenbar die Vorstellung 
Gottes oder der Welt als Kind, ausgerüstet mit der 
Krone als Zeichen der Herrschaft und mit den Attri- 
buten der Lebensfülle, die unversiegend von ihm alle 
Tage oder ewiglich verliehen wird. 

Heraklit's spielendes Gottkind. 

Es wäre unbesonnen, wollte man die griechischen 
Gedanken ohne Weiteres auf orientalische Quellen zu- 
rückführen; aber interessant sind jedenfalls alle die Be- 



*) Egypt's place in univers. bist. I, p. 447, nr. 378. Die 
Bedeutung wur^e von S. Birch gefunden, von Lepsius vertessert. 



i 



Viertes Kapital. 189 

merkungen, wodurch ein solclier ZusammenhaDg sichtbar 
wird. Ich glaube, man wird nicht läugne», dass die 
wunderbar paradoxen Worte Heraklit'a, die mit griechi- 
scher Welterklärung sich sonst wenig reimen lassen, 
eine auffallende Verwandtschaft mit dem obigen ägyp- 
tischen Horusbegriff haben , ich meine die berühmten 
Worte : „ Ein Kind ist das All, ein spielendes, in Ewig- 
keit; ein Kind ist König der Welt." Denn in beiden 
sind dieselben vier gleichen Ideen gegeben : Gott, Kind, 
ewig, König der Welt. Um dieses noch deatlicher zu 
sehen, müssen wir ans mit den früheren Erklären! dieser 
. Stelle ( 



Kritik der ErklUrun^cii von BernHys und Zeller. 

Lucian liefert uns die Herakliteischen Worte in fol- 
gender Weise: „Was ist die Welt? Ein Kind, ein 
spielendos, mit dem Brettspiel beschäftigt, streitend"*). 
Und Bernays bemerkt dazu**): „Nur die Bedeutung 
des ersten Bildes, dass der Aeon ein spielendes Kind 
will sich nicht aogleicli ergeben." Bernays gebt 
auf Homer zurück und erinnert an die Ilias 
(0. 361), wo von Apoll gesagt wird***): 

„Hin stürzt" er der Danacr Mauer, 
Leicht wie etwa den Sand ein IfDab' am Ufer des Meeras, 
E Der, naclidem er ein Spiel aufbant' in Idndiitcher Freude, 
I Wieder mit Hand und Fubbc die Häuflein spielend verschüttet." 



*) Vit. auet. li; zl yiJp d niiay iaii- ~ TiaT^ Tm/Jaic, 
tffvav, diaqugöfitvo!. 

*•) Rhein. Mus. N. F. VII, S. 109. 

Sat' iuel ovy noiqffj) iSvQfiaza viini4[iair. 



190 Herakleitos als Theolog. 

Nach diesem, wie es scheint, sehr glücklich gefundenen 
Vergleich schliesst Bernays dann (S. 110): „So dürfte 
ferner diese Vennuthung nicht för zu sehr gewagt gelten, 
Heraklit habe, in bewusstem Hinblick anf jenes 
Homerische Gleichniss vom Apoll, seinen welt- 
bildeuden Zeus als ein Sandhäuser bauendes und 
zerstörendes Kind dargestellt" und (S. 112): „So 
hätten wir denn in dem spielenden Kinde, das vom 
Drang etwas zu thun getrieben seihe Sandhäuser ein- 
reist, um sie wieder zu bauen, ein Bild erkannt für die 
abwechselnd schaffende und vernichtende Thätigkeit des 
im Weltstoff wirkenden Weltprocesses." Bernays hebt 
endlich noch besonders hervor: „Dasses nebenbei auch 
jeden Schein von Teleologie ausschliesst, ganz in 
üebereinstimmung mit der alten Physik überhaupt, wie 
insbesondere mit der des Heraklit." Auch citirt er noch 
den Philo de vit. Moys. I, p. 85 M. Tv^rig yoQ uaTa&f.ir^' 
TOTeQOv ovdev avca xa\ xuto) tu uyS-Qwnfia 7iaTTevova7]g, 

wodurch allerdings der blöde Zufall des kindischen Spiels 
in seinem. Sinne deutlich hervortritt. Zell er scheint 
in seiner Phil. d. Gr. I, S. 536 diese Auffassung zu 
theilen, wenn er sagt: „Heraklit vergleicht die welt- 
bildende Kraft einem Kinde, das spielend Steine hin- 
und hersetzt, Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft." 

So einleuchtend nun auch die Bernays'sche Erklärung 
beim ersten Anblick ist, so glaube ich, darf man sich 
doch nicht zu schnell bestechen lassen; denn Heraklit 
ist viel zu ernst und feierlich, um das blinde 
Glücksspiel und die kindische Willkür an 
die Spitze der Welt zu stellen. Wir brauchen 
uns nur an die Worte zu erinnern: „Die Welt ist ein 
ewig lebend Feuer, entflammt nach Gesetz, erlöschend 
nach Gesetz"*), oder: „Die Sonne wird ihr gesetz- 

*) Hcracl. frag. MuH., p. 27. nvQ thi^taov, rcnrofiBvov fjtixqta 
Xttl dno^jfevvvfxevov fiirgio. Clem. Strom. V, 14. p. 711. 



Viertes Kapitel. 191 

tes Ziel nicht überschreiten", oder: „Allein ver- 
nünftig ist das Allumfassende ", oder: „ Dem Vernünf- 
tigen muss man folgen". Mit der Einführung des Masses, 
des Gesetzes, des bestimmten Zieles und der Vernunft 
ist der Zufall ausgeschlossen. Darum, glaube ich, müssen 
wir Bernays', Zeller's und MuUach's Erklärung, weil sie 
dem Grundgedanken Heraklit's widerspricht, von vorn- 
herein mit Misstrauen aufnehmen. Giebt es denn aber 
noch einen andern möglichen Sinn in diesen Worten? 

Bei jedem Vergleich ist nothwendig in den beiden 
verglichenen Dingen ausser dem identischen Vergleich ungs- 
punkte (tertium comparationis) noch ein anderes mitge- 
geben, worin sie sich durchaus unähnlich und fremd 
sind und was daher mit der Analogie nichts zu thun 
hat. Wenn die Arbeit einer Maschine so und so viel 
Pferdekräften gleich ist, so braucht die Maschine darum 
weder Haare noch Hufe zu haben. Nichts wichtiger 
daher bei solchen Vergleich ungen, als den Vergleichungs- 
punkt sicher zu treffen. Wenn nun Heraklit's Gott mit 
dem Homerischen Apoll darin übereinstimmen soll, dass 
beide mit einem Kinde verglichen werden, so muss man 
doch zuerst sorgfältig erwägen, ob in beiden FäUen auch 
der einzige Punkt der Gleichung identisch ist. Der 
Homerische Apoll hat aber die Mauern, welche er leicht 
niederreisst, nicht selbst aufgebaut und wird sie auch 
hernach nicht von Neuem aufrichten; die Vergleichung 
mit dem Kinde kann sich also nicht auf das Sand- 
häuser-Spiel beziehen, Homer kann nicht sagen wollen, 
dass Apollo, der den Trojanern gegen die Argiver zu 
Hülfe eilt, sich wie ein Kind mit zwecklosem Bauen 
und Zerstören ergötzt habe; sondern offenbar liegt der 
Vergleichungspunkt nur in der Leichtigkeit und 
Mühelosigkeit, mit welcher der Gott die grosse 
Arbeit der Argiver an der Mauer zerstört. Es ist ihm 
leicht, wie ein Kinderspiel, ^eTa fiaX^ wg Sre ng V«~ 



192 



Heraklcitiw al» Tlieotog. 



/ta^y TtaTg*) x. r. X. Es ist mir durchaus nnverständ- 
lich, wie der Gott, welclier, von der Aegide umstrahlt, 
auf die Feinde anetünnt, ihren Wall einstürzt, die 
Mauern niederreisst und die Ärgiver so in Schrecken 
und Flucht jagt , auch nur die allermindeste 
Aehnlichkeit mit dem Einde, das am Meere 
Sandhäuser haut and zorstSrt, haben soll, nicht 
mehr, wie die Maschinenkraft einem Pferde ähnlich 
sieht, oder um bei Homer zu bleiben, ebenso wenig 
wie die Worte an sich selbst den Sehnee- 
flocken gleicheo **). Ich kann desshalb in dem 
Homerischen Voi^leich , auch ganz abgesehen von dem 
Widerspruch gegen Heraklit'a Sinnesart, der dadurch 
entstehen würde, den Beweis nicht sehen, welchen Ber- 
nays darin zu finden hoffte, und glaube vielmehr, dass 
man nicht genau genug den Vergleiehungspunkt dabei 
in's Äuge gefasst hat. 

Dazu kommt noch eine andere Erwägung; denn wenn 
wirklich Homer seinen Apoll als spielendes Kind auf- 
gefasat hätte, ao dürfte man doch schwerlich annehmen, 
Heraklit würde seine Theologie in hewusstem Hinblick 
auf Homer's Vorbild einrichten. Wenigstens wfisste 
ich mir sonst die Worte nicht zu deuten, die Diogenes 
anführt: „Homer verdiene aus den Pestversammlungen 



4 



*) Die gleiche Änschaaiuig von der spielenäen Leichtigkeit, 
mit welcher die Götter Arbeiten verrichten, die nicht einmal von 
der giöasten ÄnetrengoDg der Menschen geleistet werden könnten, 
trifft man bei allen Tölkem, z. B. im Pantechatantra (Benfe; 
n, S. 56), wo WiBchnn in der Gestalt dca Webers das ganze 
feindliche Heer lähmt: „Dieser darauf in der Luft stehend, durch 
die Muschel, die Scbeil«, die Kenle und den Bagen ansgezeicb&et, 
lähmte vermittelst der Herrlichkeit des Erhabenen in einem Augen- 
blick, spielend gleicbsam, die Graft aller der tapfeistcn 
Krieger. 

•*) Iliad. III, 222. xai iuca ruftiSeaau! ioixära /ct^cff^mii. 



Viertes Kapitel. 193 

hinausgeworfen und mit Ruthen gepeitscht zu werden"*). 
Diese Spi-ache der aittliuhea Entrüstung ermuthigt doch 
nur wenig, an freundschaftliche Benutzung Homerischer 
Theologie bei Heraklit zu glauben. 

Jfone Erklärung' des Herakll tischen Gott-Kindes. 

Wenn Heraklit die Welt mit einem Kinde vergleicht, eo 
würde uns die ägyptieche Horusidee seiner Sinnesart viel 
näher briagen ; denn nicht die alberne, zwecklos bauende 
und zerstörende Beschäftigung des Kindes wird dadurch 
vorgestellt; sondern nach einer andern Seite zielt der 
Vergleich; denn das Kind ist jung, and so soll die alte 
Welt auch immer jung wie ein Kiud sein; also ist die 
ewige Jugend der Welt, die nicht alternde 
Lebenskraft gemeint, wie Heraklit auch sonst sagt, 
das ewig lebendige Feuer {utlt^fouv nv^), das nie 
ruht, nie alt und müde wird. Wenn er hinzufügt: ein 
spielendes {nuiLuv), so könnte das als eine bei ihm be- 
liebte etymologische Ausmalung des BegiifFs Kind {iiiüg) 
gelten, und es wird dadurch genauer die Art der gött- 
lichen Wirksamkeit in das rechte Licht gestellt; denn 
der Gott verrichtet nicht eine schwere Sclavenarbeit, 
sondern leicht und eben fliesst ihm wie ein Spiel 
mühelos das Lehen**). Die genauere Bedeutung des 
Spiels werden wir gleich weiter nntei-sueben ***). 



*) Diog. Laert. I, 2. Töv ie "OfmQov lif,Bexcv äiiay ex Tiüv 
äji^vani ixßdllEa^ici xal ^taiiieaSai. 

**) Eb ist daher, wenn man überhaupt den Homer beranziehen 
darf, eher an die 9tol per« JwiTtt zu denken , und wenn (•ein 
durch «fiöxSoig xmA änövas erklärt wird, so entspricht dies 
der obijiten Homerischen Antithese , wo gEia imi.' entgegenstellt 
dem V. 2G5: boAuV xiiiioiav «nl oKor 'J^yalutv. 

•**) Schostar (S. 130f.), den ich nachträglich vergleiche, 

Teiclimüller, Zni OeBOh. der Begriüb. IS 



194 Heraklcitos als Theolog. 

8 2. 
Das Brettspiel des Gottes {nsaai^tfwv). 

Ileraklit bleibt aber nicht bei dem allgemeinen Be- 
griff des Spieles stehen, sondern determinirt es genauer 
in dem Worte „brettspielend" {mfrotvcoy)^ und Ber- 
nays*) will darin nur die Umwandlung und wechselnde 
Stellung der Gegensätze sehen und denkt an Philo's 
oben citirte Worte von dem unbeständigen Zufall, der 
die menschlichen Dinge nach oben und unten durch- 
einander würfelt. So gern wir uns von Bemays an- 



hat nach meiner Meinung scharfsinnig erkannt, dass das Wort 
„spielend" (Tia/Cwr) durch die beiden folgenden Ausdrücke neo- 
a6vo)y und ^uttpsQofievog erklärt werden niuss. E1>cnso hat er 
gegen Bemays treffend bemerkt, dass Heraklit nicht kimnc an die 
Stelle der Ilias gedacht haben und dass auch der blinde Zufall 
in der Parallelstclle bei Philo nicht hierher gehöre, da das Brett- 
spiel „ein Verstandesspiel" sei. Allein er Hess sich doch durch 
Bemays, wie es scheint, verleiten, das, wie er sagt, „ im ücbrigen 
so schön herbeigezogene Beiai)iel" aus Homer zur Erklärung des 
Fragments zu benutzen; denn er übersetzt: „Die Ewigkeit ist ein 
spielender Knabe, der die Steine setzt auf dem Spielbrett nnd 
wieder durcheinander wirft", und er glaubt, das „Durch- 
einanderwerfen" oder „Zerstreuen" oder „Zusammenwerfen" in 
dem Ausdruck dwfpiqofjLevog oder arySiafpegofisvog finden zn 
dürfen. Ucber diesen Ausdmck handle ich weiter unten genauer. 
Hier genügt die Erinnemng an den obigen Nachweis, dass bei 
dem Homerischen Gleichniss das tertium comparationis von Ber- 
nays nicht untersucht und desshalb, wie ich meine, voUkommen 
verfehlt ist. Die weitere Untersuchung wird dies noch deutlicher 
herausstellen; hätte Schuster aber Recht mit seiner üebersetznng, 
so wäre der Bemays'schen Deutung schwerlich auszuweichen ; denn, 
wenn das Sj)iel auch inimcrliin ein Brettspiel wäre, so würde das 
Zusammenwerfen doch an den kindisch launenhaften Zufall 
erinnern. Schuster ist desslialb auf halbem Wege stehen ge- 
blieben. 

*) Ebondas. S. lOi) u. Anni. 3. 



Viertes Kapitel. 195 

regen lassen, so dürfen wir doch erst mit ihm gehen, 
wenn er uns wirklich gezwungen hat, in diesem Ver- 
gleich wieder die Herrschaft des Zufalls anzu- 
erkennen. Versuchen wir lieber erst, ob wir nicht an 
dem Heraklit festhalten dürfen, der den Grund der 
Dinge für vernünftig und gesetzmässig erklärte. 

Erinnerung an Aegypten. 

Zuerst ist dabei wiederum wahrzunehmen, dass die 
Vorstellung eines Brettspiels der Götter 
grade nach Aegypten weist*), denn das Spiel ist, 
wie Brugsch bemerkt, so alt als Aegypten, ja noch 
darüber hinaus, denn selbst die ägyptischen Götter und 
die Todten in der Unterwelt spielen Brett**). Theuth 
gewinnt nach Plutarch***) der Selene beim Brettspiel 
den zehnten Theil eines jeden Tages im Jahre ab und 
bildet daraus die fünf Schalttage. Die ägyptische An- 
schauung also, wonach es den Göttern gewöhnlich ist, 
sich mit dem Brettspiel zu beschäftigen, ist hierdurch 
sicher nachgewiesen. Und mithin darf man sich auch 
bei Heraklit's Vergleich zuerst hieran erinnern. 

Die teleologische Nothwendigkeit und yernttnftige Ordnung 

in diesem Spiel. 

Sodann muss man nicht übersehen, dass beim Brett- 
spiel eine gewisse Nothwendigkeit herrscht. Denn kein 



*) Plato Phaedr. 274 d. 

**) Brugsch, Die ägypt. Gräberwelt, S. 18. 

***) Plut. de Isid. et Osir. Parthev cap. 12, p. 19. igdHyta 
dk roV 'EQfAr^y T^g d-€ov avveXd-siv , Sirce naC ^ecvta nima 
nqog rr(v leXtjvijy, xal dg)eX6vra t<ov fpmroav ixaarov t6 ißdofAti- 
xoatov, ix ndvttiiv ^lusQceg nivrs avveXeTv xal -[«ig s^jffXovra xal 
TQiaxoaCaig indyBiv, dg yvy inayofjiEyag Aiyvnxioi, g)xakov<n xai 
r(3y ^6<ov y6y€&X{ovg dyovai, 

13* 



196 Herakleitos als Theolog. 

Zug folgt mit blinder oder physischer Nothwendigkeit 
auf den andern, sondern es herrscht die Nothwendigkeit, 
welche der Zweck an die Hand giebt. Durch jeden 
Zug ist man zu einem andern genothigt« der nach den 
Umständen für uns am Besten und Yortheilhaftesten ist, 
und obgleich frei und spielend bewegen wir uns doch 
in den engen Bahnen der bestimmten allein möglichen 
Fälle und nach dem Gesetze vernünftiger Zweckmässig- 
keit. Ist diese AufiTassung nun nicht bloss hineinge- 
tragen? Ist sie griechisch? und femer ist sie Hera- 
klitisch? 

a. Gewöhnliche BedeutüDg dieses Spiels in den Yergleichungen. 

Dass sie griechisch ist, sehen wir z. B. in dem Citat 
bei Hesychius, wo es offenbar wegen der durch jeden 
Zug nothwendigen Veränderung mit Bücksicht auf unser 
Interesse heisst: „Brettspielend wandle deinen Sinn zum 

Bessern" {ntaatvwy fUTUTi&tao T/;y yvcDfir^y inl to XQfh- 

Toy); oder Aesch. Suppl. 12, wo die Anordnung des 
Vaters Danaus mit diesem Bilde {Jayaog di tiuti^q xai 
ßovXaQ/og . . . Tadt neaaoyofKoy) als Bretts tein-regie- 
rend ohne Weiteres bezeichnet wird, wobei der Sinn 
verbietet, an zufällige Grillen zu denken, sondern wo 
umgekehrt grade die fürsorgende Berathung für den 
besten Zug, d. h. für die beste Wahl ausgedrückt wer- 
den sollte. In grösserem philosophischen Zusammen- 
hange beweist es uns aber Plato de legg. 903 B ff.*). 



*) Legg. 903 B. vag tw tov navxog inifjLB%ov[jLSvio (hierfür 
setzt er weiter nnten schlechtweg ntirevtj an die Stelle) ti^o^ 
Ttjy aunriqUtv xid ttQiTt]v tov okov nuv%* icri avyxetuyfjiiya^ tay 
xai TO fiigog Big dvvafitp i'xnatoy to nQoa^xoy nda^Bt xai noiBi. • — 
903 D. ovdkv aXXo £Qyoy Tip nBTTtVTf, XBCnBTai nXrjy fABTori^ 
d^Bvai, TO fily afitivov ytyyofieyov ^S-og Big ßeXrCü} totioi', /BBiQoy 
dk Big Toy ^B^QOVa^ xaTcc to nqinoy avTcSy Bxaaxoy, Tva r^f 
Ti^oaqxoiaffi fÄotQag Xayxavf^. 



VierfcB Kapitel. 



197 



lehren will, wie „der, welcher für das Ganze 
Alles für die Rettung nnd Vollkommenheit des 
r&aiizen znsanamengeordnct hat, so dass auch jeder Theil 
davon nach Möglichkeit das Gebölirende leidet und 
thut", dass „der Theii für das Ganze, nicht das Ganze 
wegen des Theils geschaäen wird", und dass „weil die 
Seele, die bald mit diesem, bald mit jenem Körper zu- 
samm enge ordnet ist, allerlei Wechsel erleidet, darum 
dem Brettspieler (nfTiftii;, d. h, Gott) nichts anderes 
übrig bleibt, als umzuwechseln und den besser gewor- 
denen Charakter an einen besseren Platz zu bringen, 
den schlechteren an einen schlechteren , einen jeden 
nach dem ihm Gebührenden , damit er das ihm zu- 
kommende Loos erhalte". „So ist also zu diesem Zweck 
festgefügt, dass, wie beschallen etwas geworden ist, es dar- 
nach immer auch seinen entsprechend beschaffenen Sitz 
uud Platz erhalte" *), und „ dass, wenn etwas sich verändert, 
es sich nach der Ordnung und nach dem Gesetz der 
Nothwendigkeit an seinen Ort bewegt"**). Nach Plato 
siiid hier also die Bewegungen in der Natur, z. B, wenn 
aus Feuer beseeltes Wasser (nlai' ix nv(ios rrftup i'^ii^r/oi') 
wird, nnd alle Veränderungen in der Welt zu verglei- 
chen mit dem Verschieben der Steine im Brettspiel, in- 
dem der Brettspieler nach dem Gesetz der Nothwendigkeit 
(xaiu 11,1' Ttfi ilfiaQu^vrig Ttiiiv *ui vo/ioy) einen unauf- 
hörlichen Platzwechsel vornimmt, wie es sich jedesmal 
nach der veränderten Beschaffenheit der Dinge anders 
und anders geziemt. Dass die Vorstellung des Zufalls 
also nicht iiothwendig in den Begriff des Brettspiels ge- 
hört und dass die Griechen vielmehr eine 
aweckmässige und vernünftige Weltordnung 



•) Legg. 904 B. 
«*) Ibid. 904 0. 



198 Hcrakleitos als Theolog. 

durch den Vergleich mit dem Brettspiel sich 
verdeutlicht haheu, ist liierdurch bewiesen*). 

b. Heraklit kaiiu das Brettspiel nicht mit dem Würfelspiel ver- 
wechseln. 

Mau könnte nun vielleicht aucli sclion aus dieser 
Stelle und besonders aus dem Beispiel des Feuers, das 



*) Darum erschien mir auch Siuirock's Uebersetzung der 
Edda unzuverlässig; denn er lässt Woluspa 8 von den Göttern 
sagen: „Sie warfen im Hofe heiter mit Würfeln und darbten 
goldener Dinge noch nicht." Dies pivHst nicht zu der Beschäf- 
tigung der Götter. Vers 6 heisst es von ihnen: „Da gingen die 
Berather zu den Richterstühlen, hochheilige Götter hielten Rath. 
Der Nacht und dem Neumond gaben sie Namen , hiessen Morgen 
und Mitte des Tags, Unter und Abend, die Zeiten zu ordnen." 
Wo aber die Bewegung der Gestirne, und des Mondes wie der 
Sonne im Besonderen, schon als regelnjüssige und geordnete er- 
kannt ist, da kann dieses Spiel der Götter nicht als ein dem Zu- 
fall unterworfenes Würfelspiel betrachtet werden; sondern es ist 
wohl a priori wahrscheinlich, dass hier eine ähnliche Vorstellung 
zu Grunde liegt, wie die oben bei den Aegyptern erwähnte, wo- 
nach die Differenz des Mond- und Sonnenjahrs durch das Schach- 
spiel des Hermes mit der Selene ausgeglichen wird, da er ihr 
den 70. Theil des Lichts abgewinnt und daraus die fünf das 
Sonnenjahr ergänzenden Tage bildet. Herr Prof. Leo Meyer, 
den ich als linguistische Autorität wegen der Simrock'schen Ueber- 
setzung befragte, erwiederte mir; „Ich finde nirgends einen be- 
stimmten Beweis dafür, dass das altnordische ,tefldu* (Vers 8) 
durchaus vom Würfelspiel gebraucht sein müsse; in späterer 
Zeit findet sich auch ,teflaskäk* »Schachspielen* verbun- 
den. Das zu Grunde liegende ,tafl* wurde dem lateinischen 
, tabula* entlehnt und bezeichnet zunächst ohne Zweifel nur 
allgemein , Spielbrett*, wenn es auch früh schon ebenso wie das 
entsprechende althochdeutsche , z a b a 1 * hie und da speciell vom 
Würfelspiel gebraucht erscheint. Auch im Mittelhochdeutschen 
ist ,zabel* noch ein allgemeineres Wort für , Brettspiel*, das 
in Zusammenfassungen genauer unterschieden wird; ,schäch- 
zabel* ist das geläufige Wort für , Schachspiel *, ,wurf- 
zabel* soll ein unserem Triktrak ähnliches Spiel bezeichnen, bei 
dem Würfel gebraucht wurden." 



Viertes Kapitel. 199 

sich in beseeltes Wasser verwandelt, eine Anspielung 
auf Heraklit ableiten wollen*); ich mag das aber 
nicht weiter betonen, weil man doch nur bis zur Wahr- 
scheinlichkeit dabei vordringen kann. Dagegen wollen 
wir sehen, wie durch Heraklit's Worte selbst seine Mei- 
nung erklärt wird. Dabei kommt uns gleich die hübsche 
Geschichte zu Statten, die Diogenes der Laertier erzählt, 
wie Heraklit, erzürnt über seine Mitbürger, in den Tem- 
pel der Artemis ging und mit den Kindern Würfel 
spielte {riaTQuyah^e). Seine Rechtfertigung über diese 
sonderbare Beschäftigung zeigt seinen Sinn: „Ist dies 
nicht besser, Ihr Elenden, als mit Euch Staatsgeschäfte 
zu betreiben?** Die Epheser hatten nämlich die aristo- 
kratische Fürsorge für die Tugend aufgegeben und woll- 
ten keinen in der Stadt dulden, der besser wäre, als 
sie, geschweige denn ihm einen höheren, bevorzugteren 
Platz bei sich einräumen, weil sie alle gleich wären. 
So war denn der Würdigkeit die Ehre versagt, nach 
Heraklit's Auffassung, und durch die allgemeine Gleich- 
heit der Staat dem Zufall preisgegeben, wie ja auch So- 
krates diese demokratische Gesinnung durch den Ver- 
gleich mit dem Steuermann, der durch's Loos gewählt 
wird, verurtheilt. Darum ist's besser, mit den Kindern, 
die noch nicht der Vernunft folgen können, Würfel zu 
spielen, als mit Männern wider Recht und Vernunft 
in Staatsgeschäften zu würfeln. Diese symbolische Hand- 
lung sollte seinen Mitbürgern also zur Züchtigung 
und Verachtung geschehen, weil dieselben darin das 



*) Zeller erinnert Phil. d. G., S. 53G hieran. Sein „viel- 
leicht" ist mit ein Zeichen dafür, dass er wohl die gänzlich ver- 
schiedene Auffassung des nstisvztjg bei Plato und Bcrnays fühlte. 
Wäre er näher darauf eingegangen, so würden die oben dargeleg- 
ten Motive ihn von vornherein gegen Bemays' Deutung skeptischer 
gemacht haben. 



200 Herakleitos als Tbeolog. 

Kindische, Vernunftlose und Männern Ungeziemende wahr- 
nehmen mussten. Unmöglich konnte also Heraldit das Brett- 
spiel in gleichem Sinne verstehen wie das Würfelspiel, 
bei welchem wir durch Vernunft und Kunst nichts ver- 
mögen und wobei der Zufall, nicht der Würfelnde Ur- 
sache des besseren oder schlechteren Wurfes ist*); Hera- 
klit konnte den Gott, „gegen den der weiseste Mensch 
nur wie ein Affe erscheint", unmöglich mit einer Ver- 
gleichung beehren, die er zur Verhöhnung seiner Mit- 
bürger geeignet fand**). 



*) Stephanus bemerkt s. v. Titaaug S. 1006 gegen die Ab- 
leitung des Wortes nsaaog von neaeiy : , , Quae ratio firmier esset, 
si neaaog acciperetur etiam pro xt^ßog s. ßohov, quorura jactus 
fortuitus est: contra autera toHv i}jtj(pü}v positio et promotio 
artis est, non casus." — Interessant ist auch, hier die Stelle 
aus Plato's Gesetzen, p. 820 D, zu vergleichen, wo das Brett- 
spiel mit der Mathematik verglichen und zwar als weit 
weniger geistreich, aber doch als verwandt mit dieser bezeichnet 
wird: "Eoixe yovv 7/ xe liBtreia xcti lavra dXXrikwy xct fjutO^r^- 
fjiaT€c ov Tid/ATioXv x6X(0Qiad^tti. Während Ast des Gegensatzes 
wegen das ov streichen will, vertheidigt Steinhart mit Recht die 
überlieferte Handschrift, „da auch das Brettspiel auf gewissen 
Berechnungen beruhte, wie unser Schach- und Damenspiel" (An- 
merk. 124 z. d. G.). Nach meiner Meinung spricht sonst noch 
sowohl der Rhythmus der Rede fiir Beibehaltung des ov, als auch, 
da dieser Grund als zu subjectiv gelten möchte, Plato's Ver- 
gleichung der göttlichen Weltordnung mit dem Brettspiel. Dieses 
kann, wenn der Platonische Gott ein Brettspieler ist, unmöglich 
wie das dem Zufall unterworfene Würfelspiel in einen weiten Ab- 
stand von der Mathematik gestellt werden. Darum erklärt auch 
der Sophist Timäus ix tmv xov nhhmvog Xe^etov das Wort nn- 
zeia so : ij &id %l;ii(p(oy naidid • eany d*' ote xai ys (Ofx ttgiay 
Xeyei. 

**) Schuster stimmt, wie schon oben bemerkt, mit dieser 
Deutung des Brettspiels überein. Er nennt es ein „Verstandes- 
spiel". 



Viertes Kapitel. . 201 

Der Krieg: in den Dingren (oiacpepöfjievo;). 

Wenn wir nun nicht blos verneinend über Heraklit's 
Ausspruch forschen wollen, so fragen wir wohl am besten 
zuerst, was das letzte der von Lucian in seiner Philo- 
sophenauction angeführten Worte bedeutet: „Was ist 
das Leben?" Heraklit: „Ein Kind, ein spielendes, die 
Brettsteine setzend", und dann folgt das schwer ver- 
ständliche Wort diacptQOfuvog *). Wieland's Uebersetzung : 
„Ein Kind, das mit Steinchen spielt und ohne Absicht 
hin und wieder läuft", ist nur zu erwähnen, um zu 
zeigen, dass man bei jenen Worten nicht so ohne Wei- 
teres das Eichtige denken muss. 

Prüfungr der Conjectur von Bemays. 

Ebenso wenig scheint mir aber Bernays das Richtige 
getroffen zu haben, der zwar den Heraklitischen terminus 
dia(piQ6f,ityog darin mit gewohnter Sicherheit erkannt hat, 
aber zugleich mit zu grosser Kühnheit die üeberlieferung 
verbessern will, indem er Gvv-diaq)eQ6f,itvog schreibt 
und diese Bezeichnung „vollkommen klar" nennt, weil 
sie „das Zusammen- und Auseinanderstreben 
in ein Wort fasst und als Herakli tisch gewährleistet 
werde durch Plato's Zeugniss (Soph. p. 242 e): diurpe^o- 
(,avov ati '^vfxcptQETui''''. Diese Conjectur würde uns mit 
einem nicht unwichtigen philosophischen terminus be- 
reichern; ich begreife aber nicht, wie durch Verknüpfung 
beider Präpositionen der von Bernays entwickelte Sinn 
gewonnen werden kann; denn avvöiaq)tQ(x} heisst wohl, 
wie bei Stephanus angegeben wird, cum alio perfero, 
tolero oder adjuvo in tolerando, oder wie bei Suidas 
ovvÖilcpbQt^ GvyexQOTti, Gvytjycoyi^eTo^ aber nichts von der 



*) Lucian. Vitt. auct. 14. Agor. : Tl yaQ 6 altüv iati ; Heracl. : 
Jlalg nai^toy, neaasvtoy ^iafpeqofxevog. 



202 HifraUeiios als Theolog. 

lUTnays'schen Deutung, uud ebenso wenig hilft das 
soholion: tivydtuua/ofut'og, welches doch auch nur siinul 
pui^no cum aliquo enthalten kann. Wenn Zeller*) die 
Deutung von Bernavs annimmt und durch iy t(o dia- 
(ftmaihu arfuffQüittf'og erläutert, so fehlt dabei durch- 
aus die Kechtfertiguiig aus dem griechischen Sprach- 
gebrauch. Und sollte Heraklit sich ohne Kücksicht auf 
die Sprachbildung nach seiner Fayon das Wort gebildet 
haben, so würde ich erst verlangen, irgend eine Stelle 
zu si»hon, wo es sich ohne Conjectur vorfände. Selt- 
s;un w;lre t^ doch aber, dass alle die Schriftsteller, 
welche noch den g;ur/en Heraklit lasen, grade diesen 
prügnantesten und dem gewöhnlichen Sprachgebrauch 
widerspnvhenden Ausdruck sollten überall nicht der 
Mühe werth ii^^halten haben, zu überliefern und zu com- 
mentiren. 

Nene KrklSmnsr der ^Stelle. Das Brett$|iifl bedemtet den 

Krie? im Wesou der WelU 

Im Streit mit sich übei setze ich das Wort t>#a- 
t;^«>oiie>oc, oder Uneinig oiler entzweit oder krieg- 
führe ud**k aber iHHlenken wir wohl, dass Heraklit 
nicht von einem Streit mit Andern spricht, sondern 
nur von dem Zustande der Entzweiung, der Uneinigkeit, 
des Stnntos, Und daraus fv^lgt auch die Erklärung, 
welche ich tur allein hinreichend halte, namlieh, dass 
damit der Kricir ( ioJImuO cemeint ist: denn nach 
Heraklit ist „ der Krii^ der Vaior und KC^nig der Dinge'*, 
also muss das spielende Gott-Kind, welches 
die Herrschaft der Welt hat, der Krieg sein. 
Uud wie konnte er dii\kn\ luvlansc;: anschaulicher dar- 
stellen» als dass er diesen Kriec als ein Brett- 

•> XcUcr, inxil vi lU. ;^ Vud. 1^.1. S. :>3^ Abbl 
**) ll<«t)v)utt»: i^*w|r*»»«i^ «Äi/v*!*«. 



Viertes Kapitel. 203 

spiel bezeichnet, welches das Gottkind oder die Welt 
mit sich selbst spielt. So ist es einig im Streite mit 
sich, und so treffen alle die schönen dunkeln Worte 
zu, die auch den gewählten Ausdruck diaq)tQ6f,uvog^ der 
den Krieg im Wesen der Dinge bedeutet, noch besonders 
erläutern, z. B. „dass aus den streitenden {ö'iatpfQov- 
Tcou) Tönen die schönste Harmonie werde und alles im 
Streit entstehe"*), „dass im Streit {dia(fhQOf,uvov) alles 
sich immer vertrage"**), dass das Eine sich entzweit 
{diaq)tQO(.uvov) mit sich selbst vertrage, wie die Harmonie 
des Bogens und der Lyra"***). Es ist überflüssig, noch 
mehr Stellen anzuführen, da ja der ganze Heraklit aus 
dieser Anschauung spricht f). 



*) Arist. Eth. Nicom. Vin, 2. Bekk. p. 1155 b. ir. ttüv &ia^ 
fpBQopttov yMXXtaTtjv (iQfxoviav x«l niivra x«r' £(ur ytt/sad-ai. 
• **) Plat. Sophist, p. 242 E : ^ lafpeqofxsvov yaQ del ^v/a^ 

(pSQSTCU. 

***) Plat. Sj'mpos., p. 187A: t6 ev yctq (priai dia(pSQ6fit' 
vov ctvzd avtth ^vfAffEQea&at,, wanSQ ctQfxoviav lo^nv re xiti XvQag, 
Die analogen Citate und die Kritik ihrer Auslegung s. bei Zeller 
(Phil. d. Gr., 3. Aufl., Bd. I, S. 548, Anm. 3). 

t) Ich habe schon erwähnt, dass Schuster die tiefere Be- 
deutung des Brettspiels erkannt hat; da er aber „nach der wahr- 
scheinlichen Verbesserung von Hemsterhuys (T. I, p. 554 ed. 
Amstelod.)" avv^t,€tq)tQ6fjiivog lesen will und dadurch mit in den 
Weg von Bcrnays fortgezogen wird, so entgeht ihm der schon 
halb gewonnene Vortheil. Wenn Schuster, um die seit Bernays' 
Conjectur herrschende Erklärung vom Aufbauen und Zerstören 
herauszubekommen, SiafpsQeiv durch „ Zerstreuen " mit Erinnerung 
an die rpfjipoi, übersetzt, so übersieht er, dass nsaatu ojv gar nicht 
heisst: „Steine auf dem Brettspiel setzen", sondern „Brettspielen" 
im Allgemeinen, so dass also ein solcher Gegensatz , wie der vom 
Aufstellen und Zusammenwerfen der Steine, durch die gegebene Stelle 
in keiner Weise indicirt ist. Die drei Prädicate nceC^ojv, Tieaasvtoyj 
dicccpsQofASvog stellen eine fortschreitende Erklärung vor; denn das 
Spiel wird näher bestimmt als Brettspiel und dieses als ein Krieg. 
Da also die Erklärungen von Bemays und Schuster theils auf 
Conjeeturen ohne hinreichenden Beweis, theils auf einem in der 



204 Henkleitoe als Tbeolog. 

Wenn nun so das Wort ^litqfooforog erklärt ist. so 
wird auch der Brettspiel-Vergleich aus Heraklits 
sonstigen Ansspruchen deutlich : denn anch dieses «rleicht 
dem beständigen Fluss der Dinge, in welchem nichts 
bleibt, sondern Alles fortwährend seine Stelle wechselt 
und dabei doch einem ordnenden Gesetze, wie der Begel 
des Spiels, gehorcht. So sagt Heraklit bei Plutarch: 
„ Dasselbe ist das Lebende und Todseiende, das Wachende 
und Schlafende, das Junge und Alte; denn dieses wird 
im Wechsel der Veränderung zu jenem, und aus jenem 
wird in neuem Wechsel wieder dieses."*) Wie wir ja 
auch bei Eusebius von ihm hören, dass „in dieselben 
Ströme immer anderes und anderes Wasser zufliesst", so 
dass man nicht zweimal in denselben Strom steigen 
kann. Ja, diese Veränderungen heben nach Heraklit 
sogar das Sein auf, da „ man das sterbliche Wesen nicht 
zweimal in demselben Zustand berühren kann, indem er 
(wohl der Gott) in der Heftigkeit und Raschheit des 
Wechsels so sehr immerfort zerstreut und wieder sam- 
melt, dass er das Seiende niemals zum Sein fertig bringt, 
sondern nicht nachlässt und das Werden nicht zur Ruhe 
stellt"**). Wie nun im Brettspiel die Stellen allein fest 
sind und die Steine an alle Stellen kommen können in 
beständiger Veränderung, da jeder Zug nur den folgenden 
zum Werden treibt, so spielt der Gott auch mit den 
Dingen und macht aus Feuer Luft und Wasser und 
Erde und wieder umgekehrt und tauscht Alles gegen 

»Stelle nicht gegebenen Wortlaute berahen : so halte ich meine Er- 
klärung für die natürlichHte und einfachste, da sie sowohl den 
ganzen Wortlaut der Stelle beibehält, als auch mit den bekann- 
testen Grundsätzen Heraklit's ülxjreinstimmt. 

♦) riutarch. Consol. ad ApoU., vol. Yll, p. 329 Mullach 46. 

**) I'lut. de E. c. 18. Man darf wohl als Subject den Gott 
oder das Feuer setzen, da die Mullach'sche Emendation o^vrrjg 
xul Ktxog zu den letzten Verben nicht wohl passt. 



Viertes Kapitel. 



205 



S'ener ein und macht oben zu unteu und unten zu oben 

Und dieser beständige Wechsel ist nach Hera- 

[ tlit ein beständiger Krfeg wie beim Brettspiel, und in 

Beidem herrscht das Gesetz, die Nothwendigkeit. Wenn 

' desshalb Heraklit seinen Vergleich mit dem Brettspiel 

i auch nicht so in's Einzelne angeführt und gerechtfertigt 

hat, so müssen wir den dunkeln Ephesier doch so er- 

kläi-en; denn die Wieland'ache und Bemays'sche Auf- 

iassung, wonach bei dem Spiel nur die Seite des Zufalls 

hervorgekehrt wird, scheint mir in Widereprucli mit 

allem zu bestehen, was wir von Heraklit wissen, während 

I die obige Auslegung mit allen seinen Aussprüchen im 

^^H Einklänge bleibt. 

^H de 

r wi 

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1 PI 



8 3- 



Der täglich none Helios. 

Da ich nun durch dies auffallende Zusammenstimmen 
I des Heraklitischen Gottkindes, welches die Herrschaft der 
Welt führt, mit dem ägyptischen Horus aufmerksam 
wurde auf etwaige weitere Elemente ägyptischer Theo- 
logie und Kosmologie: so überraschte mich sofort auch 
ein anderer Gedanite bei Heraklit, der uumittelhai- an 
ägyptische Weltanschauung erinnert. Ich meine die 
merkwürdige, in Griechenland sonst, wie mir scheint, 
fremde Vorstellung, dass die Sonne jeden Morgen 
en sich aus den Dünsten der Erde bilde und jeden 
f Abend wieder erlösche*). Diese Vorstellung muss zu- 



*) Eragm. 33 Mullach. Ales, Aphrod. in Ariat. Meteorol. 
93a: ov ftnvor uis 'liQnAftTÖ^ V^ff', veog iip' 'j/i^pn kv 
J(fi3' Ixiiaiiiv ijfi^gar liXXag e^iniTiSfiSvng luf TiQtüiov £J' Tfl 
fi aßcvvv/iiroti. 






*^ Herakleitofl als Theolog. 

erst von Heraklit aufgebracht sein und gewisser- 
inasHcn ihm allein gehören, da sie überall, wo sie 
von den Alten erwähnt wird, nur mit Hei-aklit's Namen 
zusammensteht. So sagt z. B. Plato scherzend von 
seinen Zeitgenossen, dass ihre in jungen Jahren eifrige 
lioschäftigung mit der Philosophie gegen das Alter hin 
noch viel mehr erlösche als die Herakliteische Sonne, 
da sie nicht wieder angefacht werde*). Nach Plato's 
Meinung ist die Philosophie eine Beschäftigung, die im 
Alter wachsen müsste; man sieht aber, dass die zum 
Vergleich herangezogene Vorstellung von der Sonne als 
dem Heraklit eigenthüralich betrachtet wird. 

Es ist wichtig, diese Eigenthümlichkeit der Vor- 
stellung hervorzuheben, da man neuerdings geneigt ist, 
die astronomischen Lehren Heraklit's auf Anaximander's 
Vorgang zurückzuführen**). Anaximander aber hat, wie 
ich zu zeigen versuchte***), eine durchaus verschiedene 
Auffassung, da er von einem Erlöschen der Sonne nichts 
weiss. Seine Sonne ist aus Zerreissung der Feuerborke, 
welche um die ganze Welt als Kugelmantel lag, ent- 
standen und geht daher im Kreise um die Erde, ohne 
zu erlöschen und ohne der Wiederentfachung zu bedürfen. 
Wir müssen deswegen mit grösserer Genauigkeit die 
vei'schiedenon Lehren der Alten sondern. 

Darin stimmten die Aelteren alle überein, dass die 



*) Plato de ropubl. 498 a: nqog dk ro yfjQag cmcxr- 

^ibyyvyiM noXv fAaXXoy lov 'HQaxXBtiBiov riXioVy oaoy taa^g ovx 
t'^änroyriu. 

**) Schuster S. 121: „ITerakUt folgt hier fast durchgangig 
dem Aimxuuauder. Dieser hält auch die Gestirne für Feuer, wel- 
ches durch die Ausdünstun^'cu der Erde unterhalten werden mnss/< 
' KU'uso S. 125, Ainu. l. 

«**) VerKl. meine Stud. z. Oesch. der Begr. (Berlin, Weid- 
1 mann i^l l)» S. 7 iX. 



t 



Viertes Kapitel. 207 

feurigen Massen, welche den Himmel erfüllen, einer Er- 
neuerung oder, wie sie sagten, einer Ernährung be- 
dürften, und nur Anaximenes scheint mir davon abzu- 
gehen, da er zwar eine Entstehung der Gestirne aus 
den feurigen Auscheidungen der Erde lehrte, aber dann 
eine KiTstallisirung dieser Gasströme zu festen Körpern 
annahm*). Thaies jedoch, Anaximander und Xenophanes 
glaubten an einen fortwährenden Stoffwechsel 
zwischen Himmel und Erde, und nur in diesem 
Punkte stimmen sie mit Heraklit überein. Darum nennt 
Aristoteles zwar den Heraklit als einen Hauptvertreter 
dieser Lehre, gebraucht aber den Plural, wenn er sagt: 
„Alle die früheren Physiologen wären lächerlich, so viel 
ihrer eine Ernährung der Sonne durch die Feuchtigkeit 
angenommen hätten."**) Denn, meint er, all das von 
der Sonne in die Höhe gezogene und verdampfte Wasser 
käme in regelmässigen Zeiten als Regen wieder herunter 
und diene ebenso wenig zur Ernährung der Sonne und 
der Gestirne, wie der Dampf, der aus dem im Kessel 
kochenden Wasser aufsteige, zur Ernährung des darunter 
brennenden Feuers etwas beitrage. 

Wenn diese Kritik sich also gegen alle die Physiker 
richtet, welche einen Stoffwechsel zwischen Himmel und 
Erde annehmen, so muss im üebrigen bemerkt werden, 
dass Anaximander und Anaximenes die Sonne in 
gleichem Abstände um die Erde im Kreise gehen Hessen, 
wobei kein Grund eines periodischen Erlöschens statt- 
finden kann, da die Sonne nirgends das feuchte Element 
berührt. Xenophanes aber läugnet zwar die Kreis- 
bewegung***), nimmt jedoch einen mit der Erdoberfläche 



*) Ebendas. S. 84 ff. 

**) Meteorol. II, 2 355 a. 12 sqq. : ysXoioi, ntivteg , öaoi rtay 

***) Vergl. meine Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 611. 



lamilttuäi Liiuf uor ^inn« m. w uub übt TniBSTiau^ 
ler ?»iuuH ür li» iutr jtHiHniiim 9kuKätöi jufc Ufln. 
Aoiuruiir iHTaRiLmi iir an T^^iiw un V^sea ^wämföiiif53i. 
:uia&miiiHnniilH. Zw Tntargruiir Jffi liäo ican üfEx^duei«. 
Wüimnii J-iammimiafT mil V:iar:Tn>giHä ümee: iuum«: 

Ulli Ziflakür. uus ÜHfÄtil)« ^imie hjb TiwiöäöaiB- «n?- 

«ö jHun Ttinirgruni HgiTriciiH. uiiL!LmiiT]iiiim& ^ralÄu »im» 

imi -oiitt mdffln^. üb idiuu jmua ■:v]iriHr :mäL finzämier 
laÜMu in inswjRg. imisBii mii lisa jy^HragiriHRh itfaKiimiiö^ 
-£31 3.ii:aLiiii; ümrßtOL Z'ltse T^ wirwi. ^u. iiuniiL JLiIa 
^-foi "ämahJüEsr 7fss(ihimt«3i. imi jum. mn» ob Si^^sl*- 
inimiiKhiimr Trtmkiiif^ iG:raur AJiwiBRhmitffli tühbu 

±r ^cma van. iifEäiuar niithT& im W^^ nusamemwsu. 
3it9iikür m lime Ii^ut? ühtüi auä jetibsc mr deeat 
Tniiiienlürien TT^umkeii iakonmiBsi : UBsm iin?aiiL ^mxegsi' 
nus^ uirJi ToeTHT iits?^ Ajuicimumi^ in üb Wniit ietcsaeoL.. 
Vunni *iL Jichr 3tsrakiii: iiifif«ü «sgb «äiLy^ J^ilboh. 
-v«»m jum lun Traue ikaaÜM ^ nstthanrnnggafnä» «üüni 
rnürrauseaiiie ^^a- Taniiriir in -rosea :?^ngyii5Bai lürsb^ 
düimföi. «Limiii in jcänitiitihem Aasdmdr .lifr umiL ül 
:uiilcafim 3ildßm TarimuBi: fiii& «t üditmir mir, ^^wlnm- 
.^omkdisc iisr ^narmuihr miscBthtHi. Stfmkiir lisüie ii]^aii&- 
Titt Tande ^^m iih5«9i Biiiusn mii üdiirKi jarnaitEai. jmil 






^ Bmüt^H;ii. Dkr -arrit Trri)»rrTwt, '^. T. 



Viertes Kapitel. 



209 



Osten, wo allmorgentlicb der Sonnengott ala 
Kin d gebo ren aus der Feuchtigkeit emporsteigt" 
Cnd ferner; „Das Thor zum Reiche der Schatten wurde 
im Westen liegend gedacht, am Berge der Abendröthe, 
da wo die Sonne täglich zu Rüste geht, wo 
sie stirbt." Und Lepsius*): „Der höchste Gott in 
dieser Körpei-welt ist Ra die Sonne, in der jenseitigen 
Geisterwelt Osiris. Wie aber hinter jeder irdischen Erschei- 
niing eine geistige verborgen ist, so ist anch Ra nur die 
irdische Manifestation des Osiria; Osiris ist „die Seele des 
Ra"; er wandelt selbst durch die diesseitige Welt als 
Raund ändert nur den Namen und die Existenz- 
form, wenn er allabendlich in seiner jenseitigen eigent- 
lichen Heimath bei sich selb st wieder anlangt, wo 
er die Regierung als Osiris führt, wie er sie hier als Ra 
geführt hatte. Am nächsten Morgen erzeugt er 
dann wieder von neuem aus sich den Ra in 
seiner verjüngten Form als Horus-Ra, den 
Kreislauf stets von vorn beginnend. Darauf beruht die 
geschichtlieh aufgefasste Erzählung , die wir auf den 
Denltmälern, wie bei den Schriftstellern wiederfinden, 
dasa einst Osiris selbst, nämlich als Ea, auf Erden regiert 
habe, dann aber sterbend die Regierung der jensei- 
tigen Welt übernommen und die diesseitige Welt 
seinem Sohne Horus, dem verjüngten Ra, zu 
regieren überlassen habe," Und weiter unten**): 
„Das Wesentliche ist, dass sich der Verstorbene mit 
dem Xem-Hor identificirt, welcher der aus dem Osiris 
hervorgehende, wieder auferstehende verjüngte Ra ist, 
der Ra des folgenden Tages, die jeden Tag jung 
und neu aus dem Urgewässer aufgehende 
Sonne." 



•) Lepsius, Aelteste Teste des Toiitenbuclis, S. 4fi. 
••) EbenaoH., S. 52. 



210 Herakloitos als Theolog. 

Bestltigruns: dureh das Zeugrniss Plntareh's. 

Aber auch den Griechen ist diese ägyptische Lehre 
bekannt gewesen , wie wir unter Anderem bei Plutarch 
sehen , der die bildliche Sprache der Aegypter vor etwa 
daraus abzuleitenden, unwürdigen Vorstellungen von den 
Göttern vertheidigen will. Wie sie nicht in eigent- 
lichem Sinne den Gott Hermes einen Hund nennen, so 
„meinen sie auch nicht, dass Helios als neugebore- 
nes Kind aus dem Lotos sich erhebe, sondern 
sie stellen so den Sonnenaufgang dar, um die Ent- 
zündung der Sonne aus dem Nassen anzudeu- 
ten"*). Darum fahrt der Plutarchische Serapion auch 
heftig auf die Stoische Lehre los, die er die Stoische 
Tragödie nennt, wonach die Sonne zu einem erd- 
geborenen Thiere werde oder zu einer Sumpfpflanze, 
indem man sie in das Vaterland der Frösche nnd 
Schlangen versetze **). Die Stoiker folgten hierin Hera- 
klit, und Plutarch hat richtig gesehen, dass diese Vor- 
stellung aus Aegypten stammt. Die Sumpfpflanze ist 
der ägyptische Lotos, auf dem der neugeborene Horus, 
d. h. die aufgehende Sonne, sitzt, und die Schlange 
wird ebenso von den Aegyptem beständig als Symbol 
des Gottes auf der heiligen Sonnenbarke und auf dem 
Lotos und sonst gebraucht. 

Wir sehen hieraus also aufs Deutlichste, dass die 




aiviTT ofASrot, ^ ,^ ^ 

**) Ibid. ttvroi de yfi^sreg Cwof, ^ (fVTor iXuor, ano- 
(tXXii jttvra fikv fig Tify 2ta»iatrjy KVa^ufiS-^a t^ytoSiav. 



Viertes Kapitel. 211 

Sonne schon lange vor Heraklit dieselben täglichen 
wunderbaren Entzündungs - und Erlöschungsschicksale 
bei den Aegyptern durchzumachen hatte*). 

Proclns zeigrt die Yerbindungr der alten Theologrie und 

Kosmologie. 

Die Alten haben aber nicht nur diese theologische 
Deutung der kosmischen Phänomene gekannt, sondern 
auch den Gang der Tradition verfolgt. Denn Proclus 
giebt klar den theologischen Hintergrund der berühmten 
Heraklitischen Worte von der „täglich neuen Sonne" 
iytog l(p tjiiuQrj) an und zeigt uns imDionysus die 
Brücke, welche vonAegypten nach Griechen- 
land führt. Er will die „jungen. Götter" in Plato's 
Timäus erläutern, und nach mehreren möglichen Deu- 
tungen sagt er: „Oder ist die wahrste Auslegung die, 
dass auch ihre Einheit junger Gott {y^og &e6g) genannt 
wird; denn den Dionysus haben die Theologen 
mit dieser Anrede bezeichnet, und er ist ja der ganzen 
zweiten Weltbildung Einheit; denn Zeus machte ihn 
zum König {ßaaikla) aller innerweltlichen Götter und 
theilte ihm die höchsten Ehren zu, obgleich er ein 
junger und lallender Schmauser {xaine^ iovxi vlw Ttal 
vfj7i/w dlamvaarrj) war; aus diesem Grunde (!) 
pflegen sie auch den Helios einen jungen Gott zu nennen, 
und aus diesem Grunde sagt Heraklit: Helios der 
täglich neue {ylog i(p rj^^Qrj "Hhog)^ nämlich unter der 
Voraussetzung, dass Helios Antheil habe an dem Dio- 
nysischen Wesen."**) 



*) Es ist interessant, dass diese Vorstellung der alten ägyp- 
tischen Theologen von der Sonne sich noch heutzutage im innem 
Afrika findet. Die Afrika-Reisenden erzählen, ein König habe ge- 
fragt, ob wirklich dieselbe Sonne wiederkehre und nicht täglich 
eine neue erschiene. 

**) Procl. in Plat. Tim. ed. Schneider, p.42D, S. 813. n to 

14* 



lliTuklcitflH nis Tlicoli^. 



FoItreroD^ii : Herablll'fl llcliiia l«t Dionysos und Ilorus. 

Um die Wichtigkeit der Stelle zu würdigen, müsaeti 
wir amteiiH bfisoniiRrB auf diu Begrflndiing achten. Proclns 
führt seine Erklärung dea Auadrucks „junger GoU" auf 
die Thcologori zurück, mit doncu Hcraklit nicht iden- 
tiwib, aber wohl in Oehereinstimraung gosetrt wird. 
Weil diflat'lben nun den Dionysua als jungen , lallend 
itchmausenden auffansen und weil Helios Dionysi- 
scher Natnr sei, aus diesem Grunde werde auch 
HelioB mit den DLonyBiscbeii Attributen, d. li. als junger 
Gott oder, wie bei Heraklit. als täglich neu bezeichnet. 
Zweitens erinnern wir uns an die obige ägyptische Theo- 
logie, die ich mit Lepsins' Worten gab, dass nämlich 
Osiris-Ra „die diesseitige Welt seinem Sohne Eorua, 
dem verjüngten Ha zu regieren fiberlassen habe" und 
vorgleicheii damit Proclus' Worte, „dass Zeus den Dio- 
nyfius zum König aller weltlichen Götter gemacht und 
ihm die höchsten Ehren zuertheilt habe". Damit stimmt 
denn auch der Bericht Herodot's, der den Osiris als 
den hellenischen Dionyaus bezeichnet und von dessen 
Sohne Horus, welchen die Hellenen Apollo nennen, 
behauptet, er habe nach Bosiegung des Typhon als letzter 
König Aegyptons, d. h. (nach ägyptischer . 
der Welt, die Herrschaft erhalten*). 



fl*f)> ■ loV yüq Juävvaov ol StaXüyiii tttvig ip nsoaiiyogiif luxli- 
Kudiv, <I (Tif iati nämii r^c üevtiQai ifiifiisvQylat fionU' ö yilg 
7.tis jlaaiXia tlllfjmy «iFtoI' i^nnWur täir iyxitaftiair ffcü*' xnl 
nfjoiTtutiit ailtip fifin jtfiii!, Kai-neg invti vii^ xa\ c i;nffi 
atXanivatij^- iTio Ji] roi'ro xut ii'iv "tiXiov viov *»oV 
ilMaair Jrtotittitiv • xni vioi ^qo" ^/i^pji"/U«'¥, (potfij' WpnxÄeiror • 
iil; diovvaiiai^t fitrix^vTa JvväfiBiOi. 

•) Rerod. II, U4. iaraToy rf* avt^; jiBO.a«iiflB. 'p.^oy roV 



VierteH Kapitel. 



21S 



Drittena beachten wir die Attribute des Dionysus; 

f er wird der „junge lallende Scbmauser" genannt (f/iu 

mi vtjTtlu) filaTuyuai^. Wer Icöunte es vermeiden, dabei 

unoiittelbar an das allbekannte ägyptische Horusbild zu 

denken, das ieh auch S. 188 oben beschrieb; Horus ist 

der kleine, der lallende mit dem Finger am Munde, 

1 wie die Hieroglyphen allgemein das unmündige Kind 

[ bezeichnen, und auch der wunderliche Ausdruck lallen- 

Ider Schmauser (pi'^iiag tiXaniyumrjg) scheint mir 

\ grade hierher zu gehören ; denn ein lallender Zechgenosse 

I in der Versammlung der Götter ist nicht anders vor- 

fltellbar, als dass er als Säugling an der Brust oder an 

dem Finger der Mutter schmaust, wie ihn auch die 

ägyptischen Statuetten allgemein wiedergeben. 

Bei Heraklit haben wir in den übrig gebliebeneu 
[ Fragmenten diese Ausmalungen nicht, aber wir sehen, 
I wie das von ihm aufgenommene Motiv des Gott-Kindes 
I diese Ausmalungen nach sich zieht und wie dies alles 
auf Äegypten hinweist. Denn für die ägyptische Meteoro- 
logie und Astronomie, wie für die Heraklitische sind 
diese Bilder leicht auszulegen , da sich ja die junge 
[ Sonne nährt an der Mutterbmst der Isis oder des Feuch- 
I ten , aus dem sie entsteht, und die Herakliteer sagten, 
P die Sonne weide ihre Nahrang am Himmel ab. Die 
Nahi-ung bilden die aufsteigenden Dünste. Dass sich diese 
Vorstellung dann auch auf das menschliche Gebiet 
ubertn^ und dadurch gestärkt wurde, ist ganz natür- 
lich; denn das seelische Lebon im Herzen wurde 
auch als unsichtbar brennendes Feuer aufgefasst, 
und dieses nährt sich von dem Feuchten, das im Magen 



\)iflQios noufn, joy 'AnokXeiva "EiX^es ovo^of uiioi ' lovToy xara- 
tiBuaavfa Tvqimva, ßaaiXevaai lioiaiof JiyiinTov. "Üoigig ^^ ^"ii 
diöwBQi itaz' IXhiSa yläaeicv. Ebenso auch Plutarch da Osi- 
rid. et Ib. 12 c and 13 a. 



214 Herakleitos als Theolog. 

bereitet oder von der Mutterbrust dargereicht wird. Es 
ist daher auch leicht begreiflich, wie die Kirchenväter 
in dieser Heraklitischen Lehre die Ahnung des 
christlichen Gottkindes sahen, das, von der jung- 
fräulichen Mutter geboren, die Herrschaft der Welt vom 
Vater erhalten hat. Noch heute ist die Erinnerung 
daran in dem italienischen „il bambino^^ und in dem 
spanischen „el niüo dios^^ deutlich erhalten, wie auch 
viele unserer Weihuachtslieder den zur Identität aufzu- 
hebenden wunderbaren Gegensatz zwischen dem Säug- 
ling in der Krippe und dem König der Welt in gro- 
tesker Weise durchführen. 

Die Inschrift tfer Basler Statuette. 

Ich möchte hier auch die Vermuthung aussprechen, 
dass die Inschrift des kleinen Harpokrates-Bildes in Basel 
noch anders übersetzt werden darf, als ich auf S. 188 
versuchte. Denn die Worte „hör du auch haru neb" 
heissen zwar am Einfachsten: „Horus giebt Leben 
jeden Tag", oder, da kein Grund vorhanden, den Indi- 
cativ des Präsens zu brauclien, besser participialisch : 
„welcher Leben giebt", wie auch Brugsch in seiner 
jüngst erschienenen Grammatik (S. 57)tu-anx „gebend 
das Leben" als gebräuchliches Particip anführt. Nun 
gehen wir noch einen Schritt weiter; denn das Verbum 
„geben" du (tu) wird, wie Brugsch in seinem Lexicon 
S. 198 und ebenso S. 1618 bemerkt, häufig für das 
causative s gebraucht, wonach also unsere Stelle als 
„der lebendig Machende" {i^wnvQwv) übersetzt wer- 
den darf. Ferner muss man erwägen, dass dieAegypter, 
wie Brugsch in seiner Grammatik S. 59 erklärt, das 
Passiv oft gar nicht bezeichnen, sondern bloss aus dem 
Sinne errathen lassen, ob Activ oder Passiv gemeint 
sei. Setzen wir dies voraus, und nehmen die elliptische 
Construction dazu (Brugsch, S. 106), so kann man auch 



Viertes Kapitel. 215 

lesen: „Horus, welcher lebendig gemacht wird 
{<^(jü7tvQ(Wf4ayog) jeden Tag", und wir hätten dann den 
Sinn, von welchem das Griechische "HXiog yiog 
i(f ^/Li^Qrj die Uebersetzung zu sein scheint. 

Zu bemerken ist dabei, dass das A uf gehen der Sterne 
und Sonne auch sehr häufig durch anx bezeichnet wird, 
wofür Brugsch (Lexicon S. 199) mehrere Beispiele anfuhrt. 
Für unsere Auffassung ist ein daselbst aus Dendera ent- 
lehntes Bild interessant, in welchem auf einem Nachen 
eine Lotusblume steht, aus der dann wiederum eine 
Schlange in die Höhe steigt. Die begleitende Inschrift 
sagt: „Es steigt empor die Schlange aus dem Lotos des 
Schiffes." Offenbar ist der Nachen das Sonnenschiflf, der 
Lotos das Symbol des Wassers und die Schlange die 
aufsteigende Sonne. Da aber Brugsch für anx kein 
anderes Beispiel anführt, das „aufgehen, aufstehen, sich 
erheben" bedeutete, mit Ausnahme der Gestirne, so ist 
vorläufig anzunehmen, dass für die ägyptische Anschau- 
ung das Aufgehen der Gestirne sich als ein Lebendig- 
werden {^(onvQeTa&ai) metaphorisch darstellte. Wir 
haben also keinen Grund, an der Uebersetzung etwas zu 
verändern; denn der jeden Tag aufgehende ist der jeden 
Tag lebendig werdende Horus. 

Analoge Yorstellnngren , von der verg-Ieichenden Mythologie 

gesammelt. 

Wenn hiernach die von Heraklit überlieferten Worte 
auf Aegypten deuten, so soll damit aber nicht der noch 
allgemeinere Boden mythologischer Urgeschichte abge- 
schnitten sein; denn man findet ähnliche Anschauungen 
auch anderswo. Ich citire daher nur- die Worte von 
Ad albert Kuhn („Die Herabkunft des Feuers", 
S. 246), durch welche die weitreichendsten Analogien 
geboten werden, obgleich es mir fraglich erscheint, wie 
er sich dort die Umwandlung der mythenbildenden 



-ilS HerakleitOB ala Tbeolog. 

Phantasie biä zur EraehaüFang des Kindes gedaclit habe. 
Er sagt: „Die weitere Entwicklung dieser orsprüBgiichen 
Vorstellang fahrte <lann aach beim Dionysos znr Gre- 
staltong des göttlichen Kindes ans dem Drehh<^^ 
(das zur Feaerbereitong im Feoerzeog dient)^ ^ und wenn 
wir den neagebornen Gott namentlich in den Coltoa- 
gebrauchen als ^iixvar^q dargestellt finden^ so mnsB diese 
Anffassong schon in sehr frühe Zeit hinanfireicfaen , da 
aoch Agni in vielen veilischen Liedern als das neu- 
geborne Kind gefeiert wird, dem die GrottinBen 
ihre Pflege angedeihen lassen. Ans diesem Gmnde 
heisst er auch oft yavishtha, der jüngste, grade 
wie aach unsere Kobolde, die unzweifelhafte Fener- 
gottheiten (nur gewöhnlich des hauslichen Herdes) sind, 
als Kinder, nicht selten auch als neugeborne 
Knaben, in einer Mulde liegend, dargestellt werden. 
In dem Alraun, der dem Kobold ganz zur Seite tritt, 
sehen wir diese Kindergestalt ebenfalls hervortreten, und 
seine Aufbewahrung in einem Schachtelchen gleicht 
dem in dem Uiofor liegenden Dionysos."^ 

Aehnlich und ganz direct ausgesprochen finden wir 
dieselbe Anschauxmg bei den Finnen'*'). A. Kuhn 



*) Castren, Finnische Mythologie, S. 55 ff, von Kahn 
gezogen: 

„Pann, du, o Sohn der Sonne 
Do, Sproea des lieben Tages ! 
Heb' das Fener anf zum Himmel, 
In des goldnen Ringes Mitte, 
In des Kupferfelsens Innre, 
Trag es, wie ein Kind zur Mutter, 
In den Schooss der lieben Alten. 
Stell' es hin am Tag zu leuchten. 
In den Nächten auszuruhen, 
I^ass es jeden Morgen au^eh'n. 
Jeden Abend niedersinken." 



Viertee Kajutel. 



■217 



bemerkt zu der Stelle am augefühiteo Orte S. 113, 
„äaaa sich aus diesem und einem anderen Gedichte er- 
gebe, dass Panu, der Gott des irdisclien Feuers, zugleich 
der Entzünder des himmliacben Sonneufeuers sei, und 
weun er aufgefordert wird, das Feuer in des goldenen 
Ringes Mitte zum Himmel hinaufzubeben, so wird da- 
mit mir die NeuentKÜndung des am Abend ver- 
loschenen Sonnenfeuers ausgesprochen". 

Diese allgemeinen Analogien sind sehr beachtens- 
werth, wir dürfen aber nicht in Bausch und Bogen an 
dergleichen erinnern, aondero müssen aus der Menge 
dasjenige auswählen, was in allen seinen speciüschen 
Eigenthümlicbkeiten für Heraklit's Theologie den ScWüssel 
giebt. 

Der Herakles der Ephesler. 

Es ist nun interessant, zunächst zu untersuchen, wie 
weit das ephesische Eeiligthum dem Heraklit die zu- 
gehörigen Anschauungen und Mythen für seine Gottes- 
und Weltideen liefern konnte. Da haben wir erstens 
die grosse Mutter Artemis, die nicht als jungfräu- 
liche, sondern, wie Preller sich richtig ausdtückt, als 
„mütterlich und ammenartig" mit vielen Brüsten 
dargestellt wurde. Sie ist Gebnrtsgöttin und nach Art 
der Isis Ernährerin des Gottes. Dies bringt nun, wie 
mir scheint, schon von selbst die Vorstellung herbei, dass 
das Ernährte ein Kind ist. Der König der Welt als 
Säugling und spielendes Kind iat also eine naheliegende 
Vorstellung, vorzüglich wenn man hinzunimmt, daas Isis 
oder Artemis die ernährende Feuchtigkeit bedeutet, aus 
der schon nach Thaletischer Astronomie die Sonne als 
Helios entsteht, und dass dieser Helios jeden Tag von 
neuem geboren nud gross gesäugt werden muss. 

Auch die wilde Bewegung und der stürmische nnd 
^natische Geist bei dem Cult dieser Göttin erinnert 



21S HeraklcitoB aln Theolog. 

deutlich an die Amme {n&ijyr^) Plato's, die in fort- 
wulireiulem Scliaukelu begrifteii ist und das Prinzip des 
Wunleiis bedeutet. Plato hat diese ewige und tumul- 
tuarisclie Bewegung zur Geburt dem Heraklit entlehnt, 
wio er selbst und Aristoteles bezeugt 

Dass Heraklit zweitens auch den Dionysuscult 
vertlieidigt, indem er auf seineu mystischen Sinn hin- 
weist, luiben wir schon gesehen*). Dmch den Dionysos 
war ihm also der junge Gott auch nahegelegt. 

Drittens dürfen wir aber noch an den Herakles 
denken, der in Ki>hesus neben der Artemis eine grosse 
Verehrung genoss. Die Münzen, welche Schuster an- 
führt, um es wahi-scheinlich zu machen, dass die Ephesier 
ihrem berühmten Landsmann durch Prägung als Revers 
der Arttanis und der Kaiser ihre Anerkennung hätten 
zollen wollen, kann ich nicht in diesem Sinne erklären**). 



♦) VcrKl. meine Neuen Stud. I, S. 30. 

**) Kine unilere Deutung versucht der Verfasser des vierten 
UrielVs llomklit's (Hywiiter, S. 71) fRÜlich nicht für die Münzen 
aber llir die Insclirift des Altars. Der Verfasser muss nach seinen 
AndrutungAi (e* t'(fryi(aS-s /ucr' eyiaviovs ix naXiyyeyeaiag 
iifviHXüodtvi ((y((^iiu)V(a) 500 Jahre nach Heraklit also etwa im 
ersten Jahrhundert nach Christus jrolebt haben, in welcher Zeit 
das Studium Heraklit's mit besonderer Ik^geisterung wieder auf- 
lebte un«l die damals selion blüliende (Philo) Gnosis mächtig 
zu inspiriren begann. Kr vertheidigt Heraklit gegen den Vorwurf 
tler i iotth)sigkeit : ön ijtsyQttiptt t ^ ßto/4it m i(f6aTrixa,T6 ifAoy 
oi'o/i«, OeonoiiHv livOQtunoy uvtu ifjittvtov, und löst die Schwierig- 
keit durch Interpunktion, indem er die Endung t^ als Artikel 
betrachten will: IIVAKAFA eneyQcnl^a Till £*E27i2/ rov ßut/Aoy 
noXtioy^uquSy vfAtv rov ^ioy, ov/ Hl\4KAKlTSll, Die mir vor- 
liegende Münze hat aber den Nominativ und ist vielleicht auch 
ein paar Juhrhuiidirte später geprägt. Ks wird also auch in Be- 
zug auf dvu Altar nur eine feine Sophisten Wendung sein, die das 
Pro Wem niclit löst, sondern eher bezeugt, dass wirklich eine Apo- 
theose lIoraklit\s stattgefunden hatte oder dass dies Wort ähnlich 
wie 11. 11, 053. TXtinoXefioi cf* 'UQ«xXt(dng, iqvg te fJtiyag re 



Viertes Kapitel. 219 

Schuster führt mehrere von Mionnet beschriebene Mün- 
zen an*). Ueberall aber steht: „Portant un bäton no- 
deux sur lebras", oder „tenant de la gauche un bäton 
en l'air" und bei Eamus: „sinistra clavam tenens" und 
beißasche: „sinistra clavam". Dass dies kein Scepter 
sein kann, wie Bernays will, hat Schuster richtig ge- 
sehen; er hat aber jedenfalls selbst keine deutliche 
Münze vor Augen gehabt, wenn er sagt: „Es sieht in 
der That mehr wie eine Keule aus, wenn es nicht gar 
nur die flache innere Hand selbst ist." — Durch die 
Freundlichkeit des Herrn R. Grimm erhielt ich einen 
sehr exacten Abdruck einer ' Kupfermünze der Ermitage 
in St. Petersburg, auf welchem die Keule so unzweifel- 
haft deutlich hervortritt, dass jede andere Erklärung 
vollständig ausgeschlossen ist. Da aber £0GGIiiN. 
HFAK^£ITOC. darum geschrieben ist, so müsste man 
entweder annehmen, dass Herakles auch Herakleitos 
heissen könne, oder dass zufällig der ephesische Ma- 
gistrat, wie Easche will**), so geheissen habe zu Maxi- 
mianus' Zeit, oder drittens vielleicht, dass der Name 
Herakleitos dem Cultusbild der Ephesier zu Gute kom- 
men konnte. Diese Frage lasse ich dahingestellt ; jeden- 
falls kann aber der Philosoph Herakleitos nicht mit der 
Keule dargestellt sein, sondern dies kann nur den Hera- 
kles bedeuten. 

Mir ist darum am Wahrscheinlichsten, dass der 
Gott selbst als inciyv^og für etwas uns bis jetzt 
Unbekanntes gemeint sei***), wie man deswegen ja 



auch als Benennung für einen göttlichen Spross des Herakles ge- 
braucht worden wäre. 

*) Schuster, Herakleitos, S. 366. 

**) Rasche, Lexicon univ. rei num. veter. 1786 s. v. Hera- 
ditus. (R. Grimm.) 

***) Bis die Frage durch numismatische Untersuchung definitiv 



231 HenLkleitc« ils llieolc^. 

aneb auf MüDzen von Erjthrae^ dats durch aJtni 
H^^rakletcteiDiie] berüLnit war uod asf 9okl)«n t<?d Ar- 
el»^ die lüMt-brift HPAK^iEITOY fiodH*), ohne diBB 
luan docb dru ZufkU der Gleicbnamigleit der li«ok«c& 
(»der Arcbon1.en ru Hülfe rufen, dürfte. 

IkKh wc'Uen wir lieWr darauf Teniditeii, d» Fnge 
KU entstefaeideD: uns ist bier zunadist nur widitig, dhas 
Herallit aueb den Herakleskcult tot Augen haben maaste. 
In diestem Oult musie sdcberlich ancfa das Kind He- 
raldes eine gi>:»ü5*e Ec»lle «fielen, da die MjäMn von 
dem Sehlajigenwurser in der Wiege bekannt nnd sdi^De 
{»lasti^be DsTfctiellunsren däron noch TOiiaB»den änd. 
Die Deutnnff d»^ Herakles auf die Sonne ist aa^adeni 
unrweifelhaJL und so ha}*«i wir hiio- eän dritbes Moüt 
für die Herailiiis^cbe Gvtt^ddw. 

Wenn wir a.uf die Münze zmwlblieken. so eAainen 
wir in dem Heraklesbilde iwei Attribnte ver- 
einigt, die si-fii ebenfalls in dem Gelte Hera- 
kliT*s s-C" nairhdrücklich bet>c«nt finden. I>enn 
dieKeoie**) erinntn vfeaUar aa den Klmffir^''*^ nnd 



i'TLiü iLsx «.HÜ. \*ii 5i7 iiifiüEi'SciL ScoiKDfäidfä <Agr giFifiiiiHiWa 

inb.'fr; <itt:r. Li 2.. ol Oa.TigüS^yJbj ii^c ILiiäsfr 0;iixiiD.iiiii ak 
•;. ».IL < rv. ix* T3.I VI. il.x 

-~ tt b * 

ELbiHifw 2. E. Xith^TibiifrtL •:«. II. •.-'.Li^j: rifcÄH h'jät-j 
'limiL <ifiii»:ii NjjiiKiL ifc32> iml iiiziaifiii la Im kajnp&XBieflt 



Tiertofl KapifL'l. 'lil 

""beTHeraklit ist der Krieg, der Vater und König der 
Welt, der auch, wie Herakles, trunken zu werden liebt 
und in den Hades hinabsteigt*) und ebenso wie jener 
siegreich wieder aufgeht. — Ebenso aber ist auf unserer 
Münze Herakles der Vertreter des Xö-yot;, der Weisheit ; 
denn die eigenthümliche Geberde der rechten Hand kann 
nicht wohl anders gedeutet werden. Mionnet sagt: 
„Portant la loain droite ä sa bouche" und bei einer 
anderen Münze : „ La main droite levöe, semblant indifjuer 
qnelque choae", Eamus: „Deitra snblata et quasi ori 
admota". ß. Grirom: „Der rechte Arm ist erhoben in 
der Weise, wie bei der Statue des sogenannten Ger- 
manicus (ob auch auf der Münze als Andeutung ein- 
dringlicher Rede?)". Will inan die genaueste Parallele 
für diese Geberde, so muss man die zahlreichen ägyp- 
tischen Darstellungen des Homs vergleichen, wo der 
nach dem Munde hindeutende Finger den Xüyog bezeich- 
net**). In der That wurde nun Herakles ja auch 



•) Vergl. meine N. St\id. I, S. 41. 

*•) üeber die Deutung des nach dem Monde weisenden Fingers 
herrscht bekanntlich Streit bei den Aegj^t^lr^en. Da dieses 
Symbol bei kleinen Kindern, welche am Finger sangen, angewendet 
wird, Bo kann es oifenbat kein Zeichen für Beredtsamkeit sein; 
andererseits finden wir aber in demselben sjmbolischen Oestns 
entschieden eine Hindentnng auf den Verstand, wovon grade der 
Zwist der Interpreten ausging. Ich mSchte daher auf den unter- 
schied des ^öyoi ngotfogixnt und iv^iäS-tjo; aufmerksam machen. 
Die Vernunft kann auch in dem Unmündigen gedacht werden. 
Diese doppelte Bedeutung des Xöyos ist aber uralt, und es 
fehlt 80 viel daran, dass sie erst bei Philo oder den Kirchenvätern 
hervorträte, dass sie nicht einmal bei Plato entsprangen sein 
kann. Plato bat sie deutlich im Sophistes, p. 363 B; ovxovv 
Jiäyottt fiiv xal Xöyo; Ttii/idr- ni^r o fiiv iviöt r^e 
jfivX'ii "P"! BViilv 3 tiiXoyos avsB qimyij; yiyyö/iivoi lovi' 
itKi/i ^iv iTMayojuied-ii 3iiivoitt; — ic! (fi y' '*'*' ^'d^tf gevfia 
Ji« loü aiüftnioc i'dt fiETH tpüoyyov xixi^tui löyo;. Für 



220 HeraUeitos als Theolog. 

auch auf Münzen von Erythrae, das durch alten 
Heraklestempel beröhmt war und auf solchen von Är- 
g03 die Inschrift HPAK^EITOY findet*), ohne dase 
man doch den Zufall der Gleichnamigkeit der Neoborea 
oder Ärehonten zu Hülfe rufen, dürfte. 

Doch wollen wir lieber darauf verzichten, die Frage 
zu entscheiden ; uns ist hier zunächst nar wichtig, dase 
Heraklit auch den Heraklescult vor Augen haben musste. 
In diesem Cult musste sicherlich auch das Kind He- 
rakles eine grosse Rolle spielen, da die Mythen von 
dem Schlangenwürger in der "Wiege bekannt und schöne 
plastische Darstellungen davon noch vorhanden sind. 
Die Deutung des Herakles auf die Sonne ist ausserdem 
unzweifelhaft, und so haben wir hier ein drittes Motiv 
für die Heraklitische Gottesidee. 

Wenn wir auf die Münze zurückblicken, so erkennen 
wir in dem Heraklesbilde zwei Attribute ver- 
einigt, die sich ebenfalls in dem GotteHera- 
klit's so nachdrücklich betont finden. Denn 
die Keule**) erinnert offenbar an den Kämpfer***), und 



gelöst kt, müsseo allerlei TermathangeQ erwüuecht i 
könnte man aoch bei der bekannten Sobmeichelci der griechiBcbai 
Städte gegen die römiBchen Herren Terninthen, Masi 
selbst sei nnter dem Heraklcsbildc vürgfsti'llt , Ja e 
Namen Heronlins führte, durch ' tifjüxitnoi statt ' , 
wiedergegeben werde. Wenn z. B. die Iiivia als Pietas und J 
stitia vorgestellt wnrde, so würde in uDBerem Falle die 
theose durch den Namen viel leichter iiiiJ ^'e wisse rmasaen Ton • 
indicirt eein. In Rom (Campidoglio) ist Kuiser CümiULidaB bIb r 
kies mit der Kenle auf der Schnltcr in lobuiugrosiiür Bast« t^M 
*) Mion. S. IV, 239 und VI, aif). _ 

••) In der bien^ljph lachen Sprauhe bedeutet 4q{ knh 
der Kenle immer Gewaltthat, Kamiif und Gräfe .Ääei TaÄ "Y*.* 
Hadea, z. B. Todtenbnch cap. 17, col.20; «fii<*d^toB~ »ft!^ ^*VS 
») Aucb der Heraklide Tl iiolemodü|i^^~^^t^ ^^ 
dorch seinen Namen ana and -* — ■"" ^ä/Z^^»* ^ A 

den Bacher seinea Vaters. 



hiscbai 

ja deA^H 
ind J^^H 




222 Herakleitos als Theolog. 

typisch zur Empfehlung von Weisheit und Tugend ver- 
wendet, wie die Darstellung von Prodikus bezeugt*), und 
so ist der Gott bei Heraklit auch zugleich die Weisheit 
und Vernunft, auf die man hören muss, die er selbst in 
seinem Werke offenbart oder auslegt, und die der Mensch 
von dem Gotte wie ein Kind von einem älteren Manne 
hört. 

Es ist desshalb wohl unzweifelhaft, dass Heraklit 
die Motive für seine Theologie oder Kosmologie in dem 
heimischen ephesischen Culte finden konnte. Er be- 
durfte, wenn er ein Mann von Geist war, kaum einer 
Belehrung durch die ägyptische Geheimlehre, um die 
pantheistische Identität aller Götter zu finden und ihren 
Sinn in dem Leben der Natur und der unsichtbaren 
geistigen Lebensflamme des Menschen zu verstehen. 
Gleichwohl halte ich diese Beziehung auf Aegypten, 
wenn auch als eine indirecte, fest, weil es mir mit 
Herodot für eine unanfechtbare historische Forderung 
gilt, neu auftretende Erscheinungen aus Belebung durch 



das erstere sagt er auch statt kpsv qxoyrjg p. 264 fxstd 
ciyrjg. Clemens Alex. Strom. V, 646 Pott sagt: o ytxQ rov na- 
xgog XiüV oXioy Xoyos ov/ ovrog icriv 6 nQO(fOQix6 s, aotpia 
^k xal XQtlCTorrjg q>av6Qü)Ttxz9j rov -d-sov^ 6vvafju,g xs av nayxQttTfjg 
xai TW oVti d^sCa. Den Ursprung dieser Lehre müssen wir bei 
den Aegyptem suchen, da das Schweigen in Bezug auf die 
Gehcimlehre nicht Unmündigkeit bedeutet, sondern grade die Weis- 
heit und Erkenntniss, die aber nicht durch das gesprochene V7ort 
herausgetragen werden soll zu dem unverständigen, uneingeweihten 
Pöbel. Darum sagt Horapollon (Hieroglyphica 11, 55) : ^Avfhqionov 
Sk fxvarixoy xai teksartjy ßovX6f4SVoi atjfijyaiy ritnya Cwy?«- 
(povaiy ' ovrog yäg <f*« rov axofAtctog ov XaXsl. Dass sich aber 
Herakles auch auf die Mysterien des Hades verstehe, sehen wir 
aus Aristophanes , der den Dionysus bei ihm nachfragen lässt. 
Vergl. Neue Stud. I, S. 44. 

*) Xenoph. Memor. II, 1. 27. ßneQ ol d^eoi ^Ud^rjoav r« oytct, 
^iriy^aofAtti /m6t* dXri&eiag, 28. tj yy^[*H ^iQSteZy id-icriov. 



Viertes Kapitel. 223 

identische ältere, längst vorhandene zu erklären*). Die 
Weltauffassung Heraklit's findet sich aber in dem hei- 
ligen Todtenbuch der Aegypter und bildlich dargestellt 
auf allen ihren Denkmälern schon viele Jahrhunderte 
vor Heraklit in so unverkennbarer Deutlichkeit, dass 
kein Eingeweihter, ja nicht einmal ein intelligenter 
Eeisender, der die öfifentlichen Denkmäler betrachtete, 
darüber im Dunkeln bleiben konnte. Im griechischen 
Mythus und Cultus konnte Heraklit auch nur Motive 
finden, um auf seine Lehre zu gelangen, bei den Aegyp- 
tern aber war diese Lehre schon ausgesprochen und der 
junge König der Welt auf unzählige Weise in Bild und 
Wort verherrlicht, versehen mit allen den Attributen, 
welche Heraklit seinem Gotte zuschreibt. Heraklit 
brauchte also nur durch Eeisende oder durch die frem- 
den Priester im ephesischen Heiligthum hiervon zu 
hören, um den mystischen Gottesdienst sofort zu ver- 
stehen und dann die Worte auszurufen, die wir in 
den Fragmenten noch besitzen: „Einer ist der Gott, 
Namen dafür habe jeder nach seinem Belieben." — 
Im sechsten Jahrhundert aber, in welchem es zuerst 
Weise oder Philosophen bei den Griechen gab, scheint 
der Drang, von den Aegyptern in der „hohen Schule 
von Heliopolis"**) zu lernen, besonders stark gewesen 
zu sein und vorzüglich der Euf dieser Schule, wo Theo- 
logie, Astronomie und Medicin gelehrt wurde, musste 
nach Hellas dringen. Hier war es auch, „wo der 
grosse Cultus des Sonnengottes, des Tum-Harmachis 



*) Herodot II, 59. — nqmxoi dvd^Q(6nmv Jlyvmioi elai> ol 
noitiaafjLBvoi * xal naga TovTwv"EXXrjyeg fxe/zad-rixuai . rexfÄi^gioy 
&ä fjLoi Tovtov rode, alfihv yag tpaCvovtai ix noXXov rev 
XQOvov noi€vf/.€yai> ' al &k '^EkXtjvixcci veotari inoi^S^ijattV. 
Vergl. auch oben S. 112. 

**) Ludw. Stern (Lepsius, Aegypt. Zeitschr. 1874, S. 94). 



221 Hürakleitos als Theolog. 

stattfand, wo der Mnevis verehrt wurde gleichwie der ' 
Apis in Memphis, wo der geheimnisvollere Dienst des 
heiligen Baomes*). der Katze und des Phönix statt- 
fand". Wenn wir desshalb wissen, dasa Thaies und 
Solon •*), PjthE^oras und Hekatäus nach Aegypten fahren 
und dort lernten und }.ir)'ni mitbrachten, so ist alle 
Wahrscheinlichkeit di^egen, dasa Herakleitos alleia 
nichts gewusst habe von ägyptischer Weltanschauung, 
umsoinehr, da seine Lehre ganz ägyptisch ist. 



3 i- 

Die Kähne (axaqai) der Gestirae. 

Wenn wir den Bericht von Diogenes vergleichen.^^ 
könnte man vermutheu, Heraklit habe wie die anderen 
Physiologen eine mechanische Erklärung für die Gestalt 
der Sonne und des Mondes und für ihre Verfinsterungen 
geben wollen. Er spricht dort von ayäifui, worunter 
man Verschiedenes verstehen kann, als Trog, Wanne, 
Kahn. Da nun Diogenes sagt, die Sonne habe einen 
solchen Kahn, der, mit der concaveu Seite nach unten 
gerichtet, die Verdunstungen auffange, die in ihm als 
Sonne in Brand gerathen, und wenn er sich lan^am 
umwende die Verfiustemngen hervorbringe , weil der 



*) Aach das Heraklitiache Wort : „ der Gott liebt sich in 
einen Baum zu verkleiden", kann am leichtcBten dorch ägj^tische 
Mj-thologie erklärt wenlen, wo die Palme {(poini ist Baum so- 
wohl als der sich selbst verjüngende Yogcl) eine grosse Rolle 
spielt bei der MetamnrphoHe und im Cultns. 

") Von Solon wiesen wir es durch Plato, von Thalea wird es 
bei sehr vielen Alten zwcifelhaftprcr Glanbwürdigkeit berichtet. 
Es war also jeilenfalls die Meinung im Altcrthani, Diog. Laert. 
I, 34. 



Viertes Kapitel. 225 

Brennstoff dann abfliesse: so scheint dies eine mecha- 
nische Erklärung zu sein. Allein es fragt sich doch, 
ob man den ziemlich untergeordneten Compilatoren ohne 
weiteres glauben soll, wenn sie berichten, was sowohl 
an sich unsinnig als auch mit dem übrigen überlieferten 
Gedankenzusammenhang unverträglich ist. Ich denke, man 
muss die grossen griechischen Philosophen so lange immer 
für gesunde Köpfe halten, bis die Geisteszerrüttung be- 
wiesen ist. Was soll das nun für ein Kahn oder Trog 
sein und aus welchem Stoffe bestehen, der hoch über 
der trüben und feuchten Atmosphäre schwebt und in 
dem die feinsten Verdampfungen des Wassers sich sam- 
meln, um dort als Sonne abzubrennen? Ist er von Holz, 
warum verbrennt er nicht? von Eisen oder Gold, wie 
kann er fliegen? Aus verfilzter Luft*) kann er auch 
nicht bestehen ; denn die dicke Luft reicht nur bis zum 
Monde, da zur Sonne hinauf nur die trockene und reine, 
brennbare und durchsichtige Luftglut aufsteigt. Man kann 
sich also gar nichts dabei denken. Auch würde der 
Kahn, wenn er nicht feine Luft oder Feuer wäre, nach 
unten {xaro)) gehören und nicht nach oben («Vw), wenn 
Heraklit überhaupt irgend etwas Zusammenhängendes 
denken konnte und nicht ein sinnloser Compilator war. 
Ich bin daher der Meinung, dass Diogenes ihn nicht 
verstanden hat, was bei dem dunklen Ephesier, dem 
orakelnden Schüler der Sibylle auch nicht zu verwun- 
dern ist, vorzüglich da Diogenes selbst gesteht, dass 
Heraklit keine naturwissenschaftliche Erklärung über 
diese Kähne abgegeben hat**). 



*) Mohr, ffistor. Stellmig Heraklit's (1876), S. 46, macht 
„Feuerfilze'' aus den axag)atj wobei ich mir gar nichts denken 
kann, denn das Feuer kann doch nicht zugleich das Gefäss für 
das Feuer sein. 

**) Diog. L. IX, 11. negl &h r^g yvjg ovdhr dnofpaCvnaiy 
nola ng iazCv, dXX' ovdk neqi rdSv axagjwv. 

Teichmüller, Zur Gesch. d. Begriffe. 15 



2iS HeraUeitos als Theolog. 

Will man daher bei diesen üeberlirfenmgen etwas 
denken, so mnss man annehmen, HeraUit habe seine 
Erklänmg, dass die yon nnten au&teigende Nahrung 
des Feners sich oben sammle, durch ein hand- 
greifliches Bild illustriren wollen. Wir wollen, 
da die üeberlieferung ganz unbestinmit ist, zuerst an 
eine physikalische oder astronomische Illustration denken. 
Man denke sich z. B. im Himmel {ir rw n^ixom) 
bootartige Tröge mit der hohlen Seite nach unten ge- 
kehrt*) und von Osten nach Westen über die Erde 
gelegt, so bekommt man die Vorstellung yon der tag- 
lichen Bahn der Sonne und der Gestirne, die jenachdem 
mehr oder weniger halbkreisförmig ist. In ihren Höh- 
lungen kann sich die aufsteigende Verdunstung sammeln, 
um dann successiye yon Osten nach Westen als Nahrung 
yon der Sonne abgeweidet oder abgebrannt zu werden. 
Nimmt man für die Vorstellung den hohen Schnabel des 
griechischen Schiffes und die ähnliche Erhöhung des 
Achterschiffes hinzu, so ist das Bild für die scheinbare 
Sonnen- oder Mondbahn in der That recht anschaulich. 

Mehr als ein Bild ist aber nicht gegeben und man 
darf nicht träumen, Heraklit habe eine hemisphärische 
Himmelsdecke mit solchen mondsichelhaften, boot- 
artigen Vertiefungen angenommen; denn seine ganze 
Meteorologie duldet dergleichen nicht**). — Vielleicht 



*) Ibid. 9. siyai (livrot iv avzM (sc. riJ nsQtsxovn) axatpag 
inBaxqafJL(Aivag xara xoiXov n gog '^/Mcg ' iv aig dd-gcnCofiEvag 
idg XafiJiQag dva^vfjLuiaBig dnoreXety (pXoyag, ag ecyai rd aarga, 

**) Heraklit nahm nichts Festes und unveränderliches in der 
Welt an ausser dem Fener selbst, das sich jeweilig in alle er- 
scheinenden Formen verwandelt und sie wieder in sich zurück- 
nimmt: Aristot. de coelo III, 1. ot &k td filv «Xka ndvra ylvBC^ 
SaC TS q)aai> xal Q$ty, blvch 6h nayiiog ovd^v, iv 6i t^ (aovov 
vnofxivew (Substrat), i^ ov tavta ndvia fjiBxaaxni^fxtl^Bad^i, ni- 
q)vxev onBq iotxaai, ßovXea&ui Xiy€iv aXXoi rs noXXoi xal 'Hgd^ 
xXsirog 6 *E(peaiog. 



Viertes Kapital. 227 

aber hat Heraklit auch die Gestirne seibat mit Trögen 
verglichen, da es sich ja um Nahrung handelt, die von 
unten aufgefangen und in dem Trog verzehrt werden 
soll, wobei dann natürlich, wenn der Trog sich dreht, 
das Licht ausgehen muss und Mond- oder Sonnenfinster- 
niss entsteht. Auch dies kann aber nur als Metapher 
zur niustrirung von ihm gebraucht sein, und man darf 
die Wannen oder Ti-öge nicht im Emst durch den Himmel 
fliegen lassen. 

Man wird auch bemerken, dass die Berichterstatter 
mit Äusnahmo des Diogenes hinzufügen: „der Erschei- 
nung nach" oder „ für den Schein"*). Man muas 
also vermnthen, Heraklit habe auch gewusst, was die 
„Wahrheit" an der Sache sei. Da er nun immer in 
dieser Weise die sichtbare und die unsichtbare Har- 
monie, das sichtbare und das unsichtbare Feuer, die 
sichtbare oder todte Welt und die unsichtbare oder 
lebendige Welt des Geistes oder der Geister entgegen- 
stellt, so begreifen wir wohl, dasa er als Wahrheit der 
Erscheinung nur die unsichtbare denkende Vernunft 
in dem Helios meinen konnte, und dies berichtet auch 
Stobäus**). 

Es ist aber auffallend, daas allein bei dieser Ge- 
legenheit Heraklit mit Hekatäns zusammen- 
gefasst wird, mit dem ältesten Aegyptologen; doppelt 
auffallend, da diese Lehre von dem Helios, der aus dem 
Meer angefacht wird und seinem Wesen nach die welt- 
r^ierende Vernunft ist, nach Äegjpten hingehört. Den- 
ken wir aber einmal an Aegypten und an den von 
Diogenes überlieferten Vers, dass nur ein Mjste He- 



•) Plntareh plac. ph. IL x^. agät tip/ tpavTtiaiar, 

»*) Stob. Eclog. 1, 52Ö. 'Hpoxieworaol 'S xa zu tos avttfi/ia 

voapö*', id ix SoXäoaii;, uvai röv ^Äioj'. Die Handficliriften 

haböl Svai/ia. 

15' 



)m^ iierakkiiu> air Tueuiu;:. 

i-aklit erkldieji kömii. iso kam. v.- uicht telüeii. dasFiinr 
üucli dioliurk«- dt^slki; in Eriuiieruu^^ bringen müsBen 
uüd alu' di(.' KäLuie. auf ueiiei. di« ägypiiäciien Gestime 
lalireii. Jüu auu li>ei dei. Oriecliei: und den Persern 
Uüd ludern di«' üöttev uud sjHfcieli dt»'- Sonnengrott mit 
Plerdeii um den Himmel laliien uud sicL eine^ Wagens 
bedieuen. bi» tciieiut e^ für die Aejjypter Charak- 
ter ist ibci. zu öein. daü.- sie bchifl*.' für dit* tägliche 
ÜJülaLri der üeBÜrm- in Auweuduug briugeu*» und den 
Gütl al> bleu ermann l>ezeiclmeii**). Dies ist: natni- 
licii genug, du für sii wegen dej' CuualiäatiüL des Lan- 
defc dn.' AVagen nicht allgemein brauchbar waren und 
iliit' Alytliolügie auch öchun lange vui' der Einführung 
von Wagen uml Pferden sieb aufcjgebildet hatte***). 
»Su konnten bic aucli uacl: iurei" allen Weltertlärung 
ihieji HorUiS oder Kü oder Thanm als Sonne nur auf 
deuj Kücken der übei" die Welt gebeugten Göttin Kenet. 
welche da.< Waöaei" odei' leuchte und also auch die 
bublunaribchi- Kegion bedeutet, in einem Boole Bchifien 
laöi>en tj- 



*' PlutarcJ) <!•: Isicl. et Osii. 54. HAam dt xui ^ekrjj'ip' ovj^ 

türdi verknüpft belir richtig die Jxgrittt- der Kiittiteiiimg imd 
dtii' Kahruiig luid bezeichiiei auch die Ewigkeit dieüti^; tü^lichen 

**j /. Jb. iii >-idlu. vbxgJ. Lcptiub.. Aegyjjt. Alterth. ds^ 
Jiiu-lmcr Mubcuiab 1>?70, Taf. ao. 

***) Kbcrfc, Aogypl. Königat. J. fcf. 207. Aiim. 30 sagt: 
..JPicrdt' uiid Wageu Biud iiu zweit^L Jahrtauseude vor OhristuE. wie 
die Mouuuicüte bewcibcu,. hi Acgv}>teu eiiigeftihrt word<*n." 

t; Lepbiui^; XvdtuubucL; oap. 17. cuL 2X, VrUZQ das Eüim- 
/-eiche kvM»iuologibchc Bild von bob^ ^>chu und Keuet zu vergleicheD 
ist. hur Moiid fähil aui' <icr \xuW*iu , die ^uime auf der Kücken- 
üdte df^ JS^Ciuei. 



Viertes Kapitel. 229 

Es wäre daher nicht zu verwundern, wenn Heraklit, 
der die ganze Meteorologie der Aegypter angenommen 
hat, auch die Kähne {axuq)ai) der Gestirne erwähnt 
hätte, da sein Mond ja auch noch in der feuchten Sphäre 
der Nenet brennt und auf dem feuchten Elemente die 
Schiffe am Platze sind. Auch lässt er den Blitz oder 
die Vernunft als „Steuermann" des Alls auftreten*). 
Es ist mir nicht bekannt, dass vor Berührung mit 
Aegypten die Griechen ihre Götter mit einem Steuer- 
mann verglichen hätten. An sich wäre das ja sehr 
wohl möglich gewesen ; die ägyptischen Bilder aber, die 
uns diese Vorstellung immer vor Augen führen, legen 
auch den Vergleich nahe, und das Nächste ist wohl das 
Wahrscheinlichste. Für die Geschichte der Ideen ist es 
von nicht geringer Bedeutung, den Ursprung einer 
theologischen Metapher zu finden, weil sich darin 
oft die Wege der Culturentwicklung deutlich abspiegeln **). 

Da wir nun eingestandenermassen nichts Näheres 
über die Heraklitischen Gestirnkähne {Gxa(pai) wissen 
und ihre etwaige mechanische Bedeutung für Heraklit's 
Weltauffassung widersinnig ist, so halte ich es für mög- 
lich, dass er irgendwie dieses ägyptische Bild gebraucht 
und damit auch zur Erklärung der Verfinsterungen 
geistreich gespielt hat. üeber die blosse blasse Möglich- 
keit gehe ich freilich nicht hinaus, weil die gegebenen 
Nachrichten nicht weiter reichen. Es kann dies aber 
genügen, weil selbst dieser schwache Schimmer der 
Wahrscheinlichkeit schon mehr Licht zur Erklärung 



*) Heraclit. fragm. 28. r« cTc navia oiuxCC^i xsQavyos, — 
fragm. 19. elvat ev ro <jog)6y, iniataaS-tti yvtSfjitjy, »JTf ol sy- 
xvßegyrjffsi ndyta &td ndvttav. Vergl. meine Neuen Stud. I, 
S. 107 ff. Die Reliqq. Heraklit's vonBywater geben unter dem 
Text die ParaUelen. 

**) Vergl. oben S. 109 ff. 



280 Herakleitos als Theolog. 

giebt, als wenn man die groben hölzernen Tröge oder 
Kähne oder irgend ein Plechtwerk durch den Himmel 
fliegen lässt und den Geist Heraklit's unter solchen 
Scheffel stellt. 

Da sich die von Diogenes gegebene Beschreibung des 
Nachens mit der bald nach oben, bald nach unten gekehrten 
hohlen Seite eigentlich nur auf den Mond beziehen 
lässt, bei dem wir bis zum ersten und nach dem letzten 
Viertel einen solchen Nachen vor Augen haben : so ist 
es interessant, dass HorapoUon genau so die hierogly- 
phische Darstellung des Monats beschreibt. „Wenn sie 
den Monat darstellen wollen, malen sie einen nach 
unten gekehrten Mond, da sie sagen, dass er beim 
Aufgang mit den Hörnern nach oben gerichtet sei, 
beim Abnehmen aber mit den Hörnen nach unten 
neige."*) Wenn man hierzu das von Leemans beige- 
fügte hieroglyphische Bild Nr. 25 vergleicht, so hat 
man eine Art von Hlustration zu der Darstellung des 
Laertier's; denn die Nachen der Gestirne und das Hera- 
klitische Voll- und Ausgeleertwerden derselben (luna 
Cava, plena) knüpfen sich doch offenbar an das Bild des 
Mondes**). 



*) HorapoUon I, 4. Mfjya de ygatfoytsg — — aeXi^vtjv 
insffTQaf^f^ivtjv eig ro xarco, ineidrj gjitaiy iv jß dya^ 
toX^ n6VT6xa£&6xa fjLOiqdiv tnttQXovaav nQog x6 avta tolg X6* 
qaaiv ia^rjf^iaTla&ai ' iy &k rg «noxQov an^ toy aqid-fioy 
T(3v xqidxovta tj/zegoSv nXfjQüiaaaay, eig to xaro) roig xiqaai ysveiv, 
üeber die vielen Schwierigkeiten in diesem Bericht vergl. Leemans 
z. St. Für uns ist es interessant, den Bericht des Diogenes zu 
vergleichen, der IX, 10 sagt : ixXUnsiv re nXiov xccl asXijytjv, avot 
aTQ€(pofÄ^y(oy tdSy cxatpdSy, rovg &k xaicc fx^va trlg asXriytjg 
Gx^ifJi'tttia fjLovg yCysad^ai aTQBtpofjLSvvig iy avrj xaxa fiixQov rijg 
axdiptjg, und ibid. 9: eivai iy avtto (tcJ neqUxoyti) axdgjag ins- 
at Qa(jL(Miyag xaxd xölXov nqog ^fJLag (d. h. eig ro xarai). Ich 
glaube kaum, dass man eine einfachere Erklärung dieses Berichtes 
als durch die aus HorapoUon angeführte SteUe finden kann. 

**) P. le P. ßenouf studirt dieses hieroglyphische Zeichen in 



Viertes Kapitel. 231 

Vom Monde ging das Bild des Nachens dann wohl 
auch auf die Sonne und die Sterne über, die ja alle auf 



Lepsius' Aegypt. Zeitschr. 1872, S. 91—96 und sagt: „Itmay 
certainly be a boat with a net upon it" (p. 92). Vergleicht man 
die verschiedenen von ihm festgestellten Bedeutungen, so stimmen 
sie alle merkwürdig zu dem von Heraklit gegebenen mythologi- 
schen Bilde; denn es handelt sich dabei durchaus um die Rück- 
kehr in den Hades durch Umkehrung. Und de Rouge über- 
setzt: tum und retum, Brugsch: convertere. Im Hades findet 
aber auch Liebe und Weingenuss und Erkenntniss statt; und Re- 
nouf zeigt S. 93 die Bedeutung dandCea&ai^ femer S. 95 rqvyn, tgv^, 
femer S. 95 Si&ovai, dnoxQiaiv, wie die Verantwortung des Heim- 
kehrenden ja der Hauptgedanke in Bezug auf den Hades ist. — Ueber 
den Kahn in der Unterwelt und desshalb an Grabmonumenten vgl. 
L. Stephani in seinem „ Ausruhenden Herakles " (1854, S. 24 ff.), 
der auch mit geistvoller Energie gegen die herrschenden Ansichten 
den Weingenuss und die Liebe im Hades betont und archäologisch 
bewiesen hat. In diesem reich belehrenden Werke Stephanies 
findet man auch alle die andern mythischen Ideen belegt, die 
Heraklit den Mysterien entlehnt zu haben scheint, so z. B. die 
fisd-tj {alüivtog) S. 16 und 18, den Eilapinasten (eiXantvat) S. 20, 
die wollüstige Ueppigkeit der Gelage an Todtendenkmälem S. 22, 
das Kind und die Kinder im Hades, was Stephani freilich anders 
deutet, als es mir nach Heraklit und den Mythen nothwendig zu 
sein scheint, da Stephanies ästhetisch -künstlerische Deutung sich 
nur auf die spätere Ausnutzung des ursprünglich mythologischen 
Motivs (Gottkind) beziehen kann; ferner das Brettspiel (neaaotg) 
S. 27 ; ferner das dyanavsaS^ai als Sterben S. 32, welches der Hera- 
klitischen dvdnavXa entspricht; ferner die Verknüpfung von Schlaf, 
Tod und Trunkenheit (S. 34), wobei zugleich auf die Nacht der 
neue Tag in Heraklitischer Weise folgen muss (S. 33); ferner das 
Lohnfordem im Hades {aivtlv fjuad^ov), was ich im ersten Bande 
der Neuen Studien, S. 32 ff., erklärt habe. Die exacte Unter- 
suchung Stephanies belegt aus den Denkmälern die hierher ge- 
hörigen Ideen, und es ist interessant, dass uns ein ganz anderer 
Weg und Ausgangspunkt mit dem grossen Archäologen überall 
zusammenführt. Für die gemeineren Naturen waren balnea, vina, 
venus der Inbegriff der Seligkeit, wie dies auch bis heute im 
Islam gelehrt und geglaubt wird ; für die edleren aber kam sicher- 
lich die Erkenntniss Gottes und der Umgang mit den Reinen und 



232 Herakleitos als Theolog. 

dem Okeauos, d. h. wie Aristoteles dies erklärt, auf der 
regenspendenden Luftsphäre fahren. So, meine ich, kann 
man alle diese Mythen am leichtesten erklären. Der 
rings um die Welt fliessende Okeanos ist 
nach Aristoteles*) aus der Wahrnehmung entstanden, 



Verklärten hinzu als die Hauptsache, wie dies die ägyptische Re- 
ligion ganz besonders betont; denn alle Tugend und das beseli- 
gende Schauen Gottes und der göttlichen Dinge inusste ja das 
Ziel des besten Lebens sein. — Was die Kähne betrifft, so sieht 
man die mythologische Idee auch in dem von Ampelius er- 
wähnten miraculum mundi (über memorialis cap. 8): „In summo 
monte fanum est Apollinis, ubi sacra üunt, et cum homo inde 
desiluit , statim excipitur lintribus." Genaueres darüber be- 
richtet Strabo X, p. 452: to rov Atvxata UnöXXtovog leqcv xal 
zd äXfia — — v7io&6/ia&ai &6 xcctü) fnxQaig dXiaai, Auch 
Ovid und Servius reden davon, bringen aber nur mythologische 
Notizen, dahin gehend, dass man nach dem Sprung in's Meer ge- 
heilt und unversehrt zum Leben zurückkehre. Die Erklärung 
dieser mythischen Bilder und also auch des Cultusgebrauches auf 
der Insel Leukas ergiebt sich aber aus dem Obigen sehr einfach; 
denn den Sprung in's westliche Meer macht die Sonne täglich, 
der Kahn erwartet sie in der Unterwelt und führt sie zum Osten 
zurück, wo sie (nach dem Keinigungsbad, dem Bausch und Liebes- 
genuss) als neue Sonne geboren wieder aufgeht. Erweitert auf 
das jährliche Schicksal der Sonne ergeben sich dieselben Ideen, 
wesöhalb Ovid. Fast. V, 634: „quotannis tristia Leucadio sacra 
peracta modo" sagt. 

*) Aristot. Meteorol. I, 9, p. 346 b 36. ylvBtm &k xvxXos 
ovTog fiifJLovfiivog tov rov riXiov xvxXov ccf4a yag exklvog eig xd 
nXäyia fiSTccßUXkei xal ovxog av(o xai xäna, xal 6sl yo^aai rot;- 
toy (iianSQ nozafJLov Qeovxa xvxXto avta xal xfttfü, xoi- 
yoy ctBQog xal vdatog' nXriaiov fjihv yuq ovxog rov i^Xiov 6 
Tryff ctifAldog (Verdampfung) avio qsT tiotw^oV, dtpifStafjiivov dk 6 
xov vdaxog xdxüj, xai xovx' ivdsXej^eg i&eXei ylyyead-ai xaxä ye 
xr^v xä^iy ' (üW tinSQ jjvlxxoyxo xov (oxeayoy ol nQotSQoy^ 
xax av xovxov xov noxafAoy Xsyotey xov xvxXw Qsoyxa nSQi rtjy 
y^y. Aristoteles hat hier gewiss das Richtige getroffen, wenn die 
Alten sich auch nicht bloss an die meteorologische Erfahrung 
hielten, sondern in etwas freierer und zugleich unbestimmterer 



Viertes Kapitel. 238 

dass das Meer und alles Feuchte hier unten verdampft 
und sich nach oben zieht, dort aber, wie wir an den 
Wolken sehen, über den Himmel sich fortbewegt und 
als Eegen wieder, den Kreis ßchliessend, hemnterstürzt. 
An genaue Vorstellungen über die Art dieser Bewegungen 
darf man nicht denken; es handelt sich nur im Allge- 
meinen um eine Kreisbewegung von unten nach oben 
und von oben nach unten. Auf dieser Dunstsphäre fahren 
nun die Gestirne, von denen der Mond zuweilen das 
Bild des Bootes deutlich darbietet. Dieses Bild war für 
das Nilland ausserdem das zunächst liegende *). So be- 
kommen wir die Sonnenbarke und die andern Kähne 
der Gestirne. 

Die gewaltigen Wassermassen im Himmel konnten 
aber auch bei andern Völkern auf das Bild von Kähnen 
für die Fahrt der leuchtenden himmlischen Götter führen, 
und es ist bekannt genug, dass sich analoge Vorstellungen 
in fast allen Mythologien finden ; der neugeborene Knabe 
(die Sonne) in der Mulde {axu(pfj), Dionysus im Xlxpoy, 
Moses im Korbe im Nil, Perseus als XQvaonaxQog vom 



Phantasie ihren Okeanos vorstellten. Jedenfalls ist die ägyptische 
Nenet (vergl. oben S. 228) ein Zeugniss zu Gunsten der Aristote- 
lischen Erklärung. 

*) Brugsch, Todtenbuch 15, 2 (Lepsius, Aegypt. Zeit- 
schrift 1872, S. 131): „Möge emporsteigen seine (des verklärten 
Menschen) Seele mit dir (Ra Hor-m-a;ifuti) himmelwärts, möge sie 
abfahren in der Morgenbarke, möge sie landen in der Abend- 
barke, möge sie sich bewegen unter den ruhelosen Gestirnen am 
Himmel." Ibid. 15, 16: „Wendest du dein Angesicht dem Westen 
zu, dann sind meine Hände in Anbetung deines Unterganges 
in dem Lande des Lebens" (Hades). „Du bist ja der 
Schöpfer der Unendlichkeit, gepriesen beim Untergang in dem 
Urgewässer." v. 18: „Anbetung sei dir, der du aufgehst 
aus dem Urgewässer, erhellend die Erde an dem Tage deiner 
Geburt. Hat dich geboren deine Mutter Nut" (Okeanos), „auf 
ihren Händen, so erleuchtest du alle Zonen des Sonnenkreises." 



Hi'rakleitos alä Tlicolog. 

goldenen Regen aus der Danae (Meer) geboren nnd im 
Karten auf dvm Meere schwimmend, Jason auf dem 
Schiffe Ärgo (Sounenharke) n. s. w. In allen diesen 
Vorstellungen äind immer die Ideen von der Sonne, dem 
neugeboreuen Knabeu, dem Wasaer and dem Eabn oder 
■ Mulde angedeutet*). Die theol(^iscbe und zugleich 
koäuiologiäclie oder meteorologische Deutung aber ging 
tiör (laä Bewuastsein des Volkes verloren, und so ist bei 
Homer und Kesiod kein VerständuisB mehr für den nr- 
sprünglichcu Sinn des Mythus vorhanden. £i^ durch 
die Mysterien scheint dies Vcrständniss wiedergewonnen 
zu sein, und nur bei den Aegrptem finden wir die voll- 
ständige Üieolt^iscbe ErkUning and ethische Anwen- 
dung, loh kann mich nicht davon überzeugen, dasa 
Uerodot's Meinung nnd die Angaben der ägyptischen 
Frieder, wie Z«lier meint**), immer blosse Vennuthungen 
und wothloae Behauptungen seien. Herudot ont^rscbeidet 
mit wner gewissen kritisches Besonnraheit . die durch 
seiae reichen Erfahrungen von selbst entstand, was er 
als ein allgemein verbreitetes Gut iei menschlichen 
Cultor betraebten und was er als q<ecifiäches Erbstück 
«IS Äegypten ableiten »ll***). Wenn ex darum die 
Mysterien der Griechen aas Aegjpten berübeihringen 
) scheint mir dies scboo al^esehen von den Be- 
Mmmgen durch nnsere hentige AegjfUiiogie sehr be- 
Dibä am «odi der umstand ia's Ge- 



*) & mA bd AnEtofiliUin lorswtnU, t- IS9: oi4ir jmf 
faf»» «l«v B^t a tmr ml «'«vi. ta Bu^ wf 4k T)to nnd 
PvmUsb. Ce ik Kudcx N<)mi und Pdiu im Kaba xaneteea, 

•*) ttiUr. nüL «er tinxik« i, S. 56, 3. Aufl. 

•"( t R Hfvod. II. 1«I. «• (i^ *i» «i* »•«» »•?' .*r«*- 




Viertes Kapitel. 235 

wicht, dass Herodot wohl bemerkt, wie die Griechen, 
z. B. Melampus, einiges abgeändert haben, weil die Ge- 
bräuche nicht ganz zusammenfallen*). 

Es braucht uns desshalb nicht zu verwundern, wenn 
der Kahn des Gottes in den Eleusinischen Mysterien 
nur in der Unterwelt erscheint**) und wenn in den 
Thesmophorien der Korb mit den mystischen Symbolen 
auf einem Wagen gefahren wiid; denn Griechenland 
hatte keinen Nil und stand unter andern Lebens- 
bedingungen ; aber selbst in den Thesmophorien erinnert 
noch die avoSog und xu&odog der Prauenprocession nach 
Eleusis oder HgJimus an die aufgehende und untergehende 
Sonne. Will man aber das ursprüngliche Programm 
für diese mystischen Peste erkennen, so muss man nach 
Aegypten gehen, wo die Denkmäler noch heute alles 
deutlich vor Augen stellen***), und wo das Todten- 



*) DiodorI,29 erzählt oiFenbar von Herodot unabhängig und, 
wie €3 scheint, da er in Aegypten war, aus eigenen Aufzeichnungen, 
was er die Aegypter hat behaupten hören: xai tbv "EgexO^sa Xe- 

yovai, t6 yipog AiyvnJiov ovta ßaaiXsvffai rcHv Ud-tiyaitoy 

Tovtov &€ naQaXaßot^za xrjfif riyBfjiovCttv xacza&st^ai rag leXerdg 
T^g Jif^rjTQog iv ^EX^valvi, xai rd f^vaziJQitt noi^tfaij fiettvByxovta 
To nsgl jovT(ov v6/xifxoy i^ Jiyvnrov. Wie viel wir darauf gehen 
wollen, ist ganz gleichgültig; denn es kommt nur darauf an, ein- 
zusehen, dass solche Behauptungen überhaupt bloss wegen der 
Aehnlichkeit der Mysterien möglich waren. — Herod. 11, 49. 
iy(o fjihv vvv (p^iijn MeXdf^no&ay yevofxBvov ävdQu cogjov /^ayti- 
xijy TS iavTol avatr^aai xctl nvd-ofABvov an Myvmov dXXa re 
noXXd iatjyr^aac&ai "EXXtjffi xai rd negi Jiovvffov , oXlya avtdiv 
naQaXXd^avra' ov ydq &ilj avfinsaseiv ye yijffw rd ts ev 
Jiyvnra notsvf^ßya itS d^sm xal zd iv roTai '!EXXtjai. 

**) Oder wie bei Stesichorus (Athen. IV, 781 d) : zov &k "HXiov 
notfiqlia SianXelv ^^cl toV 'SlxiayoVy m xai rov 'HgaxXsa negaiüi^ 
d'rfVai ini rdg FrjQvoyov ßdag OQfxmvxa. Und ibid. 470 c, ro &€nag 
to j^Qvaeoy^ o avxov {rov 'HgaxXsa) BcpoqH avv ratg Vnnoig, 
htijy Svu &id rov ^Slxsdyov xrX, 

***) Eine glänzende und zugleich fachmännische Beschreibung 



235 HerakleitoB als Tbeolog. 

buch die theologisch-meteorologische Deutung ausreichend 
gewährt. 

§ 5. 
Die Letohen. 

Da nun in der allgemeinen Vergleichung der Grund- 
gedanken bei Heraklit und der ägyptischen Theologie 
schon Vieles mitgenommen ist, was anch als Besonder- 
heit betrachtet werden kann: so will ich jetzt zum 
Schluss nur in der Kürze noch an einige Analogien er- 
innern, die mehr oder weniger charakteristisch sind und 
daher keine fiberzeugende Kraft haben, mit dem andern 
zusammengenommen aber immerhin Berücksichtigung 
verdienen. 

Zuerst betrachten wir ein scheinbares Gegenzeugniss. 
Heraklit sagt nämlich: „Die Leichen sind wegzuwerfen 
mehr als Dreck"*). Dass dies in auffallendem Wider- 
spruch steht zu den Gebräuchen der Aegypter, li^ auf 
der Hand, ebenso dass es einen Anklang bietet an die 
Sitten der Perser. Allein eben darum ist es ein ge- 
wisses Indicium; denn eine solche Polemik konnte sich 
zwar auch gegen die griechischen Gebräuche richten, 
aber doch nur in sehi* beschränktem Masse, da die 
Hellenen ja ihre Todten auch verbrannten oder be- 
gruben: sie passt aber, wenn sie nicht bloss gegen die 
Thränen der Hinterbliebenen oder die Kostspieligkeit 
der Leichenbestattung gerichtet ist, am Vollständigsten 
auf die Gebräuche der Aegypter; denn diese allein con- 
servirten ihre Todten, und das Conserviren und Weg- 



dieser Mysterien findet man, nach den Denkmälern ausgeführt, 
bei Ebers, Königstochter III, S. 191. 

*) Bywater, fragm. 85. ysxveg xonqdav ixßX^zoteQoi, VgL 
ebendas. die Parallelen. 



Viertes Kapitel. 237 

werfen bildet den eigentlichen Gegensatz. Die Um- 
kehrung des Heraklitischen Satzes würde also lauten: 
„ Die Leichen mnss man mehr conserviren als die werth- 
vollsten Schätze ", und dies ist der ägyptische Standpunkt. 

Mau konnte also auch in diesem Satze eine Beziehung 
auf Aegypten finden, aber mit dem Besultat, dass He- 
raklit die Gemeinschaft der Sinnesart kräftig bestreite. 
Daraus aber die Folgerung zu ziehen, d^ss Heraklit mit- 
hin nichts von Aegypten habe annehmen können, wäre 
sehr voreilig; denn Heraklit war ein selbständiger Ge- 
nius und nur desshalb unserer Aufmerksamkeit über- 
haupt werth. Es versteht sich also gewissermassen von 
selbst, dass er nicht zum Abklatsch fremder Weisheit 
werden konnte. Er hat ja auch nur, wenn wir alles 
Uebrige vergleichen, sich durch die ägyptische Mytho- 
logie und Theologie oder durch den Sinn der griechi- 
schen Mysterien anregen lassen, um seine eigenen Ge- 
danken über Gott und Welt auszubilden. 

Dass eine Eeligion aber angenommen werden kann, 
während doch einiges anklebende Nationale abgestossen 
wird, sehen wir z. B. an dem Christenthum, welches von 
den Heiden angenommen wurde, während diese doch 
sofort die Beschneidung ablehnten und dadurch die 
Apostel zwangen, nach einigem Kampf mit ihren natio- 
nalen Vorurtheilen diesen Gebrauch für unwesentlich zu 
erklären. Es ist darum gar nicht zu verwundem, dass 
der Grieche Heraklit die ägyptischen Mumien verab- 
scheute, während ihm doch zugleich die mystisch -pan- 
theistische Vereinigung aller Götter und die Apotheose 
der Verstorbenen zusagte. 



■fenUdlM >!■ Tlwtloe. 



Tag vmA K*oU Ist dauelbe. 

üeber diese Frage habe üli schon im ersten Bande 
S. 47 gehandelt. Wenn Heraklit den Hesiodna tadelt, 
daas CT Tag and Nacht nicht verstanden habe, die dodi 
nns säen: so ist recht merkwürdig, das» diese Erkennt- 
nt38 im Todtenbache cap. 17, c«l. 5 und 11 dienfiills 
ausgesprochen wird. Col. Sheiast es: „ Ich bin das Gesters 
(«et) ond ich kenne auch das Morgen (dnao)"; das Ge- 
stern wird dann erklärt dorch den Osiris ond das Hw- 
gen durch den ßa, von denen der eine in der \acht- 
region weilt, der andere als Sonne anlgeht nnd das 
widerstreitende Böse vernichtet Beide aber seien das- 
selbe. CoL 11 wird erklärt, dasa Unendlichkeit imd 
Ewigkeit dasselbe sei, die Unendlichkeit sei der Tag, 
die Ewigkeit die Nacht, nnd beides sei der Doppelpan (Se- 
diem) in seiner doppelten Erscheinm^. Anch mit dem 
PhSoii (benna) wird dieser Gedanke bezeichnet, der 
sich selbst verbrennt nnd immer wieder jang nnd leben- 
dig ist*). Heraklit bewegt sich völlig in dieser Welt- 
[ nscbaoong; denn die Sonne geht zu Wasser, nnd ans 



I 



•) leb erkläre das Todteoboch nach Brngach. Die Ueber- 
EBBg d» 17. Capiteli üt meines Wissens von ihm Doch iiieU 
hoKug^ben. üeber die Einzelheiten dieser Teite aiid id«d 
■böten, öbei den Sinn im Ganzen ist nach Lepsins kön Zweifd. 
Lndw. Stern erklärt einiges abweichend von BnigBch tmd Cha- 
bu und Imnerkt (Atialandl871. S.828) zn onBeter 8tene: „Hai« 
kh den Sinn recht erfasst, so i«t diese älteste Huloeophie der 
Weit die: der Tag des menschlichen Lebens ist «ie der Lauf der 
Sonne; der Mensch war gestern nnd wird auch morgen sein; a 
ist unendlich tmd ewig, er ist Tag ond Nacht; er schwindet 
dahin wie (teirä nnd erstebt wieder wie Uorus; er ist wie der 
RiÖnii, der aoe da eigenen Asche neoes Leben gewinnt." 



Viertes Kapitel. 239 

dem verdampfenden Wasser entsteht die Sonne. Ein 
Ausruhen und Trunkenwerden ist Nacht und Tod und 
ein Angefachtwerden und Wachen ist Leben und Tag, 
und beides findet im ewigen Wechsel statt, da die 
Oegensätze wie Actus und Potenz dasselbe sind in 
widerstreitender Erscheinung. 



§ 7. 
Helios, Dike, die Hölle und die W&chter. 

„Jeder Planet geht in einem Kreise, wie auf einer 
Insel, und bewahrt die Ordnung, denn Helios", sagt 
Heraklit, „wird sein Mass nicht überschreiten; wenn 
aber doch, so würden ihn die Erinyen, die Gehülfen der 
Dike, finden." *) So berichtet Plutarch, und der Pseudo- 
heraklit sagt im neunten Briefe: „Viel sind der Dike 
Erinyen, als Wächter der Sünden."**) Analog diesen 
Stellen ist eine andere sehr merkwürdige bei Clemens: 
„Denn der Bewährteste unter den Bewährten versteht 
Wächter zu sein und das Gericht {Slxij) wird ja er- 
greifen der Lügen Schmiede und ihre Zeugen, sagt der 
Ephesier. Auch dieser kennt von der barbarischen 
Philosophie her, die er lernte, die Keinigung 
durch's Feuer für die, welche schlecht gelebt haben, was die 
Stoiker später Verbrennung nannten, und nach seinem 
Vorgang lehren sie auch, dass [der fromm lebende] 



*) De Exü. 11, p. 604. rwy nXayiqTOiV ixaarog iv fit^ 
iStpaiqif, Tca^dneQ iv vtjff^, nsQmoXioy ^iag>vXttrTei rnv räiiv * 
^hog yaQ ovx vnSQßijaettti f^^tQu, g>^alv 6 'HQcixXeirog * si dh fi^f 

**) L. 1. noXXttl dix^s 'EQiyveg, dfiaQrfi/iureDy g>vXaxeg, 



240 Herakleitos als Theolog. 

wieder auferstehen werde, indem sie grade dies ab die 
Auferstehung in Ehren halten."*) 

Um nun weiter die auf die Hölle und die jenseitigen 
Sti-afen und Belohnungen bezüglichen Stellen zu ver- 
folgen, vergleichen wir Theodoret, der den Heraklit 
tadelt, dass er ohne Unterschied die im Krieg Gefallenen 
eines höheren Loses für würdig erachtet. Derselbe lobt 
dagegen eine andere Stelle : „ Es erwartet die Sterbenden, 
was sie nicht hoffen und glauben."**) Und Hippolytus 
behauptet: Heraklit spricht auch von der Auferstehung 
dieses wirklichen Fleisches, in dem er so sagt : „Wo sie 
wirklich auferstehen und Wächter werden der Leben- 
digen und der Todten."***) 



*) Clem. Alex. Strom. V, p. 649 Pott, doxsovrojy ydg 6 cfo- 
xtfiüjtuTog yip(6ax€i (pvXäaaBiv, xal fiiyroi xai öixrj xaraX^^ 
tperai tpev&wv rexrovag xal fjtaQTvgag, 6 ^Jtpiaiog g)tjinp. oiSey 
ydq xai ovTog ix r^g ßaQßaQOv tpiXocofplag (ia&(ov rijv (fta nvQog 
xdd-agaiv T(3v xaxdSg ßsßi(ox6t(oy, ^V voregoy exnvQ(ociv ixdXeaav 
ol 2t(oixolj xad^ oy xal toy \iSi(og not6v'\ dyaurrjcea-ß-ai doy^ 
fiarl^ovai, rovx ixsiyo ti^v dvdoTaaiy nSQiinoyrBg, Die eiDgeklam- 
merten Worte scheinen mir verderbt zu sein. Vielleicht idiotrixoy? 
Die von Bywater ohne Weiteres als richtige Lesart in den Text 
genommene Conjectnr nXdaaeiy für tpvXdcasLv halte ich für über- 
flüssig nnd den Sinn verderbend ; denn es fällt Heraklit nicht ein, 
auch die bewährtesten Männer zu Lügnern zn machen, sondern 
diese soUen grade das Wächteramt haben und die Lügner strafen, 
nach Analogie mit dem unbestechlichen Gericht in der Unterwelt. 
Um die Richtigkeit meiner Erklärung zu prüfen, vergleiche man 
den Herakliteer Plato, der im Staat und in den Gesetzen ebenso 
die Männer prüfen und auswählen (doxi/^dCay, doxifiaaia, ixXoy^) 
lässt, um sie nacher als doxifioi und doxifiaaS-evreg zu Kichtem 
(xQttai) und Staatsverwaltern {aQxovxBg) und Wächtern {icpvXa- 
xeg) zu machen, und grade das Wächtersein {g>vXdaaeiy) ist eine 
der wichtigsten Aufgaben der bewährten Männer. 

**) Theodoreti graec. äff. cur. 118. 'Exelvo dh tov JlQaxXettov 
fxdXa S-avfucC(o, oti fjLivei. rovg dvd-qtunovg dno&vtjaxoyTag oaa ovx 
tXnovxai. ovdh doxiovat. 

***) Hippolyti Bef. omn. haer. IX, 10. Xiyu dh xal aaqxog 



Viertes Kapitel. 241 

Wir haben hier also bei Heraklit deutlich die Lehre 
von der Auferstehung, von der Hölle und den Strafen 
und dem seligen Lohn, indem die Bewährten, die zu 
wachen verstehen, dort auch Wächter werden ; wir haben 
auch die merkwürdige Anwendung dieser Lehre auf die 
Sonne, die der Dike und ihren Erinyen verfallen würde, 
wenn sie ihr Mass überschritte. Dass dies keine Philo- 
sophie ist, darüber wird wohl kein Zweifel herrschen. 
Aber woher nahm Heraklit diese Vorstellungen? Hesiod 
kennt zwar auch die heiligen Dämonen, die Uebel abweh- 
renden und Wächter {q)vXaxeg) der sterblichen Menschen, 
die zu diesem Amt gekommen sind, nachdem sie als 
das goldene Geschlecht unter Kronos Scepter sich aus- 
gelebt und zur Erde gegangen waren*). Das ist aber 
eine ganz andere Vorstellung als die Heraklitische. 
Clemens weist nun auf die barbarische Philo- 
sophie hin, worunter er die Eeligion versteht. Er 
denkt natürlich an die hebräischen Propheten, die von 
den Griechen bestohlen sein sollen; allein schwerlich 
würde man dort das Gewünschte finden. Dagegen bietet 
die ägyptische Religion merkwürdiger Weise alle diese 
Vorstellungen. 

Wenn man annimmt, dass Heraklit die specifischen 
ägyptischen Bilder von der Katze, der Schlange u. s. w. 
abstreifte und nur den symbolischen Sinn derselben er- 



drdaraaiv tavrtig q>ay6Qag, iy p y€y€rijf46-$tc, xai rov S-edy eMe 
ravTtjg r^g dyaardasiog aXtioy ovratg Xiytoy ' eyd-a [(f* i6yTC\ ina- 
viaraa-d-ai xal g)vXaxeg yCvsa&m iyBQtiCoyroyy Tcal vexQcSy, 
Sauppe hat did d^sdv corrigirt; allein von dem Gott als Urheber 
spricht er erst im Folgenden; darum frage ich, oh nicht vielleicht 
iovu für T^ oyu zu dulden oder auf Rechnung des Hippolyt zu 
setzen sei, von dem es ja fraglich ist, ob er nicht bloss nach der 
tmgefähren Erinnerung citirt. 

*) Hesiodi Opp. 120 sqq. 

T eich mü Her, Zur Qescli. der Begriffe. 16 



, f 



912 ITeraUeitM sk Tbtolog. 

Aaet«, so wird m^ kamn längnen k3an«i, 
Todtenbncb alle diese Vorstellungen rennitteU*). „O 
Sonne, Gottkiod, lenchtend in deiner Scheibe, aofgehend 
in deiner Licbtwelt. einberscbwimmend auf deiner Bsiui, 
uRtbeilbaft der Sünden, kreisend an der Feste des Sobn; 
iiicbt ist deinesgleichen unter den Göttern, der dn die 
Winde ^ebst durch den feurigen Äthem deines Uimcles 
und hell machst die beiden Welten dwcb deinen Gtatiz, 
rette du den Seligen (Verstorbenen) ans der Hand Jena 
Gottes; rerborgen ist seine Gestalt; es sind seine beidea 
Augenbrauen wie die Arme der Wage in der Kscbt 
der Abrechnung**) der Göttin Awai (Gewalt). Was 
ist das? Daa ist Nendotef (der Gott der üstcrweh, 
der nach cap. 125, col. 34 die Sünde bestraft, Gott in 
seinem Herzen klein zu halten). IKe Nacht der Ab- 
rechnnsg, das ist die Nacht des Verbrennena der Sfinder 
nnd der Fesselung der Uebelthäter auf dem Block (nnt 
dem Beil) und des Tödtens der Seelen. Was ist das? 
Es ht der, der die Massfiberscbreitnng des Oaüis 
durch Marterong straft. Nach andern ; es ist die Schlange 
Sop, sie hat einen Kopf und trägt die Wahrheit 
(ma = Dike). Nach andern: es ist der Sperber, er 
ist mehrkiipfig und ^ tr^ der eine Eopf die Wahr- 
heit (ma = äixr,), der andere die Lügen; er giebt die 
Lügen dem LSgner, die Wahrhät dem, der sie Int 



*) Ich abeisetze nach Brogech das IT. Kapitel, CoL bOB. äa 
Todteobiuha. VergL dum anch Ladw. Stern, AnsUiid 1871, 



**) leb zweifle, ob heeeb nicht auch hatftmt bder xmfH»/töt 
bedeuten kann. — Zd dem Bilde der Wage reigleiclie man aneb 
Brngech, Todtenbach I, 16 (LepaiuB, Aegjpt. Zeiteehr. 187% 
S. 70): „Eb wandert ein der OsinB in du Land ita Westem 
(Ilades) in Frkden. I^etit ward erfnndeit seioe Schnjd anf der 
Wage." V. 17: „Ich habe meicbt die Stätte der Wahrheit J 
and Gerechtigkeit" (^£(q). 



Viertes Küpitel- • 



243 



Nach andern : es ist Horus, der in Sechem (Todtenwelt, 
repräsentiii durch Abjdus) ist. Naiih andern: es ist 
Tehuti {Qivd), es ist der gute Tmu [Qufwv), es ist der 
Sohn der Bast (Bubastis), es sind die Hauptgötter, welche 
wegnehmen alle Dinge dea Feinden des Herrn des Alls- 
Rettet ihr den Osiris von der Hand dieser Wächter der 
Eückkehrenden , die Schwäche und Verderben bereiten. 
Nicht kann man loskommen aus ihrer Festhaltung, von 
ihnen , die beim Osiris sind. Mögen sie nicht Macht 
haben über mich, möge ich nicht fallen in ihren feuri- 
gen Ofen." — In dieser Weise geht die Beschreibung 
nun fort, und es wird wiederholt gesprochen von dem 
Gott in der Unterwelt, der die Leiber mit Feuer verzehrt, 
die Herzen herausretsst und die Körper wegschleudert, 
und vom Verwesten lebt, und ebenso von den Wächtern ; 
schliesslich aber wird der Gerechte zum Gott verklärt, 
nud der Verstorbene wird selbst zum Osiris und besteigt 
mit HoTua die Sonnenbarke uud wird Wächter der 
Welt. 

Schwerlich hat Heraklit au diese mythologischen 
Bilder geglaubt, aber er benutzt sie. Für ihn selbst 
war die physiologische ErkläiTung sofort klar, da ihm die 
Götter zu Sterblichen und die Sterblichen zu Göttei'n 
werden, da ihm das Feuer zu Wasser und das Wasser 
zu Feuer wird, da ihm der Tag zur Nacht erlischt 
und die Nacht den Tag gebiert und das All eins 
und evrig jung ist mit ewiger Vernunft begabt und in 
regelmäesig wechselnden Gegensätzen in sich entzweit 
und mit sich zu Frieden und Harmonie versöhnt. 



aU6 3^miusäki» u» Tmnifuf. 



t -. 



XrJBirixwi^ ms «im iPifim oi» iruiiSTf' ithwHÜäHmäE' 
JLisii'uin ^im *:r{ru'JL. !&*ür jOibl. mcar miDsn. IHflmHHt:. 

A.riHÄimü»^ lÜHT »i^ Ol» ck lafi -misvvfiäBr iä^ UlBnqf 

iiiamm.. uv Ijfamnf läiar m Vj^hc:. txdL THntnihilnffnÜP 
T^nr^nnimir Xxiwaa m ^vosbc imnc ffinashnriflri Ste 
iniL uu'Ä c*k J^ffi'Äti: mit imög«t m Wiorar "Mwmflp 
7iü»n rjyJum.^ jft £miL nuä. «migr ^faTrnrnr ^Hffniülft 
iii'Jic rü'Jin ioiuHL.. übt cos ICwKÜfflT iH^ ioüiwia^vs «Qof- 

3iuu'>ii f-iTBi.. si irurw- mi- Ti"4^mi..i!iiik üx San Sobbii 
iviiiiiftSL *'*'' 2i cüsiflr Säbik kannm -bik jmmn' sfar 
ms-rrirtüs»:. -wi ^hrarr; san: ^IDü» äaäflL ninflmL am 
Snü»'* **i. P'JmarÄ -flnaair ma ffia. iwl «r ^äfifiii Asr 
K ;^iuujp!: ffibikn luiL cit fomtfflcSLiäjflL unfl giifaiiim i fiiü 
■wuHhl "WiCÄ iTiigr tit SsüaBfr »öaar FflSffgiimK' hdS IDs?- 
m^Gror w74iiULups'iL mit wj'uiiiihöfl^ -fläf&rL Er dBEndeü 
üin 21 S. ms T^rwgQgt üs HLoilüs »u^ fWunphnmi) 
in £]ta<ä lis: u»c Knussr ÖBCnrmi. uim dar MBnfl ^ufflh- 
rsut uisfsr Zbx: mfigr ota: ]&!% TTrenfthnnr m. imfl Abs 

£k ssissi ü^büin riuctcrä. säisiiiL I'taimiitfti sääte <& 



*" lJ3ffinL ü üSUBL 1. ^b^j. f2L. Au «tt ?gjwnrSHUir<g 



'^ T^tnamiL öt ikL in- ari jiil %. i.. Mßl «w 



ViertcB Kapitel. 



245 



Selene eigentlich noch ganz der Unterwelt an , da die 
Mondregion das feuchte Element einschliesst; das Licht 
des Mondes aber werde verstävkt und verschärft durch 
den Aether in der Mondregion , und es finde dahei 
gleichsam eine Ernährung durch die zugehörige Ver- 
dampfung oder Verbrennung (üvuSvftiaaic;) statt ; dem 
Monde analog aber verhalte sich die Seele {yjv/Ji), und 
diese Betrachtungen führen ihn auf Heraklit'B Ausspruch, 
dass die Seelen im Hades riechen. 

Wir sehen daraus, daas sich Heraklit auch hier wie- 
der in mythologischen Bildern ergangen haben musa, 
und vei-stehen sehr leicht sowohl Plutarch's als Aristo- 
teles' Bericht; denn aus beiden geht hervor, daas der 
entscheidende- Begriff die ämd-v/iiaaig war, aus welcher 
Heraklit sowohl die Gestirne, als auch die Seele ab- 
leitete, nnd dasa dieses Hieehen im Hades stattfinden 
musste , ist ja einleuchtend , weil sonst keine Wiodei- 
entatehung der Dinge eintreten konnte. Was und wie 
Heraklit aber hei dieser Gelegenheit geredet hat, das 
bleibt uns gänKlich verborgen. 

Da ist es nun interessant, die ägyptischen Lehren in 
Bezug auf die Nase und ihre Function zu vergleichen. 
Die Nase ist bei den Aegyptern ein hieroglyphisches 
Determinativzeichen und bedeutet mit dem phonetischen 
Stamm reah verbunden nicht nur riechen, sondern auch 
Freude, Lehen, indem, wie es scheint, die letzteren 
beiden Ideen mit dem Riechen verbunden sind, sofern 
der Athem, also auch Leben und Freude durch die Nase 
geht. So bildet auch nach Bnigsch der ägyptische 
Prometheus das Leben und die Seele des Menschen, in- 
dem er ihm in die Nase bläst. Dass dieses Riechen 
und Belebtwerden auch im Hades vor sieh geht nach 
ägyptischer Lehre, sieht man unter Anderem im 56. Ka- 
pitel des Todtenbuchs, wo es nach Birch's üebersetzung 
heisat: „0, Tum! gieb mir den süssen Odem deiner 



216 Henkleitos ab Theolog. 

Na«e ich wachse, ich lebe, ich athme Luft im 

Hades/^ *) Aehnlich im 54. Kapitel mid im ersten nadi 
Brag8ch**j: „Ich rieche den Wohlgemch der Nahrungs- 
ffiUe der göttlichen Schaar^' (im Hades). 

Man konnte hiemach wohl sagen, dass der wesent- 
liche Inhalt der Heraklitischen Idee bei den Aegyptem 
zu finden sei; denn die Vorstellang, dass das seelische 
Leben durch den in die Nase einströmenden Athem als 
Form der Verbrennung (ayud^vfuaoig) entstehe und dass 
dieser Verbrennungsprocess im Hades beginne, ist ebenso- 
wohl ägyptisch als Heraklitisch. Diese Beziehung giebt 
also die leichteste Erklärung, und man versteht so auch, 
wie Heraklit behaupten konnte, dass, wenn alles Bauch 
wäre, die Nasen die Erkenntniss haben würden. Wie 
viel Sinne Heraklit annahm, ist nicht überliefert; der 
Heraklitische Pseudohippokrates nimmt sieben an ; jeden- 
falls blieb, auch wenn die Augen und die anderen Sinne 
wegfielen, für die Differenzen des Rauches {xanywdtjg 
amOvfiluaig) der Geruch übrig. 



*) Bgypt« place in univers. hiator., Bunsen V, ed. Birch 
p. 203, LVI. tlic chapter of rccciving tlie breath in Hades. „ 

Turn! givc inc the «wect breath of thc nostril. I grow — 

I live — I brcathc air in Hades." — Hiermit muss irgendwie 
veruiittelt auch der von Eudoxus erzählte pböniziscbe Mythus zn- 

sammenhängen (AthenaeuB H 392, d): tov 'UgaxXia dvai^ 

QeO-riyia fjilv vno Tvtpdivog, *loX(iov <f* avT(^ jiQoaEviyxavtog o^- 
Tvya — — 6ag)^avd-ipT* lipaßitSpai, 

**) Brugsch, Todtcnb. I, 18 (Lcpsius, Aegypt. Zeitschr. 
1872, S. 70): „ich schaue die Herren der Tiefe" (Hades) „andere 
Lesart: die göttliche Schaar, — ich rieche den Wohlgeruch 
der NahrungsfliUe der göttlichen Schaar ". Nach dena Zusammen- 
hang ist kein Zweifel, dass die Seele des Abgeschiedenen auch in 
dem Hades riechen, d. h. theilhaben soll an dem Leben und 
der GcmciriHchaft mit dem göttlichen Wesen. 



ScUn88. 247 



Schluss. 

Im ersten Bande dieser neuen Studien zeigte ich, 
wie auffallend und merkwürdig bei Heraklit das Herab- 
sinken von der Höhe Anaximandrischer Naturphilosophie 
sei, wie seine Auffassung von Sonne und Erde sich 
wieder dem alten Thaletischen Standpunkte und dem 
der Theologen nähere, wie er dementsprechend gegen 
die Vielwisserei der Gelehrten eifere und für seine 
Naturbegrifife mythologische Namen brauche. Ich be- 
merkte zugleich, dass ich in dem ersten Bande eine 
Eeihe von Fragmenten ausser Acht Hesse, die in einer 
zweiten Untersuchung behandelt werden sollten, um 
Heraklit als Lobredner der Sibylle und ersten Verthei- 
diger der OfiFenbarung und Inspiration zu begreifen. 
Dies habe ich hier nun versucht. ' Es hat sich uns ge- 
zeigt, dass Heraklit in nächster Beziehung zum ephe- 
sischen Heiligthum stand und mehr als religiöse oder 
prophetische Autorität denn als Gelehrter und Natur- 
forscher zu betrachten ist. Wir sahen , dass er die Haupt- 
wahrheiten der Mysterien erklärt und vertritt und dass diese 
auf Aegypten hinweisen, wo sie durch das Todtenbuch 
eine ausreichende Deutung finden. Wir sahen ferner, 
dass im sechsten Jahrhundert vor Christo überall bei 
den Weisen Griechenlands sich ägyptische Einflüsse 
geltend machen. Speciell für Heraklit schien uns die 
Anzeige für jene Ideenwelt nicht etwa bloss in seiner 
Anerkennung der Inspiration und Offenbarung zu liegen, 
sondern in der allgemeinen Uebereinstimmung zwischen 
Heraklitischer Philosophie und ägyptischer Theologie 
und besonders in einer Keihe auffallender Voratellungen, 
die sich nicht leicht aus der griechischen Gedankenwelt, 
dagegen überraschend aus ägyptischer Mythologie oder 
aus dem Mysterienkreise erklären lassen. 



248 Herakleitos ab Theolog. 

Ich habe dämm den Schluss gemacht, dass Heraklit 
entweder direct oder indirect durch ägyptische Theo- 
logie angeregt sei. Vor mir hatte Böth dies behauptet, 
aber sein Werk nicht bis auf Heraklit fortgeführt; die 
ägyptische Wissenschaft hatte zu seiner Zeit auch noch 
nicht die erforderliche Sicherheit, die ja auch jetzt noch 
namentlich in Bezug auf die Erklärung der theologischen 
Literatur viel zu wünschen übrig lässt. Somit fallt mir 
die Last zu, als der erste diese Behauptung zu ver- 
treten. Es kann sein, dass meine Argumente diejenigen 
nicht überzeugen, welche sich nun einmal auf die Be- 
hauptung steifen, die Oriechen allein von allen Völkern 
hätten zur Entwicklung ihrer eigenthümlichen Cultur 
keine Einflüsse von anderen Völkern erfahren, sondern 
hätten ohne Reagens in regelmässigem Fortschritt ihre 
Anlagen herauskrystallisirt. Für mich ist allerdings eine 
solche Annahme schon an und für sich unwahrschein- 
lich, verdächtig und unglaublich, weil sie sich weder 
auf allgemeinere Wahrheiten gründen kann, noch in 
der Welt sonst irgend welche Analogien findet. Für 
die aber, welche sich nun einmal an die griechische 
Entwicklung auf dem Isolirschemel halten, muss es doch 
wenigstens ein Interesse haben, im Zusammenhange zu 
überblicken, was sich bei Heraklit für auswärtige Beein- 
flussung sagen lasse, und so hoffe ich selbst bei diesen 
auf Dank für meine Mittheilungen ein Anrecht zu 
haben; denn da dieser Gedanke, wenn auch nur von 
dem zu enthusiastischen Roth, einmal ausgesprochen 
war, so verlangte die Wissenschaft eine Untersuchung 
der Frage. Ausser Roth ist noch Lassalle zu nennen, 
der orphische Elemente bei Heraklit zu finden glaubte; 
Zeller beanstandet dabei hauptsächlich die chronologische 
Richtigkeit und meint, „man könnte daraus höchstens 
nur den Schluss ziehen, dass die Verfasser der Orphica 
Heraklit's Schrift benutzt haben''. Das kommt aber 



völlig aiif daisselbe heraus: denn es würde auch Jadurch 
bewiesen, class Heraklit der Mann war, von dem die 
Mystik Nahrangsquellen ziehen konnte*). Ausserdem 
braucht es sich gar nicht um die übrig gebliebenen 
orphiscben Schriften zu handeln , da der Mysteriencult 
selbst der Zeit Heraklit's voranging und, wie Heraklit 
tadelnd hervorhebt, zu seijier Zeit schon ausgeartet war, 
Schuster liat ebeoMla nicht umhin gekonnt, bei He- 
raklit „Bekanntschaft mit mystischer Theologie" zuzu- 
gestehen, obwohl er seltsamer Weise den tiefsinnigen 
Mann zii einem ordinären Sensualiaten umwandelt '**). 
Wenn nun diese sonst so verschiedenartigen Auffassungen 



*) Zellor, Phil. d. Griechen I, 3. Aufl.. S. 593. 

*') SchnBter'fl Auffassung zeichnet sich dnrch eine wider- 
BprnchBVOllo Willktirliolilceit aus. So z, B. Tragt sicli, wesshalb 
DeralileitOB sein Wert dem ephcsiBchen Hciligthum als Weih- 
geBchenk darbrachte. Schuster antwortet S. 8Ü Anin. 3: „Daa 
scheinbare Oiymoran, dasa Heraklit ein Buch, das dieGütter 
angriff, in einem Tempel doponiite, last sich natfirlich sehr 
einfach dnrch die bekannte Thatsache, dasg im Alterthmn die 
Tempel die Depositenanetalten abgeben." Dies ist keine natür- 
liche LösDDg, sondern blosse Willkür; denn (tcrgl. oben S. 124 
Anm.) dräSrifia bedeutet nicht na^axuTuS'ixii, und ausserdem wäre 
CS doch merkwürdig, dass die Tempel Depositen, die eine YQi"pn 
amfElas erforderten, zur Verwahrung angenommen hätten; nie 
hätten sonst ja auch die besten Hehler für GeBtohlencs und Ge- 
rauhtes abgeben mlissen. Schasterscheint diesen Zweifel zu ahnen; 
wenigstens bemerkt er im Widersprach mit d«r vorigen Bemer- 
kung: „Daran zu erinnern, dass grade anter den Priestern 
und Priesterinnen damals eine dem Huraklitischen 
PantbeismuB nicht feinstehende Theosophio ihre 
Verehrer aählte, ist nicht einmal nötliig." Er scheint den 
Widerapmch nicht zu fühlen, dase nan „ein Bnch, das die Götter 
angriff", zugleich mit der Gesinnung und Theosophie der Priester 
fibereinstimmt. Durch solches Oxymoron wird man nicht belehrt. 
Wir nehmen aber daraus ab, dass auch Schuster den Zusainmen- 
hang Heraklit's mit der Mystik seiner Zeit nicht längnen konnte. 



SM Heniklcitoü aia Theolug. 

alle wenigstens in einigen Beziehmigen dahin eonver- 
giren, den Heraklit mit den Mysterien in Verbindung 
zu sotzen : so ist auf der anderen Seite als bervom^eud- 
ster Voi^änger für den Zusammenhang ägyptischer und 
grieohischer Weisheit Ebers zu nennen, der in seiner 
ä^yptisclien Königstochter diese Außassung der Geschichte 
in Fleisch und Blut lebendig ausgestaltet hat. Man 
darf seine schöne Dichtung ebenso als Werk der Gelehr- 
samkeit betrachten, da er die Resultate seiner figyp- 
tologischen Forschungen in diesen Sitteuscbildenuigen 
niedei^elegt hat Obgleich ich daher mit dieser Schrift 
zuerst unternehme, den Ziisanimeuhang des Epheslers 
mit den griechischen und ägyptischen Mysterien nach- 
zuweisen , so darf ich douli behaupten , da£s auch 
schon bei allen Früheren, die über Heraklit forsch- 
ten , zerstreute Indicien für diesen Weg zn finden 
sind. 

In der Zeit, wo Heraklit blühte, genoss der Perser- 
könig Dariue unge^hr ein solches allgemeines Ansehen, 
wie Napoleon im Jahre 1809. Es ist darum natürlich, 
dass die einflussreichen Männer in Griechenland und 
ganz besonders in Jonien sich um ihn bekümmern 
mussten. Als er daher von den Aegjptern zu einem 
gegenwärtigen Gott gemacht wurde*) mit allen den 
überschwänglicben göttlichen Attributen, welche die 
Priester ihrem Könige als Herrn und Erhalter beider 
Welten verliehen, so mochte Heraklit wohl den kühnen 
Ausspruch entgegengestellt haben : ,, Dieses einzige Welt- 
all hat weder ein Gott, noch ein Mensch gemacht"**). 



•) Diodor. I, !)&. (fift roüio hiXuobi^ ivxtiv rtftiis (sc. Ja- 

fiävor tiäv aniiviiov ßaniXiiap, rcXenilaaviB (Te iifiüy iv^ttr taeir 
Toic TD ndJaioV yafiifiäiajii ßaatliCiJiraai xm' Aiyvnxoy. 

•") Vergl. meine Neue Studien I, S. 86. Obgleieh diese Bo- 



Es ist darum natürlich, wenn Gladisch und zuweilen 
auch Schuster auf die Religion Zoroaster'a hinbliclcen, 
die auf Heraklit allerdings von Einfluss sein musste; 
denn da er nicht umhin konnte, von dieser Religion 
Kenntniss zu nehmen, so musste ihn diese Keuntniss 
auch in seinem Denken anregen und beeinflussen. Da 
sich dieser Einfluas aber ausser in den allgemeinsten 
Linien bei Heraklit nicht wabruehmen ISsst, so darf 
man als Lösung der Schwierigbeit darauf hinweisen, dasa 
eine andere Religion von weit grösserer Tiefe und Rein- 
heit, von weit höherem Alter und erstaunlicher Gelehr- 
samkeit damals auch den Persern imponirte. Der von 
allen Menschen der damaligen Zeit herrlichste und 
mächtigste, der Perserkönig Darius selbst, studirte die 
ägyptische Theologie unter Leitung der Priester und 
suchte ihre historischen und politischen und moralischcu 
Belehrungen*). Was der König aber verehrte, dem 
Alles zagänglich war, das konnte von Niemand geiing- 
geschätzt werden; mithin ist anzunehmen, dass, wer nur 
Bildung genug besass in Jonien (das waren allerdings 
aber nur wenige Männer), sieb bemüht habe, an dieser 
Weisheit theilzunehraen oder ein ürthoil darüber zu 
gewinnen. Die bedeutendsten Männer der Griechen 
waren aber dem Perserkönig schon lange vorangegangen 
in der inteUectuellen Ausbeutung Aegypteus, wie Solon 
und Pythagoras, da ihnen nicht entgehen konnte, wo in 



Ziehung aof Darios eine Hypothese üt, ho löst eie auch alle 
Sehwierigkeiten, die aonat in dem AuHspruch liegen. 

*) Diodor. I. 95. 6/lli^aai /liv yag aJloy (sc. JliQtioi') lofc 
IcgeSOi Toig iv MyVTnoi xid fisralaßcfv iijc it »loXoyias 
avTiäv xrA xiöv iv Talg UpaT; ßC^ioK BVKyeygaiiftivmy nQÜ^tlov 
ex rfi ro^tBc tmoe^oavia iijV le fitj-aloipvxii'v riuy np/ntof 
ßaaiX^Mv in» rfii/ Eis lovg agx''f^'''>''s intiimav, /ii/i^aitaOnt tüv 
itrivv» pCov. 



2^ Herakleitos ab Tbeolog. 

der damaligen Welt die höchste geistige Caltur zu finden 
sei. Und so müssen wir auch bloss aus aUgemein hi- 
storischer p]rwägun<( der Weltverhältnisse den Schluss 
ziehen, dass ein bei dem mächtigen Heiligthum in 
Ephesus wirkender, politisch und prophetisch hervor- 
ragender Mann wie Heraklit kein Ignorant sein konnte 
in den Dingen, die dazumal ffir die höchsten galten. 
Finden wir aber in den fiberlieferten Bruchstöcken 
seines Buches, wie es scheint, sogar deutliche Spuren 
ägyptischer Weltanschauung: so nähert sich die aus 
historischer Betrachtung gewonnene Wahrscheinlichkeit 
um so mehr der Gewissheit, als es schwer sein möchte, 
die seltsamen Aussprüche des Ephesiers ein&cher und 
besser zu erklaren. 

Die Selbständigkeit des griechischen Denkers muss 
man aber immer festhalten; denn wie er die Mumien 
verwarf, so nahm er auch die barbarischen Namen der 
Götter nicht auf. Er hielt sich an die vaterländischen 
Heiligthümer; aber er erkannte die Tiefe ägyptischer 
Theologie und erfasste mit diesem gebildeten Sinne die 
griechischen Mysterien. So wurde er ein Prophet in 
seinem Volke, ein Verächter des Pöbels und der Demo- 
kratie, eine Stütze und ein Führer aber für alle, die 
sich conservativ und religiös an das Heiligthum an- 
schlössen. Mit Recht hat er die Sibylle verherrlicht, 
denn die Tempel reichten mit ihrer religiösen und po- 
litischen Macht weit über die kurzlebigen Pläne der 
Parteihäupter hinaus und die ephesische Artemis schützte 
noch ungeßihr 100 Jahre später den flüchtigen Xeno- 
phon in dem fremden Lande von Elis*). Wir besitzen 



*) Xenopb. Exped. Cjri V, 3. 4. Es ist sehr merkwürdig, 
dass das aas allen Stammen der Griechen znsammengesetzte 
habgierige Heer doch schon im Lande der Kolchier am schwätzen 



Scblnss. 253 

von Bänke eine Geschichte der Päpste; eine Geschichte 
der griechischen Heiligthnmer und ihrer Coltnrmission 
und politischen Thaten ist leider noch ungeschrieben. 



Meere den zehnten Theil der Beute zum Weihgeschenk für den 
delphischen ApoUo nnd dieephesische Artemis zurücklegt. 



>'^ 



■,'." 



_j 



AptLorismen 

zur Geschichte der Begriffe. 



JBei jedem Buche wird der Verfasser nothwendig seiner 
Individualität einen gewissen Spielraum lassen müssen, 
ich meine in der Beurtheilung des Masses der Aus- 
führung und der Argumentation. Er giebt daher je 
nach der Schwierigkeit und Wichtigkeit der Fragen bald 
etwas zu viel, bald etwas zu wenig , und es kann ja auch 
von einem exacten Mass in diesen Dingen überhaupt 
nicht die Eede sein, da die Verschiedenheit der Leser 
keine rein sachliche Messung, wie sie bei den natür- 
lichen und künstlerischen Productionen annähernd mög- 
lich ist, erlaubt. Desshalb bieten die etwa erfolgten 
Eecensionen eine erwünschte Gelegenheit, um diesem 
Uebelstande hinterher abzuhelfen und wenigstens das- 
jenige, was zu kurz und mit zu wenig Gründen ausge- 
stattet war, nachträglich noch zu verstärken. In diesem 
Sinne möchte ich die hier gegebenen Aphorismen be- 
urtheilt wissen, die für sich kein volles Bild der Sache 
geben können, aber neue Argumente hinzufügen und 
Angriffe abwehren sollen. 

Lotze. 

Obgleich meine „ Neuen Studien " überall eine günstige 
Aufnahme erfahren haben, so war mir doch keine Be- 
urtheilung belehrender und erfreulicher als die von Lotze, 

Teiclimüllor, Zur Gesell, der Bogriffo. 17 



258 Aphorismen. 

unserem grossen Göttinger Philosophen, der sowohl meinen 
Eesultaten als auch meiner Methode zustimmte*). Die be- 
deutenden Gedanken, die er bei dieser Gelegenheit über 
die wahren Ziele der Geschichte der Philosophie aus- 
sprach, scheinen auch das rechte Wort für die geheime 
Stimmung Vieler in Bezug auf diese Sphäre der Gelehrsam- 
keit gewesen zu sein. Wenigstens sehe ich, dass die 
Zeichen sich mehren, welche auf eine Unzufriedenheit 
mit der bisherigen Behandlung der Geschichte der Philo- 
sophie hindeuten. 

So hören wir auch von Frankreich her eine Stimme, 
die, obwohl sie offenbar ganz selbständig ist, doch ge- 
wissermassen eine Paraphrase von jenem Gutachten 
Lotze's enthält. Boutroux**) hebt z. B. an dem 
grossen Werke von Zeller die merkwürdige Gleichgültig- 
keit hervor, mit der er nicht bloss über Thaies und 
Heraklit, sondern auch über Plato's Philosophie Bericht 
erstattet, als wenn diese ganze Gedankenbewegung in 
einer uns fremden und staubigen antiquarischen Welt 
vor sich ginge, als wenn die grössten Namen des Alter- 
thums keine grössere Bewunderung verdienten als die 
ebenso peinlich und gründlich behandelten untergeordneten 
Autoren, als wenn kein Mensch auf den Einfall kommen 
könnte, sich zum Anhänger der Stoa, des Plato und des 
Aristoteles zu machen, als wenn wir überhaupt nicht 
eine Menge Gedanken und Eaisonnements in uns selbst 
vorfanden, denen wir in der untergegangenen Welt des 
Alterthums wieder begegnen, und als wenn es gar nichts 
Ewiges in den Schöpfungen der grossen philosophischen 
Genien gäbe, als wenn endlich das Interesse an der 



*) Vergl. Göttinger gelehrte Anzeigen 1876, Stück 15, 
S. 449—460. 

**) Boutroux in der „Revue philosophique par Ribot" 
1877, nro. 8, p. 146. 163. 164. 



Einleitung. 259 

Geschichte der Philosophie nicht darauf beruhte, dass 
eine Verwandtschaft der Natur zwischen uns und unseren 
Vorgängern besteht und dass der Geist dieser Alten in 
ihren philosophischen Ideen ausgedrückt ist. Darum 
fügt Boutroux mit Eecht hinzu, dass die philosophischen 
Lösungen, welche die Alten für die Probleme der Wissen- 
schaft fanden, fast alle auch heute noch für möglich 
gelten und dass man die Theorien des Thaies, Demokrit 
und Plato, in unsere moderne Ausdrucksweise gekleidet, 
noch jetzt als Ausdruck des wissenschaftlichen Bewusst- 
seins wiederfinden kann. 

Man braucht die eigenen positivistischen Ueber- 
zeugungen Boutroux' nicht zu theilen, um doch dieser 
Kritik der bisherigen Art der Philosophie vollen Bei- 
fall zu schenken, und was den zuletzt angeführten Ge- 
danken betrifft, so hätte Boutroux sagen können, dass 
wir wegen des mangelhaften Verständnisses der Alten 
auch noch keine rechte Geschichte der neuesten Philo- 
sophie besitzen. Denn die jetzigen Historiker unter- 
scheiden gar nicht neue und ererbte Gedanken und 
können desshalb keine wirkliche Geschichte der Begriffe 
gewähren. Wenn wir in der neuesten Philosophie alle 
von den Griechen herübergenommenen Gedanken, die 
noch gewöhnlich in recht unklai'er Fassung aufgenommen 
sind, wegliessen, so würde nur ein dürftiges Häuflein 
originaler Begriffe übrig bleiben*). Es fehlt bis jetzt 
noch gänzlich eine Geschichte der Philosophie, welche, 
wie die Geschichte der Physik und Mathematik und 
Anatomie, die Autoren bezeichnete, denen wir die jetzt 
geläufigen Begriffe zu verdanken haben. Wie es einem 



*) üeber die Wiederkennung der antiken Begriffe in der Philo- 
sophie unseres Jahrhunderts habe ich z. B. auch in der Anzeige 
der Schrift von Harms, Üeber den Begriff der Psychologie, ge- 
handelt: Göttinger Gel. Anz. 1875, Stück 13, S. 402 ff. 

17* 




260 AjihorlsiDpn. 

Physiker lächerlich erscheinen würde, wenn man, tun 
Arägi) oder Helmholtz zu cbavakterisireu , unt«r ihren 
Lehrsätzen auch alles aufltilireu wullte, was sie von 
Kepler, Bell, Segencr u, s, w. eiufach heiöhergenommen 
haben: so muss sich ein Philosoph verwundern, wenn mau 
allein in der Geschichte der Philosophie nicht blo»,s das 
Neue hervorhebt, das zu dem ererbten Schatze hinza- 
gekommen ist. Nur dadurch ist auch das seltsame Vor- J 
urtheil entstanden, als wenn bloss die Philosophie keim 
Geschichte hätte, sondern mit jedem Philosophen voafl 
vorn anfiuge. Das ist aber nur die Meinung von aol^l 
eben, die weder von der Philosophie nocii von ihrer ' 
Geschichte eine Ahnung, haben und es macht sich ko- , 
misch, wenn einige sogar warnen, nicht von vom 
anzufangen, sondern sich den bisherigen Richtungen sn- ' 
zuschliessen. Es ist das so, als warnte man einen Men- 
schen, ja nicht wieder zu 20 Zoll Länge zuBammenza- 
Bchnimpfen und bloss von Muttermilch zu leben. Die 
80 gewarnten Neuerer unterscheiden sich von den sieh , 
anschliessenden bloss dadurch, dass sie über die em-q 
pfangeneu und ererbten Begriffe im TJnldaren sind nndJ 
deashalb für neue Entdeckung halten, was schon Jahr-' 
hunderte vor ihnen bewiesen oder widerlegt ist. Auf ^ 
Neuea aber muss jede wissenschaftliche Arbeit hin- 
zielen, und weder die bisherigen Resultate, noch die 
bisherigen Methoden und Principieu sind von dies» 
Bearbeitung auszuachliessen. Die rechte Geschichte der 
Philosophie wird deashalb als Resultat eine Sammlung 
aller bisher erarbeiteten philosophischen Begriffe ent- 
halten, und es wird sich zeigen, dass der grOsste Theil 
aller Begriffe allgemein anerkannt und als Gemeingut 
gebraucht wird und dass seit dem vierten Jahrhundert 
vor Christo vielleicht nur zwei neue Riclitungen in der 
Philosophie aufgekommen sind, während alle anderen so- 
ime bloss als zeitgemUsse Anpas- 




Einleitiiüg. 261 

sangen uralter Ideenkreiae zu gelten haben. Denn (len 
Verschiedenheiten der menschlichen Natur entsprecbend 
bildeten sich von Anfang verschiedene Welt- und 
LebensautTassungen aus, die sich durch die Jahrhunderte 
hindurch mit derselben Regelmäasigkeit wiederholen, wie 
die Typen der Staatsverfassungen und wie die verschie- 
denen Leidenschaften der Mensehen. Das scheinbar 
Neue rührt von der aecideiitellen Anpassung an die 
histoiischen Umstände her*). Nur wenige Genien 
brechen neue Bahnen. Da aber die wirkliche Eeuntniss 
der Geschichte der Philosophie wie eine PflauKe, die 
sehr viele Bedingungen des Bodens, der Luft und der 
Temperatur fordert, nur sparsam verbreitet ist, so ist es 
auch natürlich, class die Meisten immer von einer neuen 
Philosophie sprechen, wenn einer einen neuen Rock an- 
zieht oder einen alten Knopf durch einen neuen ersetzt, 
und desshalb fast unzählige Arten von Systemen unter- 
scheiden, indem sie jede Vaiietät für eine neue Species 
halten, während in Wahrheit vielleicht nur vier der 
Art nach verschiedene Weltansichteu überhaupt aufge- 
kommen sind. 

I lieber den Titel: (ieschklite der Begriffe. 

' Ich möchte mich hier über einen Punkt a 
der mir durch Lotze's Beurtheilmig intei 
ist. Lotze nennt nämlich meine Geschichte der ,, Be- 
griffe" eine Geschichte der „Ideen". Ich rechne auf 
seine Zustimmung, wenn ich die Absicht in meiner 
Benennung erkläre und einen unterschied geltend zu 
machen suehe. Ideen nehmen wir allgemein auch in 
der Natur und in der Geschichte als b^timmend an, 
selbst ohne sie schon zu erkennen; Ideen sind auch 



*) So fand Bisinarck in meinem bcr9 hin tan Paradoxon, dass die 
iiflprQclie des Papstes uns schon von Tireaias her liokannt seien. 




2(j2 Aphorismen. 

massgebend in der künstlerischen Production und in dem 
religiösen Bewussstsein und als Richtschnur des sitt- 
lichen und politischen Lebens, ohne dass der Künstler 
oder der Fromme und Sittliche sie definireu, begründen 
oder in deutlichem Wissen erfassen könnte. Desshalb 
unterscheide ich von den Ideen die Begriffe und ver- 
stehe darunter den wissenschaftlichen Ausdruck, den 
wir durch bewusste Gedankenarbeit diesen Ideen gegeben 
haben. Zu jedem Begriff gehört desshalb erstens ein 
terminus technicus, als Zeichen dafür, dass wir 
mit Bewusstsein einen Begriff festgestellt haben; zwei- 
tens eine Definition, sie möge streng oder lax sein 
oder auch nur in Hervorhebung irgend eines proprium 
bestehen, worauf sich ja die Definitionen der Principien 
gewöhnlich beschränken. Drittens erfordert jeder Begriff 
die Arbeit des Denkens, die sich an dem aufgezeig- 
ten Erkenntnisswege messen lässt. Jeder Begriff 
erfordert also drittens entweder eine Ableitung aus ein- 
facheren Principien, oder eine inductive Begi'ündung, 
möge sie noch so mangelhaft sein, durch Hinweis auf 
Erfahrungen und Beispiele und Analogien. — In diesem 
Sinne möchte ich meine Aufgabe abgränzen gegen die 
viel umfassendere einer Geschichte der Ideen, welche die 
Mythologie in erster Linie und dann auch die ganze 
Culturgeschichte umspannen rauss und wovon meine 
Aufgabe nur als ein Zweig erscheinen dürfte. Ich 
läugne freilich nicht, dass wir bei den ersten Ursprüngen 
überall die Geschichte der Ideen berühren müssen, wie 
dies z. B. bei meinem zweiten Theile des Herakleitos 
besonders in die Augen fäUt; die von mir gewählte Be- 
nennung kann sich daher oft nur durch dieEichtung 
der Untersuchung vertheidigen. 



§ 1. Platonisches und Aristotelisches. 263 



§ 1. 

Platonisches und Aristotelisches. 

Unsterblichkeitslehre bei Plato und Aristoteles. 

Da Lotze seine „fast völlige Uebereinstimmung" 
mit meinen Erörterungen über Piaton nnd Aristoteles 
ausgesprochen hat*), war es mir besonders interessant, 
seine eigene gleichzeitige Darstellung des Platonismusf 
nachträglich zu vergleichen, und erlaube ich mir, auch 
den Leser auf seine Logik vom Jahre 1874, S. 501 ff., 
zu verweisen**). Ich will hier nun in diesen Aphoris- 
men eine neue Betrachtung hinzufügen. 

Die Behauptung, dass Aristoteles auch in der Un- 
sterblichkeitslehre von Plato abgefallen sei, scheint erst 
in späteren Zeiten aufzukommen, wo man schon das 
Mythologische von dem Philosophischen nicht mehr zu 
scheiden vermochte. So vertheidigt z. B. Origenes 
Jesus gegen die Angriffe des Celsus, der in dem Verrath 
des Judas ein Zeichen dafür sah, dass Jesus nicht ver- 
standen habe, seine Schüler zu lenken und'^hnen Liebe 
zu sich einzuflössen. Origenes weist auf Analogien in 



*) Göttinger Gel. Anz. 1876, Stück 15, S. 454. 

**) Ich citire nur seine Worte über die traditionelle 
Ideenlehre: „Von hier aus scheint mir Licht auf eine befremd- 
Uche Angabe zu fallen, die in der Geschichte der Philosophie 
überliefert wird; Plato habe den Ideen, zu deren Bewusstsein er 
sich erhoben, ein Dasein abgesondert von den Dingen, und doch, 
nach der Meinung derer, die ihn so verstanden, ähnlich dem Sein 
der Dinge, zugeschrieben. Es ist seltsam, wie friedlich die her- 
gebrachte Bewunderung des Platonischen Tiefsinns sich damit ver- 
trägt, ihm eine so widersinnige Meinung zuzutrauen ; man würde 
von jener zurückkommen müssen, wenn Plato wirklich diese gelehrt 
und nicht nur einen begreiflichen und verzeihlichen Anlass zu einem 
so groben Missverständniss gegeben hätte." 



2M AphoriFincn. 

dem Leben der bedeutenderen Philosophen hin; denn 
Chrysipp sei von Kleauthes abgefallen, für die von 
Vythagoras abgefallenen Schüler habe man Kenotaphien 
wie für Todte errichtet und Aristoteles sei von Plato 
sogar nach zwanzigjährigem Umgange abgefallen, ohne 
dass es Jemand in den Sinn komme, darum den Chry- 
sipp, Pythagoras und Plato für diese Undankbarkeit der 
Schüler verantwortlich zu machen. Aristoteles' Abfall 
bezieht Origines auf die Lehre von der Unsterblichkeit 
und den Ideen*). 

In den uns erhaltenen Aristotelischen Schriften finde 
ich aber keine solche Angriffe auf die Unsterblichkeits- 
lehre, wie auf die Ideenlehre, und ich sehe auch nicht, 
dass ein Anderer bis jetzt solche Angriffe entdeckt hat. 
Dagegen findet sich der Vorwurf stark ausgesprochen bei 
dem Platoniker Atticus, der aber zugleich die mythische 
Darstellung Plato's beibehält, die Rundreise der Seele 
um die Welt und die Wiedererinnerung und Metamor- 
phose**). Dieser allerdings behauptet, Aristoteles habe 
sich zuerst gegen die Platonischen Beweise aufgelehnt 
und die Seele der Unsterblichkeit beraubt***). Sehen 
wir aber seinen Bericht genau an, so entdecken wir 



*) Origenes contra Celsum üb. II, 12 (397^ Delarue (Migne 
Patrol. XI, 817). 'Enel d^ ffiXoaotfiav 7t(ioßi'(XXtifn 6 keXtso^, nv- 
^oiiAS^' «y «vTor, ö T4 «p« Ukttiu)Vo<; »iy xai^yogicc lo fÄer« et- 
xociv €Ti| i^t; n«^* «viw ffX(>o<<<jfWf ilnoffoinloicyia tov Ug^aro- 
TsXii xce7)}/'0(>i}XfV«i fikv TOV ntQl r»7? <<^«y«««'«s i^»;? V**'/*/^ Xdyov^ 
nXiUiovog dk t6i>iT(ci4ttTt( i<Ki i&e«^ u}vo^ui(xh'ai : 

**) Eusebii Praep. Evang. XV, 8. 0. niiyra <fe- oiQayov 7if^4- 
noXet (sc. ij ^^'l'/^') aXXoi* iv ^<XXo^g ild(a^ yiyoueyri — — ei de 
(Ali iany ^ 4'VX'} axhiyafoi;, ovds ^ly(XfAyr^a^^, ti cft fAi] rorro, ovde 

***) Ibid. liV ovv iaiiM 6 Ti^cJro^ eyxsi^^oag ilvmit^aa&ai 
liiiodet^tot ^ xul if^y ^v/»l>' cofhXscd^ia r/)s' aihcvaaia^ xai irg 
itXXfig nccatig dvyäfAStjgy lig (T hefiog 7i(>o U(}iajoT6Xovg : 



Platuui>jctii.'ii and Äi'iHtüteliscbea. 



2Bß 



anch nirgends eine Anspielung auf directe Angriffe des 
Aristoteles, sondern er kommt sogar dazu, in der üusterb- 
lichkeit der Vernunft (i'oüg) beim Aristoteles eine Uober- 
einstimmung mit Plato zu eonstatiren*), und es läuft 
sehliesslicli Alles darauf hinaus, dass Aristoteles zuerst 
Bewegung und Energie und desslialb Seele und Vernunft 
von einander getrennt hat, während Plato behauptete, 
Vernunft könne nicht selbständig ohne Seele bestehen**). 
Also scheitten auch diese Behauptungen des Atticus 
bloss auf Conaeqnenzon zu beruhen, die er 
selbst gezogen hat, nicht aber auf Bekannt- 
schaft mit Aristotelischen Schriften, die 
uns verloren gegangen wären; denn alle seine 
Bemerkungen sind aus uns erhaltenen Werken des Aristo- 
teles entlehnt und verratheii keine sonderliche philo- 
sophische Kraft. Vergleichen wir seine Behauptungen 
mit den interessanten Bekenntnissen des Philosophen 
und Mäi'tjreTB Justinus, worin er seinen Eutwick- 
lungsgang schildert***), so sehen wir klar, dass die 
mythologische Auffassung Plato's, welche 
Metapher und Bogriff nicht unterscheidet, 
zu solchen Annahmen führen mnsste, und wir gewinnen 
aus der daraus entstehenden Verwiming der Thatsaehen 
einen indirecten Beweis, um diese unphUosophische 
Auffassung eines Philosophen ersten Ranges zu ver- 
werfen. 

Darum finden wir diese unkritische Auffassung auch 
z. B. bei solchen Declamatoren wieAgrippa ab Net- 
tesheym, der den Hass des Aristoteles gegen Plato 



*) Ibid. 9, 13. n'ÄJo' xtaä ye t^v aSavaiiaV tov vov yq'aGi 
tu; äv nvfiiv xiurmrehi UkKtiavi. 

**) Ibid. 9, 14. ö fiiv yäg tp^n voiv Svtv ifivx^f «iVili-oiüv 

***) Vergl. meine Stud. z. Geadi. d. Begr., S. 185-202. 



jn*4f a>U' .4i44in>|nKV4«- 4MMaX :s:taisvaaii .im sie: .mmBi 

i*tui- w- «j*- »>«?*;*• j^ieanfc" Od a«: «.tt imr -ejäüisiisi' 
i-cij u«- 4^111 • ^t*\itf' Uli -mn- imeiffeclÄ* \r\7iäi vol 

ui-^i**»!« .^üt?i^atlv»iUiUtUJ!^fc lUi iCülT JBeefiJQei ÖP^ Jß- 



>>i;j.*^'iA>i^'u^- üii»iui^ ^liitMiOifeiKi. -aä?' äi^rn .oasr idsf 
\wüUÄii': xö* ut^xi ^Hfio« -;j>m: TntnieflQ' -bch {sau.. 



/^/^•W^ ■*r>*/4f''' /?/ i'&iy^^ '* /'^^' i'yyfu'iß ff> auf. ■«.♦rxi.*' 



§ 1. Platonisches und Anstotelisches. 2Si 

barg*) den Aristoteles sagen liess: ,,Es mäsäte sonst die 
mit dem Eöiper Tenniachte Yenmnft anderen Dingen, z. B. 
den Sinnen, g%cn die Ordnnng der Natur zum Werk- 
zeug werden.'*^ Obgleich eine so künstliche Hypothese 
sich schon desshalb nicht empfiehlt^ weU man sich nichts 
Bedites dabei denken kann^^ während meine mit 
Simplicius CTi?eiT¥iinpnaiininipndft Anslegung den Yoizog 
der Einfechheit nnd Anschanlidikeit hat: so wird dar 
dorch auch nicht die Frage beantwortet, die, wie ich 
glaube, bei allen Aristotelisch^i Sätzen anfgeworfen 
werden müsste, nämlich ob dies ein eigener und 
neuer Gedanke des Aristoteles ist, oder ob er 
ihn aus der Schale emp&ngen hat. Idi will hier 
nun diese Nachweisung geben und dadurch meine Aus- 
legung als die richtige feststellen. 

Aristoteles konnte sich nämlich so kurz ÜEis^n, weil 
Plato im Theaetet diese Frage schon erledigt hatte. Es 
fragt Sokrates, durch welches Werkzeug des 
Körpers wir das Allgemeine, z. B. Sein und Nichtsein, 
Anderssein und Identität, Einheit und Zahl u. s. w., 
jedesmal wahrnehmen? Und Theaetet antwortet, er sei 
in Verlegenheit, dieses anzugeben, da es ihm scheine, 
als sei überhaupt für die Erkenntniss des Allgemeinen 
gar kein solches besonderes Werkzeug vor- 
handen, wie für die sinnliche Wahrnehmung, 
sondern die Seele schaue dieses allein durch sich selbst. 
Diese Antwort entzückt den Sokrates und er stellt dem- 



*) Yergl. Commeiit. S. 470: „Est enim peirersus natorae 
ordo, si rovg corpori mixtns aliis lebns, ?eluti soDäibiiSy instra- 
mento faerit. 

**) Ein Werkzeug ist immer materiell; kami die Yernimft 
solche Oridische Metamorphosen dorchmaehen? Metaphorisch ist 
der Satz auch nicht zn fassen, weil ja rovg corpori mixtns 
sein solL 



9n Aphorismen. 

nach fest, iaaa die Seele Einiges durch die Er&fte &8 
Kfirpera erkennt, Anderes (nämlich das Allgemeine) aber 
ganz allein durch sich selbst*). — Die Seele aber, so- 
fern sie das Allgemeine erkennt, nennen Plato and 
Aristoteles die Yemanft {rov^), und so sehen wir, dass 
Aristoteles den Gedankengang Plato's genau vor Angen 
hatte, als er denselben in jenem kurzen Satze repro- 
dncirte. 

Hierdurch ist zugleich eine Stelle gewonnen, 
an welcher sich Aristoteles auf den Theaetet 
des Plato bezieht, obwohl er nicht citirt. sondern 
nar die gewonnene Lehre vorträgt. Im Index von Bonitz 
ist diese Stelle nicht berührt. 

Eristi>rbe Kritik dea Aristoteles. Betriff der <fo|uL 
Man hat vielfach bezweifeln wollen, dass Aristoteles 
seinen Lehrer einer boshaften Kritik unterwerfe; es ist 
desähalb ani,'ezeigt, möglichst viele solcher unzweifel- 
haften Proben zu sammeln, damit das Urtheil sicher 
werde. 



•) Tlieaet. p. 185C. i di Sr, äni tltoi ifrcn^; « i tnl 
nämt xoaär xiü lö nit lonmc rFijlot «m. — Das xairöy wüd 
daiiD ala of'aMi, id /ti) iirtu, ö/imäiiif, aropouit^i, isciov, £it~ 
gar »nn. eiempiificilt — loetoti näai aoiu anotTDiirEii ä^yara, 
i i' hir afo^nvEiai ijfiiüy icj aia9arö/icror itama. 

{Ti timönwifttyiH' ist hier ateichtlicli aobestimmt gelasaen, da er 
d™ reff meint; er g«l>raoclit aber den Aasdrack Kia9äri«&m, 
womit er, wie Aristotclee. alle Arten van Wiilirn«lunangen beiflch- 
net, sowohl die sinnlichen, als die düä inneren Sinnes and anch 
die intelleetaellen Intuitionen, wie ich dies in meinen ÄiiatoteL 
Porschongen I, S. 91, nachgewiesen habe.) — Tbeaet. 'AiXa pi 
Jla, cyatyc oi'x ör Ej^m tiaiir, nliv/'Sri lit* iottti i^r a^jnpr 
ovif 'ci voi tomiior oiJir toi'imq Ögyurtrti mriantg 
ixftroig, lill'aitii ii' aii lii ^ t^v^ij tä XMrn fiot ipiä- 
virni nt$i nirnar hnaxmttir. Socr. <fnirtiat «oi tr. ftir norfl 



I 
I 



g 1. PlatünJBclies und Äristoteliscliea, 269 

In der Topik lehrt Aristoteles, man dürfe die Gat- 
tung nicht in die Art setzen, z. B. nicht die Berüii- 
ruug (u}pig) als Zusammenliang {avi-oxi,) definiren, 
da sich zwar alles Zusammenhängende berähre, aber 
nicht alles sich Berührende zusammenhänge. Zusammen- 
hang ist daher Ali. des sich Berührenden als Gattung, 
Ebenso ist Mischung ijif^ig) nicht Lösung oder che- 
mische Mischung {xpämg), da letzteres nur bei flüsssigen 
Köi-pern stattfindet, nicht bei trockenen, also nur Art 
und nicht Gattung ist. 

Diesen aelbigen crassen Fehler wiU Aristoteles nun 
auch dem Plato nachweisen, der die Ortshewegung (1} xarä 
fimov xl»7jaii) als Fortgetragenwerden (ipop«) definirt 
habe*). Nun verstehe man aber unter Getragenwerden 
(yoptt), z. B. hei unbelebten Gegenstünden, eine unfrei- 
willige Bewegung, wesshalb unter Anderem das Gehen 
nicht als Getragenwerden (yop«) bezeichnet werden 
könne. Folglieh sei das Getragenwerden nur eine Art 
der Ortsbewegung, und Plato habe mithin den Fehler 
bangen, die Gattung in die Art zu setzen. 

Einige Kritiker haben mit Recht gefunden , dass 
diese Stelle nicht so ganz gehörig auf die Platonische 
im Theaetet passe, aber mit Unrecht daraus den Schluss 
gezogen, dass Aiistoteles vielleicht an eine andere Stelle 
in irgend einem anderen Platonischen Dialoge denke. Es 
hat für die Athetese der Platonischen Dialoge ein Inter- 
esse, die Beziehungen des Aristoteles auf die uns üher- 
lieferten Dialoge zn verschütten. 

Die Sache muss aber anders angefasat werden; denn 

*) Topic IV, 122 b. 25. "£11 ei rd ysvos tiq t& elios t»iixtv, oiov 
i^vailMV ÖjiBQ acvojiriv ij ji,y ftC^iv onc^ xpüsiy, § lös nkÜTtoi/ 
i^l^ciai ipagär lijv xiciä icJno*' xiv^atv,~ — Ohä-' ^ ratd 10- 
noy iisiaßoXti Ttäaa ipogä- ij yä^ ßääiais ov (ToJCEt ifo^t elvai- 
ax^Süv yiiQ ^ (popn rfjtl iiSv äxaveiias länov ix xönov fjcja- 
fRi.Xüytiav kiynni, jtaSüneg enl tiöv aipvx'"'' ""ftßatysi 



wo 



A])li»ri(nncii. 



in keinem Dialoge i'iberhanpt kann solch ein Dnsinn 
vorkommen , dass fQr die Ortsbewegang ein höherer 
Gattungsbegriff in dem Begriff Aea Getragenwerdens von 
Plato angenommen würe. Die ganze Kritik des Aristo- 
teles ist bloss er is tisch und kann ebenso gut gi^en 
ihn selbst gewendet werden, da er genau wie Flato die 
Oriabew^nng an den meisten Stellen als ^op« bezeich- 
net. Es giebt für ifo^ä ja zwei verschiedene Bedeu- 
tungen, indem nach der einen der Gegensatz von Fort- 
führen, Wegtragen, eine Bürde tragen u. a, w. gegen 
die freiwillige Bewegung belebter Wesen, wie Gehen, 
Springen u. s. w. festgehalten, nach der anderen aber 
die Bewegung ganz allgemein als Veränderung des Orts 
verstanden wird, wie wir auch das Wort „Fahren" 
brauchen {z. B. bei Goethe „fahrender Scolast"), ohne 
an Wagen und Pferde zu denken. Wenn man nnn den 
PLato absichtlich missverstehen will, so musa 
man die engere Bedeutung auswählen, wie Aristoteles 
thut, und kann dann dem Plato mit scheinbarem Hechte 
vorwerfen, er habe die Gattung in die Art gesetzt; 
wenn man aber nicht rein eristisch verfahrt, so wird 
einem ein solches Missverständniss nicht einmal in den 
Sinn kommen. Die Ungerechtigkeit des Angrifia 
wird aber noch stärker zu betonen sein, weil Plato gar 
nicht die Ortsbewegung definiren, sondern nur be- 
nennen will und als solchen Namen, nicht als 
Gattung den Ausdruck yop« oder Jiipiyop« braucht, wie 
er auch sonst ifigtaä^at und qiQotiiyr, ovaia sogax in 
einem noch allgemeineren Sinn (179 D) anführt, wobei 
unbestimmt bleibt, ob nicht auch die qualitative Ver- 
änderung mit inbegriffen werde, Dass dabei kein 1(^- 
scher Fehler unterlaufe, ist einleuchtend, weil es sich 
nur um eine Benennung handelt, und dass die Benen- 
nung selbst nicht so schlecht gewählt ist, zeigt sieh 
darin, dass Aristoteles sie selljst üiremomracn und in 



§ 1. Platonisches und Aristotelisches. 271 

beständigem Gebrauche hat. Er wird daher wohl nur 
in einer üblen Laune und beim Jagen nach Fehler- 
beispielen für die Disputationsübungen seiner Schüler 
auf diese Platonische Stelle verfallen sein, und dieses 
eristische Kunststück war wohl kaum bestimmt, aus 
dem Cirkel der Schule auf den Markt zu kommen. Ich 
sage dies zur Ehre des Aristoteles; denn seine bedeu- 
tendsten Schriften sind so gut componirt und so kurz 
und prägnant geschrieben, dass man sich nur schwer 
entschliesst zu glauben, er habe einen so wüsten Bei- 
spielkram, wie die Topik bietet, selbst herausgegeben. 
Das Alterthum war freilich anderer Meinung, denn es 
stellte den Aristoteles mit Chrysipp und Zeno zusammen, 
mit den verrufensten Vielschreibern, die sich immer 
wiederholten, ihre Arbeiten um der Eile willen nicht einmal 
corrigirten und ihre Bücher dadurch allein dick machten, 
dass sie dieselben von Beispielen strotzen Hessen*). 



*) Dies Urtheil geht, wie mir scheint, auf Cameades zurück. 
Diog. Laert. X, 1. 26. ^Cv^ov dh «vVoV (sc. rSy lEnlxovgoy) Xqv- 
cmnog iv noXvygatpttf * xad-a (pviai KaQVsd&rig, nagaairov 
avTov Tcor ßißXiav dnoxaXdSv. — xal &ux tovto xitl noXXaxis 
ravrd y6yQaq>B, rta fzr, ineXd-eZv * xai «cTio^^wT« siXxe , tö7 inst- 
yead-M, Kai rd fxaQTvqia roaavta iatty, cIjs ixslycDv fxovov yi- 
[XHv rd ßißXia ' xa&uneQ xal naqd Zr\vo)vi iaxiv Bvqelv xal naQd 
jiQiatordXei, Obgleich der Laertier sich auf den Carneades nur für die 
erste Behauptung beruft, so ist das Folgende doch nichts als die Be- 
gründung für die behauptete Polygraphie und scheint mir daher mit zum 
Gedankenzusammenhange des Cameades zu gehören. Da wir bei 
Aristoteles nur selten ausgeschriebene Stellen aus andern Schrift- 
stellern finden, so nehme ich (jLaqxvQia in dem auch sonst ge- 
bräuchlichen Sinn von Beispielen, die ja auch Zeugniss ablegen 
für die Eichtigkeit einer Behauptung. Die fjLaqxvQia werden wie 
die naga&etyfjiara immer aus dem Gebiete der Erfahrung gezogen 
und können vielleicht als eine Art der Beispiele definirt werden, 
nämlich als eine solche, die sich ausschliesslich auf die Wahrheit 
von Urtheilen bezieht. In diesem Sinne benutzt Aristoteles so- 
wohl den ursprünglicheren Begriff der lAaqtvqla (Ehet. ad Alex.), 



272 Aphorismen. 

Dass die Aristotelische Kritik aber wirklich nur 
eristisch ist und an dieser Stelle wohl nur zur Dispu- 
tationsübung verwerthet wurde, sieht man daraus, dass 
Aristoteles unmittelbar vorher ein Beispiel für ein anderes 
dialektisches Gesetz anfuhrt, wobei grade umgekehrt 
wie hier das Gehen ißadiaig) der Ortsbewegung (yo()«) 
subsumirt wird, ohne dass es ihm dort einfiele, bei 
der q^oQUL an das „ Getragenwerden " zu denken. Er sagt 
nämlich, wenn etwas zu einer Gattung gerechnet werde, 
so müsse es nothwendig auch zu einer von den Arten 
dieser Gattung gehören. Z. B. wenn das Gehen eine Be- 
wegung ist, so muss es auch, da die Bewegung viele 
Arten hat, nothwendig zu einer von diesen Arten ge- 
hören. Es muss also gezeigt werden, dass es weder 
Wachsen noch Abnehmen ist, noch qualitative Verände- 
rung, noch Werden und Vergehen, also zu der vierten 
noch übrigen Art gehört, nämlich zur Ortsveränderung. 
Und diese nennt er hier ^o^»«*). Bei diesem Beispiele 



als auch in übertragener Weise die fxaqxvqia: Bei den Späteren 
ist dieser aus der Gerichtssprache entlehnte Ausdruck sehr beliebt 
geworden. Obwohl ursprünglich jede Art von Beweis (xaQjvQSlv 
heissen konnte und daher auch das Zeugniss der Yemunffc (o Xoyog 
fÄaQTvQsT Arist.) ebenso angerufen wurde, so fixirte sich doch der 
Gebrauch in der Beziehung nach der inductiven Seite hin. Man 
vergleiche z. B. Sext. Empir. Pyrrh. Hypot. 181. t/V ix rtav 
q)ttivofÄ6Vüjv imf4aQivQrj<nv und Adv. mathem. VII, 212. sari 
dh inifAttQTvQrjfXig fxkv xcerccXijtpis eft' ivcQyeiag (d. h. soviel 
als ix jtav (paiyofiiyüjv) rov ro do^aCofjisyov roiovrov Bivni. 
onoloy nore ido^ä^ero, oder ibid. VIII, 324 eJyai tov Xoyov int- 
fiaQTVQovfievoy tw nQayfÄar i.. Die /jiaQjvgux enthalten also 
immer den Beweis durch Thatsachen oder Erfahrungen im Ein- 
zelnen und bezeugen die Kichtigkeit eines ürtheils durch Hinweis 
auf solche einzelne Erscheinungen, die ohne Voraussetzung der 
Richtigkeit jenes ürtheils nicht stattfinden könnten. 

*) Topic. IV, 2. 122 a 21. Olov et ng rrjg ßadCamg yivog 
dnidfaxs rrjy tpogttv, ovx dno^Qtj ro dsT^ai,, dioji x^yrjaig ianv ij 
ßttdiaig ngog ro det^ai ori (poga iatiy, insidrj xal aXX(a xiyrjasig 



AüHiiiiriaiulrisclics. 

findet Aristoteles also keine Schwierigkeit darin, daas 
das Gehen ja kein „ unfreiwilliges Getragenwerdeii " ist, 
sondern folgt dem allgemeinen Spracligebrauch und lässt 
die zweite Bedeutung ganz ausser Acht. Mithin ist 
jene Kritik Plato's eristiscli; denn wenn er hier auch 
nur xu3^ vnliüiniy av^mentirt, so nimmt er doch die 
Bedeutung der ^mpü ohne jede Beanstandung als selhat- 
verständlich hin. 



Anaxim andrlsches. 

Durch meine Studien zur Geschichte der Begrifle 
kam ich zu der Mrkenntniss, die seltsamer Weise als 
eine neu gewonnene betrachtet werden jnnss, dass das 
Verständniaa der Metaphysik der Alten un- 
ura gänglieh eine vorhergehende Bekannt- 
schaft mit ihrer Physik voraussetze*). Dasa 
dieser Gesichtspunkt bisher ganz vernachlässigt war, 
siebt man z. B. bei der ziemlich lebhaften Poi-sehung 
über Heraklit. Alle die Früheren haben fast allein die 
metaphysischen und ethischen Lehren Heraklit'a berück- 
sichtigt und seine Ansichten über die fTatur als blosse 



• 



T^ aviifv iird^Bisui el fiij xjt tpoqSs. 'Jpäyxij ydp *d toS yivovs 
[icrexor jtoi räv elitiSy rwd; fisrixf"' ^löv naiä tijV A(>wVigir tutl- 
pEair. Ei ovv i ßädiai; ^ifr aiiSia$a>g ft^B tut iiUui' xtf^acav 
fier^X^i, iijXoi' ort rtjg gxi^äg av fisri/ol , iSot' fti; Sy yiyes 
{) qiogtt r^! ßaStaeiai. 

•) Die überrascbeiidon Resultate, welche diese Methode z. B. 
für dSB Verständnis der AristoteliBclien Lelire liefert, werde ich 
in dem unter der PresBe befindlichen dritten Bande dieser Studien 

TelchmOller, Zu Gegob, der Begiifla, IS 




i 



274 Aphorismen. 

Curiosität behandelt. So hatte z, B, Selileiermaeber 
gemeint, die Heraklitische Rede von der täglich neu 
aufgehenden nud verlöschenden Sonne wäre nur sym- 
bolisch gemeint und als Predigttest zu Grunde gelegt, 
um daraiiB die ethische und allgemeine Ordnung der 
Welt überhaupt paräuetisch zu verkündigen. Aehnlich 
glaubte Zeller, das Princip des Feuers bei Hei-aklit 
sei nur symbolisch zu verstehen und von der Ein- 
bildungskraft dem Denker unwillkürlich untergeschoben, 
obwohl Zeller allerdings nach seiner um philosophische 
Auffassung wenig besorgten Manier das Feuer Heraklit'a 
an andercu Stellen auch wieder als wirkliches Feuer 
anspricht, Schuster aber bemühte sich zwar sehr 
verdienstvoll um die Naturlehro Heraklit's, aber nur 
nebenbei, und gerieth desshalb auf die Vorstellung von 
einem Heraklitischen Südpol der Welt und glaubte so- 
gar Heraklit auf den Wegen Anaximandei's zu erblicken, 
so daas ihm also die grössten Gegensätze antiker Natur- 
auffassung in einander verschwammen. Wie wenig daher 
bisher die Physik des alten Ephesiera etudirt war, sieht 
man auch daraus, dass Sieb eck, als Recensent Schuster's, 
und Mohr grade dies an dem Buche anerkennen, dass 
Heraklit „als rechter, echter ^.rnixo? im vollen Zu- 
sammenhange mit einem Denker wie Anaximander auf- 
gezeigt" sei. Da ich nun grade die Physik der Alten 
zum Ausgangspunkte nahm, so stellten sich sofort zwei 
entgegengesetzte Naturauffassungen fest, die 
mythologische und die mathematische oder 
Anaximandrisehe , und Heraklit erschien demgemäsa in 
weitem Abstände von Anaximander. 

Bcniorbmig' über die Vertreter der mjlilioloei sehen Natnr- 
aaTfasBun^. 

Die mythologische wird durch Homer, Heaiod, 
Thaies, Xenophanes und Heraklit vertreten. Ich bemerke 



; 2. Aniisiniiindriechcs. 



?r5 



hier noch, dass der Grammatiker Grates zwar dem Ho- 
mer die Kenntnias von der Kugelgestalt der Erde vin- 
dicirt und darans die Stellen Aber die beiden Arten der 
Aethiopier and über die knrzen Nächte bei den Lästry- 
gonen ableitet, dass aber Geminus schon die richtige 
Deutung gezeigt hat*). Es scheint mir nur dies durch 
die bekannten Homerischen Verse ganz sicher bewiesen 
zu sein, dass nicht erst Pytheas die Kunde von den 
langen T^en unserer nördlichen Breiten nach den Stät- 
ten hellenischer Caltur brachte, sondern dass schon in 
der Homerischen Zeit Nachrichten aus dem Norden, 
vielleicht durch die am Don oder Dnjieper wohnenden 
Völker, nach Jonien gelangten. Die Homerische Zeit 
konnte also die Thatsache, dass es im Norden Gegen- 
den gäbe, wo keine eigentliche Nacht einti'äte, sehr 
wohl wissen, ohne im Mindesten die mathematisch- 
aatronomische Theorie dafür einzusehen. — Beiläufig 
erwähne ich, dass hierdui'ch die Hypothese des geist- 
vollen Naturforschers K. E. von Baei über die Irrfahrt 
des Odysseus im schwarzen Meere eine neue Unter- 
stützung gewinnt; denn wenn man einmal die mythischen 
Elemente wegdenken und nur die zur Geschichte der 
Geographie gehörigen Daten berücksichtigen will, so 
würden, wenn Odysseus im Mittelmeer, also in derselben 
Breite, geblieben wäre, die läatrygonischen kurzen Nächte 
unbegreiflich werden, während sie mit der nördlicheren 
Kichtung der Fahrt natürlich übereinstimmen. 

Dass auch Thaies die Erde noch nicht als Kugel 
gedacht hat, habe ich in den Neuen Studien I durch 
neue Gründe za beweisen versucht**). Die richtige 
~ i Thaletischen Standpunktes ist aber desa- 



■■) Vergl. Isag. V u. XUI. 
••) Nene Stud. I, S, L1)8 f. 



276 AphorismeD. 

halb von so grosser Wichtigkeit, weil man nur so die 
Fortschritte Anaximander's gehörig würdigen kann. Da- 
gegen konnte ich die in meinen Studien zur Geschichte 
der BegriflFe versuchte Rettung des Anaximenes, den 
man ungerechter Weise unter die Mythologen gebmcht 
hatte, durch weitere Gründe*) sichern gegen die falsche 
Auslegung der Aristotelischen Stelle Meteorol. II, 1. 

Die Apsis der Sonne. 

üeber die Anaximandris che Naturauffassung habe 
ich in meinen Neuen Studien I nur beiläufig gehandelt. 
In einer Anmerkuug S. 214 genügte ich dem Wunsche 
eines ßecensenten (Walter), meine neue Erklärung der 
Apsis, aus welcher Zeller unbegreiflicher Weise die Nabe 
eines Rades gemacht hatte, durch weitere Belege des 
Sprachgebrauchs zu unterstützen. Obwohl diese Frage 
so einfach ist und so sicher entschieden werden kann, 
so ist doch die zaudernde Anerkennung von Seiten derer, 
die noch an den alten Vorstellungen hängen, sehr be- 
greiflich, weil allerdings die Consequenzen von revolutio- 
nirender Bedeutung für die ganze Auffassung des Anaxi- 
mandrischen Systems sind. 

Ich will hier nur noch eine Bemerkung hinzufügen, 
die vielleicht einiges Licht auf die Entstehungs- 
geschichte der Anaximandrischen Theorie 
wirft. Denn es ist wohl natürlich, zu fragen, wie Anaxi- 
mander, der die Saturnsringe noch nicht ahnen, geschweige 
sehen konnte, auf die Vorstellung kam, dass ätherische 
Feuermassen ringförmig um die Erde liefen? Nun 
wissen wir aber, dass auch die späteren griechischen 
Astronomen alle Kreise am Himmel in zwei 
Arten unterschieden haben, in unsichtbare, 
nur mit dem Verstände erkennbare, wie den Aequator 



*) Neue Stud. I, S. 12 f. 



g 2. Ai 






277 



nnd die Ekliptik, und in sichtbare. Als einzig sicht- 
hiiren grossesten Kreis oder Radkranz (Apsis) bez6ichnen 
sie aber die Milchstrasse*). Wenn min diese MiM- 
ati'asse, wie die Sterne, als ätherischer oder feuriger 
Katar gefasst warcle, was ja probabel war, so konnte 
die Analogie auch sehr gut den Anaxiraander verleiten, 
für die Sonne, welche ebenfalls einen bestimm- 
ten Kreis am Himmel beschreibt, einen solchen 
sich wie die Milchstrasse schr^ umwälzenden, zugehöri- 
gen Feuerring zu vermutben, der aber von dichten Liift- 
massen lilzartig eingehüllt und deashalb unsichtbar sei 
nnd nur an einer Stelle, wo wir die Sonne sehen, das 
Feuer aaaströmen lasse. Da das Denken der Alten ganz 
von Analogien geleitet wurde, so scheint mir diese Hypo- 
these zur psychologischen Erklärung seiner Theorie von 
überredender Kraft zu sein. 

Wenn J. Mohr**) auch jetzt noch den Inter- 
pretationsfehler Zeller's beibehält und von dem Sonnen- 
rade des Anaximander spricht, weil er meint, Anaxi- 
niander sei, „am sich Alles möglichst plastisch vor- 
", auf diese Annahme gekommen : so muas 
eben, dass ich bei diesem Räsonnement alle 
nnd äusseren Gründe vermisse. Die äusseren 
d. h. die überlieferten Stellen der alten Bericht- 
erstatter, reden nur von der Apsis eines Rades, d. h. 
von einem Radkranze, aus welchem Feuer ausströme; 
keine Stelle aber vergleicht die Soonenscheibe selbst mit 
einem Bade, aus dessen Nabe Feuer hervorbräche. Die 
inneren Gründe scheinen mir noch weniger zu bieten; 
denn ich kann das keine „plastische Vorstellung" nen- 
nen, wobei man sich schlechterdings gar nichts vorstellen 



ich ges 
inneren 
Gründe. 



*) Vergl. 1. B. Geminua Isa^, 24 fin. n. AeliiU. Tat. 24. 
*•) Jacol) Mobr, Histor. Stellnng Hcralilit's von EiibeGus, 
1876, S. 46 n. 47. 



278 



Aphor 



kann. Jeder Mensch hat die Sonne schon, bei ibimi 
Untergänge wenigstena , als volle Scheibe gesehen. 
Wie soll man also auf die Vorstellong eines Hades 
kommen y Vielmehr verwickelt uns dieser Vergleich in 
die grössten Schwierigkeiten der Vorstellung; denn wie 
soll man es machen, um die Zwischenräume der Spei- 
chen auch mit Feuer auszufüllen, und wenn die Sjieichen 
hohl sind , so werden sie dunkel sein , was gegen den 
Augenschein ist. Mün wird daher, um den Augen- 
schein, dem doch jedenfalls genügt werden 
muss, zu erklären, das Feuer mit unglaublicher Quälerei 
der Vorstellung üher das ganze Rad und seine Zwischen- 
räume 30 verbreiten müssen, bis die Vorstellung des 
Rades glücklich wieder verschwunden ist. Diese Vor- 
stellung ist also nur dann „plastisch", wenn wir sie 
nicht hahen; haben wir sie aber, so können wir nicht 
zugleich die Sonne vorstellen und den Alten konnte es 
nicht glücklicher damit ergehen, wie uns. Das ist ja 
auch naturlich, da diese gannc Vorstellung dem Anaxi- 
mander völlig fremd war und nur durch einen Ueber- 
setzungsfehlcr entstanden ist. 



Uiiber die Gestillt ilor Erde. 

In meinen Studien zur Geschichte der Begrifie habe 
ich die verschiedeneu Möglichkeiten, sich die überliefer- 
ten Berichte über die Gestalt der Erde bei Anaximander 
recht zu deuten, erwogen. Ich liess die Frage über die 
richtige Lesart unentschieden, stellte dagegen den Sinn 
der üeberlieferung, d, h. die Vorstellung Anaximander'B, 
ganz fest. Wenn es durchaus nöthig sein sollte, eine 
Lesart anzunehmen und die andere zu verwerfen, oder 
eine Conjectur zu machen und sieb darauf zu steifen, so 
erscheint mir meine Conjectur f;i;ii'(;j als die empfehlens- 
wertheste, obgleich ich die Nothwendigkeit, sich für die 



§ 3. Heraklitisches. 279 

eine oder die andere zu entscheiden nicht einsehen kann. 
Hippel, ref. haer. Dunck. I, p. 16 sagt: to Se a/rif^a 
avTfjg GXQoyyvXov yjdvi Xid-M na^auXrioiop, Ich dachte 
nun, indem ich x^oyi U&m in Ix^via Xuio Q^eiw) verwan- 
delte, an den Igel und an den gleichnamigen Echinus 
der Säule; ich sehe aber jetzt, dass man noch nähere 
Vergleiche hat; denn der gewöhnliche Kochtopf 
ist ein noch besserer Vergleich. ^ExTvog ist der 
Kochtopf und giebt ein sehr anschauliches Bild für die 
Gestalt der Erde; denn der flache Deckel ist die Ober- 
fläche unserer Erde, auf der wir stehen ; der runde Bauch 
des Topfes giebt die Figur der Erde, deren Eundung 
durch das umgebende Wasser natürlich bestimmt wird, 
da die Erde rings von Luft umkreist wird. Der Ge- 
brauch des Wortes ix^pog für den Kochtopf war allge- 
mein, wie wir aus Hippokrates sehen*). 



§3. 
Heraklitlsehes. 

J. Mohr* — Der Arctariis* 

In meinen Neuen Studien I behandelte ich Heraklit's 
physische Weltbetrachtung, und zwar zunächst die astro- 
nomischen Vorstellungen. Es war da vor Allem sehr 



*) Vergl. Hipp, de morb. mul. 11, 206: tavTa if^ißäXXsiv ig 
i^t^yor xaivoVy xai rov oiyov inix^avra, und de natur. mul. 107 : 
lavta iyx^ag is i^^f^ov xaivoVy xal top oivov inix^ag^ rov &6 
sx^vov rQvnijatti> to snC&Sfia (Deckel). Erotianus weist für diesen 
Sprachgebrauch noch auf Eupolis, Menander und Philemon hin. 
Hippokrates als Arzt muss natürlich der Keinlichkeit wegen immer 
einen neuen Topf fordern; Anaximander aber sagt Atr^, um den 
schlichten, billigen und ordinären Topf zu bezeichnen, ohne Verzie- 
rungen und Henkel, oder um die Glätte anzudeuten. 



280 Aphonsmen. 

wichtig, nachzuweisen, dass Heraklit in den grössten 
Gegensatz zu Anaximander gestellt werden muss, da er 
nicht wie dieser ein eigentlicher Naturforscher mehr ist, 
sondern sich den mythologischen Vorstellungen anschliesst 
Heraklit hat gar keine naturwissenschaftliche Erklärung 
über die Erde und die Gestirne mehr gegeben, die Sonne 
für einen Schuh gross gehalten, ohne den scheinbaren 
von dem wirklichen Durchmesser zu unterscheiden, und 
ihr deswegen eine tagliche Neugeburt und täglichen 
Tod zugedacht, wie die Mythologie dieses erforderte. 
Von der unteren Welt, dem Hades, der durch die Hori- 
zontebene abgegränzt wird, unterschied er das Oben und 
liess die oben stattfindenden Feuererscheinungen, wie 
die Sonne, durch Verdunstung und Verbrennung des 
Wassers entstehen und wieder in der Nacht dahin zu- 
rückkehren. Von dem Himmel hatte er nur die Kennt- 
nisse, welche sich auch in der Mythologie finden und 
die jeder Viehhirt haben kann ; so wusste er z. B., dass 
der grosse Bär für Ephesus nicht untergeht, und dass 
mit dem Arcturus die Gestirne anfangen, welche Auf- 
und Untergang haben. Das hierauf bezügliche Fragment 
hatte man bisher nicht erklären können; Schleiermacher 
übersetzte es mit wunderlichen dunklen Ausdrücken, 
Schuster aber suchte Deutlichkeit und gerieth auf die 
abenteuerlichsten Hjrpothesen, die so weit vom Hera- 
klitismus abirren, dass dadurch die ganze Naturauffassung 
Heraklit's in Frage gestellt wird; denn er kommt auf 
einen Heraklitischen Südpol des Himmels und versetzt 
dahin den Olymp u. s. w. Ich zeigte nun, dass Strabo 
das Fragment vollkommen richtig verstanden hat; denn 
es enthält nichts anderes, als was Geminus über den 
Polarkreis sagt*), nämlich dass die in diesem „Bären- 



*) Isag. IV. ccQxrixos xux^og, «V ut td xelfXBva roSy uatqtav 
ovxB dvaiy, ovte dyatoXi^v noisTtat' aXXu df>* oXtfg r^g vvxrog 



g 3. HerHklitücheH. 2S1 

kreise" liegenden Sterne weder aufgehen, noch unter- 
gehen, sondern die ganze Nacht hindurch, wie man 
sehen kann, um den Fol kreisen und dass dieser 
Kreia von dem Vorderfuas der grossen Bärin 
begränzt wird. Die Breite aber, unter der Geminus 
beobachtete, war die von Rhodus, also ungelUhr die 
gleiche wie die des Bpheaiera. 

Zwischen Schuster's Arbeit und der meinigen liegt 
der Couception nach die von J. Mohr in der Mitte. 
Ich freue mich, dasa er von selbst zu einer, wie er 
a^t, der meinigen verwandten Auffassung Heraklit's 
gekommen ist, weil man diese Znsammenstimmnng als 
Zeichen der Wahrheit betraditen kann. Nur gegen 
meine Auffassung der Heraklitiachen Natm'ansicht ver- 
tritt er den Schustev'aeheu Standpunkt. Er bringt jedocli 
keine neuen Gründe, sondern meint bloss, wenn Strabo 
unter dem Wächter (o^poc)*) den Arcturns verstanden 
hätte, dann hätte der Bär ja nicht den arctischen Kreis, 
sondern nur das Sternbild bedeuten können, und also 
wurde Strabo den Heraklit nicht gelobt haben, Mohr 
will desshalb den Bären seibat zum Wächter des „Aether- 
Zeus", d. h. der Sonne, machen, während sie ihren 
Nachtbogen beschreibt. — Solche Hypothesen fördern 
nicht, weil sie ähnlich der Schuster'schen aua freier 
Phantasie erzeugt werden ohne allen Anhalt an die 
griechische Mythologie und Äatronoraie. Dass der 
Bär wirklieh die Gränze des Polarkreises 
bildet, habe ich jetzt auch als Auffassung 
der Alteu durch Geminus bewiesen; dass er als 



xnlf q^uäf olxov/iivg vno lo« i/xn^oaS-lov norfcJ; i^i fic- 
yälii K^Krov atQiygütpitai.. 

•) Das Wort oüpot deutet or nach meiner Erklärung. Verg-l. 
bei Mohr S. 49. 



282 Aphorismeii. 

das grosste nordliche Gestirn poetisch fnr den Polarkreis 
gebraucht werden kann, ist an und för sich zweifellos 
nnd wird noch dadurch bestätigt, dass die Astronomen 
ebenso den Polarkreis den Bärenkreis {a^xrocog) 
genannt haben ; dass der Arctums als Wächter der Bärin 
gilt, ist durch die Mythologie sicher; dass endlich der 
mythologischen Anschauung als Grundlage die Sinnes- 
anschauung entspricht, ist ja oflFenbar; denn der Wächter 
hat dafür zu sorgen, dass die Bärin nicht über die 
Gränze komme und in den Hades einbreche, d. h. nicht 
unter den Horizont sinke*). Und diese mythologische 
Auffassung war nur möglich, weil die Bärin wirklich 
für den Augenschein der Alten nicht unter den Horizont 
sank. Darum heissen ja auch die nördlichen Gegenden 
überall die Bärenseiten {ra nQog aQKior vtvovra) und 
die nördlichen Winde die Bärenwinde {pl aQxjMoi avt- 
fjioi), weil die Weltgegend und der Pol durch dies Ge- 
stirn bestinmit wurde. 

Bei A rat US, der die himmlische Geographie schon 
so viel complicirter durchgeführt hat, können wir die 
einfachere Auffassung nicht ganz so deutlich finden. 
Er sagt zwar auch, dass die beiden Bärinnen sich vor 
dem Okeanos in Acht nehmen**), dass die linke Hand 
des Bärenwächters {uQxxo(fß)'ka^ niemals untergeht***), 
dass die Bären auch den Kepheus hindern, mehr als 
bloss den Kopf im Okeanos zu baden f) , und dass die 



*) Ueber den Arcturus vergleiche noch Erotiani vocnm Hippo- 
craticamm confectio ed. Klein, p. 41. Definition, wo auch ovqoi 
gleich cpvXttxtg. Femer Foes p. 93 und Eustachius. Arcturus 
kommt bei Hij)pokrates häufig vor. 

**) Arat. Phaenom. v. 48. uqktoi, xvayeov nitpvXayfxivai, 
^Sixeavoto. 

***) Ibid. V. 722. ^ &* avrov fA^ynXfi imräXXeTai "Jqxtü). 

t) Ibid. V. 648. 



§ 3. Heraklitisches. 288 

Achäer nach der grossen Bärin (Helike) steuerten, 
während die Sidonier sicherer und besser sich nach der 
kleinen (Kynosura) richteten*). Da er aber schon die 
Bilder vom Wagen und der Bärin zusammenbringt und 
den Arktophylax als Bootes vom Arcturus in seinem 
Gürtel unterscheidet**), so findet man bei ihm die 
alterthümliche Klarheit der Anschauung nicht mehr. 

An die mythologische Sternbeschreibung der Gelehr- 
ten {öotpoi) schlössen sich dann nach Hippolyt's Bericht 
christliche Secten an (oJ Sia rijg rwy aaxqwv 
ioTOQlag aiQeTixoi)j bei denen die in weitem Kreise in 
sich zurückgehende und desshalb die Seefahrer täuschende 
Bewegung der grossen Bärin mit der rückwärtsführenden 
hellenischen Bildung, dagegen die kleinen Bärin mit 
der zweiten Schöpfung der aus Gott verglichen wird***), 
üebei-all aber findet man die Erkenntniss, dass der 
arctische Kreis nicht untergeht. 

Sonnenbahn nnd Sonnenkahn. 

Wenn Mohr die Südhemisphäre bei Heraklit beibe- 
halten will und ebenso bei dem Pseudohippokrates, dem 
Diätetiker, so müsste er bessere Gründe anführen, als 
„die Kreisbahnen im menschlichen Organismus, womit 
der Diätetiker die der Sterne vergleiche "f)- ^^.s sind 



*) Ibid. V. 37. 

**) Ibid. V. 91. i^om&ev (f' "EXCxns q)iQ€tai iXdovri ioixaig 
'AqxxofpvXa^. — Ich erinnere noch an die bekannten Anakreon- 
tischen Verse eis '^Qojta 

(Aeaovvxttotq no^* tSgaig 
axQifpixai öj "AQxtog ri^i 
Xtttd x^iQ^ "^W Bo(6tov, 
***) Hippolyt. refnt. haer. IV, § 47. fiovog ovrog 6 noXog (6 
dgxTixog) ovdsnote dupei, dXXd ccv(o vtiIq xov oQCCoyra f^/o- 
(jievog xtX, 

t) Mohr a. a. 0., S. 48. 



284 Aphoriunen. 

das denn ffir Kreisbahnen ira menachlichen Organismna? 
Soll man sich nichts Deutliches vorstellen? Äusscbei- 
dung und Ernähmug bilden doch keine geümetrischen 
Kreise, und den sogenanaten Kreislauf des Blutes hat 
doch nicht vor Servet und Harvey der Diätetiker schon 
gekannt! Den Kreislauf im Sinne dea Diätetikers, d. h. 
nach Abzug der geonietrisehen Vorstellung, 
hat aber auch die Heraklitische Sonne, wenn sie Mor- 
gens entsteht und Abends vergeht und am andern Mor- 
gen wieder entsteht und ao immer fort. Das von Plato 
angeführte Wiederaugezüudetwerden der Hei-aklitischen 
Sonne ist aber doch wohl ein zwingender Beweis dafQr, 
daas sie nicht Anaximandrisch ruhig in der Südhemi- 
sphärc weiter kreist, sondern erlöscht, und Heraklit 
wird uns wohl dadurch nicht als Naturibracher der 
Anaxiinandrischen Schule erscheinen können , dass er, 
wie Mohr anführt*), ges^t hat: „Ich weiss wie gross 
die Sonne ist, nämlich ao gross wie sie erscheint, einen 
Schuh lang." 

Wenn endlich Mohr den Sonnenkahn Heraklit's an- 
führt und darin die A na x im a ndrischen LuftfilKe ver- 
muthefc, so ist das ohne jeden Anhalt an irgend einen 
Berichterstatter. Auch hätte Heraklit zu einer me- 
ch an i sehen Erklärung kaum einen ungeschickteren 
Vergleich als den mit einem Nachen wählen können. 
Ich habe oben zu zeigen versucht, dass die mythologische 
Kichtung in Heraklit eine ganz andere Interpretations-, 
hypothese verlangt; denn wir können wohl nur an die 
äf,'yptische Sonnenharke des Ka und an die analogen Vor- 
stellungen der griechischen Mythologie denken**). 



■) Mohr a, a. 0, S. ili. 
*♦) Vergl. üboii S, 224 ff. 



Kreyenbühl nimmt lußine DaTstellung Heraklit's zti- 
atimmendanundvertlieidigtnurinzweiPnnkteu dieZeller- 
Bche Auffa83iing, „da die sachliche Differenz zwischen 
mir imd Zeller nicht so gross sei"*). Mir scheint diese 
Differenz aber wichtig genug, um sie noch einmal zu 
besprechen. Kreyenböh! sagt über die Auffasaiiug Zeller's, 
wonacb der Satz von der Bew^nng zuerat ein meta- 
physischer sei, der sich dem Heraklit sodann in eine 
physikalische Anschauung umgesetzt habe, und über 
meine Auffassung, wonach dieser Satz eine veraUgemei- 
nerto Erfahrung sei: „Welches von beiden den ersten 
Anstoss zu Heraklit's Theorie gab, die Ei'fahrung oder 
die metaphysische Erkenntniss der Wahrheit von der 
Bewegung alles Seins , darüber scheint nur unnützer 
Streit zu walten." — Nach meiner TJeberzeuguog ist 
dies grade das Wichtigste; denn wenn der Satz nicht 
einen leeren Einfall oder eine Inspiration ausdrücken 
soll, sondern einen Begriff enthält, der in der Geschichte 
der Philosophie seinen Platz verdient, so ist das einzig 
Interessante, zu erfahren, wie Heraklit ihn begrün- 
det und also gefun den hat, ob inductiv oder dediictiv. 
Wenn wir auf diese Fr^e keinen Werth legen, dann 
können wir nicht hoffen, das Charakteristische der ver- 
schiedeneu Systeme zu vei-stehen. Heraküt begründet 
den Satz aber nur dui-ch Hinweis auf die Erfahrung 
und erläutert ihn und die Folgesätze durch Analogien 
mit einzelnen Erscheinungen. In solchen Untersuchungen 
liegt grade der principielle Gegensatz meiner Studien 
zur Geschichte der Begrüie gegen die Zeller'sche Ge- 
schichte der Philosophie; denn für mich giebt es gar 



')1 



. Literaturbl. XII, Nr. 4, S. 77. 



286 AphofismeiL 

keine metaphysische Erkenntnisse, die den Philosophen 
ohne irgend einen Erkenntnissweg von ongeßhr dnrch 
den Kopf fahren, nnd wenn ^ dergleichen gäbe, so ver- 
lohnte es sich nicht der Mühe, davon zu reden, bis sie 
einer durch einen Erkenntnissweg zn philosophischen 
Begriffen gemacht hat. 

Was zweitens die Erklärung des Feuers betrifft, so 
will Ereyenbfihl die Zeller'sche Auffassung vertheidigen, 
wonach das Feuer bald als materiell, bald als symbolisch 
bei Heraklit verstanden würde. Kreyenbühl lässt sich 
aber nicht auf Interpretation der einzelnen Stellen ein, 
ohne welche doch kein Beweis möglich ist. Nach meiner 
Meinung ist aber ein solches „Sowohl -Als auch" ein 
unhaltbarer Gedanke; denn wenn z. B. Gessler*s Hut 
das Symbol für Gessler ist, so ist damit die materielle 
Gegenwart des Landvogts im Hute ausgeschlossen. Ebenso 
ist die Oblate bloss Symbol bei den ßeformirten , reell 
was anderes geworden nach der Consecration bei den 
Katholiken. Kurz, sofern Symbol, sofern nicht reell 
und sofern reell, sofern nicht Symbol. Die lutherische 
Auffassung bildet keine Instanz ; denn bei dem Materiel- 
len und mit und in ihm kann sehr wohl etwas Geistiges 
gegeben sein, wie z. B. mit dem Leibe auch die Seele 
gegenwärtig und wie das Feuer nach Heraklit auch 
vernünftig ist. Nichts davon aber ist symbolisch 
zu verstehen, sondern es ist wirklich vernünftig 
und wirklich Feuer. Die symbolische Auffassung ist 
ganz gegen die Lehre Heraklit's, der im eigent- 
lichen Sinne Alles aus Feuer entstehen liess. Ich 
sehe desshalb keine Veranlassung, dem Zeller'schen 
Symbol irgend welche Berechtigung zuzuerkennen. 

Heinze. Das Selbstbewusstsefn des Logos. 

Ich freue mich, dass auch Heinze im Ganzen mei- 
nem Heraklit seine Zustimmung schenkt. Ich erlaube 



§ a Heraklitisches. 287 

mir aber auf eine Stelle einzugehen, die er beanstandet, 
nämlich meine „Beweisführung für das Selbstbewusst- 
sein des höchsten Princips, die eigentlich nur in der 
Behauptung bestehe, dass, was dem Menschen zukommt, 
nach Heraklit auch der Gottheit nicht abgesprochen 
werden dürfe"*). Ich kann diese Bemerkung nicht für 
gerecht halten; denn ich habe doch S. 181 ff. ausführ- 
lich gezeigt, dass wir, da Heraklit den Begriff 
des Selbstbewusstseins noch nicht kennt 
und desshalb auch den Begriff einer unbe- 
wussten Vernunft noch nicht discutirt hat, 
keine Veranlassung haben, seiner weltregierenden Ver- 
nunft das Selbstbewusstsein abzusprechen. Es müssten 
Fragmente nachgewiesen werden, die das Selbstbewusst- 
sein ausschliessen. Bis dieses geschieht, muss es das 
Richtigste sein, für die Periode, welche derDi- 
stinction dieser Begriffe vorausgeht, eine 
unklare Verschmelzung derselben anzuneh- 
men. Die Analogie, von der Heraklit ausging, war 
der Mensch ; der Weiseste ist ein Affe im Verhältniss 
zu Gott, sagte er. Welcher Grund könnte uns also 
bestimmen, das Selbstbewusstsein, welches Heraklit 
als etwas Besonderes an dem Menschen im Gegen- 
satz zur Gottheit noch gar nicht erkannt hatte ^ von 
seinem Begriff der Gottheit fernzuhalten? Den Begriff 
der Weisheit und Vernünftigkeit von dem 
Selbstbewusstsein zu trennen, ist nur durch eine 
besondere Argumentation möglich, wovon wir bei He- 
raklit keine Spur finden. Wäre die Trennung beider 
Begriffe die natürliche und der Entwicklung der Ge- 
danken im einzelnen Menschen und im Culturleben der 
Völker entsprechende erste Auffassung, so hätte Heinze 



Literar. Centralbl. 1877, Nr. 30. 



288 Aph. 

Becht; ist aber die YerBChmelznng deiselben das 
NatQrlichste nnd die Trennaog erst ein Frodnct der 
philosophischen Arbeit, so innss meine Dai^llung He- 
raklit's bo lange gelten, bia man bei ihm Stellen ge- 
fanden hat , welche eine Trennung dieser B^riffe 
fordern. 



Sach- und Namenverzeichniss. 



Ab 169 zur Katharsis. 

A/u 169. 

Aegypter 12. 65. 105. 115 (re- 
ligiöse Parteien). 141 Mytho- 
logie. 156. 178. 195 Brett- 
spiel. 209 fP. 227. 

dei^cooy nvQ 193. 

Aeon 189. 

Aeschylus 111. 131. 196 (Brett- 
spiel). 

Aethiopier 275. 

AfiFe 128. 

Agrippa ab Nettesheym 265. 

tti&olfi 162. 

Akatalepsie 88. 

Alexander Aphr. 48. 

Allgemeine, das 32. 

Alraun 216. 

Amasis 106. 

amentet 141. 159. 

Amme 218. 

Ammon 110. 147. 153. 184. 

Ampelius 232. 

Teiclimäller, Znr Gesch. der 



dvaßKoyai 246. 
dyaCa^tjTov 27. 
Ananmcse 15 (Medicin). 

CiVafJlfAtt VOBQOV 227. 

Kvaxpig 210. 
avaqUg 71 (Hippokr.). 
dvdd^rifjta 124. 249. 
dva^vfiCua^q 100. 142. 166. 244. 
Anaxagoras 22. 25. 26. 28. «9. 

43 f. 45. 48. 
Anaximander 206. 247. 273 fF. 

276. 
Anaximenes 27. 52. 207. 276. 
an/ 215. 
Anacreon 283. 
Anepu 164. 
avo^oq 235 {xd&o^og), 
Anubis 175. 

ttTiBiQov 29 bei Anaxagoras. 
Aphrodite 118. 159. 160. 162. 
dnoxQvtpig 144 f. 161. 173 ff. 
Apollo 130. 189. 192. 232. 
Apophis 145. 

Begriffe. 19 



290 



Sach- und Nanienvcrzcichniss. 



dndqqfßtt 125. 131. 
ai/;tc 2G9. 276 der Sonne. 
Aratus 282. 

UQX^'^Ol 16. 

Arcturus 280. 

Archelaus 47. 48. 49. 84. 

Ares 159. 

Argo 234. 

Aristcm 3. 

Aristophancs 222. 234. 
V Aristoteles 19. 26 über den 
Atomismus. 65. 87. 89. 100 
mit Hippokr. vergl., 113 über 
Xenoi)lianc8. 225 über Hera- 
klit. 116. 123. 131. 207 über 
die Ernährung der Gestirne. 
232 über den Okeanos. 244 
über das Riechen. 264 Ab- 
fall von Plato. 268 eristische 
Kritik Plato's. 

aQxrixos 282. 

aQf^a der Sonne 228. 

Artemidorus Capito 95. 

Artemis 114. 124. 199. 217. 252. 

Ascn 120. 

Astarte 162. 
dojQayaXiCBiv 199. 
Athenäus 246. 
dtfiig 244. 
Atomismus 52. 68 f. 
Atticus 264 Platoniker. 
Auferstehung 239. 
Augustin 48. 129. 
Awai 242. 

Ba 143 Seele, ba scheta 168. 
Baer, K. E. v. 275. 
Baidur 121. 
bambino 214. 



Basel 188. 214 Horus-Statuette. 

Vorrede. 
Batau 164. 
Baum 160. 224 cf. Phönix und 

Palme. 
Begriff 140. 262 dist. Ideen. 
Benfey 109. 192. 
Bennu 179. 
Bernays 3. 189. 199. 201 avy^ 

^kdfpeQOfjiBvog. 
Birch 143. 144. 148. 150. 152. 

159. 188. 245. 
Bölwerkr 162. 
]k)nitz 268 Index. 
Bootes 283 astron. 
Boutroux 258 über Zeller. 
Brettspiel 196. 
Brugsch 141. 148. 156. 168. 

195. 208. 214. 231. 233. 238. 

242 f. 245. 
B^astis 162. Bast 243. 
Buckle 19. 
Bunsen 246. 
Bursian 181. 
Busiris 173. 
By water 47. 79. 218. 229. 236. 

240. 

Castr^n 216. 

Ohabas 163. 169. 170. 173. 
Chaos 156. 
cheftu 172. 
Chelkias 125. 
Chem-Hor 209. 
eher 173. 

Christen 126,christl.Phüos. 116. 
Chrysipp 264. 271. 
Clemens Alex. 48. 129. 161. 
222. 239. 241. 



Sac!i- anä NamenverzeicbDiss. 



291 



Clenoont-Ganncan 166. 
Comuodns 230 auf dem Capitol. 
. Constitution 33 (MeJicin). 
V Cos (medecine de) 11. 
Cousin 147 über Thaniu. 
Ctates 275 Gramm, über Homer. 
Creuzer 118. 
Curtius, E. lOG. 
XvXös 17. 

Dadn 158. lliO. 
Danae 234. 
Danaas 196. 
Daphne IGO. 
Daremberg 11. 14. 
Darinu 250 f. 

Dar«'in 18, DarwinismilB 71. 
Demeter 111, 

Demokrit 7. 8. 22. 33. 55. 56. 90 
Dendera 215. 
Jtn^flVi) 62, 

Diätetilier 18. 20. 25, 28. 32 1 
246. 283 f. 



ifiQipepö^ei'os 201. 
ii-j&ioriH 17. 
dixKiav G7. 

Dike 150. 168. 175. 239. 241 f. 
DiuJor 235. 250 f, 
Diogenes von Äpollonia 60. 84. 
Dionysos 134 f. 159. 162 f. 211. 
212 Osiris. 216, 233, 
■ DiOBkorides 95. 
Dodona 184, 
•tdxoc 57. 
Donble 11. 
üuant 159. 
Dynamisches 30. 
(Ebers 107. 109. 125. 162 f. 228. 



t/ü'oj 279. 

Edda 162. 181. 198. 

iyxvßiQvtiaei 229. 

eJtfij 74. 

ci*B 67, 

tHaniraaiiji 212. 

eliixgu'fi 31. 

Eine, das 35. 177. 

/lioy^ 125. 

^Wjffoior 29 bei Änaiagoras. 

Eleusin. Myst. 182. 235. 

UnM»ni 128. 

TlrapodoeL-B 22 26. 86. 

Eplieauö 108. 124. 185. 252. 

Kpipbanie 144. 157 des Tmn. 

Enonr«. 142. 



Erinyen 239. 241. 

Erkcnntnisa 31. 
/'Ermerins 15. 90. 

ErotianoK 279. 

Ethiscbe B^riffe 33. 

hofta 67. 

Enclides 78. 

Endoios 246. 

tvmita 97. 

Euripides 112. 
, Euiyphon 3. 96. 
<Gusebius 264. 
tEnstacMoa 282. 

Ezecbiel 155. 

Feuer 171. 
Fieber 17. 

Finnische Mjtbol. 216. 
PoBsius 90. 282. 
FumpriDcip 45. 

Galen 3, 95. 98. 

Ge 160. 



2^2 



Sach- und Namenvcrzeichniss. 



Gegensätze 49. 

Geheimlehre 121. 125. 131. 

Geizer, H. 118. 

Geminus 275 Isag., 277. 280. 

Geoerationslehre 19. 

yevBaig 39. 

Georg, heU. 166. 

Gerstenschleim 17 (Medicin). 

Geschichte der Phil. 259 Aufg. 

und Mängel. 
Gesetze 66. 75. 77 Plato's, 190 

bei Heraklit. 
Gladisch 118. 120. 251. 
Gnomen, knidische 15. 
yviSaig 67. 81. 218. 
Gnostiker 126. 
Goodwin 109. 163. 
Gott als Steuermann 229. 
Gottkind 214 christl., 242 ägypt. 
Göttinger gel. Anz. 258. 259. 
Griechen 63. 
Grimm, R. 219. 221. 
Gunnlödh 162. 

Hades 135. 159. 162. 167 f. 171 f. 
173. 176. 233 Land des Le- 
bens. 242. 

Harmonie 157. 167 f. 

Harms 259. 

Harpokrates 188. 

Hathor 160. 161. 172. 

Hebräer 61. 

Heinze 286. 

Hekatäus 106. 110. 186. 227. 

Helena 112. 

HeUke 283 (astron.). 

Heliopolis 173. 223. 

Helios 175. 210 als Kind, 211. 
235. 239. 



Hemsterhuys 203. 

Hephästus 166. 

Herakles 218 ff. 235. 246. 

r^QaxXeixi^eu^ 94. 

Heraklit 67. 94. Ulf. 129 
Dunkelheit, 135 kein Natur- 
forscher, 147 über Polymathie, 
178 über Leben und Tod, 
185 f. Stellung zur Religion. 
218 Briefe. 
^Hermes 149 ff. 198. 210. 

Herodot 65. 91. 106. 107. llOf. 
131. 162. 184. 212. 222 f. 
234. 

Herz 164 mythol. Bohne. 

Hesiodus 112. 180 ff. 234. 241. 
274. 

Hesychius 196. 202. 

Hippodamus 96. 
I Hippokrates 11. 18. 70. 92. 98. 
100. 279. 282. 

Hippolytus 48. 49. 240. 283. 

Hoffmann, F. 31. 

Hölle 174. 

Holz 173, cf. Baum und Phönix. 

Homer 12. 112. 184. 189. 192. 
234. 274. 

Homöomerien 48. 

Horapollon 222. 230. 

HoruB 142. 158. 161. 165 f. 188. 
209. 212 Apollo, 228 Helios, 
238. 243 in Sechem , auf der 
Sonnenbarke. 
Jhotep 162. 

hun 174 Phallus. 

Jason 234. 

Ideen 261 dist. Begriffe. 



Sach- und Namen verzeichniss. 



2dS 



Jeremias 161. 

Jesaias 129. 

Jesus 263 bei Celsus. 

Indien 114. 

Individualprincip 43. 

Inspirationslehre 127. 

Jörmungander 145. 

Jolaus 246. 

Josias ]^5. ^ 

Isis 114. 143 f. 166. 173 f. 177 

Mond. 
Jungfräulichkeit 160. 
Justin (Kirchenvater) 125. 265. 

Käfer 172 Sonnengott. 

Kalewala 181. 

Kamatef 143. 

Kant 62. 123. 

xdnvog 244. 

Karneades 271. 

katbartisch 17. 

Kepber 171. 

Kcpbeus 282. 

Kerer 173. 

Kbidre 166. 

Kind 189 König der Welt. 

Kirchenväter 214. 

Kleanthes 264. 

Klein 282. 

Kneph 113. 153. 

Knidiscbe Gnomen 15. 16 

Knoblauch 96. 

Kobolde 216. 

xQccaig 269. 

Krates 136. 

Kratylus 48. 87. 

Kreyenbühl 285. 

xQiOri 17. 



Krieg der Gegensätze 157. 166 f. 

202. 
Kronos 75. 153. 
xQvmsiv 125. 131. 
Kuhn, Adalbert 215. 
xvßog 200. 
Kynosura 283. 

Lacedämon 63. 

Lästrygonen 275. 

Laden 160. 

Lassalle 248. 

Leemans 230. 

Leib und Seele unterschieden 41. 
45. 178. 

Leibnitz 37. 39. 93. 99. 

Lepsius 109. 143. 148. 150. 
188. 209. 228. 238. 

Leucates 232. 

Leukipp 25. 26 der Atomiker, 
160 der mythische. 

Liebe 162 f. 

Aixyijrig 216. 232. 

Unter 232. 

Xoyia 110. 

Xoyog 11. 22. 67. 118. 125 
d^elog. 151 bei Plato und im 
Todtenbuch, 170 fiF. 182 legoi, 
221 Bedeutung des Fingers 
auf dem Munde, nQocpoQixog 
und ivdtnd-STog. 

Loki 120. 

Lotos 166. 172 f. 210. 

Lotze 258. 261. 263. 

Lucian 189. 201. 

Luft 13, Krankheiten der. 

luna 230. 

Lybische Gegenden 19. 



2M 



Sach- und Namcnverzcichniss. 









Ma = Dike 175. 242. 

ma/er 151. 169. 171. 

Makrokephalen 18. 70. 

(LtavTixt} 80. 89. 

fittQjvQia 271. 

Mass 175, Massübcrschrcitung 
242. 

Materie 29 bei Aiiaxagoras und 
Plato, 52 f. bei Diogenes von 
ApoUonien. 

Mau = mu-t 163. 

Maximianas 220 bei Rasche. Die 
beiden Petersburger Kupfer- 
münzen sind auf Diadumenia- 
nus und Caracalla. 

Meer 172. 

fisya xici /aixQoy 29. 

Melampus 235. 

Mclissos 9. 25. 

Memnonien 165. 

Memphis 224. 

Metemps3'chose 111. 

Meth 162. 

fieO-rj aiaiviog 231. 

Methode 21. 25. 54. 

Meyer, Leo 198. 

Midgardschlange 145. 

fiTyfice 49. 

Milet 106. 

fÄifiieaxhai 59. 

Mimir 162. 166. 

fiia(h6g 231. 

fxf^ig 269. 

Mnevis 224. 

Mohr, J. 225. 274. 277. 279 ff. 
283. 

Mond 177. 195. 230. 244. 

Montesquieu 19. 

Moses 61. 233. 



Mullach 7 über Demokrit. 191. 

204. 

Mumien 237. 

Musäus 160. 

fiVQiaivvfxog 144. 

Myste 136. 222. 227. 

Mysterien 121. 146. 181. 187. 
222. 234. 249 f. 

Mythologie 1^ Deutwpg, 158 
vergleichende der ägyptiscbeD 
Priester , 177 Veränderung 
durch astron. Kenntnisse. 

Nacht 175 der Abrechnung. 

Nachahmung 60. 

Nahrung 45. 50. 

Nase 245. 

Natur 58. 61, Naturgesetze 66. 

NaukTatis 106. 

Naville 148. 155. 166. 

Nechos 106. 110. 

Nefer-Tum 163. 

Neleus 234. 

Nenet 161. 228. 232 (Okeanos). 

Nendotef 242. 

veog &€6g 211. 

Nephthys 166. 

Neter-tat 170. 

Nichtseiende, das 26. 

Nil 153. 

yof^oi 18. 64, yofiog 54. 67. 75 
Definition, 197, yofii^ofieva 
57. 58. 68. 

vovg 31. 45. 49. 265 bei Ari- 
stoteles, 266 ohne ogyKVoy, 

Nun 157. 

Nut 165. 233. 

Odhrörir 162. 



Sacb- und Namenverzeichniss. 



295 



Odin 162. 166. 

Odysseus 275. 

Oedipus 165. 

Offenbarung 120. 123 ff. 

oiaxCCeiy 229. 

Okeanos 145. 282. 

Orakel 110. 123. 

oQyavoy 268. 

Origenes 263 gegen Celsus. 

Orphische Theologie 132. 182. 

248. 
Osiris 118. 150. 157 ff 166 f. 

169. 173. 179 bennu, 209. 

212 (Dionysus), 238. 242 

(Massüberscbreitung). 
oofjiaad-ai, 244. 
ovQog 281. 
Ovid 160. 232. 

Titti&iov veoyvov 210. 
nai^mv 193. 
Palmen 173. 
Panu 217. 
Pantschatantra 192. 
Ticcga&eCyficcTtt 271. 
7iaQtty.ata^ijxti 124. 249. 
Parmenides 24. 27. 35. 114. 
Parsismus 118. 121, Perser 236. 
250 f. 

Patripassianismus 153. 
Pausanias 160. 
Pelias 234. 
Persepbone 244. 
Perseus 166. 233. 
Perspective in der Gesch. 98. 
7i6<xaBv(oy 194. 
neaaoyojLioSv 196. 
Tteaaog 200. 231. 
Phallus 174. 



rpttvraaCav nqoi rtjv 227. 

Phüetas 3. 

Philistion 3. 

Philo 218. 

(ptXoaofpiaxBQov 64. 

Phönicische Mythologie 246. 

Phönix 179. 224. 238. 

(foQti 268 ff. 

Physiker 26. 

yi/diff 54. 71. 

ffvXttXBg 239. 241. 

nCartg 128. 

Plato 19 lernte von Hippokrates, 
29 und ^30 von Anaxagoras, 
65. 72. 73. 105 Beziehung 
auf Aegypten 108. 110. 131. 
Geheimlehre, 139 bei Tylor, 
Ideen mit Seele u. Bewegung 
versehen, 145 Phädrus, 149 
Interesse für Mythologie, 170 
problemat. Kenntniss ägypt. 
Schriften, 176 Phädrus, 178 
Timäus, Zahl der Seelen, 196 
nsrrevt^g , 200 f. 206. 221 
Xoyog nQoq)OQix6g und iv- 
did&€Tog, 240 q)vXax6g, 263 
traditionelle Ideenlehre von 
Lotze beurtheilt, 264 Ver- 
hältniss zu Aristoteles nach 
Attikus u. A., 267 Theätet, 
269 Definition der q^oga nach 
Aristoteles. 

nXotov der Sonne 228. 

Pluton 118. 

Plutarch 105. 112. 118 Heraklit 
u. Aegypten, 141 über Isis u. 
Osiris, 204. 210. 244. 264. 

Poesie 64. 



2% 



Sach- und Namenvcrzeichniss. 



noXsjLiog 202. 
Polybus 7. 8. 9. 
Polykrates 107. 
novog 39. 
Pontus 19. 
Poren 33. 42. 
Poseidon 160. 234. 
Positivisten 71. 138. 140. 
Probleme 94 ff. 
Proclus 125. 131. 211. 
Prodikus 222 (Herakles). 
Progrcssus in inf. 29. 
ngoxtttafjia&Blv 15. 
Psammetich 106. 
^ Pseudobippokrates cf. Diätetiker. 

^vxn 265. 

tj/v^onofinog 151. 

Pythagoras 107. 111. 125. 156. 

164 Bohnen, 185 Themisto- 

kleia. 251. 
Pytheas 275. 

Ra 157 f. 165. 209. 225. 

Ramus 219. 

Ranke 253. 

Rasche 219. 

Renouf 230. 

Ribot 258. 

Riechen im Hades 244. 

Riehl, Carl 179. 

Ritter 86. 

Roth 248. 

Roug6, de 231. 

Sais 114. 

Samen 25, Samenthierchen 37. 

aaQ^ 17. 

Sauppe 241. 

Schamglicd 167. 174. 



Schachspiel 198. ' 
ax^i/Ättta 53. 78. 

Schepeska 173. 

Schlange 145. 172. 176. 210. 

Schleierraacher 118. 274. 

Schlinge 174. Im Conservatoren- 
palast des Campidoglio in Rom 
befindet sich im Broncesaal 
eine dreigestaltige Artemis, 
etwa IJ Fuss hoch; eine von 
den dreien hält in der rechten 
Hand einen ägypt. Schlüssel, 
in der linken eine Schlinge, 
beides offenbar Attribute der 
Unterwelt, die durch das 
Todtenbuch verständl. werden. 

Schu 159. 160 Apollo, 228. 

Schiüerverhältniss der Philo- 
sophen 85. 

Schuster 3. 38. 118. 124. 126. 
126. 132 Heraklit. Mystik, 
193. 200. 203. 206. 219 Mün- 
zen mit Heraklit, 249 Mystik 
HerakHt's, 251. 274. 

Schweigen 222 Mystik. 

Seb 228. 

Sechcm 243. 

Seele 33. 36. 37 Seelcnthier- 
chen, 38 männliche und weib- 
liche. 44. 101. 142. 144. 150. 
157. 166. 173. 177. 212 un- 
sichtbares Feuer, 244 riechen 
im Hades. 

Selene 195. 198. 244 f. 

Semiotik 15. 187. 

Serapion 210. 

Set 173. 

Sextus Emp. 272. 



Sach- und Namenverzeichniss. 



297 



SibyUe 126. 184. 225. 

Siebeck 274. 
jsiyn 222. 
r Simplicius 50. 

Simrock 145. 162. 

Sirius 179. 

axag)fi 224 ff. 

öxoQodog 97. 

Sokar 165 f. 

Sokrates 72. 75. 

Solon 224 in Aegypten, 251. 

Sonne 228 Wagen und Schiff. 

Sonnenaufgang = Geburt 145. 

Sop 176. 242. 

aog)ifi 67. 

Sotbisperiode 179. 

Spielmann, Alois, Vorrede ix. 

Staatsmann 76. 

Stationen der Zeugung und Me- 
tamorphose 38 yeviaeig. 

Steinbart 146. 

Stepbani, L. 231. 

Stepbanus 200 f. 

Stern, Ludwig 148. 153 Nil. 
154. 156 Metempsychose, 157 
ki zed, 158 Götterzwülinge, 
159 Duaut uud Amentet, 164 
Pytbag. Bobnen erklärt, 169 
Temmu, 176. 185 Mysterien, 
223 Heüopolis, 238 Todten- 
buch, 242. 

Stesicborus 235. 

Steuermann 178 Gott, 229. 

Stimme 34. 

Stoffwechsel 36. 

Stoische Tragödie 210, Stoiker 
240. 
, Strabo 146. 149. 152. 

TeiehmüUer, Zar Qescli. der 



Suidas 201. 
Surtur 120. 
avfjupoqov 36. 
Syzygie 157. 

Tapheth 161. 

Tattu 160 vergl. Dadu. 

tavro 34. 

tex>^fl 16. 18. 59. 64. 

Tefhut 159, Tafenet 160. 

rixfittQaig 15. 

femmu 169. 

Teleologie 190. 

tiQtJfig 39. 

tertium comparationis 191 von 
Bemays und Zeller verfehlt. 

Thaies 224 in Aegypten, 247. 
274. 

Thammuz 154. 

Theätet 267. 

Thebais 113. 

Theben 173. 184, 

d^€la 71. 91, i^sios Xoyog 125. 

Themistokleia 185. 

Theodoret 129. 240. 

Theopneustie 127. 

Theognis 124. 178. 

theokratisch 187. 

Theologie 131, theologische Pe- 
riode 64, Theologen 211 ff. 

Thesmophorien 235. 

Theuth 146. 149. 195. 

Thor 162. 

Thrym 162.' 

Timaeus sophistes 200. 

Tiresias 261. 

r^S^^iV^J 218. 

Tlepolemos 2h^, 
' Todtenbuch 142. 144. 150. 

Begriffe. 20 



298 



Sach- und NamenverzeicliDiss. 



Topik 217 f. 
i Träume 92. 100. 
Trendelenburg 266. 
rgotpr, 39. 228. 
Tum 143. 144, Thamu 146. 

152 f. 163. 165. 228. 243. 
Tvxtj 190. 
Tylor 138. 

Typhon 166 f. 172. 212. 246. 
Tyro 234. 

Uarda 125. 
Uhlemann 150. 
Unsichtbares 33. 44. 
Unsterblichkeit 111. 264 bei 

Plato und Aristoteles, 
ütgardloki 163. 

Veränderung 51. 
Viele, das 35. 177. 

Wächter 239. 241. 243. 
Wage 242. 

Wagen der Sonne 228. 
Walter 276. 
- Wasser bei Hippokrates und 

dem Diätetiker 20, mytholog. 

167. 172. 
Welt 172 bei Herakleitos und 

Aegyptem. 
Weltordnung 197. 
Weltperioden 177 ff. 



Weltseele 35. 
Wieland 201. 
Wischnu 192. 
Wöluspa 198. 
Würfelspiel 198. 

Xenophanes 23. 24. 27. 56. 67. 

112 (Aegypt.) ff. 115. 133. 

186. 207. 274. 
Xenophon 222. 252. 

^VfAtpOQOP 36. 

Zabal 198. 

Zeller 3. 6. 7. 10. 20. 28. 43. 
47. 53. 60. 78. 87. 118 gegen 
Gladisch, 129 Dunkelheit He- 
raklit's, 140 Ideen mit Seele 
und Bewegung, 189 Heraklit's 
Gottkind, 199. 202 cvyöta- 
(pegofÄtvos 203 234 über He- 
rodot, 248 über Lassalle, 258 
vonBoutroux beurtheilt, 274. 
285 f. über Heraklit. 

Zeno 35. 

Zeugung 36. 

Zeus 152. 149. 

^(anvQSlaS-m 215. 

Zoroaster 118. 251. 

Zündel 109. 

Zeugen des Todtenbuchs 118. 

Zwillinge 42 physiolog. 158 
theolog. 



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DRUCK VON FRIPJ>a. ANDR. PERTHES IN OOTDA. 



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