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Full text of "Nietzsche und Wagner; neue Beiträge zur Geschichte und Psychologie ihrer Freundschaft"

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NIETZSCHE  UND  WAGNEU 


NEUE  BEITRAGE  ZUR  GESCHICHTE  UND 
PSYCHOLOGIE  IHRER  FREUNDSCHAFT 

VON 

PEOF.  DR.  LUITPOLD  GEIESSER 


19     2     3 

HOLDER  -  PICHLER  -  TEMPSKY  A.  G. 
WIEN    /    G.  FREYTAG   G.M.B.H.    /    LEIPZIG 


ALLE  RECHTE,  EINSCHLIESSLICH  DES 
ÜBERSETZUNGSRECHTES  VORBEHALTEN 


VERLAGSNUMMER  10.214 


NL 


BUCHDRUCKEREI  CARL  GEROLD'S  SOHN  IN  WIEN 


MEINEM  HOCHVEREHRTEN  FREUNDE 
LEHRER  UND  MEISTER 


HERRN  REQIERUNGSRAT 

DE:  J.  KUKUTSCH 


Motto :  „Betrachtet  ich  den  Fleiß,  den  ich  verwendet, 
Sah  ich  die  Züge  meiner  Feder  an, 
So  könnt'  ich  sagen,  dieses  Buch  ist  mein! 
Doch  überdenk'  ich's  recht,  da  es  vollendet. 
Woher  mir  alles  kam,  wohin  es  zielt, 
Erkenn'  ich  wohl :  ich  hab'  es  nur  von  Euch!" 


„Die  Ehre  und  der  Nachruhm  eines  vortrefflichen  Schriftstellers 
ist,  meiner  Meinung  nach,  auch  alsdann,  wenn  ihm  selbst  nichts 
mehr  daran  gelegen  ist,  der  Menschheit  keine  gleichgültige  Sache. 
Sie  ist ,  sozusagen  eine  unverletzbare  Hinterlage,  deren  Bewahrung 
der  Redlichkeit  und  Sorgfalt  der  Nachwelt  anvertraut  ist;  und  wenn 
es  von  jeher  bei  allen  Völkern  für  ein  Verbrechen  gegen  die  Humanität 
angesehen  worden  ist,  die  Gebeine  eines  Verstorbenen  zu  mißhandeln 
oder  seine  Asche  zu  beunruhigen,  wieviel  mehr  ist  es  unedel  und 
grausam,  den  Nachruhm  eines  Mannes,  dessen  Verdienste  um  die 
Welt  noch  immer  fortdauern,  durch  Schändung  seines  sittlichen 
Charakters,  den  er  selbst  nicht  mehr  verteidigen  kann,  zu  besudeln?" 

Chr.  M.  Wieland. 


„Ich  habe  Wagner  geliebt  und  niemand  sonst!  Er  war  ein 
Mensch  nach  meinem  Herzen.  ...  Es  versteht  sich  von  selber,  daß 
ich  niemandem  so  leicht  das  Recht  zugestehe,  diese  meine  Schätzung 
Wagners  zur  seinigen  zu  machen,  und  allem  unehrerbietigen  Gesindel, 
wie  es  am  Leibe  der  heutigen  Gesellschaft  gleich  Läusen  wimmelt, 
soll  es  gar  nicht,  erlaubt  sein,  einen  solchen  großen  Namen,  wie  der 
Richard  Wagners  ist,  überhaupt  in  das  Maul  zu  nehmen,  weder  im 
Lobe  noch  im  Widerspruche!"  Fr.  Nietzsche. 


INHALTSVERZEICHNIS. 

Seite 

I.  Im  Banne  der  Freundschaft 1 

II.  Bayreuth 21 

III.  Erste  Mißverständnisse  ....          25 

IV.  Nietzsches  „Mahnruf  an  die  Deutschen" -   .  33 

V.  Nietzsches  Kritik  an  Wagner 40 

VI.  „Richard  Wagner  in  Bayreuth" ,     50 

VII.  Die  Festspiele  des  Jahres  1876.    „Menschhches,  Allzu- 

menschUches" 61 

VIII.  Das  Ende  der  Freundschaft 77 

IX.  Der  „Musiker  und  Komponist  Nietzsche" 88 

X.  RdckbUck 104 

XI.  „Die  Geburt  der  Tragödie" 115 

XII.  Der  Streit  um  den  Wert  dieses  Werkes 143 

XIII.  Psychologische  und  künstlerische  Gründe  für  Nietzsches 

Abfall 172 

XIV.  Wagners  Mißtrauen  und  Egoismus;  sein  „Schauspieler- 

tum" 208 

XV.  Nietzsche  —  Bizet  —  Wagner 224 

XVI.  Chamberlain,  Seiling,  Bruno  Goetz  über  Nietzsche  .   .  239 
XVII.  Nietzsches  und  Wagners  „Schicksalsgemeinschaft"  .   .  249 

XVIII.  Nietzsche  und  die  „Psychoanalytiker". 260 

XIX.  Nietzsche  und  Frau  Cosima  Wagner 290 

XX.  Das  „Parsifalproblem" 300 

XXI.  Nietzsche  als  religiöser  und  ethischer  Reformator      .   .  313 
XXII.  „Der  einsame  Nietzsche" 345 

XXIII.  Der  Mystiker  Nietzsche 367 

XXIV.  Das  Dionysosideal  —  Isoldens  „Liebestod"  —  Goethe  — 

Beethoven 376 

XXV.  Nachwort 396 

Literaturnachweis 401 

Namenverzeichnis 403 


I.   IM  BANNE  DER  FREUNDSCHAFT.    TRIBSCHEN. 

Wiewohl  Nietzsche  selbst  im  „Ecce  homo"  schreibt:  „von  dem 
Augenblicke  an,  wo  es  einen  Klavierauszug  des  Tristan  gab,  .  .  .  war 
ich  Wagnerianer!",  ist  diesem  Selbstbekenntnisse  gegenüber 
auf  die  Tatsache  zu  verweisen,  daß  seine  Verehrung  für  Wagner 
bereits  mit  dem  Jahre  1860  eingesetzt  hat.  Denn  in  diesem  Jahre 
begründete  der  erst  Sechzehnjährige  mit  zwei  gleichalterigen  Freunden 
die  „Germania",  eine  literarische  Vereinigung,  deren  Zweck  es  war, 
die  Ausbildung  ihrer  Mitglieder  in  den  Künsten  und  Wissenschaften 
zu  fördern.  Von  höchstem  Interesse  ist  es,  daß  unter  den  Zeit- 
schriften die  „Zeitschrift  für  Musik"  gehalten  wurde,  das  einzige 
deutsche  Blatt,  das  damals  für  Wagner  und  seine  Werke  einzutreten 
wagte.  Im  Jahre  1862  wurde  dann  der  von  Hans  v.  Bülow  arran- 
gierte Klavierauszug  zum  Tristan  angeschafft,  wobei  anläßlich  der 
über  dieses  Werk  abgehaltenen  Diskussionen  die  Frage  erörtert 
wurde,  ob  das  Wagnersche  Kunstwerk  der  Zukunft  ein  realisierbares 
Ideal  sei,  eine  Frage,  die  von  dem  jungen  Nietzsche  aufs  eifrigste 
verteidigt  wurde.  Nietzsches  Schwester  erzählt  uns,  daß  im  Hause 
ihrer  Mutter  der  Klavierauszug  einstudiert  wurde,  daß  die  Musik 
jedoch  mehr  einem  furchtbaren  Getöse  glich,  bis  es  endhch  Nietzsche 
gelang,  vorzüglich  den  II.  Aufzug  in  künstlerisch  formvollendeter 
Art  und  Weise  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Die  allerwich tigste  Tat- 
sache aber  ist  die,  daß  Nietzsche  bereits  damals  an  Wagners  Kunst 
Kritik  zu  üben  begann,  und  daß  auf  Zeiten  der  höchsten  Begeisterung 
Zeiten  der  kühlsten  Reflexion  folgten.  Besonders  über  die  Walküre 
waren  seine  „Empfindungen  sehr  gemischt".  Da  vollzog  sich  im 
Jahre  1868  ein  bedeutsames  Ereignis :  Nietzsche  wurde  mit  Wagner 
persönlich  bekannt.  Über  dieses  für  sein  ganzes  ferneres  Leben 
wichtige  Ereignis  schrieb  er  seinem  Freunde  Erwin  Rohde  am 
9.  November  1868  folgenden  Brief:  „Als  ich  nach  Hause  kam,  fand 
ich  einen  Zettel,  an  mich  adressiert,    mit  der  kurzen  Notiz:  , Willst 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  1 


—     2     — 

Du  Richard  Wagner  kennen  lernen,  so  komme  um  dreiviertel  vier 
in  das  Cafe  Theätre/  Diese  Neuigkeit  verwirrte  mir  etwas  den 
Kopf,  verzeih  mir!,  so  daß  ich  in  einen  ziemlichen  Wirbel  geriet. 
Ich  Uef  natürlich  hin,  fand  unsern  Biederfreund,  der  mir  neue  Auf- 
schlüsse gab.  Wagner  war  im  strengsten  Inkognito  in  Leipzig  bei 
seinen  Verwandten:  die  Presse  hatte  keinen  Wind,  und  alle  Dienst- 
boten Brockhausens  waren  stumm  gemacht,  wie  Gräber  in  Livree. 
Nun  hatte  die  Schwester  Wagners,  die  Professor  Brockhaus,  jene 
bewußte  gescheute  Frau,  auch  ihre  gute  Freundin,  die  Ritschelin, 
ihrem  Bruder  vorgeführt:  wobei  sie  den  Stolz  hatte,  vor  dem  Bruder 
mit  der  Freundin  und  vor  der  Freundin  mit  dem  Bruder  zu  renom- 
mieren, das  glückliche  Wesen  I  Wagner  spielt  in  Gegenwart  der 
Frau  Ritschi  das  Meisterlied,  das  ja  auch  Dir  bekannt  ist:  und  die 
gute  Frau  sagt  ihm,  daß  ihr  das  Lied  schon  wohlbekannt  sei,  mea 
Opera.  Freude  und  Verwunderung  Wagners :  gibt  allerhöchsten  Willen 
kund,  mich  inkognito  kennen  zu  lernen.  Ich  sollte  für  Freitag  abend 
eingeladen  werden.  Windisch  aber  setzt  auseinander,  daß  ich  ver- 
hindert sei  durch  Amt,  Pflicht,  Versprechen:  also  schlägt  man 
Sonnabend  nachmittag  vor.  Windisch  und  ich  liefen  also  hin,  fanden 
die  Familie  des  Professors,  aber  Richard  nicht,  der  mit  einem  un- 
geheuren Hute  auf  dem  großen  Schädel  ausgegangen  war.  Hier 
lernte  ich  also  besagte  vortreffhche  Familie  kennen  und  bekam  eine 
liebenswürdige  Einladung  für  Sonntag  abend.  Meine  Stimmung  war 
wirklich  an  diesen  Tagen  etwas  romanhaft;  gib  mir  zu,  daß  die 
Einleitung  dieser  Bekanntschaft,  bei  der  großen  Unnahbarkeit  des 
Sonderlings,  etwas  an  das  Märchen  streifte.  In  der  Meinung,  daß 
eine  groöe  Gesellschaft  geladen  sei,  beschloß  ich,  große 
Toilette  zu  machen  und  war  froh,  daß  gerade  für  den 
Sonntag  mein  Schneider  mir  einen  fertigen  Ballanzug  ver- 
sprochen hatte.  Es  war  ein  schreckUcher  Regen-  und  Schnee- 
tag, man  schauderte,  ins  Freie  zu  gehen  ...  Es  dämmerte, 
der  Schneider  kam  nicht,  ich  suchte  den  Schneider  persönlich  auf 
und  fand  seine  Sklaven  heftig  mit  meinem  Anzüge  beschäftigt:  man 
versprach,  in  dreiviertel  Stunden  ihn  zu  schicken.  Ich  ging  ver- 
gnügter Dinge  weg,  streifte  Kintschy,  las  den  Kladderadatsch  und 
fand  mit  Behagen  die  Zeitungsnotiz,  daß  Wagner  in  der  Schweiz 
sei,  daß  man  aber  in  München  ein  schönes  Haus  für  ihn  baue: 
während  ich  wußte,  daß  ich  ihn  heute  abend  sehen  würde  und  daß 


—     3     — 

gestern  ein  Brief  vom  kleinen  König  an  ihn  angekommen 
sei,  mit  der  Adresse:  ,An  den  großen  deutschen  Tondichter 
Richard  Wagner.'  Zu  Hause  fand  ich  zwar  keinen  Schneider, 
las  in  aller  Gemächlichkeit  noch  die  Dissertation  über  die  Eudokia 
und  wurde  nur  von  Zeit  zu  Zeit  durch  gellendes,  aber  aus  der 
Ferne  kommendes  Läuten  beunruhigt.  Endlich  wurde  mir  zur  Gewiß- 
heit, daß  an  dem  altväterlichen  eisernen  Gittertor  jemand  warte: 
es  war  verschlossen,  ebenso  wie  die  Haustür.  Ich  schrie  über  den 
Garten  weg  dem  Manne  zu,  er  solle  in  das  Naundörfchen  kommen: 
unmöglich,  sich  bei  dem  Geplätscher  des  Regens  verständlich  zu 
machen.  Das  Haus  geriet  in  Aufregung,  endhch  wurde  aufgeschlossen, 
und  ein  altes  Männchen  mit  einem  Paket  kam  zu  mir.  Es  war  halb 
sieben  Uhr;  es  w^ar  Zeit,  meine  Sachen  anzuziehen  und  Toilette  zu 
machen,  da  ich  sehr  weit  abwohne.  Richtig,  der  Mann  hat  meine 
Sachen,  ich  probiere  sie  an,  sie  passen.  Verdächtige  Wendung!  Er 
präsentiert  die  Rechnung.  Ich  akzeptiere  höflich ;  er  will  bezahlt  sein, 
gleich,  bei  Empfang  der  Sachen.  Ich  bin  erstaunt,  setze  ihm  aus- 
einander, daß  ich  gar  nichts  mit  ihm  als  einem  Arbeiter  für  meinen 
Schneider  zu  tun  habe,  sondern  nur  mit  dem  Schneider  selbst,  dem 
ich  den  Auftrag  gegeben  habe.  Der  Mann  wird  dringender,  die  Zeit 
wird  dringender;  ich  ergreife  die  Sachen  und  beginne  sie  anzuziehen, 
der  Mann  ergreift  die  Sachen  und  hindert  mich,  sie  anzuziehen: 
Gewalt  meiner  Seite,  Gewalt  seiner  Seite!  Szene.  Ich  kämpfe  im 
Hemde:  denn  ich  will  die  neuen  Hosen  anziehen.  Endhch  Aufwand 
von  Würde,  feierhche  Drohung,  Verwünschung  meines  Schneiders 
und  seines  Helfershelfers,  Racheschwur:  währenddem  entfernt  sich 
das  Männchen  mit  meinen  Sachen.  Ende  des  zweiten  Aktes:  ich 
brüte  im  Hemde  auf  dem  Sofa  und  betrachte  einen  schwarzen  Rock, 
ob  er  für  Richard  gut  genug  ist.  —  Draußen  gießt  der  Regen.  — 
Ein  Viertel  auf  acht:  um  halb  acht  habe  ich  mit  Windisch  verabredet 
wollen  wir  uns  im  Theatercafö  treffen.  Ich  stürme  in  die  finstere, 
regnerische  Nacht  hinaus,  auch  ein  schwarzes  Männchen,  ohne  Frack, 
doch  in  gesteigerter  Romanstimmung:  das  Glück  ist  günstig,  selbst 
die  Schneiderszene  hat  etwas  Ungeheuerlich-Unalltägliches.  Wir 
kommen  in  dem  sehr  behaglichen  Salon  Brockhaus  an:  es  ist 
niemand  weiter  vorhanden  als  die  engste  Familie,  Richard  und  wir 
beide.  Ich  werde  Richard  vorgestellt  und  rede  zu  ihm  einige  Worte 
der  Verehrung:    er  erkundigt    sich  sehr  genau,    wie   ich  mit  seiner 

1* 


Musik  vertraut  geworden  sei,  schimpft  entsetzlich  auf  alle  Auf- 
fühiungen  seiner  Opern,  mit  Ausnahme  der  berühmten  Münchener, 
und  macht  sich  über  die  Kapellmeister  lustig,  welche  ihrem  Orchester 
im  gemütlichen  Tone  zurufen:  ,Meine  Herren,  jetzt  wird's  leiden- 
schaftlich!' —  , Meine  Gutsten,  noch  ein  bißchen  leidenschafthcher!' 
W.  imitiert  sehr  gern  den  Leipziger  Dialekt.  Nun  will  ich  Dir  in 
in  Kürze  erzählen,  was  uns  dieser  Abend  anbot,  wahrlich  Genüsse 
so  eigentlich  pikanter  Art,  daß  ich  auch  heute  noch  nicht  im  alten 
Gleise  bin,  sondern  eben  nichts  Besseres  tun  kann,  als  mit  Dir, 
mein  teurer  Freund,  zu  reden  und  , wundersame  Mär'  zu  künden. 
Vor  und  nach  Tisch  spielte  Wagner,  und  zwar  alle  wichtigen  Stellen 
der  Meistersinger,  indem  er  alle  Stimmen  imitierte  und  dabei  sehr 
ausgelassen  war.  Es  ist  nämlich  ein  fabelhaft  lebhafter  und  feuriger 
Mann,  der  sehr  schnell  spricht,  sehr  witzig  ist  und  eine  Gesellschaft 
dieser  privatesten  Art  ganz  heiter  macht.  Inzwischen  hatte  ich  ein 
längeres  Gespräch  mit  ihm  über  Schopenhauer:  Ach,  und  Du  begreifst 
es,  welcher  Genuß  es  für  mich  war,  ihn  mit  ganz  unbeschreiblicher 
Wärme  von  ihm  reden  zu  hören,  was  er  ihm  verdanke,  wie  er  der 
einzige  Philosoph  sei,  der  das  Wesen  der  Musik  erkannt  habe.  Dann 
erkundigte  er  sich,  wie  sich  jetzt  die  Professoren  zu  ihm  verhalten, 
lachte  sehr  über  den  Philosophenkongreß  in  Prag  und  sprach  von 
den  , philosophischen  Dienstmännern'.  Nachher  las  er  ein  Stück  aus 
seiner  Biographie  vor,  die  er  jetzt  schreibt,  eine  überaus  ergötzliche 
Szene  aus  seinem  Leipziger  Studienleben,  an  die  ich  jetzt  noch  nicht 
ohne  Gelächter  denken  kann;  er  schreibt  übrigens  außerordentlich 
gewandt  und  geistreich.  —  Am  Schluß,  als  wir  beide  uns  zum  Fort- 
gehen anschickten,  drückte  er  mir  sehr  warm  die  Hand  und  lud 
mich  sehr  freundlich  ein,  ihn  zu  besuchen,  um  Musik  und  Philo- 
sophie zu  treiben,  auch  übertrug  er  mir,  seine  Schwester  und  seine 
Anverwandten  mit  seiner  Musik  bekannt  zu  machen:  was  ich  denn 
feierlich  übernommen  habe.  —  Mehr  sollst  Du  hören,  wenn  ich 
diesem  Abende  etwas  objektiver  und  ferner  gegenüberstehe." 

Wenige  Monate  nach  dieser  denkwürdigen  Begegnung,  im 
Februar  1869,  erhielt  Nietzsche  eine  Berufung  als  a.  o.  Professor 
der  klassischen  Philologie  an  die  Universität  Basel.  Von  dort  fuhr 
er  am  Pfingstsamstag,  15.  Mai,  zum  erstenmal  nach  dem  Vier- 
waldstättersee.  In  Luzern  überlegte  er,  ob  er  es  wagen  dürfe,  auf 
Grund  der  im  November   ergangenen  Einladung  Wagner  in    seinem 


Landhause  „Tribschen*;  im  „Fideikommißhause",  aufzusuchen.  Lange 
stand  er  vor  dem  Landhause  still  und  hörte  einen  immer  wieder- 
holten schmerzlichen  Akkord.  Endlich  kam  ein  Diener  aus  dem 
Garten  und  sagte  ihm,  Herr  Wagner  arbeite  stets  bis  2  Uhr  und 
dürfe  nicht  gestört  werden.  Nietzsche  jedoch  entschloß  sich,  wenigstens 
seine  Karte  abzugeben.  Wagner  ließ  schnell  herausfragen,  ob  der 
Herr  Professor  derselbe  Herr  Nietzsche  sei,  den  er  bei  seiner 
Schwester,  Frau  Professor  Brockhaus,  in  Leipzig  kennen  gelernt 
habe.  Auf  die  bejahende  Antwort  erhielt  Nietzsche  eine  Einladung 
zum  Mittagessen.  Leider  mußte  Nietzsche  absagen,  da  er  bereits 
anderwärts  vergeben  war.  Wagner  schlug  nun  den  Pfingstmontag 
vor,  und  dieser  Tag  war  der  erste  jener  wunderbaren  Tage,  die 
Nietzsche  im  Wagnerschen  Kreise  verleben  durfte.  Die  für  den  22.  Mai, 
Wagners  Geburtstag,  anberaumte  Einladung  mußte  Nietzsche  gleich- 
falls absagen,  dafür  sandte  er  nach  Tribschen  einen  Brief,  in  dem 
der  denkwürdige  Passus  steht:  „Wenn  es  das  Los  des  Genius  ist, 
eine  Zeitlang  nur  paucorum  honimum  zu  sein,  so  dürfen  doch  wohl 
diese  pauci  sich  in  einem  besonderen  Grade  beglückt  und  ausgezeichnet 
fühlen,  weil  es  ihnen  vergönnt  ist,  das  Licht  zu  sehen  und  sich  an 
ihm  zu  wärmen,  wenn  die  Masse  noch  im  kalten  Nebel  steht  und 
friert .  .  .  Nun  habe  ich  es  gewagt,  mich  unter  die  Zahl  dieser  pauci 
zu  rechnen,  nachdem  ich  wahrnahm,  wie  unfähig  fast  alle  Welt, 
mit  der  man  verkehrt,  sich  zeigt,  wenn  es  gilt,  Ihre  Persönlichkeit 
als  Ganzheit  zu  fassen,  den  einheitlichen,  tiefethischen  Strom  zu 
fühlen,  der  durch  Leben,  Schrift  und  Musik  geht,  kurz,  die  Atmo- 
sphäre einer  ernsteren  und  seelenvolleren  Weltanschauung  zu  spüren, 
wie  sie  uns  armen  Deutschen  durch  alle  politischen  Miseren,  durch 
philosophischen  Unfug  und  vordrin ghches  Judentum  über  Nacht  ab- 
handen gekommen  war.  Ihnen  und  Schopenhauer  danke  ich  es,  wenn 
ich  bis  jetzt  festgehalten  habe  an  dem  germanischen  Lebensernst, 
an  einer  vertieften  Betrachtung  dieses  so  rätselvollen  und  bedenk- 
lichen Daseins."  Und  Anfang  Juni  1869  teilt  er  voll  Freude  Rohde 
mit,  daß  Wagner  wirklich  alles  sei,  was  die  Welt  von  ihm  gehofft 
habe:  „ein  verschwenderisch  reicher  und  großer  Geist,  ein  energischer 
Charakter  und  ein  bezaubernd  Hebenswürdiger"  Mensch,  von  dem 
stärksten  Wissenstriebe  etc.  etc. 

Den  tiefen  Eindruck,  den  der  junge  Baseler  Professor  auf  Wagner 
ausübte,  schildert   dieser  selbst   in  einem  Briefe    vom  3.  Juli  1869; 


—     6     — 

es  heißt  darin:  «Nun  lassen  Sie  sehen,  wie  Sie  sind.  Viel  wonnige 
Erfahrungen  habe  ich  noch  nicht  an  deutschen  Landsleuten  gemacht. 
Retten  Sie  meinen  nicht  ganz  unschwankenden  Glauben  an  das, 
was  ich  —  mit  Goethe  und  einigen  anderen  —  deutsche  Freiheit 
nenne."  Als  ein  glückliches  Omen  für  ihre  Freundschaft  be- 
trachteten es  beide  Männer,  daß  während  eines  Logierbesuches 
Nietzsches  in  Tribschen  Wagner  sein  Sohn  Siegfried  geboren  wurde. 
Inzwischen  hatte  Rohde,  wohl  unter  dem  Einfluße  von  Nietzsches 
Wagnerbegeisterung  stehend,  seinem  Freunde  einen  schwungvollen 
Brief  gesandt,  den  Nietzsche  in  Tribschen  vorlas.  Wagner  erbat 
sich  eine  Abschrift  desselben,  „er  war  sehr  gerührt",  und  Nietzsche 
forderte  seinen  Freund  auf,  dem  Meister  in  einem  recht  ausführ- 
lichen Briefe  seine  Verehrung  zu  bekunden:  die  Welt  kenne  ja 
gar  nicht  die  menschhche  Größe  und  Singularität  seiner  Natur.  Er 
könne  in  seiner  Nähe  nur  sehr  viel  lernen:  es  sei  dies  sein  prak- 
tischer Kurs  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  Wagners  Nähe  sei 
sein  Trost.  Fast  jeder  Brief  an  Rohde  aus  dieser  Zeit  preist 
das  Genie  Wagners,  dieses  „Juppiters",  der  festgewurzelt  dasteht 
durch  eigene  Kraft  und  unzeitgemäß  im  schönsten  Sinne  sei. 
Wagners  theoretische  Schrift')  „Über  Staat  und  ReHgion"  sei  von 
einer  Höhe  und  Zeitentrücktheit,  von  einem  Edelsinn  und  Schopen- 
hauerschen Ernst,  daß  er  selbst  König  sein  möchte,  um  solche  Er- 
mahnungen zu  bekommen.  Wagner  wünschte,  daß  Nietzsche  die 
Sommerferien  dieses  Jahres  in  Tribschen  verbringen  solle,  was 
Nietzsche  jedoch  ablehnte,  worauf  der  Meister  teils  ärgerlich,  teils 
scherzhaft  bemerkte,  der  Professor  mache  sich  rar !  Im  Herbste  des- 
selben Jahres  sehen  wir  den  jungen  Professor  wiederholt  als  allseits 
gerne  begrüßten  Gast  in  des  Meisters  Hause,  dessen  Bewohner  er 
mit  seiner  Ideenwelt  bekannt  machte.  Es  ist  nun  für  die  im  Hause 
Wagners  herrschende  Auffassung  charakteristisch,  daß,  als  Nietzsche 
seine  Baseler  Antrittsrede  „Über  die  Persönlichkeit  Homers"  in 
Tribschen  vorlas,  Wagner  ihm  durch  seine  Gattin  antworten  ließ, 
Nietzsche  dürfe  nicht  nur  den  großen  Aischylos,  sondern  auch  seinen 
Homeros  auf  Tribschen  suchen.  Er  werde  ihn  dort  lebend  und  nach- 
haltig wirkend  finden.  Der  Meister  stimme  mit  ihm  in  allen  Punkten 
betreffs  ästhetischer  Fragen  vollständig  überein. 


^)  Gewidmet  dem  König  Ludwig  als  „Memoire". 


__     7     — 

Indes  gab  es  bei  Wagner  trotz  dieser  äußerlich  scheinbar 
friedlichen  Verhältnisse  Zeiten  schwerster  seelischer  Aufregungen: 
denn  gegen  Wagners  Willen  ließ  König  Ludwig  in  München  das 
Rheingold"  aufführen,  wobei  es  ihm  „ganz  gleich  war,  wie  es  auf- 
geführt werde".  Geschäftige  Intrigantenhände  bemühten  sich,  die 
Lage  noch  kritischer  und  peinlicher  zu  gestalten.  In  dieser  schweren 
Zeit  sagte  Wagner  wiederholt,  daß  Nietzsche  „immer  wie  ein  Bote 
aus  einer  besseren  und  reineren  Welt  zu  ihm  gekommen  sei".  An 
all  diesen  Kämpfen  und  tiefen  Beunruhigungen  nahm  Nietzsche  den 
innigsten  Anteil,  wurde  er  doch  von  Wagners  in  jeder  Hinsicht  ins 
Vertrauen  gezogen.  Kein  Wunder  also,  daß  sich  durch  dieses  Mit- 
einandertragen  schwerster  Erlebnisse  eine  tiefe,  innige  Freundschaft 
zwischen  Wagner,  Frau  Cosima  und  Nietzsche  entwickelte;  Frau 
Cosima  fand  damals  für  dieses  Verhältnis  das  schöne  Wort:  „Sie 
sind  uns  ein  Tribschner,  und  bei  der  materiellen  und  morahschen 
Abgeschiedenheit  unseres  Hofes  will  das  viel  sagen."  Wohl  den 
größten  Beweis  seines  „ausschweifendsten  Vertrauens"  schenkte 
Wagner  Nietzsche,  als  er  diesen  mit  der  Drucklegung  seiner  Selbst- 
biographie betraute.  Von  Interesse  ist  es  auch,  daß  gelegentlich  des 
Entwurfes  für  ein  Wagnersches  Familienwappen,  das  einen  Geier  in 
der  Mitte  zeigt,  Wagner  selbst  seinen  Stiefvater  Geyer  als  seinen 
wirklichen  Vater  bezeichnete,  ein  Faktum,  worauf  Nietzsche  im 
„Fall  Wagner"  anspielt. 

Inzwischen  war  aber  Nietzsche  auch  in  seinem  Berufe  nicht 
untätig  gebUeben.  So  hatte  er  seine  beiden  Vorträge  „Das  griechische 
Musikdrama"  und  „Sokrates  und  die  Tragödie"  im  Manuskript  nach 
Tribschen  gesandt.  Für  Nietzsches  geistige  Entwicklung  sind  diese 
beiden  Werkchen  insofern  von  Wichtigkeit,  als  er  in  ihnen  zum 
erstenmal  den  zerstörenden  Einfluß  des  Sokrates  und  Euripides  auf 
auf  die  griechische  Tragödie  bespricht.  Wagner  antwortete  daher 
seinem  „teuersten  Herrn  Friedrich",  daß  dieser  mit  den  ungeheuren 
Namen  der  großen  Athener  in  überraschender  Weise  modern  um- 
gegangen sei.  Er  selbst  habe  keinen  gelinden  Schreck  empfunden 
über  die  Kühnheit,  mit  der  so  kurz  und  kategorisch  einem  ver- 
mutlich nicht  eigentlich  zur  Bildung  aufgelegten  Publikum  eine  so  neue 
Idee  mitgeteilt  werde.  Indessen  fühle  der  Meister  vollkommen  mit 
ihm  mit,  denn  er  habe  das  Rechte  getroffen  und  den  eigentlichen 
Punkt   auf  das  schärfste  genau  bezeichnet,    so  daß  er  nicht  anders 


—     8     — 

als  verwunderungsvoll  seiner  ferneren  Entwicklung,  zur  Überzeugung 
des  gemeinen  dogmatischen  Vorurteils,  entgegensehe.  Doch  habe  er 
Sorge  um  ihn  und  wünsche  vom  ganzen  Herzen,  Nietzsche  solle  sich 
nicht  den  Hals  brechen.  Deshalb  möchte  er  ihm  raten,  diese  sehr 
unglaublichen  Ansichten  nicht  mehr  in  kurzen  durch  fatale  Rück- 
sichten auf  leichten  Effekt  es  absehenden  Abhandlungen  zu  be- 
rühren, sondern  sich  zu  einer  größeren,  umfassenderen  Arbeit 
darüber  sammeln.  Dann  werde  er  gewiß  auch  das  richtige  Wort  für 
die  göttlichen  Irrtümer  des  Sokrates  und  Piaton  finden,  welche  so 
überwältigend  schöpferischer  Natur  waren,  daß  man,  obwohl  sich 
von  ihnen  bekehrend,  sie  doch  anbeten  müsse.  Auch  Frau  Cosima 
griff  zur  Feder  und  teilte  dem  jungen  Forscher  mit,  daß,  wenn  auch 
Nietzsches  Grundanschauung  sie  von  vornherein  sympathisch,  ja 
geradezu  heimisch  berührte,  die  Kühnheit  und  Schlichtheit  der  Ge- 
danken ihr  zunächst  ganz  überraschend  gekommen  sei.  Was  den  Passus 
betreffe,  daß  der  Verfall  der  griechischen  Tragödie  mit  Sophokles,  ja 
bereits  mit  Aischylos  beginne,  habe  ihr  der  Meister  beweisen  müssen, 
wie  recht  Nietzsche  mit  seinen  Behauptungen  habe.  Tief  bedauerlich  ist 
es,  daß  „der  herrliche  Brief",  mit  dem  Nietzsche  auf  diese  beiden 
Schreiben  antwortete,  in  Wahnfried  vernichtet  worden  sein  soll. 
Aus  beiden  Briefen  erhellt,  daß  sowohl  Wagner  wie  Frau 
Cosima  ihrem  Freunde  den  wohlgemeinten  Rat  gaben,  aus  dem 
Vortrage  über  Sokrates  und  die  griechische  Tragödie  ein  größeres 
Buch  zu  machen,  welchen  Rat  Nietzsche  ein  wenig  belächelte,  zu- 
mal schon  seit  „Jahren  in  ihm  eine  Fülle  von  ästhetischen  Pro- 
blemen und  Antworten  gärten",  und  er  die  Gelegenheit  öffentlicher 
Reden  nur  dazu  benutzt  hatte,  um  kleine  Teile  des  großen  Stoffes 
auszuarbeiten,  der  in  einem  umfangreichen  Buche  über  die  Griechen 
dargestellt  werden  sollte.  Frau  Förster  nennt  es  als  sehr  bezeichnend 
für  Wagner,  daß  er  trotz  des  innigen  Verkehrs  mit  ihrem  Bruder 
sich  dem  Irrtum  hingeben  konnte,  als  ob  diese  kleinen  Vorträge 
gewissermaßen  nur  erste  Apercus  wären,  daß  er  es  nicht  begriff, 
wie  sie  nur  das  kleine  Stück  eines  Gesamtergebnisses  sein  konnten, 
das  durch  jahrelange  Studien  und  viele  verborgene  Gedankenarbeit 
vorbereitet  sein  mußte.  Ob  sich  jedoch  Nietzsche  auf  Wagners  Vor- 
schlag hin,  seine  neuen  Ideen  zu  einem  Buche  zu  vereinigen,  über 
seine  innersten  Pläne  ausgesprochen  hat,  oder  ob  er  es  noch  zu  früh 
fand,    das    läßt  sich    heute    nicht    mehr  konstatieren,     da  ja  auch 


9 


hiefür  seine  Briefe  an  Wagner  fehlen.  Doch  soll  es  rückhaltslos 
anerkannt  werden,  daß  zwei  Menschen  von  solch  hoher 
Intelligenz  wie  Wagner  und  Frau  Cosima  es  sogleich 
fühlten,  daß  sich  hier  etwas  Neues  und  Überwältigendes 
ankündigte. 

Für  den  Meister  war  aber  inzwischen  wiederum  eine  Leidens- 
zeit hereingebrochen.  Von  drückenden  Geldsorgen  gequält,  war 
er  genötigt,  die  Aufführung  der  „Walküre"  in  München  zuzulassen, 
wiewohl  die  Theaterintendantur  sich  in  keiner  Weise  nach  Wagners 
Wünschen  richtete.  Allein  nur  um  den  Preis  dieses  Opfers  erkaufte 
er  sich  seine  materielle  Unabhängigkeit:  „dieses  wäre  denn  der 
Preis,  um  welchen  ich  mir  so  viel  bürgerliche  Ruhe  erkaufe,  um 
wenigstens  die  Komposition  meiner  Werke  ausführen  zu  können", 
schrieb  der  Meister  an  Klindworth.  Über  diese  Zwangsaufführung 
der  „Walküre"  empfand  Wagner  bitteren  Schmerz,  dem  er  auch  in 
den  kräftigsten  Worten  Luft  machte,  wie  er  es  denn  auch  allen 
seinen  Freunden  und  Bekannten  —  darunter  auch  Franz  Liszt  — 
sehr  übelnahm,  daß  sie  zur  Aufführung  nach  München  fuhren.  Aber 
auch  die  gleichzeitig  erfolgenden  r  Meistersinger  "-Aufführungen  in 
Wien  und  Berlin  bereiteten  dem  Meister  keine  Freude.  Daneben  gab 
es  noch  viele  andere  große  und  kleine  Unannehmlichkeiten :  Wagner 
stand  eben  wie  Zeit  seines  Lebens,  so  besonders  damals  nicht  nur 
im  Mittelpunkte  des  allgemeinsten  Interesses,  sondern  leider  auch 
des  Klatsches.  In  all  diesen  Fährnissen  stand  Nietzsche  unentwegt 
und  treu  seinem  großen  Freunde  zur  Seite,  nahm  sich  alle  diese 
Dinge  sehr  zu  Herzen,  und  wo  immer  er  eingreifen  und  Unan- 
genehmes verhüten  konnte,  tat  er  es  und  konnte  sich  in  seiner 
Fürsorge  für  Wagner  gar  nicht  genug  tun. 

Um  so  eifriger  war  man  im  engsten  Familienkreise  Wagners 
bestrebt,  vom  Meister  alles  Unangenehme  fernzuhalten  und  ihm 
jene  freudige  Stimmung  zu  verschaffen,  deren  er  bedurfte,  um  sich 
zum  Schaffen  an  seinem  gewaltigen  Nibelungenwerke  angeregt  zu 
fühlen.  Die  fünf  Kinder  Daniella,  Blandine,  Isolde,  Eva  und  Siegfried 
halfen  ihrer  Mutter  „unbewußt"  mit,  im  Hause  eine  frohe  Stimmung 
zu  verbreiten.  Nietzsche  erfreute  sich  bei  den  Kindern  größter 
Behebtheit:  er  war  der  „gute  Herr  Nützsche"  oder  der  „gute 
Herr  Fressor",  wiewohl  er  nach  Isoldens  Erklärung  „niemand 
freßt!" 


—     10     — 

Im  April  1870  wurde  Nietzsche  zum  Ordinarius  seines  Faches 
ernannt,  was  ihn  aber  keineswegs  mit  den  rosigsten  Empfindungen 
erfüllte.  Überangestrengt  durch  berufliche  Arbeit,  und  da  er  sich  die 
winterlichen  Unannehmlichkeiten,  die  Wagner  zuteil  geworden 
waren,  allzusehr  zu  Herzen  genommen  hatte,  hatte  er  Wagner 
gegenüber  wiederholt  schon  Andeutungen  gemacht,  ob  er  nicht  seine 
Professur  aufgeben  müsse,  um  sich  ganz  der  Verteidigung  des  ge- 
liebten Meisters  zu  widmen.  Dagegen  hatte  sich  der  Meister  auf  das 
ernstlichste  ausgesprochen;  denn  wenn  er  auch  wünschte,  daß  sich 
Nietzsche  ihm  und  seiner  Verteidigung  widmete,  so  sollte  er  dies 
doch  gerade  als  Universitätsprofessor  tun,  weil  Wagner  auf  dieses 
Amt  und  diesen  Titel  besonders  hohen  Wert  legte.  Als  daher 
Nietzsche  nach  einer  kurzen  Erholungsreise  nach  dem  Genfer  See 
nach  Basel  zurückgekehrt  war,  mit  seinen  Amtspflichten  sich  völlig 
ausgesöhnt  hatte  und  sich  eifrigst  neuen  philologischen  Arbeiten 
widmete,  war  niemand  anderer  damit  mehr  zufrieden  als  Wagner. 
So  schrieb  er  ihm:  „Ich  freue  mich,  daß  der  Ausflug  an  den  Genfer 
See  Sie  erheitern  konnte.  Jetzt,  wo  —  wie  ich  ersehe  —  die  Philo- 
logie ,grau  und  leibhaftig'  sich  Ihrer  Lebensregel  bemächtigt  hat, 
und  selbst  belustigende  Exkursionen  in  das  Reich  der  , Style'  Ihnen 
beschwerlich  fallen  dürften,  lassen  Sie  auch  mich  von  Allotrien 
schweigen:  vielleicht  trage  ich  auch  so  etwas  dazu  bei,  Sie  von 
manchen  verirrenden  Eindrücken  wieder  abzuleiten,  die  Ihnen  aus 
einer  Sphäre  sich  zudrängten,  in  welcher  mit  ganzem  Willen  die 
Welt  zu  ersehen  wiederum  ein  anderer  sich  für  berufen 
erachten  kann  oder  —  muß.  Jede  Ihrer  Mitteilungen  aber  zeigt  uns, 
wie  sehr  Sie  in  Anspruch  genommen  sind,  und  mir  muß  der  Selbst- 
vorwurf, Ihnen  —  wenn  auch  im  allerfreundlichsten  Sinne  —  lästig 
zu  werden,  nahe  treten." 

Leider  war  es  Nietzsche  auch  in  diesem  Jahre  nicht  möglich 
gewesen,  bei  Wagners  Geburtstagsfeier  anwesend  zu  sein,  dafür 
sandte  er  seinem  „pater  seraphicus"  einen  rührenden  Brief,  der  in 
dem  Wunsche  gipfelt,  Wagner  möge  ihm  auch  im  kommenden  Jahre 
das  bleiben,  was  er  ihm  letzten  Jahre  gewesen:  „der  Mystagoge  in 
den  Geheimlehren  der  Kunst  und  des  Lebens".  Unterschrieben  hatte 
er  sich  als  „einer  der  seligen  Knaben". 

In  seinem  Antwortschreiben  bedauerte  es  der  Meister  auf  das 
lebhafteste,    daß    der  Professor   in  Tribschen    nicht    anwesend   sein 


—    11   — 

konnte,  betonte  jedoch  die  Unannehmlichkeiten,  die  ihm  sein  Ver- 
leger Bonfantini  mit  der  Drucklegung  der  Autobiographie  bereitete. 
„Daß  ich  Ihnen,  Wertester,  nie  die  Einsicht  in  diese  Blätter  vor- 
enthalten werde,  bezweifeln  Sie  wohl  um  so  weniger,  als  Sie  wissen, 
daß  Sie  von  mir  vorzüglich  mit  dazu  bestimmt  sind,  über  meinen  Tod 
hinaus  ein  Wächter  über  diese  Andenken  an  mich  zu  sein." 

Nietzsche  gab  sich  inzwischen  alle  erdenkliche  Mühe,  seine 
nächsten  Freunde  mit  Wagner  in  nähere  Beziehung  zu  bringen,  und 
war  außerordentlich  glücklich,  als  ihm  dies  gelang.  Einem  Briefe 
an  Baron  Gersdorff  entnehme  ich  folgende  Stellen:  „Daß  wir  nun 
auch  über  Richard  Wagner  einig  sind,  ist  mir  ein  überaus  schätzens- 
werter Beweis  unseres  Zusammengehörens.  Denn  es  ist  nicht  leicht 
und  erfordert  einen  tüchtigen  Mannesmut,  um  hier  nicht  bei  dem 
fürchterlichen  Geschrei  irre  zu  werden.  Schopenhauer  muß  uns  über 
diesen  Konflikt  theoretisch  hinwegheben:  wie  es  Wagner  praktisch, 
als  Künstler,  tut.  Unseren  Juden  ist  vornehmlich  verhaßt  die  ide- 
alistische Art  Wagners,  in  der  er  mit  Schiller  am  stärksten  ver- 
wandt ist.  Für  mich  knüpft  sich  alles  Beste  und  Schönste  an  die 
Namen  Schopenhauer  und  Wagner,  und  bin  ich  stolz  und  glücklich, 
hierin  mit  meinen  nächsten  Freunden  gleichgestimmt  zu  sein."  Und 
so  wurden  denn  Rohde  und  Baron  Gersdorff  von  Wagner  eingeladen, 
wobei  der  schöne  und  ernste  Rohde  auf  den  Meister  den  angenehmsten 
Eindruck  machte.  Frau  Förster-Nietzsche  gegenüber  betonte  der 
Meister  wiederholt,  daß  ihr  Bruder  und  seine  Freunde  eine  neue 
wundervolle  Art  Mensch  sei,  die  er  bisher  nicht  für  möglich  hielt. 
Über  den  besonderen  Wunsch  der  Frau  Cosima  mußte  Nietzsche 
seine  beiden  Vorträge  „Das  griechische  Musikdrama"  und  „Sokrates 
und  die  Tragödie"  noch  einmal  sorgfältig  abschreiben  und  sie  ihr 
schenken.  Hocherfreut  drückte  sie  ihm  ihren  lebhaftesten  Dank 
hiefür  aus.  So  heißt  es  bezeichnenderweise  in  dem  Dankschreiben, 
daß  Nietzsches  neue,  aber  durchaus  treffende  Bezeichnung  des  Chors 
als  Einzelwesen  ihr  wiederum  gezeigt  habe,  wie  tief  musikalisch 
Nietzsche  sei,  und  vielleicht  habe  ihm  sein  großer  musikalischer 
Instinkt  den  Schlüssel  zu  dem  Kern  der  griechischen  Tragödie  ge- 
geben. Den  krönenden  Abschluß  aller  seiner  Ideen  werde  er  in 
des  Meisters  Werken,  in  Bayreuth,  erblicken  können. 

Ende  Juni  1870  erhielt  Nietzsche  von  Wagner  ein  scherzhaft 
abgefaßtes    Telegramm    mit   der    dringenden    Aufforderung,    ihn   in 


—     12     — 

Tribschen,  wo  bereits  Hans  Richter  sich  „dauernd  installiert"  hatte, 
zu  besuchen.  Nietzsche  leistete  dieser  Einladung  am  15.  Juli  Folge, 
während  seine  Schwester  bei  einer  ihr  bekannten  Familie  logierte. 
Eines  Tages  ward  nun  auch  Frau  Förster  in  den  Wagnerschen  Kreis 
eingeführt,  was  ihr  anfänglich  nicht  besonders  zu  böhagen  schien,  da 
das  illegitime  Zusammenleben  des  Meisters  mit  der  Baronin  v.  Bülow 
nicht  ohne  üble  Nachrede  besprochen  wurde.  Da  indes  eine  alte, 
vornehme  Basler  Dame  mit  den  Worten:  „Wo  Ihr  Bruder  Sie  hinführt, 
können  Sie  überall  hingehen",  alle  Bedenken  in  Nietzsches  Schwester 
zerstört  hatte,  begab  sie  sich  zu  Wagners,  wurde  freundhchst  auf- 
genommen und  lernte  es  allmählich  begreifen,  daß  Frau  Cosimas 
Entschluß,  ihren  bisherigen  Gatten  zu  verlassen,  wohl  das  höchste 
Opfer  war,  das  sie  dem  Genius  Wagners  und  seinem  Lebenswerke 
brachte.  So  entspann  sich  auch  zwischen  den  beiden  Frauen  ein 
inniges  Freundschaftsverhältnis.  Inzwischen  war  aber  der  deutsch- 
französische Krieg  ausgebrochen,  und  Nietzsche  wollte  unbedingt 
seiner  patriotischen  und  soldatischen  Pflicht  nachkommen.  Seine 
Teilnahme  am  Kriege  ist  ja  bekannt,  ebenso,  daß  er  sich  dort  die 
ersten  Keime  zu  seinem  späteren  schweren  Leiden  geholt  hat. 
Während  er  als  freiwilliger  Krankenpfleger  auf  den  Schlachtfeldern 
weilte,  vollzog  sich  in  Tribschen  ein  bedeutendes  Ereignis:  am 
25.  August  1870  wurden  Wagner  und  Frau  Cfosima  v.  Bülow  ge- 
traut, was  nach  Malwida  v.  Meysenbugs  Versicherung  Wagner  un- 
endUch  freute,  da  nun  endlich  einmal  seine  bürgerlichen  Verhältnisse 
in  Ordnung  kämen.  So  bedauerte  es  denn  der  Meister  aufs  tiefste, 
daß  sein  Freund  diesem  Trauungsakte  nicht  hatte  beiwohnen  können ; 
denn  gerade  er,  der  aus  einer  Familie  stammte,  die  mehrere  der 
tugendhaftesten  Generationen  hinter  sich  hätte,  habe  nach  Wagners 
eigenem  Geständnisse,  unter  dessen  illegalen  häuslichen  Verhältnissen 
„schrecklich  gelitten". 

Als  Schwerkranker  vom  Kriegsschauplatz  heimgekehrt,  beeilte 
sich  Nietzsche,  Wagner  seine  am  Schlachtfelde  gemachten  Erfahrungen, 
die  den  Grundstein  zu  seiner  späteren  heroischen  Philosophie  bilden 
sollten,  in  einem  ausführlichen  Briefe  mitzuteilen  und  Wagners  Sohn 
anläßlich  dessen  Taufe,  die  gleichfalls  in  seiner  Abwesenheit  erfolgt 
war,  „ein  fröhliches  Glückauf"  zu  entbieten.  Als  Rekonvaleszent 
begab  sich  Nietzsche  nach  Basel,  um  seine  Lehrtätigkeit  wieder  auf- 
zunehmen. In  der  Zwischenzeit  hatte  Wagner  seine  Schrift  „Beethoven" 


—     13     — 

vollendet  und  schickte  sie  nun  nach  Basel  als  „liebevolle  Begrüßung", 
worauf  ihm  Nietzsche  antwortete:  „In  dem  ersten  Anstürme  des 
neuen  Semesters  konnte  mir  nichts  Erquicklicheres  geschehen  als 
die  Übersendung  Ihres  , Beethoven'.  Wieviel  mir  daran  liegen  mußte, 
Ihre  Philosophie  der  Musik  —  und  das  heißt  doch  wohl:  die  Philo- 
sophie der  Musik  kennen  zu  lernen,  könnte  ich  Ihnen  besonders  an 
einem  Aufsatze  deutlich  machen,  den  ich  für  mich  in  diesem  Sommer 
schrieb,  betitelt  ,Die  dionysische  Weltanschauung'.  In  der  Tat  habe 
ich  durch  dies  Vorstudium  erreicht,  daß  ich  die  Notwendigkeit  Ihrer 
Beweisführung  vollständig  und  mit  tiefsten  Genüsse  einsehe,  so  ent- 
legen der  Gedankenkreis,  so  überraschend  und  in  Staunen  versetzend 
alles  und  namentlich  die  Ausführung  über  Beethovens  eigentliche 
Tat  ist.  Doch  fürchte  ich,  daß  Sie  den  Ästhetikern  dieser  Tage  als 
ein  Nachtwandler  erscheinen  werden,  dem  zu  folgen  nicht  räthch, 
ja  gefährlich,  vor  allem  unmöghch  gelten  muß.  Selbst  die  Kenner 
Schopenhauerischer  Philosophie  werden  der  größten  Zahl  nach  außer- 
stande sein,  den  tiefen  Einklang  zwischen  Ihren  Gedanken  und 
denen  Ihres  Meisters  sich  in  Begriffe  und  Gefühle  zu  übersetzen. 
Und  so  ist  Ihre  Schrift,  wie  es  Aristoteles  von  seinen  esoterischen 
Schriften  sagt,  zugleich  herausgegeben  und  nicht  herausgegeben.  Ich 
möchte  glauben,  daß  Ihnen  dem  Denker  zu  folgen  in  diesem  Falle 
nur  für  den  möglich  ist,  dem  der  , Tristan'  vornehmlich  sich  ent- 
siegelt hat."  Der  Schluß  des  Briefbogens  ist  im  Original  von  un- 
bekannter Hand  abgerissen. 

Nun,  dieser  Brief  ist  wohl  eines  der  rührendsten  Zeugnisse  für 
Nietzsches  angeborene  Höflichkeit  und  seinen  Zartsinn.  Anstatt 
nämlich  Wagner  daran  zu  erinnern,  daß  er  ihm  den  Vortrag  „Über 
die  dionysische  Weltanschauung"  bereits  Anfang  August  in  Tribschen 
vorgelesen  hatte,  tut  er  so,  als  ob  er  dies  vergessen  hätte,  damit 
Wagner  nicht  darauf  aufmerksam  gemacht  werde,  daß  er  einige 
Ideen  Nietzsches,  ehe  dieser  sie  selbst  veröffentlichte,  in  seinem 
„Beethoven"  vorweggenommen  hatte.  Er  drückt  ihm  nur  für  die 
Gleichheit  seiner  Ansichten  seine  innigste  Freude  aus.  Nicht  im 
mindesten  zürnte  er  deshalb  dem  Meister,  sondern  feierte  dieses  Jahr 
das  Weihnachtsfest  in  Tribschen,  in  Wagners  engstem  Familienkreise, 
bei  welcher  Gelegenheit  er  Zeuge  der  Uraufführung  des  „Tribschenei- 
Idylls",  später  „Siegfried  Idyll"  genannt ,  wurde,  das  der  Meistej 
seiner  Gattin  zu  Ehren  als  sinnigen  Geburtstagsgruß  komponiert  hatte. 


—     14     — 

Zu  Beginn  des  Jahres  1871  sehen  wir  Nietzsche  auf  das  eifrigste 
mit  der  Arbeit  an  seinem  großen  Griechenbuche  beschäftigt,  immer 
neue  Gedanken  strömten  ihm  zu,  aber  nur  einen  Teil  derselben 
begann  er  zusammenzufassen;  jedoch  war  diese  Zusammenfassung 
noch  ohne  jede  Beziehung  zu  Wagner  und  seiner  Kunst.  Mitten  in 
diesen  Arbeiten  mußte  Nietzsche  plötzlich  abbrechen.  Denn  sein  Zu- 
stand, der  nach  seiner  Rückkehr  nach  Basel  sehr  schwankend  ge- 
worden war,  hatte  sich  infolge  der  angestrengten  Tätigkeit  zusehends 
verschlechtert.  Wagner  war  über  diese  Erkrankung  sehr  erschrocken : 
hatte  er  doch  gehofft,  nunmehr  jeden  Sonnabend  und  Sonntag  seinen 
Freund  bei  sich  beherbergen  zu  können,  wo  unter  Hans  Richters 
Leitung  Beethoven-Quartett-Abende  arrangiert  worden  waren.  Über 
ärztliches  Anraten  begab  sich  Nietzsche  zur  Erholung  nach  Lugano, 
während  Wagner,  ungemein  patriotisch  gesinnt,  an  seinem  Kaiser- 
marsch komponierte;  denn  mit  dem  Siege  der  Deutschen  erwartete 
er  auch  den  Sieg  seiner  Kunst.  Als  Nietzsche  Anfang  April  von 
seinem  Urlaube  zurückkehrte,  mußte  er  über  Wagners  ausdrücklichen 
Wunsch  nach  Tribschen  kommen  und  dem  Meister  aus  seiner  neuen 
Griechenschrift  vorlesen.  Dieser  Aufenthalt  muß  nun  für  Nietzsche 
mit  einer  sehr  großen  Enttäuschung  verbunden  gewesen  sein.  Denn 
gerade  infolge  seiner  Feinfühligkeit  war  es  ihm  nicht  entgangen, 
daß  Wagner  sich  der  bestimmten  Hoffnung  hingegeben  habe,  diese 
neue  Schrift  Nietzsches  werde  irgendwie  zur  Verherrlichung  seiner 
Kunst  dienen.  So  begeistert  indes  Nietzsche  für  Wagner  und  dessen 
Kunst  war,  so  sträubte  sich  zunächst  doch  die  Gewissenhaftigkeit 
des  Gelehrten,  in  dieser  Schrift,  die  damals  den  Titel  „Griechische 
Heiterkeit"  hatte,  so  Verschiedenartiges  miteinander  zu  verknüpfen, 
wie  Hellenentum  und  Wagnertum.  Aber  die  Rücksicht  auf  den 
Freund  siegte  und  zerstreute  alle  Bedenken  des  Gelehrten;  denn 
sobald  er  nach  Basel  zurückgekehrt  war,  ergab  er  sich  mit  größtem 
Eifer  einer  gründlichen  Umarbeitung  des  Werkes,  schied  einige 
Kapitel  aus  und  beschränkte  sich  nunmehr  auf  das  Problem  der 
griechischen  Tragödie,  um  sie  mit  dem  Hinweis  auf  Wagners  Kunst 
verbinden  zu  können. 

Mittlerweile  hatten  Wagners  eine  Rundreise  durch  deutsche 
Städte  gemacht,  bei  welcher  Gelegenheit  in  Bayreuth  der  damals 
noch  kühne  Gedanke  gefaßt  wurde,  hier  für  Wagners  Werke  ein 
eigenes    Festspielhaus    zu    erbauen,     da    das    alte     markgräfliche 


->     15     — 

Rokokotheater  hiefür  als  ungeeignet  befunden  wurde.  Nach  ihrer 
Rückkehr  nach  Tribschen  verlebte  Nietzsche  mit  seiner  Schwester 
die  Pfingstferien  in  Wagners  Hause.  Gerne  schenken  wir  Frau  Förster 
unseren  Glauben,  wenn  sie  diese  Tage  zu  den  schönsten  Erinnerungen 
ihres  Lebens  zählt.  „Niemals,  weder  vorher  noch  nachher,  habe  ich 
in  der  Unterhaltung  drei  so  verschiedener  Menschen  einen  gleichen 
wundervollen  Zusammenklang  wiedergefunden;  jeder  hatte  seine 
eigene  Note,  sein  eigenes  Thema  und  betonte  es  mit  aller  Kraft,  und 
doch,  welch  prachtvolle  Harmonie!  Jede  dieser  eigenartigen  Naturen 
war  auf  ihrer  Höhe,  leuchtete  in  ihrem  eigenen  Glänze,  und  doch 
verdunkelte  keiner  den  anderen!"  Während  Nietzsche  den  Sommer 
in  Grimmelwald  bei  Lauterbrunn  verlebte,  gab  es  in  Tribschen  sehr 
viel  Besuch.  Denn  jetzt,  wo  die  häuslichen  Verhältnisse  Wagners 
in  bester  Ordnung  waren,  strömten  von  allen  Seiten  die  alten 
Freunde  und  Bekannten  herbei,  so  daß  Nietzsche  sich  nicht  ver- 
pflichtet fühlte,  Wagners  so  wie  früher  in  ihrer  Einsamkeit  auf- 
zusuchen. Trotz  seiner  großen  Liebe  für  Wagner  empfand  er  bei 
dem  starken  Einfluß,  den  Wagner  auf  ihn  ausübte,  daß  dies  eine 
Erleichterung  sei,  was  von  Wagner  im  stillen  wohl  bemerkt  und  im 
mündlichen  und  schriftlichen  Verkehr  angedeutet  wurde. 

Die  folgenden  Tage  und  Monate  waren  für  Nietzsche  mit 
schweren  Sorgen  erfüllt  wegen  der  Verlagsübernahme  seines  Griechen- 
buches durch  einen  Verleger.  Da  der  Leipziger  Verleger  Engelmann 
schon  seit  langem  das  Manuskript  besaß,  aber  nichts  von  sich  hören 
ließ,  beschloß  Nietzsche  auf  den  Rat  seiner  beiden  Freunde  Rohde 
und  Gersdorff,  das  Manuskript  von  Engelmann  zurückzuverlangen 
und  an  Wagners  Verleger  E.  W.  Fritzsch  einzusenden,  der  die 
Schrift  nach  einigem  Zögern  akzeptierte.  Sobald  Nietzsche  diese 
Angelegenheit  geordnet  sah,  glaubte  er  in  der  Tat,  noch  etwas  mehr 
in  Hinsicht  auf  Einmischung  von  Gedanken,  die  Wagner  und  seme 
Kunst  betrafen,  wagen  zu  können  und  fügte  dem  Manuskript  noch 
ziemlich  viel  hinzu.  Er  schrieb  darüber  an  Rohde:  „Der  ganze  letzte 
Dir  noch  unbekannte  Teil  wird  Dich  gewiß  in  Erstaunen  setzen,  ich 
habe  viel  gewagt  und  darf  mir  aber  in  einem  ganz  enormen  Sinne 
zurufen:  animam  salvavi;  weshalb  ich  mit  großer  Befriedigung  der 
Schrift  gedenke  und  mich  nicht  beunruhige,  ob  sie  gleich  so  an- 
stößig wie  möglich  ausgefallen  ist  und  von  einigen  Seiten  geradezu 
ein  Schrei   der  Entrüstung  bei  ihrer  Publikation  laut  werden  wird." 


—     16     — 

Aber  trotz  alledem  muß  es  hier  offen  ausgesprochen  werden,  daß 
Nietzsche  schon  zu  jener  Zeit  wiederholt  Andeutungen  machte,  wie- 
viel eigene,  aber  andere  Ansichten  er  Wagner  zuliebe  unterdrückt 
habe.  „Von  der  Art,"  schreibt  er  an  Rohde,  „wie  so  ein  Buch  entsteht, 
von  der  Mühe  und  Qual,  gegen  die  von  allen  Seiten  andringenden 
anderen  Vorstellungen  sich  bis  zu  dem  Grade  rein  zu  halten,  von 
dem  Mut  der  Konzeption  und  der  Ehrlichkeit  der  Ausführung  hat  ja 
niemand  einen  Begriff:  am  allerwenigsten  vielleicht  von  der  enormen 
Aufgabe,  die  ich  Wagner  gegenüber  hatte,  und  die  wahrlich  in 
meinem  Innern  viele  und  schwere  Kontristationen  verursacht  hat.''' 
Wagner  selbst  hatte  keine  Ahnung  davon,  wie  sehr  die  Schrift 
Nietzsches  mit  ihm,  resp.  der  durch  ihn  vertretenen  Kunstrichtung 
zusammenhing.  Er  wollte  darüber  vorher  nichts  verraten  und  hatte 
selbst  die  Schwester  dringend  ermahnt,  davon  auch  nicht  das  Ge- 
ringste verlauten  zu  lassen. 

An  dem  Konzert,  das  Wagner  unter  seiner  persönlichen  Leitung, 
um  dem  Bayreuther  Unternehmen  hilfreiche  Freunde  zu  gewinnen, 
in  Mannheim  gab,  nahm  auch  Nietzsche  teil.  Das  Programm  enthielt 
unter  anderem  Wagners  Kaisermarsch,  das  Lohengrin-Vorspiel,  das 
Vorspiel  zu  den  Meistersingern,  Vorspiel  und  Schlußsatz  aus  Tristan 
und  Isolde.  Dieses  Konzert  war  für  Nietzsche  einer  der  tiefsten 
Eindrücke  seines  Lebens.  Er  schreibt  an  Rohde:  „Ach,  mein  Freund! 
Daß  Du  nicht  dabei  sein  konntest!  Was  sind  alle  sonstigen  künst- 
lerischen Erinnerungen  und  Erfahrungen,  gemessen  an  diesen  aller: 
letzten!  Mir  ging  es  wie  Einem,  dem  eine  Ahnung  sich  endlich 
erfüllt.  Denn  genau  das  ist  Musik  und  nichts  sonst!  Und  genau 
das  meine  ich  mit  dem  Wort  , Musik',  wenn  ich  das  Dionysische 
schildere  und  nichts  sonst!  Wenn  ich  mir  aber  denke,  daß  nur  einige 
hundert  Menschen  aus  der  nächsten  Generation  das  von  der  Musik 
haben,  was  ich  von  ihr  habe,  so  erwarte  ich  eine  völlig  neue  Kultur! 
Alles  was  übrig  bleibt  und  sich  gar  nicht  mit  Musikrelationen  er- 
fassen lassen  will,  erzeugt  bei  mir  freiUch  mitunter  geradezu  Ekel 
und  Abscheu.  Und  wie  ich  vom  Mannheimer  Konzert  zurückkam, 
hatte  ich  wirklich  das  sonderbar  gesteigerte  übermächtige  Grauen 
vor  der  Tageswirkhchkeit :  weil  sie  mir  gar  nicht  mehr  wirklich 
erschien,  sondern  gespenstig."  Die  Weihnachtsferien  1871  verlebte 
Nietzsche  einsam  in  Basel,  da  er  Zeit  and  Einsamkeit  nötig  hatte 
um  seine  sechs  Vorträge   „Über  die  Zukunft  der  Bildungsanstalten" 


—     17     — 

auszuarbeiten.  Sein  neues  Werk  „Die  Geburt  der  Tragödie  aus  dem 
Geiste  der  Musik"  war  schon  mehrere  Wochen  im  Druck  vollendet 
und  er  wartete  jeden  Tag  darauf,  daß  die  fertigen  Exemplare  an- 
kämen, um  sie  nach  Tribschen  zu  schicken  und  Wagner,  da  sie 
keine  Weihnachtsgabe  mehr  sein  konnte,  wenigstens  eine  Neujahrs- 
freude damit  zu  bereiten. 

Am  2.  Jänner  1872  sandte  Nietzsche  das  Buch  nach  Tribschen. 
„Endlich  kommt  mein  Neujahrswunsch  und  meine  Weihnachtsgabe. 
Möge  meine  Schrift  wenigstens  in  irgendeinem  Grade  der  Teilnahme 
entsprechen,  die  Sie  ihrer  Genesis  bis  jetzt,  wirklich  zu  meiner  Be- 
schämung, zugewandt  haben.  Und  wenn  ich  selbst  meine,  in  der 
Hauptsache  recht  zu  haben,  so  heißt  das  nur  so  viel,  daß  Sie  mit 
Ihrer  Kunst  in  Ewigkeit  recht  haben  müssen.  Auf  jeder  Seite 
werden  Sie  finden,  daß  ich  Ihnen  nur  zu  danken  suche  für  alles  das, 
was  Sie  mir  gegeben  haben:  und  nur  der  Zweifel  beschleicht  mich, 
ob  ich  immer  recht  empfangen  habe,  was  Sie  mir  gaben.  Vielleicht 
werde  ich  später  einmal  manches  besser  machen  können:  und 
jSpäter'  nenne  ich  hier  die  Zeit  der  ,Erfüllung',  die  Bayreuther  Kultur- 
periode. Inzwischen  fühle  ich  mit  Stolz,  daß  ich  jetzt  gekennzeichnet 
bin  und  daß  man  mich  jetzt  immer  in  einer  Beziehung  zu  Ihnen 
nennen  wird.  Meiöen  Philologen  gnade  Gott,  wenn  sie  jetzt  nichts 
lernen  wollen.  Ich  werde  beglückt  sein,  verehrtester  Meister,  wenn 
Sie  diese  Schrift,  am  Beginn  des  neuen  Jahres,  als  ein  gutes  und 
freundhches  Wahrzeichen  entgegennehmen  wollen.  Unter  Segens- 
wünschen für  Sie  und  Ihr  Haus  und  mit  heißem  Dank  lür  Ihre 
Liebe  bin  ich,  der  ich  war  und  sein  werde,  Ihr  getreuer  Friedrich 
Nietzsche."  Darauf  antwortete  Wagner:  „Schöneres  als  Ihr  Buch 
habe  ich  noch  nichts  gelesen!  Alles  ist  herrUch!  Nun  schreibe  ich 
Ihnen  schnell,  weil  die  Lektüre  mich  übermäßig  aufregte  und  ich 
erst  Vernunft  abwarten  muß,  um  es  ordentlich  zu  lesen.  —  Zu 
Gosima  sagte  ich,  nach  ihr  kämen  gleich  Sie:  dann  lange  kein 
anderer,  bis  zu  Lenbach,  der  ein  ergreifend  richtiges  Bild  von  mir 
gemalt  hat!  —  Beachten  Sie,  was  ich  Ihnen  schrieb  —  übrigens 
im  Betracht  der  Sache,  Gleichgültiges.  —  Adieu!  Kommen  Sie  bald 
auf  einen  Husch  herüber,  dann  soll  es  dionysisch  hergehen!  Ihr  R.  W." 
Cosima  schrieb  zunächst  nur  eine  Empfangsbestätigung,  dann  aber 
in  tiefer  Ergriöenheit,  daß  das  Einzige,  was  sie  und  ihren 
Gatten  beschäftige   und   bekümmere,    nur  Nietzsche    sei;    es  dünke 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  2 


—     18     — 

sie,  daß  es  nur  einen  Wagner- All  wissenden  gebe,  und  dieser  sei  — 
Nietzsche. 

Die  Freundesbriefe,  die  von  höchster  Bewunderung  für  den 
Autor  und  sein  Werk  erfüllt  waren,  sodann  das  erschrockene  Er- 
staunen derer,  die  Nietzsche  zwar  wohlgesinnt  waren,  aber  beim 
Lesen  seines  Werkes  „gehnden  Schauder"  empfanden  —  alles  das 
erschütterte  ihn  aufs  tiefste.  Er  wurde  krank  und  befürchtete,  zum 
Glück  grundlos,  daß  der  Zustand  des  vorigen  Jahres  sich  wieder- 
holen könnte.  Wohl  aber  wurde  er  dadurch  verhindert,  der  dringenden 
Einladung  nach  Tribschen  Folge  zu  leisten,  zumal  ihn  die  Nieder- 
schrift seiner  Vorträge  „Über  die  Zukunft  unserer  Bildungsanstalten" 
sehr  in  Anspruch  nahm.  Wagner  konnte  sich  das  Fernbleiben  seines 
Freundes  nicht  erklären:  denn  soeben  hatte  ihm  dieser  in  so  stür- 
mischen Worten  seine  Bewunderung  ausgedrückt  und  nun  schwieg 
er  beharrlich.  Wagners  angebornes  Mißtrauen  begann  sich  zu  regen 
und  in  einem  Briefe  machte  er  auch  kein  Hehl  daraus ;  der  Meister 
argwöhnte,  Nietzsche  habe  die  Veröffentlichung  seines  Buches  bereits 
bereut!  Dem  war  aber  gewiß  nicht  der  Fall;  denn  Nietzsche  hatte 
sich  vielmehr  bemüht,  an  alle  Freunde  und  Bekannte  des  Wagnerschen 
Kreises  Exemplare  seines  Buches  zu  schicken.  Ja,  sogar  an  den 
König  Ludwig  mußte  der  Autor,  von  Wagner  gedrängt,  ein  Exemplar 
absenden. 

Das  Jahr,  das  so  freudig  und  zukunftsfroh  für  beide  Männer  be- 
gonnen hatte,  sollte  aber  gar  bald  zu  schweren  Krisen  führen.  Denn 
Ende  Jänner  traf  Wagner  auf  der  Durchreise  nach  Berlin  in  Basel 
ein  und  schüttete  Nietzsche  sein  Herz  aus.  Man  hatte  ihn  nämhch 
nach  Berlin  berufen  durch  die  Mitteilung,  daß  dort  jemand  200.000  Taler 
zusammenbringen  wolle,  so  daß  auch  vor  der  Zeichnung  der  Patronats- 
scheine  mit  vollem  Vertrauen  mit  dem  Baue  des  eigenen  wie  des 
Festspielhauses  in  Bayreuth  begonnen  werden  konnte.  Wagner  aber 
leistete  dieser  Aufforderung  nur  ungern  Folge,  denn  diese  Reise  riß 
ihn  mitten  aus  der  Komposition  am  HL  Akte  der  „Götterdämmerung" 
heraus,  und  außerdem  hatte  er  nicht  das  rechte  Vertrauen  zu  dieser 
Sache.  Da  erging  er  sich  denn  in  leidenschafthchen  Klagen  über  die 
drückenden  Sorgen  und  gab  auch  seinem  Unmut  darüber  Ausdruck, 
„daß  alles  auf  ihm  läge,  daß  ihm  niemand  in  solchen  Dingen  zur 
Seite  stünde"  usw.  usw.  Nietzsche  war  tief  erschüttert,  den  geliebten 
Meister  so  leiden  zu  sehen;  er  tröstete  ihn,  soviel  er  konnte,  da  er 


—     19     — 

im  Gegensatz  zu  Wagner  an  die  damals  phantastische  Möglichkeit 
einer  solchen  plötzlichen  Hilfe  glaubte,  zumal  auch  eine  günstige 
Nachricht  gerade  in  Basel  eintraf.  Am  liebsten  wäre  er  mit  ihm 
nach  Berlin  gereist;  da  sein  Amt  ihn  daran  hinderte,  schrieb  er  an 
Baron  Gersdorff,  seine  Stelle  bei  Wagner  einzunehmen:  „Du  wirst 
verwundert  sein,  Wagner  so  plötzlich  bei  Dir  zu  sehen.  Ich  beschwöre 
Dich,  alles  zu  tun,  zu  sehen,  zu  empfinden,  was  ihm  in  einem  so 
wichtigen  Moment  von  Wert  sein  kann.  Ich  übertrage  auf  Dich  für 
diese  Tage  alles  das,  was  ich  für  ihn  empfinde,  und  bitte  Dich,  so 
zu  handeln,  als  ob  Du  ich  wärst."  Gersdorff  entsprach  vollständig 
dem  in  ihn  gesetzten  Vertrauen.  Daher  schrieb  Nietzsche  dankbar 
dem  hilfsbereiten  Freunde:  „Was  Du  auch  tun  magst  —  denke 
daran,  daß  wir  beide  mit  berufen  sind,  an  einer  Kulturbewegung 
unter  den  ersten  zu  kämpfen  und  zu  arbeiten,  welche  vielleicht  in 
der  nächsten  Generation,  vielleicht  noch  später,  der  größeren  Masse 
sich  mitteilt.  Dies  sei  unser  Stolz,  dies  ermutige  uns:  im  übrigen 
habe  ich  den  Glauben,  daß  wir  nicht  geboren  sind,  glücklich  zu 
sein,  sondern  unsere  Pflicht  zu  tun;  und  wir  wollen  uns  segnen, 
wenn  wir  wissen,  wo  unsere  Pflicht  ist."  Dieses  Pflichtgefühl  bewog 
Nietzsche  nochmals,  den  Meister  seiner  BereitwiUigkeit  zu  versichern, 
auf  Amt  und  Würden  zu  verzichten,  um  sich  ganz  dem  Meister  zu 
widmen:  „Es  scheint  jetzt  der  Moment  zu  sein,  in  dem  der  Bogen 
endlich  gespannt  wird  —  nachdem  er  lange  mit  schlaffen  Sehnen 
dahing.  Daß  Sie  es  aber  auch  sein  müssen,  der  dies  tut!  Daß  doch 
alles  zuletzt  auf  Sie  zurückgeht!  Ich  empfinde  meine  jetzige  Existenz 
als  einen  Vorwurf  und  frage  Sie  aufrichtig  an,  ob  Sie  mich  brauchen 
können. " 

Wir  wissen  bereits,  daß  Wagner  in  wahrhaft  väterUcher  Be- 
sorgnis seinem  jungen  Freunde  ernstlich  davon  abgeraten  hatte,  auf 
seine  schöne  Stellung  ihm  zuliebe  zu  verzichten.  Jetzt  aber  lagen 
die  Dinge  ganz  anders:  der  Bayreuther  Gedanke  reifte  tatsächhch 
der  Verwirklichung  entgegen.  Zudem  hatte  der  Mannheimer  Emil 
Heckel  Wagner  den  Rat  gegeben,  einen  Freund  in  den  deutschen 
Städten  herumzuschicken,  damit  er  über  das  Bayreuther  Unternehmen 
aufklärende  Vorträge  halte.  Niemand  eignete  sich  nach  Wagners 
Überzeugung  hiefür  mehr  als  Nietzsche:  denn  er,  der  durch  die 
Herausgabe  seines  ersten  Werkes  im  Mittelpunkt  des  allgemeinen 
Interesses  stand,  werde  mit  spielender  Leichtigkeit  die  breite  Öffent- 

2* 


—     20     — 

lichkeit  zum  Verständnis  und  zur  Erfüllung  seiner  Pläne  hinreißen. 
Und  in  der  Tat:  Nietzsche  war  bereit,  mit  Verzicht  auf  sein  Amt, 
sich  dieser  Aufgabe  zu  unterziehen.  Allerdings  kam  ihm  dieser  Ent- 
schluß keineswegs  aus  leichtem  Herzen;  aber  die  Überzeugung,  er 
stehe  dem  Meister  am  nächsten,  legte  ihm  diese  höchste  Verpflichtung 
auf,  sich  rest-  und  selbstlos  jenem  zu  widmen.  Von  solchen  Emp- 
findungen ist  ein  Brief  an  Rohde  getragen,  dem  er  sich  gerne  an- 
vertraut hätte:  „Warum  leben  wir  nicht  beieinander!  Denn  was  ich 
jetzt  alles  auf  dem  Herzen  trage  und  für  die  Zukunft  vorbereitet, 
ist  in  Briefen  auch  nicht  einmal  zu  berühren.  Ich  habe  mit  Wagner 
eine  Alliance  geschlossen.  Du  kannst  Dir  gar  nicht  denken,  wie  nahe 
wir  uns  jetzt  stehen  und  wie  unsere  Pläne  sich  berühren  . . .  Ein 
ungeheurer  Ernst  erfaßt  mich  bei  allem,  was  ich  über  mein  Buch 
vernehme,  weil  ich  in  solchen  Stimmen  die  Zukunft  dessen,  was 
ich  vorhabe,  errate.  Das  Leben  wird  noch  sehr  schwer." 

„Sehr  glücklich"  kehrte  Wagner  aus  Berlin  nach  Tribschen 
zurück,  von  wo  er  sofort  an  Nietzsche  schrieb;  aus  diesem  Briefe 
erhellt,  daß  die  Andeutungen,  die  er  Nietzsche  seinerzeit  in  Basel 
gemacht  hatte,  seinen  innersten  Wunsch  verraten  hatten,  daß  er 
aber  in  seiner  väterlichen  Liebe  zu  dem  jungen  Freunde  noch  immer 
zögerte,  das  Opfer,  zu  dem  jener  sich  erbot,  anzunehmen.  „Fast 
war  ich  in  Berlin  erschrocken,  in  Basel  so  deutlich  von  Ihnen  ver- 
standen worden  zu  sein !  Gersdorff  wird  Ihnen  viel  berichtet  haben ; 
vor  ihm  ging  alles  offen  her.  Nur  Bayreuth  kennt  er  noch  nicht: 
dort  habe  ich  tief  erfreuen  de  Wohltaten  empfangen.  Sie  boten  sich 
mir  nach  Berhn  an?  Einen  kleinen  Gebrauch  mache  ich  sogleich 
davon.  Ich  habe  mehrere  Tage  der  kompliziertesten  Korrespondenz 
vor  mir.  Helfen  Sie  mir!"  Wagners  Zögern,  Nietzsches  Opfer  an- 
zunehmen, hätte  Nietzsche  vielleicht  veranlaßt,  seinen  Plan,  in 
verschiedenen  Städten  Vorlesungen  zugunsten  Bayreuths  zu  halten, 
auf  längere  Zeit  hinauszuschieben.  Aber  nun  war  ihm  der  Gedanke 
gekommen,  seinen  Freund  Rohde  mit  diesem  selben  Plane  von  dem 
Privatdozenttume  zu  erlösen.  Rohde  sollte  seine  Stelle  an  der  Baseler 
Universität  bekommen,  und  zwar  schon  fürs  nächste  Wintersemester, 
während  er  selbst  dann  seine  Vortragsreise  antreten  wollte.  Zwei 
Freunden  zu  gleicher  Zeit  zu  helfen,  schien  ihm  entzückend. 


II.  BAYREUTH.    DIE  GRUNDSTEINLEGUNG  DES 
FESTSPIELHAUSES. 

Die  Berliner  Angelegenheit,  die  sich  so  vielsprechend  angelassen 
hatte,  sollte  sich  leider  als  eine  große  Enttäuschung  erweisen,  so 
daß  die  Fixierung  der  Grundsteinlegungsfeier  in  Bayreuth  mit  dem 
22,  Mai  1872  etwas  verfrüht  erschien.  Aber  mit  staunenswerter  Energie 
überwand  Wagner  auch  diesen  harten  Schlag:  er  blieb  unermüdlich 
tätig,  stark  im  Glauben  an  seine  gerechte  Sache,  ungebeugt,  tapfer 
und  aufrecht,  lauter  Eigenschaften,  die  Nietzsche  im  höchsten  Grade 
entzückten.  Und  in  der  Tat :  für  jeden,  der  ein  hehres  Ziel  vor  sich 
hat,  muß  Wagners  Verhalten  ein  leuchtendes  Beispiel  sein.  Daher 
kann  und  muß  es  höchst  gleichgültig  sein,  ob  alle  die  Wege,  die 
er  beschritt,  um  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen,  erfreulich  sind.  Nur 
weil  Wagner  von  so  starkem  Glauben  an  das  Gelingen  seines 
Werkes  getragen  wurde,  weil  er  von  seinem  hehren  Künstlertum 
so  felsenfest  überzeugt  war,  ist  es  zu  erklären,  daß  so  real  und 
nüchtern  denkende  Männer  wie  Heckel,  Feustel  und  Muncker  sich 
trotz  aller  anstürmenden  Schwierigkeiten  mannhaft  für  Wagners 
Pläne  einsetzten.  Mit  aufrichtigster  Teilnahme  und  neidloser  Be- 
wunderung verfolgte  Nietzsche  mit  seinen  Freunden  jede  Phase  in 
der  Entwicklung  dieses  Kulturproblemes. 

Da  demnach  das  Bayreuther  Unternehmen  gesichert  erschien, 
mußte  Wagner  daran  denken,  seine  Tribschener  Einsamkeit  aufzu- 
geben und  in  die  Welt  zurückzukehren.  So  kam  denn  auch  für 
Nietzsche  die  schwere  Stunde  des  Abschieds  von  der  „seligen  Insel". 
Als  er  Ende  April  bei  Wagner  eintraf,  war  Frau  Cosima  mit  dem 
Einpacken  beschäftigt.  Nietzsche  setzte  sich  an  den  Flügel  und 
begann  zu  phantasieren.  All  sein  Schmerz,  unaussprechliche  Hoff- 
nungen und  Befürchtungen,  holde  Erinnerungen  und  das  Gefühl, 
daß  hier  etwas  Unwiederbringliches  verloren  ging,  klang  in  seinen 
wunderbaren  Melodien  jubelnd  und  wehklagend  durch  die  verödeten 


—     22     - 

Räume.  Noch  in  späten  Jahren,  als  sich  alle  Empfindungen  der 
Freundschaft  geändert  hatten,  erinnerte  sich  Frau  Cosima  jener 
seltsam  faszinierenden,  tief  zu  Herzen  gehenden  Phantasie.  Er 
schreibt  an  Baron  Gersdorff :  „Vorigen  Sonnabend  war  trauriger  und 
tiefbewegter  Abschied  von  Tribschen.  Tribschen  hat  nun  aufgehört: 
wie  unter  lauter  Trümmern  gingen  wir  herum,  die  Rührung  lag 
überall,  in  der  Luft,  in  den  Wolken,  der  Hund  fraß  nicht,  die 
Dienerfamilie  war,  wenn  man  mit  ihr  redete,  in  beständigem 
Schluchzen.  Wir  packten  die  Manuskripte,  Briefe  und  Bücher  zu- 
sammen—  ach,  es  war  so  trostlos!  Diese  drei  Jahre,  die  ich  in 
der  Nähe  von  Tribschen  verbrachte,  in  denen  ich  23  Besuche  dort 
gemacht  habe  —  was  bedeuten  sie  für  mich!  Fehlten  sie  mir,  was 
wäre  ich !  Ich  bin  glücklich,  in  meinem  Buche  mir  selbst  jene 
Triebschener  Welt  petrifiziert  zu  haben." 

War  es  Schicksalsfügung?  Als  Wagner  und  Nietzsche  Tribschen 
verließen  und  der  Meister  im  Strome  des  in  Bayreuth  sich  auf- 
tuenden Lebens  unterging,  begannen  am  Horizonte  dieser  Freund- 
schaft die  Wolken  der  ersten  Mißverständnisse  langsam  aufzuziehen. 
Eine  neue  Welt  hatte  sich  aufgetan,  von  der  bisherigen  durch  eine 
abgrundtiefe  Kluft  getrennt.  Selbst  Frau  Cosima  gedachte  noch 
später  dieser  mühevollen  Unruhe  der  Festspiele,  die  bei  weitem 
nicht  das  gewesen  waren,  was  man  sich  in  seinen  Träumen  vorher 
so  schön  vorgestellt  hatte,  und  so  schrieb  sie  denn  am  Neujahrstage 
1877:  „Am  Sylvestermorgen  gedachten  wir  Ihrer  Besuche  und  es 
war,  als  ob  die  Festspiele  selbst  den  Zauber  dieser  Einsamkeit  nicht 
aufwiegen  konnten,  zu  welcher  wir  nun  blicken,  wie  zu  einem  ver- 
lorenen Paradies." 

Wie  bereits  erwähnt,  fand  am  22.  Mai  1872  die  feierliche 
Grundsteinlegung  des  Festspielhauses  statt.  Der  Andrang  der  Fest- 
gäste war  enorm,  und  Freund  Nietzsche  wurde,  nach  Rohdes  scherz- 
hafter Bemerkung,  vom  Meister  „wie  ein  seltenes  Schaugericht" 
herumgezeigt.  Was  Wagner  selbst  an  jenem  denkwürdigen  Tage 
empfunden  haben  mag,  das  hat  Nietzsche  wundervoll  nachgefühlt 
und  in  seiner  „IV.  Unzeitgemäßen"  in  unsterbliche  Worte  zu  kleiden 
versucht:  „Als  an  jenem  Maitage  des  Jahres  1872  der  Grundstein 
auf  der  Anhöhe  von  Bayreuth  gelegt  worden  war,  bei  strömendem 
Regen  und  verfinstertem  Himmel,  fuhr  Wagner  mit  einigen  von 
uns  zur  Stadt  zurück;    er   schwieg   und  sah  dabei  mit  einem  BUck 


—     23     — 

lange  in  sich  hinein,  der  mit  einem  Worte  nicht  zu  bezeichnen  wäre. 
Er  begann  an  diesem  Tage  sein  sechzigstes  Lebensjahr:  alles  Bis- 
herige war  die  Vorbereitung  auf  diesen  Moment.  Man  weiß,  daß 
Menschen  im  Augenblick  einer  außerordentUchen  Gefahr  oder  über- 
haupt in  einer  wichtigen  Entscheidung  ihres  Lebens  durch  ein  un- 
endhch  beschleunigtes  Schauen  alles  Erlebte  zusammendrängen  und 
mit  seltener  Schärfe  das  Nächste  wie  das  Fernste  wieder  erkennen. 
Was  Wagner  an  jenem  Tage  innerUch  schaute  —  wie  er  wurde, 
was  er  ist,  was  er  sein  wird  —  das  können  wir,  seine  Nächsten, 
bis  zu  einem  Grade  nachschauen :  und  erst  von  diesem  Wagnerischen 
Blick  aus  werden  wir  seine  große  Tat  selber  verstehen  können  — 
um  mit  diesem  Verständnis  ihre  Fruchtbarkeit  zu  ver- 
bürgen." 

Und  mit  heiligen  Entschlüssen  verließen  Nietzsche,  Kohde  und 
Gersdorfif  Bayreuth.  An  letzteren  schrieb  nachher  Nietzsche:  „Ach, 
mein  Freund,  wir  wissen,  was  wir  erlebt  haben.  Diese  heilig  ernsten 
Erinnerungen  wird  uns  niemand  rauben  können.  Durch  sie  gefeit 
und  für  sie  kämpfend,  müssen  wir  nun  durchs  Leben  gehen  und 
vor  allem  bestrebt  sein,  in  allen  unseren  Hauptschritten  so  ernst 
und  kräftig  als  möglich  zu  sein,  um  uns  jener  großen  Erlebnisse 
und  Auszeichnungen  würdig  zu  erweisen." 

Der  literarische  Streit,  der  nun  um  den  wissenschaftlichen  Wert 
oder  Unwert  der  „Geburt  der  Tragödie"  entbrannte  und  leidenschaft- 
lich geführt  wurde,  soll  später  ausführlicher  besprochen  werden. 
Hier  sei  nur  so  viel  mitgeteilt,  daß  Wagner  mannhaft  für  seinen 
Freund  eintrat,  was  diesen  tief  rührte.  Leider  ist  der  Brief,  mit  dem 
Nietzsche  Wagner  seinen  Dank  abstattete,  vernichtet.  Nietzsche 
vermutete  nämlich,  daß  der  Meister  in  seiner  Liebe  für  ihn  einiges 
achreiben  könnte,  was  ihm  seine  Stellung  in  der  Gelehrtenwelt  noch 
mehr  erschweren  würde.  Wagners  „Sendschreiben"  war  indes  besser 
und  schöner  ausgefallen,  als  er  zwar  geahnt  hatte.  Wagner  ver- 
hehlte sich  jedoch  nicht,  welchen  Schaden  sich  Nietzsche  durch 
seine  Parteinahme  für  ihn  zugefügt  hatte,  und  daß  seine  Veröffent- 
lichung dies  nicht  gebessert,  sondern  eher  noch  verschlimmert  haben 
könnte.  So  heißt  es  in  einem  Briefe  Wagners:  „0  Freund!  Nun 
machen  Sie  mir  eigentlich  nur  noch  Sorge,  und  zwar,  weil  ich  auf 
Sie  so  viel  gebe  I  Genau  genommen  sind  Sie,  nach  meiner  Frau, 
der  einzige  Gewinn,  den  mir  das  Leben  zugeführt:  nun  kommt  zwar 


—     24     — 

glücklicherweise  noch  Fidi  dazu ;  aber  zwischen  dem  und  mir  bedarf 
es  eines  Gliedes,  das  nur  Sie  bilden  können,  etwa  wie  der  Sohn 
zum  Enkel.  Für  Fidi  habe  ich  keine  Angst,  aber  für  Sie  und  inso- 
fern auch  für  Fidi.  Und  diese  Sorge  ist  recht  gemeinbürgerlich.  Daß 
ich  Ihnen  die  Wege  bräche,  habe  ich  aus  meinem  ,Briefe' 
gerade  nicht  ersehen  und  muß  vermeinen,  Ihnen  weiter  nichts  als 
eine  schöne  Last  auf  dem  Halse  gelassen  zu  haben;  auch  meinte 
ich  nicht,  daß  Sie  für  Ihre  Aufgabe  ,reifen'  sollten,  sondern  eben 
nur,  daß  Sie  Ihr  Leben  lang  vollauf  damit  zu  tun  haben  würden." 
Ich  glaube,  schon  jetzt  die  Behauptung  aufstellen  zu  können, 
daß  es,  wie  aus  dieser  und  anderen,  bereits  zitierten,  Äußerungen 
unzweideutig  erhellt,  "Wagner  hauptsächlich  darauf  ankam,  Nietzsches 
geniale  Begabung  für  sich  und  seine  ehrgeizigen  Pläne  voll  zu  ver- 
werten, ihn  zu  einem  willenlosen  Instrument  für  die  Verwirklichung 
der  eigenen  Ansichten,  der  eigenen  Schöpfungen  zu  erziehen. 


III.  ERSTE  MISSVERSTÄNDNISSE. 

Es  wurde  bereits  betont,  daß  das  Jahr  1873  die  ersten  Miß- 
verständnisse zwischen  beiden  Männern  bringen  sollte.  Nun  wissen 
wir,  daß  mit  Wagners  Übersiedlung  nach  Bayreuth  Nietzsches  Be- 
suchen beim  Meister  in  Tribschen  ein  jähes  Ende  gesetzt  worden 
war.  Niemand  empfand  dies  schmerzlicher  als  Nietzsche;  aber  auch 
Wagner  litt  unter  dieser  Trennung.  Wiederholt  gab  er  der  Befürch- 
tung Ausdruck,  daß  durch  die  Entfernung  doch  Mißverständnisse  in 
ihrem  Verhältnisse  zueinander  eintreten  könnten,  eine  Befürchtung, 
der  Nietzsche  vielleicht  nicht  so  energisch  widersprochen  hatte  als 
es  Frau  Wagner  wünschte.  So  schrieb  sie  Anfang  Dezember: 
„Glauben  Sie  mir,  es  kann  hier  keine  Entfremdung  mehr  statt- 
finden wie  auch  kein  Mißverständnis;  ich,  die  sonst  sehr  Bange, 
bin  davon  überzeugt."  Es  sollte  indes  ganz  anders  kommen. 
Nietzsche  verbrachte  seine  diesjährigen  Weihnachtsferien  bei  seiner 
Mutter  in  Naumburg.  Plötzlich  schickte  Wagner  eine  Einladung, 
Nietzsche  möge  schleunigst  nach  Bayreuth  kommen  und  solle  dazu 
seine  Rückreise  benutzen.  Nietzsche  lehnte  ab,  aus  zwiefachem 
Grunde:  erstens  wollte  er  seine  Mutter  nicht  kränken,  zweitens 
wollte  er  die  kurze  Zeit  der  Erholung  sich  durch  einen  Aufenthalt 
in  Bayreuth  nicht  verkürzen.  Hätte  er  indes  geahnt,  bemerkt  Frau 
Förster-Nietzsche,  wie  peinlich  Wagner  die  Ablehnung  einer  Ein- 
ladung auslegte,  so  würde  er  vielleicht  weniger  Rücksicht  auf  die 
Mutter  und  seine  persönliche  Ruhe  genommen  haben.  Aber  Wagner 
hatte  keine  Vorstellung  davon,  wie  sehr  er  seine  treuesten  Ver- 
ehrer beeinflußte,  so  daß  sie  oft  in  ihren  eigenen  Produktionen 
gehindert  wurden.  Und  Nietzsche  schrieb  gerade  damals  an  fünf 
kleineren  Abhandlungen,  die  er  Frau  Cosima  dedizierte:  ,Frau 
Gosima  Wagner  in  herzlicher  Verehrung  und  als  Antwort  auf  münd- 
liche und  briefliche  Fragen,  vergnügten  Sinnes  niedergeschrieben  in 
den  Weihnachtstagen  1872."    Auf  diese  Sendung   erhielt  Nietzsche 


-      26      - 

weder  ein  Dankeswort  noch  den  gewohnten  Neujahrsgruß,  und  er 
würde  sich  wohl  darüber  gewundert  haben,  wenn  er  nicht  gewußt 
hätte,  daß  Wagners  im  Jänner  1873  eine  große  Konzertrundreise 
durch  Deutschland  unternommen  hätten.  Inzwischen  schrieb  er  einen 
polemischen  Artikel  gegen  einen  Feind  Wagners,  woraus  seine  große 
Verehrung  für  diesen  erhellt,  zumal  ihm  eigentlich  eine  derartige 
Polemik  höchst  unangenehm  war  und  er  nur  aus  Liebe  zu  Wagner 
seine  Abneigung  überwand  und  sich  Wagner  selbst  im  Stile  anzu- 
passen suchte.  Seit  Anfang  Dezember  1872  hatte  Nietzsche  keinen 
Brief  von  Bayreuth  erhalten  und  allmähUch  hätte  er  sich  über  das 
Schweigen  der  Bayreuther  Freunde  doch  zu  wundern  angefangen, 
wenn  ihm  nicht  Rohde  Ende  Jänner  1873  eine  ausführhche  Be- 
schreibung von  Wagners  Aufenthalt  in  Hamburg  und  der  damit 
verbundenen  Konzerte  gegeben  hätte:  „Von  Dir  war  in  den  wenigen 
ruhigen  Momenten  viel  die  Rede.  Frau  Wagner  läßt  Dich  vor  allem 
herzlich  grüßen.  Dich  dann  um  Verzeihung  bitten  wegen  ihres 
Schweigens  auf  Deine  Sendung."  Endlich  schrieb  Frau  Wagner  am 
12.  Februar  von  Bayreuth  aus:  „Warum  ich  die  Ankunft  der  Sen- 
dung und  das  Eintreten  des  neuen  Jahres  vorüber  gehen  Heß,  ohne 
selbst  durch  eine  Depesche  Ihnen  zu  melden,  wie  ich  Ihrer  gedacht? 
Dies  ist  der  Punkt,  den  ich  freimütig  mit  Ihnen  berühren  will,  weil 
dieser  Freimut  mir  einzig  der  Freude  wert  zu  sein  scheint,  die  Sie 
mir  bereitet  haben,  und  an  welcher  ich  mich  noch  labe.  Der  Meister 
war  durch  Ihr  Nichtkommen,  und  durch  die  Art,  wie  Sie  uns  dieses 
Nichtkommen  meldeten,  gekränkt;  es  widerstrebte  mir,  Ihnen  dies 
sogleich  zu  sagen,  und  es  Ihnen  nicht  zu  sagen,  und  ich  übergab 
es  der  langmütigen  Zeit,  die  unbedeutenden  Verstimmungen  zu 
tilgen,  und  die  Reinheit  der  wahren  Gefühle  emporblühen  zu  lassen 
—  heute  ist  dies  geschehen,  und  wenn  wir  von  Ihnen  sprechen,  so 
höre  ich  nicht  den  leisesten  Ton  der  gekränkten  Freundschaft, 
sondern  nur  die  Freude  über  das,  was  Sie  uns  wiederum  gegeben." 
Wagner  klärte  persönlich  das  Mißverständnis  nicht  auf  und  sein 
nächster  Brief  erhielt  nur  am  Schlüsse  Worte  der  alten  vertrauens- 
vollen Freundschaft.  Später  erfuhr  Nietzsche  durch  Gersdorff,  der 
Neujahr  in  Bayreuth  verlebte,  daß  Wagner  geradezu  getobt  hätte 
und  nicht  aufgehört  hätte  zu  erklären,  wie  sehr  er  Nietzsche  liebe ; 
daß  aber  dieser  sich  ihm  gegenüber  immer  zurückhalte  und  seine 
eigenen  Wege  gehe!    So  war    denn    wieder    alles    aufgehellt,    aber 


—     27     — 

Nietzsche  schrieb  an  Gersdorff:  »Von  dem  Meister  und  Frau  Wagner 
habe  ich  herrliche  Briefe :  es  kam  zutage,  was  ich  gar  nicht  wußte, 
daß  Wagner  über  mein  Nichtkommen  zu  Neujahr  sehr  gekränkt 
gewesen  ist  —  das  hast  Du  gewußt,  liebster  Freund,  aber  mir  ver- 
schwiegen. Aber  alle  Wolken  sind  verscheucht  und  es  ist  ganz  gut, 
daß  ich  nichts  wußte:  denn  mancherlei  kann  man  nicht  besser, 
sondern  höchstens  noch  schlechter  machen.  Gott  weiß  übrigens,  wie 
oft  ich  dem  Meister  Anstoß  gebe:  ich  wundere  mich  jedesmal  vom 
neuen  und  kann  gar  nicht  dahinterkommen,  woran  es  eigentlich 
liegt.  Um  so  glückUcher  bin  ich,  daß  jetzt  wieder  Frieden  geschlossen 
ist.  Sage  mir  doch  Deine  Ansicht  über  das  wiederholte  Anstoßgeben. 
Ich  kann  mir  gar  nicht  denken,  wie  man  Wagner  in  allen  Haupt. 
Sachen  mehr  Treue  halten  könne  und  tiefer  ergeben  sein  könne,  als 
ich  es  bin :  wenn  ich  es  mir  denken  könnte,  würde  ich's  noch  mehr 
sein.  Aber  in  kleinen  untergeordneten  Nebenpunkten  und  in  einer 
gewissen,  für  mich  notwendigen,  beinahe  ,sanitarisch'  zu  nennenden 
Enthaltung  von  häufigerem  persönlichem  Zusammenleben  muß  ich  mir 
meine  Freiheit  wahren,  wirklich  nur,  um  jene  Treue  in  einem 
höheren  Sinne  halten  zu  können.  Darüber  ist  natürlich  kein  Wort 
zu  sagen,  aber  es  fühlt  sich  doch  —  und  es  ist  dann  verzweifelt, 
wenn  es  gar  Verdrießlichkeiten,  Mißtrauen  und  Schweigen  nach 
sich  zieht.  Ich  hatte  diesmal  keinen  Augenblick  daran  gedacht, 
solchen  heftigen  Anstoß  gegeben  zu  haben;  und  ich  fürchte  immer, 
durch  solche  Erlebnisse  noch  ängstUcher  zu  werden,  als  ich  es 
schon  bin.  Bitte,  liebster  Freund,  Deine  offene  Ansicht!"  Aber  der 
Freund  tröstete  mit  guten,  verständigen  Worten,  so  daß  ihm  dadurch 
die  „dummen  fliegenden  Mücken"  verscheucht  wurden.  Und  da  zu- 
dem Rohde  schon  immer  gewünscht  hatte,  mit  Nietzsche  einmal 
allein  in  Bayreuth  zu  sein,  so  fragte  Nietzsche  in  Bayreuth  an,  ob 
er  in  den  Osterferien  mit  dem  Freunde  kommen  dürfe;  Wagner 
antwortete  telegraphisch:  „Vernünftige  Vorschläge  erfreuen  immer, 
zumal  in  Form  von  herzlich  akzeptierten  Besuchsanmeldungen,  also 
Sonntag.  K.  Wagner."  Voller  Freude  und  Entzücken  schrieb  auf 
das  hin  Nietzsche  an  Gersdorff:  „Denke  Dir,  morgen  reise  ich  auf 
acht  Tage  fort,  treffe  übermorgen  mit  Rohde  zusammen  —  und 
wo?  natürlich  in  Bayreuth.  Ich  begreife  selbst  noch  nicht,  wie 
schnell  und  plötzlich  sich  alles  dies  gemacht  hat.  Vor  acht  Tagen 
dachte  keiner  von  uns   an    so  etwas.     Meine  Freude  ist  heute  eine 


—     28     — 

ganz  unsinnige,  denn  es  scheint  mir,  daß  alles  wieder  so  schön 
zustande  kommt,  wie  ein  Gott  es  sich  nicht  besser  wünschen 
könnte.  Ich  hoffe,  daß  mein  Besuch  wieder  gut  macht,  was  mein 
weihnachtliches  Nichtkommen  schlecht  gemacht  hat,  und  danke  Dir 
recht  von  Herzen  für  Deinen  einfachen  und  kräftigen  Zuspruch/ 

Aber  trotz  der  freudigen  Zuversicht,  in  der  dieser  Besuch  an- 
getreten wurde,  blieben  sowohl  Nietzsches  wie  Wagners  an  ihn 
geknüpften  Hoffnungen  unerfüllt.  Knapp  vorher  hatte  Nietzsche  an 
Gersdorff  geschrieben,  daß  er  nach  Bayreuth  ein  neues  Manuskript 
„Die  Philosophie  im  tragischen  Zeitalter  der  Griechen"  zum  Vor- 
lesen mitbringen  werde.  Er  habe  sich  wieder  einmal  auf  das  herr- 
lichste überzeugt,  was  die  Griechen  sind  und  waren.  Es  läßt  sich 
heute  nicht  mehr  feststellen,  ob  das  Manuskript  wirklich  vorgelesen 
worden  ist  oder,  was  wahrscheinlicher  zu  sein  scheint,  ob  Wagner 
sich  überhaupt  gegen  eine  Vorlesung  schon  vorher  ausgesprochen 
hat.  Tatsache  ist,  daß  mit  dieser  Schrift  für  Nietzsche  eine  sehr 
bittere  Enttäuschung  verbunden  war;  aber  auch  Wagner  ließ  sich 
wie  schon  früher  einmal,  nur  viel  auffälliger,  eine  sehr 
deutliche  Enttäuschung  anmerken;  denn  da  ihm  Nietzsche  vorher 
geschrieben  hatte,  er  hoffe,  durch  die  Vorlesung  eines  neuen  Manu- 
skriptes Freude  zu  bereiten,  hatte  er  nichts  ihm  so  fern  Liegendes 
wie  die  Philosophie  der  Griechen  erwartet,  sondern  etwas  Aktuelles, 
das  mit  der  Gegenwart,  das  mit  seinen  Freunden  und  Feinden,  mit 
seiner  Kunst  und  Bayreuth  irgendwie  zusammenhängen  sollte. 
Gerechtfertigt  wäre  diese  Erwartung  Wagners  dadurch,  daß  sich 
damals  sein  ganzes  Sinnen  und  Trachten  nur  um  das  Bayreuther 
Unternehmen  konzentrierte,  das  ihn  mit  schweren  Sorgen  erfüllte: 
denn  von  den  tausend  emittierten  Patronatsscheinen  waren  trotz 
aller  Anstrengungen  kaum  zweihundert  gezeichnet.  Aber  in  dieser 
ernsten  Situation  zeigte  sich  wiederum  einmal  Nietzsches  vornehme 
und  zartfühlende  Denkungsart  im  schönsten  Lichte:  sobald  er  sich 
nämhch  über  den  Ernst  der  Lage  klar  geworden  war,  fühlte  er  sich 
ganz  beschämt,  daß  er  inzwischen  sich  mit  griechischer  Philosophie 
beschäftigte,  ganz  abseits  von  den  Kämpfen  und  Enttäuschungen 
seiner  Bayreuther  Freunde,  so  daß  ihm  deren  Besorgnisse  ganz 
entgangen  waren.  Aber  trotzdem  empfand  er  es  auf  das  schmerz- 
lichste, daß  er  jetzt  in  Bayreuth  für  seine  eigene  Geisteswelt  nicht 
mehr  den  Widerklang  fand  wie  ehemals  in  Tribschen.  Große  Bangig- 


—     29     — 

keit  befiel  ihn,  daß  er,  um  Wagners  Freund  zu  bleiben,  vielleicht 
auf  seinen  eigenen  Weg  der  Weiterbildung  verzichten  müßte.  Kein 
Wunder,  daß  er  auf  diesen  Besuch  mit  sehr  melancholischen  Emp- 
findungen zurückblickte.  Nach  Basel  zurückgekehrt,  legte  er  die 
begonnenen  philologischen  Arbeiten  beiseite  und  beschloß  über 
Wagners  Wunsch  sich  mehr  an  den  Kämpfen  der  Gegenwart  zu 
beteihgen  und  zu  prüfen,  inwiefern  ihm  dies  gerade  in  treuer  Pflicht- 
erfüllung gegen  den  Meister  möglich  sei.  Vor  allem  beschäftigte  er 
sich  mit  der  Frage,  woran  es  nur  liege,  daß  ein  so  großer  Gedanke 
wie  der  von  Bayreuth  von  den  Deutschen  nicht  begriffen  werde, 
und  die  Antwort  schien  ihm,  daß  der  deutsche  „Bildungsphilister" 
sich  im  erbärmlichen  Behagen  an  dem  Kleinen  seiner  Zeit  genug 
tue  und  dabei  den  Blick  für  alles  wahrhaft  Große  verloren  habe. 
Aus  diesem  Geiste  entstand  Nietzsches  „Erste  unzeitgemäße  Be- 
trachtung". Mit  der  Arbeit  an  diesem  Werke  beschäftigt,  sandte  er 
folgenden  wahrhaft  rührenden  Brief  nach  Bayreuth:  „Wenn  Sie 
nicht  zufrieden  mit  mir  bei  meiner  Anwesenheit  schienen,  so 
begreife  ich  es  nur  zu  gut,  ohne  etwas  daran  ändern  zu  können, 
denn  ich  lerne  und  perzipiere  sehr  langsam  und  erlebe  dann  in 
jedem  Moment  bei  Ihnen  etwas,  woran  ich  nie  gedacht  habe  und 
was  mir  einzuprägen,  mein  Wunsch  ist.  Ich  weiß  es  recht  wohl, 
teuerster  Meister,  daß  Ihnen  ein  solcher  Besuch  keine  Erholung 
sein  kann,  ja  mitunter  unerträgHch  sein  muß.  Ich  wünschte  mir  so 
oft  wenigstens  den  Anschein  einer  größeren  Freiheit  und  Selbständig- 
keit, aber  vergebens.  Genug,  ich  bitte  Sie,  nehmen  Sie  mich  nur 
als  Schüler,  womöglich  mit  der  Feder  in  der  Hand  und  dem  Hefte 
vor  sich,  dazu  als  Schüler  mit  einem  sehr  langsamen  und  gar  nicht 
versatilen  Ingenium.  Es  ist  wahr,  ich  werde  täglich  melanchoUscher, 
wenn  ich  so  recht  fühle,  wie  gern  ich  Ihnen  irgendwie  helfen, 
nutzen  möchte  und  wie  ganz  und  gar  unfähig  ich  dazu  bin,  so  daß 
ich  nicht  einmal  etwas  zu  Ihrer  Zerstreuung  und  Erheiterung  bei- 
tragen kann.  Oder  vielleicht  doch  einmal,  wenn  ich  das  ausgeführt 
habe,  was  ich  jetzt  unter  den  Händen  habe,  nämhch  ein  Schrift- 
stück gegen  den  berühmten  Schriftsteller  David  Strauß.  Ich  habe 
dessen  ,alten  und  neuen  Glauben'  jetzt  durchgelesen  und  mich 
ebenso  über  die  Stumpfheit  und  Gemeinheit  des  Autors  wie  des 
Denkers  verwundert."  Zum  allgemeinen  Verständnis  sei  bemerkt, 
daß  auch  Wagner  über  dieses  Buch  Strauß'  sich  mit  viel  Hohn  und 


—     30     — 

Abneigung  ausgesprochen  hatte.  Mit  Recht  konstatiert  Frau  Förster- 
Nietzsche,  daß  man  diesen  Brief  ihres  Bruders  nicht  ohne  Rührung 
lesen  könne,  da  er  sich  in  der  Erinnerung  an  offenbar  bedenkUche 
Momente  des  Zusammenseins  bemüht,  sich  selbst  die  Schuld  für 
diese  leisen  Mißklänge  zuzuschreiben.  Wagner  antwortete:  „Sie 
müssen  selbst  wissen,  wie  sehr  mich  Ihr  Brief  gerührt  hat,  und 
weiteres  ist  dann  nicht  darüber  zu  sagen,  außer  etwa,  daß  Sie 
sich  durch  peinliche  Vorstellungen  über  sich  selbst  nicht  etwa 
abschrecken  lassen  sollen,  und  getrost  fortfahren,  im  gleichen  Sinne 
mir  recht  oft  wieder  ,lästig'  zu  werden.  In  betreff  Ihrer  Straußiana 
empfinde  ich  nur  die  Pein,  daß  ich  sie  gar  nicht  erwarten  kann. 
Also:  Heraus  damit!" 

Leider  ging  die  Arbeit  an  der  „Antistruthiade"  nicht  so  eifrig 
fort,  wie  sie  begonnen  war.  Denn  Nietzsche  wurde  von  einer  äußerst 
heftigen  Augenentzündung  befallen,  die  eine  sehr  starke  Kurzsichtig- 
keit nach  sich  zog,  so  daß  Freund  Gersdorff  die  ganze  Korrespondenz 
mit  Bayreuth  übernehmen  mußte.  Endlich  konnte  es  der  Patient 
wagen,  wiederum  einmal  selbst  zur  Feder  greifen:  der  erste  Brief 
—  heute  nicht  mehr  vorhanden !  —  ging  an  Wagner  ab.  Wagner 
antwortete :  „Beim  Anblick  Ihrer  Handschrift  empfand  ich  zumeist 
nur  Sorge,  wie  Sie  mir  denn  überhaupt  jetzt  mehr  Sorge  als  Freude 
verursachen  —  und  das  will  viel  sagen,  denn  niemand  kann  sich 
wiederum  über  Sie  so  freuen  als  ich.  Ich  wiederhole  Ihnen  den 
Einfall,  den  ich  kürzlich  einmal  gegen  die  Meinigen  äußerte;  näm- 
lich, daß  ich  die  Zeit  voraussehe,  in  welcher  ich  Ihr  Buch 
gegen  Sie  zu  verteidigen  haben  würde.  Ich  habe  wieder 
darin  gelesen,  und  schwöre  Ihnen  zu  Gott  zu,  daß  ich 
Sie  für  den  einzigen  halte,  der  weiß,  was  ich  will!" 

Unwillkürlich  drängt  sich  uns  angesichts  dieser  Tatsachen  die 
Frage  auf:  ahnte  es  Wagner  bereits,  daß  sein  Freund  sich  von  ihm 
langsam  loszulösen  begann,  oder  wußte  er  es  schon,  daß  sein  Freund 
bereits  andere  Wege  ging?  Wer  Nietzsches  Beziehungen  zu  Wagner 
nur  oberflächlich  kennt,  wer  von  ihm  nichts  anderes  weiß,  als  daß 
er  einst  Wagner  über  alles  liebte  und  den  Meister  dann  schonungs- 
los bekämpfte,  der  muß  sich  sehr  verwundern  bei  der  Lektüre 
dieser  gegenseitigen  Lobeshymnen,  dieser  gegenseitigen  Freund- 
schaftsversicherungen, in  die  zwar  noch  leise,  aber  für  den  geübten 
Seelenkenner  doch  schon  deuthch  vernehmbar  etwas  anderes  hinein- 


—     31     — 

tönt:  die  intellektuelle  Loslösung  Nietzsches  von  dem  Manne 
Wagner,  an  dem  er  nur  noch  mit  dem  Herzen  hängt  und  ihn  daher 
zu  vergöttern  sucht.  Warum,  fragen  wir  erschüttert?  Auf  diese 
Frage  kann  die  Antwort  nur  so  lauten:  Nietzsche  wird  sich  langsam, 
aber  immer  deutlicher,  der  eigenen  Geisteskraft  bewußt,  die  in  ihm 
so  lange  einen  Dornröschenschlaf  schlummerte  und  sich  nun  zu 
entfalten  beginnt;  vorderhand  ist  es  noch  ein  unsicheres  Zagen  und 
Tasten.  Vor  Sonnenaufgang  wallen '  die  Nebel,  ziehen  die  Dünste, 
hie  und  da  zuckt  ein  Lichtstrahl;  wo  er  herkommt,  werden  wir 
erst  erkennen,  wenn  die  Sonne  erschienen  ist.  Noch  ist  sie  unter 
dem  Horizonte;  aber  sie  ist  im  Aufstiege,  und  die  Strahlen  kommen 
von  ihr.  Wir  werden  sehen,  wie  dieser  Nietzsche  mit  unbarm- 
herziger Konsequenz,  Schritt  für  Schritt,  sich  von  den  Idealen  seiner 
Jugend  trennen  wird;  alle  die  Altäre  und  Götterbilder,  die  er  in 
seinem  verehrenden  Herzen  erbaut,  wird  er  niederreißen  und  zer- 
trümmern, um  aus  ihren  Trümmern  mit  aller  Macht  der  Ideal- 
bildung neue  Altäre,  neue  Götterbilder  zu  errichten.  Das  Flammen- 
meer einer  ungeheuren  Sehnsucht,  die  aus  alten  Welten  neue  baut, 
wogt  um  ihn,  umloht  ihn,  bis  er  in  ihm  unbewußt  höchste  Lust 
atmend  versinkt.  Von  Schopenhauer  hatte  er  sich  bereits  losgesagt 
—  Aufzeichnungen  aus  dem  frühesten  Nachlaßt)  beweisen  dies 
unzweideutig!  —  und  da  mußte  denn  der  nächste  Schritt  mit 
apodiktischer  Notwendigkeit  die  Lossagung  von  Wagner  sein,  in 
dem  er  seinerzeit  den  künstlerischen  Vollender  der  Schopenhauer- 
schen  Philosophie  verehrt  hatte.  Darum  äußert  er  sich  jetzt  so  oft 
über  die  schweren  Bedenken,  die  ihm  Wagners  Kunst  einflößt,  und 
über  die  Opfer,  welche  diese  Freundschaft  von  seiner  intellektuellen 
Rechtschaffenheit  fordert,  denn,  sagt  er,  „Wagner  hat  es  nicht 
gelernt,  sich  durch  Historie  und  Philosophie  zur  Ruhe  zu  bringen 
und  gerade  das  zauberhaft  Sänftigende  und  der  Tat  Widerratende 
ihrer  Wirkungen  für  sich  herauszunehmen". 

Gab  es  aber  nicht  auch  noch  andere  Gründe  für  diese  all- 
mählich erfolgende  Abkehr  Nietzsches  von  Wagner?  Menschlichere, 
allzu  menschUche  Gründe?  Denn  daß  Nietzsche  in  seiner  geistigen 
Entwicklung   unter    schweren   inneren    Kämpfen   den  Weg  zu  sich 

')  Abgedruckt  als  ^Fragment  einer  Kritik  der  Schopenhauerischen 
Philosophie",  wahrscheinlich  aus  dem  Herbst  1867  stammend,  im  I.  Bande 
der  Nietzsche-Biographie;  p.  343-350. 


—     32     — 

selbst  findet,  zu  der  Schöpfung,  die  wir  als  seine  Philosophie 
bezeichnen,  so  müssen  wir  dazu  sagen,  daß  ein  solcher  Weg  wohl 
keinem  tiefer  angelegten  Menschen  erspart  bleibt;  aber  der  einzig 
wahre  Grund  für  die  eintretende  Entfremdung  kann  dies  nicht  sein.  Aus 
einem  Briefe  Nietzsches  an  seinen  „Herzensfreund"  Baron  Gersdorff 
erfahren  wir  nun  zu  unserem  höchsten  Erstaunen,  daß  der  Philosoph 
schmerzlich  konstatiert,  Wagner  sei  gegen  ihn  —  mißtrauisch 
geworden:  „Wir  wissen  ja  beide,  daß  Wagners  Natur  sehr  zu  Miß- 
trauen neigt;  aber  ich  dachte  nicht,  dieses  Mißtrauen  noch  zu 
schüren."  Meiner  Darstellung  vorgreifend,  möchte  ich  hier  nur  fol- 
gendes bemerken:  Nietzsche,  der  unter  diesem  Mißtrauen  Wagners 
bitter  gelitten  hat,  hätte  nicht  jener  rücksichtslose  Wahrheitssucher 
sein  müssen,  der  er  war,  um  nicht  aus  dieser  einmal  konstatierten 
Tatsache  die  einzig  mögliche  Konsequenz  zu  ziehen,  sich  zurück- 
zuziehen, damit  er  den  Meister  nicht  verwunde  und  kränke,  den 
Mann,  der  alles,  alles  in  reichstem  Maße  besaß,  nur  nicht  jenes 
ruhige  Auge,  das  ohne  Neid  auch  ein  allzu  großes  Glück  hätte  sehen 
können:  daß  der  Freund  sich  selbst  gefunden,  daß  sein  Geist  zur 
Selbständigkeit  erwacht  war.  Anstatt  dieses  flammende  Herz,  das 
vor  Wonne  überfließen  wollte,  zu  segnen,  beschwor  Wagner  den 
Untergang  dieser  unter  den  herrlichsten  Auspizien  geschlossenen 
Freundschaft  herauf. 


TV.  NIETZSCHES  MAHNRUF  AN  DIE  DEUTSCHEN. 

Doch  wir  wollen  in  der  chronologischen  Darstellung  der  Er- 
eignisse fortsetzen.  Die  Besorgnisse,  die  beim  Osterbesuche  Nietzsches 
in  Wahnfried  in  Hinsicht  auf  das  Festspielhaus  und  das  ganze 
ßayreuther  Unternehmen  geäußert  worden  waren,  verminderten  sich 
im  Sommer  1873  nur  teilweise.  An  manchen  Orten  schien  man 
sogar  des  völligen  Scheiterns  schon  sicher  zu  sein.  Um  diesen  un- 
sicheren und  auf  die  Dauer  unhaltbaren  Zuständen  ein  Ende  zu 
bereiten,  wurde  für  den  31.  Oktober  eine  Versammlung  der  Delegierten 
aller  Wagnervereine  nach  Bayreuth  berufen.  Gleichzeitig  wandte  sich 
Wagner  an  Heckel  in  Mannheim,  dieser  solle  Nietzsche  auffordern, 
einen  Aufruf  an  die  deutsche  Nation  zugunsten  Bayreuths  auszu- 
arbeiten. Das  tat  auch  Heckel,  und  Nietzsche  schreibt  darüber  an 
Rohde,  dessen  Mitarbeit  er  dringend  erbat:  „Neu  ist  z.  B.  die  Auf- 
forderung, die  mir  heute  zukommt,  zugunsten  des  Bayreuther  Werkes 
und  im  Auftrage  eines  Patronenausschusses  einen  Aufruf  an  das 
deutsche  Volk  (mit  Züchten  zu  reden)  zu  machen.  Fürchterhch  ist 
diese  Aufforderung  auch:  denn  ich  habe  selbst  einmal  aus  freien 
Stücken  etwas  ÄhnUches  versucht,  ohne  damit  fertig  zu  werden. 
Deshalb  geht  meine  dringende  und  herzhche  Bitte  an  Dich,  lieber 
Freund,  mir  dabei  zu  helfen,  um  zu  sehen,  ob  wir  vielleicht  ge- 
meinsam das  Untier  bewältigen.  Der  Sinn  der  Proklamation,  um 
deren  Entwurf  ich  Dich  bitte,  läuft  darauf  hinaus,  daß  Groß  und 
Klein,  soweit  die  deutsche  Zunge  klingt,  bei  seinen  Musikalien- 
händlern Geld  bezahlt;  zu  welcher  Handlung  man  etwa  durch 
folgende  Motivierung  anreizen  könnte:  1.  Bedeutung  des  Unter- 
nehmers. 2.  Schande  für  die  Nation,  in  welcher  eine  solche  Unter- 
nehmung, bei  welcher  jeder  Teilnehmer  uneigennützig  und  persönlich 
aufopfernd  ist,  als  das  Unternehmen  eines  Charlatans  kann  dar- 
gestellt und  angegriffen  werden.  3.  Vergleich  mit  anderen  Nationen: 
wenn    in  Frankreich,    England    und  Italien    ein  Mann,    nachdem    er 

Grießer.  Wagner  und  Nietzsche.  3 


-     34     — 

gegen  alle  Mächte  der  Öffentliclikeit  fünf  Werke  den  Theatern  ge- 
geben hätte,  die  von  Norden  bis  Süden  gegeben  und  bejubelt  werden, 
wenn  ein  solcher  ausriefe :  die  bestehenden  Theater  entsprechen 
nicht  dem  Geiste  der  Nation,  sie  sind  als  öffentliche  Kunst  eine 
Schande,  helft  mir  eine  Stätte  dem  nationalen  Geiste  bereiten,  würde 
ihm  nicht  alles  zu  Hilfe  kommen,  wenn  auch  nur  aus  Ehrgefühl?  usw. 
usw.  Am  Schlüsse  wäre  darauf  hinzuweisen,  daß  bei  sämtlichen 
3964  deutschen  Buch-,  Kunst-  und  Musikalienhändlern,  welche  jede 
gewünschte  Auskunft  geben  können,  Listen  aufliegen  zur  Einzeichnung. 
Laß  Dich's  nicht  verdrießen,  hebster  Freund,  und  gehe  daran!" 
Rohde  vermochte  jedoch  die  Wünsche  seines  Freundes  nicht  zu  er- 
füllen: es  „stocke  ihm  alle  populäre  Kraftsprache.  Es  ist  abscheulich 
schwer,  namentlich  da  keine  Hoffnung  irgendeines  Erfolges  einem 
begeistert  vorschweben  könnte,  sondern  nur  die  volle  Sicherheit  der 
Erfolglosigkeit  eben  höchstens  ein  Gefühl  der  zu  erfüllenden  Pflicht 
als  Antrieb  übrig  läßt".  Rohde  behielt  mit  seiner  pessimistischen 
Auffassung  des  Aufrufes  recht;  Nietzsche  schrieb  ihm  später:  „Der 
Mahnruf  ist  verworfen  worden,  Du  hast  die  richtige  Empfindung 
gehabt.  Hab'  rechten  Dank  für  Dein  Freundschaftswort  nach  Bayreuth. 
Dort  war's  herzlich  und  warm,  recht  stärkend;  der  von  Professor 
Stern  verfaßte  Aufruf  läuft  jetzt  durch  alle  Zeitungen.  Die  Sammel- 
stätten bei  den  deutschen  Buchhändlern  allerorts  mögen  Schatz- 
kammern werden  —  diesen  Wunsch  wünsche  ich  Tag  und  Nacht.  — 
Offen  gestanden,  Wagner,  Frau  Wagner  und  ich  sind  mehr  von  der 
Wirkung  meines  Mahnrufs  überzeugt:  es  scheint  uns  nur  eine  Sache 
derzeit  zu  sein,  wann  er  absolut  allein  übrig  und  nötig  sein  wird." 
Frau  Förster-Nietzsche  berichtet,  Wagner  sei  ganz  außer  sich  gewesen, 
als  man  ihm  sagte,  daß  Nietzsches  Mahnruf  von  den  Delegierten 
als  zu  ernst  und  pessimistisch  verworfen  worden  sei;  er  wäre  in 
volle  Wut  geraten  und  hätte  mit  den  Füßen  gestampft.  Doch  habe 
ihm  ihr  Bruder  nachher  liebevoll  zugeredet,  daß  gewiß  ein  Aufruf 
von  Professor  Stern  einen  besseren  Erfolg  haben  würde,  und  schließlich 
bliebe  ja  noch  immer  der  seine  für  den  Fall  eines  Mißerfolges.  Das 
habe  Wagner  beruhigt.  Um  aber  Nietzsche  etwas  Liebes  zu  erweisen, 
schenkte  ihm  Wagner  die  neun  hübsch  gebundenen  Bände  seiner 
Werke  mit  folgender  Widmung: 

»Was  ich,  mit  Not  gesammelt, 
neun  Bänden  eingerammelt, 


—     So- 
was darin  spricht  und  stammelt, 
was  geht,  steht  oder  bammelt,  — 
Schwert,  Stock  und  Pritzsche, 
kurz,  was  im  Verlag  von  Fritzsche 
schrei,  lärm  oder  quietsche, 
das  schenk'  ich  meinem  Nietzsche,  — 
wär*3  ihm  zu  was  nütze!« 

Ich  lasse  nun  den  vollständigen  Wortlaut  dieses  „zu  ernsten 
und  pessimistischen"  Aufrufes  folgen,  da  er  ziemlich  unbekannt  ist, 
weil  in  der  Gesamtausgabe  der  Nietzsche- Werke  nicht  veröffentlicht. 

„Mahnruf  an  die  Deutschen. 

Wir  wollen  gehört  werden,  denn  wir  reden  als  Warner  und 
immer  ist  die  Stimme  des  Warners,  wer  er  auch  sei  und  wo  sie 
auch  immer  erkhnge,  in  ihrem  Rechte;  dafür  habt  ihr,  die  ihr  an- 
geredet werdet,  das  Recht  euch  zu  entscheiden,  ob  ihr  eure  Warner 
als  ehrliche  und  einsichtige  Warner  nehmen  wollt,  die  nur  laut 
werden,  weil  ihr  in  Gefahr  seid  und  die  erschrecken,  euch  so  stumm, 
gleichgültig  und  ahnungslos  zu  finden.  Dies  aber  dürfen  wir  von  uns 
selbst  bezeugen,  daß  wir  aus  reinem  Herzen  reden  und  nur  soweit 
dabei  das  Unsere  wollen  und  suchen,  als  es  auch  das  Eure  ist 
—  nämhch  die  Wohlfahrt  und  Ehre  des  deutschen  Geistes  und  des 
deutschen  Namens. 

Es  ist  euch  gemeldet  worden,  welches  Fest  im  Mai  des  vorigen 
Jahres  zu  Bayreuth  gefeiert  wurde:  einen  gewaltigen  Grundstein 
galt  es  dort  zu  legen,  unter  dem  wir  viele  Befürchtungen  auf  immer 
begraben,  durch  den  wir  unsere  edelsten  Hoffnungen  endgültig  be- 
siegelt glaubten  —  oder  vielmehr,  wie  wir  heute  sagen  müssen,  be- 
siegelt wähnten.  Denn  ach!  es  war  viel  Wahn  dabei:  jetzt  noch 
leben  jene  Befürchtungen;  und  wenn  wir  auch  keineswegs  verlernt 
haben  zu  hoffen,  so  gibt  doch  unser  heutiger  Hilf-  und  Mahnruf  zu 
verstehen,  daß  wir  mehr  fürchten  als  hoffen.  Unsere  Furcht  richtet 
sich  gegen  euch:  ihr  möchtet  gar  nicht  wissen,  was  geschieht  und 
vielleicht  gar  aus  Unwissenheit  verhindern,  daß  etwas  geschieht. 
Zwar  geziemt  es  sich  längst  nicht  mehr,  so  unwissend  zu  sein;  ja 
fast  scheint  es  unmögUch,  daß  jemand  es  jetzt  noch  ist,  nachdem 
der  große,  tapfere,  unbeugsame  und  unaufhaltsame  Kämpfer  Richard 
Wagner  schon  jahrzehntelang  unter  dem  gespannten  Aufmerken 
fast  aller  Nationen  für  jene  Gedanken  einsteht,  denen  er  in  seinem 

3* 


—     36     — 

Bayreuther  Kunstwerk  die  letzte  und  höchste  Form  und  seine 
wahrhaft  siegreiche  Vollendung  gegeben  hat.  Wenn  ihr  ihn  jetzt 
noch  hindern  würdet,  den  Schatz  auch  nur  zu  heben,  den  er  Willens 
ist,  euch  zu  schenken:  was  meint  ihr  wohl,  damit  für  euch  erreicht 
zu  haben?  Eben  dies  muß  euch  noch  einmal  und  immer  wieder 
öffentlich  und  eindringlich  vorgehalten  werden,  damit  ihr  wisset, 
was  an  der  Zeit  sei  und  damit  auch  nicht  einmal  das  mehr  in  eurem 
Beheben  steht,  die  Unwissenden  zu  spielen.  Denn  von  jetzt  ab  wird 
das  Ausland  Zeuge  und  Richter  im  Schauspiele  sein,  das  ihr  gebt; 
und  in  seinem  Spiegel  werdet  ihr  ungefähr  euer  eigenes  Bild  wieder- 
finden können,  so  wie  es  die  gerechte  Nachwelt  einmal  von  euch 
malen  wird. 

Gesetzt,  es  gelänge  euch,  durch  Unwissenheit,  Mißtrauen, 
Sekretieren,  Bespötteln,  Verleumden,  den  Bau  auf  dem  Hügel  von 
Bayreuth  zur  zwecklosen  Ruine  zu  machen ;  gesetzt,  ihr  ließet  es  in 
unduldsamem  Mißwollen  nicht  einmal  zu,  daß  das  vollendete  Werk 
Wirklichkeit  werde,  Wirkung  tue  und  für  sich  selber  zeuge,  so 
habt  ihr  euch  vor  dem  Urteile  jener  Nachwelt  ebenso  zu  fürchten, 
als  vor  den  Augen  der  außerordentUchen  Mitwelt  zu  schämen. 
Wenn  ein  Mann  in  Frankreich  oder  in  England  oder  in  Italien  den 
Theatern  fünf  Werke  eines  eigentümlich  großen  und  mächtigen  Stiles 
geschenkt  hätte,  die  vom  Norden  bis  zum  Süden  unablässig  verlangt 
und  bejubelt  werden  —  wenn  ein  solcher  Mann  ausriefe:  ,die  be- 
stehenden Theater  entsprechen  nicht  dem  Geiste  der  Nation,  sie 
sind  als  öffentUche  Kunst  eine  Schande!  Helft  mir,  dem  nationalen 
Geiste  eine  Stätte  bereiten!'  würde  ihm  nicht  alles  zu  Hilfe  kommen 
und  sei  es  auch  nur  —  aus  Ehrgefühl?  Und  wahrHch!  Hier  täte 
nicht  nur  Ehrgefühl,  nicht  nur  die  blinde  Furcht  vor  schlechter 
Nachrede  not;  hier  könntet  ihr  mitfühlen,  mitlernen,  mitwissen,  hier 
könntet  ihr  euch  aus  tiefstem  Herzen  mitfreuen,  indem  ihr  euch 
entschlösset,  mitzuhelfen.  Alle  eure  Wissenschaften  werden  von  euch 
freigebig  mit  kostspieUgen  Versuchs  Werkstätten  ausgerüstet:  und 
ihr  wollt  untätig  beiseitestehen,  wenn  dem  wagenden  und  ver- 
suchenden Geiste  der  deutschen  Kunst  eine  solche  Werkstatt  auf- 
gebaut werden  soll?  Könnt  ihr  irgendeinen  Moment  aus  der  Ge- 
schichte unserer  Kunst  nennen,  in  dem  wichtigere  Probleme  zur 
Lösung  hingestellt  und  reicherer  Anlaß  zu  fruchtbaren  Erfahrungen 
geboten  wurde  als  jetzt,  wo  der  von  Richard  Wagner  mit  dem  Namen 


—     37     — 

,  Kunstwerk  der  Zukunft^  bezeichnete  Gedanke  leibhafte  und  sichtbare 
Gegenwart  werden  soll?  Was  für  eine  Bewegung  der  Gedanken, 
Handlungen,  Hoffnungen  und  Begabungen  damit  eingeleitet  wird,  daß 
vor  den  Augen  unwissender  Vertreter  des  deutschen  Volkes  der 
viergetürmte  Nibelungen-Riesenbau  nach  dem  allein  von  seinem 
Schöpfer  zu  erlernenden  Rhythmus  sich  aus  dem  Boden  hebt,  welche 
Bewegung  in  die  fernste  fruchtbringendste,  hoffnungsreichste  Weite 
hinaus  —  wer  möchte  kühn  genug  sein,  hier  auch  nur  ahnen  zu 
wollen!  Und  jedenfalls  würde  es  nicht  an  dem  Urheber  der  Be- 
wegung liegen,  wenn  die  Welle  bald  wieder  zurücksinken  und  die 
Fläche  wieder  glatt  werden  sollte,  als  ob  nichts  geschehen  sei.  Denn 
wenn  es  unsere  erste  Sorge  sein  muß,  daß  das  Werk  überhaupt 
getan  werde,  so  drückt  uns  doch  als  zweite  Sorge  nicht  minder 
schwer  der  Zweifel,  wir  möchten  nicht  reif,  vorbereitet  und  emp- 
fänglich genug  befunden  werden,  um  die  jedenfalls  ungeheure  aller- 
nächste Wirkung  in  die  Tiefe  und  in  die  Weite  zu  leiten. 

Wir  glauben  bemerkt  zu  haben,  daß  überall,  wo  man  an 
Richard  Wagner  Anstoß  genommen  hat  und  zu  nehmen  pflegt,  ein 
großes  und  fruchtbares  Problem  unserer  Kultur  verborgen  liegt ; 
aber  wenn  man  daraus  immer  nur  einen  Anstoß  zum  dünkel- 
haften Bekritteln  und  Bespötteln  genommen  hat  und  nur  so 
selten  einen  Anstoß  zum  Nachdenken,  so  gibt  dies  uns  bisweilen 
den  beschämenden  Argwohn  ein,  ob  vielleicht  das  berühmte 
jVolk  der  Denker'  bereits  zu  Ende  gedacht  und  etwa  den  Dünkel 
gegen  den  Gedanken  eingetauscht  habe.  Welchen  mißverständlichen 
Einreden  hat  man  zu  begegnen,  nur  um  zu  verhüten,  daß  das 
Bayreuther  Ereignis  vom  Mai  1872  nicht  mit  der  Gründung  eines 
neuen  Theaters  verwechselt  wird,  um  anderseits  zu  erklären,  warum 
dem  Sinne  jener  Unternehmung  kein  bestehendes  Theater  entsprechen 
kann:  welche  Mühe  kostet  es,  die  absichtlich  oder  unabsichtlich 
Bhnden  darüber  hellsehend  zu  machen,  daß  bei  dem  Worte  ,Bayreuth' 
nicht  nur  eine  Anzahl  Menschen,  etwa  eine  Partei  mit  spezifischen 
Musikgelüsten,  sondern  die  Nation  in  Betracht  komme,  ja  daß  selbst 
über  die  Grenzen  der  deutschen  Nation  alle  diejenigen  zu  ernster 
und  tätiger  Beteiligung  angerufen  sind,  denen  die  Veredlung  und 
Reinigung  der  dramatischen  Kunst  am  Herzen  liegt  und  die  Schillers 
wunderbare  Ahnung  verstanden  haben,  daß  vielleicht  einmal  aus 
der  Oper   sich  das  Trauerspiel  in    einer   edleren  Gestalt  entwickeln 


—     38     — 

werde.  Wer  nur  immer  noch  nicht  verlernt  hat  nachzudenken 
—  und  sei  es  wiederum  nur  aus  Ehrgefühl  — ,  der  muß  eine 
künstlerische  Unternehmung  als  sittlich  denkwürdiges  Phänomen 
empfinden  und  begünstigen,  die  in  diesem  Grade  von  dem  opfer- 
bereiten und  uneigennützigen  Willen  aller  Beteiligten  getragen  wird 
und  mit  dem  ernst  ausgesprochenen  Bekenntnis  derselben  geweiht 
ist,  daß  sie  von  der  Kunst  hoch  und  würdig  denken  und  zumal  von 
der  deutschen  Musik  und  ihrer  verklärenden  Einwirkung  auf  das 
volkstümUche  Drama  die  wichtigste  Förderung  eines  originalen 
deutsch  ausgeprägten  Lebens  erhoffen.  Glauben  wir  doch  sogar  noch 
ein  Höheres  und  Allgemeineres:  ehrwürdig  und  heilbringend  wird 
der  Deutsche  erst  dann  den  anderen  Nationen  erscheinen,  wenn  er 
gezeigt  hat,  daß  er  furchtbar  ist  und  es  doch  durch  Anspannung 
seiner  höchsten  und  edelsten  Kunst-  und  Kulturkräfte 
vergessen  machen  will,  daß  er  furchtbar  war. 

An  diese  unsere  deutsche  Aufgabe  in  diesem  Augenblick  zu 
mahnen,  hielten  wir  für  unsere  Pflicht,  gerade  jetzt,  wo  wir  auf- 
fordern müssen,  mit  allen  Kräften  eine  große  Kunsttat  des  deutschen 
Genius  zu  unterstützen.  Wo  nur  immer  Herde  ernsten  Nachsinnens 
sich  in  unserer  aufgeregten  Zeit  erhalten  haben,  erwarten  wir  einen 
freudigen  und  sympathischen  Zuruf  zu  hören;  insbesondere  werden 
die  deutschen  Universitäten,  Akademien  und  Kunstschulen  nicht 
umsonst  angerufen  sein,  sich  der  geforderten  Unterstützung  gemäß, 
einzeln  oder  zusammen  zu  erklären:  wie  ebenfalls  die  politischen 
Vertreter  deutscher  Wohlfahrt  in  Reichs-  und  Landtagen  einen 
wichtigen  Anlaß  haben  zu  bedenken,  daß  das  Volk  jetzt  mehr  wie 
je  der  Reinigung  und  Weihung  durch  die  erhabenen  Zauber  und 
Schrecken  echter  deutscher  Kunst  bedürfe,  wenn  nicht  die  gewaltig 
erregten  Triebe  politischer  und  nationaler  Leidenschaft  und  die  der 
Physiognomie  unseres  Lebens  aufgeschriebenen  Züge  der  Jagd  nach 
Glück  und  Genuß  unsere  Nachkommen  zu  dem  Geständnisse  nötigen 
sollen,  daß  wir  Deutsche  uns  selbst  zu  verlieren  anfingen,  als  wir 
uns  endhch  wieder  gefunden  hatten." 

Es  wäre  noch  zu  bemerken,  daß  dieser  Entwurf  eines  Mahn- 
rufes tatsächlich  verworfen  wurde  und  nie  wieder  von  ihm  die  Rede 
war.  Aber  auch  der  Aufruf  des  Professors  Stern,  der  an  Stelle  des 
von  Nietzsche  eingereichten  von  den  Delegierten  angenommen  worden 
war,  hatte  keinen  glorreichen  Erfolg.    Chamberlain  erzählt  darüber 


—     39     — 

in  seiner  großen  Wagner-Biographie:  „Um  die  intensive  Nicht- 
beachtung zu  kennzeichnen,  welcher  Wagners  großes  und  jetzt 
dem  deutschen  Geist  zum  ewigen  Ruhme  gereichendes  Werk  im 
weiten  deutschen  Reich  begegnete,  will  ich  hier  eine  einzige  kleine 
Tatsache  zur  Illustration  einschalten:  ein  von  Dr.  A.  Stern  im 
Auftrage  der  Wagnervereine  verfaßter  ,Bericht  und  Aufruf  wurde 
Ende  1878  an  viertausend  deutsche  Buch-  und  MusikaUenhändler 
mit  Subskriptionsliste  versandt ;  nicht  ein  einziger  dieser  Viertausend 
nahm  die  geringste  Notiz  von  der  Sendung!  und  einzig  und  allein 
in  Gießen  haben  einige  Studenten  ein  paar  Taler  gezeichnet!" 


V.  NIETZSCHES  KRITIK  AN  WAGNER. 


Während  Nietzsche  Ende  des  Jahres  1873  an  seiner  „IL  Un- 
zeitgemäßen" arbeitete,  stiegen  in  Wahnfried  die  Besorgnisse  um 
das  Gelingen  des  Bayreuther  Werkes  aufs  höchste,  bis  endUch  König 
Ludwig  Wagner  aus  der  königlichen  Kasse  100.000  Taler  anweisen 
ließ.  Nietzsche  ging  an  diesen  Ereignissen  nicht  gleichgültig  vorüber. 
Rohde  teilte  er  mit,  wie  er  sich  über  diese  quälenden  Tage  und 
Monate  hinweggeholfen  habe:  „Es  war  ein  trostloser  Zustand  seit 
Neujahr,  von  dem  ich  mich  endlich  nur  auf  die  wunderhchste  Weise 
retten  konnte:  ich  begann  mit  der  größten  Kälte  der  Betrachtung 
zu  untersuchen,  weshalb  das  Unternehmen  mißlungen  sei:  dabei 
habe  ich  viel  gelernt  und  glaube  jetzt  Wagner  viel  besser  zu  ver- 
stehen als  früher."  Als  ihn  seine  Schwester  einst  ganz  erschrocken 
fragte,  wann  er  über  Wagner  so  kühl  gedacht  habe,  daß  er  solche 
Aufzeichnungen  niederschreiben  konnte  —  ich  zitiere  sie  weiter 
unten!  —  gab  er  wehmütig  lächelnd  zur  Antwort:  „Nicht  immer!  Nur 
zuweilen  zwang  ich  mich  dazu,  die  Wahrheit  zu  sehen."  Aus 
derselben  Zeit  stammt  folgende  Niederschrift:  „Ich  sagte  als  Student: 
Wagner  ist  Romantik,  nicht  Kunst  der  Mitte  und  Fülle,  sondern 
des  letzten  Viertels:  bald  wird  es  Nacht  sein.  Mit  dieser  Einsicht 
war  ich  Wagnerianer,  ich  konnte  nicht  anders,  aber  ich  kannte 
es  '  besser. "  Nietzsches  Schwester  gibt  als  Grund  hiefür  an,  daß 
Nietzsche  stets  durchaus  etwas  Höheres  über  sich  sehen  wollte,  und 
entzückt  von  Wagners  prachtvoller  Willensenergie  und  dem  „Tristan" 
und  den  „Meistersingern",  alles  andere  unbeachtet  gelassen  habe, 
das  sich  in  ihm  gegen  Wagners  Kunst  auflehnte.  Aber  alle  diese 
Zweifel  und  inneren  Widerstände  wurden  zuweilen  wach  gerufen 
durch  Wagners  —  Mißtrauen.  So  höflich  er  Wagner  gegenüber  war, 
so  wird  er  doch,  ohne  es  zu  ahnen,  manchmal  verraten  haben,  daß 
sein  eigenster  Geschmack  vieles  in  Wagners  Kunst  ablehnte.  Und 
dann    erschreckte    ihn  Wagner  plötzlich  durch  mißtrauische  Bemer- 


—     41     — 

kungen,  die  die  oben  erwähnten  Zweifel  wachriefen.  Diese  Zweifel 
vertraute  er  aber  niemand  an,  und  erst  in  jenem  Jänner  1874  scheint 
er  sich  selbst  diesen  Gegensatz  zu  Wagners  Geschmack  vöUig  klar 
gemacht  und  in  unerbitterlicher  Wahrheitsliebe  aufgezeichnet 
zu  haben.  Und  da  ist  es  für  Nietzsche  charakteristisch,  daß  er  sich  nicht 
in  endlosem  Jammern  und  Klagen  ergeht,  sondern  die  Untergründe 
jener  Tatsachen  prüft,  um  derentwillen  er  leidet.  Er  zwingt  sich 
dazu,  die  Augen,  die  so  gern  in  Liebe  und  Verehrung  über  alles 
Kleinliche  und  Häßliche  hinwegsehen,  ja  sich  zur  rechten  Zeit  ganz 
zu  schließen  wissen,  scharf  auf  diese  Tatsachen  zu  richten,  sie 
nüchtern  und  kühl  zu  betrachten  und  sich  einzugestehen  und  genau 
zu  prüfen,  ob  nicht  manches  von  dem,  was  er  aus  Verehrung  für 
den  Meister  selbst  empfunden,  aber  unterdrückt  hatte,  gerade  die 
Ursache  des  Mißlingens  war  und  sein  mußte.  Dieser  Fall  ist  eines 
der  stärksten  Zeugnisse,  wie  die  strenge  Wahrhaftigkeit  seines 
Geistes  keinen  Kampf  scheute,  selbst  nicht  den  härtesten  mit  sich 
selbst,  mit  dem  eigenen  liebenden  und  verehrenden  Herzen. 

Die  Aufzeichnungen  nun,  die  sich  Nietzsche  machte,  schienen, 
wie  die  Niederschriften  zeigen,  für  ein  Büchlein  bestimmt  zu  sein. 
Aber  es  ist  nicht  recht  gut  denkbar,  daß  er  damals  wirklich  daran 
gedacht  hätte,  diese  Ansichten  zu  veröffentlichen,  obgleich  die  Kapitel- 
überschriften und  einige  weitere  Aphorismen  die  ungefähre  Vor- 
stellung eines  Buches  geben,  auch  tragen  sie  schon  den  Titel  der 
„IV.  unzeitgemäßen  Betrachtung":    „Richard  Wagner  in  Bayreuth". 

„1.  Ursachen  des  Mißlingens.  Darunter  vor  allem  das  Befrem- 
dende.   Mangel    an  Sympathie   für  Wagner.    Schwierig,    kompliziert. 

2.  Doppelnatur  Wagners. 

3.  Affekt,  Ekstase.  Gefahren. 

4.  Musik  und  Drama.  Das  Nebeneinander. 

5.  Das  Präsumptuöse. 

6.  Späte  Männlichkeit  —  langsame  Entwicklung. 

7.  Wagner  als  Schriftsteller. 

8.  Freunde  (erregen  neue  Bedenken). 

9.  Feinde  (erwecken  keine  Achtung,  kein  Interesse  für  das 
Befehdete). 

10.  Das  Befremden  erklärt:  vielleicht  gehoben? 

Wagner  versuchte  die  Erneuerung  der  Kunst  von  der  einzigen  noch 
vorhandenen  Basis  aus,  vom  Theater  aus :  hier  wird  doch  wirkUch  noch 


—     42     — 

eine  Masse  aufgeregt  und  macht  sich  nichts  vor  wie  in  Museen  und 
Konzerten.  FreiUch  ist  es  eine  sehr  rohe  Masse,  und  die  Theatrokratic 
wieder  zu  beherrschen  hat  sich  bis  jetzt  noch  als  unmögUch  erwiesen. 
Problem:  Soll  die  Kunst'  ewig  sektiererisch  und  isoUert  fortleben? 
Ist  es  möglich,  sie  zur  Herrschaft  zu  bringen?  Hier  liegt  Wagners 
Bedeutung,  er  versucht  die  Tyrannis  mit  Hilfe  der  Theatermassen. 
Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  daß  Wagner  als  Italiener  sein  Ziel  er- 
reicht haben  würde.  Der  Deutsche  hat  keine  Ahnung  von  der  Oper 
und  betrachtet  sie  immer  als  importiert  und  als  undeutsch.  Ja,  das 
ganze  Theaterwesen  nimmt  er  nicht  ernst. 

Es  liegt  etwas  Komisches  darin:  Wagner  kann  die  Deutschen 
nicht  überreden,  das  Theater  ernst  zu  nehmen.  Sie  bleiben  kalt  und 
ungemütlich  —  er  ereifert  sich,  als  ob  das  Heil  der  Deutschen 
davon  abhinge.  Jetzt  zumal  glauben  die  Deutschen  ernsthafter  be- 
schäftigt zu  sein  und  es  kommt  ihnen  wie  eine  lustige  Schwärmerei 
vor,  daß  jemand  der  Kunst  so  feierlich  sich  zuwendet. 

Reformator  ist  Wagner  nicht,  denn  bis  jetzt  ist  alles  beim 
alten  geblieben.  In  Deutschland  nimmt  jeder  seine  Sache  ernst,  da 
lacht  man  über  den,  der  für  sich  allein  das  Ernstnehmen  prätendiert. 

Einwirkung  der  Geldkrisen. 

Allgemeine  Unsicherheit  der  politischen  Lage. 

Zweifel   an    der  besonnenen  Leitung  der  deutschen  Geschicke. 

Zeit  der  Kunstaufregungen  (Liszt  usw.)  vorüber. 

Eine  ernste  Nation  will  sich  einige  Leichtfertigkeit  nicht  ver- 
kümmern lassen,  die  Deutschen  nicht  in  den  theatralischen  Künsten. 

Hauptsache:  Die  Bedeutung  der  Kunst,  wie  sie  Wagner  hat, 
paßt  nicht  in  unsere  gesellschaftlichen  und  arbeitenden  Verhältnisse. 
Daher  instinktive  Abneigung  gegen  das  Ungeeignete. 

Das  erste  Problem  Wagners :  ,Warum  bleibt  die  Wirkung  aus, 
da  ich  sie  empfange?'  Dies  treibt  ihn  zu  einer  Kritik  des  Publikums, 
des  Staates,  der  Gesellschaft.  Er  setzt  zwischen  Künstler  und 
Publikum  das  Verhältnis  von  Subjekt  und  Objekt  —  ganz  naiv. 

Die  eine  Eigenschaft  Wagners:  Unbändigkeit,  Maßlosigkeit 
ergeht  bis  auf  die  letzte  Sprosse  seiner  Kraft,  seiner  Erfindung. 

Die  andere  Eigenschaft  ist  eine  große  schauspielerische  Be- 
gabung, die  versetzt  ist,  die  sich  in  anderen  Wegen  Bahn  bricht 
als  auf  dem  ersten  nächsten:  dazu  nämhch  fehlt  ihm  Gestalt, 
Stimme  und  die  nötige  Bescheidung. 


—     43     — 

Wagner  ist  ein  geborener  Schauspieler,  aber  gleichsam  wie  Goethe 
ein  Maler  ohne  Malerhände.  Seine  Begabung  sucht  und  findet  Auswege. 

Nun  denke  man  sich  diese  versagten  Triebe  zusammen  wirkend. 

Wagner  schätzt  das  Einfache  der  dramatischen  Anlage,  weil 
es  am  stärksten  wirkt.  Er  sammelt  alle  wirksamen  Elemente,  in 
einer  Zeit,  die  sehr  rohe  und  starke  Mittel  wegen  ihrer  Stumpfheit 
braucht.  Das  Prächtige,  Berauschende,  Verwirrende,  das  Grandiose, 
das  Schreckliche,  Lärmende,  Häßliche,  Verzückte,  Nervöse  —  alles 
ist  im  Recht.  Ungeheure  Dimensionen,  ungeheure  Mittel. 

Das  Unregelmäßige,  der  überladene  Glanz  und  Schmuck  macht 
den  Eindruck  des  Reichtums  und  der  Üppigkeit.  Er  weiß,  was  auf 
unsere  Menschen  noch  wirkt:  dabei  hat  er  sich  , unsere  Menschen' 
noch  idealisiert  und  sehr  hoch  gedacht. 

Als  Schauspieler  wollte  er  den  Menschen  nur  als  den  wirk- 
samsten und  wirklichsten  nachahmen:  im  höchsten  Affekt.  Denn 
seine  extreme  Natur  sah  in  allen  anderen  Zuständen  Schwäche  und 
Unwahrheit.  Die  Gefahr  der  Affektmalerei  ist  für  den  Künstler 
außerordenthch.  Das  Berauschende,  das  Sinnliche,  Ekstatische,  das 
Plötzliche,  das  Bewegtsein  um  jeden  Preis  —  schreckliche  Tendenzen. 

Wagners  Kunst  sammelt  alles  zusammen,  was  sie  noch  für 
Reize  hat,  bei  den  modernen  Deutschen  —  Charakter,  Wissen,  alles 
kommt  zusammen.  Ein  ungeheurer  Versuch  sich  zu  behaupten  und 
zu  dominieren  —  in  einer  kunstwidrigen  Zeit.  Gift  gegen  Gift:  alle 
Überspannungen  richten  sich  polemisch  gegen  große  kunstwidrige 
Kräfte.  Religiöse,  philosophische  Elemente  mit  hineingezogen,  Sehn- 
sucht nach  dem  Idyllischen,  alles,  alles. 

Nicht  zu  vergessen:  es  ist  eine  theatrahsche  Sprache,  die 
Wagners  Kunst  redet:  sie  gehört  nicht  ins  Zimmer,  in  die  camera. 
Es  ist  eine  Volksrede,  und  die  läßt  sich  ohne  eine  starke  Vergröberung 
selbst  des  Edelsten  nicht  denken.  Sie  soll  in  die  Ferne  wirken  und 
das  Volkschaos    zusammenkitten.    Zum    Beispiel    der  Kaisermarsch. 

Wagner  ist  eine  gesetzgeberische  Natur:  er  übersieht  viele 
Verhältnisse  und  ist  nicht  im  kleinen  befangen,  er  ordnet  alles  im 
großen  und  ist  nicht  nach  der  isolierten  Einzelheit  zu  beurteilen 
—  Musik,  Drama,  Poesie,  Staat,  Kunst  usw. 

Die  Musik  ist  nicht  viel  wert,  die  Poesie  auch  nicht,  das  Drama 
auch  nicht,  die  Schauspielkunst  ist  oft  nur  Rhetorik  —  aber  alle& 
ist  im  großen  eins  und  auf  einer  Höhe. 


—     44     — 

Er  hat  das  Gefühl  der  Einheit  im  Verschiedenen  — 
deshalb  halte  ich  ihn  für  einen  Kulturträger." 

Frau  Förster  bemerkt,  daß  ihr  Bruder,  als  er  diese  kritischen 
Bemerkungen  niederschrieb,  sehr  gelitten  habe,  denn  er  hatte  keine 
Hoffnung  mehr,  daß  Wagner  seine  Pläne  durchsetzen  könnte.  Als 
doch  die  Nachricht  des  Gelingens  zu  ihm  drang,  empfand  er  es  als 
ein  „Wunder",  und  er  schrieb  an  Kohde:  „Ist  das  , Wunder'  wahr, 
so  wirft  es  das  Resultat  meiner  Betrachtungen  nicht  um.  Aber 
glücklich  wollen  wir  sein  und  ein  Fest  feiern,  wenn  es  wahr  ist. 
Wagner  ist  mutig  und  glaubt,  dafs  jetzt  das  Unternehmen  im  Reinen 
ist.  Nun,  das  walte  Gott!  Dies  Warten  und  Bangen  ist  schwer  zu 
verwinden,  ich  hatte  wirklich  zeitweilig  die  Hoffnung  ganz  auf- 
gegeben." Aber  eine  tiefe  Melancholie  blieb  von  diesen  kritischen 
Untersuchungen  zurück.  Er  hat  einmal  gesagt,  daß  es  zur  Selbst- 
erziehung gehöre,  daß  man  zur  rechten  Zeit  die  Schleier  aufhebe 
und  die  Schleier  zuziehe,  und  wenn  man  sich  hinterher  wohl  fühle, 
so  wäre  es  die  richtige  Zeit  gewesen.  Jetzt  war  es  aber  noch  nicht 
die  rechte  Zeit  für  ihn  gewesen,  von  seinen  Meinungen  über  Wagner 
den  Schleier  wegzuziehen,  er  war  sehr  traurig,  und  jedenfalls  ver- 
suchte er  ihn  wieder  zuzuziehen. 

Die  bisherige  Darstellung  der  Ereignisse  läßt  mit  nicht  mißzu- 
verstehender Deutlichkeit  erkennen,  wie  haltlos  und  jeder  positiven 
Grundlagen  entbehrend  die  Behauptungen  jener  sind,  die  annehmen, 
Nietzsche  habe  sich  von  Wagner  erst  durch  die  Herausgabe  des 
„Menschlichen,  Allzumenschlichen"  entfernt;  er  sei  eben  schon  damals 
und  nicht  erst  im  Jahre  1889  irrsinnig  geworden!  Es  ist  unglaublich, 
daß  von  den  extremen  Wagnerianern  diese  aus  den  Jahren  1873/74 
stammenden  kritischen  Bemerkungen,  die  doch  den  Grundstock  für 
die  „IV.  Unzeitgemäße"  und  den  „Fall  Wagner"  bilden,  so  ohne 
weiteres  ignoriert  werden.  Mich  jedoch  will  es  bedünken,  daß  nur 
unkritische  Leser  der  „IV.  Unzeitgemäßen"  sich  zwischen  dieser 
„besten  Schrift"  Nietzsches  und  einerseits  diesen  kritischen  Be- 
merkungen, anderseits  dem  „Falle  Wagner"  ein  psychologisches 
Rätsel  konstruieren,  das  nur  durch  Annahme  eines  früh  ausgebrochenen 
Wahnsinnes  zu  lösen  sei. 

Inzwischen  vollendete  Nietzsche  seine  „II.  Unzeitgemäße"; 
allein  Wagner  äußerte  sich  über  dieses  Werk  sehr  kühl  und  ab- 
lehnend. Vertrat  er  doch  die  Ansicht,  daß  in  der  Zeit  der  schwersten 


__     45     — 

Kämpfe  um  das  Gelingen  seiner  Pläne  alle  seine  Freunde  ihre 
eigenen  Angelegenheiten  ganz  beiseite  und  sich  ausschließlich  seiner 
Sache  widmen  sollten!  Das  tat  ja  gewiß  auch  Nietzsche,  wie  wir 
gesehen  haben.  Sein  Fehler  bestand  jedoch  darin,  daß  er  daneben 
Bücher  schrieb,  die  mit  Bayreuth  nichts  zu  tun  hatten.  Deshalb 
konnte  er  nicht  die  richtige,  von  Wagner  geforderte  Leidenschaft 
und  Parteirührigkeit  für  Bayreuth  entwickeln.  Die  konkreten  Belege 
über  die  Aufnahme  dieser  Schrift  durch  Wagner  werde  ich  bei 
anderer  Gelegenheit  zitieren. 

Wiederholt  ergangene  Einladungen  nach  Bayreuth  hatte  Nietzsche 
abgelehnt,  so  in  diesem  Jahre  damit,  daß  er  die  diesjährigen  Ferien 
in  den  Schweizer  Bergen  vollbringen  wolle.  Wagner  antwortete: 
„Klingt  das  nicht  wie  sorgsame  Abwehr  einer  etwaigen  Einladung 
unsererseits?  Wir  können  Ihnen  etwas  sein;  warum  ver- 
schmähen Sie  dies  angelegentlich?"  Das  ist  das  Vorspiel  der  sich 
nun  entwickelnden  Tragödie,  und  schon  dieses  Vorspiel  hat  etwas 
Tragisches:  wie  Wagner  immer  wieder  und  wieder  seinen  jungen 
Freund  mit  den  herzlichsten  Worten  einlädt,  dieser  jedoch  stets 
ausweicht.  So  schrieb  ihm  der  Meister  am  9.  Juni  1874: 

„Oh,  Freund! 

Warum  kommen  Sie  nicht  zu  uns? 

Ich  finde  für  alles  einen  Ausweg  —  oder:  wie  Sie's  nennen 
wollen. 

Nur  nicht  so  abgesondert!    Ich    kann  Ihnen    dann  nichts  sein. 

Ihr  Zimmer  ist  bereit. 

Doch  —  oder  vielmehr: 

Jedoch!  — 

oder  auch: 

jWenn  schon!'  — 

Im  Augenblick  nach  dem  Empfang  Ihrer  letzten  Zeilen.  Ein 
andres  Mal  mehr. 

Von  Herzen  Ihr  R.  W." 

Vielleicht  hätte,  wenn  schon  nicht  die  Lösung,  so  doch  wenig- 
stens der  Konflikt  noch  vermieden  werden  können,  wenn  Wagner 
die  Lage  des  geliebten  jungen  Freundes  klar  erkannt  und  sich  ent- 
schlossen hätte,  ihn  ganz  freizugeben.  Daß  aber  beides  unterblieb, 
war  nur  natürlich :  der  Meister  konnte  von  seinem  Standpunkte  aus 
dem  Jünger  keine  höhere  Zukunft  wünschen  als  die,  im  Dienste  der 


-     46     — 

Bayreuther  Sache  zwischen  ihm  und  der  Jugend  Deutschlands  zu 
vermitteln.  Und  dann  hatte  er  ihn  —  freilich  nach  seiner  Art!  — 
viel  zu  lieb,  um  ihn  einfach  loszulassen.  Doch  Nietzsche  lehnt 
immer  wieder  ab  zu  kommen,  weil  er  sich  selbst  gehören  möchte  — 
„  von  einem  wirküchen  Produzieren  kann  aber  wirklich  nicht  geredet 
werden,  solange  ich  noch  so  wenig  aus  der  Unfreiheit,  aus  dem 
Leiden  und  Lastgefühl  des  Befangenseins  heraus  bin"  — ,  weil  er 
zu  fest  in  Wagners  Netze  zu  geraten  fürchtet,  weil  er  einen  Zu- 
sammenprall für  möglich  hielt.  Vom  August  1874,  wo  durch  Gers- 
dorffs  Vermittlung  ein  Besuch  Nietzsches  in  Wahnfried  sozusagen 
„erzwungen"  wurde  und  über  den  später  noch  zu  reden  sein  wird, 
bis  Juli  1876  haben  sich  die  beiden  Freunde  nicht  gesehen.  Die 
Ursache  dafür  war  ein  damals  bei  Nietzsche  ausgebrochenes  schweres 
Magenleiden,  weshalb  sein  behandelnder  Arzt  dringendst  größte 
Ruhe  und  Schonung  empfahl.  Gersdorff  wurde  also  ersucht,  „in 
Bayreuth  darauf  vorzubereiten,  daß  Nietzsche  nicht  kommen  werde. 
Wagner  werde  recht  böse  sein,  er  selbst  sei  es  auch".  Einem 
Briefe  an  Rohde  vom  1.  August  1875  läßt  sich  entnehmen,  daß  es 
in  diesem  Jahre  mit  Nietzsches  Gesundheitszustand  tatsächlich  sehr 
schlecht  bestellt  war.  Daneben  verrät  aber  dieser  Brief  deutlich,  daß 
Nietzsches  Abwesenheit  von  Bayreuth  fast  wie  eine  Art  Flucht 
vor  irgendeinem  dort  drohenden  Ereignis  erscheint:  „Überall 
Desperation!  Und  ich  habe  sie  nicht!  Und  bin  doch  nicht  in 
Bayreuth.  Wie  sich  das  reimt,  begreifst  Du's?  Ich  begreife  es  fast 
nicht.  Und  doch  bin  ich  mehr  als  drei  Viertel  des  Tages  im  Geiste 
dort!"  Offenbar  hat  sich  Nietzsche  in  diesem  Sommer  recht  gut 
erholt;  denn  im  Herbste  finden  wir  ihn  gesund  und  sehr  glücklich 
wieder  in  Basel  im  Kreise  seiner  Freunde  Rohde  und  Gersdorff, 
eine  Fahrt  nach  Bayreuth  wurde  geplant,  aber  wiederum  nicht  aus- 
geführt. Als  ihm  selbst  seine  Schwester  sein  Fernbleiben  von  Wahn- 
fried vorhielt  und  durchblicken  ließ,  daß  Nietzsches  Gegenwart 
durch  die  seiner  Freunde  bei  Wagner  unmögUch  ersetzt  werden 
könne,  da  antwortete  er  leise:  „Auch  Wagner  kann  mir  durch 
nichts  und  niemand  ersetzt  werden." 

Neben  Arbeiten  an  der  „III.  Unzeitgemäßen"  laufen  wieder 
kritische  Bemerkungen  über  Wagners  Kunst.  „So  liege  darin  etwas 
Schauspielerartiges,  daß  Wagner  die  Musik  als  Mittel  des  Ausdruckes 
benutzt.  So  ward  die  Musik  wirklich  ein  Mittel  des  Ausdruckes  und 


—         4:1  — 

steht  auf  einer  niederen  Stufe,  da  sie  nicht  mehr  organisch  in  sich 
ist.  Die  künstlerische  Kraft  engt  Wagners  unbändige  Triebe  ein, 
veredelt  seine  ganze  Natur.  Diese  selbst  hat  etwas  wie  Flucht 
aus  dieser  Welt,  sie  negiert  dieselbe,  sie  verklärt  sie 
nicht.  Das  aber  scheint  das  Los  der  Kunst  zu  sein:  sie  nimmt  der 
absterbenden  Religion  einen  Teil  ihrer  Kraft  ab,  daher  das  Bündnis 
Schopenhauers  und  Wagners ;  der  Schopenhauersche  Wille  zum  Leben 
bekommt  hier  seinen  Kunstausdruck."  Mit  anderen  Worten :  Wagners 
Kunst  ist  für  Nietzsche  jetzt  nur  mehr  noch  ein  idealisiertes  Christentum 
katholischer  Art.  Von  einem  Parallelismus  zwischen  der  griechischen 
und  deutschen  Kultur  zu  sprechen,  erscheint  ihm  jetzt  lächerlich 
und  durch  Wagners  Werke  gründhch  widerlegt:  die  sokratische 
Vernunft,  die  er  bislang  im  Tempel  der  Kunst  nicht  geduldet  hatte, 
feiert  nunmehr  wieder  ihren  Einzug,  und  in  ihrem  ruhigen,  leiden- 
schaftslosen Lichte  erscheint  ihm  Wagners  orgiastische,  dämonische 
Kunst  mehr  als  zweifelhaft.  Diese  Zweifel  in  Nietzsches  Seele 
charakterisiert  am  besten  folgendes  Selbstbekenntnis:  „Wer  seine 
Zeit  angreift,  kann  nur  sich  angreifen:  was  kann  er  denn  sehen, 
wenn  nicht  sich?  So  kann  man  in  anderen  auch  nur  sich  verherr- 
lichen. Selbstvernichtung,  Selbstvergötterung,  Selbstverachtung  — 
das  ist  unser  Richten,  Lieben,  Hassen ! "  Sind  daher  nicht  alle  gegen 
Wagner  erhobenen  Bedenken  und  Einsprüche  eine  Korrektur  an 
Nietzsches  eigenen  Erfahrungen  und  Urteilen  über  Wagner? 

Doch  wohlgemerkt:  Nietzsche  tastet  sich  jetzt  noch  immer 
vorsichtig  zurecht,  denn  er  fühlt  diesen  dunklen  Zwiespalt  in  seiner 
eigenen  Seele:  „Wie  wird  mir  zumute  sein,  wenn  ich  erst  alles 
Negative  und  Empörte,  was  in  uns  steckt,  aus  mir  herausgestellt 
habe,  und  doch  darf  ich  hoffen,  in  fünf  Jahren  ungefähr  diesem 
herrlichen  Ziele  nahe  zu  sein."... 

Inzwischen  wurde  die  „III.  Unzeitgemäße"  vollendet  und  nach 
Bayreuth  gesandt.  Wagner  quittierte  die  Sendung  mit  folgendem 
Schreiben:  „Telegrammatisch.  Tief  und  groß.  Am  kühnsten  und 
neuesten  die  Darstellung  Kants.  Wahrhaft  verständlich  nur  für  die 
Besessenen !  Ich  sehe  die  drei  Gerechten !  Mögen  sie  lange  und  tiefe 
Schatten  werfen  in  das  Sonnenland  dieser  vortreftlichen  Jetztzeit! 
Ihr  R.  W."  Auch  Frau  Cosima  sandte  einen  ausführlichen  „wunder- 
vollen" Brief  mit  einer  glänzenden  Besprechung  des  neuesten  Werkes 
Nietzsches.  Allerdings  sind  die  darin  enthaltenen  Ansichten  Wagners 


—     48     — 

Ansichten:  denn  während  Frau  Cosima  vorlas,  notierte  sie  stets, 
was  Wagner  dabei  bemerkte.  Deshalb  sind  ihre  Briefe  mit  den 
Urteilen  über  Nietzsches  Werke  so  bedeutungsvoll,  da  sie  Wagners 
Stimmung  in  jener  Zeit   so  vollständig    und  aufrichtig  wiedergeben. 

Dagegen  aber  ist  zu  sagen,  daß  sich  Nietzsche  in  seinen 
Briefen  nach  Bayreuth  nicht  mit  solcher  Aufrichtigkeit  ausgesprochen 
hat.  Denn  in  seiner  Freundschaft  für  Wagner  wollte  er  stets  alles 
vermeiden,  was  diesem  hätte  weh  tun  können.  Außerdem  darf  man 
nicht  vergessen,  wie  sehr  Nietzsche  in  allen  Freundschaftsverhältnissen 
von  der  Höflichkeit  beherrscht  wurde.  Das  ging  oft  so  weit,  daß  er 
aus  Rücksicht  für  den  Adressaten  Urteile  über  andere  aussprach, 
die  nur  dem  Adressaten  wohl  tun  konnten,  aber  durchaus  nicht 
seine  wirkliche  Meinung  spiegelten.  Deshalb  nannte  er  seine  Höf- 
lichkeit ein  Laster  und  war  oft  ärgerlich  darüber.  Daß  er  sich  aber 
Wagner  gegenüber  nicht  mehr  unumwunden  wie  in  den  Tribschener 
Tagen  aussprechen  konnte,  machte  ihn  sehr  traurig  und  zwang  ihm 
einst  folgende  Äußerung  ab:  „Ach,  wir  Einsamen  und  Freien  im 
Geiste  —  wir  sehen,  daß  wir  fortwährend  irgendworin  anders 
scheinen  als  wir  denken:  während  wir  nichts  als  Wahrheit  und 
Ehrlichkeit  wollen,  ist  rings  um  uns  ein  Netz  von  Mißverständnissen ; 
und  unser  heftiges  Begehren  kann  es  nicht  hindern,  daß  doch  auf 
unserem  Tun  ein  Dunst  von  falschen  Meinungen,  von  Anpassung, 
von  halben  Zugeständnissen,  von  schonendem  Verschweigen,  von 
irrtümlicher  Andeutung  liegen  bleibt.  Das  sammelt  eine  Wolke  von 
Melancholie  auf  unserer  Stirne:  denn  daß  das  Scheinen  Notwendig- 
keit ist,  hassen  wir  mehr  als  den  Tod." 

Weihnachten  1874/75  verbrachte  Nietzsche  bei  seiner  Mutter 
in  Naumburg.  Reisepläne  wurden  geschmiedet,  als  von  Frau  Wagner 
ein  Schreiben  eintraf,  worin  Nietzsche  ersucht  wurde,  seine  Schwester 
zu  bereden,  sie  möge  bei  Wagners  Kindern  Mutterstelle  vertreten, 
da  beide  verreisen  müßten.  Frau  Förster  entsprach  dieser  Bitte  und 
traf  Anfang  Februar  in  Bayreuth  ein,  worüber  niemand  glücklicher 
war  als  Nietzsche:  „Liebe  Lisbeth,  ich  habe  mich  sehr  gefreut,  daß 
Du  Dich  kurz  und  gut  entschlossen  hast;  ich  legte  großen  Wert 
darauf,  daß  Du  es  tatest,  zuletzt  bleibt  es  eine  Art  von  hoher 
Schule  für  Dich;  ich  weiß  keinen  anderen  Weg,  wie  Du  so  recht 
gründlich  in  alle  meine  Beziehungen  eingeweiht  werden  könntest. 
Und  so  wird  es  für  unsere  Zukunft  gut  sein,  daß  es  so  gekommen 


—     49     — 

ist.  Ich  freue  mich,  wenn  ich  daran  denke."  Die  Abende,  die  Frau 
Förster  nach  Wagners  Rückkehr  mit  diesem  und  seiner  Frau  ver- 
lebte, zählt  sie  gleichfalls  zu  den  schönsten  Erinnerungen  ihres 
Lebens.  War  es  ihr  doch  gelungen,  Wagners  Mißtrauen  in  die  An- 
hänglichkeit ihres  Bruders  ganz  zu  vernichten.  Während  ihres  Auf- 
enthaltes in  Bayreuth  entstand  zwischen  Nietzsches  Schwester  und 
Frau  Cosima  eine  so  herzliche  Vertrauhchkeit,  daß  sich  beide  von 
da  an  Du  und  Freundinnen  nannten. 

Auch  Baron  Gersdorff  genoß  damals  Wagners  vollstes  Ver- 
trauen, ja  der  Meister  betrachtete  ihn  als  den  einzigen,  dem  er 
aufrichtig  seine  Gedanken  über  Nietzsche  mitteilte.  So  schrieb  er 
ihm  einmal:  „Sie  gewähren  mir  eine  große  Freude,  mich  in  betreff 
Ihrer  Lebensentschlüsse  für  so  wichtig  anzuschlagen.  Sollte  ich  wirk- 
lich einen  so  großen  Einfluß  auf  Sie  gehabt  haben,  so  müßte  ich 
mit  mir  selbst  besonders  zufrieden  sein,  da  Sie  mit  so  männlich 
freundlicher  Ausdauer  Ihre  Entschlüsse  ausführen,  so  daß  ich  mir 
wirkhch  sagen  dürfte,  in  einem  recht  tüchtigen  Sinne  einem  Freunde 
einmal  nützUch  gewesen  zu  sein;  wie  oft  ist  dagegen  die  nähere 
Begegnung  mit  einem  anderen  nur  von  verwirrendem,  ja  störendem 
Einfluß  gewesen!  Dies  soll  gewiß  von  unserem  geliebten  Nietzsche 
nicht  gelten,  von  dem  ich  mir  allerdings  doch  nicht  vorstellen 
könnte,  daß  er  ohne  seine  Bekanntschaft  mit  mir  glücklicher 
gewesen  wäre.  Doch  aber  begegnete  er  mir  auf  dem  Felde  des 
Lebens,  das  uns  gar  leicht  zum  Sumpfe  wird,  wenn  wir  nicht  zu- 
zeiten fliegen  können.  Sie  sind  ,mein  lieber  Freund,  an  dem  ich 
Wohlgefallen  habe'  —  ganz  wie  der  liebe  Gott.  In  sechs  Tagen 
feiern  wir  das  sechsjährige  Gedenkfest  des  ersten  Aufenthaltes 
Nietzsches  auf  Tribschen !!!"... 


Grießer,  Wagner  und  Nietzsche. 


VI.  „RICHARD  WAGNER  IN  BAYREUTH." 

So  konnte  Nietzsche  aus  all  den  mündlichen  und  schriftlichen 
Mitteilungen  seiner  Schwester  und  seiner  Freunde  erkennen,  wie 
der  Meister  sich  der  begründeten  Hoffnung  hingab,  sein  junger 
Freund  werde  im  Bunde  mit  ihm  die  angestrebte  große  Kultur- 
reformation durchsetzen  —  aber  alle  diese  Mitteilungen  und  Briefe 
schnitten  ihm  bitter  ins  Herz  und  erschütterten  ihn  immer  wieder 
auf  seiner  eigenen  Bahn.  Da  rafft  er  sich,  innerlich  schon  ein 
Schwankender,  noch  einmal  auf,  faßt  alles  Große,  was  er  einst  an 
Wagner  gesehen,  in  verklärtem  Lichte  zusammen,  entwirft  das 
Ideal  eines  Künstlers  in  dithyrambischen  Tönen,  zeichnet  ein 
strahlendes,  zitterndes,  glühendes  Bild  vor  unser  Auge  und  nennt 
es  seine  „IV.  Unzeitgemäße:  Richard  Wagner  in  Bayreuth",  keine 
eigentliche  Werbeschrift  mehr,  wie  der  Meister  wohl  erwartet  haben 
mochte ;  oder  denn :  eine  Werbeschrift,  die  er  an  sich  selbst  richtete. 
Es  war  der  Versuch,  das  alte  Bild  wiederherzustellen,  das  ihm 
entschwunden  war,  die  Idee  gegenüber  der  Realität  zur  Geltung  zu 
bringen.  Aber  eben  dies  brachte  etwas  Gezwungenes,  Übertriebenes 
in  die  Schrift.  Es  mußte  selbst  für  Wagner  etwas  Peinliches  haben. 

Der  Inhalt  dieser  Schrift,  die  im  Grunde  nur  eine  erweiterte 
Ausführung  der  im  IL  Teile  der  Geburt  der  Tragödie  aufgestellten 
Probleme  ist,  ist  folgender:  das  Bayreuther  Unternehmen  ist  die 
erste  Weltumseglung  im  Reiche  der  Kunst,  wobei,  wie  es  scheint, 
nicht  nur  eine  neue  Kunst,  sondern  die  Kunst  selber  entdeckt 
wurde.  In  dem  großen  BHcke,  mit  dem  wir  auf  das  Ereignis  von 
Bayreuth  hinzusehen  haben,  hegt  die  große  Zukunft  jenes  Ereig- 
nisses. Das  Dramatische  im  Werden  Wagners  ist  nicht  zu  ver- 
kennen von  dem  Augenblicke  an,  wo  die  in  ihm  herrschende  Leiden- 
schaft ihrer  selbst  bewußt  wird  und  seine  ganze  Natur  zusammen- 
faßt. Das  wunderbar  strenge  Urbild  des  Jünglings,  den  Siegfried  im 
Ring  des  Nibelungen,  konnte  nur  ein  Mann  erzeugen,  der  seine 
Jugend  erst  spät  gefunden  hat;  spät  kam  auch  sein  Mannesalter, 
so  daß  er  wenigstens  hierin  der  Gegensatz  einer  vorwegnehmenden 
Natur  ist:  sobald  seine  geistige  und  sittliche  Mannbarkeit  eintreten. 


—     51     ~ 

beginnt  auch  das  Drama  seines  Lebens.  Durch  Wagners  Gestalten 
geht  ein  verbindender  unterirdischer  Strom  von  sitthcher  Veredlung 
und  Vergrößerung  durch  alle  hindurch,  der  immer  feiner  und 
geläuterter  flutet,  und  hier  stehen  wir  vor  einem  innersten  Werden 
in  Wagners  eigener  Seele.  Alles  nimmt  an  dieser  Läuterung  teil 
und  drückt  sie  aus,  der  Mythus  nicht  nur,  sondern  auch  die  Musik. 
Im  Ringe  des  Nibelungen  finde  ich  die  sittlichste  Musik,  die  ich  kenne, 
dort,  wo  Brunhilde  von  Siegfried  erweckt  wird.  Hier  reicht  er  hinauf 
bis  zu  einer  Höhe  und  Heihgkeit  der  Stimmung,  daß  wir  an  das 
Glühen  der  Eis-  und  Schneegipfel  in  den  Alpen  denken  müssen,  so 
rein,  einsam,  schwer  zugänglich,  trieblos,  vom  Leuchten  der  Liebe 
umflossen,  erhebt  sich  hier  die  Natur;  Wolken  und  Gewitter,  ja 
selbst  das  Erhabene  sind  unter  ihr.  In  jedem,  was  er  dachte  und 
dichtete,  hat  Wagner  das  Problem  der  Treue  ausgeprägt;  es  ist  die 
eigenste  Urerfahrung,  welche  Wagner  in  sich  selbst  erlebt  hat,  und 
wie  ein  religiöses  Geheimnis  verehrt.  Niemand  wird  ihm  den  Ruhm 
mehr  streitig  machen,  das  höchste  Vorbild  für  alle  Kunst  des  großen 
Vortrages  gegeben  zu  haben;  aber  er  wurde  noch  viel  mehr,  und 
es  war  ihm  so  wenig  als  jemandem  erspart,  sich  lernend  die  höchste 
Kultur  anzueignen.  Auf  die  Verbesserung  der  als  veränderlich 
erkannten  Seite  der  Welt  loszugehen,  lehren  die  wahren  Philosophen 
durch  die  Tat  dadurch,  daß  sie  an  der  Verbesserung  der  Einsicht 
der  Menschen  arbeiten.  Und  Wagner  ist  dort  am  meisten  Philosoph, 
wo  er  am  tatkräftigsten  und  heldenhaftesten  ist.  Die  Erde  sehnt 
sich  wieder  nach  der  Hellenisierung :  nicht  den  gordischen  Knoten 
der  griechischen  Kultur  zu  lösen,  wie  es  Alexander  tat,  sondern 
ihn  zu  binden,  nachdem  er  gelöst  war,  das  ist  jetzt  die  Auf- 
gabe. In  Wagner  er  kenn  eich  einen  solchen  Gegen-Alexander, 
insofern  gehört  er  zu  den  ganz  großen  Kulturgewalten.  Für 
uns  bedeutet  Bayreuth  die  Morgenweihe  am  Tage  des  Kampfes.  Wir 
sehen  in  jenem  Bilde  des  tragischen  Kunstwerkes  von  Bayreuth  den 
Kampf  der  einzelnen  mit  allem,  was  ihnen  als  scheinbar  unbezwingliche 
Notwendigkeit  entgegentritt,  mit  Macht,  Gesetz,  Herkommen,  Ver- 
trag und  ganzen  Ordnungen  der  Dinge.  Darin  liegt  die  Größe  und 
Unentbehrhchkeit  der  Kunst,  daß  sie  den  Schein  einer  einfachen 
Welt,  einer  kurzen  Lösung  der  Lebensrätsel  erregt.  Der  einzelne 
soll  zu  etwas  Überpersönlichem  geweiht  sein :  das  will  die  Tragödie. 
Es  gibt  nur  eine  Hoffnung  und  eine  Gewähr   für  die  Zukunft  des 

4* 


—     52     — 

Menschlichen:  daß  die  tragische  Gesinnung  nicht  absterbe.  Wagner 
fand  ein  Verhältnis  zwischen  zwei  Dingen,  die  fremd  und  kalt  wie 
in  getrennten  Sphären  zu  leben  schienen,  zwischen  Musik  und 
Leben,  und  zwischen  Musik  und  Drama.  Über  dem  Werden  des 
wirkUchen  Wagner  liegt  eine  verklärende  und  rechtfertigende  Not- 
wendigkeit. Seine  Kunst,  im  Entstehen  betrachtet,  ist  das  herr- 
lichste Schauspiel:  denn  Vernunft,  Gesetz,  Zweck  zeigt  sich  überall. 
Die  gewaltigste  Lebensäußerung  Wagners  ist  jene  dämonische  Über- 
tragbarkeit und  Selbstentäußerung ;  welche  sich  anderen  ebenso  mit- 
teilen kann,  als  sie  andere  Wesen  sich  selber  mitteilt  und  im  Hin- 
geben und  Annehmen  ihre  Größe  hat.  Indem  der  Betrachtende 
scheinbar  der  aus-  und  überströmenden  Natur  Wagners  unterliegt, 
hat  er  an  ihrer  Kraft  selber  Anteil  genommen  und  ist  so  gleichsam 
durch  ihn  gegen  ihn  mächtig  geworden.  Und  jeder,  der  sich  genau 
prüft,  weiß,  daß  selbst  zum  Betrachten  eine  geheimnisvolle  Gegner- 
schaft, die  des  Entgegenschauens,  gehört.  In  Wagner  ist  das  Wesen 
des  dithyrambischen  Dramatikers,  diesen  Begriff  so  voll  genommen, 
daß  er  zugleich  den  Schauspieler,  Dichter  und  Musiker  umfaßt,  so 
wie  dieser  Begriff  aus  der  einzig  vollkommenen  Erscheinung  des 
dithyrambischen  Dramatikers  vor  Wagner,  aus  Aischylos,  und  seinen 
griechischen  Kunstgenossen  entnommen  werden  muß.  Durch  die 
Tragödie  wird  dem  Leben  seine  herrlichste  Weisheit,  die  des  tragi- 
schen Gedankens  geschenkt,  und  es  erwächst  der  große  Zauberer 
und  Beglücker  unter  den  Sterblichen,  der  dithyrambische  Dramatiker. 
In  Wagner  stieg  der  herrschende  Gedanke  seines  Lebens  auf,  daß 
vom  Theater  aus  eine  unvergleichliche  Wirkung,  die  größte  Wirkung 
aller  Kunst  ausgeübt  werden  könne.  Wer  sich  über  die  Nachbar- 
schaft des  „Tristan"  und  der  „Meistersinger"  befremdet 
fühlen  kann,  hat  das  Leben  und  Wesen  aller  wahrhaft  großen 
Deutschen  in  einem  wichtigen  Punkte  nicht  verstanden.  Er  weiß 
nicht,  auf  welchem  Grunde  allein  jene  eigentlich  und  einzig  deutsche 
Heiterkeit  Luthers,  "Beethovens  und  Wagners  erwachen  kann,  jene 
goldhelle,  durchgegorene  Mischung  von  Einfalt,  Tiefblick  der  Liebe, 
betrachtendem  Sinne  und  Schalkhaftigkeit,  wie  sie  Wagner  als  den 
köstlichsten  Trank  allen  denen  eingeschenkt  hat,  welche  tief  am 
Leben  gehtten  haben,  und  sich  ihm  gleichsam  mit  dem  Lächeln 
des  Genesenden  wieder  zukehren.  Um  sein  größtes  Werk  in  seinem 
eigensten  Rhythmus  zum  Beispiel  für  alle  Zeiten  hinzustellen,  erfand 


—     53     ~ 

er  den  Gedanken  von  Bayreuth.  Die  Größe  Wagners,  des  Künstlers, 
besteht  in  jener  dämonischen  Mitteilbarkeit  seiner  Natur, 
welche  in  allen  Sprachen  von  sich  redet  und  das  innere 
eigenste  Erlebnis  mit  der  höchsten  Deutlichkeit  er- 
kennen läßt.  Sein  Auftreten  in  der  Geschichte  der  Künste  gleicht 
einem  vulkanischen  Ausbruche  des  gesamten  mitgeteilten  Kunst- 
vermögens der  Natur  selber,  nachdem  die  Menschheit  sich  an  dem 
Anblicke  der  Vereinzelung  der  Künste  wie  an  eine  Regel  gewöhnt 
hatte.  Das  Dichterische  in  Wagner  zeigt  sich  darin,  daß  er  in  sicht- 
baren und  fühlbaren  Vorgängen,  nicht  in  Begriffen  denkt;  daß  er 
mythisch  denkt,  so  wie  immer  das  Volk  gedacht  hat.  Und  dies  ist 
das  Mächtigste  an  der  Wagnerschen  Begabung,  für  jedes  Werk  seine 
eigene  Sprache  auszuprägen  und  der  neuen  Innerlichkeit  auch  einen 
neuen  Leib,  einen  neuen  Klang  zu  geben.  Wagner  erscheint  als 
Bildner  höchster  Art,  welcher  wie  Aischylos  der  kommenden  Kunst 
den  Weg  zeigt.  Niemand  wird  ihm  den  Ruhm  mehr  streitig  machen, 
das  höchste  Vorbild  für  alle  Kunst  des  großen  Vortrages  gegeben 
zu  haben.  Wagners  Musik  als  Ganzes  ist  ein  Abbild  der  Welt,  so 
wie  diese  von  dem  großen  ephesischen  Philosophen  verstanden 
wurde  als  eine  Harmonie,  welche  der  Streit  aus  sich  zeugt  als  die 
Einheit  von  Gerechtigkeit  und  Feindschaft.  Als  Künstler  im  ganzen 
betrachtet,  hat  Wagner  von  Demosthenes  etwas  an  sich,  den  furcht- 
baren Ernst  um  die  Sache  und  die  Gewalt  des  Griffes,  so  daß  er 
jedesmal  die  Sache  faßt.  Das  tiefste  Bedürfnis  treibt  ihn,  für  seine 
Kunst  die  Tradition  eines  Stiles  zu  begründen.  Keine  ästhetischen 
Schriften  bringen  so  viel  Licht  wie  die  Wagners,  seine  Gedanken 
sind  überdeutsch,  und  die  Sprache  seiner  Kunst  redet  nicht  zu 
Völkern,  sondern  zu  Menschen  der  Zukunft.  Und  nun  fragt  euch 
selber,  ihr  Geschlechter  jetzt  lebender  Menschen,  ward  dies  für  euch 
gedichtet?  Habt  ihr  den  Mut,  mit  eurer  Hand  auf  die  Sterne  dieses 
ganzen  Himmelsgewölbes  von  Schönheit  und  Güte  zu  zeigen 
und  zu  sagen:  es  ist  unser  Leben,  das  Wagner  unter  die  Sterne 
versetzt  hat? 

H.  St.  Chamberlain,  Wagners  Schwiegersohn,  nannte  diese 
Schrift  Nietzsches  das  Beste,  was  dieser  merkwürdige  Mann  je  ge- 
schrieben hat.  Das  ist  ein  einseitiges  Werturteil,  aufgebaut  einzig 
und  allein  auf  der  Tatsache,  daß  dieses  Werk  Nietzsches  doch  nur 
ein  Panegyrikus    auf  den  Meister  war,    ein    letzter  Liebesblick   des 


—     54     ~ 

Scheidenden  auf  die  entzückende  Zeit  der  Gemeinschaft  mit  Wagner^). 
Nietzsche  sandte  diese  Schrift  als  „eine  Art  Bayreuther  Festpredigt" 
nach  Bayreuth,  wo  sie  tiefste  Freude  erregte,  wobei  der  durch  tausend 
Sorgen  in  Anspruch  genommene  Meister  unter  dem  unmittelbaren 
Eindrucke  der  Lektüre  das,  was  Nietzsche  bereits  von  ihm  trennte, 
übersehen  haben  mochte.  Denn  er  schrieb  ihm:  „Freund,  Ihr  Buch  ist 
ungeheuer.  Wo  haben  Sie  nur  die  Erfahrung  von  mir  her?!  Kommen 
Sie  nur  bald  und  gewöhnen  Sie  sich  durch  die  Proben  an  die  Ein- 
drücke. Ihr  R.  W."  Es  sollten  diese  Zeilen  die  letzten  sein,  die  der 
Meister  seinem  Jünger  sandte.  Und  doch  war  bereits  schon  so  viel 
des  Trennenden  in  dieser  Schrift  unzweideutig  ausgedrückt:  weil 
Wagner  zu  der  Urhalluzination  der  Gebärden  erst  die  Tonsemiotik 
suchte  und  erfand,  weil  er  das  Motiv  zum  Leitmotiv  ausdeutete 
und  umschuf,  verdankt  sein  Musikdrama  als  Gattung  und  Typus 
seine  Existenz  nur  Wagners  gebieterischem  Willen,  nicht  der  eigenen 
Lebensfülle.  Figaro,  Don  Juan,  Fidelio  sind,  die  Nibelungen  aber,  aus 
gewaltigstem  Ehrgeiz  geboren,  sollen  sein!  Und  indem  sich  Nietzsche 
gegen  jede  ästhetizistische  Auslegung  des  Wagnerschen  Musikkultus 
wehrt,  meint  er:  „Man  könnte  uns  nicht  mehr  Unrecht  tun,  als  wenn 
man  annehme,  es  sei  uns  um  die  Kunst  allein  zu  tun;  als  ob  sie 
wie  ein  Heil-  und  Betäubungsmittel  zu  gelten  hätte,  mit  dem  man 
alle  übrigen  elenden  Zustände  von  sich  abtun  könnte."  In  diesen 
Worten  liegt  aber  gleichzeitig  auch  ein  Ausfall  gegen  Schopenhauer, 
bei  dem  die  Kunst  bekanntlich  eine  Form  der  Erlösung  ist,  der 
höchste  Aufschwung  der  Seele.  Nietzsche  dagegen  bejaht  nur 
die  verwandelnde  Kraft   der  Musik.    So  schrieb    er  1871   an  Rohde: 


1)  In  einer  seiner  Vorreden  erzählt  Nietzsche,  daß  die  Mehi'zahl  seiner 
Schriften  durchaus  nicht  seine  Gefühle  zur  Zeit  der  Niederschrift  wider- 
spiegeln, sondern  Überlebtes  darstellen,  also  von  Gedanken  reden,  die  bereits 
neuen  Ideen  Platz  gemacht  haben.  So  war  auch  die  „IV.  Unzeitgemäße"  „eine 
Huldigung  und  Dankbarkeit  gegen  ein  Stück  Vergangenheit  von  mir,  gegen 
die  schönste  und  gefährlichste  Meeresstille  meiner  Fahrt  .  .  und  tatsächlich 
eine  Loslösung,  ein  Abschiednehmen".  Da  wir  heute  in  der  glückhchen  Lage 
sind,  die  Entwicklung  von  Nietzsches  Denken  an  Hand  der  veröffentlichten 
Dokumente  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  zu  verfolgen,  dürfen  wir  sa^en, 
daß  Nietzsche  zu  derselben  Zeit,  da  er  in  seinen  zur  Veröffentlichung  be- 
stimpaten  Schriften  jedes  Wort,  das  kein  Lob  Wagners  oder  Schopenhauers 
enthielt,  sorgfältig  vermied,  in  seinen  Gedanken  weit  davon  entfernt  war, 
sich  der  Autorität  dieser  beiden  Männer  bedingungslos  zu  unterwerfen,  viel- 
mehr kräftig  daran  arbeitete,  sich  von  ihrer  Herrschaft  loszumachen. 


—     55     — 

„Wenn  ich  mir  denke,  daß  nur  einige  hundert  Menschen  aus  der 
nächsten  Generation  das  von  der  Musik  haben,  was  ich  von  ihr 
habe,  so  erwarte  ich  eine  völKg  neue  Kultur."  Das  auf  Wagner 
übertragen,  heißt,  daß  Nietzsche  von  der  Musik  und  Persönhchkeit 
Wagners  damals  noch  glaubte,  daß  ihr  diese  verwandelnde,  kultur- 
erneuernde Kraft  innewohne.  Nietzsches  Vorstudien  zu  Eichard 
Wagner  in  Bayreuth  lassen  das,  was  ihn  von  Wagner  bereits  trennte, 
noch  deutlicher  und  schärfer  hervortreten.  Auffällig  ist  allerdings, 
daß  der  Mann,  der  lehrte,  man  müsse  die  alten  Tafeln  zerbrechen 
und  nur  das  Kinderland  lieben,  in  diesen  Vorstudien  Ehrfurcht 
predigt  vor  dem  Vergangenen.  Wiewohl  ihm  also  die  Wagnersche 
Kunst  die  Ankündigung  einer  völlig  neuen  Kultur  war,  bekennt  er: 
„Ich  könnte  mir  auch  eine  vorwärts  blickende  Kunst  denken,  die 
ihre  Bilder  in  der  Zukunft  sucht.  Warum  gibt  es  solche  nicht?  Die 
Kunst  knüpft  an  die  Pietät  an"  . . .  „eine  besondere  Form  des 
Ehrgeizes  Wagners  war  es,  sich  mit  den  Größen  der  Vergangenheit 
in  ein  Verhältnis  zu  setzen:  mit  Schiller,  Goethe,  Beethoven,  Luther, 
der  griechischen  Tragödie,  Shakespeare,  Bismarck.  Nur  zur  Re- 
naissance fand  er  kein  Verhältnis;  aber  er  erfand  den  deutschen 
Geist  gegen  den  romanischen.  Interessante  Charakteristik  des  deut- 
schen Geistes  nach  seinem  Vorbilde."  Noch  schärfer  präzisiert  und 
als  eine  direkte  Invektive  gegen  Wagner  kehrt  dieser  Gedanke 
wieder  im  „Menschlichen" :  „Es  gibt  so  anmaßende  Menschen,  daß 
sie  eine  Größe,  welche  sie  öffentlich  bewundern,  nicht  anders  zu 
loben  wissen,  als  daß  sie  dieselbe  als  Vorstufe  und  Brücke,  die 
zu  ihnen  führt,  darstellen."  Wagner  hat  also,  um  die  Zukunft  seines 
Werkes  zu  sichern,  nach  Tyrannenart  für  eine  Vergangenheit  ge- 
sorgt, dabei  jedoch  der  Geschichte  Gewalt  angetan,  damit  sie  als 
Vorbereitung  und  Stufenleiter  zu  ihm  hin  erscheine.  So  sind  denn 
in  der  Tat  zahlreiche  Ideen  aus  diesen  Vorstudien  später  im  „Fall 
Wagner"  entwickelt  worden.  Er  spricht  von  der  Maßlosigkeit  in 
Wagners  Charakter  und  Begabung;  aus  Bach  und  Beethoven  leuchte 
„eine  reinere  Natur";  er  urteilt  strenge  über  das  politische  Leben 
Wagners,  über  seine  Beziehungen  zur  Revolution  oder  zum  Könige 
von  Bayern;  über  seinen  Antisemitismus;  äußert  starke  Zweifel 
über  Wagners  Wert  nicht  allein  als  Gesamtkünstler,  sondern  auch 
als  SpeziaUst;  er  deutet  hin  auf  gewisse  „reaktionäre  Elemente"  in 
ihm:    Sympathie    für    das   mittelalterlich  Christliche,  buddhaistische 


—     56     — 

Neigungen,  Liebe  zum  Wunderhaften ;  deutschen  Patriotismus.  Dieses 
Verhalten  Nietzsches  hat  man  ihm  als  Doppelzüngigkeit  zum  Vor- 
wurfe gemacht.  Aber  ganz,  mit  Unrecht.  Denn,  so  schreibt  er:  „Erst 
glauben  wir  einem  Philosophen,  dann  sagen  wir:  mag  er  in  der  Art, 
wie  er  seine  Sätze  beweist,  Unrecht  haben,  die  Sätze  sind  wahr. 
Endlich  aber:  es  ist  gleichgültig,  wie  die  Sätze  lauten,  die  Natur 
des  Mannes  steht  uns  für  hundert  Systeme  ein.  Als  Lehrender  mag 
er  hundertmal  Unrecht  haben :  aber  sein  Wesen  ist  im  Recht,  daran 
wollen  wir  uns  halten.  Es  ist  an  einem  Philosophen  etwas,  was  nie 
an  einer  Philosophie  sein  kann :  nämlich  die  Ursache  zu  vielen  Philo- 
sophien, der  große  Mensch."  Dieser  scheinbar  paradoxe  Aphorismus 
erklärt  nun  die  Entwicklung  von  Nietzsches  Gefühlen  nicht  nur  gegen 
Schopenhauer,  sondern  auch  gegen  Wagner:  er  hat  damit  angefangen, 
sich  für  ihre  Werke  zu  begeistern;  dann  hat  er  seine  Liebe  und 
Ehrfurcht  auf  die  Persönlichkeit  dieser  Meister  selbst  übertragen,  er 
hat  sie  als  Menschen  und  Genies  gehebt,  unabhängig  von  ihren 
Werken;  er  hat  in  der  Folge  jede  Handlung  sorgfältig  vermieden, 
die  geeignet  war,  die  leidenschaftliche  Freundschaft,  die  er  ihnen 
geschworen  hatte,  zu  stören;  er  hat  sich  insonderheit  der  öffent- 
Uchen  Kritik  dessen  enthalten,  was  ihn  in  ihren  Werken  nicht  be- 
friedigte. Schließlich  ist  aber  doch  ein  Augenblick  gekommen,  wo 
er  erkennen  mußte,  daß  die  Unterschiede  zwischen  ihm  und  seinen 
Meistern  zu  bedeutend  waren,  um  sie  verschweigen  zu  können, 
ohne  der  Aufrichtigkeit  gegen  sich  selbst  Abbruch  zu  tun;  und  er 
hat  mit  zerrissenem  Herzen  den  gebieterischen  Forderungen  seines 
Denkergewissens  gehorcht  und  seine  Kritik  gegen  seine  Erzieher 
gekehrt.  Er  hat  dann  den  Irrtum  eingesehen,  in  dem  er  sich  ihnen 
gegenüber  befand.  Er  hatte  in  der  Berührung  mit  ihnen  nicht  sie 
zu  begreifen  gesucht,  wie  sie  wirklich  waren,  sondern  sich  selbst. 
Und  diese  Art  vorzugehen,  hatte  ein  scheinbar  paradoxes,  aber  in 
Wirklichkeit  völlig  logisches  Resultat  ergeben ;  anstatt  sich  Schopen- 
hauer und  Wagner  anzuähneln,  hatte  er  sie  im  Gegenteil  nach 
seinem  Bilde  umgeformt.  So  zeigt  das  Bild,  das  er  von  Schopen- 
hauer entwirft,  eine  nur  ziemlich  unbestimmte  Ähnlichkeit  mit  dem 
wirklichen  Schopenhauer,  wogegen  Nietzsche  mit  großer  Genauigkeit 
das  Ideal  des  „tragischen  Philosophen"  beschreibt,  so  wie  er  es  be- 
griff. Ebenso  weit  entfernte  er  sich  von  der  objektiven  Wirklichkeit 
in    seinem  Bilde    von  Wagner   und   seiner  Verteidigung   des   „Bay- 


reuther  Gedankens",  als  er  die  Idealfigur  des  dionysischen  Künstlers 
— •  eine  Art  präexistenten  Zarathustra  —  skizzierte  und  jenen 
„großen  Mittag"  vorherbeschrieb,  wo  die  versammelten  Auserwählten 
sich  der  höchsten  Aufgabe  weihen;  anstatt  seine  Muster  abzuzeichnen, 
hatte  Nietzsche  seine  inneren  Traumgebilde  beschrieben. 

Was  war  also  diese  Schrift  in  Wirklichkeit?  Hören  wir,  was 
Nietzsche  über  ihre  Entstehung  sagte  und  wie  er  selbst  über  sie 
urteilte:  ^Was  sich  damals  bei  mir  entschied,  war  nicht  etwa  ein 
Bruch  mit  Wagner  —  ich  empfand  eine  Gesamtabirrung  meines 
Instinktes,  an  dem  der  einzelne  Fehlgriff,  heiße  er  nun  Wagner 
oder  Baseler  Professur,  bloß  ein  Zeichen  war.  Eine  Ungeduld  mit 
mir  selbst  überfiel  mich;  ich  sah  ein,  daß  es  die  höchste  Zeit  war, 
mich  auf  mich  zurückzubesinnen.  Mit  einem  Male  war  mir  auf  eine 
schreckliche  Weise  klar,  wieviel  Zeit  bereits  verschwendet  sei  . . . 
im  Grunde  kommt  wenig  darauf  an,  wovon  ich  mich  loszumachen 
hatte:  meine  Lieblingsform  der  Losmachung  aber  war  die  künstle- 
rische: das  heißt,  ich  entwarf  ein  Bild  dessen,  was  mich  bis  dahin 
gefesselt  hatte:  so  von  Schopenhauer  und  Wagner  —  zugleich  ein 
Tribut  der  Dankbarkeit."  Nietzsche  arbeitete  an  dieser  Schrift 
vom  August  bis  Oktober  1875.  Mitten  in  der  Arbeit,  etwa  im  Oktober, 
schreibt  er  plötzlich  an  Rohde:  „Meine  Betrachtung  unter  dem  Titel 
,R.  Wagner  in  Bayreuth'  wird  nicht  gedruckt;  sie  ist  fast  fertig,  ich 
bin  aber  weit  hinter  dem  zurückgeblieben,  was  ich  von  mir  fordere : 
und  so  hat  sie  nur  für  mich  den  Wert  einer  neuen  Orientierung 
über  den  schwersten  Punkt  unserer  bisherigen  Erlebnisse.  Ich 
stehe  nicht  darüber  und  sehe  ein,  daß  mir  selber  die  Orientierung 
nicht  völlig  gelungen  ist  —  geschweige  denn,  daß  ich  anderen 
helfen  könnte."  Frau  Förster  zitiert  Nietzsches  Entwurf  zu  einer  Vor- 
rede, die  sich  noch  erhalten  hat  und  die  ich  vollinhaltlich  wieder- 
gebe: „Es  gibt  vielmehr  ein  paar  ganz  unaufmerksame  Leute,  die 
jetzt  noch  gar  nichts  von  Bayreuth  und  den  Dingen,  welche  sich 
jetzt  an  diesen  Namen  knüpfen,  wissen:  und  dann  zahllose,  die  viel 
Falsches  davon  wissen  und  erzählen.  Aber  auch  das  Wahre  und 
Herrliche,  was  davon  zu  berichten  bliebe,  wie  matt  lebt  es  in  den 
Empfindungen  und  Worten  derer,  die  ehrlich  genug  sind,  es  an- 
zuerkennen ;  und  wiederum,  wie  unaussprechbar  muß  es  den  anderen 
erscheinen,  welche  ganz  von  dem  Feuer  jenes  Geistes  durchglüht 
sind,     der    hier    zum    erstenmal    zu    der    Menschheit    reden    will. 


—     58     — 

Zwischen  den  Schwachempfindenden  und  den  Sprach- 
losen stehe  ich  selber  in  der  Mitte:  dies  zu  bekennen  ist 
weder  vermessen  noch  allzu  bescheiden,  sondern  nur  schmerzlich: 
weshalb  gerade  das,  braucht  niemand  zu  wissen.  Wohl  aber  ent- 
nehme ich  aus  meiner  Mittenstellung  ein  Gefühl  von  Pflicht,  zu 
reden  und  einiges  deutlicher  zu  sagen,  als  es  bis  jetzt  in  bezug  auf 
diese  Ereignisse  geschehen  ist.  Ich  verzichte  aus  Not  darauf,  die 
sehr  verschiedenen  Erwägungen,  zu  denen  ich  mich  gedrängt  fühle, 
in  Form  und  Zusammenhang  zu  bringen;  man  könnte  wohl  den 
Eindruck  eines  Ganzen  und  Geschlossenen  mit  einiger  Kunst  der 
Täuschung  hervorbringen:  ich  will  ehrhch  bleiben  und  sagen,  daß 
ich  es  jetzt  nicht  besser  machen  kann,  als  ich  es  hier  mache,  ob 
ich  es  freilich  schlecht  genug  mache."  Das  Werk  blieb  unvollendet, 
bis  Nietzsche,  der  im  Winter  wieder  eine  gefährhche  Krankheit 
überstanden  hatte,  im  Frühjahre  1876  die  Arbeit  wieder  vornahm, 
um  Wagner  seine  Dankbarkeit  für  unzähhge  glückliche  Stunden 
und  für  alles,  was  Wagner  in  ihm  entzündet  hatte,  auszudrücken. 
Daher  hieß  es  im  Geburtstagsbriefe  an  den  Meister,  21.  Mai  1876: 
„Seit  den  ersten  Besuchen  in  Tribschen  leben  Sie  in  mir  und  wirken 
unaufhörlich  als  ein  ganz  neuer  Tropfen  Blutes,  den  ich  früher  gewiß 
nicht  in  mir  hatte!  Dieses  Element  ...  treibt,  beschämt,  ermutigt, 
stachelt  mich  und  hat  mir  keine  Ruhe  mehr  gelassen,  so  daß  ich 
beinahe  Lust  haben  könnte,  Ihnen  wegen  dieser  ewigen  Beunruhigung 
zu  züinen,  wenn  ich  nicht  ganz  bestimmt  fühlte,  daß  diese  Unruhe 
mich  zum  Freier-  und  Besser  werden  unaufhörlich  antreibt.  So 
muß  ich  dem,  welcher  sie  erregte,  mit  dem  allertiefsten  Gefühle 
des  Dankes  dankbar  sein;  und  meine  schönsten  Hoffnungen,  die  ich 
auf  die  Ereignisse  dieses  Sommers  setze,  sind  die,  daß  viele  in 
einer  ähnlichen  Weise  durch  Sie  und  ihre  Werke  in  jene  Unruhe 
versetzt  werden  und  dadurch  an  der  Größe  Ihres  Wesens  und  Lebens- 
ganges einen  Anteil  bekommen."  Wir  sehen:  im  persönlichen  oder 
briefhchen  Verkehre  werden  alle  Formen  des  Anstandes  und  der 
Höflichkeit  peinlich  gewahrt,  und  doch  drängt  sich  dem  scharf  be- 
urteilenden Beobachter  die  Wahrnehmung  auf,  als  fände  dieser 
Nietzsche  nicht  mehr  den  Mut,  dem  Meister  offen  vor  die  Augen  zu 
treten  und  ihm  Dinge  zu  sagen,  an  deren  Wahrheit  er  selbst  schon 
längst  nicht  mehr  glaubt.  Daher  die  um  so  größere  Rücksichtnahme 
in  den  Briefen.  Und  auch  unsere  Schrift  selbst  zeugt  von  Nietzsches 


—     59     — 

widerstreitenden  Empfindungen.  Aus  erhaltenen  Briefentwürfen  an 
Wagner  und  dessen  Frau  erhellt  deutlich  seine  Beunruhigung:  „Es 
ist,  als  ob  ich  wieder  einmal  mich  selber  aufs  Spiel  gesetzt  hätte. 
Ich  bitte  Sie  auf  das  herzlichste:  lassen  Sie  geschehen  sein,  was 
geschehen  ist,  und  gewähren  Sie  einem,  der  sich  nicht  geschont 
hat,  Ihr  Mitleid  und  Ihr  Schweigen.  Lesen  Sie  diese  Schrift,  als  ob 
sie  nicht  von  Ihnen  handelte  und  als  ob  sie  nicht  von  mir  wäre. 
Eigenthch  ist  über  meine  Schrift  unter  Lebenden  nicht  gut  zu  reden, 
es  ist  etwas  für  die  Unterwelt"  ;  . . .  abgesandt  wurde  folgendes : 
„meine  Schriftstellerei  bringt  für  mich  die  unangenehme  Folge  mit 
sich,  daß  jedesmal,  wenn  ich  eine  Schrift  veröffentlicht  habe,  irgend 
etwas  in  meinen  persönlichen  Verhältnissen  in  Frage  gestellt  wird 
und  erst  wieder  mit  einem  Aufwand  von  Humor  eingerenkt  werden 
muß ...  Sie  haben  mir  einmal,  in  Ihrem  allerersten  Briefe  an 
mich,  etwas  vom  Glauben  an  die  deutsche  Freiheit^)  gesagt:  an 
diesen  Glauben  wende  ich  mich  heute:  wie  ich  auch  nur 
aus  ihm  den  Mut  finden  konnte,  das  zu  tun,  was  ich  getan 
habe."  Wahrlich,  so  spricht  nie  und  nimmer  ein  Mensch,  der  an 
seinem  Freunde  zum  Verräter  werden  will. 

Man  hat  vielmehr  das  Gefühl,  als  ob  Nietzsche,  noch  an  Wagner 
hängend,  aber  an  ihm  bereits  zweifelnd,  mit  seiner  Romantiker- 
sehnsucht einen  neuen  Heros  suchte.  Und  dieser  neue  Heros,  dessen 
noch  schattenhaft  vor  Nietzsches  Seele  aufsteigender  Genius  seinen 
Ausblick  auf  Wagner  zu  verdunkeln  begann,  ist  niemand  anderer 
als  Pia  ton.  Aus  derselben  Zeit  nämlich,  wie  die  „IV.  Unzeitgemäße", 
stammt  ein  Fragment,  das  auf  eine  Neubearbeitung  des  Philosophen- 
buches Bezug  nimmt  und  wo  die  interessante  Frage  aufgerollt  wird, 
wie  sich  wohl  Piaton  ohne  Einwirkung  des  Sokrates  entwickelt 
haben  würde.  „Tragödie,  tiefe  Auffassung  der  Liebe,  reine  Natur, 
keine  fanatische  Abkehr,  offenbar  waren  die  Griechen  im  Begriffe, 
einen  noch  höheren  Typus  des  Menschen  zu  finden  als  die  früheren 
waren;  da  schnitt  die  Schere  dazwischen.  Es  bleibt  beim  tragischen 
Zeitalter  der  Griechen."  Wir  können  nur  der  Vermutung  Ausdruck 
geben,  daß  Nietzsche,  hätte  er  dieses  Fragment  weiter  ausgeführt,  in 
Piaton  die  Gestalt  seines  Übermenschen  antizipierend  realisiert  hätte. 
Diese  Ideengänge  mußten  naturgemäß  gleichfalls  auf  die  Darstellung 
der  „IV.  Unzeitgemäßen"  Einflußnehmen:  einerseits  wird  Piaton  gegen 

1)  Cf.  p.  10. 


—     60     — 

Wagner  ausgespielt,  wiewohl  Nietzsche  anderseits  sich  nicht  scheut, 
im  Gegensatz  zur  platonischen  Forderung,  die  Tragödie  aus  seinem 
Staate  zu  bannen,  mit  einer  gewissen  Künstelei  die  Forderung  nach 
einem  „Zauberer  und  Alldramatiker"  erhebt,  damit  wir  wenigstens 
für  die  Dauer  einiger  Stunden  erlöst  und  befreit  werden  von  den 
Spannungen,  die  der  sehende  Mensch  jetzt  zwischen  sich  und  den 
ihm  aufgebürdeten  Aufgaben  empfindet.  Da  aber  die  heutige  Mensch- 
heit noch  gar  keine  Hoffnung  auf  Piatons  Staat  habe,  habe  sie 
„selbst  zu  dieser  Blindheit  kein  Recht,  während  Piaton  gegen  alles 
wirklich  Hellenische  mit  Recht  blind  sein  durfte,  nach  jenem  einzigen 
Blick  seines  Auges,  den  er  in  das  Idealhellenische  getan  hatte". 
Und  wenn  Nietzsche  gleichzeitig  an  Rohde  schreibt:  „Nur  dadurch 
können  wir  zu  wirklichen  Lehrern  werden,  daß  wir  uns  selbst  mit 
allen  Hebeln  aus  dieser  Zeitluft  herausheben  und  daß  wir  nicht  nur 
weisere,  sondern  vor  allem  bessere  Menschen  sind.  Also,  wir  werfen 
einmal  dieses  Joch  ab,  das  steht  für  mich  ganz  fest!  Und  dann 
bilden  wir  eine  neue  griechische  Akademie",  so  ergibt  sich  aus 
alledem,  daß  nicht  mit  einer  großen  populären  Theaterwirkung  wie 
in  Bayreuth,  sondern  nur  durch  die  Sorge  um  die  eigene  Seele  und 
die  echten  geistigen  Bedürfnisse,  nur  im  engen  Kreise  wirklich 
Gleichgesinnter  für  Nietzsche  das  vorbereitet  werden  kann,  wovon 
die  Zukunft  ihren  Ausgang  nehmen  soll.  Bei  dieser  Gelegenheit  ver- 
weise ich  den  Leser  auf  das  wertvolle  Buch:  Kurt  Hildebrandt: 
„Nietzsches  Wettkampf  mit  Sokrates  und  Piaton". 

Etwas  ganz  anderes  ging  in  dieser  Seele  vor  sich  und  rang 
sich  unter  Kämpfen,  von  deren  Schwere  wir  wohl  kaum  eine  Ahnung 
haben  können,  ans  Licht.  Nietzsche  war  Wagners  begeisterter 
Apostel:  aber  in  demselben  Verhältnisse,  wie  seine  Mission  für  ihn 
immer  mehr  in  den  Vordergrund  trat,  verschob  sich  für  ihn  sein 
Verhältnis  zu  Wagner.  Dessen  Person  hatte  ihn  beherrscht :  Wagner, 
das  Genie,  der  Reformator  der  Kunst,  der  Reorganisator  der  Kultur. 
Aber  schließlich  doch  eben  dieser  lebende  Mensch  mit  all  seiner 
unbeschreiblichen  Eigenart.  Um  seinetwillen  war  er  in  den  Dienst 
der  Bayreuther  Sache  getreten.  Jugend  meint  immer  Personen,  wenn 
sie  die  Sache  zu  meinen  glaubt.  Aber  nun  war  Nietzsche  reif;  nun 
hatte  er  es  selbst  gefühlt  bei  der  Fehde  wider  Dr.  Fr.  Strauß,  daß 
er  nur  die  Sache  meinte,  wo  es  der  Person  zu  gelten  schien.  Bay- 
reuth wurde  für  Nietzsche  die  Hauptsache,  Wagner  Mittel  zum  Zweck. 


VII.   DIE  FESTSPIELE  DES   JAHRES  1876. 
„MENSCHLICHES,  ALLZUMENSCHLICHES." 

Und  so  begab  sich  Nietzsche  mit  hochgespannten  Erwartungen 
zu  den  Festspielen,  die  Mitte  Juli  1876  begannen,  nach  Bayreuth, 
wo  er  Verständnis  für  das,  was  ihn  beschäftigte,  erhoffte:  „Künstler 
bringen  ihre  Kunst  heran,  Schriftsteller  ihre  Werke  zum  Vortrage, 
Reformatoren  ihre  neuen  Ideen.  Ein  allgemeines  Bad  der  Seelen  soll 
es  sein :  dort  erwacht  der  neue  Genius,  dort  entfaltet  sich  ein  Reich 
der  Güte.  Ich  wünschte  mir  den  Grad  von  rhythmischer  Augen- 
Begabung,  um  über  das  ganze  Nibelungenwerk  in  gleicher  Weise 
hinschauen  zu  können,  wie  es  mir  in  einzelnen  Werken  mitunter 
gelingt:  aber  ich  ahne  da  noch  eine  besondere  Gattung  rhythmi- 
scher Freuden  des  höchsten  Grades.  Die  Rheintöchterszene  mit 
Siegfried  im  vorletzten  Akt  des  letzten  Dramas,  und  die  Rhein- 
töchterszene mit  Alberich  im  ersten  Akt  des  ersten  Dramas;  der 
Liebesjubel  der  sich  Findenden,  Siegfrieds  und  Brünhildens,  im  letzten 
Akt  des  Siegfried  und  der  Abschiedsjubel  der  sich  Trennenden  im 
ersten  Akt  der  Götterdämmerung  usw.  Dann  wieder  die  Nornen- 
szene  im  Anfange  der  ersten  Aktes  (Vorspiel)  der  Götterdämmerung." 
Doch  sehr  widersprechend  klingen  seine  Nachrichten  über  die  ersten 
Bayreuther  Eindrücke:  er  hat  sich  die  Götterdämmerung  angesehen 
und  findet  es  gut,  sich  daran  zu  gewöhnen;  jetzt  sei  er  in  seinem 
Elemente.  Doch  Wagner,  der  alle  seine  Kräfte  seinem  Werke  widmete, 
konnte  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  für  die  geistigen  Wandlungen 
seines  Freundes  kein  tieferes  Interesse,  geschweige  denn  ein  Ver- 
stehen zeigen.  Daher  weist  Nietzsche  alle  Einladungen  Wagners 
zurück,  er  will  allein  sein,  mit  sich  selbst.  Und  dann  auf  einmal 
beginnt  er  sich  wegzusehnen:  an  einem  Montag  wohnte  er  einer 
Probe  bei,  aber  es  gefiel  ihm  gar  nicht  und  er  mußte  hinaus;  es 
graut  ihm  vor  jedem  dieser  langen  Kunstabende.  Auch  zur  ersten 
Vorstellung  will  er  nicht  da  sein,  sondern  irgendwo;  nur  nicht  hier, 


—     62     — 

wo  es  ihm  nichts  als  Qual  ist.  „Ich  weiß  ganz  genau,  daß  ich  es 
dort  nicht  aushalten  kann,  ja  eigentlich  hätten  wir  es  vorher 
wissen  sollen.  Mein  Fehler  war  der,  daß  ich  nach  Bayreuth  mit 
einem  Ideal  kam;  so  mußte  ich  denn  die  bitterste  Enttäuschung 
erleben.  Die  Überfülle  des  Häßlichen,  Verzerrten,  Überwürzten  stieß 
mich  heftig  zurück."  Und  Nietzsche  floh  aus  Bayreuth,  wohin  er  ge- 
kommen war,  „die  deutsche  Kaaba  zu  sehen.  Und  er  sah  die 
eleganten  Damen  und  Laffen":  nach  Klingenbrunn  begab  er  sich, 
wo  er,  erschöpft  durch  den  kurzen  Aufenthalt  in  Bayreuth,  gar  nicht 
recht  wieder  zu  sich  kommen  konnte.  Aber  noch  einmal  rafft  er 
sich  auf  und  kehrt  nach  Bayreuth  zurück,  um  seiner  Schwester  zu- 
liebe dem  ersten  Zyklus  der  Festspielaufführungen  beizuwohnen, 
in  Wahrheit  aber  wohl,  um  nochmals  zu  prüfen,  ob  der  Eindruck, 
den  er  durch  die  Proben  gewonnen  hatte,  ein  endgültiger  war,  ob 
er  Wagner  nicht  unrecht  getan  habe!  Aber  auch  diesmal  hielt  er 
es  nicht  bis  zum  Schlüsse  der  Ferien  in  Bayreuth  aus,  sondern 
schied  eines  Tages:  „Ach,  Lisbeth,  das  war  nun  Bayreuth!"  sprach 
er  kummervoll,  und  seine  Augen  waren  mit  Tränen  gefüllt.  Alle 
Fassung  muß':e  er  zusammennehmen,  um  die  grenzenlose  Ent- 
täuschung dieses  Sommers  zu  ertragen. 

Im  Herbste  desselben  Jahres  reiste  Nietzsche  nach  Italien  und 
lebte  in  Gesellschaft  mit  Dr.  Paul  Ree  bei  Malwida  v.  Meysenburg 
in  Sorrent,  wohin  sich  später  auch  Wagner  begab.  Doch  vorher 
noch  schrieb  ihm  Nietzsche,  daß  dieser  Herbst  für  ihn,  und  wohl 
nicht  für  ihn  allein,  mehr  Herbst  sei  als  ein  früherer.  Hinter  dem 
großen  Ereignis  liege  ein  Streifen  schwärzester  Melancholie,  aus  dem 
man  sich  gewiß  nicht  schnell  genug  nach  Italien  oder  ins  Schaffen 
oder  in  beides  retten  kann. 

Was  war  mit  Nietzsche  geschehen?  War  Nietzsche  vielleicht 
schon  erkrankt?  War  es  das  tieferschöpfte  Nervensystem  des 
Neurasthenikers,  das  die  furchtbaren  Zerrungen  und  Nervensensationen 
der  Wagnerschen  Musik  nicht  mehr  ertrug?  Daß  man  nach  einer 
Tristan-  oder  Parsivalaufführung  wohl  schwerlich  ohne  wirkliche 
Nervenerschütterung  aus  dem  Theater  gehen  werde,  das  gibt  selbst 
Lichtenberger  zu;  aber  wer  will  entscheiden,  ob  diese  Nerven- 
erschütterung tatsächlich  etwas  Ungesundes  ist?  Allerdings  sind 
nervöse  Menschen  vor  dem  Genüsse  der  emotionellen  Wagnerschen 
Musik  zu  warnen.     Tatsache  ist,  daß  von  nun  ab  R.  Wagner  sinkt 


—     63     — 

und  Peter  Gast  steigt,   daß  die  Hoffnung  auf  das  Gesamtkunstwerk 
sinkt  und  die  Vorliebe  für  das  Melos  der  Italiener  steigt. 

Ich  erwähnte  bereits,  daß  die  Familie  Wagner  gleichfalls  nach 
Sorrent  reiste.  Zwischen  dem  Meister  und  Nietzsche  entspann  sich 
wieder  ein  reger  Verkehr,  der  jedoch,  wie  Nietzsche  selbst  sich 
äußerte,  etwas  schwierig  gewesen  sei:  er  und  Wagner  hätten  sich 
gebärdet,  als  ob  sie  beide  sehr  glücklich  wären,  zusammen  zu  sein, 
um  Wichtiges  miteinander  auszutauschen.  Im  Grunde  aber  habe 
man  sich  nichts  mehr  zu  sagen  gehabt.  Frau  Förster-Nietzsche 
erzählt  über  die  Art  und  Weise  dieses  Verkehrs  folgendes:  „Von 
einer  Art  der  intimsten  Unterhaltung  in  Sorrent  behielt  mein 
Bruder  die  peinlichste  Erinnerung  zurück.  Wagner,  mit  dem  Parsifal 
beschäftigt,  fühlte  recht  wohl,  daß  ein  Bühnenweihfestspiel,  erdacht 
und  komponiert  von  einem  so  schroffen  Atheisten,  wie  er  sich  in 
Tribschen  immer  gezeigt  hatte,  kaum  als  ein  christlich-religiöser 
Akt  empfunden  werden  könnte,  wie  er  doch  sollte.  So  gestand  er 
meinem  Bruder  allerhand  christhche  Empfindungen  und  Erfahrungen, 
allerhand  Hinneigungen  zu  christUchen  Dogmen;  er  erzählte  ihm 
vom  Genuß,  den  er  der  Feier  des  heiligen  Abendmahls  verdanke. 
Mein  Bruder  hielt  es  für  unmöglich,  daß  jemand,  der  sich  so  wie 
Wagner   bis    zu    den    äußersten    Konsequenzen    als    Atheist')    aus- 


^)  So  betont  Nietzsche  in  einer  seiner  Vorarbeiten  zui'  „IV.  Unzeit- 
gemäßen" ausdrückiieh  den  Atheismus  Wagners,  weil  das  Wunderhafte 
beim  Künstler  künstlerisch  und  nicht  dogmatisch  ist  und  Wagner  über  der 
religiösen  Deutung  der  Mythen  frei  steht;  fromm  ist  ein  Dichter  niemals, 
OS  gibt  keinen  Kultus  vor  den  Göttern,  man  glaubt  nicht  an  siel  Und  doch 
schrieb  dieser  Wagner  einen  Parsifal,  wiewohl  er  Mathilde  Wesendonk  einst 
mitgetoilt  hatte,  daß  er  „sich  so  recht  angeekelt  fühle  durch  die  detaillierte 
Beschreibung  des  endlich  festgestellten  Kultus  mit  seinen  Reliquien  und 
abgeschmackten  bildlichen  Darstellungen".  Über  ein  in  Luzern  begangenes 
„Fronleichnamsfest,  angeführt  von  den  Pfaffen,  die  sich  dazu  sogar  goldene 
Schlafröcke  angezogen  hatten",  findet  er  ironische  Worte  und  nennt  es  „ein 
Glück,  daß  ich  sie  nicht  zu  nah  sah."  Deshalb  konnte  die  Fürstin  v.  Wittgen- 
stein, „une  grande  chrötienne",  über  den  Parsifal  sich  äußern:  „Ich  zweifle 
nicht,  daß  Wagners  Genie  die  religiöse  Stimmung  in  der  Musik  mit  einer 
noch  nie  dagewesenen  Intensität  wiederzugeben  gewußt  hat.  Ob  aber  die 
gläubigen  Christen  es  gut  heißen  werden,  solch  hohe  Kunst  zur  Parodie 
ihrer  heiligsten  Sakramente  angewandt  zu  sehen,  ist  noch  eine  Frage . . . 
Kundry,  diese  Karikatur  der  heiligen  Magdalena!  Dieser  Unsinn  im  ganzen 
Buch,  der  die  mittelalterliche  Dichtung  auf  solchen  absurden  Boden  stellt! 


—     64     — 

gesprochen  hatte,  jemals  wieder  zu  einem  frommen,  naiven  Glauben 
zurückkehren  könnte.  Er  nahm  deshalb  Wagners  Wandlung  nur  als 
Mittel,  um  sich  mit  den  fromm  gewordenen  herrschenden  Mächten 
in  Deutschland  zu  arrangieren.  So  hörte  er  schweigend  Wagners 
Reden  an,  das  Herz  zum  Zerspringen  voll  Kummer  über  diese 
Schauspielerei  Wagners  gegen  sich  selbst;  er  schrieb  folgende  harte 
Worte  nieder:  ich  bin  nicht  imstande,  irgendeine  Größe  anzuerkennen, 
welche  nicht  mit  Redlichkeit  gegen  sich  verbunden  ist;  die 
Schauspielerei  gegen  sich  flößt  mir  Ekel  ein.  Entdecke  ich  so  etwas, 
so  gelten  mir  alle  Leistungen  nichts;  ich  weiß,  sie  haben  überall 
und  im  tiefsten  Grunde  diese  Schauspielerei." 

Erregte  also  einerseits  Wagner  durch  seine  Frommtuerei 
Nietzsches  Mißfallen,  so  ärgerte  sich  anderseits  der  Meister,  weil 
sein  Freund  in  eifrigem  Verkehre  stand  mit  Dr.  Paul  Ree,  einem 
Juden,  der  in  seinen  philosophischen  Schriften  besonders  jedes 
System  einer  metaphysischen  Ethik  bekämpfte.  Ohne  Frage  hat 
Nietzsche  Rees  nüchterne,  mehr  aufs  Reale  gerichtete  Anschauungs- 
weise nach  der  Enttäuschung  in  Bayreuth  wohl  getan.  Wagner,  der 
große  Antisemit,  konnte  an  Ree,  den  Nietzsche  einen  „überaus 
klaren  Kopf"  und  einen  „Moralisten  vom  schärfsten  Blick"  genannt 
hatte,  absolut  keinen  Gefallen  finden,  welchen  Umstand  Frau  Cosima 
Nietzsches  Schwester  keineswegs  verschwieg.  Wagner  nannte  ihn 
einen  „heimtückischen  Gesellen,  an  dem  Nietzsche  nichts  Gutes 
erleben  werde  ...  es  gibt  Wanzen,  es  gibt  Läuse ;  gut,  sie  sind  da ; 
aber  die  brennt  man  aus;  die  Leute,  die  das  nicht  tun,  sind  Schweine"  ^). 
Nietzsche   jedoch    ging   abermals    seine    eigenen    Wege    und    „trug 


Es  wäre  aber  auch  zu  lang,  auseinanderzusetzen,  wie  dem  Heiligsten  unseres 
christlichen  Glaubens  hier  ins  Gesicht  geschlagen  wird!  Einmal  wird  die 
Reaktion  schon  kommen!"  Frau  Förster  sagt  nicht  mit  Unrecht,  daß  der 
Geschmack  an  einer  bestimmten  Art  Musik  sich  zuweilen  schnell  ver- 
ändere —  sakrale  Musik,  die  mit  den  Religionskulten  zusammenhänge,  aus- 
genommen. Wagner,  der  mit  heißem  Bemühen  nach  dem  goldenen  Lorbeer- 
kranze ewigen  Ruhmes  griff,  wußte  das  wohl;  es  ist  möglich,  daß  sein  Ver- 
such, eine  neue  Religion  zu  stiften,  diesen  Hintergrund  hatte.  Ein  neues 
Christentum  sollte  in  Bayreuth  im  Parsifal  erblühen,  und  dessen  heilige 
Kultusmusik  sollte  für  ewige  Zeiten  die  Parsifalmusik  ein.  Aber  welch 
seltsame  Vorstellung,  ein  neues  Christentum  in  einem  Opernhause  begründen 
zu  wollen! 

')  Cf  C.  A.  Bernoulli  „Franz  Overbeck  und  Fr.  Nietzsche";   I,   p.  212. 


—     65     — 

diese  Wanze  volle  sechs  Jahre  herum",  bis  er  durch  sie  zu  einem 
offenen  Gegner  Schopenhauers  und  damit  natürlich  auch  "Wagners 
geworden  sei.  Das  sei  die  Frucht  seines  „sehr  lebendigen  Appetites 
nach  Reealismus  gewesen"! 

Über  den  Einfluß,  den  Räe  auf  Nietzsches  geistige  Entwicklung 
genommen  haben  soll,  stehen  einander  die  widersprechendsten 
Ansichten  gegenüber.  Frau  Förster-Nietzsche  erwähnt  die  heute 
noch  gerne  kolportierte  und  kritiklos  geglaubte  Fabel,  daß  der  Ver- 
kehr mit  R6e  auf  Nietzsche  so  nachhaltig  tief  gewirkt  habe,  daß 
man  ihm  das  Buch  „Menschliches,  Allzumenschliches"  ver- 
danken müsse.  Energisch  weist  sie  diese  Behauptung  zurück,  indem 
sie  meint,  wäre  dem  wirklich  der  Fall,  so  sei  dies  geradeso,  als 
ob  man  von  einem  kleinen  Vogel  sagen  wollte,  er  habe  den  Adler 
in  die  Höhe  getragen.  Dem  ist  jedoch  entgegenzuhalten,  daß  Frau 
Förster-Nietzsche  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  den  Einfluß 
Dr.  R^es,  ja  dessen  Bedeutung  überhaupt,  einseitig  unterschätzt. 
Die  gegenteilige  Ansicht,  eine  maßlose  Überschätzung  Räes,  vertritt 
Frau  Lou  Andreas  Salome.  Für  sie  ist  Ree  „der  schärfere  Kopf", 
und  behauptet  sie  geradezu,  daß  Nietzsche  aus  Rees  Theorien  einfach 
nur  die  praktischen  Konsequenzen  gezogen  habe.  Daß  Nietzsche 
sich  an  Ree  so  schnell  angeschlossen  habe,  erklärt  sie  damit,  daß 
bei  Nietzsche  die  psychische  Reaktion  auf  seine  seinerzeitige  Ver- 
herrlichung des  Affektlebens,  der  Wagnerschen  Kunst  und  Meta- 
physik sich  nun  in  einer  Art  „vorurteilsloser  Kälte  und  Ruhe  des 
Erkennenden"  entladen  habe,  was  insoferne  richtig  ist,  als  Nietzsche 
den  Verkehr  mit  Ree  als  einen  „wohltuenden  Eisumschlag"  emp- 
fand. Und  dasselbe  Bedürfnis,  das  Nietzsche  früher  gezwungen  habe, 
seine  Kunstideale  in  Wagners  Werken  realisiert  zu  sehen,  habe  sich 
nun  dahin  geäußert,  daß  er  seine  positivistischen  Gedanken  gleich- 
falls in  jemandem  verwirkhcht  sehen  mußte.  Und  dieser  jemand 
war  Röe,  wiewohl  dessen  Persönlichkeit  der  seinen  durchaus  ent- 
gegengesetzt war.  Deshalb  habe  Nietzsche  genau  so  wie  früher  an 
Wagner,  jetzt  an  Ree  sein  Selbst  verloren! 

Es  kann  nun  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  Frau  Andreas 
R6es  Einfluß  auf  Nietzsche  wohl  aus  persönlicher  Vorliebe  für  jenen 
stark  überschätzt  hat.  Die  Wahrheit  über  diesen  Einfluß  wird  nun 
wohl  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  bereits  vorgetragenen  An- 
sichten   liegen.    Wenn    Nietzsche    R6e    seinen    „Heben  Freund  und 

Grieß  er,  Wagner  und  Nietzsche.  5 


—     66     — 

Vollender''  nannte,  so  erblicke  ich  hierin  nur  einen  Ausdruck  der 
überschwänglichen  Freude  Nietzsches,  einen  Menschen  gefunden  zu 
haben,  der  ähnlich  wie  er  dachte.  Was  tatsächlich  Röe  für  Nietzsche 
bedeutete,  darüber  unterrichtet  uns  am  besten  ein  Brief  Nietzsches 
an  Rohde  (Juni  1878),  dem  wir  bei  der  bekannten  Wahrheitsliebe 
des  Philosophen  unbedingten  Glauben  schenken  müssen:  „Suche  nur 
immer  mich  in  meinem  Buch  und  nicht  Freund  Ree.  Ich  bin  stolz 
darauf,  dessen  herrliche  Eigenschaften  und  Ziele  entdeckt  zu  haben, 
aber  auf  die  Konzeption  meiner  „philosophia  in  unce"  hat  er  nicht 
den  allergeringsten  Einfluß  gehabt:  diese  war  fertig  und  zu 
einem  guten  Teile  dem  Papier  anvertraut,  als  ich  im  Herbste  1876 
seine  nähere  Bekanntschaft  machte.  Wir  fanden  einander  auf  gleicher 
Stufe  vor:  der  Genuß  unserer  Gespräche  war  grenzenlos,  der  Vor- 
teil gewiß  sehr  groß,  auf  beiden  Seiten"^). 

In  der  Einsamkeit,  mit  blutender  Wunde  im  Herzen,  wie  einst 
Philoktetes  seine  bitteren  Pfeile  schärfend,  schrieb  Nietzsche  sein 
Buch:  „Menschliches,  Allzumenschliches" :  „Neue  Wege  gehe 
ich,  eine  neue  Rede  kommt  mir;  müde  wurde  ich  gleich  allen 
Schaffenden  der  alten  Zungen.  Nicht  will  mein  Geist  mehr  auf  ab- 
gelaufenen Sohlen  wandeln."  Aber  abgesehen  davon,  daß  dieses 
Werk  nur  allzu  deutlich  Nietzsches    endgültige  Absage  an  Schopen- 


^)  In  „Jenseits  von  Gut  und  Böse"  sagt  Nietzsche:  „Es  gibt  zwei  Arten 
von  Genies:  eins,  welches  vor  allem  zeugt  und  zeugen  will,  und  ein  anderes, 
welches  sich  gern  befruchten  läßt  und  gebiert."  Ohne  Zweifel  gehörte 
Nietzsche  zur  zweiten  Art:  er  hat  sich  anregen  lassen.  Wenn  den  von 
Natur  äußerst  Sensiblen  ein  Gedanke  packte,  so  erlebte  er  ihn:  das  ist 
das  durchaus  Selbständige  in  seinem  Schaffen.  Sehr  richtig  sagt  daher  Frau 
Leu  Andreas :  „Für  Nietzsche  bedeutete  Beschäftigung  mit  einem  Problem, 
bedeutete  Erkennen  vor  allen  Dingen  sich  erschüttern  lassen;  und  von  der  Wahr- 
heit sich  überzeugen,  bedeutete  ihm:  von  dem  Erlebnis  überwältigt  werden, 
über  den  Haufen  geworfen  werden,  wie  er  es  nannte.  Er  nahm  einen  Ge- 
danken auf,  wie  man  ein  Schicksal  auf  sich  nimmt,  das  den  ganzen  Menschen 
ergreift  und  in  Bann  schlägt:  er  lebte  den  Gedanken  noch  viel  melu'  als 
er  ihn  dachte,  aber  er  tat  es  mit  einer  so  leidenschaftlichen  Inbrunst,  einer 
so  maßlosen  Hingebung,  daß  er  sich  an  ihm  erschöpfte."  In  diesen  Worten 
liegt  sehr  viel  Wahrheit,  die  bestätigt  wird  durch  sein  Erlebnis  mit  Wagner. 
Aber  in  noch  viel  höherem  Grade  hat  Nietzsche  einen  Gedanken  zum  ilm 
voll  und  ganz  beherrschenden  Erlebnisse  in  der  letzten  Periode  seines 
Schaffens  gemacht ;  freilich  ein  Gedanke,  der,  wie  sich  zeigen  wird,  ihn  dann 
tatsächlich  „über  den  Haufen  geworfen"  hat. 


hauer,  mithin  auch  an  Wagner  bewies,  griff  er  darin  Wagner  und 
dessen  Frau  ganz  offen  an.  Im  „Eccehomo"  äußerte  er  sich 
darüber:  „Ich  habe  mich  in  diesem  Buche  von  dem  Ungehörigen 
in  meiner  Natur  freigemacht,  unzugehörig  ist  mir  der  Idealismus. 
Der  Titel  sagt:  wo  ihr  Ideale  seht,  sehe  ich  Menschliches,  ach,  nur 
allzu  Menschliches.  Ein  Irrtum  nach  dem  anderen  wird  gelassen  aufs 
Eis  gelegt,  das  Ideal  wird  nicht  widerlegt,  es  erfriert;  hier  erfriert 
das  Genie,  eine  Ecke  weiter  der  Heilige,  am  Schluß  erfriert  der 
Glaube,  die  sogenannte  Überzeugung,  auch  das  Mitleiden  kühlt  sich 
bedeutend  ab." 

Nietzsche  hatte  dieses  Buch  mit  folgender  Widmung  nach 
Bayreuth  gesandt,  die  uns  einen  deutlichen  Beweis  gibt,  mit  welcher 
Innigkeit  er  noch  immer  an  der  Person  des  Meisters  und  seinei 
Gattin  hing: 

„Dem  Meister  und  der  Meisterin 

entbietet  Gruß  mit  frohem  Sinn, 

beglückt  ob  seinem  neuen  Kind 

von  Basel  Friedrich  Freigesinnt. 

Er  wünscht,  daß  sie  mit  Herzbewegen 

aufs  Kind  die  Hände  prüfend  legen 

und  schauen,  ob  es  Vaters  Art, 

wer  weiß?  selbst  mit  'nem  Schnurrenbart. 

Was  ihm  auf  seinem  Erdenwallen 

beschieden  sei:  es  will  gefallen, 

nicht  vielen:  fünfzehn  an  der  Zahl, 

den  andern  werd'  es  Spott  und  Qual. 

Doch  eh'  wir  in  die  Welt  es  schicken, 

mög'  Meisters  Treuaug'  segnend  blicken; 

und  daß  ihm  folge  fürderhin 

die  kluge  Gunst  der  Meisterin!" 

Dem  Buche  lag  auch  ein  Brief  bei,  der  im  Entwurf  lautet: 
„Indem  ich  Ihnen  das  beifolgende  Buch  übersende,  lege  ich  mein 
Geheimnis  vertrauensvoll  in  Ihre  und  Ihrer  edlen  Gemahlin  Hände 
und  nehme  an,  daß  es  nunmehr  auch  Ihr  Geheimnis  sei.  Dies 
Buch  ist  von  mir:  ich  habe  meine  innersten  Empfindungen  über 
Menschen  und  Dinge  darin  ans  Licht  gebracht  und  zum  erstenmal  die 
Peripherie  meines  eigenen  Denkens  umlaufen.  In  Zeiten,  welche  voller 
Paroxysmen  und  Qualen  waren,  war  dieses  Buch  ein  Trostmittel, 
welches  nicht  versagt,  wo  alle  anderen  Trostmittel  versagten. 
Vielleicht   lebe    ich    noch,    weil   ich    seiner  fähig  war  ...  ich  weiß 

5* 


—     68     — 

keinen,  ...  der  die  Ansichten  dieses  Buches  hätte,  bin  aber  sehr 
begierig  in  bezug  auf  die  Gegengründe,  welche  in  diesem  Falle  vor- 
zubringen sind.  Mir  ist  zu  Mute  wie  einem  Offizier,  der  eine  Schanze 
gestürmt  hat.  Zwar  verwundet  —  aber  er  ist  oben  und  entrollt 
nun  seine  Fahne.  Mehr  Glück,  viel  mehr  Glück  als  Leid,  so  furchtbar 
das  Schauspiel  ringsherum  ist.  Obschon  ich  ...  niemanden  kenne, 
der  jetzt  noch  mein  Gesinnungsgenosse  ist,  habe  ich  doch  die  Ein- 
bildung, nicht  als  Individuum,  sondern  als  Kollektivum  gedacht  zu 
haben.  Das  sonderbare  Gefühl  von  Einsamkeit  und  Vielsamkeit.  Ein 
vorausgeeilter  Herold,  der  nicht  genau  weiß,  ob  die  Ritterschaft  ihm 
nachkommt  oder  ob  sie  noch  existiert." 

Wie  wir  dem  „Ecce  homo"  entnehmen,  „kam  durch  ein  Wunder 
von  Sinn  im  Zufall  gleichzeitig  ein  schönes  Exemplar  des  Parsifal- 
textes  an  mit  Wagners  Widmung:  ,Herzlichen  Gruß  und  Wunsch 
seinem  teuren  Freunde  Friedrich  Nietzsche  von  Richard  Wagner, 
Oberkirchenrat'.  Diese  Kreuzung  der  zwei  Bücher,  mir  war  es,  als 
ob  ich  einen  ominösen  Ton  dabei  hörte ;  klang  es  nicht,  als  ob  sich 
Degen  kreuzten?  Jedenfalls  empfanden  wir  es  beide  so,  denn  wir 
schwiegen  beide.  Um  diese  Zeit  erschienen  die  ersten  , Bayreuther 
Blätter';  ich  begriff,  wozu  es  höchste  Zeit  gewesen  war;  unglaublich, 
Wagner  war  fromm  geworden."  —  Eisiges  Schweigen  war  die  einzige 
Antwort  aus  Bayreuth:  der  Meister,  der  einen  Menschen  oder  eine 
Sache  nur  so  lange  gelten  heß,  als  seiner  Kunst  durch  sie  ein  höherer 
Rang  verliehen  wurde,  mußte  sich  tief  verletzt  und  getrofien  fühlen, 
sein  Treuauge  blickte  nichts  weniger  als  segnend,  und  mit  der 
Meisterin  kluger  Gunst  war  es  für  immer  vorbei.  Hatte  Nietzsche 
eine  solche  Wirkung  seines  Buches  erwartet?  Als  man  ihn  fragte, 
wie  er  sich  die  Aufnahme  dieses  seines  Buches  durch  Wagner  vor- 
gestellt habe,  gab  er  zur  Antwort:  „Humanität  der  Freund-  und 
Meisterschaft.  ,Gehe  du  gen  Morgen:  so  werde  ich  gen  Abend 
ziehen'  —  so  zu  empfinden  ist  das  hohe  Merkmal  von  Humanität 
im  engeren  Verkehr;  ohne  diese  Empfindung  wird  jede  Freundschaft, 
jede  Jünger-  und  Meisterschaft  irgendwann  einmal  zur  Heuchelei. . . 
Freund  —  nichts  verbindet  uns  jetzt,  aber  wir  haben  Freude  an- 
einander bis  zu  dem  Grade,  daß  der  eine  des  anderen  Richtung  fördert, 
selbst  wenn  sie  schnurstracks  der  seinen  entgegenläuft." 

Weil  Nietzsche  in  diesem  Buche  Wagner  ofi"en  angriff,  wollte 
er    es    ursprünglich    anonym    erscheinen    lassen.      Darauf    wollte 


—     69     — 

jedoch  sein  Verleger  nicht  eingehen,  und  so  mußte  sich  Nietzsche 
schließlich  bequemen,  die  persönUch  gehaltenen  Aphorismen  um- 
zuändern und  statt  des  Namens  „Wagner"  das  Wort  „Künstler" 
einzusetzen.  In  dieser  Tatsache  erblickt  Julius  Zeitler  einen  deutlichen 
Beweis  dafür,  daß  Nietzsche  damals  trotz  der  bereits  erfolgten 
Trennung  von  Wagner  noch  weit  davon  entfernt  gewesen  sei,  diesen 
„überwunden"  zu  haben.  Aber  auch  trotz  dieser  veränderten  Form 
mußte  Wagner  bei  einigen  Aphorismen  sehr  deutlich  erkannt  haben, 
daß  ihre  Spitze  gegen  ihn  gerichtet  sei.  Wie  mußte  dem  Meister  zu 
Mute  gewesen  sein,  wenn  er  nun  las,  daß  die  übermäßige  Ver- 
herrhchung  der  künstlerischen  Genialität  der  fortschreitenden  Ver- 
männlichung  der  Menschheit  entgegenstehe.  Es  sei  sehr  fraglich,  ob 
der  Aberglaube  vom  Genie  selber  von  Nutzen  sei,  wenn  er  in  ihm 
sich  entwurzle.  Jeder  großen  Erscheinung  folge  die  Entartung  nach, 
namentlich  im  Bereiche  der  Kunst.  Der  glücklichste  Fall  in  der 
Entwicklung  einer  Kunst  sei  der,  daß  mehrere  Genies  sich  gegen- 
seitig in  Schranken  halten.  Unsere  Eitelkeit  und  Selbsthebe  sei  dem 
Kultus  des  Genies  nur  förderlich;  nur  wenn  dieses  ganz  fern  von 
uns  gedacht  ist  als  ein  miraculum,  verletze  es  niemanden.  „Unsere 
Musiker  haben  nicht  den  leisesten  Geruch  davon,  daß  sie  ihre  Ge- 
schichte, die  Geschichte  der  Verhäßhchung  ihrer  Seele,  in  Musik 
setzen  . . .  das  Kunstwerk  gehört  nicht  zur  Notdurft,  die  reine  Luft 
im  Kopf  und  Charakter  gehört  zur  Notdurft  des  Lebens.  Wir  sollen 
uns  von  einer  Kunst  losmachen,  die  ihre  Früchte  zu  teuer  verkauft. 
Hält  es  ein  Künstler  nicht  in  der  hellen,  guten  Luft  aus,  muß  er, 
um  seine  Phantasie  zu  schwängern,  in  die  Nebelhöhlen  und  Vor- 
höllen hinein,  gut :  wir  folgen  nicht  ...  ein  Künstler  ist  nicht  Führer 
des  Lebens,  wie  ich  früher  sagte  . . .  namentlich  ist  das  Verhalten 
der  Genies  zueinander  eines  der  dunkelsten  Blätter  der  Geschichte. 
Die  Genie  Verehrung  ist  oft  eine  unbewußte  Teufelsanbetung  gewesen. 
Man  sollte  überrechnen,  wie  viele  Menschen  in  der  Umgebung  eines 
Genies  sich  ihren  Charakter  und  ihren  Geschmack  verdorben  haben." 
Es  ist  klar,  daß  alle  diese  Ausfälle  gegen  das  seinerzeit  verherrUchte 
Genie,  wiewohl  sie  keinen  Namen  tragen,  sich  auf  niemand  anderen 
beziehen  als  auf  —  Richard  Wagner.  Aber,  wie  schon  erwähnt, 
auch  Frau  Cosima  wurde  nicht  geschont.  So  lautet  ein  Aphorismus 
unter  dem  Titel  „FreiwilUges  Opfertier":  „Durch  nichts  erleichtern 
bedeutende  Frauen    ihren  Männern,    falls    diese  berühmt   und    groß 


—     70     — 

sind,  das  Leben  so  sehr  als  dadurch,  daß  sie  gleichsam  das 
Gefäß  der  allgemeinen  Ungunst  und  gelegentlichen  Verstimmungen 
der  übrigen  Menschen  werden.  Die  Zeitgenossen  pflegen  ihren  großen 
Männern  viel  Fehlgriffe  und  Narrheiten,  ja  Handlungen  grober  Un- 
gerechtigkeiten nachzuahmen,  wenn  sie  nur  jemanden  finden,  den 
sie  als  eigentliches  Opfertier  zur  Erleichterung  ihres  Gemütes  miß- 
handeln und  schlachten  dürfen.  Nicht  selten  findet  eine  Frau  den 
Ehrgeiz  in  sich,  sich  zu  dieser  Opferung  anzubieten,  und  dann  kann 
freilich  der  Mann  sehr  zufrieden  sein,  um  sich  einen  solchen  frei- 
willigen Blitz-,  Sturm-  und  Regenableiter  in  seiner  Nähe  gefallen  zu 
lassen."  Daneben  findet  sich  aber  gar  mancher  Aphorismus,  der  sich 
fast  bittend  an  den  Meister  wendet,  wie  z.  B. :  „Verhängnis  der 
Größe.  —  Jeder  großen  Erscheinung  folgt  die  Entartung  nach"  usw.; 
von  mir  bereits  früher  zitiert. 

Wagner  verhielt  sich  vorderhand  passiv;  dafür  erbhckte  die 
Meisterin  in  dem  Buche  nur  Oberflächlichkeit  und  Sophistik.  In 
Briefen,  die  sie  an  Nietzsches  Schwester  sandte,  heißt  es:  „Ich  weiß, 
Nietzsche  war  krank,  als  er  diese  geistig  so  sehr  unbedeutenden, 
moralisch  so  sehr  bedauernswerten  Sätze  niederschrieb,  als  er,  der 
Tiefsinnige,  mit  allem  Ernsten  oberflächlich  umging  und  über  Dinge 
sprach,  die  er  nicht  kennt;  wollte  der  Himmel,  er  hätte  nur  so  viel 
Gesundheit  gehabt,  um  dieses  traurige  Zeugnis  seiner  Krankheit 
nicht  herauszugeben . . .  daß  der  Verräter  nicht  die  Kraft  des 
Schweigens  hatte  und  das  Bedürfnis  fühlte,  durch  geistig  Nichts- 
sagendes, moralisch  Bedenkliches  seinen  inneren  Zustand  zu  doku- 
mentieren, darauf  ist  ihm  nur  ,oh,  du  Armseliger!'  mit  tiefstem 
Mitleid  zuzurufen . .  .  daß  der  Autor  selbst  nicht  recht  an  das  glaubt, 
was  er  niederschreibt,  sondern  nur  sich  selbst  die  Einwendungen 
dagegen  nicht  vorhalten  kann,  das  leider  empfindet  man . . .  dürftig 
sein  und  unwahr,  frevelhaft  und  armselig,  das  ist  traurig. . .  möchte 
der  Verrat  dem  Autor  gute  Früchte  bringen!" 

Erwin  Rohde,  auf  den  die  Lektüre  des  „Menschlichen,  Allzu- 
menschhchen"  wirkte,  „wie  wenn  man  direkt  aus  dem  caldarium 
in  ein  eiskaltes  frigidarium  gejagt  wird",  war  zuerst  der  Meinung, 
daß  das  Hohnlachen,  das  Nietzsche  nun  für  seine  eigenen  einstigen 
Ideale  habe,  „krank  und  schneidend  klinge".  Doch  hofft  er,  daß 
man  hier  ein  „Ergebnis  eines  in^Nietzsches  Innerem  notwendigen 
Prozesses  vor  sich  habe,  den  er  selbst  nicht  hemmen  konnte,  aber 


dessen  letztes  Stadium  dies  nicht  sein  könne"...  das  „stärkere 
Hervorkehren  des  rein  intellektuellen  Elements"  in  diesem 
Buche  erscheint  ihm  als  ein  „gewisses  Korrektiv  jenes 
enthusiastischen  Denkens",  das  den  Verfasser  der  „Geburt  der 
Tragödie"  beseelte.  In  einem  Briefe  an  Franz  Rühl  rühmt  er  Nietzsches 
„Tiefe,  Feinheit,  Klarheit  und  Besonnenheit...  sein  Verstand  ist 
nicht  nur  reicher,  sondern  auch  fester  als  der  von  tausend  kritischen 
Holzköpfen". 

Endlich  hat  Wagner  auf  dieses  Buch,  das  Jakob  Burkhardt 
„souverain"  nannte,  mit  dem  Artikel  „Publikum  und  Popularität" 
in  den  „Bayreuther  Blättern"  geantwortet:  „Philologen  wie 
Philosophen  erhalten,  namentlich  wo  sie  sich  auf  dem  Felde  der 
Ästhetik  begegnen,  durch  die  Physik  im  allgemeinen  noch  ganz  be- 
sondere Ermunterungen,  ja  Verpflichtungen  zu  einem  noch  gar  nicht 
zu  begrenzenden  Fortschreiten  auf  dem  Gebiete  der  Kritik  alles 
Menschlichen  und  Unmenschlichen.  Es  scheint  nämlich,  daß  sie  den 
Experimenten  jener  Wissenschaft  die  tiefe  Berechtigung  zu  einer 
ganz  besonderen  Skepsis  entnehmen,  welche  es  ihnen  ermöglicht, 
sich  von  den  bisher  übhchen  Ansichten  abwendend,  dann  in  einer 
gewissen  Verwirrung  wieder  zu  ihnen  zurückkehrend,  in  einem 
steten  Umsichherumdrehen  sich  zu  erhalten,  welches  ihnen  dann 
ihren  gebührenden  Anteil  am  ewigen  Fortschritte  im  allgemeinen 
zu  versichern  scheint.  Je  ungeachteter  die  hier  bezeichneten  Satur- 
nalien der  Wissenschaft  vor  sich  gehen,  desto  kühner  und  umbarm- 
herziger werden  dabei  die  edelsten  Opfer  abgeschlachtet  und  auf 
dem  Altar  der  Skepsis  dargebracht.  Jeder  deutsche  Professor  muß 
einmal  ein  Buch  geschrieben  haben,  welches  ihn  zum  berühmten 
Manne  macht.  Nun  ist  ein  naturgemäß  Neues  aufzufinden  nicht 
jedem  beschieden.  Somit  hilft  man  sich,  um  das  nötige  Aufsehen 
zu  machen,  gern  damit,  die  Ansichten  eines  Vorgängers  als  grund- 
falsch darzustellen,  was  dann  um  so  mehr  Wirkung  hervorbringt, 
je  bedeutender  und  größtenteils  unverstandener  der  jetzt  Verhöhnte 
war.  Die  wichtigeren  Vorgänge  sind  die,  wo  überhaupt  jede  Größe, 
namentlich  das  so  sehr  beschwerhche  Genie  als  verderblich,  ja  der 
ganze  Begriff  Genie  als  grundirrtümlich  über  Bord  geworfen  werden." 

Unter  dem  Eindrucke  dieses  Artikels  muß  Nietzsche  furchtbar 
gelitten  haben:  unter  unsäglichen  Mühen  und  Opfern  hatte  er  sich 
endhch  zur  Wahrheit  durchgerungen  —  „sie  verspotteten  mich,  als 


—     72     — 

ich  meinen  eigenen  Weg  fand  und  ging;  und  in  Wahrheit  zitterten 
damals  meine  Füße"  —  und  nun  wurde  ihm  vorgeworfen,  er  tappe 
planlos  im  Kreise  herum  —  „und  so  sprachen  sie  zu  mir:  du  ver- 
lerntest den  Weg,  nun  verlernst  du  auch  das  Gehen!"  —  und  wolle 
sich  wie  irgendein  beliebiger  Professor  durch  ein  paradoxes  Buch 
berühmt  machen !  Deshalb  ist  der  einzige  Vorwurf,  den  Frau  Förster- 
Nietzsche  gegen  Wagner  erhebt,  daß  er  ihren  Bruder  zu  leichten 
Herzens  verlor,  gerechtfertigt:  Nietzsche  sei  für  ihn  nur  ein  Werk- 
zeug gewesen,  sicherlich  ein  kostbares,  geliebtes,  mit  zarter  Schonung 
behandeltes,  aber  eben  doch  —  ein  Werkzeug,  das  man  missen 
konnte.  Wagner  ahnte  nicht,  was  es  für  ihn  zu  bedeuten  hatte, 
einen  Nietzsche  zu  verlieren !  So  sagt  auch  Lichtenberger  ö.  c.  p.  84) : 
„Wenn  Wagner  seinen  jungen  Freund  auch  sehr  aufrichtig  liebte, 
so  betrachtete  er  ihn  doch  nur  als  Werkzeug  seiner  Hand  und  fand 
es  ganz  in  der  Ordnung,  daß  Nietzsche  seinen  Ehrgeiz  darauf  be- 
schränkte, der  erste  Apostel  des  Wagnertums  zu  werden.  Sein  Ab- 
fall verursachte  ihm  in  der  Folge  fast  ebensoviel  Groll  und  Grimm 
wie  Schmerz:  er  sah  in  ihm  einen  Streber,  der  sich  unter  seiner 
Fahne  einen  Namen  gemacht  und  ihn  dann  nur  deshalb  verlassen 
hatte,  um  die  Aufmerksamkeit  auf  seine  Person  zu  lenken :  er  hielt 
ihn  für  einen  Undankbaren,  der  einem  krankhaften  Reklamebedürfnis 
eine  alte  Freundschaft  opferte.  Nietzsche  seinerseits,  der  an  dem 
Bruche  seiner  Beziehungen  zu  Wagner  furchtbar  litt,  sah  in  dem 
Hasse  seines  Meisters  ein  Zeichen  von  kleinlichem  Charakter  und 
engem  Geiste." 

„Nun  lag,"  schreibt  Frau  Förster-Nietzsche,  „sein  Ideal,  das  er 
aus  Wagners  Gestalt  geschaffen  hatte,  in  Trümmern,  und  jede 
Handlung  Wagners  aus  jener  Zeit  half  diese  Zerstörung  beschleunigen. 
. . .  Zwei  leidenschafthch  hochgehaltene  Ideale  standen  sich  plötzUch 
schroff  gegenüber:  ein  das  Leben  verneinender,  katholisch  romanti- 
scher Parsifal,  der  das  Leben  bejahenden,  das  Leben  vergöttlichenden, 
verklärenden  kraftvollen  Reckengestalt  des  Siegfried!  Und  dieses 
letzte  Ideal  hatte  mein  Bruder  für  das  Wagnerische  gehalten! 
Welche  Täuschung ! . . .  Traurig  schreibt  er  1 878 :  ,Ich  will  es  nur 
gestehen,  ich  hatte  gehofft,  durch  die  Kunst  könne  den  Deutschen 
das  abgestandene  Christentum  vöUig  verleidet  werden  — 
deutsche  Mythologie  als  abschwächend,  gewöhnend  an  Polytheismus. 
Welcher  Schrecken  über  die  Restaurationsströmungen!!'" 


rö 


Das  Erscheinen  des  Parsifal  und  des  „Menschlichen,  Allzumensch- 
lichen" gab  nur  den  äußeren  Anlaß,  daß  Nietzsche  und  Wagner  sich 
trennten;  innerlich  hatte  Nietzsche  schon  längst  die  völlige  Ent- 
fremdung gefühlt  und  durchgelitten.  Aber  trotz  alledem  wäre,  wie 
auch  Juhus  Kapp  zugibt,  ein  Bruch  mit  Wagner  noch  immer  nicht 
notwendig  gewesen,  wenn  man  in  Bayreuth  hätte  verstehen  können, 
daß  der  Schüler  nun  plötzlich  eigene  Pfade  wandeln  wollte;  denn 
jetzt  hatte  es  Nietzsche  ernsthch  „gewagt,  der  Weisheit  selber  nach- 
zugehen und  selbst  Philosoph  zu  sein;  früher  verehrte  ich  die 
Philosophen.  Manches  Schwärmerische  und  Beglückende  schwand; 
aber  viel  Besseres  habe  ich  eingetauscht.  Mit  der  metaphysischen 
Verdrehung  ging  es  mir  zuletzt  so,  daß  ich  einen  Druck  um  den 
Hals  fühlte,  als  ob  ich  ersticken  müßte".  Seinem  Freunde  Peter  Gast 
teilte  Nietzsche  mit,  sein  Buch  sei  von  Bayreuth  aus  in  eine  Art  von 
Bann  getan  und  über  seinen  Autor  die  große  Exkommunikation  ver- 
hängt worden.  Dem  Freiherrn  v.  Seydlitz  gegenüber  konstatiert  er 
trotz  des  gegen  ihn  von  Wagner  gerichteten  Pamphlets  mit  sicht- 
licher Befriedigung,  daß  er  nun  über  Wagner  ganz  frei  empfinde. 
Dieser  ganze  Vorgang  habe  so  kommen  müssen:  „Er  ist  wohltätig, 
und  ich  verwende  meine  Emanzipation  von  ihm  reichlich  zu  geistiger 
Förderung.  —  Jemand  sagte  mir:  der  Karikaturenzeichner  von 
Bayreuth  ist  ein  Undankbarer  und  ein  Narr!  —  Ich  antwortete: 
Menschen  von  so  hoher  Bestimmung  muß  man  in  bezug 
auf  die  bürgerliche  Tugend  der  Dankbarkeit  nach  dem 
Maße  ihrer  Bestimmung  messen.  Übrigens  bin  ich  vielleicht 
nicht  ,dankbarer^  als  Wagner  —  und  was  die  Narrheit  betrifft  — 
aber  vielleicht  habe  ich  schon  zu  viel  gesagt,  der  , Wagnerianer' 
regt  sich  in  Ihnen  und  sucht  nach  Steinen . . .  nein,  lieber  Freund, 
Sie  werfen  nicht  nach  mir,  das  weiß  ich.  —  Aber  tun  Sie  mir 
auch  die  Ehre  an,  mich  nie  zu  verteidigen.  Meine  Position  ist 
dafür  zu  stolz,  Verzeihung !  —  Ich  denke,  meine  Freunde  sollen  mit 
mir  zusammen  auch  stolz  sein!" 

Diesem  mit  so  verschiedenen  Gefühlen  aufgenommenem  Buche 
folgte  bald  der  zweite  Band  nach.  Er  unterscheidet  sich  vom  ersten 
insofern,  als  Nietzsche  in  der  1886  geschriebenen  Vorrede  Wagner 
nunmehr  öffentlich  beim  Namen  nennt:  „Richard  Wagner,  scheinbar 
der  Siegreichste,  in  Wahrheit  ein  morsch  gewordener,  verzweifelnder 
Romantiker,    sank   plötzUch    hilflos  und  zerbrochen  vor  dem  Christ- 


—  14:  — 

liehen  Kreuze  nieder.  Gegen  die  romantische  Musik  wendete  sich 
damals  mein  erster  Argwohn;  und  wenn  ich  von  der  Musik  noch 
etwas  erhoffte,  so  war  es  in  der  Erwartung,  es  möchte  ein  Musiker 
kommen,  kühn,  boshaft,  um  an  jener  Musik  auf  eine  unsterbliche 
Weise  Rache  zu  nehmen.  —  Hat  denn  kein  Deutscher  für  dies 
schauerhche  Schauspiel  damals  Augen  im  Kopf,  Mitgefühl  in  seinem 
Gewissen  gehabt?  War  ich  der  einzige,  der  an  ihm  —  litt?  Als  ich 
allein  weiterging,  zitterte  ich  ;  nicht  lange  darauf  war  ich  krank, 
nämlich  müde  —  müde  aus  der  unaufhaltsamen  Enttäuschung  über 
alles,  was  uns  modernen  Menschen  zur  Begeisterung  übrig  blieb, 
über  die  allerorts  vergeudete  Kraft,  Arbeit,  Hoffnung,  Jugend, 
Liebe,  müde  aus  Ekel  vor  der  ganzen  idealistischen  Lügnerei  und 
Gewissens  Verweichlichung,  die  hier  wieder  einmal  den  Sieg  über 
einen  der  Tapfersten  davon  getragen  hatte,  müde  endUch,  und  nicht 
am  wenigsten  aus  dem  Gram  eines  unerbittlichen  Argwohns  —  daß 
ich  nunmehr  verurteilt  sei,  tiefer  zu  mißtrauen,  tiefer  zu  verachten, 
tiefer  allein  zu  sein  als  je  vorher.  Denn  ich  hatte  niemanden 
gehabt  als  Richard  Wagner."  Aus  der  Abfassungszeit  des 
zweiten  Bandes  stammen  gleichzeitig  mitlaufende  Aufzeichnungen 
Nietzsches  über  Wagner:  „Es  ist  schwer,  im  einzelnen  Wagner  an- 
zugreifen und  nicht  Recht  zu  behalten:  seine  Kunstart,  Leben, 
Charakter,  seine  Meinungen,  seine  Neigungen  und  Abneigungen  — - 
alles  hat  wunde  Stellen.  Aber  als  Ganzes  ist  die  Erscheinung 
jedem  Angriff  gewachsen...  Bei  Wagner  ehrgeizigste 
Kombination  aller  Mittel  zu  stärkster  Wirkung;  das  Er- 
habene als  das  Unbegreifliche,  Unerschöpfliche  in  bezug  auf  Größe. 
Alle  Ideen  Wagners  werden  sofort  zur  Manier;  er  wird 
durch  sie  tyrannisiert.  Das  Undeutsche  an  Wagner:  es  fehlt  die 
deutsche  Anmut  und  Grazie  eines  Beethoven,  Mozart,  Weber,  das 
flüssige,  heitere  Feuer  Beethovens,  Webers,  Wagner  hat  in  seinen 
Schriften  nicht  Größe,  Ruhe,  sondern  Anmaßung.  Das  physiologische 
Gesetz  der  Entwicklung  d'er  Leidenschaft  (Handlung,  Rede,  Gebärde) 
und  der  musikalischen  Symphonie  decken  sich  nicht;  die  Wagnersche 
Behauptung  kann  als  widerlegt  gelten  durch  seine  Kunst.  Diese 
Musik  ist  ohne  Drama  eine  fortwährende  Verleugnung 
aller  höchsten  Stilgesetze  der  älteren  Musik.  Ich  sah  in 
Wagner  den  Gegner  der  Zeit  auch  in  dem,  wo  diese  Zeit  Größe 
hat,    und  wo  ich    selber   in    mir  Kraft  fühlte.    Ich  habe    den  Mann 


—     75     — 

geliebt,  wie  er  wie  auf  einer  Insel  lebte,  sich  vor  der  Welt  ohne 
Haß  verschloß,  so  verstand  ich  es;  wie  fern  ist  er  mir  jetzt  ge- 
worden, so  wie  er  jetzt  in  der  Strömung  nationaler  Gier  und 
nationaler  Gehässigkeit  schwimmend  dem  Bedürfnis  dieser 
jetzigen  durch  Politik  und  Geldgier  verdummten  Völker 
nachKeligion  entgegenkommen  möchte;  ich  meinte  ehemals, 
er  habe  nichts  mit  den  jetzigen  zu  tun;  ich  war  wohl  ein  Narr." 
Im  II.  Bande  des  „Menschlichen,  Allzumenschhchen''  heißt  es:  „Wagner 
hat  sich  bis  in  die  Mitte  seines  Lebens  durch  Hegel  irreführen 
lassen;  er  tat  dasselbe  noch  einmal,  als  er  später  Schopenhauers 
Lehre  aus  seinen  Gestalten  herauslas  und  mit  Wille,  Genie  und 
Mitleid  sich  selber  zu  formulieren  begann.  Nichts  geht  gerade  so 
wider  den  Geist  Schopenhauers,  als  das  eigentlich  Wagnerische  an 
den  Helden  Wagners;  immer  mehr  will  seine  ganze  Kunst  sich 
als  Seitenstück  und  Ergänzung  der  Schopenhauerschen  Philosophie 
geben  und  immer  ausdrücklicher  verzichtet  sie  auf  den 
höheren  Ehrgeiz,  Seitenstück  und  Ergänzung  der  menschUchen  Er- 
kenntnis und  Wissenschaft  zu  werden . .  .  Wagner  warf  die  physio- 
logische Voraussetzung  der  bisherigen  Musik  um,  die  unendliche 
Melodie  will  alle  Zeit-  und  Kraftebenmäßigkeit  brechen ...  ich  be- 
wundere Wagner  in  allem,  worin  er  sich  in  Musik  setzt.  Wenn  es 
Wagners  Theorie  gewesen  ist:  das  Drama  ist  der  Zweck,  die  Musik 
ist  immer  nur  ihr  Mittel  —  seine  Praxis  war  dagegen  von  Anfang 
bis  zu  Ende :  die  Attitüde  ist  der  Zweck,  das  Drama,  auch  die  Musik 
ist  immer  nur  ihr  Mittel."  Zu  diesem  Urteil  ist  jedoch  zu  bemerken, 
daß  Nietzsche  bereits  im  Jahre  1871  dasselbe  konstatierte:  es  sei 
ein  Charakteristiken  des  Schauspielers,  die  Musik  müsse  als  Mittel 
des  Ausdruckes  gelten.  Denn  für  ihn  ist  die  Musik  das  allgemeine, 
das  Drama  hingegen  nur  ein  Einzelfall,  ein  Beispiel.  Wenn  er  also 
die  Behauptung  aufstellte,  das  allgemeine  dürfe  vom  Beispiele  nicht 
abhängig  gemacht  werden,  so  heißt  das  mit  anderen  Worten,  daß 
nur  die  absolute  Musik  daseinsberechtigt  sei  und  demzufolge  müsse 
auch  die  Musik  des  Dramas  absolute  Musik  sein.  Am  aller- 
auffallendsten  jedoch  ist  es,  daß  sich  Nietzsche  zu  jener  Zeit  noch 
scheut,  Wagner  weder  für  einen  Musiker,  noch  für  einen  Dichter  zu 
erklären;  dieses  Geständnis  macht  er  erst  1875.  Um  das  Jahr  1878 
bildet  er  diesen  Gedanken  fort:  „Die  Musik  als  Mittel  zur  Verdeut- 
lichung,   Verinnerlichung,    Verstärkung    der    dramatischen    Gebärde 


—     76     — 

lind  Schauspiel ersinnenfälligkeit,  und  das  Wagnersche  Drama  nur 
Gelegenheit  zu  vielen  interessanten  Attitüden.  Wagner  hatte  neben 
allen  anderen  Instinkten  die  kommandierenden  Instinkte  eines  großen 
Schauspielers  in  allem  und  jedem,  und  auch  als  Musiker." 

Frau  Förster-Nietzsche  bedauert  es,  daß  ihr  Bruder  die  im 
Juni,  Juli  1878  begonnenen  Entwürfe  zu  einem  Buche  über  Wagner 
und  Schopenhauer  mit  dem  Titel:  „Der  neue  Um  blick"  unvoll- 
endet gelassen  habe,  jedenfalls  aus  Verstimmung  über  den  Artikel, 
den  Wagner  im  Augusthefte  der  „Bayreuther  Blätter"  gegen 
ihn  veröffentlicht  hatte.  Denn  die  herrschende  Grundstimmung  dieser  - 
Entwürfe  zeichne  sich  aus  durch  milde  und  gerechte  Beurteilung 
Wagners  und  Schopenhauers  als  der  Lehrer  seiner  Jugend,  wodurch 
-er  allen  seinen  Freunden  seinen  scharfen  Frontwechsel  habe  ver- 
ständhch  machen  wollen.  So  heißt  es  in  der  Vorrede:  „Ich  habe  da- 
durch, daß  ich  alle  ästhetischen  Phänomene  zu  ,Wundern'  machte, 
Schaden  gestiftet  unter  den  Anhängern  Wagners  und  vielleicht  bei 
Wagner  selbst,  der  alles  gelten  läßt,  was  seiner  Kunst  höheren 
Kang  verleiht,  wie  begründet  und  wie  unbegründet  es  auch  sein 
mag.  Vielleicht  habe  ich  ihn  durch  meine  Zustimmung  zu  seiner 
Schrift  über  die  ,Bestimmung  der  Oper'  zu  größerer  Be- 
stimmtheit verleitet  und  in  seine  Schriften  und  Werke  Unhaltbares 
hineingebracht.  Das  bedauere  ich  sehr. . .  man  wird  es  Wagner  nie 
vergessen  dürfen,  daß  er  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts in  seiner  Weise  (die  freilich  nicht  gerade  die  Weise  guter 
und  einsichtiger  Menschen  ist)  die  Kunst  als  eine  wichtige  und  groß- 
.artige  Sache  ins  Gedächtnis  brachte...  über  Wagner  wie  über 
Schopenhauer  kann  man  unbefangen  reden,  auch  bei 
ihren  Lebzeiten  —  ihre  Größe  wird,  was  man  auch  ge- 
zwungen ist,  in  eine  andere  Wagschale  zu  legen,  immer 
siegreich  bleiben.  Um  so  mehr  ist  gegen  ihre  Gefähr- 
lichkeit in  der  Wirkung  zu  warnen."' 

Allen  diesen  Argumenten,  die  Nietzsche  gegen  Wagners  Kunst 
vorbringt,  ist  gemeinsam,  daß  ihnen  jene  böswillige  Gehässigkeit 
und  Kritik  fehlt,  die  seine  späteren  Schriften  gegen  Wagner  be- 
herrscht. Daß  aber  diese  Ausführungen  Nietzsches  so  manches 
Wahre  enthalten,  auch  wo  sie  sich  in  direkten  Gegensatz  zu  Wagner 
istellen,  ist  unleugbar  und  soll  später  genauer  behandelt  werden. 


VIII.  DAS  ENDE  DER  FREUNDSCHAFT. 

In  der  Erörterung  des  Verhältnisses  zwischen  den  beiden 
Freunden  erwähnten  wir  zuletzt  Wagners  gehässigen  Artikel  gegen 
Nietzsche  in  den  „Bayreuther  Blättern".  Da  Nietzsche  auf  dieses 
Pamphlet  mit  einer  Entgegnung  nicht  reagierte,  sondern  sich  tief 
darüber  kränkte,  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  die  Anbahnung 
eines  persönlichen  Verkehres  zwischen  beiden  noch  immer  im  Be- 
reiche der  Möglichkeit  gelegen  war.  Aber  gut  für  Nietzsches  Be- 
ziehungen zu  Wagner  war  jedenfalls  der  Umstand  nicht,  daß  der 
Verleger  von  „Menschliches,  Allzumenschliches",  Schmeitzner  in 
Chemnitz,  1878  die  „Bayreuther  Blätter"  verlegte.  Dieser  Mann,  der 
auch  mit  Nietzsche  geschäftlich  verkehrte,  erzählte  getreuUch  alles 
nach,  was  man  ihm  m  Bayreuth  zum  Zwecke  des  Weitererzählens 
über  Nietzsche  mitgeteilt  hatte.  So  soll  sich  Wagner  geäußert  haben : 
„Ach,  wissen  Sie,  Nietzsche  hest  man  doch  nur,  insofern  er  sich  zu 
unserer  Sache  hält."  Darüber  war  der  Philosoph  tief  betrübt,  weil 
er  anderes  erwartet  und  erhofft  hatte:  er  wollte  von  Wagner  um 
seiner  selbst  willen  geliebt  werden,  nicht  wegen  seiner  „Wagnerei". 
Nietzsches  Schwester  hat  daher  Recht  mit  ihrer  Behauptung,  daß 
ihr  Bruder  Wagner  niemals  stärker  geliebt  habe  als  in  den  Jahren, 
da  er  sich  von  ihm  trennen  mußte.  Wie  er  selbst  Wagnern  nicht 
böse  wollte,  wünschte  er  auch  nicht.,  daß  sich  seine  Freunde  etwa 
ihm  zuliebe  von  Wagner  abwenden  sollten.  Rührend  ist  ein  Brief, 
den  er  am  11.  Juni  an  den  Freiherrn  v.  Seydlitz  richtete:  „Mir 
ist  es  sehr  lieb  und  erwünscht,  daß  einer  meiner  Freunde  Wagnern 
Gutes  und  FreundUches  erweist;  denn  ich  bin  immer  weniger  im- 
stande, ihm,  so  wie  er  nun  einmal  ist  —  ein  alter,  unveränderlicher 
Mann  —  Freude  zu  machen.  Seine  und  meine  Bestrebungen  laufen 
ganz  auseinander.  Dies  tut  mir  wehe  genug,  aber  im  Dienste  der 


—     78     — 

Wahrheit  muß  man  zu  jedem  Opfer  bereit  sein').  Wüßte 
er  übrigens,  was  ich  alles  gegen  seine  Kunst  und  seine  Ziele  auf 
dem  Herzen  habe,  er  hielte  mich  für  einen  seiner  ärgsten 
Feinde  —  was  ich  bekanntlich  nicht  bin."  Noch  1880  schreibt 
er  an  Peter  Gast:  „Durch  nichts  kann  es  mir  ausgeglichen  werden, 
daß  ich  in  den  letzten  Jahren  der  Sympathie  Wagners  verlustig  ge- 
gangen bin.  Wie  oft  träume  ich  von  ihm  und  immer  im  Stile 
unseres  damaligen  vertraulichen  Zusammenseins.  Es  ist  nie  zwischen 
uns  ein  böses  Wort  gesprochen  worden,  aber  sehr  viele  ermutigende 
und  heitere,  und  mit  niemandem  habe  ich  vielleicht  so  viel  zusammen 
gelacht.  Das  ist  nun  vorbei,  und  was  nützt  es,  vielleicht  in  manchen 
Stücken  gegen  ihn  recht  zu  haben;  als  ob  damit  diese  verlorene 
Sympathie  aus  dem  Gedächtnisse  gewischt  werden  könnte."  Und 
im  „Ecce  homo"  findet  sich  die  schöne  Stelle:  „Was  mich  in  meinem 
Leben  bei  weitem  am  tiefsten  und  am  herzlichsten  erholt  hat,  ist 
ohne  allen  Zweifel  der  intimere  Verkehr  mit  Richard  Wagner  ge- 
wesen. Ich  lasse  den  Rest  meiner  menschlichen  Beziehungen  billig. 
Ich  möchte  um  keinen  Preis  die  Tage  von  Tribschen  weggeben, 
Tage  des  Vertrauens,  der  Heiterkeit,  der  sublimen  Einfälle,  der 
tief  en  Augenblicke.  Ich  weiß  nicht,  was  andere  mit  Wagner  erlebt 
haben:  über  unseren  Himmel  ist  nie  eine  Wolke  hinweggegangen.'' 
Über  seine  Trennung  von  Wagner  schrieb  Nietzsche  Anfang  Februar 
1882  an  Fräulein  v.  Meysenbug,  mit  der  er  freundschaftliche  Be- 
ziehungen wieder  angeknüpft  hatte,  unter  anderem:  „Daß  jetzt  alle 
Welt  mich  allein  läßt,  darüber  beklage  ich  mich  nicht  —  ich  finde 
es  vielmehr  erstens  nützlich  und  zweitens  natürlich.  So  ist  es  und 
war  es  immer  die  Regel.  Auch  Wagners  Verhalten  zu  mir  gehört 
unter  diese  Trivialität  der  Regel.  Überdies  ist  er  der  Mann  seiner 
Partei;  und  der  Zufall  seines  Lebens  hat  ihm  eine  so  zufällige  und 
unvollständige  Bildung  gegeben,  daß  er  weder  die  Schwere  noch  die 
Notwendigkeit  meiner  Art  von  Leidenschaft  begreifen  kann." 
Wir  dürfen,  um  diese  Briefstelle  zu  verstehen,  nicht  vergessen,  daß 
Nietzsche  im  Jahre  1879  nach  zehnjährigem  Wirken  um  seinen  Ab- 
schied aus  dem  Lehramte  bittlich  geworden  war.  Er  wurde  ihm  be- 


^)  Er  trat  von  seiner  Professur  zurück  und  brach  mit  seinen  Freunden; 
akademische  Ehre,  Ehrgeiz,  Familieninteresse,  Sorge  um  Weib  und  Kind 
und  Haus,  und  alles,  was  sonst  das  Gedankenleben  des  Durchschnittsgelehrten 
bindet,  beeinflußt  und  —  fälscht,  für  ihn  kam  es  nicht  in  Betracht. 


—     79     — 

willigt  und  Nietzsche  zog  sich  nunmehr  noch  tiefer  in  die  Ein- 
samkeit zurück,  lebte  teils  im  Engadin,  teils  in  Italien  und  je  mehr 
des  Meisters  Ruhm  wuchs,  desto  vereinsamter  fühlte  sich  der 
Philosoph.  Denn  der  Bruch  mit  Wagner  riß  mit  einem  Ruck  auch 
die  Hälfte  seiner  Beziehungen  ab.  Wer  ihn  durch  Wagner  gekannt, 
verUeß  ihn  um  Wagners  willen;  die  noch  übrig  blieben,  behandelten 
ihn  mit  Vorsicht  und  mit  einer  gewissen  Eingeschränktheit  des  Ver- 
trauens. Es  ist  daher  menschlich  begreiflich  und  nachfühlbar,  wenn 
er  sich  1881  über  seine  Beziehungen  zu  Wagner  äußert:  „Wagner 
hat  viele  Wohltaten  von  seinen  Zeitgenossen  empfangen:  aber  er 
meinte,  die  grundsätzliche  Ungerechtigkeit  gegen  Wohltäter  gehöre 
zum  , großen  Stile^ :  er  lebte  immer  als  Schauspieler  und  im  Wahne 
der  Bildung,  wie  sie  Schauspieler  zu  haben  pflegen.  Ich  selber  bin 
vielleicht  sein  größter  Wohltäter  gewesen."  Und  an  Malwida 
V.  Meysenbug:  „Als  man  sich  einst  mit  der  Fürsprache  für  Wagner 
kompromittierte,  habe  ich  auch  dazu  den  Mut  gehabt.  Sie  wissen 
vielleicht  nicht,  was  mich  die  Wagnerei  gekostet  hat!"  Wie  bereits 
erwähnt,  Wagner  hat  zweifellos  Nietzsches  Bedeutung  für  sich 
stark  unterschätzt;  immerhin  hätte  er  sich,  wenn  er  ganz  auf- 
richtig gewesen  wäre,  sagen  müssen,  daß  er  Nietzsche  einigen  Dank 
schuldig  sei.  Wagner  hatte  es  ganz  vergessen,  daß  sein  begeistertster 
Apostel  wegen  der  „Geburt  der  Tragödie"  von  den  Philologen  in 
Acht  und  Bann  getan  wurde,  daß  seine  Kollegien  in  Basel  boykottiert 
und  Berufungen  an  deutsche  Universitäten  zurückgezogen  wurden! 
Kein  Wunder  daher,  wenn  der  Mann,  der  sein  Höchstes,  seine  wissen- 
schaftliche Bedeutung,  bedingungslos  für  Wagner  eingesetzt  hatte, 
jetzt  in  seiner  Einsamkeit  mit  einer  gewissen  Bitterkeit  sich  der  von 
Wagner  nicht  verstandenen  Opfer  erinnert !  Niemand  hat  tiefer  und 
anhaltender  über  das  Problem  Wagner  nachgedacht  als  Nietzsche; 
seine  große  Freundschaft,  die  er  für  Wagner  empfand,  hat  ihn  dazu 
verführt.  Es  werden  Zeiten  kommen,  wo  man  es  nicht  mehr  be- 
greift, daß  er  gewissermaßen  alle  künstlerischen  Fragen  der  Gegen- 
wart daran  gemessen  hat,  und  es  nicht  versteht,  wie  ein  Nietzsche, 
der  Ewigkeitsprobleme  aufgerollt  hat,  die  ein  Jahrtausend  kaum  zu 
lösen  vermag,  so  viel  Nachdenken  an  dies  eine  Problem  hat  ver- 
schwenden können. 

Man   muß    sich    in    den    Geist    der   damaligen  Zeiten    zurück- 
denken, um  sofort  zu  erkennen,  daß  bis  1872  über  Wagner  eigentlich 


—     80     — 

erst  sehr  wenig  Günstiges  gesagt  und  geschrieben  worden  war. 
Man  erblickte  in  ihm  lediglich  nur  den  Revolutionär  auf  musikalischem 
Grebiete.  Nun  war  es  Nietzsches  Verdienst  oder  Schuld,  je  nachdem 
man  sich  zur  Sache  stellt,  daß  Wagner  mit  dem  Begriff  einer  neuen 
höheren  deutschen  Kultur  und  mit  dem  Griechentum  verknüpft 
wurde.  Seine  Schuld  hat  nun  Nietzsche  bald  erkannt,  zumal  er  sehen 
mußte,  wie  er  durch  seine  Schriften  für  Wagner  aus  diesem  einen 
irreführenden  Götzen  gemacht  hatte  —  „das  Mißverständnis  über 
Richard  Wagner  ist  heute  in  Deutschland  ungeheuer:  und  da  ich 
dazu  beigetragen  habe,  es  zu  vermehren,  so  will  ich  meine  Schuld 
abtragen  und  versuchen,  es  zu  verringern"  — ,  womit  er  jedoch 
keineswegs  die  Absicht  verband,  dem  jungen  Deutschland  das  Objekt 
seiner  Verehrung  wieder  zu  rauben.  Er  schrieb  an  den  Freiherrn 
V.  Stein:  „Man  hat  mir  erzählt,  daß  Sie  mehr  als  jemand  sonst 
vielleicht  sich  Schopenhauer  und  Wagner  mit  Herz  und  Geist  zu- 
gewendet haben.  Dies  ist  etwas  Unschätzbares,  vorausgesetzt, 
daß  es  seine  Zeit  hat. '^  Nietzsche  fühlte,  daß  der  Wagnerkultus  seine 
Zeit  gehabt  habe,  wo  er  günstig  wirke,  und  daß  es  gut  wäre,  wenn 
der  Deutsche  seinen  düsteren  Leidenschaftsrausch,  der  ihn  gewiß 
während  der  Zeit  des  öden  und  flachen  Materialismus  manches  Tiefe 
und  Ernste  gelehrt  hatte,  überwände  und  nun  auch  Sinn  und  Geist 
für  neue  Ideale,  das  heißt  für  alles  das  öffnete,  was  Nietzsche  an 
Wagner  so  schmerzlich  vermißte.  Er  wollte  den  deutschen  Jüngling 
freudig  und  lebensbejahend  sehen,  er  wollte  Menschen,  die  vom  Leben 
noch  tausend  entzückende  Möglichkeiten  erhoffen.  Mit  welch  bitterem 
Schmerze  mußte  es  daher  dieser  Nietzsche  empfinden,  daß  Wagners 
Musik  ihren  weltverklärenden  Charakter  verlor  und  immer  mehr 
„pessimistisch-triste"  wurde!  Dazu  ist  noch  zu  zählen,  was  man 
aus  Wagner  selbst  in  Bayreuth  gemacht  hatte:  etwas  so  Ver- 
schwommenes, der  Wahrheit  durchaus  Widersprechendes,  wie  denn 
überhaupt  die  Wagnerianer  und  nicht  Wagner  selbst  den  tiefsten 
Abgrund  zwischen  ihn  und  Nietzsche  gelegt  haben.  Er  äußerte  sich 
darüber:  „Ich  habe  Richard  Wagner  mehr  geliebt  und  verehrt  als 
irgend  sonst  jemand;  und  hätte  er  zuletzt  nicht  den  schlechten  Ge- 
schmack —  oder  die  traurige  Nötigung  —  gehabt,  mit  einer  mir 
unmöglichen  Qualität  von  „Geistern"  gemeinsame  Sache  zu  machen, 
mit  seinen  Anhängern,  den  Wagnerianern,  so  hätte  ich  keinen 
Grund    gehabt,    ihm    schon  bei  Lebzeiten  Lebewohl  zu  sagen,    ihm^ 


~     81     — 

dem  Tiefsten  und  Kühnsten,  auch  Verkanntesten  aller  Schwer- 
zuerkennenden von  heute,  dem  begegnet  zu  sein  meiner  Erkenntnis 
mehr  als  irgendeine  andere  Begegnung  förderlich  gewesen  ist  — 
Yorausgestellt,  was  voraussteht:  daß  seine  Sache  und  meine  Sache 
nicht  verwechselt  werden  wollte,  und  daß  es  ein  gutes  Stück  Selbst- 
überwindung bedurfte,  ehe  ich  dergestalt  ,Sein'  und  ,Mein'  mit 
gebührendem  Schnitte  zu  trennen  lernte."  An  einer  anderen  Stelle 
soll  über  diese  Wagnerianer  ausführUcher  gehandelt  werden. 

Aber  trotz  alledem  nennt  Nietzsche  in  einem  Briefe  an  seine 
Schwester  die  Tage  des  Beisammenseins  mit  Wagner,  vorzüglich 
die  Tribschener  Tage,  die  schönsten  seines  Lebens.  Nur  die  all- 
mächtige Gewalt  ihrer  Aufgaben  habe  sie  auseinander  getrieben, 
jetzt  könnten  sie  nie  mehr  wieder  zueinander:  denn  sie  seien  sich 
schon  zu  fremd  geworden.  Doch  damals,  als  Nietzsche  nach  langem 
Suchen  in  Wagner  den  Menschen  gefunden  zu  haben  glaubte,  der 
der  „vollste  Mensch"  war,  den  er  je  gekannt,  der  höher  war  als  er 
selbst,  der  der  einzige  war,  der  mit  genialem  Scharfblick  in  dem 
vierundzwanzigjährigen  Professor  das  außerordentlichste  Phänomen 
seiner  Zeit  witterte,  damals  fühlte  er  sich  unbeschreiblich  glücklich. 
Im  übrigen  aber  habe  er  seine  Wagnerschwärmerei  teuer  genug  be- 
zahlen müssen;  seine  nervenzerrüttende  Musik  habe  ihm  die  Ge- 
sundheit verdorben.  Daher  zürnte  er  durchaus  nicht,  daß  Wagner 
keine  Anknüpfung  wieder  gesucht  hat.  Im  Herzen  war  er  ihm  dafür 
sogar  dankbar.  Scherzend  pflegte  er  oft  zu  sagen:  „Sechs  Jahre  habe 
ich  gebraucht,  um  meine  Gesundheit  durch  meine  leidenschaftliche 
Wagnerei  gründlich  zu  ruinieren;  sechs  Jahre  habe  ich  wiederum 
nötig  gehabt,  um  mich  davon  zu  befreien  und  wieder  gesund  zu 
werden."  Die  Enttäuschung  über  Wagner  und  der  Abschied  von  ihm 
kamen  ihm  geradezu  lebensgefährlich  vor. 

Im  Jahre  1882  besuchte  Nietzsche  in  Gesellschaft  von  Frau 
Lou  Andreas  Salomö  Tribschen,  die  Stätte  seines  tiefsten  Glückes. 
Sie  berichtet  darüber:  „Lange  saß  er  dort  schweigend  am  Seeufer, 
in  schwere  Erinnerungen  versunken;  dann,  mit  dem  Stocke  im 
feuchten  Sande  zeichnend,  sprach  er  mit  leiser  Stimme  von  jenen 
vergangenen  Zeiten.  Und  als  er  aufblickte,  da  weinte  er."  Von  ihm 
selbst  stammt  aus  der  gleichen  Zeit  folgende  Äußerung:  „Ich 
empfand  deutlich,  daß  ich  nie  wieder  eine  so  unvergleichliche  Zeit 
erleben  würde  und  fragte  mich,  welches  Opfer  mein  hartes  Schicksal 

G  r  i  e  ß  e  r,  Wagner  und  Nietzsche.  q 


—     82     — 

noch  von  mir  fordern  würde,  nachdem  ich  auf  Wagner  und  Cosima 
verzichtet  hatte,  verzichten  mußte/ 

Es  fragt  sich  nun,  ob  Wagner  nach  der  Trennung  von  Nietzsche 
nicht  auch  ähnlich  gelitten  habe.  Diese  Frage  ist  schvsrer  zu  be- 
antworten, weder  negativ,  noch  positiv.  Allerdings  schrieb  Wagner 
nach  dem  Erscheinen  des  „Menschlichen,  Allzumenschlichen *•'  an 
Prof.  Overbeck:  „Aus  Ihren  kurzen  Andeutungen  entnehme  ich,  daß 
unser  alter  Freund  Nietzsche  sich  auch  von  Ihnen  zurückgezogen 
erhält.  Gewiß  sind  sehr  auffäUige  Veränderungen  mit  ihm  vor- 
gegangen: wer  ihn  jedoch  schon  vor  Jahren  in  seinen  psychischen 
Krämpfen  beobachtete,  durfte  sich  fast  nur  sagen,  daß  eine  längst 
befürchtete  Katastrophe  nicht  ganz  unerwartet  bei  ihm  eingetreten 
ist,  daß  mit  einem  so  gewaltsamen  physischen  Vorgänge  nach  sitt- 
lichen Annahmen  gar  nicht  zu  rechten  ist  und  erschütterndes 
Schweigen  einzig  übrig  bleibt.  Ich  habe  für  ihn  die  Freundschaft 
bewahrt,  sein  Buch  —  nachdem  ich  es  beim  Aufschneiden  durch- 
blättert —  nicht  zu  lesen  und  möchte  weiter  nichts  wünschen  und 
hoffen,  als  daß  er  mir  dies  dereinst  noch  danke."  Aber  immerhin 
hatte  Wagner  vor  Nietzsche  den  einen  Vorteil  voraus,  daß  er  an 
den  vortrefflichen  jungen  Leuten  seines  Kreises  für  Nietzsche  Ersatz 
finden  konnte,  während  dieser  zur  Einsamkeit  verurteilt  war. 
Heinrich  v.  Stein  versichert,  er  habe  bei  Wagner  stets  das  Gefühl 
gehabt,  daß  der  Meister  nach  einem  Ersätze  für  Nietzsches  Freund- 
schaft gesucht  habe:  „und  dann  war  er  immer  enttäuscht''.  Von 
Interesse  ist  ferner  die  folgende  Mitteilung  Overbecks:  Stein,  der 
von  Nietzsches  unheilbarer  Entfremdung  von  Wagner  noch  keine 
Ahnung  hatte,  hatte  Nietzsche  den  Vorschlag  gemacht,  er  möge 
sich  mit  ihm  und  Gleichgesinnten  an  Erörterungen  über  das  Wagner- 
lexikon beteiligen.  Später  hatte  man  erfahren,  daß  Stein  nach  Sils- 
Maria  geschickt  worden  war,  um  Nietzsche  für  die  „Wagnerei'" 
wieder  zurückzugewinnen;  er  habe  dann  über  diese  persönliche  Be- 
gegnung voll  Begeisterung  nach  Bayreuth  geschrieben,  sei  aber  von 
dort  ernstlich  ermahnt  worden,  Wagner  und  der  Bayreuther  Sache 
treu  zu  bleiben.  Nietzsches  dithyrambischer  Lockruf  öffnete  ihm  die 
Augen  für  das  Entweder — Oder,  und  er  hielt  zu  Wagner.  Humorvoll 
schrieb  Nietzsche  über  diese  Verkennung  seiner  nunmehrigen 
Stellung  zu  Wagner  an  Malwida:  „Es  ist  der  Humor  der  Lage,  daß 
ich    verwechselt    werde    mit    dem    ehemaligen    Baseler    Professor 


—     83     — 

Dr.  Fr.  Nietzsche ;  zum  Teufel  auch,  was  geht  mich  dieser  Nietzsche 
an!"  Was  die  erwähnte  Bereitwilligkeit  Nietzsches,  Wagner  wieder 
aufzusuchen,  betrifft,  schrieb  er  am  30.  Jänner  1882  an  seine 
Schwester,  sie  solle  nach  Bayreuth  reisen;  „ich  aber  komme  gewiß 
nicht  hin,  es  sei  denn,  daß  Wagner  mich  persönlich  einladet  und 
als  den  geehrtesten  seiner  Festgäste  behandelt!"  Frau  Förster- 
Nietzsche  berichtet  nur  von  einem  einzigen  Ausspruche  Wagners,  der 
seine  innerste  Empfindung  widerspiegelt.  Gelegentlich  einer  Parsifal- 
aufführung  im  Jahre  1882  bat  Wagner  Frau  Förster  um  eine  be- 
sondere Unterredung.  Bei  der  Verabschiedung  sagte  Wagner  ganz 
leise  zu  ihr:  „Sagen  Sie  es  Ihrem  Bruder,  seit  er  von  mir  ge- 
gangen ist,  bin  ich  allein."  Es  ist  zu  bemerken,  daß  Wagner  dies 
sagte  ein  halbes  Jahr  vor  seinem  Tode,  in  jener  Zeit  des  höchsten 
Ruhmes,  den  er  erlebt  hat,  umgeben  von  einer  Welt  der  ehr- 
erbietigsten Bewunderung.  Vielleicht  hat,  ermutigt  durch  diesen 
Ausspruch,  Malwida  v.  Meysenbug  bei  Wagner  den  Versuch  unter- 
nommen, ihn  mit  Nietzsche  auszusöhnen,  zumal  sich  dieser  bereit 
erklärt  hatte,  im  Falle  des  Gelingens  nach  Bayreuth  zu  kommen.  Wie 
Frau  Lou  Andreas  in  ihrem  Buche  erzählt,  ist  jedoch  dieser  Versuch 
mißlungen :  Wagner  habe  in  großer  Erregung  das  Zimmer  verlassen 
und  verboten,  den  Namen  Nietzsche  jemals  wieder  vor  ihm  aus- 
zusprechen. 

Als  Frau  Förster  ihrem  Bruder  die  zitierte  Äußerung  Wagners 
hinterbrachte,  widmete  er  dem  Meister  folgenden  wunderschönen 
Aphorismus,  in  dem  er  eine  Art  Rückschau  über  seine  Beziehungen 
zu  Wagner  hält:  „Sternen fr eundschaft.  Wir  waren  Freunde, 
und  sind  uns  fremd  geworden;  wir  sind  zwei  Schiffe,  deren  jedes 
sein  Ziel  und  seine  Bahn  hat;  die  allmächtige  Gewalt  unserer  Auf- 
gabe trieb  uns  auseinander  in  verschiedene  Meere  und  Sonnenstriche, 
und  vielleicht  sehen  wir  uns  nie  wieder;  vielleicht  auch  sehen  wir 
uns  wohl,  aber  erkennen  uns  nicht  wieder,  die  verschiedenen  Meere 
und  Sonnen  haben  uns  verändert.  Daß  wir  uns  fremd  werden 
mußten,  ist  das  Gesetz  über  uns,  eben  dadurch  sollen  wir  uns 
auch  ehrwürdiger  werden,  soll  der  Gedanke  an  unsere  ehemalige 
Freundschaft  heiliger  werden.  Es  gibt  wahrscheinUch  eine  ungeheure 
unsichtbare  Kurve  und  Sternenbahn,  in  der  unsere  so  verschiedenen 
Straßen  und  Ziele  als  kleine  Wegstrecken  einbegriffen  sein  mögen; 
erheben   wir   uns   zu   diesem  Gedanken!    Aber   unser  Leben  ist  zu 

6* 


—     84     — 

kurz  und  unsere  Sehkraft  zu  gering,  als  daß  wir  mehr  als  Freunde 
im  Sinne  jener  erhabenen  Möglichkeit  sein  möchten.  Und  so  wollen 
wir  an  unsere  Sternenfreundschaft  glauben,  selbst  wenn  wir  ein- 
ander Erdenfeinde  sein  müßten  I'^ 

Diese  Freundschaftstragödie   ihres  Bruders   mit  Wagner   über- 
blickend,   resümiert  Frau  Förster,    daß  es  der  Durchschnittsmensch 
mit  seinem  kümmerlichen  geistigen  Frühling  natürlich  nie  begreifen 
werde,    daß    eine  so  polyphone  Natur  wie  Nietzsche  mehrere  Blüte- 
zeiten   erleben  mußte,    in   denen  der  Gelehrte    oder   der  Philosoph 
oder    der  Künstler   sein  eigenes  Fest  feierte.     Vielleicht  begreife  er 
schon    eher,    daß  unsere  Verhältnisse  zu  anderen  Menschen,  unsere 
Leidenschaften   ihre    Zeit    des    Wachsens,    Blühens   und   Vergehens 
haben,    nur    pflege    er    diesen    Prozeß    meistens    nur    auf    Liebes- 
angelegenheiten   anzuwenden,    während  er  gerade  der  Freundschaft 
die  gleichmäßige  Dauer  zuspreche.  In  unserer  Zeit,  die  nur  Freund- 
schaften  als    etwas  Opportunes,    Leidenschaftsloses,    besser   gesagt 
laue  Empfindungen  zeitigen  könne,  sei  eine  Freundschaft  wie  zwischen 
Nietzsche  und  seinen  Freunden  einfach  undenkbar.  Denn  allen  jetzigen 
Freundschaften  fehle  die  Innigkeit  und  Zartheit  des  Verkehres,  das 
hohe  gemeinsame  Streben,  die  Leidenschaft  in  der  Verteidigung  und 
Bewunderung   des  Freundes,    der  Glaube    an  seine  höchsten  Eigen- 
schaften.   So    schrieb  Nietzsche,    sich    über    den  Unverstand   seiner 
Zeit   beklagend,    mit    wehmütiger  Trauer    an  0 verbeck,    daß    „ihm 
niemand  mit  dem  Tausendstel  von  Leidenschaft  und  Leiden  entgegen- 
gekommen sei,  um  ihn  mit  Wagner  zu  verstehen ! "  Es  ist  aber  klar, 
daß   eine    so  hohe  Auffassung  vom  Wesen  der  Freundschaft  natur- 
gemäß auch  um  so  größere  Konflikte  hat  zeitigen  müssen.  Gelegent- 
lich   eines  Gespräches    über    moderne  Literatur,    in  der  bekanntUch 
die  Erotik  eine  große  Rolle  spielt,  äußerte  sich  Nietzsche:  „Warum  nur 
immer   dasselbe  allmähhch  doch  allzu  langweilig  gewordene  Thema 
der  Liebe  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  als  Hauptgegenstand? 
Die  Freundschaft   hat   ganz   ähnliche  Konflikte,    nur  auf  einer  viel 
höheren  Stufe:  erst  die  gegenseitige  Anziehung  auf  der  Basis  einer 
gemeinsamen   Weltanschauung,    dann    das    Glück    der   Zusammen- 
gehörigkeit  und   der   gemeinsamen  Zukunftspläne,   dann  die  gegen- 
seitige Bewunderung   und  Verherrlichung;    plötzUch   Mißtrauen    auf 
einer  Seite,  zuletzt  die  Gewißheit,  sich  trennen  zu  müssen  und  sich 
doch  schwer  entbehren  zu  können  —  sind  das  nicht  alles  unzähUge 


—     85     — 

Konflikte  mit  unsäglichen  Leiden?"  Aber  noch  einer  charakteristischen 
Tatsache  im  Leben  Nietzsche  wäre  hier  zu  gedenken.  Nietzsche, 
der  aus  einem  tiefinnerhchen  Bedürfnisse  heraus  Freunde  um  sich 
brauchte,  die  er  leidenschaftlich  liebte,  besaß  die  gefährhche  Ge- 
wohnheit, diejenigen,  die  ihm  lieb  waren,  zu  idealisieren.  Jedes 
Neides  bar  und  von  vornherein  für  alles,  was  an  seinen  Freunden 
bemerkenswert  sein  konnte,  lebhaft  eingenommen,  gefiel  er  sich 
darin,  ihr  Bild  in  seiner  Phantasie  zu  verändern  oder,  richtiger 
gesagt,  zu  verbessern;  er  gab  ihnen  mehr  Schönheit,  Größe  und 
Stil  als  sie  in  Wirklichkeit  hatten.  Im  Feuer  seiner  enthusiastischen 
Liebe  schloß  er  die  Augen  vor  ihren  Mängeln  und  menschlichen 
Schwächen,  um  nur  noch  ihre  Vollkommenheiten  zu  sehen;  und 
schließlich  machte  er  sich  von  seinen  Freunden  ein  zwar  scharf  ge- 
troffenes und  ähnliches,  aber  idealisiertes  Bild,  wie  ein  Porträt  von 
Meisterhand.  Derart  täuschte  er  sich  in  Schopenhauer  und  Wagner, 
die  in  seiner  hoch  auflodernden  Einbildungskraft  zum  Ideal  des 
Philosophen  und  des  Künstlers  wurden.  Diese  Eigenschaft,  seine 
Freunde  zu  verschönern,  ließ  ihn  gewiß  an  ihrer  Seite  reinere  und 
vollkommenere  Freuden  kosten  als  den  realistischen  Menschen- 
kenner, sie  ward  für  ihn  aber  auch  zur  Quelle  grausamer  Täuschungen. 
Da  sein  Sinn  für  die  Realität  ihn  nie  verheß  und  seine  unerbittliche 
intellektuelle  Redlichkeit  ihm  nie  erlaubte,  sich  einer  Illusion  blind 
hinzugeben,  so  mußte  er  eines  schönen  Tages  den  Abstand  zwischen 
der  wirklichen  Persönlichkeit,  die  er  liebte,  und  dem  Idealbilde,  das 
•er  im  Herzen  trug,  mit  Notwendigkeit  erkennen.  Daher  die  unver- 
meidUchen  Enttäuschungen,  Erkaltungen  oder  gar  ein  völhger  Bruch. 
Diese  anscheinende  Unbeständigkeit  in  der  Freundschaft,  die  für  alle, 
welche  ihre  Wirkungen  zu  erfahren  hatten,  so  schmerzlich  war  und 
von  Seiten  der  Kritik  oft  strenge  und  ungerecht  beurteilt  worden 
ist,  hatte  ihren  Ursprung  tatsächlich  in  einem  edelmütigen  Gefühle 
nämlich  in  dem  Bedürfnis  zu  bewundern  und  zu  verehren.  Nietzsche 
war  das  Gegenteil  von  jenen  scheeläugigen  oder  kritischen  Naturen, 
die  an  einem  großen  Manne  nur  die  Verkehrtheiten  sehen  und  in- 
stinktiv alles  verkleinern,  was  sie  betrachten.  In  seiner  angeborenen 
Liebe  zu  Schönheit  und  Größe  wehrte  er  sich  so  lange  wie  mögüch 
dagegen,  die  Un Vollkommenheiten  seiner  Freunde  zu  sehen;  er 
machte  aus  ihnen  Idole,  er  übertrieb  ihren  Wert,  um  dann  eines 
Tages  wieder  sein  Urteil  walten  zu  lassen.  Gewiß  ist  dies  ein  Fehler, 


—     86     — 

aber  es  ist  der  Fehler  einer  edlen  Seele.  (Cf.  Lichtenberger,  1.  c.  p. 
8 — 10.)  Wahrlich,  wahre  Freundschaft  zwischen  gleich  Großen  ist 
sehr  selten;  wir  brauchen  uns  nur  an  Goethe  zu  erinnern  und  sein 
Verhältnis  zu  Kleist  und  Schopenhauer  oder  an  Hebbel,  der  Hirn 
und  Herz  seiner  Freunde  aufzehrte.  Und  drückte  Wagner  nicht  in 
der  Tat  wie  ein  Alp  auf  seine  Umgebung?  Für  das  Wesen  solcher 
Freundschaften  hat  niemand  anderer  wie  Montaigne  im  Hinbhck 
auf  sein  Verhältnis  zu  Boethius  das  richtigste  Wort  gefunden,  wenn 
er  sagt:  „Um  die  Freundschaft  aufzubauen,  muß  so  vielerlei  zu- 
sammentreffen, daß  es  schon  viel  ist,  wenn  glückliche  Fügung  ein- 
mal in  drei  Jahrhunderten  dazu  gelangt." 

Auf  diesem  Höhepunkte  unserer  Betrachtung  angelangt,  wollen 
wir  die  Frage  aufwerfen,  ob  zwischen  Wagner  und  Nietzsche  nicht 
auch  Differenzen  persönUcher  Natur  vorgekommen  sind.  Denn  aus 
einzelnen  Briefstellen  Nietzsches,  worin  er  seiner  Ungewißheit  Aus- 
druck gibt,  ob  er  Wagner  durch  sein  Verhalten  Anlaß  zur  Un- 
zufriedenheit gegeben  habe,  daß  er  unter  Wagners  Mißtrauen 
seelisch  leide,  daß  er  seine  Besuche  immer  seltener  machte,  aus 
all  diesen  Umständen  könnte  man  mit  Recht  die  Folgerung  ziehen, 
daß  es  zwischen  beiden  Männern  ab  und  zu  auch  persönliche; 
Differenzen  gegeben  haben  muß. 

So  spielte  sich  im  Jahre  1874  in  Tribschen  eine  Episode  aby 
die  ein  klassisches  Beispiel  für  den  zwischen  Wagner  und  Nietzsche 
herrschenden  individuellen  Gegensatz  ist.  Im  Interesse  des  besseren 
Verständnisses  sei  vorausgeschickt,  daß  es  Nietzsche  als  ein  un- 
umgänglich notwendiges  Merkmal  geistiger  Größe  betrachtete,  das- 
Große  rückhaltslos  anzuerkennen,  gleichgültig,  in  welcher  Gestalt  es 
sich  zeige.  Das  erwartete  er  natürlich  auch  von  Wagner.  Nietzsche- 
also,  der  damals  noch  ein  großer  Verehrer  Schumanns  und  Brahms' 
war,  hatte  das  Brahmssche  Triumphlied,  das  er  gelegentlich  einer 
Konzertaufiführung  mit  größter  Freude  gehört  hatte,  Wagner  mit- 
gebracht und,  ohne  etwas  zu  sagen,  den  Klavierauszug  auf  dessen 
Klavierpult  gelegt.  „Ihr  Bruder,"  so  erzählte  Wagner  den  Vorfall 
Nietzsches  Schwester,  „legte  das  rote  Buch  auf  den  Flügel.  Immer, 
wenn  ich  in  den  Saal  hinunterkam,  starrte  mich  das  rote  Dings  an^ 
gerade  wie  den  Stier  das  rote  Tuch.  Ich  merkte  wohl,  Nietzsche 
wollte  mir  damit  sagen:  sieh  mal,  das  ist  auch  einer,  der  was  Gutes 
machen  kann  —  na,  und  eines  Abends    bin   ich  losgebrochen,    und 


—     87     — 

wie  losgebrochen.'*'  Warum  der  Meister  gar  so  losgebrochen  sei, 
berichtet  uns  „gewissenhaft"  Herr  Glasenapp:  Die  Dürftigkeit  des 
Brahmsschen  Triumphliedes,  von  dem  Wagner  gesagt  habe,  es  sei 
^Händel,  Mendelssohn  und  Schumann,  in  Leder  eingewickelt",  habe 
alle  Anwesenden  erschreckt!  Als  Frau  Förster  darauf  fragte:  „Was 
sagte  denn  mein  Bruder?",  antwortete  Wagner:  „Der  sagte  gar  nichts; 
der  errötete  und  sah  mich  erstaunt  und  mit  bescheidener  Würde 
an.  Ich  gäbe  gleich  hunderttausend  Mark,  wenn  ich  solch  ein 
schönes  Benehmen  wie  dieser  Nietzsche  hätte,  immer  vornehm, 
immer  würdig,  so  etwas  nutzt  einem  viel  in  der  Welt."  Der  Meister 
ärgerte  sich  jedoch  über  diese  melancholische  Würde  des  Jüngeren. 
Seiner  Schwester  gegenüber  bemerkte  Nietzsche:  „Lisbeth,  da  war 
Wagner  nicht  groß!"  In  seinen  Notizen  aus  jener  Zeit  finden  sich 
folgende  Aufzeichnungen,  die  sich  unzweideutig  auf  den  geschilderten 
Vorfall  beziehen:  „Der  Tyrann  läßt  keine  andere  Individualität  gelten 
als  die  seinige  und  die  seiner  Vertrauten.  Die  Gefahr  für  Wagner 
ist  groß,  wenn  er  Brahms  usw.  nicht  gelten  läßt  oder  die  Juden . . . 
Wagner  hat  nicht  die  Kraft,  die  Menschen  im  Umgange  frei  und 
groß  zu  machen :  Wagner  ist  nicht  sicher,  sondern  argwöhnisch  und 
anmaßend^)." 


1)  So  ließ  Wagner  auch  Bizet  nicht  gelten;  Nietzsche  schreibt  September 
1888  an  Peter  Gast:  „Gersdorff  ist  Zeuge  eines  rasenden  Wutausbruches 
Wagners  gegen  Bizöt  gewesen,  als  Minnie  Hanck"  (eine  Opernsängerin,  die 
in  den  70er  und  80er  Jahren  in  Deutschland  am  besten  die  Carmen  ver- 
körperte, die  einzige  Bühnenkünstlerin,  die  Nietzsche  je  gewürdigt  hat)  „in 
Neapel  war  und  Carmen  sang.  Auf  dieser  Grundlage,  daß  Wagner  auch  hier 
Partei  genommen  hat,  wird  meine  Bosheit  an  einer  gewissen  Hauptstelle" 
(sc.  des  „Falles  Wagner")  „noch  schärfer  empfunden  werden."  Daß  nun 
Nietzsche  gerade  „Carmen"  über  Wagners  Werke  stellte,  hat  seine  triftigen 
Gründe;  in  einem  Briefe  schreibt  er:  „Das,  was  ich  über  Biz6t  sage,  dürfen 
Sie  nicht  ernst  nehmen,  Bizet  kommt  für  mich  tausendmal  nicht  in  Betracht, 
aber  als  ironische  Antithese  gegen  Wagner  wirkt  es  sehr  stark!"  Auch 
Carl  Spitteler  erklärt,  Nietzsche  habe  ihm  gestanden,  die  Oper  „Carmen" 
nur  aus  Bosheit  so  unbändig  gelobt  zu  haben,  weil  er  damit  Wagner  grün  und 
gelb  zu  ärgern  hoffte  (cf.  Bernoulli,  1.  c.  II.,  p.  483).  Ausführlicheres  dar- 
über weiter  unten. 


IX.  NIETZSCHE  ALS  MUSIKER. 

Allgemein  bekannt  dürfte  es  sein,  daß  Nietzsche  sich  hie 
und  da  in  der  Komposition  kleinerer  Musikstücke  versuchte.  Diese 
Tatsache  hat  man  nun  in  ganz  gewissenloser  Art  und  Weise  gegen 
Nietzsche  bis  zum  Überdruß  ausgebeutet,  so  daß  es  am  Platze  ist. 
hier  vom  „Musiker"  Nietzsche  ausführhch  zu  sprechen^).  Nietzsche 
zeigte  schon  in  frühester  Jugend  ein  ganz  außerordentliches  Interesse 
für  Musik:  noch  als  Knabe  komponierte  er  bereits  kleinere  Musik- 
stücke. In  seiner  kindlichen  Selbstbiographie  schreibt  er,  daß  er 
„einen  unauslöschbaren  Haß  gegen  alle  moderne  Musik  und  alles,  was 
nicht  klassisch  war",  empfand.  „Mozart  und  Haydn,  Schubert  und 
Mendelssohn,  Beethoven  und  Bach,  das  sind  die  Säulen,  auf  die  sich 
deutsche  Musik  und  ich  gründen."  Als  eine  „recht  traurige  Er- 
scheinung" registriert  er  die  Tatsache,  „daß  viele  neuere  Kom- 
ponisten sich  bemühen,  dunkel  zu  schreiben.  Aber  gerade  solche 
künstliche  Perioden,  die  vielleicht  den  Kenner  entzücken,  lassen  das 
gesunde  Menschenohr  kalt".  Charakteristisch  ist  ein  Wunschzettel 
des  dreizehnjährigen  Knaben  zu  seinem  Geburtstage:  „Symphonie 
in  C-Dur  mit  der  Fuge  von  Mozart  in  Partitur.  Ouvertüre  zu 
Fingalshöhle  von  Mendelssohn  in  Partitur.  Ouvertüre  zu  Egmont  von 
Beethoven  in  Partitur.  Symphonie  in  Es-Dur  mit  dem  Paukenschlag 
von  Haydn  in  Partitur."  Dieser  Wunschzettel  zeugt  von  einem 
ebenso  reifen  wie  guten  Geschmack!  Von  seinem  Vater  hatte 
Nietzsche  die  wundervolle  Gabe  des  freien  Phantasierens  geerbt. 
Freiherr  von  Gersdorff  schreibt  in  seinen  Erinnerungen,  daß  ihm 
Nietzsches  Improvisationen  am  Klaviere  unvergeßlich  seien:  „Ich 
möchte  glauben,    selbst  Beethoven   habe  nicht   ergreifender  phanta- 


*)  Zu  diesem  Kapitel  cf.  die  feinsinnigen  Ausführungen  Karl  Heckeis, 
des  Sohnes  Emil  Heckeis,  in  seiner  ausgezeichneten  Nietzschebiographie 
(Leipzig,  Reclam),  p.  204—213,  die  erst  während  der  Drucklegung  dieses 
Buches  erschienen  ist. 


—     89     — 

sieren  können  als  Nietzsche,  namentlich  wenn  ein  Gewitter  am 
Himmel  stand."  Ebenso  erwähnt  der  kürzlich  verstorbene  Professor 
Deussen  Nietzsches  „wundervolles  Phantasieren"  am  Klaviere.  Und 
Peter  Gast,  selbst  ein  Musiker,  preist  sich  glücklich,  in  Basel 
Nietzsche  Klavier  spielen  gehört  zu  haben.  Ja  heute  noch  erzählt  man 
sich  in  Basel  ein  lustiges  Geschichtchen,  dessen  Hauptheld  der  am 
Klavier  phantasierende  Nietzsche  war,  der  dadurch  bis  zur  Vergessen- 
heit seiner  selbst  und  der  Umgebung  angeregt  wurde.  Auch  Wagner 
und  Cosima  haben  diese  Gabe  Nietzsches  rückhaltslos  anerkannt, 
und  von  ersterem  existiert  das  schöne  Scherzwort,  daß  Nietzsche 
für  einen  Philosophen  viel  zu  gut  phantasiert  habe.  So  berichtet 
auch  Malwida  unter  dem  20.  Jänner  1877:  „Gestern  gingen  wir 
nach  dem  Spaziergang  in  das  Hotel  Viktoria  (in  Sorrent),  wo  Wagner 
wohnte,  und  baten  um  die  Erlaubnis,  auf  dem  Piano  dort  zu  spielen, 
Nietzsche  phantasierte  uns  eine  Stunde  lang  wundervoll  vor.  Er 
spielte  wirklich  herrlich,  es  war  ein  lange  nicht  gehabtes  Labsal." 
Daß  auch  auf  Frau  Wagner  sein  Spiel  einen  bezaubernden  Eindruck 
machte,  wurde  bereits  erwähnt.  Daraus  erhellt,  daß  Nietzsche  ein 
durch  und  durch  musikalisch  veranlagter  Mensch  war.  Als  aber 
Nietzsche  in  Schulpforta  1860  mit  zwei  gleichgesinnten  Freunden 
die  „Germania"  gründete,  und  der  Verein  die  „Zeitschrift  für  Musik" 
hielt,  das  einzige  deutsche  Blatt,  das  sich  damals  für  Wagner  und 
seine  Kunst  einzusetzen  wagte,  trat  bei  ihm  ein  großer  Umschwung 
€in:  neben  der  klassischen  begann  er  nun  auf  einmal  die  moderne 
Musik  zu  schätzen;  und  den  Siedepunkt  seiner  Begeisterung  bildete 
das  Erscheinen  des  Klavierauszuges  zum  „Tristan",  den  er  später 
in  wahrhaft  entzückender  Weise  auf  dem  Klavier  zum  Ausdruck 
bringen  konnte. 

Wilhelm  Stekel,  der  bekannte  Wiener  Nervenarzt,  berichtet  in 
seinem  Aufsatze  „Nietzsche  und  Wagner",  daß  es  des  Philosophen 
unerfüllte  Sehnsucht  gewesen  sei,  ein  großer  Musiker  zu  werden. 
Freihch  sei  er  durch  „andere  Neigung  und  die  Pflicht  in  eine 
andere  Richtung  abgedrängt  worden,  habe  aber  dennoch  nie  die 
Hoffnung  aufgegeben,  ein  großer  Musiker  zu  werden".  Das  ist  in- 
soferne  richtig,  als  Nietzsche  in  seinem  „Lebenslaufe"  aus  dem  Jahre 
1865  schreibt:  „Hätte  es  nicht  an  einigen  äußeren  Zufälligkeiten 
gefehlt,  hätte  ich  es  gewagt,  Musiker  zu  werden.  Zur  Musik  näm- 
lich fühlte  ich  schon  seit  meinem  neunten  Jahre  den  allerstärksten 


—     90     — 

Zug."  Stekel  fährt  nun  fort,  daß  daher  Nietzsche,  der  doch  von 
seinen  musikaUschen  Fähigkeiten  überzeugt  war,  furchtbar  enttäuscht 
gewesen  sein  muß,  als  er  eine  selbst  komponierte  Ouvertüre  an 
Hans  von  Bülow,  der  über  die  Geburt  der  Tragödie  im  höchsten 
Grade  entzückt  war,  sandte,  dieser  jedoch  die  Komposition  ablehnte. 
Im  „Ecce  homo"  erzählt  Nietzsche :  „Ich  habe  eigens,  aus  Ingrimm 
gegen  den  süßhchen  Sachsen  Schumann,  eine  Gegenouverture  zum 
Manfred  komponiert,  von  der  Hans  von  Bülow  sagte,  dergleichen 
habe  er  nie  auf  Notenpapier  gesehen:  das  sei  Notzucht  an  der 
Euterpe!"  Hat  sich  nun  der  Philosoph  über  dieses  abfälHge  Urteil 
geärgert  oder  nicht?  Aus  der  zitierten  „Ecce  homo "-Stelle  spricht, 
unverkennbar  ein  leiser  Humor;  und  glauben  wir  den  Berichten  der 
Frau  Förster,  so  konnte  ihr  Bruder  in  „einer  so  kindlich  harmlosen 
Weise  über  ungünstige  Urteile"  über  seine  Kompositionen  „ lachen ^ 
daß  eine  solche  Kritik  immer  mit  der  allgemeinsten  Zufriedenheit 
und  Heiterkeit  endete."  Nachgetragen  hat  er  diese  freimütige  Offen- 
heit dem  großen  Musiker  nicht.  So  äußerte  sich  Nietzsche  Professor 
Riedel  gegenüber,  als  es  sich  darum  handelte,  einen  Preisrichter  für 
für  eine  vom  deutschen  Musikverein  ausgeschriebene  Schrift  über 
Wagners  Nibelungendichtung  zu  finden,  man  möge  Bülow  dafür  in 
Aussicht  nehmen,  „von  dessen  unbedingt  gültigem  Urteil,  von 
dessen  kritischer  Strenge  ich  die  allergünstigste  Meinung  und 
Erfahrung  habe.  Es  kommt  sehr  darauf  an,  daß  wir  einen  recht  klin- 
genden, ebenso  anspornenden  als  abschreckenden  Namen  finden  —  und 
das  ist  der  Name  Bülows."  Stekel  jedoch  scheint  es  tief  zu  bedauern, 
daß  Nietzsche  trotz  Bülows  Absage  das  Komponieren  nicht  auf- 
gegeben habe,  denn  er  stand  mit  ihm  auch  weiterhin  in  regem 
Briefwechsel  und  suchte  ihm  zu  beweisen,  daß  er  denn  doch  ein 
großer  Musiker  sei.  So  komponierte  Nietzsche  Lou  Andreas  Salomes 
Gedicht  „Hymnus  an  das  Leben",  eine  Tat,  auf  die  er  nicht  wenig  stolz 
gewesen  sei.  Darauf  ist  zu  entgegnen,  daß,  was  die  Nietzschesche 
„Manfred-Meditation"  betrifft,  es  feststeht,  daß  diese  Komposition  in 
Bayreuth  sehr  freundlich  aufgenommen,  aber  nicht  in  entscheidender 
Weise  beurteilt  worden  ist,  wiewohl  Nietzsche  an  einem  entschiedenen 
Urteile  sehr  viel  gelegen  war.  Leider  läßt  es  sich  heute  nicht  mehr 
feststellen,  ob  Nietzsche  durch  Wagner  und  dessen  Frau  an  Bülow 
verwiesen  wurde  oder  aus  eigener  Initiative  diesen  Schritt  tat.  Tat- 
sache ist,    daß  Bülow  bei  seiner  bekannten  rückhaltslosen  Offenheit 


-     91     — 

Nietzsches  Komposition  in  einem  Briefe  an  ihn  als  „das  Extremste 
an  phantastischer  Extravaganz"  bezeichnete,  „als  unerquicklich  und 
antimusikalisch;  als  ein  musikalisches  Fieberprodukt,  in  dem  zwar 
ein  ungewöhnlicher,  bei  aller  Verirrung  distinguierter 
Geist  zu  spüren  sei,  der  ihn  jedoch  mehr  an  ein  Lendemain  eines 
Bacchanals  als  an  dieses  selbst  denken  mache."  Nietzsche  erschrak 
darüber  sehr  und  beschloß,  das  Komponieren  aufzugeben;  „Sie  haben 
mir  sehr  geholfen,"  schrieb  er  an  Bülow,  „es  ist  ein  Geständnis, 
das  ich  immer  noch  mit  einigem  Schmerz  mache."  Und  in  der  Tat: 
diesem  Vorsatze  ist  er,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  treu 
geblieben.  Denn  als  das  Lied  mit  seiner  „heroischen  Musik"  in 
Leipzig  öffentlich  aufgeführt  wurde,  schrieb  Nietzsche  seiner 
Freundin:  „Inzwischen  hat  Prof.  Riedel  hier  (sc.  in  Tautenburg, 
Thüringen)  für  meine  heroische  Musik,  Ihr  Lebensgebet  Feuer  ge- 
fangen, und  es  ist  nicht  unmöglich,  daß  er  es  für  seinen  herrlichen 
Chor  zurecht  macht.  Das  wäre  so  ein  kleines  Weglein,  auf  dem  wir 
beide  zusammen  zur  Nachwelt  gelangten,  andere  Wege  vorbehalten." 
Hat  nun  Nietzsche  auch  von  Richard  Wagner,  von  dem  er 
wußte,  daß  er  seine  Klavierphantasien  schätzte,  eine  Begutachtung 
seiner  Kompositionen  erwartet?  Nach  Stekel  ja!  Denn  aus  erhaltenen 
Briefen  Wagners  lasse  sich  deutUch  entnehmen,  wie  der  Meister 
über  den  musikahschen  Philosophen  geurteilt  habe.  So  schrieb  Wagner 
aus  Tribschen  als  Antwort  auf  die  beiden  Vorträge  „Das  griechische 
Musikdrama"  und  „Sokrates  und  die  Tragödie",  die  ihm  Nietzsche 
als  Manuskript  gesandt  hatte,  denen  nach  Frau  Förster  ein  „herr- 
licher" Brief  beigegeben  war,  der  jedoch  „in  Wahnfried"  später 
„vernichtet  worden  sein  soll":  „Lieber  Freund!  Es  ist  doch  gut, 
wenn  man  sich  solche  Briefe  schreiben  kann!  Ich  habe  jetzt 
niemand,  [mit  dem  ich  es  so  ernst  nehmen  könnte  als  mit  Ihnen 
—  die  Einzige  ausgenommen ...  Sie  könnten  mir  nun  viel,  ja  ein 
ganzes  Halbteil  meiner  Bestimmung  abnehmen.  Und  dabei  gingen 
Sie  vielleicht  ganz  Ihrer  Bestimmung  nach.  Sehen  Sie,  wie 
elend  ich  mich  mit  der  Philologie  abgefunden  habe,  und 
wie  gut  es  dagegen  ist,  daß  Sie  sich  ungefähr  ebenso 
mit  der  Musik  abgefunden  haben.  Wären  Sie  Musiker 
geworden,  so  würden  Sie  ungefähr  das  sein,  was  ich  ge- 
worden wäre,  wenn  ich  mich  auf  die  Philologie  obsti- 
niert  hätte.    Nun  liegt  mir  aber  die  Philologie  —  als  bedeutungs- 


—     92     — 

volle  Anlage  —  immer  in  den  Gliedern,  ja  sie  dirigiert  mich  als 
Musiker.  Nun  bleiben  Sie  Philolog,  um  als  solcher  sich  von  der 
Musik  dirigieren  zu  lassen.  Was  ich  hier  sage,  ist  ernstlich  ge- 
meint... nun  zeigen  Sie  denn,  zu  was  die  Philologie  da  ist,  und 
helfen  Sie  mir,  die  große  ,Renaissance'  zustande  zu  bringen!"  In 
diesem  Briefe  Wagners  erblickt  nun  Stekel  eine  nichts  weniger  als 
deuthche  Absage  des  Meisters  auf  Nietzsches  Ersuchen  um  ein 
Urteil  über  seine  Kompositionen;  das  heißt  mit  anderen  Worten: 
sutor  ne  supra  crepidam!  Nietzsche  jedoch  habe  nun  auf  den 
Passus,  er  möge  sich  von  der  Musik  so  dirigieren  lassen  wie 
Wagner  sich  von  der  Philologie  dirigieren  lasse,  geantwortet:  „Wenn 
■es  wahr  ist,  was  Sie  einmal  —  zu  meinem  Stolze  —  geschrieben 
haben,  daß  die  Musik  mich  dirigiert,  so  sind  Sie  jedenfalls  der 
Dirigent  dieser  meiner  Musik;  und  Sie  haben  es  mir  selbst  gesagt, 
daß  auch  etwas  Mittelmäßiges,  gut  dirigiert,  einen  befriedigenden 
Eindruck  machen  könne.  In  diesem  Sinne  bringe  ich  den  seltensten 
aller  Wünsche:  es  mag  so  bleiben,  der  Augenblick  verharre,  er  ist 
so  schön!"  i.us  dieser  Briefstelle  folgert  nun  Stekel,  daß  Nietzsche 
•aus  Wagners  Brief  die  deutliche  Absage  an  sein  musikalisches 
Können  nicht  herausgelesen  habe,  daß  er  sich  vielmehr  gegen  jedes 
-Gefühl  der  Bitterkeit  gewehrt  habe  —  noch  dazu  nicht  ohne  Erfolg. 
Die  Rücksicht  auf  die  Wahrheit  erheischt  gebieterisch  ein 
:genaues  Eingehen  auf  diese  Argumentation  Stekels.  Lesen  wir 
Wagners  Brief  an  Nietzsche  in  dem  Umfange,  den  ihm  Stekel  in  wohl 
berechneter  Absicht  gibt  —  Stekel  zitiert  lediglich  nur  das,  was 
ich  in  gesperrtem  Drucke  zitiere!  —  und  nehmen  wir  mit 
Stekel  als  feststehende  Tatsache  an,  daß  der  Philosoph  den  Kom- 
ponisten um  ein  Urteil  über  seine  musikalischen  Leistungen  ersucht 
habe,  dann  hat  Stekel  seinen  Zweck  völlig  erreicht,  und  mit  ihm 
müssen  wir  Wagner  wie  Nietzsche  diese  ganz  unglaubliche  Erbärm- 
lichkeit eines  solchen  Vorgehens  zutrauen.  In  der  Tat  und  in  Wahrheit 
liegt  jedoch  die  Sache  so,  daß  Nietzsche  sich  zur  kritischen  Zeit  mit 
den  Vorstudien  zur  Geburt  der  Tragödie  beschäftigte,  als  deren 
erste  Ergebnisse  er  dem  Meister  die  genannten  beiden  Vorträge 
übersandte.  Daher  ist  nichts  bedauerlicher,  als  daß  der  Begleitbrief 
uns  heute  nicht  mehr  erhalten  ist.  Sicherlich  hätte  er  uns 
interessante  Aufschlüsse  über  Nietzsches  musikästhetische  Ansichten 
gehefert,  interessantere  Aufschlüsse  als  die  Stekels.  Wagners  Brief, 


—     93     — 

in  der  von  mir  zitierten  Form  gelesen  —  ich  habe  ledighch  das 
Unwesentlichste  gestrichen!  —  enthält  vielmehr  die  ganz  klar 
präzisierte  Aufforderung  an  Nietzsche,  der  Freund,  dessen  hohe  Be- 
deutung der  Meister  für  seine  Pläne  klar  erschaut  hatte,  möge  seine 
Philologie  dazu  benutzen,  um  von  ihr  aus  helles  Licht  auf 
Wagners  philosophisch-musikalische  Kunstwerke  fallen  zu  lassen. 
Die  Analyse  der  Geburt  der  Tragödie  wird  die  hier  aufgestellte  Be- 
hauptung vollinhalthch  bestätigen.  Wie  ich  bereits  erwähnt  habe, 
wurde  Nietzsche  von  Wagner  befreundeter  Seite  vielfach  ersucht, 
sich  im  Interesse  Wagners  literarisch  zu  betätigen,  durch  Heraus- 
gabe von  Aufrufen  etc.  etc.  Wie  jedoch  Nietzsche  über  solche  Art 
literarischer  Propaganda  dachte,  lehrt  uns  ein  Brief  an  Eohde  aus 
dem  Februar  1869:  „Die  Anhänger  der  Zukunftsmusik  wünschen, 
daß  ich  mich  literarisch  in  ihrem  Interesse  betätige:  ich  aber  für 
mein  Teil  habe  nicht  die  geringste  Lust,  wie  eine  Henne  gleich 
öffentiich  zu  gackern,  und  es  kommt  hinzu,  daß  meine  Herren 
Brüder  in  Wagnero  meistens  doch  gar  zu  dumm  sind  und  ekelhaft 
schreiben.  Das  macht,  sie  sind  im  Grunde  mit  jenem  Genius 
schlechterdings  nicht  verwandt  und  haben  keinen  Blick  für  die 
Tiefe,  sondern  nur  für  die  Oberfläche.  Daher  die  Schmach,  daß  die 
Schule  sich  einbildet,  der  Fortschritt  in  der  Musik  bestünde  gerade 
in  den  Dingen,  die  Wagners  höchst  eigenartige  Natur  wie 
Blasen  hier  und  da  aufwirft.  Für  das  Buch  ,Oper  und  Drama^  ist 
keiner  der  Kerle  reif."  Hätte  Stekel  diesen  und  in  ähnlichem  Stile 
gehaltene  Briefe  Nietzsches  gelesen  oder  nicht  absichtlich  ignoriert,  so 
hätte  auch  er  erkennen  müssen,  daß  das  Problem  Nietzsche— Wagner 
nicht  so  einfach  zu  lösen  ist,  wie  er  glauben  machen  will.  Goethe 
sagt  einmal:  „Wie  irgend  jemand  über  einen  gewissen  Fall  denke, 
wird  man  erst  nur  recht  einsehen,  wenn  man  weiß,  wie  er  über- 
haupt gesinnt  ist."  Kehrt  man  diesen  Satz  um,  so  daß  er  also 
lautet:  „Wie  jemand  überhaupt  gesinnt  sei,  wird  man  erst  nur 
recht  gewahr,  wenn  man  weiß,  wie  er  über  einen  gewissen  Fall 
denkt",  so  ist  damit  Stekels  Stellungnahme  zu  diesem  Problem 
präzisiert. 

Stekel  behauptet  nun  im  weiteren  Verlaufe  seiner  Ausführungen, 
daß  Nietzsche  trotz  Wagners  nicht  mißzuverstehender  Abmahnung 
lustig  weiter  drauf  loskomponiert  und,  wohl  durch  den  Eindruck 
des  Siegfriedidylls    des  Meisters    herausgefordert,    auch    eine   Idylle 


—     94     — 

geschaffen  habe:  „Die  verklärte  Erinnerung  an  das  Glücksgefühl 
meiner  Herbstferien.  *"  Dieses  "Werk  habe  er  dann  an  Wagner  ge- 
sandt in  der  stillen  Hoffnung  auf  ein  Wort  der  Anerkennung.  Doch 
diese  sei  ausgeblieben.  Dadurch  sei  nun  Nietzsche  offenbar  stark 
verstimmt  worden,  so  daß  er  mehrfache  von  Wagner  ergangene 
Einladungen  ablehnte,  bis  endlich  Wagner  sich  aufraffte  und  dem 
nach  musikalischen  Lorbeeren  hungernden  Freunde  einen  ausführ- 
lichen Brief  sandte,  in  dem  er  der  Komposition  zwar  Erwähnung 
tut,  „einer  Kritik  aber  mit  großer  Geschicklichkeit  ausweicht" : 
„Sie  sind  tief,  und  gewiß  ersehen  Sie  in  meinem  Verkehre  mit 
Ihnen  keine  Oberflächlichkeit.  Ich  verstehe  |Sie  auch  mit  dem  Sinne 
der  musikalischen  Komposition,  mit  welcher  Sie  uns  so  sinnig 
überraschten.  Nur  fällt  es  mir  schwer,  mein  Verständnis  Ihnen  mit- 
zuteilen. Und  daß  ich  diese  Schwierigkeit  empfinde,  beklemmt  mich 
eben."  Stekel  bemerkt  hiezu,  daß  man  fühle,  „wie  sich  Wagner 
um  ein  Urteil  winde.  Wer  feine  Ohren  habe,  könne  aus  einem 
anderen  Briefe  den  gleichen  vorsichtigen  Ton  heraushören".  Wagner 
teilte  Nietzsche  mit,  daß  gelegentlich  eines  Besuches  Franz  Liszts 
bei  ihm  demselben  Nietzsches  Komposition,  über  die  sich  einst 
Bülow  vernichtend  geäußert  habe,  vorgeführt  worden  sei:  „Das 
Urteil  Bülows  über  Sie  fand  er  nach  Kenntnisnahme  ihrer  Sylvester- 
klänge sehr  desperat:  ohne  daß  Sie  ihm  das  Stück  vorgetragen 
hatten  (was  bei  uns  entscheidend  war),  glaubte  er  sein  Urteil 
anders  und  günstiger  über  Ihre  ,Musik'  stellen  zu  müssen.  Also 
lassen  wir  das  B.sche  Intermezzo  jetzt  auf  sich  beruhen:  mir 
ist's,  als  ob  hier  zwei  Absonderlichkeiten  der  allerextremsten  Art 
aufeinander  gestoßen  seien.  Auch  dieses  sage  ich  Ihnen  nur  so  neben- 
bei :  denn  im  ganzen  und  in  der  Hauptsache  muß  jeder  durch  sich  und 
nicht  durch  andere  über  sich  ins  reine  kommen.  Was  sollte  aus  mir 
werden,  wenn  ich  auf  Herrn  Edmund  Hoefer^)  zu  viel  gäbe?"  Bülow 
hätte  demnach  vernichtend  geurteilt,  Liszt  etwas  günstiger. 

Zu  dieser  Argumentation  Stekels  muß  ich  bemerken,  daß  der 
von  ihm  zitierte  Brief  Wagners,  datiert  vom  10.  Jänner  1872,  sich 
tatsächlich  um  ein  ganz  anderes  Problem  dreht,  als  uns  Stekel  in 
seiner  psychoanalytischen  xoXvTCQayfioövvrj  zu  erweisen  sich  Mühe 
gibt:  am  2.  Jänner  dieses  Jahres  hatte  Nietzsche  ein  Exemplar  der 
soeben    erschienenen  „Geburt  der  Tragödie **  an  Wagner    übersandt. 

^)  Im  Original  „E.  H.".  Andere  lesen:  „Eduard  Hanslick". 


—     95     — 

Wagner   hatte    auf   das   hin  Nietzsche    zu  sich  eingeladen,  welcher 
Einladung   dieser  jedoch  nicht   nachkommen   konnte,    da    er  durch 
die  gemischte  Aufnahme,  die  sein  Werk  fand,  aufs  tiefste  erschüttert 
war.  Er  wurde  krank,  gönnte  sich  aber  gleichwohl  keine  Ruhe,  da  er 
an  den  Vorträgen  „Über  unsere  Bildungsanstalten"  arbeitete.  Wagner 
wußte  nicht,  was  er  davon  denken  sollte,    daß  Nietzsche,    nachdem 
er  ihm  seine  Bewunderung  so  stürmisch  ausdrückte,    sich  nicht  so- 
fort nach  Tribschen  aufmachte.   Mißtrauisch  wie  er  war,  argwöhnte 
er,  daß  Nietzsche  es  bereits  bereue,    diese  Schrift  geschrieben,    und 
besonders:  sie  veröffentlicht  zu  haben.     Ich    zitiere    aus  dem  Briefe 
jene  Stellen,    die  Stekel   unterschlug,    um    seine  Beweisführung  un- 
gehindert durchführen    zu  können:    „Daß  Sie  krank  sind,    hat  mich 
recht  übel  betroffen.     Sie  müssen  es    uns  verzeihen,    wenn  wir  den 
Peripetien  —  nicht  Ihrer  Entwicklungs-,    aber   sozusagen   der  Fest- 
stellungsphasen Ihres  Berufes,  soweit  diese  sich  auf  Ihr  inneres  Ge- 
mütsleben beziehen,    oft  mit  großer  Beklemmung  zusehen  . . .     Nun 
blicken   wir   auf  Sie,    und   —    es    bangte    uns.     Während   uns    die 
wunderhchsten  Mutmaßungen    überschlichen    und   wir   fast   zu    der 
Annahme  gelangten,  die  VeröffentUchung  Ihres  Buches,  ja  die  ganze 
Abfassung  desselben  könnte  Sie  —  wenigstens  für  eine  Zeitlang  — 
in  eine  fast  wie    reumütig  aussehende  Stimmung  versetzen,  melden 
Sie    uns,    nach   längerem  Schweigen,    Ihre  Erkrankung.     Und   diese 
Erkrankungen  haben  uns  schon    oft  erschreckt,    nicht  weil   Sie  uns 
ernsthche  Befürchtungen   für   Ihren   physischen,    sondern   für  Ihren 
Seelenzustand  erweckten.     Möchten    Sie    uns   bald  durch  ein  frohes 
Wort,    am  besten  durch  einen  —  wenn  auch  kurzen  —  Besuch  be- 
ruhigen können!     Freund!     Was  ich  sage,    ist  nicht  derart,   daß  es 
durch  eine  lachende  Versicherung  verscheucht    werden  könnte.     Sie 
sind  tief,    und    gewiß    ersehen  Sie   in  meinem  Verkehre    mit  Ihnen 
keine  Oberflächlichkeit.     Ich  verstehe  Sie    auch    mit  dem  Sinne  der 
musikalischen  Komposition,    mit   welcher  Sie    uns    so    sinnig   über- 
raschten.    Nun  fällt  es  mir  schwer,  mein  Verständnis  Ihnen  mitzu- 
teilen.    Und  daß  ich  diese  Schwierigkeit  empfinde,    beklemmt  mich 
eben.     Und   hinwiederum,    mein  Freund,    was   hätte    ich    Ihnen  zu 
sagen,  das  Sie  nicht  wüßten    und    aus  Ihrem  Innersten    sich  selbst 
sagen  könnten?    Sie  sehen  und  erkennen  ja  alles,  so  daß  mit  Ihren 
Augen   zu  sehen    und    zu    erkennen    für  mich    eben    eine  so  neue, 
ganz  ungeahnte  Lust  war.   Ich  verstehe  Sie  jetzt  auch  in  so  vielem 


—     96     — 

anderen,  was  Sie,  als  zu  Ihrem  Berufe  gehörig,  immer  wieder 
ernstlich  beschäftigt,  wie  Ihre  mir  gemachten  Andeutungen  in  be. 
treff  des  pädagogischen  Wesens.  Tief  und  weit  blicke  ich  mit 
Ihnen,  und  unabsehbar  weite  Gebiete  hoffnungsvollster  Tätigkeit  er- 
öffnen sich  vor  mir  —  vor  mir  —  mit  Ihnen  zur  Seite.  Aber  Sie 
sind  krank.  Sind  Sie  auch  mißmutig,  oh!  so  wünsche  ich  Ihren 
Mißmut  zerstreuen  zu  können.  Wie  soll  ich  das  anfangen?  Genügt 
Ihnen  mein  grenzenloses  Lob?  Dies  bezweifeln  zu  müssen,  betrübt 
mich  ebensosehr.  Dennoch  kann  ich  nicht  anders  als  es  Ihnen 
zu  spenden."  Frau  Förster  bemerkt,  daß  auf  dieses  warmherzige, 
aber  trotzdem  etwas  argwöhnische  Schreiben  Wagner  von  Nietzsche 
einen  „wahrhaft  ergreifenden"  Brief  erhalten  habe,  der,  wie  Wagner 
später  erzählte,  alle  seine  Beunruhigungen  zerstreute.  Dieser  Brief 
indes  läßt  erkennen,  wie  Wagner  nicht  „mit  großer  GeschickUchkeit 
einer  Kritik  ausweicht",  sondern  vielmehr  seine  ganze  Beredsamkeit 
aufbietet,  den  Freund,  den  er  abtrünnig  wähnt,  an  sich  zu  ketten. 
Meines  Erachtens  wäre  Wagner  in  diesem  Falle  ein  dankbareres 
Objekt  für  Sfcekels  psychoanalytische  Forschungen  gewesen! 

Nun,  das  sind  verächtliche  Klatschereien,  die  am  Wesen  und 
Niveau  Wagners  wie  Nietzsches  ohnmächtig  zerschellen.  Vielleicht 
gab  es  niemals  ein  Menschenleben,  dessen  Versuchungen,  Abenteuer, 
Leidenschaften  und  Gefahren  sich  so  ausschließhch  ins  Intellektuelle 
übersetzt  und  in  Erlebnissen  sublimer  Geistigkeit  erschöpft  haben, 
wie  es  bei  Nietzsche  der  Fall  war.  All  sein  Denken  wurde  in  der 
Tat  von  sehr  subjektiver  Leidenschaft  und  wild  bewegten  Gefühlen 
getragen,  aber  es  verlief  von  früh  an  unheimlich  unpersönlich. 
Goethes  Rat,  die  Sache  der  Menschheit  als  die  eigene  zu  betrachten, 
ward  an  ihm  unveräußerhche  Natur. 

Aus  Nietzsches  konsequenten  Kompositionsversuchen,  aus 
seinen  „wiederholt  an  den  Meister  gerichteten  Bitten",  ein  Urteil  über 
seine  musikalischen  Leistungen  abzugeben  (sie !),  folgert  Stekel,  daß 
Nietzsche  Wagner  um  sein  fruchtbares  musikahsches  Schaffen  be- 
neiden mußte,  daß  er  dabei  aber  zunächst  Goethes  Rat  befolgt 
habe:  vor  dem  Neide  rettet  man  sich  am  besten  durch  Liebe! 
Allerdings  findet  sich  nun  im  Zarathustra  die  Sentenz:  „Und  oft 
will  man  mit  der  Liebe  nur  den  Neid  überspringen."  Ob  jedoch 
Nietzsche  diese  Sentenz  unter  Goethes  Einfluß  und  im  Hinblick  auf  sein 
Verhältnis  zu  Wagner  geprägt  habe,  das  bleibe  dahingestellt.  Stekel, 


—     97     — 

der  diesen  Ausspruch  Zarathustras  nicht  zitiert,  dafür  aber  Nietzsche 
nach  der  Goetheschen  Maxime  handeln  läßt,  behauptet,  daß  der 
Philosoph  den  Musiker  so  lange  nicht  beneidete,  als  er  ihn  heben 
konnte.  Als  jedoch  seine  Liebe  zu  Wagner  gestorben  war  oder  als 
unbefriedigt  sich  zurückgezogen  hatte,  sei  jener  Neid  dann  —  zu- 
nächst allerdings  in  versteckter  Form  —  wieder  zum  Vorschein  ge- 
kommen, bis  schließlich  Wagner  wahrnehmen  mußte,  daß  ihm 
Nietzsche  Konkurrenz  machen  wollte!  Um  diese  Behauptung  zu 
beweisen,  beruft  sich  Stekel  auf  folgenden  Brief  Wagners:  „Unter 
anderem  fand  ich,  daß  ich  einen  solchen  männlichen  Umgang,  wie 
Sie  ihn  in  Basel  für  die  Abendstunden')  haben,  in  meinem  Leben 
nicht  hatte:  seid  Ihr  alle  Hypochonder,  dann  ist's  allerdings  nicht 
viel  wert.  Nur  scheinen  aber  den  jungen  Herren  Frauen  zu  fehlen; 
da  heißt  es  allerdings,  wie  mein  alter  Freund  Sulzer  einst  meinte: 
wo  hernehmen  und  nicht  stehlen?  Indes,  man  könnte  auch  einmal 
in  der  Not  stehlen.  Ich  meine,  Sie  müßten  heiraten  oder  eine  Oper 
komponieren;  eines  würde  Ihnen  so  gut  und  schlimm  wie  das 
andere  helfen.  Das  Heiraten  halte  ich  aber  für  besser. '^  Stekel 
glaubt  nun,  aus  dieser  „feinen  Ironie"  Wagners,  mit  der  er  seiner 
Verwunderung  Ausdruck  gibt,  daß  Nietzsche  immer  nur  Freunde 
und  nie  eine  Freundin  um  sich  habe,  ferner,  daß  er  Ehe  und  Oper 
in  einem  Atem  nennt,  schließen  zu  können,  der  Meister  habe  mit 
Sicherheit  erkannt,  warum  er  von  seinem  jüngeren  Freunde  be- 
neidet werde:    um  Cosima  und  um  sein  Werk! 

Es  ist  wirkhch  staunenswert,  welche  ganz  unglaublichen  Fol- 
gerungen Stekel  zog,  Folgerungen,  vor  denen  Wagner  wie  Nietzsche 
sicherlich  zu  Tode  erschrocken  wären,  weil  sie  selbst  bei  Lebzeiten 
ihres  innersten  Denkens  und  Fühlens  wohl  kaum  mit  dieser  Deut- 
lichkeit und  Selbstverständlichkeit  sich  bewußt  gewesen  wären,  mit 
der  der  moderne  Psychoanalytiker  dieses  innere  Fühlen  als  real 
zeichnet.  Möge  es  mir  gestattet  sein,  mich  der  unsterblichen  Worte 
des  wackeren  C.  M.  Wieland  zu  bedienen,  mit  denen  er  die  Manen 
des  Geschichtsschreibers  Sallust  gegen  die  Verdächtigungen  über- 
eifriger und  böswilliger  Kommentatoren  der  2.  Satyre  des  I.  Buches 


^)  Aus  dieser  Äußerung  Wagners  leitet  Stekel  später  Nietzsches  Homo- 
sexualität ab !  Ausführlicheres  dai'über  weiter  unten.  Ich  frage  nur:  wie  kann 
der  zum  Homosexuellen  gestempelte  Nietzsche  auf  einmal  heterosexuell 
empfinden  ? 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  7 


—     98     — 

des  Horatius  in  Schutz  nimmt:  „Die  Ehre  und  der  Nachruhm  eines 
vortreffhchen  Schriftstellers  ist,  meiner  Meinung  nach,  auch  alsdann, 
wenn  ihm  selbst  nichts  mehr  daran  gelegen  ist,  der  Menschheit 
keine  gleichgültige  Sache.  Sie  ist  sozusagen  eine  unverletzbare 
Hinterlage,  deren  Bewahrung  der  Redlichkeit  und  Sorgfalt  der  Nach- 
welt anvertraut  ist;  und  wenn  es  von  jeher  bei  allen  Völkern  für 
ein  Verbrechen  gegen  die  Humanität  angesehen  worden  ist,  die  Ge- 
beine eines  Verstorbenen  zu  mißhandeln  oder  seine  Asche  zu  be- 
unruhigen, wieviel  mehr  ist  es  unedel  und  grausam,  den  Nachruhm 
eines  Mannes,  dessen  Verdienste  um  die  Welt  noch  immer  fort- 
dauern, durch  Schändung  seines  sittlichen  Charakters,  den  er  selbst 
nicht  mehr  verteidigen  kann,  zu  besudeln?''  Kommentatoren  und 
Interpreten  dieses  Schlages  sollte  man  daran  erinnern,  daß  Goethe 
im  „Faust"  gesagt  hat: 

„Was  du  ererbt  von  deinen  Vätern  hast, 

erwirb   es,    um   es    zu   besitzen!", 
nicht  jedoch:    „verdirb   es!" 

Nun,  mit  diesem  von  Stekel  aus  einem  Briefe  Wagners  vom 
26.  Dezember  1874  ganz  willkürlich  herausgerissenem  und  noch 
willkürlicher  interpretiertem  Zitate  hat  es  in  Wahrheit  folgende 
Bewandtnis:  als  Nietzsche  zu  der  Erkenntnis  kam,  daß  das  Ideal 
Wagners  und  seine  Kunst  nicht  mehr  so  „weit"  über  sich  selbst 
erhaben  sei  und  er  selbst  es  nicht  mehr  als  das  Hauptziel  seines 
Lebens  empfand,  für  die  „Wagnerei"  ausschließlich  zu  wirken,  fing  er 
an,  sich  selbst  und  sein  bisheriges  Streben  als  zwecklos  zu  empfinden, 
als  ob  er  sich  bisher  in  einem  zu  engen  Kreise  von  Ansichten  bewegt 
und  ihm  der  Blick  und  das  Schaffen  ins  Weite  und  Große  gefehlt 
hätte.  Ein  Brief  an  Gersdorff,  aus  dieser  Zeit  der  schwersten  inneren 
Kämpfe  stammend,  läßt  uns  die  tiefe  Melancholie,  unter  der  Nietzsche 
litt,  getreulich  nachempfinden.  Auch  nach  Bayreuth  hat  Nietzsche 
solch  melancholische  Briefe  geschrieben.  Wagner  selbst  hätte  sich, 
wie  Cosima  schrieb,  am  liebsten  gleich  aufgemacht,  um  ihn  in 
rührender  Freundschaft  nach  Bayreuth  zu  holen.  Frau  Wagner 
glaubte  nämlich,  daß  diese  Stimmung  hauptsächlich  mit  der  Baseler 
Atmosphäre  zusammenhänge,  gegen  die  sie  selbst  eine  große  Ab- 
neigung empfand.  Indes  hatte  sich  auch  bei  Nietzsche  die  Arbeit 
als  die  edle  Panazee  bewährt:  während  er  schon  längst  alle 
drückende  Melanchohe    überwunden  hatte,    saßen  in  Bayreuth  Frau 


—     99     — 

Cosima,  Wagner  und  Gersdorff,  über  das  Schicksal  Nietzsches 
brütend;  zusammen  und  berieten,  wie  man  ihm  helfen  könne.  Frau 
Cosima  bestand  darauf,  er  müsse  Basel  verlassen.  Da  aber  keine 
andere  Universität  vor  ihnen  Gnade  fand,  kamen  alle  drei  zu  dem 
amüsanten  Schluß,  Nietzsche  müsse  eine  Frau  heiraten,  der  es  das 
größte  Glück  wäre,  ihm  das  Leben  ganz  nach  seinen  persönlichen 
Wünschen  zu  gestalten  und  mit  ihm  überall  dorthin  zu  gehen,  wo 
er  am  liebsten  sein  möchte.  Das  machte  niemandem  mehr  Spaß  als 
Nietzsche;  so  schrieb  er  an  Gersdorff:  „WirkUch  himmhsch  ist  der 
Gedanke,  Dich  und  die  Bayreuther  in  einer  Heiratsüberlegungs- 
kommission  zusammensitzend  zu  denken."  Ärgerlich  war  ihm  nur 
der  eine  Umstand,  daß  immer  von  einer  bedrückten  Stimmung  bei 
ihm  die  Rede  war,  die  er  doch  schon  längst  überwunden  hatte. 
Nun  scheint  aber  Nietzsche  anläßUch  Frau  Cosimas  Geburtstag 
wiederum  einen  recht  melancholischen  Brief  nach  Bayreuth  ge- 
schrieben zu  haben,  den  Wagner  sofort,  und  zwar  etwas  ärgerlich 
beantwortete  und  in  dem  er  alles  berührte,  was  in  diesem  letzten 
Jahre  zu  Bedenken  oder  zum  Mißtrauen  Anlaß  gegeben  hatte. 
Daher  heißt  es  ganz  folgerichtig  nach  der  von  Stekel  zitierten 
Stelle:  „einstweilen  könnte  ich  Ihnen  ein  Palhativ  empfehlen: 
aber  Sie  richten  immer  Ihre  Apotheke  im  voraus  so  ein,  daß  man 
sein  Mittel  nicht  anbringen  kann.  Zum  Beispiel  wir  hier  richten 
unser  Haus  usw.  so  ein,  daß  wir  gerade  auch  für  Sie  ein  Unter- 
kommen darin  bereiten,  wie  mir  in  meinen  höchsten  Lebensnöten 
nie  es  angeboten  worden  ist ;  da  sollten  Sie  nun  die  vollen  Sommer- 
ferien mit  uns  verbringen.  Aber  —  höchst  vorsichtig  melden  Sie 
uns  bereits  im  Anfange  des  Winters,  daß  Sie  beschlossen  haben, 
die  Sommerferien  auf  einem  recht  hohen  und  einsamen  Schweizer- 
berge zu  verbringen !  Klingt  das  nicht  wie  sorgfältige  Abwehr  einer 
etwaigen  Einladung  unsererseits?  Wir  könnten  ihnen  etwas  sein: 
warum  verschmähen  Sie  das  angelegentlichst?  —  Gersdorff  und 
das  ganze  Basilikum  könnten  sich  die  Zeit  hier  gefallen  lassen  .  .  . 
aber  man  kennt  das  und  anderes  Sonderbare  an  Freund  Nietzsche ! 
Auch  will  ich  gar  nicht  mehr  von  Ihnen  reden,  denn  es  hilft  doch 
nichts!  Ach  Gott!  heiraten  Sie  eine  reiche  Frau!  Warum  muß  nur 
Gersdorff  gerade  eine  Mannsperson  sein!  Dann  reisen  Sie  und  be- 
reichern sich  an  all  den  herrlichen  Erfahrungen,  welche  Hillebrand 
so  vielseitig   und  (in  Ihren  Augen)  beneidenswert   machen   und   — 


—     100     — 

komponieren  Ihre  Oper,  die  aber  gewiß  schändlich  schwer  auf- 
zuführen werden  wird.  —  Welcher  Satan  hat  Sie  nur  zum 
Pädagogen  gemacht!  Sie  sehen,  wie  radikal  mich  wieder  Ihre  Mit- 
teilungen gestimmt  haben;  aber  —  weiß  Gott!  —  ich  kann  so 
etwas  nicht  mitansehen!  Ich  bade  jetzt  täglich.  Baden  Sie  auch! 
Essen  Sie  auch  Fleisch!"  Ich  glaube:  wenn  Wagner  selbst  wirklich 
in  demselben  Grade  wie  Stekel  davon  überzeugt  gewesen  wäre,  daß 
Nietzsche  ihn  um  sein  Weib  beneide,  hätte  er  ihm  wohl  kaum 
solch  ein  erlesenes  „Unterkommen"  in  seinem,  eigenen  Hause 
bereitet! 

Da  ich  auf  eine  eingehende  Erörterung  der  Stellungnahme 
Stekels  zum  Problem  Wagner— Nietzsche  später  ausführlicher  zurück- 
kommen werde,  sei  hier  nur  folgendes  festgestellt:  der  Wagner,  der 
vor  Nietzsche  als  seinem  Konkurrenten  etwa  Furcht  gehabt  haben 
sollte,  dürfte  wahrlich  nicht  jener  Wagner  gewesen  sein,  der  einer 
der  selbstbewußtesten  Menschen  war,  welche  die  deutsche  Musik- 
geschichte kennt^).  Eine  solche  kleinUche  Erbärmlichkeit  ihm  zu- 
trauen, heißü  nichts  anderes  als  Wagner  zu  einem  ganz  un- 
bedeutenden Stümper  herabdrücken,  der  mit  bebender  Angst  jede 
Konkurrenz  gefürchtet  hätte.  Gewiß,  kein  Mensch  wird  es  je  be- 
streiten wollen,  daß  Nietzsche  ein  äußerst  musikalischer  Mensch  war. 
Aber  diese  Tatsache  allein  genügt  doch  noch  nicht,  um  den  Schwer- 
punkt seines  geistigen  Schaffens  dorthin  zu  verlegen,  wo  er  nach 
der  ganzen  geistigen  Eigenart  des  Denkers  niemals  hat  liegen 
können.  Denn,  wäre  dem  so,  so  hätte  sich  Stekel  als  Psychologe  — 
und  das  will  er  ja  sein!  —  sofort  sagen  müssen,  daß  mit  der  von 
ihm  aufgestellten  Forderung  folgende  Tatsache  unvereinbar  ist: 
wären  Neid  und  Eifersucht  für  Nietzsche  wirklich  die  Motive  seiner 
Trennung  von  Wagner  gewesen,  so  würde  er  über  diese  Trennung 
sicherlich  nicht  jenen  tiefen  Schmerz  empfunden  haben,  unter  dem 
er  tatsächUch  gelitten  hat,  würde  Nietzsche  trotz  seiner  grimmigen 
Ausfälle  gegen  Wagner  von  diesem  nicht  so  manchen  Ausspruch 
geprägt  haben,  durch  den  Wagners  Bedeutung  als  Künstler  rück- 
haltslos anerkannt  wird.  All  das  müßte  uns  dann  völlig  unver- 
ständlich erscheinen.  Nietzsches  Vorstoß  gegen  Wagner  nach  dem 
Jahre  1888  ist  nur  als  Operation  am  eigenen  Fleische    verständlich : 

1)  Cf.  eine  darauf  Bezug  nehmende  Äußerung  Bismarcks,  zitiert  in 
meinem  Buche  „Tristan  und  Isolde",  p.  259. 


—     101     — 

er  hoffte  durch  ätzende  Kritik  und  VerächtUchmachung  dessen,  was 
er  einst  angebetet  hatte,  die  Wunde,  die  in  ihm  zurückgebheben  war, 
auszubrennen.  Und  was  endhch  Stekels  Behauptung,  Nietzsche  habe 
den  Meister  um  sein  Weib  beneidet,  betrifft,  sei  vorderhand  nur  so 
viel  gesagt:  was  sagt  Stekel  zur  Mitteilung  Malwidas  von  Meysen- 
bug,  daß  es  Wagner  sehr  bedauert  habe,  daß  Nietzsche  bei  der  am 
25.  August  1870  stattfindenden'  kirchlichen  Trauung  Wagners  mit 
Cosima  von  Bülow  nicht  als  Trauzeuge  beiwohnen  konnte,  daß  der 
Meister  sich  äußerte:  „Niemand  würde  sich  so  sehr  darüber  freuen 
als  gerade  er?"  Wir  müssen  wiederholen,  daß  zu  jener  Zeit  Nietzsche 
ein  häufiger  und  stets  gerne  gesehener  Gast  in  Tribschen  war, 
daß  er  auch  damals  bei  Wagner  weilte,  als  dessen  Sohn  Siegfried 
geboren  wurde!  Kann  so  ein  Mann  sprechen,  der  angebhch  weiß, 
daß  der  Gastfreund  ihm  sein  Weib  neidet?  Nun  ist  es  freilich  Tat- 
sache, daß  Nietzsche  unter  den  illegalen  häuslichen  Verhältnissen 
des  Meisters  „schrecklich  gelitten"  hat,  was  Wagner  keineswegs 
unbekannt  war,  aber  ebenso  ist  es  Tatsache,  daß  Nietzsche  trotz 
Wagners  illegaler  Beziehungen  zu  Cosima  nur  deswegen  mit  ihm 
verkehrte,  weil  er  „ihn  und  Cosima  für  etwas  Außerordenthches 
hielt,  w^eit  über  alle  anderen  Menschen  erhaben  und  deshalb  auch 
erhaben  über  alle  bürgerlich  geordneten  Verhältnisse". 

Es  wäre  jedoch  geradezu  töricht,  behaupten  zu  wollen,  Nietzsche 
habe  etwa  nur  deshalb  komponiert,  imi  zu  komponieren,  das  heißt 
er  hätte  seinen  Kompositionen  keinen  Wert  beigemessen.  Auf  keine 
seiner  Kompositionen  war  Nietzsche  mehr  stolz  wie  auf  den 
, Hymnus  an  das  Leben".  So  schrieb  er  an  Peter  Gast:  „Gestern 
überfiel  mich  der  Dämon  Musik,  mein  gegenwärtiger  Zustand  in 
media  vita  will  auch  noch  in  Tönen  sich  aussprechen:  ich  werde 
nicht  loskommen  . . .  diesmal  kommt  „Musik"  zu  Ihnen.  Ich  möchte 
gern  ein  Lied  gemacht  haben,  welches  auch  öffentlich  vorgetragen 
werden  könnte  —  um  die  Menschen  zu  meiner  Philosophie  zu  ver- 
führen." Nun  war  dies  jene  Zeit,  da  der  Zarathustra  entstand, 
eine  Zeit,  in  der  Nietzsche  „mehr  als  je  Musiker  sein  möchte". 
Wenn  wir  nun  diese  ungeheure  Produktionslust  Nietzsches  am 
Zarathustra,  diesen  Höhepunkt  seines  geistigen  Schaffens,  diese 
Arbeit  an  der  Quintessenz  der  Nietzscheschen  Philosophie  mit  Stekel 
einzig  und  allein  darauf  zurückführen,  daß  Nietzsche  sich  durch  die 
Schaffung    der    Zarathustragestalt    für    den     versunkenen    Freund 


—     102     — 

Wagner  habe  Ersatz  schaffen  wollen,  dann  liegt  allerdings  der 
Schluß  sehr  nahe,  Nietzsche  habe  durch  seine  Musik  die  des  Meisters 
übertrumpfen  wollen.  Denn  auch  vom  Zarathustra  gilt  es,  was 
Cosima  Wagner  einst  über  den  Vortrag  „Sokrates  und  die  Tragödie ** 
schrieb,  daß  er  zeigt,  „wie  tief  musikalisch  Nietzsche  sei  und  welch 
großen  musikalischen  Instinkt  er  besitze".  In  diesem  Sinne  konnte 
daher  Nietzsche  im  „Ecce  homo"  schreiben:  „Man  darf  vielleicht 
den  ganzen  Zarathustra  unter  die  Musik  rechnen;  sicherlich  war 
eine  Wiedergeburt  in  der  Kunst  zu  hören  eine  Vorbedingung 
dazu."  Gerade  für  Nietzsche  ist  es  charakteristisch,  „daß  die  Musik 
seinen  Geist  frei  gemacht,  seinem  Gedanken  Flügel  gegeben 
hat,  daß  er  um  so  mehr  Philosoph  ward,  je  mehr  er  Musiker  ward !  ** 
Aus  diesen  Worten  Nietzsches  erhellt  wohl  mit  unzweifelhafter 
Deutlichkeit,  daß  die  Musik  den  Kernpunkt  seines  Wesens  bildete, 
daß  aber  dieser  musikahsche  Trieb  sicji  „zufällig  nicht  mit  Noten, 
sondern  mit  Worten  niederschreiben  ließ".  Um  so  bedauerlicher  ist 
es  daher,  wenn  Unverstand  und  Mißgunst  sich  bemühen,  den 
Denker,  der  uns  die  dionysischeste  Philosophie  schenkte,  zum  Spiel- 
ball törichtester  und  kleinlichster  menschhcher  Leidenschaften  zu 
machen.  Und  dieses  dionysischeste  Element  m  Nietzsches  Wesen  ist 
Herrn  Stekel  wohl  bis  heute  noch  ein  Buch,  mit  sieben  Siegeln 
verschlossen.  Es  ist  aber  unerläßlich,  an  anderer  Stelle  darzulegen, 
daß  eben  dieses  Dionysische  das  höchste  Glück  und  die  furchtbarste 
Tragik  des  Menschen  wie  des  Denkers  Nietzsche  bildete,  der  einst 
seiner  Schwester  schrieb:  „Wenn  ich  minutenlang  denken  darf,  was 
ich  will,  da  suche  ich  Worte  zu  einer  Melodie,  die  ich  habe,  und 
eine  Melodie  zu  Worten,  die  ich  habe;  und  beides  zusammen,  was 
ich  habe,  stimmt  nicht,  ob  es  gleich  aus  einer  Seele  kam.  Aber 
das  ist  mein  Los."  Dieser  Überdrang  musikahschen  Lebensgefühles 
mußte  sich  entladen,  wenn  sein  Träger  nicht  zerbrechen  sollte.  Und 
falls  der  „nicht  zustande  gekommene  Komponist",  wie  ihn  Gustav 
Mahler  nannte,  den  „Gesamtklang  der  Welt"  nicht  in  Noten  heraus- 
stellen konnte,  so  mochte  er  „einen  philologischen  Stoff  musikahsch 
behandeln",  so  mochte  er  „stammeln  wie  ein  Säugling  und  Bilder 
häufen".  So,  nur  so  entstand  die  Geburt  der  Tragödie.  Interessant 
ist  das  Urteil,  das  Gustav  Mahler,  also  ein  Berufener  „in  rebus 
musicis",  über  Nietzsches  Kompositionen  gefällt  hat:  „Aus  dem 
Zarathustra  haben  Strauß    und  ich  die  ,latente  Musik'  herausgefühlt. 


—     103     — 

Nicht  mit  Unrecht  haben  Sie  Nietzsche  einen  ^nicht  zustande  ge- 
kommenen Komponisten'  genannt.  Denn  der  war  er  in  der  Tat! 
Sein  Zarathustra  ist  ganz  aus  dem  Geiste  der  Musik  geboren,  ja 
geradezu  ,symphonisch'  aufgebaut.  Übrigens  war  Nietzsches 
kompositorische  Begabung  eine  viel  größere  als  allgemein  an- 
genommen wird.  Bülow  hat  ihm  bitteres  Unrecht  getan,  als  er  in 
der  ihm  eigenen  Art  seine  kompositorischen  Versuche  eine  ,Not- 
zucht  an  Euterpe'  genannt  hat.  Die  mir  von  Ihnen  gezeigten  Kompo- 
sitionen Nietzsches  haben  mich  vom  Gegenteil  überzeugt.  Wohl  sind 
sie  dilettantisch.  Wer  aber  Nietzsche  kennt,  muß  finden,  daß  auch 
sie  Geist  von  seinem  Geiste  sind."  (Mitgeteilt  von  Bernard  Scharlitt: 
„Anbruch«,  Jhg.  1920;  p.  310.) 

Verführt  durch  die  schamlosen  Machinationen  übereifriger 
Wagnerapostel  der  schlimmsten  Sorte  hat  man  die  absurde  Be- 
hauptung aufgestellt,  daß  Nietzsche  in  seinen  die  Kunst  betreffenden 
reformatorischen  Hauptgedanken  von  Wagner  beeinflußt  worden  sei. 
Mit  anderen  Worten :  Nietzsche  habe  sich  Gedanken  des  Meisters 
angeeignet  und  als  die  seinen  vertreten.  So  sei  Nietzsches  Formu- 
lierung der  apollinischen  und  dionysischen  Kunsttheorie  Wagners 
Werk  „Über  die  Bestimmung  der  Oper*  entnommen.  Hier  ist  aber 
das  gerade  Gegenteil  wahr:  bei  Abfassung  dieser  seiner  Programm- 
schrift schöpfte  Wagner  die  Grundgedanken  von  dem  Kompromiß 
zwischen  apollinischer  und  dionysischer  Kunst  in  der  Tragödie  aus 
einem  Vortrag  Nietzsches  „Über  die  dionysische  Weltanschauung", 
den  ihm  der  Philosoph  einmal  vorgelesen  hatte.  Daher  konnte 
Rohde  am  28.  Mai  1871  seinem  Freunde  schreiben:  „Wagners  Auf- 
satz ,Über  die  Bestimmung  der  Oper'  habe  ich  mit  Aufmerksamkeit 
gelesen.  Oft  meinte  ich  Dich,  Hebster  Freund,  soufflieren  zu  hören, 
da,  wo  vom  griechischen  Drama  die  Rede  ist."  Also  diese  angeb- 
lichen geistigen  Diebstähle  Nietzsches  an  Wagner  und  dessen  Zorn 
darüber  bedürfen  keiner  weiteren  Aufklärung  mehr.  Wahr  ist  viel- 
mehr, daß  Nietzsche  bei  der  Anwendung  dieser  Nomenklaturen  sich 
sehr  stark  an  seinen  Lehrer  Friedrich  Ritschi  anlehnt;  denn  dieser 
unterscheidet  bereits  zwischen  „besänftigend  erhebender  Kitharistik 
und  enthusiastisch  erregender  Aulodik",  ja  sogar  zwischen  „apolli- 
nischen Kitharistik  und  dionysischer  Auletik".  (Cf.  „opusc.  phil."  V, 
p.  160;  „Vorlesung  über  Geschichte  der  griechischen  Poesie" 
Ribbeck  I,  p.  303.) 


X.  RÜCKBLICK. 

Das  wären  so  ziemlich  die  wichtigsten  authentischen  Daten, 
aus  denen  wir  nun  zusammenfassend  die  Genesis  und  das  Ende 
dieser  Freundschaft  zweier  Genies  erklären  müssen.  Es  ist  klar, 
daß  viele  Dokumente,  speziell  Briefe,  die  uns  wichtige  Aufschlüsse 
über  die  verschiedenen  Phasen  dieser  Freundschaftstragödie  geben 
könnten,  der  Forschung  teils  fehlen,  weil  sie  schon  früher  ver- 
nichtet wurden,  teils  aber  noch  immer  unzugänglich  sind,  angeblich 
deshalb,  weil  sich  ihr  zu  intimer  Inhalt  der  Veröffentlichung  ent- 
ziehe. So  beklagt  sich  Frau  Förster  in  der  Vorrede  ihres  Buches 
„Wagner  und  Nietzsche  zur  Zeit  der  Freundschaft",  daß  das  Haus 
Wahnfried  ihr  viele  Briefe  Wagners  und  Nietzsches  nicht  zur  Ver- 
fügung gestellt  oder  dieselben  bereits  im  Jahre  1909  „aus  ihr  ganz 
unerklärlichen  Gründen"  vernichtet  habe.  „Sie  waren  sämtlich  voll 
zartester  Rücksicht  und  Verehrung  für  Wagner  und  Frau  Cosima, 
und  da  ich  mehrere  davon,  ehe  sie  abgesandt  wurden,  gelesen  habe, 
so  darf  ich  wohl  sagen,  es  waren  Kulturdokumente  ersten  Ranges 
darunter.  Aber  gerade  diese  sollen  vernichtet  sein  und  nur  wenige 
Briefe,  in  welchen  sich  mein  Bruder  in  seiner  rührendsten  Be- 
scheidenheit und  Höflichkeit  zeigt,  sind  mir  ausgehefert  worden." 
Dr.  Fritz  Kögel  erzählt,  daß  Frau  Cosima  ihm  gegenüber  versichert 
habe,  Nietzsches  Briefe  an  Wagner  seien  „vielleicht  (eile  cherchait 
le  mot)  bei  einem  Umzüge  verloren  gegangen ! "  Sonderbarer  Zufall ! 
In  der  Tat  ist  über  das  Verhältnis  Nietzsches  zu  Wagner  seit  dem 
Jahre  1878  von  Bayreuth  aus  tiefstes  Schweigen  gebreitet  worden. 
Die  Mitteilungen  aus  dem  Nietzschekreise  selbst  sind  wieder  zu 
ungenügend,  um  psychologische  Schlüsse  über  diese  Dinge  zu 
gestatten.  Aber  trotzdem  ist  von  vielen  Seiten,  von  Berufenen  wie 
von  Unberufenen,  der  Versuch  unternommen  worden,  dieses 
Freundschaftsverhältnis  zum  Gegenstande  langatmiger  Darstellungen 
zu  machen.    An  all  diesen  Versuchen    läge  an    und  für  sich  nichts 


—     105     — 

Tadelnswertes,  wenn  nicht  die  Verfasser  dieser  Darstellungen 
Immer  eine  bestimmte  Tendenz  vertreten  wollten:  beiden  Teilen 
läßt  keiner  Gerechtigkeit  widerfahren,  sondern  jedes  solche  Buch 
dient  Parteizwecken,  je  nachdem  sein  Verfasser  ein  Anhänger  und 
Verehrer  Wagners  oder  Nietzsches  ist.  Darüber  vergaß  man  natürlich, 
die  Wahrheit  zu  ergründen.  Die  Quelle  aller  Forschung  soll  aber 
nicht  der  Haß,  sondern  die  Liebe  sein;  denn  nur  sie  führt  uns  tat- 
sächhch  zur  Wahrheit.  Ist  er  ein  eingefleischter  Wagnerianer,  der 
nur  in  verba  magistri  sui  geschworen  hat,  so  kommt  Nietzsche 
natürlich  sehr  schlecht  weg.  Das  sind  jene  Literaten,  die  bereits  als 
grüne  Jungen  sich  einbildeten,  mit  dem  dritten  Nietzsche  längst 
schon  fertig  zu  sein,  die  Nietzscheüberwinder  par  excellence,  oder 
gar  jene  Sorte  von  Kulturheilkundigen,  die  uns  zunächst  ein  ent- 
setzliches Schreck-  und  Zerrbild  des  Philosophen  an  die  Wand  malen 
und  sich  nachher  um  die  Wette  bemühen,  es  mit  Knütteln  tot  zu 
schlagen.  Zuerst  wird  Nietzsche  mit  allem  möglichen  geistigen 
Unflat  beladen,  um  zum  Schlüsse  geprügelt  zu  werden,  oder  es  geht 
glimpflicher  ab:  man  weist  ihm  früh  beginnende  Verrücktheit  nach 
und  enthebt  sich  so  billig  der  Mühe,  ein  Verständnis  seiner  Werke 
überhaupt  nur  anzubahnen,  und  findet  es  staunenswert,  daß  es  ein 
Genie  wie  Wagner  so  lange  an  der  Seite  dieses  Narren^),  der  sich 
für  einen  erstklassigen  Komponisten  und  Dichter  hielt,  ausgehalten 
habe.  Hoffentlich  wird  ihnen  bei  ihrer  Gottähnlichkeit  nie  bange! 
Die  blinden  und  einseitigen  Nietzscheverehrer  dagegen,  diese  „Affen 
seines  Ideals",  erblicken  in  Wagner  nur  das  Prototyp  des  Dekadenten, 
den  klassischen  Vertreter  der  deutschen  Hochdekadenz,  den  sie  aber 
trotz  der  Nietzscheschen  Rezepte  doch  nicht  so  schnell  und  gründ- 
lich überwinden  können,  als  es  ihnen  vielleicht  angenehm  wäre. 
Sie  sind  es,  die  es  am  lautesten  beklagen,  daß  uns  der  Denker 
Nietzsche  kein  einheitliches  System  seiner  Gedanken  hinterlassen 
hat.  Das  ist  allerdings  Tatsache.  Und  niemandem  gleicht  in  dieser 
Beziehung  Nietzsche  mehr  als  dem  Dichterphilosophen  Piaton,  mit 
dem  er  mehr  Berührungspunkte  hat,  als  jene  Sorte  von  Nietzscheanern 


^)  So  scheut  sich  Hieronymus  Lorm  (.,üer  grundlose  Optimismus") 
nicht,  Nietzsche  „eine  vorübergehende  Erscheinung  im  Fastnachtsspuk 
menschlicher  Verirrungen"  zu  nennen  und  meint,  „die  Intelligenz  sinke 
in  manchen  Epochen  so  tief,  daß  sie  Kränze  des  Ruhmes  auch  dem  Hans- 
wurst flicht." 


—     106     — 

auch  nur  ahnt.  Gewiß,  ein  Lehrer  des  Piatonismus  ist  Nietzsche 
nicht.  Piaton  ist  ihm  viel  zu  nahe,  als  daß  er  betrachtend  und 
gerecht  über  ihn  lehren  kann:  er  ringt  mit  seinem  Schatten  sein 
lebelang.  Aber  auch  bei  den  heftigsten  Angriffen  —  oder  gerade 
bei  ihnen  —  soll  man  sich  erinnern,  daß'  er  mit  Stolz  so  offen 
über  Piaton  seine  Meinung  sagt,  denn  er  fühlt  nach  seinen  eigenen 
Worten  Piatons  Blut  in  seinen  Adern  rollen.  Jedenfalls  teilt  er  mit 
Piaton  die  Mystik  als  dichterische  Inspiration  und  als  eine  über 
dem  Denken  stehende  Erleuchtung  des  Geistes.  Beide  Denker 
werden  die  eigene  und  die  menschliche  Unzulänglichkeit  zur  Ge- 
nüge gekannt  haben,  als  daß  sie  bei  einem  System  oder  einem 
resignierten  „ignorabimus!"  Beruhigung  gefunden  hätten.  Damit  ist 
aber  noch  immer  nicht  bewiesen,  daß  Nietzsche,  was  noch  heute 
Glaubensartikel  der  Philosophiegeschichte  ist,  ein  launischer,  schnell 
begeisterter,  schnell  vergessender  Denker  gewesen  sei,  der  alle  Jahre 
hinter  einem  anderen  Ideale  herlief,  „wie  launische  Fürstentöchter 
jedes  Jahr  mit  einem  neuen  Geliebten  durchgehen."  So  hören  wir 
bei  Falckenberg,  Windelband,  Überweg.  Solche  tendenziös  gefärbte 
Behauptungen  sind  geradezu  lächerlich!  Nietzsche  war  gewiß  kein 
Systematiker  im  gewöhnlichsten  Sinne  des  Wortes,  ein  —  Fr.  Jodl 
hat  einst  dafür  das  sehr  gute  Wort  geprägt  —  philosophischer 
Käfersammler,  der  gewissenhaft  rubriziert  und  klassifiziert  und 
katalogisiert  und  dann  prompt  jedes  Jahr  aus  99  Büchern  ein 
hundertstes  Buch  braut,  sondern  er  war  ein  durch  und  durch 
systematischer  Denker,  der  es  sich  niemals  leicht  gemacht  hat,  der 
im  Verfolgen  eines  Gedankens  unendlich  zähe  und  so  logisch 
fanatisch  ist  wie  etwa  Hobbes,  der  von  Launen  und  Wünschen 
mindestens  so  unabhängig  bleibt  wie  Spinoza  oder  Kant  und  in 
dessen  geistiger  Entwicklung  ein  systematischer,  kontinuierlicher 
Zusammenhang  unschwer  zu  erkennen  ist.  Beide  Denker  haben  dort, 
wo  dem  menschhchen  Erkennen  eine  Grenze  gezogen  ist,  die  Poesie 
zu  Hilfe  gerufen,  weil  sie  wußten,  daß  wir  das  Höchste  nur  im 
„göttlichen  Wahnsinne",  nicht  mit  dem  Verstände,  sondern  durch 
inneres  Erleben,  intuitiv  erfassen.  Denn  der  Urgrund  von  Sein  und 
Leben  liegt  jenseits,  jenseits  von  allem,  was  die  menschliche  Ver- 
nunft erreichen  kann.  Und  doch  gelangen  wir  hinüber:  ahnend, 
glaubend,  schauend.  Und  erst  dann  haben  wir  Frieden.  Auch 
Nietzsche  hatte  diesen  Frieden,  und  vielleicht  nie  in  höherem  Grade 


—     107     — 

als  zu  jener  Zeit,  da  er  seine  berühmten  Zetteln  mit  der  Unter- 
schrift „der  Gekreuzigte!"  an  seine  wenigen  ihm  treu  gebliebenen 
Freunde  sandte.  Wer  daher  dem  Ewigen  noch  nie  Aug*  in  Auge 
geschaut  hat,  wer  es  noch  nie  in  seinem  Leben  empfunden  hat,  daß 
ihm  erst  dann  der  Frieden  mit  dem  Dämon  im  eigenen  Herzen 
unverlierbar  ist,  der  kennt  sie  nicht,  die  ungeheuren  Hoffnungen, 
die  flammende,  mühsam  unterdrückte  Glut  in  der  Seele  des  jungen 
Nietzsche;  der  versteht  die  Krisis  in  seinem  Leben  so  wenig  als 
die  Rache,  die  er  später  an  sich  selber  genommen  hat,  der  hat  als 
Nietzsches  Thyrsosträger  leider  keine  Ahnung,  wo  dieser  sein  neuer 
Dionysos  seine  wahre  Heimat  hatte,  der  vergißt  in  seiner  maßlosen 
Begeisterung  nur  allzu  leicht,  daß  Nietzsche  wie  Wagner  unsere 
Kultur  bereichert  haben,  daß  Nietzsche  wie  .,ein  Stern  unterging 
und  verschwand  —  aber  sein  Licht  ist  noch  unterwegs,  und  wann 
wird  es  aufhören,  unterwegs  zu  sein?"  Und  da  auch  Wagners 
Genius  der  Welt  so  unendlich  viel  Schönes  und  Herrliches  gegeben, 
woraus  nur  wieder  blinde  Schwärmerei  und  einseitigste  Partei- 
richtung die  Tatsache  gemacht  hat,  daß  wir  heute  nach  einem 
Zeiträume  von  mehr  als  dreißig  Jahren  nach  seinem  Tode  von 
einer  objektiven  Beurteilung  seines  Lebenswerkes  weiter  entfernt 
sind  denn  je,  ist  es  ein  geradezu  unverzeihlicher  Fehler,  eine  Sünde 
wider  den  heihgen  Geist,  daß  man  bei  der  Beurteilung  der  persön- 
lichen Beziehungen  dieser  zwei  Genies  nur  das  Ephemere  sieht  und 
sehen  will,  also  gerade  das,  worin  sie  ihre  Zugehörigkeit  zum 
Menschentum  am  unzweideutigsten  bewiesen,  während  man  das, 
worauf  sie  den  Stempel  der  Ewigkeit  drückten,  nur  allzu  gerne 
übersieht. 

Wenn  aber  trotzdem  in  den  folgenden  Blättern  hier  und  da 
des  „MenschUchen,  Allzumenschlichen"  Erwähnung  getan  werden 
wird,  das  auch  zwei  solchen  Geistesheroen  als  ein  Erdenrest,  zu 
tragen  peinlich,  anhaftet,  so  geschieht  das  nicht  in  der  Absicht, 
um  die  Neugierde  sensationslüsterner  Leser  zu  befriedigen,  sondern 
nur  zu  dem  Zwecke,  um  für  ihre  Fehler  und  Schwächen  ein  Ver- 
ständnis zu  gewinnen,  um  beide  Männer  uns  menschlich  näher  zu 
bringen,  treu  dem  altbewährten  Grundsatz:  „Nil  humani  a  me 
alienum  puto."  Denn  m.  E.  bedeutet  es  für  die  Erschließung  von 
Wagners  Menschentum  durchaus  keinen  Gewinn,  wenn  man  aus 
seinem  Bilde    gewisse    Züge    wegretuschiert,    ja    sogar   sich    nicht 


—     108     — 

scheut,    Stellen  aus  seinen  Briefen,    die  ihn  so  recht   als  ringenden 
und    fehlenden   Menschen    zeigen,    kurzerhand    zu    streichen.     Der 
Künstler   Wagner   wird    durch   die    Aufdeckung  seiner  Fehler,    die 
ihm  als  Menschen  genau  so  anhaften  wie  uns  allen,  wahrhch  nicht 
kleiner,  im  Gegenteil!  Überraschende  Aufschlüsse,  erstaunliche  Auf- 
klärungen wird    stets   nur  der  Forscher    erhalten,    der  bei    seiner 
Arbeit    „sine  ira  et  studio"  vorgeht.    Ihm  wird    es    glücken,    nicht 
bloß   die    hellen  Flammen    vulkanischen  Ausbruches    menschlichen 
Hasses  hoch  auflodern  zu  sehen,    sondern  auch  die  im  Innern   des 
Menschen   waltenden    und  zündenden   machtvollen  Elementarkräfte 
an  der  Arbeit  zu  beobachten.  Und  die  Erkenntnis  aus  dem  eigenen 
Erleben,    aus    dem    wissenschaftlichen    Ergründen,     wie     aus     der 
historischen  Betrachtung  wird  auch  in  unserem  speziellen  Falle  der 
Wahrspruch    sein:    „tout  comprendre  c'est   tout   pardonner!"    Aber 
ewig  wahr   werden    Pindars    und    Goethes  Wort  bleiben:    „oivÖQav 
öixaCcov  XQÖvög   öarriQ  «^törog"    —  „dem    guten    Manne    rettet    die 
Ehre  die  Ärztin  Zeit",  und  was  der  Altmeister  am  4.  Juni  1809  an 
Luise  Seidler  schrieb:    „Die  Menschen    sollten  nur  bewundern,    daß 
ein   Mensch    noch  Tugenden    hat.     Die  Fehler    verstehen    sich  von 
selbst. '^  Allerdings:  dieses  „Allzumenschhche'*',  das  sind  die  Wunden 
des  Genius,  an  denen  man  ehrfürchtig  vorübergehen  soll.  Denn  wir 
schämen  uns,    allzu  genau    hinzusehen,    daß  ein  großer  Geist,    ein 
starker  Charakter    solche  Wunden  hat.     Aber    der  breite  Pöbel    auf 
den  Märkten    hat   gar  nicht   das  Recht,    mit   seinen  scheelen,  lieb- 
losen Augen  die  Narben    eines  Genies  zu  besichtigen    oder  gar  mit 
unlauteren  Fingern  seine  Wunden  neugierig  zu  betasten.    Wie  sagt 
doch  Nietzsche  im  „Jenseits"?  „Wer  das  Hohe  eines  Menschen  nicht 
sehen  will,  bhckt  um  so  schärfer  nach  dem,  was  niedrig  und  Vorder- 
grund an  ihm  ist  —  und  verrät  sich  selbst  damit!" 

Menschliche  Denkfaulheit  und  die  kleinen  Geister  haben  daher 
den  Geisteserzeugnissen  dieser  beiden  Männer  einerseits  unbedingte 
Wahrheit  zugeschrieben,  einen  auf  Grund  seiner  Leistungen  gegen 
den  anderen  ausgespielt,  anderseits  aber  hinter  denselben 
puren  Schwindel  oder  lediglich  das  Produkt  eines  Geisteskranken 
gewittert.  Hier  sei  nur  so  viel  gesagt:  in  der  wirklich  schöpferischen 
Produktion  eines  großen  Mannes  liegt  ein  Geheimnis,  sowohl  für 
uns  als  auch  den  Schaffenden  selbst:  wenn  auch  unbewußt,  so  lag 
es  doch  in  seiner  Seele.  Daher  muß  der  Schöpfer  immer  größer  sein 


—     109     — 

als  seine  Werke,  denn  „das  Wirkende",  sagt  Goethe,  „muß  treff- 
licher sein  als  das  Gewirkte",  und  unsere  heiligste  und  erste  Pflicht 
ist  es,  den  Schöpfer  ganz  und  voll  verstehen.  Das  ist  allerdings 
viel  schwerer  —  aber  auch  viel  schöner  —  weil  wir  das  Wesen 
des  Schaffenden  aus  dem  innersten  Leben  und  Erleben  seiner  Seele 
erfassen  müssen.  Den  drmiovQyög  in  Wagners  und  Nietzsches  Seele 
suchen  und  finden  —  wer  das  zuwege  bringt,  der  hat  beide  ver- 
standen. Aber  dem  wird  es  auch  klar  sein,  warum  beide  sich 
trennten:  weil  sie  nicht  anders  konnten,  weil  in  ihnen  etwas  lebte 
und  wirksam  war,  das  mächtiger  war  als  sie  beide. 

Nietzsche  und  Wagner  waren  in  der  Tat  zwei  ganz  außer- 
gewöhnlich gottbegnadete  Menschen,  die  aber  trotz  einer  ziemlich 
stark  ausgeprägten  ähnlichen  Veranlagung  dennoch  einen  tief- 
gehenden, fundamentalen  Unterschied  aufweisen:  Wagner,  der  ge- 
borene Künstler,  der  nur  in  Tönen  denken,  fühlen  und  handeln 
konnte,  wirft  sich  immer  wieder  der  Philosophie  in  die  Arme,  um 
mit  ihrer  Hilfe  den  dunklen  Sinn  des  Lebensrätsels  zu  lösen,  um 
mit  ihrer  Hilfe  das  langsam  und  umständlich  zu  begreifen,  was  er 
durch  seine  Intuition  im  Kunstwerke,  sobald  es  vollendet  war, 
praktisch  —  ihm  selbst  völlig  unbewußt  —  als  seine  herrlichste 
Tat  vollbracht  hatte.  Aus  diesem  Gegensatze  von  Wille  und  Geist, 
Leben  und  Erkenntnis  sogen  Wagners  Werke  ihre  Kraft,  lange 
vor  seiner  Bekanntschaft  mit  Schopenhauer,  während  Schopenhauers 
System  ihm  nur  bewußt  machen  und  in  erlösende  Formeln  bannen 
konnte,  was  in  seiner  Produktion  von  den  Feen  bis  zum  Parsifal 
immer  lebendig  war.  Nietzsche  dagegen  stürzt  sich  in  seinem 
gigantenhaften  Streben,  die  bestehende  Welt  umzuschaffen,  sie  aus 
ihren  alten  Bahnen  in  ganz  neue  herüberzulenken,  auf  die 
schwierigsten  und  heißest  umstrittenen  Probleme,  auf  Probleme,  um 
deren  Lösung  die  Menschheit  seit  ihrem  Bestehen  ringt,  und  er 
trägt  das  sieghafte  Licht  der  Erkenntnis  in  die  dunkelsten  Tiefen 
menschlichen  Wesens  und  menschlicher  Kulturepochen  und  schafft 
Kunstwerke,  deren  äußere  Pracht  uns  mitunter  größere  und  ge- 
rechtere Bewunderung  entlockt  als  das  System  der  in  ihnen  ent- 
wickelten Gedanken.  Am  auffallendsten  ist  jedoch  folgender  tief- 
ergreifender Unterschied,  der  bei  beiden  Naturen  ganz  merkwürdige 
Konsequenzen  gezeitigt  hat:  Wagner  fühlte  sich  als  Künstler  und 
Philosoph    in    einer    Person;    stand    er    zum    Beispiel    in    diesem 


—     110     — 

Augenblicke  ganz  unter  der  Gewalt  seines  metaphysischen  Künstler- 
instinkteS;  so  kann  ihn  uns  der  nächste  Augenblick  als  den  kühl 
erwägenden,  scharfsinnigen  Denker  zeigen,  der  den  schwersten  Pro- 
blemen nachgrübelt,  als  wäre  er  nie  etwas  anderes  gewesen  denn 
ein  Gelehrter.  Nietzsche  dagegen  war  ein  Künstlerphilosoph,  bei 
dem  sich  ein  künstlerischer  Impuls  spontan  in  philosophischem 
Denken  entlud.  Man  wird  daher  mit  der  Annahme  nicht  fehlgehen, 
daß  er  'den  philosophischen  Trieb  in  sich  als  eine  Art  Metastase 
des  künstlerischen  Triebes  empfand.  Dieser  theoretische  Gegensatz 
mußte  sich  bei  diesen  großen  Kraftnaturen  natürlich  auch  im 
praktischen  Leben  mit  unverkennbarer  Deutlichkeit  zeigen:  so 
kämpfte  Wagner  heute  begeistert  für  eine  Idee,  weil  er  sich  von 
ihrer  Durchsetzung  etwas  Großes  erwartete;  morgen  aber  konnte 
er  oft  ganz  rücksichtslos  für  seine  Idee  kämpfen,  ohne  die  von 
gestern  oder  irgendeine  andere  als  gleichberechtigt  anzuerkennen. 
Nietzsche,  dessen  innerstes  Wesen  von  Haus  aus  allem  lauten 
Hervorkehren  des  Persönlichen  abhold  war,  lebte  nur  der  Er- 
reichung seines  Zieles,  während  Wagner  den  Weg,  sein  Ziel 
irgendwie  zu  erreichen,  mit  demselben  Eifer,  ja  Fanatismus  ver- 
teidigen konnte  wie  dieses  selbst.  Aber  so  grundverschieden  beide 
Naturen  waren,  so  näherten  sie  sich  dennoch,  weil  sie  voneinander 
gegenseitig  die  Verwirklichung  ihres  Strebens  erhofften'). 

Es    ist   nun    eine    merkwürdige  Fügung    des    Schicksals,    daß 
Nietzsche,    ohne  noch  Wagner  persönlich  kennen  gelernt  zu  haben, 


^)  Daraus  ergibt  sich  aber  mit  zwingender  Notwendigkeit  folgendes: 
die  tatsächlichen  Motive  für  den  Abfall  Nietzsches  von  Wagner,  für  die 
Wandlung  Nietzsches  aus  einem  „ersten  in  einen  zweiten  Nietzsche"  liegen 
in  der  Verschiedenheit,  oder  wenn  man  auch  will,  in  der  Gleichheit  der 
beiden  Charaktere  und  in  ihren  auseinanderstrebenden  Weltanschauungen. 
Beide  wollten  eine  neue  Kunst  und  eine  neue  Weltanschauung  selbständig 
und  allein  schaffen.  Jeder  von  ihnen  wollte  Herr  seiner  Zeit  und  Herold  der 
Zukunft  sein,  beide  die  beherrschende  Parole  ausgeben  und  den  lösenden 
Zauber  spenden.  Beide  waren  Herrennaturen,  die  nur  Jünger,  aber  keine 
Meister  neben  sich  dulden  konnten.  Wenn  Frau  Förster  von  Wagner  sagt, 
daß  er  keine  Götter  neben  sich  zu  dulden  vermochte,  so  gilt  genau  das 
gleiche  von  Nietzsche.  Und  zwar  begann  das  Bewußtsein  Nietzsches  um 
seine  Selbständigkeit  gerade  mit  den  Jahren  1874—1876  zu  einem  bestimmten 
Abschluß  zu  kommen:  es  begann  seine  eigene  Meisterschaft,  und  damit  war 
der  Zusammenstoß  mit  dem  Meister  Richard  Wagner  mit  Naturnotwendig- 
keit gegeben. 


—   111   — 

sich  für  den  verbannten,  heimatslosen  Meister  begeisterte:  „Von 
dem  Augenblicke  an,  wo  es  einen  Klavierauszug  des  Tristan  gab 
(mein  Kompliment,  Herr  von  Bülow!),  war  ich  Wagnerianer!",  daß 
er,  ehe  er  noch  die  Universität  in  der  rechtmäßigen  Weise  absol- 
viert hatte,  trotz  des  enormen  Altersunterschiedes  sich  vom  ersten 
Augenbhcke  des  persönlichen  Zusammentreffens  mit  Wagner  zu 
dem  bereits  ausgereiften  Manne,  der  auf  der  Höhe  seines  künst- 
lerischen Schaffens  stand,  so  hingezogen  fühlte,  daß  ihn  nebst  der 
dem  Meister  gezollten  Verehrung  auch  tiefe  Freundschaft  zu  dem 
Manne  hinzog.  Bei  Konstatierung  dieser  Tatsache  darf  man  jedoch 
eines  nicht  vergessen:  Nietzsche  war  zu  dieser  Zeit  noch  ein 
Werdender,  ja  auch  ei  glich  damals  sozusagen  noch  einem  un- 
beschriebenen Blatte,  auf  dem  sich  zunächst,  vom  Meister  bewirkt, 
Züge  ausprägten,  die  einen  ganz  anderen  Geist  atmeten  als  er  in 
dem  jungen  Baseler  Professor  lebte.  Dieser  kam  frisch  von  der 
Philologie,  war  aber  trotz  seiner  Jugend  einer  jener  wenigen 
Philologen,  die  Philologie  nicht  betreiben,  sondern  leben.  Nur  hatte 
er  selbst  damals  wohl  noch  kaum  eine  Ahnung  von  der  ungeheuren 
Geisteskraft,  die  in  ihm  schlummerte,  die  ihn  einst  von  Wagner 
weg  hoch  über  die  Ziele  der  Menschheit  seiner  Zeit  hinausheben 
sollte.  So  saß  er  denn  in  Tribschen  in  Wagners  gasthchem  Hause, 
mit  ihm  und  seiner  geistvollen  Frau  bis  in  die  späte  Nacht  musi- 
zierend und  philosophierend.  Malwida  von  Meysenbug  hat  uns  von 
dem  disputierenden  Nietzsche  eine  packende  Schilderung  aufbewahrt : 
„Was  uns  alle  noch  mehr  anzog  als  die  Gelehrsamkeit  des  gründ- 
lich mit  dem  Altertum  Vertrauten  war  die  Geistesfülle  und  Poesie 
in  der  Auffassung,  das  erratende  Auge  des  dichterischen  Menschen, 
welches  die  innere  Wahrheit  der  Dinge  mit  seherischem  Blick  be- 
greift, da  wo  der  pedantische  Buchstabengelehrte  nur  die  äußere 
Schale  faßt  und  für  das  Wesentliche  hält."  Daher  ist  es  kein 
Wunder,  wenn  Wagner  unter  dem  befruchtenden  Eindrucke  dieses 
Verkehres  mit  einem  so  herrlichen  Geiste  voll  Freude  an  Erwin 
Rohde  schrieb :  „Ich  finde,  daß  ich  mit  und  durch  Nietzsche  in  recht 
gute  Gesellschaft  gekommen  bin.  Das  können  Sie  nicht  wissen, 
was  das  heißt,  sein  langes  Leben  über  in  schlechter  oder  wenigstens 
alberner  Gesellschaft  verbracht  zu  haben.  . . .  Aber  diese  Wendung 
beginnt  auch  wirklich  erst  mit  Nietzsche:  vorher  schwang  sich 
meine  Sphäre  nicht  höher  als  bis  zu  Pohl,    Nohl  und  Porges."    Des 


—     112     — 

Meisters  Worte  fielen  in  des  Jünglings  Herzen  auf  gar  fruchtbaren 
Boden,  und  er  erging  sich  in  den  sublimsten  Einfällen,  sah  sich  für 
immer  Seite  an  Seite  mit  diesem  einzigen  hoch  über  der  Alltäg- 
lichkeit des  Lebens  stehen  —  gleichsam  wie  ein  neues  Dioskurenpaar. 
Wie  ist  dies  möglich,  fragen  wir  erstaunt,  daß  der  sechzigjährige 
Wagner  an  dem  vierundzwanzigjährigen  Professor  solchen  Gefallen 
finden  und  dieser  zu  jenem  sich  so  hingezogen  fühlen  konnte,  daß 
Wagners  Gedanken  buchstäblich  die  seinen  waren  ?  Dieses  Verhalten 
Nietzsches  läfat  sich  einzig  und  allein  nur  aus  seinem  philosophi- 
schen Triebe  erklären.  Raoul  Richter,  der  leider  viel  zu  früh  ver- 
storbene Professor  für  Philosophie  an  der  Leipziger  Universität,  hat  das 
schöne  Wort  geprägt:  „Der  philosophische  Trieb  ist  das  rücksichts- 
lose Forschen  und  Kämpfen  um  und  für  die  Wahrheit,  aber  nicht 
um  die  wissenschaftUchen  Winkel  Wahrheiten,  sondern  um  die 
wahre  Welt-  und  Lobensanschauung."  Dieser  philosophische  Trieb 
nun  bestimmte  alle  inneren  Erlebnisse  Nietzsches,  und  nur  von  ihm 
aus  kann  man  sie  voll  verstehen.  Daher  sind  unter  dieser  Voraus- 
setzung auch  Nietzsches  Freundschaften  zu  verstehen,  indem  er  die 
bestehenden  philosophisch  durchtränkte  und  neue  nur  auf  philo- 
sophischer Basis  schloß.  Denn  er  will  die  philosophische  Wahrheit 
nicht  nur  für  sich  allein,  sondern  auch  für  andere  erobern.  Dieser 
philosophische  Trieb  leitete  Nietzsche  bereits  in  Schulpforta,  als  er 
mit  zwei  Gesinnungsgenossen  den  literarischen  Verein  „Germania" 
begründete.  Diese  Tatsache,  die  von  den  Nietzsche  a  priori  feindlich 
gesinnten  Darstellern  seines  Freundschaftsverhältnisses  mit  Wagner 
so  gerne  als  nicht  existierend  in  Abrede  gestellt  wird,  wird  am 
stärksten  bewiesen  durch  jenen  Brief  Nietzsches  an  seinen  Freund 
Rohde,  in  dem  er  voll  Freude  bei  diesem  seinem  Freundschafts- 
verhältnisse als  dem  einzigen  einen  „ethisch-philosophischen 
Hintergrund"  konstatierte.  Dieser  philosophische  Trieb  beherrschte, 
sobald  Nietzsche  Schopenhauers  Philosophie  schätzen  gelernt  hatte, 
ganz  folgerichtig  auch  sein  Verhältnis  zur  Kunst.  Schwärmte  er 
früher  für  die  mehr  sinnenfreudige  Musik,  so  wurde  er  nun  diesem 
seinem  philosophischen  Triebe  zufolge  reif  für  das  Verständnis  einer 
Erscheinung  wie  Richard  Wagner,  welcher  der  Musik  ganz  im 
Sinne  Schopenhauers  die  Rolle  einer  zeitweiligen  Erlöserin  von  dem 
bösen  Lebenswillen  zuschrieb.  Die  ganze  Kunstübung  Wagners,  der 
fast    ausschließlich    tiefernste    Stoffe,    in    seinem    Hauptwerke^  die 


—     113     — 

Tragödie  der  Menschheit  selbst,  dargestellt  hafc,  ja  der  durch  seine 
Schöpfungen  reformierend  auf  das  ganze  Geistesleben  der  Nation 
einzuwirken  unternahm,  konnte  von  Nietzsche  als  ein  indirekter 
Beweis  für  die  neue  Ansicht  von  der  metaphysischen  Würde  der 
Musik  geltend  gemacht  werden.  So  erklärt  es  sich  daher,  daß 
Nietzsche,  weil  er  unter  der  Perspektive  der  Schopenhauerschen 
Philosophie  alles  beurteilte,  sich  zum  Genius  Wagners  hingezogen 
und  durch  seine  Freundschaft  sich  tief  beglückt  fühlte:  denn  in 
Wagners  Werken  fand  er  die  Kunst  im  Dienste  des  philosophischen 
Geistes  als  dessen  anschauliche  VersinnUchung,  hier  fand  er  den 
Plan,  durch  diese  Kunst  die  ganze  Kultur  der  Gegenwart  umzu- 
gestalten. Hier  fand  er  selbst  die  hehrste  Aufgabe,  mit  Einsatz  aller 
Mittel  der  Philologie,  mit  Einsatz  seiner  ganzen  Persönlichkeit  für 
die  nunmehr  als  wahr  erkannte  Welt-  und  Lebensanschauung  zu 
wirken.  Sehr  richtig  ist  daher  die  Bemerkung  Frau  Andreas 
Salomes,  daß  Nietzsche  nur  deshalb  Wagners  Anhänger  geworden 
sei,  weil  Wagner  innerhalb  des  germanischen  Lebens  dasselbe  Ideal 
einer  Kunstkultur  habe  verwirkUchen  wollen,  das  dem  jungen 
Nietzsche  innerhalb  des  griechischen  Lebens  als  Ideal  aufgegangen 
war.  Mit  Schopenhauers  Metaphysik  kam  eine  Steigerung  dieses 
Ideals  ins  Mystische  hinzu,  ins  unergründlich  Bedeutungsvolle  — 
gewissermaßen  ein  Akzent,  den  es  durch  die  metaphysische  Inter- 
pretation alles  Kunsterlebens  und  Kunsterkennens  erhielt.  Kurz: 
Wagner  war  jetzt  für  Nietzsche  der  Gesamtkünstler  der  schopen- 
hauerschen Philosophie.  Das  ist  nun  für  den  Bildungs-,  respektive 
geistigen  Entwicklungsgang  Nietzsches,  der  doch  von  Haus  aus 
klassischer  Philologe  war,  charakteristisch,  daß  er,  der  als  kaum 
zwanzigjähriger  Jüngling  den  „energischen  und  düsteren  Genius" 
Schopenhauers  auf  sich  hatte  wirken  lassen  und  gleich  Wagner  in 
seinen  Bann  geriet  —  „mir  behagte  an  Wagner,  was  mir  an 
Schopenhauer  behagt:  die  ethische  Luft,  der  faustische  Duft,  Kreuz, 
Tod  und  Gruft"  —  daß  dieser  Jüngling  schon  im  Jahre  darauf, 
1867,  ihn  als  den  Philosophen  eines  wiedererweckten  germanischen 
Hellenentums  verherrUcht.  Also  schon  damals  trug  Nietzsche  in 
das  Hellenentum  einen  fremden,  modernen  Geist  hinein,  und  er- 
blicke ich  in  dieser  Tatsache  den  ersten,  allerdings  mehr  dilletantischen 
Schritt  zur  verhängnisvollen  Tat  mit  der  Geburt  der  Tragödie.  Aber 
umgekehrt   lehrt   uns   dieses    Faktum,    daß  Nietzsche    all  sein  Ge- 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  Q 


—     114     — 

liebtestes  stets  in  das  hinüber  verwandelte,  was  er  als  das  Voll- 
kommene liebte  und  verehrte:  ins  Griechische;  und  so  hat  er 
Wagner  mit  großartiger  Auslegung  und  stilisierender  Willkür  ins 
Griechisch- Tragische  umgedeutet,  hat  er  das  Erlebnis  Schopenhauers 
zu  einer  dichterischen  Verklärung  der  vorplatonischen  Philosophen 
gestaltet,  hat  er  später  seine  protestantisch-christlichen  Grund- 
antriebe ins  Dionysische  hinübergezwungen  und  schließlich  seiner 
Krankheit  die  Formel  einer  griechischen  Lebensbejahung  abgerungen, 
in  welcher  er  die  Griechen  mit  seinem  eigenen  Ausdrucke  noch 
„übergriechte".  All  dies  ist  nur  so  erklärlich,  daß  der  philosophische 
Trieb,  der  alle  seine  Freundschaften  beherrschte,  nun  auch  Gewalt 
über  den  Philologen  Nietzsche  gewann:  und  daher  stellte  er  die 
exakte  Arbeitsweise  des  Philologen  in  den  Dienst  der  Probleme,  mit 
denen  er  sich  jetzt  zu  beschäftigen  begonnen  hatte:  die  Philologie, 
ihre  Arbeitsweise  ward  ihm  das  Mittel  zum  Zweck,  sie  sollte  ihm 
große  kulturgeschichtliche  Zusammenhänge  erhellen,  geistige  Werte 
entschwundener  Zeiten  erwecken.  So  schrieb  er  an  Deussen: 
„Übrigens  habe  ich  auch  den  wahren  HeiHgen  der  Philologie  ent- 
deckt, einen  echten  und  wirklichen  Philologen,  schließUch  Märtyrer 
(jeder  dumme  Literator  glaubt  ein  Recht  zu  haben,  auf  ihn  zu  pissen : 
dies  das  Martyrium).  Weißt  Du,  wie  er  heißt?  Wagner,  Wagner, 
Wagner!"  Und  wenn  er  an  Freiherrn  von  Gersdorff  vor  seiner  Ab- 
reise nach  Basel  auf  seinen  neuen  Posten  glückstrahlend  schreibt, 
daß  der  philosophische  Ernst  zu  tief  schon  in  ihm  wurzle,  um  je- 
mals einen  schmählichen  Abfall  von  der  „Idee"  befürchten  zu 
müssen,  so  enthält  dieser  Ausspruch  das  Fundament  seines  ganzen 
Lebens,  liegt  in  diesen  Worten  noch  in  nuce  alles  Glück  und  alles 
Leid  der  folgenden  Jahre:  alle  Lebensverhältnisse  durchdringt  er 
mit  dem  philosophischen  Geiste ;  denn  Denken  und  Handeln  müssen 
einander  stets  entsprechen. 


XI.  „DIE  GEBUET  DEE  TEAGÖDIE." 

Wir  wissen  bereits,  daß  Wagner  den  Deutschen  ein  neues 
Kulturideal,  eine  neue  Kunst  schaffen  wollte,  und  daß  Nietzsche 
Freunden,  die  ihn  aufforderten,  mit  einer  Schrift  Wagners  Be- 
strebungen zu  fördern,  auf  diese  Bitte  mit  einer  Absage  antwortete. 
Der  Mann,  dem  Schopenhauers  Erlösungslehre  eine  „festgewurzelte 
Grundlehre  war:  man  kann  mit  ihr  sterben;  das  ist  mehr,  als  wenn 
man  von  ihr  sagen  wollte:  man  kann  mit  ihr  leben!",  der  seine 
Antrittsvorlesung  in  Basel  mit  den  bedeutsamen  Worten  geschlossen 
hatte:  „Philosophia  facta  est,  quae  philologia  fuit.  Damit  soll  aus- 
gesprochen sein,  daß  alle  und  jede  philologische  Tätigkeit  um- 
schlossen und  eingehegt  sein  soll  von  einer  philosophischen  Welt- 
anschauung, in  der  alles  Einzelne  und  Vereinzelte  als  etwas  Ver- 
werfliches verdampft  und  nur  das  Ganze  und  Einheitliche  bestehen 
bleibt!"  —  dieser  Mann  war  offenbar  mit  sich  noch  nicht  im  reinen, 
er  schwankte  noch  zwischen  dem  Hellenentum  und  dem  schopen- 
hauerisierten  Wagnertume.  Und  doch  konnte  er  sich  des  Einflusses 
durch  Wagner  nicht  mehr  zur  Gänze  entschlagen,  wie  eine  ganze 
Reihe  kleinerer  Abhandlungen  über  das  Griechentum  beweist.  So 
fallen  in  das  Jahr  1871  zahlreiche  Ausfälle  Nietzsches  gegen  das 
einfache  Wortdrama,  natürlich  zugunsten  des  Wagnerschen  Wort- 
tondramas. Wie  später  in  der  „Geburt  der  Tragödie"  zieht  Nietzsche 
sein  Beweismaterial  aus  der  völhg  unberechtigten  Auslegung  des 
Sokratismus  und  einer  totalen  Verkennung  der  euripideischen  Kunst 
heran.  Ja,  er  geht  noch  weiter  und  nennt  Shakespeare  als  einen 
musiktreibenden  Sokrates  den  Vollender  des  Sophokles.  Das  Wort- 
drama ist  für  ihn  „gelehrt,  unoriginal,  erlogen  oder  Drastik".  Selbst 
mitzuarbeiten  an  der  Verwirklichung  eines  neuen  Kulturideals,  das 
erschien  ihm  am  Ende  verlockender  und  lohnender  als  die  tief- 
gründigste Leistung  „auf  dem  Stoppelfelde  der  klassischen  Philologie". 
Dieses   freimütige  Bekenntnis  Nietzsches   ist  nur  allzu  wahr!    Denn 

8* 


—     116     — 

ein  Geist  wie  Nietzsche,  der  gleichzeitig  für  antike  Kunst,  schöne 
Literatur,  Musik  und  Philosophie  begeistert  war,  mußte  sich  natur- 
gemäß mehr  zu  großen  synthetischen  Werken  veranlagt  fühlen  als 
zu  jenen  minutiösen  Einzelforschungen,  in  die  sich  die  Philologen  so 
gerne  vergraben.  So  war  er  bereits  fest  entschlossen,  seine  Professur 
an  der  Baseler  Universität  aufzugeben,  um  sich  ganz  seiner  gehebten 
„Wagnerei"  widmen  zu  können.  Zum  Glücke  hat  ihn  die  Besonnen- 
heit Wagners  vor  diesem  unüberlegten  Schritte  bewahrt,  indem  er 
der  Ansicht  war,  ein  für  ihn  eintretender  Universitätsprofessor  sei 
wertvoller  als  ein  Apostel  ohne  Amt.  Indem  Nietzsche  die  Blütezeit 
der  griechischen  Kultur  mit  dem  verglich,  was  Wagner  mit  seinen 
Werken  bereits  geschaffen  hatte,  glaubte  er  zu  erkennen,  daß  in 
ihnen  jene  höchste  Blütezeit  menschUcher  Kultur  wieder  aufzublühen 
beginne.  Und  hat  jene  Kultur  als  wertvollste  und  herrhchste  BKite 
die  Kunst  gezeitigt,  die  für  ewige  Zeiten  an  den  Namen  des  Aischylos 
geknüpft  ist,  könnte  da  nicht  jetzt  der  umgekehrte  Fall  möglich 
sein,  daß  die  Kunst  Wagners,  diese  deutscheste  Kunst,  der  Beginn 
einer  neuen  deutschen  Kultur  sein  könnte?  Wagner,  dem  Nietzsche 
seine  kleinen  Abhandlungen  zur  Lektüre  gesandt  hatte,  schrieb  ihm: 
„Zeigen  Sie  denn,  zu  was  die  Philologie  da  ist,  und  helfen  Sie  mir, 
die  große  , Renaissance'  zustande  zu  bringen,  in  welcher  Piaton  den 
Homer  umarmt  und  Homer,  von  Piatons  Ideen  erfüllt,  nun  erst 
recht  der  allergrößte  Homer  wird."  Nun  war  in  Nietzsche  der  Kampf 
zwischen  Griechentum  und  einem  schopenhauerisierten  Wagnertum 
zugunsten  des  letzteren  entschieden:  es  erschien  „Die  Geburt  der 
Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik". 

Paul  Friedrich  wirft  in  einem  seiner  Essays  die  Schicksalsfrage 
auf,  ob  Wagner  damals  in  Nietzsche  wirkhch  nur  den  Freund  oder 
nicht  doch  seiner  herrschgewaltigen  Imperatorennatur  gemäß  schon 
das  Instrument  erblickte,  das  ihm  in  seinem  Kampfe  sich  ungerufen, 
wie  von  selbst  darbot.  Diese  Frage  ist  wahrUch  nicht  leicht  zu  be- 
antworten; es  läßt  sich  nur  so  viel  sagen,  daß  der  Meister,  ohne 
Nietzsches  mitunter  krankhaft-ekstatische  Überspanntheit  zu  ver- 
kennen, wie  der  zitierte  Brief  an  Rohde  beweist,  sich  in  Nietzsches 
Umgang  durchaus  wohl  fühlte :  er  ließ  sich  gerne  Weihrauch  spenden 
und  liebte  das  ganz  erstaunhche  Verständnis,  das  der  junge  Mann 
füX  die  dionysische  Seite  seines  Wesens  bekundete.  Ob  er  jedoch  schon 
damals  die  Absicht  trug,   diesen  begeisterten  Adepten  ausschheßhch 


~     117     — 

nur  für   seine    Zwecke    auszunutzen,    das  bleibe   dahingestellt^). 
Daß  Wagner,    durch  Nietzsches  Arbeiten    ermutigt,    die   sublimsten 
Hoffnungen  für  sich  und  sein  Werk  hegte,  ist  aber  doch  wieder  nur 
menschlich  begreifbar    und  nachfühlbar:    denn  aus  Nietzsche  redete 
der   Gelehrte    und   nicht    einer  jener  Vielwisser   und  Vielschreiber, 
die   nicht   aus  Liebe    zur  Sache,    sondern   aus   purer  Sensationslust 
sich   für   das  Neue   begeistern,    welche  Sorte    von  Anhängern   dem 
Meister  vielfach  ihre  Dienste  angeboten,  jedoch  keineswegs  zu  seinem 
Besten  gearbeitet  hatte.  Und  in  diesem  Sinne  müssen  wir  auch  „Die 
Geburt  der  Tragödie"  verstehen;  man  kann  von  diesem  Werke  sagen, 
daß  es  einerseits  der  fast  dichterische  Versuch  ist,    das  Rätsel  von 
der  Entstehung  des  schauspielerischen  Phänomens  zu  deuten,  ander- 
seits Nietzsches  Bestreben,  um  das  Maßlos-Schöne  der  Wagnerschen 
Kunst   neben    der   maßvollen,    klassischen,    ruhigen   Schönheit    des 
Hellenentums  gelten  lassen    zu  können,    diese  im  Hellenentume   zu 
suchen  und  dort  auch  zu  finden.  Denn  an  die  „schlichte  Einfalt  und 
'edle  Stille"  des  Griechentums,  wie  sie  für  Winckelmahn  und  Goethe 
als  unübertreffliches  Ideal  feststand,    mochte  Nietzsche  wohl   schon 
längst  nicht  mehr  recht  geglaubt  haben:    ebenso  wie  bisher  Goethe 
für  Nietzsche  als  Idealgenie  galt,  Goethes  Kunstschöpfungen  für  ihn 
die  höchsten  Offenbarungen  des  menschhchen  Geistes  waren,    erhob 
sich  jetzt  für  Nietzsche  unter  dem  Einflüsse  der  Schopenhauerschen 
Genielehre    am    deutschen  Kulturhimmel   in  den  Werken  Wagners, 
wenn    schon    nicht  das  Ideal    der  absoluten  Schönheit,    so  doch  ein 
Ideal   der  Schönheit   nach    seinen  Begriffen.    Demgemäß   geht   sein 
Hauptstreben  dahin,    beide  Schönheitsideale    als  gleichberechtigt   zu 
erweisen.  Man  mag  wegen  dieser  Tatsache  immerhin  Nietzsche  eine 
gewisse  Inkonsequenz  vorwerfen    oder   sie  lediglich  als  eine  falsche 
Prämisse   bewerten,    aus  der    sich    mit  logischer  Notwendigkeit  ein 
falscher  Schluß  ableiten  lassen  mußte,  so  wird  dadurch  das  Faktum 
denn  doch  nicht  aus  der  Welt  geschafft,  daß  „Die  Geburt  der  Tragödie" 
ein    großes  sacriflcio    del  intellecto    war:    nur    ein  Blick    in  die  aus 
Nietzsches  Nachlaß  veröffentlichten  Vorstudien  zeigt  uns  seine  Ver- 
legenheit,   die  immer  größer  wurde,  je  tiefer  er  sich  in  das  einmal 
gestellte  Problem   versenkte.    Dort,    wo  er  Übereinstimmung  vorzu- 
finden glaubte,  stieß  er  auf  Gegensatz  über  Gegensatz.  Und  wahrlich, 


1)  Cf.  p.  24. 


—     118     — 

großer  Mut  und  größte  Selbstverleugnung,  die  nur  in  seiner  Liebe 
zu  Wagner  wurzelten,  gehörten  dazu,  trotz  all  dieser  offenkundigen 
Unstimmigkeiten  auf  der  einmal  eingeschlagenen  Bahn  unbeirrt 
weiter  zu  gehen  und  das  eine  große  Ziel  nicht  aus  den  Augen  zu 
verHeren.  In  späteren  Jahren  bekannte  Nietzsche  freimütig,  „daß 
er  sich  das  grandiose  griechische  Problem,  wie  es  ihm  aufgegangen 
war,  durch  die  Einmischung  der  modernsten  Dinge  verdorben  habe . . . 
jetzt  tagte  mir  das  Altertum  und  Goethes  Einsicht  der  großen 
Kunst:  und  jetzt  erst  konnte  ich  den  schlichten  Blick  für  das 
wirkliche  Menschenleben  gewinnen:  ich  hatte  die  Gegenmittel 
dazu,  daß  kein  vergifteter  Pessimismus  daraus  wurde". 

Der  Widmungsbrief,  mit  dem  Nietzsche  das  vollendete  Werk 
dem  Meister  übersandte,  lautet;  „Möge  meine  Schrift  wenigstens  in 
irgendeinem  Grade  der  Teilnahme  entsprechen,  die  Sie  Ihrer  Genesis 
bis  jetzt,  wirklich  zu  meiner  Beschämung,  zugewandt  haben.  Und 
wenn  ich  selbst  meine,  in  der  Hauptsache  recht  zu  haben,  so  heißt 
das  nur  so  viel,  daß  Sie  mit  Ihrer  Kunst  in  Ewigkeit  recht  haben 
müssen.  Auf  jeder  Seite  werden  Sie  finden,  daß  ich  Ihnen  nur  zu 
danken  habe  für    alles  das,    was  Sie  mir  gegeben  haben.    Vielleicht 

werde    ich    manches    später    einmal   besser    machen    können 

Inzwischen  fühle  ich  mit  Stolz,  daß  ich  jetzt  gekennzeichnet  bin 
und  daß  man  mich  jetzt  immer  in  einer  Beziehung  zu  Ihnen  nennen 
wird  " 

Wegen  der  in  ihr  ausgedrückten  Ideen  sei  der  Inhalt  dieser 
herrlichen  Schrift  hier  ausführlich  wiedergegeben.  Ohne  jedwede 
Einleitung  stürzt  sich  Nietzsche  in  medias  res  und  beginnt  mit  der 
Entwicklung  des  Doppelprinzips  vom  Apollinischen  und  Dio- 
nysischen als  jener  Grundtatsachen,  an  welche  alle  Weiterent- 
wicklung der  Kunst  gebunden  ist.  Nach  Apollon  und  Dionysos^ 
welche  die  beiden  Kunstgottheiten  der  griechischen  Welt  sind,  be- 
nennt er  seine  als  fundamental  erkannten  ästhetischen  Prinzipien; 
und  zwar  versteht  er  unter  der  apollinischen  Kunst  die  Kunst  des 
bildenden  Künstlers,  also  die  des  Malers,  des  Plastikers,  des  Epikers, 
während  unter  den  Begriff  dionysisch  die  Künste  des  Musikers  und 
Dramatikers  subsumiert  werden.  Vom  psychologischen  Standpunkte 
aus  gehört  die  apollinische  Kunst  in  den  Bereich  des  Traumes, 
dessen  Bilderwelt  mit  ihrer  Vollkommenheit  in  gar  keinem  Zu- 
sammenhange   mit    der    intellektuellen    Höhe    oder    künstlerischen 


—     119     — 

Bildung  des  Individuums  steht.  Apollon  ist  demnach  zu  denken  als 
das  herrUche  Götterbild  des  Individuationsprinzipg^),  aus  dessen  Ge- 
bärden die  ganze  Lust  und  Weisheit  des  „Scheines"  samt  seiner 
Schönheit  zu  uns  spricht ;  all  sein  Tun  und  Treiben  findet  in  weis- 
heitsvoller Kühe  seinen  vollendeten  Ausdruck,  er  bleibt  allen  wilden 
Regungen  unzugänglich  und  realisiert  mithin  den  Begriff  maßvoller 
Begrenzung,  die  awcppoauvy],  in  sich.  Anders  äußert  sich  Dionysos. 
Dieser  ist  der  Gott  des  so  tiefstem  Grausen  wie  höchster  Verzückung 
innewohnenden  Bruches  des  Individuationsprinzips,  des  Einswerdens 
des  Menschen  mit  der  Natur.  Daher  offenbart  er  sein  Walten  im 
Rausche,  sei  es  nun  im  Rausche  der  Trunkenheit  oder  im  Rausche 
des  Geschlechtstriebes,  der  heute  noch  genau  so  wie  in  gewissen 
orgiastischen  Kulten  des  Altertums  beim  Wiedererwachen  alles 
Lebens  in  der  Natur  die  Menschen  befällt.  Da  in  dieser  dionysisch- 
orgiastischen  Verzückung  oder  Verzauberung  der  Mensch  in  und  an 
sich  die  im  Traume  erschauten  Götter  realisiert,  „ist  er  nicht  mehr 
Künstler",  sondern  bereits  „ein  Kunstwerk  geworden":  denn 
diese  künstlerisgjien  Mächte  entspringen  beide  dem  Schöße  der  Natur, 
und  diesen  unmittelbaren  Kunstzuständen  der  Natur  gegenüber  ist 
jeder  Künstler  nur  „Nachahmer".  Indem  nun  Nietzsche  diesen 
Begriff  des  nachahmenden  Künstlers  näher  präzisiert,  unterscheidet 
er  drei  Arten  von  Künstlern:  den  apollinischen  Traum- 
künstler, den  dionysischen  Rauschkünstler  und  den 
Künstler,  der  diese  beiden  Kunstprinzipien  in  sich  ver- 
einigt. Letzteres  gilt  hauptsächUch  für  die  Erzeugung  der  griechischen 
Tragödie,  in  welcher  sich  dem  dionysisch  Trunkenen  sein  Zusam- 
menhang mit  dem  innersten  „Wesen  der  Welt"  in  einem 
gleichnismäßigen  Bilde  offenbart.  Nietzsche  wirft  nun  die  Frage  auf, 
in  welcher  Weise  sich  diese  Kunsttriebe  bei  den  Hellenen  zunächst 
äußerten,  welche  Weiterentwicklung  sie  in  der  Folgezeit  bei  diesem 
„Genie  unter  den  Völkern"  fanden.  Aus  der  Beantwortung  dieser 
Frage  wird  sich  das  Verhältnis  des  griechischen  Künstlers  zu  seinen 


1)  Darum  soll  von  Apollon  das  gelten,  was  Schopenhauer  von  dem  im 
Schleier  der  Maja  befangenen  Menschen  sagt:  „Wie  auf  dem  tobenden  Meere, 
das,  nach  allen  Seiten  unbegrenzt,  heulend  Wasserberge  erhebt  und  senkt, 
auf  einem  Kahn  ein  Schiffer  sitzt,  dem  schwachen  Fahrzeug  vertrauend,  so 
sitzt  mitten  in  einer  Welt  voll  Qualen  ruhig  der  einzelne  Mensch,  gestützt 
und  vertrauend  auf  das  principium  individuationis."  (Cf.  Schop.  W.  W.  I,  416.) 


— •     120     — 

Urbildern  ergeben;  das  heißt  wir  werden,  um  mit  Aristoteles  zu 
reden,  die  „Nachalwnung  der  Natur"  tiefer  verstehen  und  würdigen 
lernen. 

Der  ursprüngliche  Zustand  der  hellenischen  Welt  war  die 
apollinische  Kultur:  aus  der  Tatsache,  daß  das  hellenische  Auge 
mit  einer  unglaublich  bestimmten  und  sicheren  plastischen  Befähigung 
jene  herrlichen  Götterbildnisse  zu  schaffen  verstand,  die  die  Giebel 
der  Tempel  zieren,  glaubt  Nietzsche  folgern  zu  können,  daß  in  seinen 
Traumbildern  eine  ähnliche,  wenn  nicht  gar  dieselbe  logische  Kau- 
salität der  Linien  und  Umrisse  vorgewaltet  habe.  Die  dionysische 
Kraft  dagegen  bedarf  überhaupt  keines  Beweises:  lassen  sich  doch 
im  ganzen  Altertum  dionysische  Feste  nachweisen,  bei  denen  das 
Zentrum  in  einer  überschwenglichen  geschlechtlichen  Zuchtlosigkeit 
liegt.  Aber  gegen  die  fieberhaften  Regungen  solcher  Feste  waren 
die  Griechen  eine  Zeitlang  völlig  geschützt  durch  die  Gestalt 
Apollons:  sie  verhielten  sich  ihnen  gegenüber  ablehnend.  Diese  Ab- 
lehnung ist  verkörpert  und  verewigt  durch  die  dorische  Kunst.  Als 
aber  aus  der  tiefsten  Wurzel  des  Hellenischen  depa  Dionysischen 
ähnliche  Triebe  spontan  hervorbrachen,  wurde  Apollons  Widerstand 
allmählich  gebrochen;  sein  Einfluß  und  seine  Macht  jedoch  nicht  zur 
Gänze  eliminiert,  da  gleichsam  eine  Aussöhnung  zwischen  Apollon 
und  Dionysos  erfolgte.  Wenn  man  aber  bedenkt,  daß  trotz  dieses 
Kompromisses  die  dionysische  Macht  sich  immer  schrankenloser  zu 
offenbaren  begann,  so  müssen  wir  in  den  dionysischen  Orgien  der 
Hellenen  eine  Art  von  Welterlösungsfesten  und  Verklärungstagen 
erblicken ;  denn  erst  bei  ihnen  erreichte  die  Natur  ihren  künstlerischen 
Jubel,  erst  bei  ihnen  wird  die  gewaltsame  Zerreißung  des  principii 
individuationis  ein  künstlerisches  Phänomen.  Diese  wunderbare 
Mischung  und  Doppelheit  in  den  Affekten  der  dionysischen  Schwärmer 
verheb  allen  diesen  Festen  einen  gewissen,  ins  Sentimentale  gehenden 
Zug:  der  Gesang  und  die  Gebärdensprache  solcher  zwiefach  gestimmter 
Schwärmer  —  man  denke  nur  an  die  Erscheinung,  daß  Schmerzen  Lust 
wecken  und  daß  der  Jubel  mitunter  auch  die  qualvollsten  Töne  der 
Menschenbrust  entreißt  —  waren  der  homerisch-griechischen  Welt 
etwas  Fremdes,  vor  allem  die  dionysische  Musik.  War  die  Musik 
scheinbar  als  apollinische  Kunst  bekannt,  so  war  sie  dennoch  dorische 
Architektonik  in  nur  angedeuteten  Tönen.  Denn  mit  Absicht  ist  der 
Grundzug  der  dionysischen  wie  überhaupt  aller  Musik  ferngehalten: 


—     121     — 

die  erschütternde  Gewalt  des  Tones,  der  einheitliche  Strom  des 
Melos,  die  unvergleichliche  Welt  der  Harmonie.  Aber  gerade  weil 
im  dionysischen  Dithyrambos  der  Mensch  zur  höchsten  Steigerung 
seiner  symbolischen  Fähigkeiten  gereizt  wurde,  war  die  volle,  alle 
Glieder  rhythmisch  bewegende  Tanzgebärde  als  neue  Symbolik  not- 
wendig. Denn  erst  durch  das  Zusammenwirken  der  anderen  sym- 
bolischen Kräfte  mit  dieser  kann  der  Mensch  zu  jener  Höhe  der 
Selbstentäußerung  gelangen,  die  in  der  einheitlichen  Äußerung  aller 
dieser  Kräfte  ihren  symbolischen  Charakter  findet :  der  dithyrambische 
Dionysosdiener  kann  nur  von  seinesgleichen  verstanden  werden.  Dem 
apollinischen  Griechen  konnte  nun  diese  Tatsache  nicht  ganz  fremd 
sein  oder  unbekannt  bleiben:  langsam  mußte  ihm  die  Erkenntnis 
aufdämmern,  daß  die  dionysische  Welt  durch  sein  apollinisches  Be- 
wußtsein gleichsam  wie  durch  einen  Schleier  verdeckt  werde. 

Um  dies  zu  verstehen,  müssen  wir  die  Fundamente  der  apol- 
linischen Kultur  ergründen.  Die  ganze  olympische  Welt  ist  nichts 
anderes  als  eine  Versinnlichung  desselben  Triebes,  der  eine  Gestalt 
wie  Apollon  schuf.  Deshalb  darf  man  Apollon  den  Vater  der 
olympischen  Welt  nennen.  In  dieser  Welt  aber  verkörpert  sich  keine 
unleibliche  Vergeistigung,  sondern  dem  triumphierenden  Daseins- 
überschwange entsprungen,  „erinnert  hier  nichts  an  Askese,  Geistig- 
keit und  Pflicht.  Hier  redet  nur  ein  üppiges,  ja  triumphierendes 
Dasein  zu  uns,  in  dem  alles  Vorhandene  vergöttlicht  ist,  gleichviel 
ob  es  gut  oder  böse  ist".  Aber  diese  Welt  ist  nur  Schein  weit,  wie 
uns  die  Sage  vom  König  Midas  erzählt,  dem  der  weise  Silen,  der 
Begleiter  des  Dionysos,  auf  die  Frage,  was  für  den  Menschen  das 
Allerbeste  sei,  antwortete:  „Das  Allerbeste  ist  für  Dich  unerreichbar: 
nicht  geboren  zu  sein,  nichts  zu  sein.  Das  Zweitbeste  aber  ist  für 
Dich,  bald  zu  sterben."  Nur  das  menschliche  Leiden,  in  dem  der 
Grieche  die  Schrecken  und  Entsetzlichkeiten  des  Daseins  empfand, 
ließ  ihn  vor  die  irdische  Welt  die  glänzende  Traumgeburt  der 
Olympischen  stellen,  um  überhaupt  leben  zu  können.  Denn  „derselbe 
Trieb,  der  die  Kunst  ins  Leben  ruft  als  die  zum  Weiterleben  ver- 
führende Ergänzung  und  Vollendung  des  Daseins,  heß  auch  die 
olympische  Welt  entstehen,  in  der  sich  der  hellenische  Wille  einen  ver- 
klärenden Spiegel  vorhielt.  So  rechtfertigen  die  Götter  das  Menschen- 
leben, indem  sie  es  selbst  leben  —  die  allein  genügende  Theodizee". 
Unter   dem  Sonnenscheine  solcher  Götter  muß  das  Erdendasein  als 


—     122     — 

das  Erstrebenswerteste  empfunden  werden,  und  nur  darum  sehnt 
sich  Achilleus,  selbst  als  Tagelöhner  weiterleben  zu  dürfen ;  das  aber 
ist  nur  die  Folge  des  Willens  zum  Leben,  mit  dem  sich  der  Mensch 
der  homerischen  Zeit  so  innig  eins  fühlt,  daß  selbst  die  Klage  im 
Munde  des  Achill  zu  einem  Preislied  auf  das  Leben  wird. 

Diese  von  den  modernen  Menschen  so  sehnsüchtig  herbei- 
gesehnte Harmonie  mit  der  Natur,  von  Schiller  mit  einem  glücklichen 
Ausdrucke  „Naivität"  genannt,  ist  jedoch  kein  etwa  aus  sich  selbst  sich 
ergebender  Zustand,  den  wir  an  der  Schwelle  einer  jeden  Kultur  als 
paradiesischen  Urzustand  antreffen  müssen:  „Dies  konnte  nur  eine 
Zeit  glauben,  die  den  Emile  Rousseaus  sich  als  Künstler  zu  denken 
suchte  und  in  Homer  einen  solchen  am  Herzen  der  Natur  erzogenen 
Künstler  Emile  gefunden  zu  haben  wähnte."  Darum  ist  die  Naivität 
Homers,  des  größten  Traumkünstlers,  als  der  vollkommene  Sieg  der 
apollinischen  Illusion  zu  definieren,  als  einer  Illusion  von  der  Art, 
wie  sie  die  Natur  mitunter  zur  Erreichung  ihrer  Absichten  ver- 
wendet. Mit  anderen  Worten :  in  den  Griechen  wollte  der  Wille  sich 
selbst  anschauen;  darum  mußten  sich  die  Geschöpfe  dieses  Willens 
in  einer  höheren  Sphäre  wiedersehen:  in  der  Sphäre  der  Schönheit. 
In  dieser  aber  sahen  sie  ihre  Spiegelbilder,  die  Olympischen.  Mithin 
verhält  sich  Homer  als  einzelner  zu  dieser  apollinischen  Volkskultur 
wie  der  einzelne  Traumkünstler  zur  Traumbefähigung  des  Volkes 
und  der  Natur  überhaupt.  Dieses  naive  Künstlertum  beweist  Nietzsche 
aus  der  Traumanalogie:  wenn  wir  nämlich  unser  empirisches  Dasein 
und  das  der  Welt  als  eine  in  jedem  Moment  erzeugte  Vorstellung 
des  Ureinen  auffassen,  so  erscheint  uns  der  Traum  als  Schein  des 
Scheines,  als  eine  potenzierte  Befriedigung  unserer  Urbegierde  zum 
Erlöstwerden  durch  den  Schein.  Denn  je  mehr  sich  der  Mensch  jener 
gewaltigen  Kunsttriebe  in  der  Natur  bewußt  wird,  desto  mehr  fühlt  er 
sich  zu  der  metaphysischen  (Schopenhauerschen)  Annahme  gedrängt,  daß 
das  Wahrhaft-Seiende  als  das  Ewig-Leidende  den  lustvollen  Schein  zu 
seiner  Erlösung  benötigt.  Dieser  Schein  wird,  da  wir  von  ihm  völlig 
beherrscht  sind,  als  eine  empirische  Realität  empfunden.  Daher  ist  das 
naive  Kunstwerk  wie  der  Traum  Schein  des  Scheines:  Apollon  re- 
präsentiert in  dieser  Welt  die  Vergöttlichung  des  Individuations- 
prinzips,  er  zeigt  uns,  wie  diese  ganze  Welt  der  Qual  als  die  conditio 
sine  qua  non  erforderlich  ist,  damit  durch  sie  der  einzelne  Mensch 
zur  Erzeugung  der    erlösenden  Vision    gedrängt  werde.    Aber    diese 


—     123     — 

Vergöttlichung  der  Individuation  ist  an  ein  Gesetz  gebunden,  das  in 
der  Einhaltung  der  dem  Individuum  gezogenen  Grenzen  besteht: 
es  ist  also  das  Gesetz  des  Maßes  und  die  Hand  in  Hand  mit  ihm 
gehende  Selbsterkenntnis;  denn  „titanenhaft"  und  „barbarisch"  mußte 
dem  apollinischen  Griechen  die  Wirkung  dünken,  die  das  Dionysische 
erregte;  seine  Zucht  jedoch  zur  Mäßigung  und  der  Trieb  nach  Selbst- 
erkenntnis verraten,  wieviel  Dionysisches  von  allem  Anfang  an  im 
Hellenen  verborgen  war,  das  aber  hervorbrechen  mußte,  als  in  diese 
auf  den  Schein  und  die  Mäßigung  gebaute,  künstUch  eingedämmte 
Welt  der  ekstatische  Ton  der  Dionysosfeier  hineinklang.  Das  Indi- 
viduum mußte  in  der  Selbstvergessenheit  der  dionysischen  Zustände 
untergehen  und  die  apollinischen  Satzungen  vergessen.  Daher  wurde  mit 
dem  Überhandnehmen  des  Dionysischen  das  apolhnische  Element,  das 
bisher  vorherrschend  gewesen  war,  aufgehoben;  denn  der  Hellene 
fühlte  und  empfand,  daß  seine  auf  den  schönen  Schein,  auf  das 
Maß  aufgebaute  Welt  auf  einem  verhüllten  Untergrunde  des  Leidens 
und  der  Erkenntnis  ruhte,  der  ihm  wieder  durch  das  Dionysische, 
das  Übermaß,  aufgedeckt  wurde,  und  konnte  nicht  widerstehen. 
„Die  Musen  der  Künste  des  Scheines  verblaßten  vor  einer  Kunst, 
die  in  ihrem  Rausche  die  Wahrheit  sprach,  die  Weisheit  des  Silen 
rief  Wehe!  Wehe!  aus  gegen  die  heiteren  Olympier",  deren  apol- 
linische Strenge  unter  der  Gewalt  dieses  hereinbrechenden  dionysischen 
Stromes  allmählich  gemildert  wurde,  bis  durch  die  endgültige  Ver- 
söhnung dieser  beiden  Prinzipien  als  einander  ebenbürtiger  Gottheiten 
das  erhabene  Kunstwerk  der  attischen  Tragödie  und  des  dramatischen 
Dithyrambos  erzeugt  worden  ist. 

Um  in  die  vielumstrittene  Frage  nach  der  Entstehung  der 
attischen  Tragödie  Licht  zu  bringen,  stellt  Nietzsche  Homer  als 
das  Prototyp  des  apollinischen,  naiven  Künstlers  dem  leidenschaft- 
lichen und  dionysischen  Lyriker  Archilochos  gegenüber,  von  dem 
wir  wissen,  daß  er  das  Volkslied  in  die  Literatur  eingeführt  habe, 
und  versucht  den  Nachweis  zu  erbringen,  inwiefern  letzterer  als 
Künstler  möglich  ist;  denn  mit  der  Interpretation  der  neueren 
Ästhetik,  die  Homer  einen  objektiven,  Archilochos  den  ersten  sub- 
jektiven Künstler  nennt,  sei  wenig  gedient.  Um  also  das  Künstler- 
tum  des  Lyrikers  zu  definieren,  geht  Nietzsche  von  einer  psycho- 
logischen Beobachtung  Schillers  aus,  nämlich,  daß  der  vorbereitende 
Zustand  des  dichterischen  Aktus  stets  eine  musikalische  Stimmung 


—     124     — 

sei.  Faßt  man  nun  die  antike  Lyrik  auf  als  die  Vereinigung^  ja 
Identität  des  Lyrikers  mit  dem  Musiker,  so  ist  das  Volkslied  nichts 
anderes  als  das  perpetuum  vestigium  einer  Vereinigung  des  Apol- 
linischen mit  dem  Dionysischen,  so  ergibt  sich  als  Folge  der  früher 
entwickelten  metaphysischen  Ästhetik:  der  Lyriker  ist  zuerst,  als 
dionysischer  Künstler,  gänzlich  niit  dem  Ureinen  —  und  das  ist  sein 
Schmerz  und  Widerspruch!  —  eins  geworden  und  produziert  das 
Abbild  dieses  Ureinen  als  Musik.  Bei  dem  Volksliede  ist  also  die 
Melodie  das  Erste  und  Allgemeine.  Die  Musik,  die  als  reiner 
Wille  sich  auf  den  Urwiderspruch  und  Urschmerz  im  Herzen  des  Ur- 
einen symboUsch  bezieht,  somit  eine  Sphäre  symbolisiert,  die  über 
aller  Erscheinung  und  vor  aller  Erscheinung  ist,  braucht  das  Bild 
und  den  Begriff  nicht,  sie  erträgt  ihn  nur  neben  sich,  sie  hat 
ausschließlich  dionysischen  Charakter:  sie  ist  also  eine  Wiederholung 
der  Welt,  gewissermaßen  ein  zweiter  Abguß  derselben.  In  diesem 
Zustande  seines  Produzierens  wird  nun  dem  Lyriker  die  Musik  wie 
in  einem  gleichnisartigen  Traumbilde  sichtbar.  Dieser  begrifflose 
Widerschein  des  Urschmerzes  in  der  Musik  mit  seiner  Erlösung  im 
Scheine  erzeugt  eine  zweite  Spiegelung  als  einzelnes  Gleichnis  oder 
Exempel:  die  Subjektivität  des  Künstlers  ist  in  diesem  dionysischen 
Prozesse  aufgegangen,  und  jenes  Bild,  das  ihm  seine  Einheit  mit 
dem  innersten  „Wesen  der  Welt"  zeigt,  ist  eine  Traumszene,  die 
jenen  Urwiderspruch  und  Urschmerz  samt  der  Urlust  des  Scheines 
versinnlicht.  Erst  wenn  die  Musik,  die  dionysische  Urstimmung,  dem 
Lyriker  wieder,  wie  in  einem  gleichnisartigen  Traumbilde,  unter  der 
apollinischen  Traumwirkung  sichtbar  wird,  entsteht  das  lyrische 
Gedicht.  Das  „Ich"  des  antiken  Lyrikers  tönt  also  aus  dem  Abgrunde 
seines  Seins  und  seine  angebliche  Subjektivität  erweist  sich  als  eine 
Einbildung  der  neueren  Ästhetiker.  In  dieser  dionysisch-musikalischen 
Verzauberung  entstehen  die  lyrischen  Gedichte,  die  in  ihrer  höchsten 
Entfaltung  Tragödien  und  dramatische  Dithyramben  heißen.  Daraus 
erhellt,  daß  der  subjektive  Mensch  nie  Dichter  sein  kann,  daß  der 
dionysische  Lyriker  dagegen  Weltgenius  ist,  der  von  seinem  per- 
sönlichen Menschen  nur  in  verschiedenen  Objektivationen  seines 
„Ichs"  spricht.  Im  Gegensatze  zu  Schopenhauer  kann  demnach  nach 
^Nietzsches  ästhetischer  Theorie  das  Subjekt,  das  wollende  Individuum, 
das  seine  egoistischen  Zwecke  fördert,  nur  als  Gegner,  aber  nie  als 
Ursprung  der  Kunst  gedacht  werden.  Wird  aber  das  Subjekt  Künstler, 


—     125     — 

so  ist  es  von  seinem  individuellen  Wollen  befreit.  Hier  nimmt  nun 
Nietzsche  einen  „Urkünstler"  der  Welt  an,  vor  dem  die  ganze 
Kunstkomödie  abläuft  und  für  den  der  Mensch  nur  in  der  Bedeutung 
eines  Kunstwerkes  seine  höchste  Würde  hat:  „denn  nur  als 
ästhetisches  Phänomen  ist  das  Dasein  und  die  Welt  gerechtfertigt". 
Nur  soweit  der  Genius  im  Akte  der  künstlerischen  Zeugung  mit 
jenem  Urkünstler  der  Welt  verschmilzt,  weiß  er  etwas  über  das 
ewige  Wesen  der  Kunst.  Was  ist  also  die  Lyrik?  „Die  lyrische 
Dichtung  ist  die  nachahmende  Effulguration  der  Musik  in  Bildern 
und  Begriffen";  denn  das  Wort,  das  Bild,  der  Begriff  suchen  einen 
der  Musik  analogen  Ausdruck  und  erleiden  die  Gewalt  der  Musik  an 
sich.  Wie  verhält  es  sich  aber  mit  der  Musik  im  Spiegel  der  Bild- 
hchkeit  und  Begriffe?  Die  Musik  erscheint  als  der  Wille,  das  heißt, 
wenn  wir  das  Wort  im  Sinne  Schopenhauers  interpretieren,  als 
Gegensatz  der  ästhetischen,  rein  beschaulichen,  willenlosen  Stimmung. 
Da  nach  Nietzsche  die  Lyrik  von  der  Musik  abhängig  ist,  die  Musik 
jedoch  keiner  apollinischen  Gleichnisse  bedarf,  sondern  dieselben 
neben  sich  nur  duldet,  so  kann  demzufolge  die  Dichtung  des  Lyrikers 
nichts  aussagen,  was  nicht  in  der  ungeheuersten  Allgemeinheit  und 
Allgültigkeit  bereits  in  der  Musik  lag,  die  ihn  zur  Bilderrede  nötigte. 
Die  Musik  ist  also  Weltsymbolik,  mit  der  sich  die  Sprache  nur 
äußeriich  berührt.  Daher  kann  uns  der  tiefste  Sinn  der  Musik  durch 
alle  lyrische  Beredsamkeit  keinen  Schritt  näher  gebracht  werden. 
Jetzt  erst  geht  Nietzsche  daran,  den  Ursprung  der  griechischen 
Tragödie  zu  finden.  Denn  nach  ihm  ist  das  Problem  des  Ursprungs 
noch  nicht  einmal  richtig  gestellt,  geschweige  denn  gelöst  worden. 
Die  Überlieferung  berichtet,  daß  die  Tragödie  aus  dem  tragischen 
Chore  entstanden  ist.  Im  folgenden  weist  er  die  Erklärung  des 
Chors  als  einer  Art  konstitutioneller  Volksvertretung,  welche  das 
umwandelbare  Sittengesetz  repräsentieren  soll,  als  nicht  stichhältig 
zurück,  ebenso  A.  W.  Schlegels  Gedanken,  der  den  Chor  sozusagen 
als  den  Inbegriff  und  Extrakt  der  Zuschauermenge,  als  den  idealischen 
Zuschauer  zu  betrachten  empfahl.  Eine  wertvollere  Einsicht  in  die 
Bedeutung  des  tragischen  Chors  findet  Nietzsche  bei  Schiller  in 
seiner  berühmten  Vorrede  zur  „Braut  von  Messina".  Er  betrachtete 
den  Chor  als  eine  lebendige  Mauer,  welche  die  Tragödie  um  sich 
herumzieht,  um  sich  von  der  wirklichen  Welt  abzuschheßen  und 
sich  ihren  idealen  Standpunkt  und  die  poetische  Freiheit  zu  wahren. 


—     126     — 

Natürlich  erklärt  Schiller  auf  diese  Weise  iedem  Naturalismus  den 
Krieg  und  tritt  in  seiner  Abhandlung  für  die  Wiedereinführung  des 
Chors  in  die  Tragödie  ein.  Nun  ist  der  Boden,  auf  dem  der  Chor 
der  ursprünglichen  Tragödie  wandelt,  gewiß  ein  idealer  Boden:  denn 
ein  Naturzustand  mit  fingierten  Naturwesen  bildet  den  Bestandteil 
des  Chors.  Obwohl  nun  die  Tragödie  weit  davon  entfernt  war,  die 
Wirklichkeit  getreulich  nachzubilden,  so  ist  ihre  Welt  gleichwohl 
keine  zwischen  Himmel  und  Erde  hineinphantasierte,  sondern  eine 
Welt  von  gleicher  Reahtät  und  Glaubwürdigkeit,  wie  sie  der 
Olympos  für  den  gläubigen  Hellenen  besaß :  diese  reale  Welt  ist  die 
des  Satyrchors,  aus  dem  sich  die  griechische  Tragödie  entwickelt  hat. 
Der  Satyr  selbst  ist  die  Ausgeburt  der  auf  das  Natürliche  gerichteten 
Sehnsucht  des  Menschen  und  lebt  als  dionysischer  Choreute  in  einer 
rehgiös  zugestandenen  Wirklichkeit  unter  der  Sanktion  des  Mythos 
und  des  Kultus.  Mit  ihm  beginnt  die  Tragödie,  aus  ihm  spricht  die 
dionysische  Weisheit  der  Tragödie.  Das  mag  uns  zunächst  etwas 
befremden;  wenn  aber  behauptet  wird,  daß  sich  der  Satyr  als 
fingiertes  Naturwesen  zum  Kulturmenschen  genau  so  verhalte  wie 
die  dionysische  Musik  zur  Zivilisation,  von  welch  letzterer  Wagner 
behauptete,  daß  sie  von  der  Musik  aufgehoben  werde,  so  folgert 
Nietzsche,  daß  sich  der  griechische  Kulturmensch  im  Angesichte 
des  Satyrchors  aufgehoben  fühlen  mußte.  Mit  anderen  Worten:  die 
unmittelbarste  Wirkung  der  Tragödie  besteht  zunächst  darin,  daß 
sie  den  Unterschied  zwischen  Mensch  und  Mensch  einfach  aufhebt. 
Bei  dieser  psychologischen  Erläuterung  des  Tragischen  erblickt 
Nietzsche  das  Prinzip  der  Tragödie  in  dem  metaphysischen  Tröste, 
mit  dem  sie  uns  entläßt,  daß  das  Leben  trotz  alles  Wechsels  der 
Erscheinungen  unzerstörbar  ist.  Diesen  Trost  versinnbildet  der  Satyr- 
chor. Was  ist  also  der  Satyr?  „Die  Natur,  an  der  noch  keine  Er- 
kenntnis gearbeitet,  in  der  die  Riegel  der  Kultur  noch  unerbrochen 
sind,  das  sah  der  Grieche  in  seinem  Satyr,  der  ihm  deshalb  noch 
nicht  mit  dem  Affen  zusammenfiel.  Im  Gegenteil;  es  war  das  Ur- 
bild des  Menschen,  der  Ausdruck  seiner  höchsten  und  stärksten 
Regungen,  als  begeisterter  Schwärmer,  den  die  Nähe  Gottes  entzückt, 
als  mitleidender  Genosse,  in  dem  sich  das  Leiden  des  Gottes  wieder- 
holt, als  Weisheitsverkünder  aus  der  tiefsten  Brust  der  Natur 
heraus,  als  Sinnbild  der  geschlechthchen  Allgewalt  der  Natur,  die 
der  Grieche  gewöhnt  ist,  mit  ehrfürchtigem  Staunen  zu  betrachten." 


—     127     — 

Mit  anderen  "Worten:  der  Satyrchor  ist  ein  Chor  von  Naturwesen, 
die  gewissermaßen  hinter  aller  Zivihsation  unzerstörbar  leben  und 
trotz  aller  Phasen  der  geschichtlichen  Entwicklung  ewig  dieselben 
bleiben.  In  diesem  Chore  findet  der  tiefsinnige  und  zum  zartesten 
und  schwersten  Leiden  einzig  befähigte  Hellene,  an  dem  sich  die 
pessimistischen  Anwandlungen  des  älteren  Hellenentums  erschöpften, 
seinen  Trost:  „Ihn  rettet  die  Kunst  und  durch  die  Kunst  rettet 
ihn  sich  —  das  Leben."  Indem  der  Mensch  in  der  Verzückung 
seines  dionysischen  Zustandes  die  gewöhnlichen  Schranken  seines 
Daseins  —  Raum  und  Zeit  —  siegreich  durchbricht,  gesellt  sich  zu 
diesem  Zustande  ein  lethargisches  Moment,  wodurch  sich  die  all- 
täghche  Wirklichkeit  von  der  dionysischen  scharf  scheidet.  Sobald 
aber  dem  Menschen  die  alltägliche  Wirklichkeit  wieder  ins  Bewußt- 
sein tritt,  ist  eine  asketische,  willenverneinende  Stimmung  die 
Folge  solcher  Zustände.  Auf  dieser  Stufe  der  höchsten  Gefahr  für 
den  Willen  zum  Leben  erweist  sich  nun  die  Kunst  als  Retterin: 
nur  sie  vermag  alle  Ekelgedanken  über  das  Absurde  dieses  Daseins 
ins  Erhabene  oder  Lächerliche  umzuwandeln;  das  heißt  das  „Er- 
habene ist  die  künstlerische  Bändigung  des  Entsetzlichen,  das 
Komische  die  künstlerische  Entladung  vom  Ekel  des  Absurden". 
Daher  spricht  Nietzsche  vom  Satyrchor  des  Dithyrambus  als  der 
rettenden  Tat  der  griechischen  Kunst.  Wie  schon  gesagt  wurde,  ist 
dieser  Satyr  nichts  anderes  als  ein  Produkt  der  auf  das  Ursprüng- 
liche und  Natürliche  gerichteten  Sehnsucht  der  Menschen.  Während 
in  der  neueren  Zeit  die  Hypostasierung  dieser  Sehnsucht  durch 
den  zärtlich  flötenden,  weichgearteten  Schäfer  stattfand,  gab  der 
unerschrockene  Grieche  seiner  Sehnsucht  in  dem  robusten  Wald- 
menschen Gestalt  und  Form,  in  dem  die  ungebrochene,  von  keiner 
Kultur  beleckte  Natur  des  Menschen  sich  manifestiert.  Daher  ist 
dieser  Satyr  das  Urbild  des  Menschen,  ein  Sinnbild  des  die  ganze 
Natur  so  mächtig  beherrschenden  Geschlechtstriebes,  deshalb  liegt 
in  der  Gestalt  des  Satyrs  etwas  Erhabenes,  etwas  Göttliches  für 
den  dionysischen  Menschen,  dessen  Auge  mit  schmerzlich  ge- 
brochenem Blick  auf  solch  unverhüllten  Schriftzügen  der  Natur  mit 
gewisser  Befriedigung  ruhen  mußte.  Denn  da  bei  dieser  Vorstellung  des 
Satyrs  als  dem  Urbilde  des  Menschen  jedwede  Illussion  einer 
modernen  Kultur  a  priori  weggewischt  war,  ist  diesem  Satyr  gegen- 
über als  dem   wahren   Menschen    der   moderne    Kulturmensch   nur 


—     128     — 

eine  lügenhafte  Karikatur.  Daher  gibt  Nietzsche  Schiller  voll- 
kommen recht,  wenn  er  der  Ansicht  ist,  daß  der  Chor  eine  Art 
lebendiger  Mauer  gegen  die  anstürmende  Wirklichkeit  bilde,  weil 
eben  der  Satyrchor  das  Dasein  vollständiger  und  wirklicher  zur 
Geltung  bringt  als  der  Kulturmensch,  der  seine  eigene  Realität  für 
die  angeblich  einzige  hält.  Es  wäre  'aber  eine  ganz  falsche  Be- 
hauptung, daß  die  Sphäre  der  Poesie  als  einer  phantastischen  Un- 
möglichkeit außerhalb  der  Welt  liege.  Im  Gegenteil!  Eben  weil  die 
Poesie  die  Wahrheit  ungeschminkt  zum  Ausdruck  bringen  will, 
streift  sie  den  lügenhaften  Aufputz  jener  vermein thchen  Realität, 
mit  welcher  sich  der  Kulturmensch  umgibt,  ab.  Es  verhält  sich 
also  der  Satyr  als  die  ungeschminkte  Natur  Wahrheit  zu  der  als 
einzige  Realität  sich  aufspielenden  Kulturlüge  ähnlich  wie  das  Ding 
an  sich  als  der  Inbegriff  des  ewigen  Wesenskernes  aller  Dinge  zur 
gesamten  Erscheinungswelt;  oder  wie  die  Tragödie  mit  ihrem  meta- 
physischen Tröste  bei  dem  steten  Untergange  der  Erscheinungen 
auf  das  ewige  Leben  jenes  Daseinskernes  hinweist,  spricht  die 
Symbolik  jenes  Satyrchors  in  einem  Gleichnis  dieses  Urverhältnis 
zwischen  Ding  an  sich  und  Erscheinung  aus.  Um  es  kurz  zu  sagen, 
ist  der  idyUische  Schäfer  nur  der  Abklatsch  einer  gewissen  Summe 
von  Bildungsillusionen,  die  dem  Kulturmenschen  als  Natur  gelten, 
der  Satyr  dagegen  ist  Wahrheit  und  Natur  in  ihrer  höchsten  Kraft. 
Wenn  nun,  solche  Stimmungen  und  Erkenntnisse  vorausgesetzt,  der 
Satyrchor  umherschwärmte,  mußte  die  Macht  dieser  Erkenntnisse 
so  stark  sein,  daß  sich  die  Satyrn,  die  Diener  des  Gottes,  vor  ihren 
eigenen  Augen  als  in  die  ursprünglichen  Naturgenien,  als  in  wirk- 
liche Satyrn  verwandelt  sehen  mußten.  Daher  ist  die  Gestaltung 
des  Chors  in  der  weiteren  Entwicklung  der  Tragödie  nichts  anderes 
als  eine  künstlerische  Nachahmung  jenes  natürlichen  Phänomens; 
nur  muß  man  bei  dieser  Konstitution  wohl  scheiden  zwischen  dem 
dionysischen  Zuschauer  und  dem  dionysisch  Verzauberten.  Wir 
dürfen  nämhch  nie  vergessen,  daß  es  im  antiken  Drama  keinen 
Gegensatz  zwischen  Publikum  und  Chor  gab,  da  ersteres  sich  im 
Chor  der  Orchestra  selbst  wiederfand.  Demgemäß  erfährt  jetzt 
Schlegels  Definition  vom  Chor  als  dem  idealischen  Zuschauer  eine 
tiefere  Bedeutung,  wenn  man  bedenkt,  daß  der  Chor  der  einzige 
Schauer  ist,  nämlich  der  Schauer  der  Visionswelt  der  Szene.  War 
doch  dem  Griechen  das,  was  wir  unter  Theaterpublikum  verstehen, 


—     129     — 

völlig  unbekannt :  denn  da  die  Sitzreihen  zu  einem  konzentrisch  an- 
gelegten Terrassenbau  sich  auftürmten  — 

„von  Menschen  wimmelnd  wächst  der  Bau 
in  weiter  stets  geschweiftem  Bogen 
hinauf  bis  in  des  Himmels  Blau"  — , 

war  dem  Zuschauer  die  Möglichkeit  gegeben,  die  gesamte  um  ihn 
liegende  Szenenwelt  zu  übersehen,  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes, 
und  so  im  gesättigten  Hinschauen  sich  selbst  für  einen  Choreuten 
zu  halten.  Es  ergibt  sich  also  als  Definition  des  Chors  auf  seiner 
primitiven  Stufe  in  der  Urtragödie:  „Der  Chor  ist  die  Selbst- 
bespiegelung  des  dionysischen  Menschen."  Um  sich  dieses  Phänomen 
vorstellen  zu  können,  braucht  man  sich  nur  des  Schauspielers  zu 
erinnern,  dem  bei  wirklicher  Begabung  das  von  ihm  darzustellende 
Rollenbild  mit  plastischer  Greifbarkeit  vor  der  Seele  steht.  Der 
Satyrchor  ist  daher  zu  allererst  eine  Vision  der  dionysischen  Masse, 
wie  wiederum  die  Bühnenwelt  eine  Vision  dieses  Satyrchors  ist. 
Aber  die  Vision  ist  von  einer  so  elementaren  Gewalt,  daß  sie  den 
Chor  gegen  den  Eindruck  der  Realität  —  diese  wird  repräsentiert 
durch  die  auf  den  Sitzreihen  lagernden  Kulturmenschen  —  völlig 
unempfindhch  macht.  Die  dionysische  Erregung  kann  nun  so  stark 
sein,  daß  die  künstlerische  Begabung,  von  der  wir  eben  sprachen, 
sich  der  ganzen  Masse  mitteilen  kann,  so  daß  sie  sich  von  einer 
Geisterschar  umringt  wähnt,  mit  der  sie  sich  eins  fühlt.  Diese 
Fähigkeit  aber,  sich  selbst  als  verwandelt  zu  sehen  und 
so  zu  handeln,  als  ob  man  wirklich  aus  einem  anderen 
Leibe  heraus  handle,  ist  das  dramatische  Urphänomen, 
mit  welchem  Prozesse  die  Entwicklung  des  Dramas 
beginnt;  diese  Verzauberung  ist  die  Voraussetzung  aller 
dramatischen  Kunst.  Weil  dieses  Phänomen  nicht  vereinzelt, 
sondern  geradezu  epidemisch  auftritt,  ist  der  Dithyrambus  von 
jedem  anderen  Chorgesange  a  priori  verschieden:  die  dithyrambischen 
Choreuten  sind  die  zeitlosen,  außerhalb  aller  Gesellschaftssphären 
lebenden  Diener  ihres  Gottes  geworden.  In  dieser  Verzauberung 
sieht  sich  der  dionysische  Schwärmer  als  Satyr  und  „als  Satyr 
wiederum  schaut  er  den  Gott",  das  heißt,  er  sieht  in  seiner 
Verwandlung  eine  neue  Vision  außer  sich,  als  apollinische 
Vollendung  seines  Zustandes.  Mit  dieser  Vision  ist  nun  der 
Begriff  des  Dramas    vollständig.    Demnach    ist   die   griechische 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  9 


—     180     — 

Tragödie  der  dionysische  Chor,  der  sich  immer  wieder 
in  einer  apollinischen  Bilderwelt  entladet.  Daher  sind 
auch  die  Chorpartien  der  Tragödie  anzusehen  als  der  Mutterschoß 
des  ganzen  Dialogs,  mithin  des  Dramas  überhaupt.  Da  dieser  Ur- 
grund der  Tragödie  in  einer  Reihe  von  psychischen  Entladungen 
jene  Vision  des  Dramas  zustande  bringt,  ist  diese  Vision  einerseits 
Traumerscheinung,  daher  mehr  epischer  Natur,  anderseits  aber 
ist  sie  nicht  apollinische  Erlösung  im  Scheine,  sondern  vielmehr 
erzeugt  sie  den  Untergang  des  Individuums  und  sein  Aufgehen 
in  die  Ureinheit  des  Seins.  Das  Drama  ist  also  aufzufassen  als 
die  apollinische  Versinnlichung  dionysischer  Erkennt- 
nisse. 

Auf  Grund  dieser  Auffassung  vom  Wesen  des  Dramas  erklärt 
sich  der  Chor  der  griechischen  Tragödie  als  der  höchste,  nämlich 
dionysische  Ausdruck  der  Natur,  und  daraus  folgt  die  Tatsache, 
daß  er  in  seiner  Begeisterung  Weisheitssprüche  verkündet.  Denn 
da  er  mit  dem  Gotte  mitleidet,  ist  er  zugleich  auch  weise,  denn  er 
spricht  die  Wahrheit  aus  dem  Herzen  der  Natur  heraus.  Die  Ge- 
stalt des  Dionysos  als  des  eigentlichen  Mittelpunktes  der  gesamten 
Vision  ist  nun,  wie  aus  obigen  Erläuterungen  erhellt,  auch  gemäß 
der  Überlieferung  in  der  ältesten  Tragödie  nicht  wirklich  vorhanden, 
sondern  wird  als  vorhanden  vorgestellt;  das  heißt:  die  Tragödie  war 
zu  allererst  nicht  Drama,  sondern  Chor.  Erst  später,  als  man  daran- 
ging, die  Visionsgestalt  sichtbar  darzustellen,  den  Gott  real,  in 
Objektivation  zu  zeigen,  begann  das  Drama  im  engsten  Sinne  des 
Wortes.  Denn  jetzt  hatte  der  dithyrambische  Chor  die  Aufgabe,  die 
Stimmung  der  Zuschauer  so  stark  zu  erregen,  daß  sie  den  Gott 
auch  tatsächlich  nahmen  und  nicht  etwa  bloß  den  vermummten 
Schauspieler  sahen :  sie  erblickten  in  der  tragischen  Person  eine  aus 
ihrer  eigenen  Verzückung  heraus  geborene  leibhaftige  Visionsgestalt. 
Psychologisch  läßt  sich  dieser  Vorgang  etwa  so  erklären,  daß  der 
Zuschauer  das  vor  seiner  Seele  schwebende  Bild  des  Gottes  auf  jene 
maskierte  Gestalt  übertrug.  Dies  konnte  er  aber  nur  infolge  jenes 
apollinischen  Traum zustandes  tun,  in  welchem  sich  die  Welt  des 
Tages  verschleiert  und  eine  neue  Welt,  zwar  deuthcher,  aber 
schattengleicher  in  stetem  Wechsel  vor  unserem  Auge  sich  entrollt. 
Daraus  ergibt  sich  der  Stilgegensatz  zwischen  der  dionysischen 
Lyrik  des  Chors   und    der  apollinischen    Traumwelt   der  Szene.    In 


—     131     — 

diesen  apollinischen  Erscheinungen,  in  denen  sich  Dionysos  objekti- 
viert, fließt  nämlich  nicht  mehr  wie  in  der  Musik  des  Chors 

„ein  ewiges  Meer, 
ein  wechselnd  Weben, 
ein  glühend  Leben", 

sondern  die  Deutlichkeit  und  Festigkeit  der  epischen  Gestaltung. 
Nur  darum  also  ist  der  Dialog  der  griechischen  Tragödie  von  so 
einfacher  und  doch  so  schöner  Struktur.  Denn  er  ist  das  Abbild 
des  Hellenen,  dessen  Natur  sich  im  Tanze  ofienbart.  Im  Tanze 
nämlich  ist  die  größte  Kraft  nur  potentiell,  während  sie  erst  durch 
die  Geschmeidigkeit  der  Bewegung  aktuahsiert  wird.  Und  darum 
staunen  wir,  mit  welch  einfachen  Mitteln  Sophokles  imstande  war, 
seine  tragischen  Helden  so  bestimmt  und  so  durchsichtig  zu 
zeichnen,  daß  wir  wähnen,  bis  auf  den  innersten  Grund  ihres 
Wesens  blicken  zu  können.  Wenn  wir  vom  Charakter  des  Helden 
jedoch  absehen  und  in  den  Mythos  eindringen,  so  erleben  wir  ein 
ganz  merkwürdiges  Phänomen,  das  sich  am  besten  durch  ein  um- 
gekehrtes optisches  erklären  läßt:  es  ist  eine  bekannte  Tatsache, 
daß  wir,  wenn  wir  in  die  Sonne  schauen  und  uns  dann  plötzlich 
abwenden,  vor  den  Augen  dunkle  Flecken  sehen,  gewissermaßen 
als  ein  Heilmittel  gegen  die  Blendung.  Nun  sind  mutatis  mutandis 
die  apollinischen  Erscheinungen  der  tragischen  Helden  nichts  anderes 
als  notwendige  Erzeugnisse  unseres  Blickes  in  das  Innere  der 
Natur  oder,  wenn  wir  im  Bilde  bleiben,  leuchtende  Flecken  zur 
Heilung  unseres  von  einer  grausigen  Nacht  verletzten  Blickes; 
diese  apollinischen  Erscheinungen,  in  denen  sich  Dionysos  objekti- 
viert, sind  nicht  mehr,  wie  die  Musik  des  Chors,  die  nur  empfundenen, 
noch  nicht  Bilder  gewordenen  Kräfte  des  Dionysosdieners:  jetzt 
redet  Dionysos  als  „epischer  Held,  fast  mit  der  Sprache  Homers". 
Mit  demselben  Rechte  also,  mit  dem  wir,  gestützt  auf  die  Über- 
lieferung, wissen,  daß  die  älteste  griechische  Tragödie  nur  die 
Leiden  des  Dionysos  zum  Gegenstande  hatte,  können  wir  die  Be- 
hauptung aufstellen,  daß  alle  berühmten  Gestalten  der  griechischen 
Bühne  bis  auf  Euripides  nur  Masken  jenes  Dionysos  sind.  Dadurch 
erklärt  sich  jene  mit  Recht  so  sehr  bewunderte  typische  IdeaUtät 
der  tragischen  Gestalten.  Man  hat  sogar  behauptet,  daß  alle 
Individuen  als  Individuen  komisch  und  daher  untragisch  wären. 
Wäre  dem  in  der  Tat    so,    so  müßten  wir  daraus  folgern,    daß  die 

9* 


—     132     — 

Hellenen  für  wirkliche  Individualitäten  auf  der  Bühne  eine  Ab- 
neigung empfunden  hätten.  Da  aber  im  hellenischen  Wesen  die 
platonische  Unterscheidung  und  Wertabschätzung  der  Idee  gegen- 
über dem  Idol  tief  begründet  ist,  wäre  jene  Behauptung  nicht  falsch. 
Denn  in  der  platonischen  Terminologie  ließe  sich  obige  Behauptung 
etwa  so  formulieren:  der  eine  wirkliche,  reale  Dionysos,  die 
platonische  Idee,  Idia,  sldog,  nagdösiy^Kx,  erscheint  in  einer  Vielheit 
der  Gestalten,  Abbilder  der  Idee,  dÖGila,  fii^i^^ata,  also  in  der  je- 
weihg  erforderhchen  Maske  eines  Helden  in  das  Netz  des  Einzel- 
willens verstrickt.  Daß  aber  der  Gott  auf  dieser  Stufe  mit  epischer 
Bestimmtheit  und  DeutUchkeit  erscheint,  ist  nur  eine  Folge  jener 
apollinischen  Verzückung,  durch  welche  der  Chor  seinen  dionysischen 
Zustand  in  gleichnisartigen  Erscheinungen  erfaßt.  Die  tragische 
Person  aber  ist  nichts  anderes  als  der  leidende  Dionysos,  der  die 
Leiden  der  Individuation  an  sich  erfährt.  Und  zwar  ist  sie  jener 
Dionysos,  von  dem  der  Mythos  erzählt,  er  sei  von  den  Titanen  zer- 
stückelt und  später  aus  diesem  Grunde  als  Zagreus^)  verehrt 
worden.  Dieser  Mythos  läßt  die  Deutung  zu,  daß  wir  den  Zustand 
der   Individuation    als  Quell    alles  Leidens    uns    zu    denken  haben: 


1)  Der  unter  dem  Einflüsse  des  Orphismus  entstandene  Mythos  er- 
zählt: Zagreus  ward  von  Zeus  mit  seiner  Tochter  ,Persephone  gezeugt  und 
gelangte  schon  als  Kind  zu  Ruhm  und  Ehre,  da  er  ausersehen  war,  des 
Vaters  Thron  und  Donnerkeil  zu  erben.  Hera  jedoch,  die  auf  die  Liebeskinder 
ihres  Gemahls  stets  ein  wachsames  Auge  hielt,  verursachte  Aufruhr  bei  den 
Titanen  gegen  Zagreus.  Diese  stürmen  seinen  Thron:  vergeblich  sucht  er 
durch  allerlei  Verwandlungen  ihnen  zu  entrinnen.  Als  Stier  wird  er  schließ- 
lich doch  von  ihnen  bezwungen,  sie  reißen  ihn  in  Stücke  und  hätten  ihn 
bis  zum  letzten  Fetzen  aufgefressen,  wenn  nicht  Athene  das  Herz  des  ge- 
töteten Gottes  gerettet  hätte.  Diese  brachte  es  dem  Zeus,  der  es  sodann 
verschlang.  Aber  aus  diesem  Herzen  entsteht  der  neue  Dionysos,  Zeus' 
und  Semeies  Sohn,  in  dem  Zagreus  wieder  auflebt.  Die  Titanen  vernichtete 
der  zornige  Zeus  mit  seinem  Donnerkeil:  und  nachdem  sie  zu  Asch^e  ver- 
brannt und  zu  Erde  geknetet  waren,  bildete  Zeus  aus  ihnen  die  Menschen. 
Da  die  Titanen  Dionysos  in  sich  aufgenommen  hatten,  so  sind  im  Menschen 
dionysische  und  titanische,  das  heißt,  gute  und  böse  Elemente  gemischt. 
Titanisch  ist  der  Körper,  dionysisch  die  Seele.  Der  Mensch  muß  also 
trachten,  seine  Seele  von  den  Banden  des  Körpers  zu  befreien.  Diese  Be- 
freiung fand  statt  während  der  Dionysosfeier.  Solch  eine  Feier  bestand  nun 
darin,  daß  des  Gottes  Dienerinnen  beim  Scheine  von  Fackeln,  unter  dem 
Getöse  von  ehernen  Becken  und  großen  Pauken,  unter  Flötenspiel  auf- 
geregte Tänze   aufführten.   Unter  gellendem  Jauchzen  rasten  sie   bis   zur 


—     133     — 

aus  dem  Lächeln  dieses  Gottes  entstanden  die  olj'-mpischen  Götter, 
aus  seinen  Tränen  die  Menschen.  Nun  ging  aber  das  ganze  Sehnen 
der  Mysten  nach  einer  Wiedergeburt  des  Dionysos,  welche  als  das 
Ende  der  Individuation  zu  verstehen  ist.  Ist  jedoch  das  Menschen- 
herz von  diesem  Sehnen  und  solchem  Hoffen  erfüllt,  so  liegt  ein 
Freudenstrahl  auf  der  in  Individuen  zertrümmerten  Welt. 

In  diesen  Ausführungen  sind  bereits  alle  Bestandteile  einer  pes- 
simistischen Weltbetrachtung  und  zugleich  die  Mysterienlehre  (1er 
Tragödie  enthalten :  die  fundamentale  Erkenntnis  von  der  Einheit 
alles  Seienden,  Betrachtung  der  Individuation  als  des  Urgrundes 
aller  Übel,  der  Kunst  als  der  einzigen  Hoffnung,  daß  man  den 
starren  Bann  der  Individuation  werde  lösen  können. 

Wie  bereits  erwähnt,  gehört  das  homerische  Epos  der  olym- 
pischen Kultur  an.  Jetzt  aber  sehen  wir,  wie  die  das  Epos  bildenden 
Mythen  durch  die  Tragödie  gleichsam  umgeboren  werden,  .wie  auf 
die  sogenannte  olympische  Kultur  eine  noch  tiefere  Weltbetrachtung 
folgte.  Diese  jetzt  einsetzende  liebevolle  Betrachtung  der  Natur  brachte 
das  Titanengeschlecht,  von  dessen  Niederwerfung  die  Mythen  uns 
erzählen,  sozusagen  aus  dem  Tartaros  wieder  ans  Licht  und  schaute 


völligen  Erschöpfung  durch  die  Flur  und  im  „heiligen  Wahnsinn"  stürzten 
sich  die  Mänaden  auf  die  Tiere,  die  sie  zum  Opfer  erkoren;  sie  zerreißen  sie, 
mit  den  Zähnen  reißen  sie  blutiges  Fleisch  ab,  um  es  zu  verschlingen. 
Berauschende  Getränke  trugen  dazu  bei,  die  Verzückung  bis  zur  Empfindungs- 
losigkeit zu  steigern.  Die  Teilnehmer  selbst  versetzen  sich  in  Raserei,  sie 
geraten  in  Ekstase.  Die  Seele  tritt  aus  dem  Leibe  heraus:  dem  Körper  ent- 
flohen, vereinigt  sie  sich  in  geheimnisvoller  Weise  mit  dem  Gotte,  den  die 
Mänaden  in  ihrer  Verzückung  sich  nahe  glauben,  den  sie  durch  das  Getöse 
der  nächtlichen  Feier  herbeirufen.  In  der  Wut  der  Begeisterung  fühlen  sie 
sich  als  Geister  aus  dem  Gefolge  des  Dionysos,  ja  sogar  als  eins  mit  dem 
Gotte  selbst.  Als  Stier  war  Dionysos  dargestellt  worden,  und  so  erinnern 
die  Hörner  der  Mänaden  daran,  daß  sie  eins  mit  dem  Gotte  geworden  sind, 
und  auch  das  Verschlingen  von  Stücken  eines  Tieres  scheint  als  ein  Eins- 
werden mit  dem  Gotte  zu  gelten;  Dionysos  ist  in  dem  Tiere  verkörpert; 
indem  sie  es  verzehren,  nehmen  die  Mänaden  den  Gott  in  sich  auf.  Je  öfter 
die  Mänade  diese  bacchantische  Speise  zu  sich  nimmt,  desto  sicherer  ist  sie, 
daß  der  Gott  durch  den  Stoffwechsel  in  ihr  siegen  werde.  —  Die  mittel- 
alterlichen Tänzer  von  St.  Johannes  und  St.  Veit,  die  mit  zuckenden 
Leibern,  mit  fliegendem  Haare  und  stierem,  nach  innen  gerichtetem  Blick  die 
Städte  und  Dörfer  durchrasten,  sind  Zeugen  für  die  Unverwüstlichkeit  der 
dionysischen  Macht. 


—     134     — 

sie  einzig  und  allein  mit  dem  un verhüllten  Auge  der  Wahrheit.  Vor 
dem  Auge  dieser  Göttin  erbleicht  das  trotzige  Titanengeschlecht; 
bis  es  schließlich  durch  die  Faust  des  dionysischen  Künstlers  in  den 
Dienst  des  neuen  Gottes,  des  Dionysos,  gezwungen  wird:  die  neue 
dionysische  Wahrheit  hat  sämtUche  Mythen  als  Symbole  ihrer  Er- 
kenntnisse übernommen  und  denselben  teils  durch  die  Tragödie,  teils 
durch  die  dramatischen  Mysterienfeiern  Ausdruck  verliehen.  Es  fragt 
sich  nun,  welcher  Macht  es  bedurfte,  um  aus  den  Mythen  Vehikel 
dionysischer  Weisheit  zu  machen.  Diese  Macht  lag  in  der 
Musik,  welche  in  der  Tragödie  zur  vollendetsten  Erscheinung  ge- 
langte und  den  Mythos  mit  einer  ganz  neuen,  tiefsinnigen  Deutung 
interpretierte.  Nun  werden  von  einer  aufgeklärten  Zeit  alle  Mythen 
auf  eine  ihnen  angeblich  zugrunde  liegende  historische  Tatsache  re- 
duziert; und  um  die  Zeit,  als  die  griechische  Tragödie  blühte,  war 
das  Volk  der  Hellenen  bereits  auf  dem  Wege,  seinen  gesamten 
mythischen  Jugendtraum  in  teils  willkürlicher,  teils  scharfsinniger 
Weise  zu  einer  historisch-pragmatischen  Jugendgeschichte  umzubilden. 
Nur  so  konnte  es  geschehen,  daß  die  mythischen  Voraussetzungen 
einer  Religion  durch  einen  rechtgläubigen  Dogmatismus  systematisiert 
wurden.  Da  man  sich  aber  trotzdem  bemühte,  die  Glaubwürdigkeit 
dieser  Mythen  aufrecht  zu  erhalten,  bei  diesem  Bestreben  jedoch 
jedes  Weiterwuchern  derselben  perhorreszierte,  riß  jetzt  der  neue 
Genius  dionysischer  Musik  den  ganzen,  schon  absterbenden  Mythos 
der  rein  apollinischen,  homerischen  Welt  an  sich  und  hauchte  ihm 
neues  Leben  ein,  das  die  sehnsüchtige  Ahnung  einer  metaphysischen 
Welt  erregte.  Und  eben  die  Tragödie  war  es,  die  den  Mythen  tiefsten 
Inhalt  und  ausdrucksvollste  Form  verlieh:  „Noch  einmal  erhebt  sich 
der  Mythos,  wie  ein  verwundeter  Held,  und  der  ganze  Überschuß 
von  Kraft,  samt  der  weisheitsvollen  Ruhe  des  Sterbenden,  brennt  in 
seinem  Auge  mit  letztem,  mächtigem  Leuchten." 

Dieser  Mythos,  der  bereits  mit  der  Blüte  der  Tragödie  von 
seiner  ursprünglichen  Lebenskraft  vieles  verloren  hatte,  starb  ganz 
durch  die  Hände  des  Euripides,  welcher  den  natürlichen  Mythos  durch 
einen  nachgeahmten  ersetzte.  Und  wie  diesem  Dichter  der  Mythos 
starb,  starb  ihm  auch  der  Genius  der  Musik:  weil  Euripides  den 
Dionysos  verlassen  hatte,  verließ  ihn  auch  Apollon.  Mochte  daher 
Euripides  alle  möglichen  Leidenschaften  in  seinen  Kreis  bannen, 
mochte  er  sich  immerhin  eine  sophistische  Dialektik  für  seine  Helden 


—     135     — 

zurechtfeilen  —  das  eine  konnte  er  nicht  verhindern:  seine  Helden 
haben  nur  erkünstelte  Leidenschaften  und  ergehen  sich  in  maskierten 
Eeden.  Warum  starb  denn  unter  Euripides  die  Tragödie?  Nur  aus 
dem  Grunde,  weil  er  das  bisher  allmächtige  dionysische  Element  aus 
der  Tragödie  eliminierte  und  sie  auf  undionysischer  Kunst,  Sitte  und 
Weltbetrachtung  neu  aufbauen  wollte.  Mit  dem  allbekannten,  all- 
täglichen Leben,  das  Euripides  darstellt,  hatte  der  Grieche  so  den 
Dichter  wie  die  Tragödie  verloren,  mit  ihnen  aber  auch  den  Glauben 
an  eine  ideale  Vergangenheit,  an  eine  ideale  Zukunft.  Der  Sklavenstand 
kommt  jetzt,  wenigstens  der  Gesinnung  nach,  zur  Herrschaft,  und  die 
„griechische  Heiterkeit"  ist  nur  mehr  die  Heiterkeit  des  Sklaven,  der 
nichts  Schweres  verantworten,  nichts  Großes  erstreben,  nichts  Ver- 
gangenes oder  Zukünftiges  höher  zu  schätzen  weiß  als  das  Gegen- 
wärtige. Allerdings  hat  Euripides  als  Greis  die  Frage  nach  dem 
Werte  des  Dionysischen  seinem  Volke  in  den  BdcKxca  vorgelegt. 
Wohl  wäre  eine  Ausrottung  des  Dionysischen  möglich,  wenn  nur 
nicht  der  Gott  zu  mächtig  wäre.  Selbst  ein  Pentheus,  des  Gottes 
mächtigster  Gegner,  wird  vom  Gotte  in  seinen  Bann  gezogen  und 
läuft  blind  in  sein  Verderben.  Wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn 
wir  in  den  Reden  des  Kadmos  und  des  greisen  Sehers  Teiresias 
des  Dichters  eigene  Meinung  zu  hören  glauben:  man  möge  noch  so 
viel  nachdenken  und  grübeln,  die  Macht  des  Verstandes  reicht  nicht 
hin,  diese  alten  Volkstraditionen  auszurotten;  es  bleibt  daher  nichts 
anderes  übrig,  als  solch  wundersamen  Kräften  gegenüber  sich  diplo- 
matisch vorsichtig  zu  verhalten.  Gleichwohl  aber  sei  es  nicht  un- 
möghch,  daß  der  Gott  wegen  zu  lauer  Teilnahme  zürnen  könne  und 
den  Diplomaten  —  im  Drama  den  Kadmos  —  in  einen  Drachen 
verwandle.  Das  sind  die  Anschauungen  eines  Dichters,  der  während 
seines  langjährigen  Wirkens  mit  zäher  Kraft  dem  Dionysos  wider- 
standen hatte,  um  am  Ende  seines  arbeitsreichen  Lebens  gegen  die 
Ausführbarkeit  seiner  Tendenz  feierlichen  Protest  zu  erheben.  Doch 
umsonst:  „Das  Unzulänghche,  hier  wird's  Ereignis I"  Denn  als  er 
widerrief,  hatte  seine  Tendenz  bereits  gesiegt :  Dionysos  war  bereits 
von  der  Bühne  verbannt  worden  durch  einen  aus  Euripides  redenden 
und  handelnden  Dämon,  dessen  Maske  er  sozusagen  war.  Dieser 
Dämon  war  Sokrates,  die  „fragwürdigste  Gestalt"  des  Altertums, 
mit  dessen  Tendenzen  Euripides  die  Tragödie  des  Aischylos  besiegt 
hatte.   Denn  bei  ihm  ist  die  Tragödie  nicht    mehr  aus  dem  Schöße 


—     136     — 

der  Musik  geboren,  sie  ist  aber  auch  nicht  dramatisiertes  Epos  ganz 
apollinischen  Charakters,  welche  dramatische  Form  nunmehr  als 
die  einzig  mögliche  übrigbUeb.  Das  Ideal  dieses  dramatisierten 
Epos  besteht  darin,  daß  es  die  entsetzlichsten  Dinge  mit  jener  Lust 
am  Scheine  und  der  Erlösung  durch  den  Schein  uns  vorzuzaubern 
vermag.  Fragen  wir  nun  nach  dem  Verhältnis  der  euripideischen 
Kunst  zu  diesem  Ideal  eines  apollinischen  Dramas!  Die  beste  Ant- 
wort gibt  uns  Piaton  in  seinem  Dialoge  „Ion",  wo  ein  jüngerer 
Rhapsode  dem  feierlichen  Rhapsoden  älterer  Zeit  erklärt:  „iya  ydg, 
örccv  iXssivov  xi  liyco,  daxQvcjv  ifinliiTcXavtal  ^ol  ol  ö(pd^aX(ioC'  örav 
XL  (poßsQbv  ^  östvöv,  ÖQ^al  al  xqIx^S  iQxavxav  {fjtb  gjößov  xai  ^ 
Kagdla  jr^jd^"  (535  b).  In  dieser  Äußerung  liegt  nichts  mehr  von 
jenem  epischen  Aufgehen  im  Scheine,  von  der  aflfektlosen  Kühle 
des  wahren  Schauspielers,  der  ganz  Schein  und  Lust  am  Scheine 
ist.  Dagegen  ist  Euripides  der  Schauspieler  mit  dem  „klopfenden 
Herzen",  mit  „den  zu  Berge  stehenden  Haaren".  Denn  als  des 
Sokrates  Gefolgsmann  entwirft  er  den  Plan,  den  er  als  leidenschaft- 
licher Schauspieler  ausführt.  Um  aber  doch  eine  Wirkung  auf  seine  Zu- 
hörer auszuüben,  gebraucht  er  ganz  neue  Erregungsmittel:  anstelle 
apollinischer  Anschauung  kühle,  paradoxe  Gedanken,  an  Stelle 
dionysischer  Entzückungen  feurige  Schauspieler-Affekte,  welche 
aber  beide  höchst  realistisch  sind  und  mit  der  Sphäre  echter  Kunst 
gar  keinen  Zusammenhang  mehr  haben.  Der  Chor  wird  zu  etwas 
ZufälUgem,  zu  einer  auch  wohl  zu  missenden  Reminiszenz  an  den 
Ursprung  der  Tragödie.  Euripides  ist  es  daher  nicht  gelungen,  das 
Drama  auf  das  apolhnische  Element  allein  zu  gründen,  er  hat  sich 
vielmehr  durch  seine  undionysischen  Tendenzen  in  naturalistische 
und  unkünstlerische  verirrt.  So  gelangen  wir  zum  Wesen  des 
ästhetischen  Sokratismus,  der  sich  in  dem  Gesetze  verkörpert: 
„Alles  muß  verständig  sein,  um  schön  zu  sein."  Von 
diesem  Gesetze  ausgehend,  hat  Euripides  die  Sprache,  die  Charaktere, 
den  dramatischen  Aufbau  und  die  Chormusik  gemessen  und  rekti- 
fiziert. Ein  klassisches  Beispiel  für  diese  rationalistische  Methode  ist 
der  euripideische  Prolog.  Wozu,  fragen  wir,  erzählt  uns  im  Prolog 
eine  einzeln  auftretende  Person,  wer  sie  sei,  was  der  Handlung 
vorausgehe,  was  bis  jetzt  geschehen  sei  usw.?  Die  Wirkung  der 
Tragödie  lag  ja  doch  niemals  in  der  epischen  Spannung,  in  jener 
Ungewißheit,  was  geschieht  und  geschehen  werde,    sondern  nur  in 


—     137     — 

jenen  großen  rhetorisch-lyrischen  Szenen,  in  denen  Leidenschaft  und 
Dialektik  des  Haupthelden  zu  einem  mächtigen  Strome  anschwollen. 
Zum  Pathos  bereitete  alles  vor,  nie  aber  zur  Handlung.  So  arbeiteten 
Aischylos  und  Sophokles  mit  den  geistreichsten  Mitteln  ihrer  Kunst, 
um  den  Zuhörern  alle  zum  Verständnis  dienenden  Fäden  in  den 
Szenen  zufällig  an  die  Hand  zugeben,  während  Euripides  schließ- 
lich immerhin  die  Wahrnehmung  zu  machen  sich  einbilden  konnte, 
daß  durch  die  Inanspruchnahme  der  Zuschauer,  das  Rechenexempel 
der  Vorgeschichte  aufzulösen,  die  dichterische  Schönheit  und  das 
Pathos  der  Exposition  Einbuße  erleiden  könnten.  Um  nun  diesen 
Nachteil  ja  sicher  zu  vermeiden,  verlegte  Euripides  den  Prolog  vor 
.die  Exposition  und  ließ  ihn  durch  eine  Gottheit  sprechen,  welche 
dem  Publikum  für  den  Verlauf  der  Tragödie  geradezu  garantieren 
und  jeden  Zweifel  am  Mythos  benehmen  mußte.  Dieselbe  „göttliche 
Wahrhaftigkeit"  gebraucht  Euripides  am  Schlüsse  seines  Dramas, 
um  die  Zukunft  seiner  Helden  sicherzustellen:  den  berüchtigten 
„deus  ex  machina".  Fast  könnte  man  von  Euripides,  dessen  Dramen 
der  Resonanzboden  seiner  Erkenntnisse  sind,  sagen,  er  habe  den 
Satz  des  Anaxagoras  verwirklicht:  „Daß  im  Anfange  alles  beisammen 
gewesen  sei;  da  sei  aber  der  vovg  gekommen  und  habe  erst 
Ordnung  geschaffen."  Auf  Grund  solcher  Überzeugungen  mußten 
dem  Euripides  die  früheren  Dichter  wie  trunken  vorkommen, 
während  er  der  einzig  nüchterne  war;  das  heißt,  schufen  jene  mehr 
unbewußt,  so  schuf  Euripides  mit  Bewußtsein,  dem  ästhetischen 
Gründsatze  huldigend :  „Alles  muß  bewußt  sein,  um  schön  zu 
sein."  Dieser  Satz  aber  hat  seine  Parallele  in  dem  sokratischen : 
„Alles  muß  bewußt  sein,  um  gut  zu  sein."  So  erscheint  uns 
also  Euripides  als  der  Dichter  des  ästhetischen  Sokratismus :  im 
Bunde  mit  Sokrates  bekämpft  er  das  Dionysische  in  der  älteren 
Kunst.  Und  wie  Dionysos  der  Sage  nach  vor  König  Lykurgos  floh, 
um  in  den  Tiefen  des  Meeres  Zuflucht  zu  finden,  floh  jetzt  Dionysos 
vor  Euripides  und  rettete  sich  in  den  Fluten  eines  Mystizismus,  der 
allmählich  die  ganze  Welt  überzog.  Daß  Sokrates  mit  Euripides  in 
gewissem  Zusammenhange  stand,  legt  die  in  Athen  zirkulierende 
Sage  nahe:  Sokrates  habe  dem  Euripides  beim  Dichten  geholfen. 
Wui den  doch  beide  Männer  in  einem  Atem  genannt,  wenn  es  galt, 
die  Volksverderber  zu  brandmarken,  wenn  man  der  Tüchtigkeit  der 
einstigen  Marathonkämpfer  die  Aufklärungsapostel    gegenüberstellte. 


—     138     — 

In  diesem  Sinne  äußert  sich  bekanntlich  Aristophanes,  dem  Sokrates 
als  Inbegriff  und  Spiegel  aller  sophistischen  Bestrebungen  erscheint. 
Aber  abgesehen  davon  läßt  sich  nach  Nietzsche  ein  gewisser 
Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  Männern  aus  der  antiken 
Volksempfindung  erweisen.  Sokrates,  der  ein  Feind  der  tragischen 
Muse  war,  besuchte  das  Theater  nur  dann,  wenn  Euripides  eines 
seiner  Stücke  aufführte.  Ferner  stehen  diese  beiden  Männer  enge 
beieinander  in  dem  berühmten  Ausspruche  des  delphischen  Orakels: 

„Zo(f>bg  2o(poxX'^Sf  aoq}aiT6Qog  d'  EvQinidr}g' 
^Av8q&v  8s  TtavToav  ZcaxQUTijg  aotpöatarog.'^ 

In  diesem  Ausspruche  hat  Sokrates  als  der  Weiseste  den 
ersten  Preis,  den  zweiten  erhält  Euripides,  den  dritten  Sophokles, 
der  sich  gegen  Aischylos  rühmte,  er  tue  das  Rechte,  und  zwar, 
weil  er  wisse,  daß  es  das  Rechte  sei;  „ZbgpoxXiJg  yovv  G)vsidit,sv 
avxm  sc  AhxvXoj,  ort  al  xal  tä  diovta  Ttoist  dXX'  ovx  £iö6g  ys" 
(Athen.,  22  a).  Jedenfalls  bildete  der  Grad  der  HeUigkeit  dieses 
Wissens  das  Kriterium  für  die  Beurteilung  der  drei  Männer. 
Aber  am  schärfsten  betonte  Sokrates  den  Wert  des  Wissens  und 
der  Einsicht  in  dem  bekannten  Ausspruche,  er  wisse,  daß  er 
nichts  wisse,  während  alle  anderen  Berühmtheiten  des  damaligen 
Athens  nur  „aus  Instinkt*  ihrem  Berufe  oblägen:  „ovtog  iihv  otstaC 
XL  sldsvai  ovx  sldcbs,  iyc)  df,  ägnsQ  o^  ovx  olda,  ov  dk  otoficci-' 
ioLxa  yovv  xovxov  ys  6^ixq&  xivi  aijxm  xovxco  6o(p(bxsQog  slvai, 
oxt,  a  fi^  olöttj  ovdb  otofiai  sldivat"  (Piaton,  Apol.  21  d).  Von 
diesem  Ausspruche  aus,  mit  dem  wir  das  Herz  des  Sokratismus  be- 
rühren, verurteilte  er  die  bestehende  Kunst  und  die  bestehende 
Ethik  —  überall  sah  er  nur  den  Mangel  an  Einsicht  und  die  Verkehrt- 
heit des  Vorhandenen.  Einen  Schlüssel  zum  Verständnisse  des  Wesens 
des  Sokrates  bildet  das  sogenannte  öaifiöviov:  in  besonderen  Lagen, 
in  denen  sein  ungeheurer  Verstand  versagte,  mahnte  ihn  eine 
innere  Stimme  stets  ab.  Mithin  zeigt  sich  die  instinktive  Weisheit 
bei  dieser  ganz  abnormalen  Natur  nur  dann,  wenn  es  galt,  dem 
bewußten  Erkennen  hie  und  da  hindernd  entgegenzutreten. 
Während  sonst  bei  produktiven  Naturen  der  Instinkt  schöpferisch- 
affirmative Kraft  ist  und  das  Bewußtsein  sich  kritisch  und  ab- 
mahnend gebärdet,  wird  umgekehrt  bei  Sokrates  der  Instinkt  zum 
Kritiker,  das  Bewußtsein  zum  Schöpfer.  In  Sokrates  ist  also  die 
logische  Natur  durch  eine  Superfötation  ebenso  exzessiv  entwickelt 


—     139     — 

wie  in  einem  Mystiker  jene  instinktive  Weisheit.  Daneben  aber  war 
es  dem  logischen  Triebe  des  Sokrates  versagt^  sich  gegen  sich  selbst 
zu   kehren.    In  der  Tragödie    mußte   er  demnach    etwas  recht  Un- 
philosophisches  erblicken,  von  dem  er  seine  Schüler  möglichst  fern, 
zuhalten  suchte.  Mit  welchem  Erfolge  ihm  das  gelang,  ersehen  wir 
an    Piaton,     der    seine    Dichtungen    verbrannte,     um    Schüler    des 
Sokrates  zu  werden  und  gleich  diesem  in  der  tragischen  Kunst  nur 
etwas    Angenehmes,    aber    nichts   Nützliches    zu    erblicken.     Aber 
gleichwohl    hat    Piaton,     der    bei    Verurteilung    der    Kunst    dem 
Zynismus    seines   Meisters   folgte,    eine  Kunstform  geschaffen,    die 
der  vorhandenen    und  von  ihm  verworfenen  innerlich  verwandt  ist. 
Den  Vorwurf,    den  Piaton    der   älteren  Kunst    machte,    sie  sei  nur 
Nachahmung    eines    Scheinbildes    (das    wahrhaft    Seiende    sind   die 
iddai ;  die  ganze  empirische  Welt  ist  aber  nichts  anderes  als  sldaXa, 
(iLfiT^^axa  der  lösai;   da  nun  die  Kunst  Nachahmung,    fAL^rieigy    der 
Natur  ist,  so  sind  die  Künste  ^i^rj^arcc  der  fitftiiftara,  sekundäre  Ab- 
bilder oder  tQltav  ditb  rfjg  dXrj&slag),  durfte  er  gegen  das  neue  Kunst- 
werk nicht  erheben.    Es  ergibt  sich  also,  daß  Piaton  in  seinem  Be- 
streben, über  die  Wirklichkeit  hinauszugehen  und  die  jener  Pseudo- 
wirklichkeit  zugrundeliegende  Idee  darzustellen,  auf  einem  Umwege 
dorthin    gelangte,    wo  er   als  Dichter   sich    völlig    heimisch   fühlen 
mußte.  Hat  die  Tragödie  alle  früheren  Kunstgattungen  in  sich  stil- 
voll vereinigt,    darf   das  nämliche    von    den   platonischen  Dialogen 
gelten,    die,    durch  Mischung   aller  vorhandenen    Stile    und  Formen 
erzeugt,  „usta^v  Ttoirifiatog  xal  Trstov  Xoyov"  liegen.  Es  war  also  der 
platonische    Dialog    gleichsam    der  Kahn,    auf  den    sich    die  schiff- 
brüchige ältere  Tragödienpoesie  rettete.  (Cf.  Wilamowitz:    „Aus  der 
athenischen    Tragödie,    die  mehr  ist,    denn  ein  Schauspiel,  stammt 
als  echtes  Kind  der  Dialog,  der  ihr  Erbe  antritt,  als  sie  verstummt.") 
Von  Sokrates  als  Steuermann  wird   nun  dieser  Kahn    in  eine  ganz 
neue  Welt  gerudert,    die  diesen  merkwürdigen  Aufzug  nicht   genug- 
anstaunen kann.    Und  so  gab  Piaton  der  Nachwelt  das  Vorbild  des 
Romanos,    welcher  als  die  unendlich  gesteigerte  äsopische  Fabel  zu 
bezeichnen  ist,  in  welcher  die  Poesie  als  die  ancilla  der  dialektischen 
Philosophie   lebte.    Infolge    des    Überwucherns    der   philosophischen 
Gedanken  wurde  die  Kunst    an  den  Stamm   der  Dialektik   förmlich 
gebunden.  Sokrates,  der  dialektische  Held  der  platonischen  Dramen, 
kommt  den  euripideischen  Helden  ziemlich  nahe:    gleich  jenen  ver- 


—     140     — 

teidigt  er  durch  Grund  und  Gegengrund  seine  Handlungen.  Und  das 
optimistische  Element,  das  in  jedem  Dialog  am  Schlüsse  sein  Jubel- 
fest begeht,  war  in  die  Tragödie  eingedrungen  und  hatte  diese 
förmlich  zur  Selbstvernichtung  gezwungen.  Denn  gemäß  den  drei 
Sätzen  des  Sokrates:  „Tugend  ist  Wissen";  „Nur  aus  Un- 
wissenheit wird  gesündigt";  „Der  .Tugendhafte  allein 
ist  glücklich",  als  den  Grundformen  des  Optimismus,  mußte  der 
tugendhafte  Held  der  Tragödie  Dialektiker  sein ;  es  mußte  zwischen 
Tugend  und  Wissen,  Glaube  und  Moral  ein  sichtbarer  Zusammen- 
hang bestehen,  die  transzendentale  Gerechtigkeitslösung  des 
Aischylos  mußte  dem  flachen  Prinzip  der  poetischen  Gerechtigkeit 
mit  dem  deus  ex  machina  Platz  machen.  Dieser  sokratisch- 
optimistischen  Bühnenwelt  mußte  der  Chor,  überhaupt  der  ganze 
musikalisch-dionysische  Untergrund  der  Tragödie  als  etwas  Zu- 
fälhges,  das  man  ganz  gut  missen  kann,  erscheinen,  während  sich 
doch  früher  ergeben  hat,  daß  nur  der  Chor  Ursache  der  Tragödie, 
des  Tragischen  überhaupt  war.  Bereits  bei  Sophokles  beginnt  der 
dionysische  Boden  der  Tragödie  zu  wanken.  Hatte  noch  bei 
Aischylos  der  Chor  den  Hauptanteil  an  der  Aktion,  so  hatte  ihn 
Sophokles  den  Schauspielern  fast  koordiniert,  womit  sein  ursprüng- 
liches Wesen  natürlich  schon  zerstört  war.  Diese  Koordinierung  des 
Chors,  die  Sophokles  auf  Grund  seiner  Erfahrung  und,  wie  berichtet 
wird,  auch  in  einer  Schrift  empfohlen  hatte,  ist  der  erste  Schritt 
:zur  Vernichtung  des  tragischen  ^Chores  gewesen,  deren  weitere 
Phasen'sich  bei  Euripides,  Agathen  und  der  neueren  Komödie  ver- 
folgen lassen.  Die  optimistische  Dialektik  vertreibt  mit  ihren 
Syllogismen  die  Musik  aus  der  Tragödie,  die  sich  doch  nur  als 
sichtbare  SymboUsierung  der  Musik  verstehen  läßt. 

Bestand  nun  dieser  Gegensatz  zwischen  dem  Sokratismus 
und  der  Kunst  mit  Notwendigkeit?  Wenn  wir  den  Schilderungen 
des  Sokrates  bei  Piaton  Glauben  schenken  dürfen,  so  hatte  Sokrates 
der  Kunst  gegenüber  gegen  das  Ende  seines  Lebens  das  Gefühl 
einer  vielleicht  versäumten  Pflicht.  Am  besten  ist  es,  wir  lassen 
Piaton  selbst  erzählen:  „TtoXXdxig  ^ol  (poitciv  xb  avxb  ivvnvvov  iv 
tm  nagsld'ovti  ßltp  äXXoz'  iv  äXXrj  örpsi  cpatvö^svov  ttc  avxh  dh  XiyoV 
„d)  Z^xgatsgj'*  ifprj,  „iiOveixTiv  noisi  xal  iQyd^ovl'*  Er  beruhigt  sich 
aber  bei  dem  Bewußtsein,  sein  ganzes  Leben  hindurch  Musik  ge- 
macht  zu    haben;    denn    die  Philosophie    sei  ja   die    vortrefflichste 


—     Ul     —    . 

Musik,  „c>g  (pikoeotpiag  oi)67}g  ^syCötrig  ^ovöwilg".  Jetzt  nun,  wenn 
ihm  der  Traum  befehle,  mit  der  gemeinen  populären  Musik,  „tavtriv 
%^v  dri^G)drj  fiov6LKi^v"y  sich  zu^beschäftigen,  dürfe  er  diesem  Gebote 
nicht  ungehorsam  sein.  Im  Gefängnisse  betrieb  er  dann  auch  diese 
Art  Musik,  dichtete  „tb  elg  xbv  ^AitdXlca  jcgooCiiLov"  und  brachte 
Fabeln  des  Aisopos,  die  ihm  gerade  einfielen,  in  Verse  „Aio6nov 
^'ö&ovg,  olg  jtQ^xoig  ivhvxov,  iTCoCrjGa'^  Etwas  dem  dai^Loviov  Ähn- 
liches muß  ihn  zu  diesem  Entschlüsse  bewogen  haben:  seine 
apollinische  Einsicht,  daß  er  ein  edles  Götterbild  nicht  verstehe  und 
Gefahr  laufe,  durch  sein  Nichtverstehen  sich  an  einer  Gottheit  zu 
versündigen.  Er  mußte  sich  schheßlich  doch  gestehen,  daß  das  ihm 
nicht  sofort  Verständliche  nichts  Unverständiges  überhaupt  sei,  daß 
die  Kunst  vielleicht  doch  ein  notwendiges  Korrelat  und  Supplement 
der  Wissenschaft  sei. 

Aber  wie  ist  es  gekommen,  daß  der  Einfluß  des  Sokrates  sich 
nicht  nur  auf  die  ganze  Mit-,  sondern  auch  auf  die  ganze  Nachwelt 
verbreitet  hat,  daß  er  zu  einer  Neuschaffung  der  Kunst  immer 
wieder  vom  neuen  nötigt,  daß  er  bei  seiner  Unendhchkeit  auch 
die  Unendlichkeit  der  Kunst  verbürgt?  Diese  Frage  findet  ihre 
Beantwortung  in  der  Tatsache,  daß  Sokrates  den  Typus  des 
theoretischen  Menschen  darstellt,  jenes  Menschen  also,  indem 
der  unerschütterliche  Glaube  lebendig  ist,  daß  das  Denken  an  dem 
Leitfaden  der  Kausalität  bis  in  die  tiefsten  Abgründe  des  Seins 
reiche  und  daß  eben  dieses  Denken  das  Sein  nicht  nur  zu  er- 
kennen, sondern  sogar  zu  korrigieren  imstande  sei.  Dieser 
metaphysische  Wahn,  als  Instinkt  der  Wissenschaft  beigegeben, 
führt  sie  stets  zu  ihren  Grenzen,  an  denen  sie  in  Kunst  um- 
schlagen muß.  So  betrachtet,  erscheint  uns  Sokrates  als  eine  bis 
dahin  unerhörte  Daseinsform:  als  der  erste  Mensch,  der  an  Hand 
jenes  Instinktes  der  Wissenschaft  nicht  bloß  leben,  sondern  auch 
sterben  konnte:  er  ist  der  Typus  des  theoretischen  Menschen; 
deshalb  wurde  der  sterbende  Sokrates  das  neue,  nie  geschaute 
Ideal  der  griechischen  Jugend,  aber  auch  das  Wappenbild  über  dem 
Eingangstore  der  Wissenschaft,  das  einen  jeden  an  deren  Be- 
stimmung erinnert,  daß  sie  das  Dasein  begreiflich,  mithin  ge- 
rechtfertigt erscheinen  macht.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  am 
Grunde  der  Wissenschaftlichkeit,  im  Wesen  der  Logik  ein  Optimis- 
mus ruht,  der  in  jedem  Schlüsse  sein  Jubelfest  feiert  und  allein  in 


—     142     — 

kühler  Helle  und  Bewußtheit  atmen  kann,  jedoch  dazu  verführt, 
das  Leben  selbst  in  jeglicher  Gestaltung  als  der  Güter  höchstes 
und  als  etwas  allein  Erstrebenswertes  anzusehen  und  es  so  zu 
jener  verderbten,  niederen  Lebensauffassung  bringt,  die  den  nach- 
sokratischen  Griechen  den  verachtenden  Namen  der  „graeculi" 
eintrug.  Allein  bei  dieser  Erforschung  des  Daseins,  bei  der,  wenn 
die  Gründe  der  Logik  nicht  reichen,  der  Mythos  erforderlich  ist, 
langt  auch  der  schärfste  und  konsequenteste  Logiker  an  der 
Peripherie  seines  Wissenskreises  an  und  sieht  sich  dem  Un aufhell- 
baren ratlos  gegenüber.  In  diesem  Momente  aber  bricht  in  ihm  eine 
neue  Erkenntnis  durch,  die  tragische  Erkenntnis,  die,  um  nur 
ertragen  zu  werden,  als  Schutz-  und  Heilmittel  der  Kunst  bedarf. 
Die  Schilderungen,  die  Piaton  vom  Sokrates  im  Gefängnisse  gibt, 
zeigen  uns  also  nichts  anderes  als  die  Tatsache,  wie  auch  bei 
Sokrates  die  Gier  der  unersättlichen  optimistischen  Erkenntnis  in 
tragische  Resignation  und  Kunstbedürftigkeit  umschlägt,  obgleich 
die  nämliche  Gier  auf  ihren  niedersten  Stufen  sich  als  kunstfeindlich 
erwiesen  hatte. 

Deutsche  Philosophie  war  es,  welche  in  ihren  größten 
Vertretern,  Kant  und  Schopenhauer,  die  dem  Erkennen  selbst  die 
natürlichen  Grenzen  zogen,  jener  Erkenntnis  zum  siegreichen  Durch- 
bruch verhalf  und  die  erste  Hoffnung  auf  die  Wiedergeburt  der 
Tragödie,  die  Vernichtung  unserer  durchaus  sokratischen,  flach- 
optimistischen Kultur  erweckte.  Die  zweite  Macht  aber  ist  die 
deutsche  Musik,  die  uns  ein  Wiedererwachen  des  dionysischen 
Geistes  verbürgt  und  in  der  musikalischen  Tragödie  Richard 
Wagners  die  Form  geschaffen  hat,  aus  welcher  der  deutsche 
Mythos  sich  in  siegreicher  Kraft  erheben  und  im  untrennbaren 
Verein  mit  der  Musik  der  dionysischen  Befähigung  des  deutschen 
Volkes  —  durch  Leiden  schön  zu  werden  —  ein  unvergängliches 
Denkmal  setzen  wird.  „Wenn  der  Deutsche  zagend  sich  nach  einem 
Führer  umblicken  sollte,  der  ihn  wieder  in  die  längst  verlorene 
Heimat  zurückbringe,  deren  Wege  und  Stege  er  kaum  noch  kennt 
—  so  mag  er  nur  dem  wonnig  lockenden  Rufe  des  dionysischen 
Vogels  lauschen,  der  über  ihm  sich  wiegt  und  ihm  den  Weg  dahin 
deuten    will."    Dieser    „dionysische    Vogel"    ist   natürlich   Wagner! 


XII.  DER  STREIT  UM  DEN  WERT  DIESES  WERKES. 

Drei  ganz  verschiedene  Mächte  —  Philologie,  Kunst  und 
Philosophie  —  standen  an  der  Wiege  dieses  Buches  und  ebenso 
verschieden  ist  ihr  Einfluß.  Und  doch  schuf  Nietzsches  Genius 
daraus  eine  der  kunstvollsten  Synthesen  und  läßt  die  hinreißende 
Schönheit  der  Darstellung,  die  sich  durch  keine  Inhaltsangabe 
wiedergeben  läßt,  uns  nachempfinden,  mit  welcher  Souveränität  der 
junge  Philologe  den  Stoff  beherrschte.  Bereits  in  seiner  Universitäts- 
vorlesung „Einleitung  in  den  Oedipus  rex  des  Sophokles",  1870, 
hat  Nietzsche  seine  in  „der  Geburt  der  Tragödie"  ausgesprochenen 
Anschauungen  in  mehr  allgemeiner  und  populärer  Weise  seinen 
Hörern  zugänglich  gemacht.  Mit  Recht  bemerkt  daher  der  Heraus- 
geber von  Nietzsches  philologischen  Schriften,  Prof.  Ernst  Holzer: 
„Es  ist  an  sich  nicht  ohne  Interesse,  zu  sehen,  wieviel  Nietzsche 
vom  Katheder  herab  von  seiner  Vision  des  Apollinisch-Dionysischen 
vortrug."  Was  zunächst  den  Gesamtaufbau  des  Werkes  betrifft,  so 
zeichnet  es  sich  durch  eine  wundersame  Harmonie  und  geradezu 
meisterhafte  Komposition  aus;  vielleicht  bei  keinem  anderen  Werke 
Nietzsches  hat  man  so  sehr  das  zwingende  Gefühl  des  Organischen, 
wie  gerade  in  „der  Geburt  der  Tragödie".  Dieses  Werk,  das  der  ernst- 
haft unternommene  Versuch  ist,  auf  Grund  einer  merkwürdigen 
Verknüpfung  Schopenhauer- Wagnerscher  Anschauungen  mit  Lehren 
F.  A.  Langes  das  Hellenentum  zu  neuem  Leben  zu  erwecken,  zeigt 
uns  den  jungen  Nietzsche  als  einen  bereits  gewandten  und  erfolg- 
reichen Forscher  auf  dem  Gebiete  der  historischen  Psychologie,  sein 
feines  Verständnis  für  alles  Rätselhafte  und  mehr  Instinktive  in 
der  Entwicklung  der  Menschheit  und  sein  feines  Ahnungs-  und 
Nachempfindungsvermögen  für  den  Einfluß  dunkler  Triebe. 

Ganz  unter  F.  A.  Langes  Einfluß  stehend,  dessen  „Geschichte 
des  Materialismus"  ihm  ein  Buch  war,  „das  unendlich  mehr  gibt 
als  der  Titel  verspricht,    das    man  als  einen  wahren  Schatz  wieder 


—     144     — 

und  wieder  durchlesen  mag",  fußt  Nietzsche  auf  der  Grundanschauung, 
daß  die  menschliche  Phantasie,  um  besser  begreifen  zu  können  und 
ästhetische  Befriedigung  zu  finden,  der  Welt  des  „schwankenden 
Werdens"  eine  Welt  des  „Seins"  gegenüberstellt,  in  welcher 
alles  „vollendet"  und  „gerundet"  erscheint,  und  daß  der  so  ent- 
standene „Kampf  von  Erkenntnis  und  Kunst"  nur  dann  gelöst 
werden  könne,  wenn  wir  jene  „erdichtete"  Welt  als  „unentbehrlichen" 
Mythos  anerkennen.  Kunst  ist  demnach  bewußtes  Schaffen  des 
ästhetischen  Scheines  und  beruht  auf  der  „Urbegierde  nach  dem 
Scheine".  Besonders  das  „dramatische  Urphänomen"  will  nichts 
anderes  als  „sich  selbst  vor  sich  verwandelt  sehen  und  jetzt  handeln, 
als  ob  man  wirklich  in  einen  anderen  Leib,  in  einen  anderen  Cha- 
rakter eingegangen  wäre".  Das  Drama  operiert  also  mit  „fingierten 
Wesen".  Schon  hierin  zeigt  sich  Nietzsche  als  Vertreter  Langescher 
Lehren  und  bekundet  eine  starke  Abweichung  von  den  Grundlehren 
Schopenhauers.  Kein  Wunder  daher,  daß  er  auch  die  Kantische 
Aprioritätslehre  ganz  im  Sinne  Langes  mehr  psychophysisch  auffaßte 
analog  wie  Helmholtz :  kein  Begriff  kann  a  priori,  das  heißt  vor  aller 
Erfahrung  gegeben  sein,  er  wird  vielmehr  und  kann  nur  durch  In- 
duktion gefunden  werden.  Daher  sind  die  Anschauungs-  und  Denk' 
formen  Kants  durch  die  „psychophysische  Organisation" 
bedingt,  welche,  da  wir  durch  sie  „genötigt  sind,  die  Dinge  nach 
Raum  und  Zeit  anzuschauen,  jedenfalls  vor  aller  Erfahrung  gegeben 
ist".  Da  uns  aber  alle  Dinge  nur  in  ihrer  Projektion  in  die  Idealität 
unserer  Bewußtseinsformen  Raum,  Zeit,  Kategorien  (nach  Schopen- 
hauer Kausalität)  erscheinen  und  demzufolge  wir  außerstande  sind, 
zum  wahren  Wesen  der  Dinge  an  sich  zu  gelangen,  müßte  schließlich 
jeder  Erkenntniswert,  mag  er  nun  durch  Kunst,  Philosophie  oder 
Religion  uns  zugeführt  werden,  illusorisch  sein.  Nun  besteht  aber 
nach  Lange  das  Wesen  der  menschlichen  Erkenntnis  darin,  daß  sie 
eine  Einheit,  eine  vollkommene  Harmonie  herbeizuführen  bestrebt 
ist.  Dementsprechend  erblickt  er  in  der  Wirklichkeit  den  „Inbegriff 
der  notwendigen,  durch  Sinneszwang  gegebenen  Er- 
scheinungen";  denn  das  synthetische  Element,  das  schon  unseren 
ersten  Sinneseindrücken  zugrunde  liegt,  ist  charakteristisch  für  alle 
Erkenntnis,  durch  die  wir  aber  trotzdem  nie  zur  Erfassung  der  ab- 
soluten Wirklichkeit  geführt  werden.  Das  Ding  an  sich  ist  nach 
Lange  nur  ein  negativer  „Grenzbegriff*  und  absolut  unerkennbar. 


—     145     — 

Daher  kann  jedes  Objekt  nur  mit  Beziehung  auf  ein  Subjekt  gedacht 
werden,  oder  kürzer  ausgedrückt:  die  Welt  ist  meine  Vor- 
stellung. Und  daraus  resultiert  Langes  ablehnende  Stellungnahme 
zur  Metaphysik  als  Wissenschaft,  da  sie  nur  als  Begriffsdichtung 
einen  gewissen  Wert  haben  kann.  Sie  ist  „ohne  jedweden  Zwang  der 
Erfahrungstatsachen  zur  Schaffung  eines  einheitlichen  Weltbildes 
erforderUch".  So  bedarf  sowohl  nach  Lange  wie  nach  Schiller  der 
Mensch  „der  Ergänzung  der  Wirklichkeit  durch  eine  von  ihm  selbst 
geschaffene  Idealwelt '*.  Auch  für  Nietzsche  ist  daher  in  diesem  Sinne 
der  Mensch  eine  lebendige  Dissonanz ;  aber  diese  Dissonanz  braucht, 
„um  leben  zu  können,  eine  herrliche  Illusion,  die  ihr  einen  Schön- 
heitsschleier über  ihr  eigenes  Wesen  decke**.  „Die  Fundamente 
alles  Großen  und  Lebendigen  ruhen  auf  der  Illusion.  Das 
Wahrheitspathos  führt  zum  Untergang".  Wie  weit  jedoch  schon 
damals  Nietzsche  Schopenhauer  „überwunden''  hatte,  ist  daraus  er- 
sichtlich, daß  er  erklärt,  auch  Schopenhauer  habe  trotz  seiner  mehr 
psychophysischen  Auffassung  der  Aprioritätslehre  das  Wesen  des 
Dinges  an  sich  ebenso  wenig  erkannt,  wie  seine  Vorgänger:  denn 
sie  alle  hätten  nur  die  Subjektivität  unserer  Vorstellungs- 
formen im  Dinge  an  sich  realisiert.  Daher  bezeichnet  Nietzsche 
die  Schopenhauersche  Metaphysik  und  das  auf  ihr  beruhende  System 
als  eine  „poetische  Intuition".  So  zieht  er  aus  dem  Kant — 
Schopenhauerschen  Idealismus  die  Konsequenz,  daß  unsere  ganze 
Erkenntnis  Lüge  ist,  da  wir  nie  die  Dinge  an  sich,  sondern  immer 
nur  deren  Erscheinungen  zu  erkennen  vermögen,  daß  es  eigentlich 
zu  den  größten  Unbegreiflichkeiten  gehöre,  wie  der  Drang  nach 
Wahrheit  in  den  zur  Lüge  prädestinierten  Menschen  gekommen  sei. 
Und  doch  äußerte  er  zu  Mazzini  (cf.  Frau  Förster  in  der  „Neuen 
Freien  Presse"  vam  10.  Februar  1921):  „Wir  wollen  ruhig  im  Lande 
der  Fiktionen  bleiben,  denn  die  Fiktionen  sind  es,  die  das  Leben 
bezaubernd  und  lebenswert  machen,  nicht  die  Wahrheit  und  die 
Wirklichkeit.**  Sehr  interessant  für  Nietzsches  damaUge  Stellung  zur 
Metaphysik  ist  ein  Brief  an  seinen  Jugendfreund  Paul  Deussen, 
Ostern  1868,  worin  er  folgendes  ausführt:  „Das  Reich  der  Meta- 
physik, somit  die  Provinz  der  absoluten  Wahrheit  ist  un- 
weigerlich in  eine  Reihe  mit  Poesie  und  Religion  gerückt  worden. . . 
Metaphysik  gehört...  ins  Reich  der  Gemütsbedürfnisse,  ist 
wesentlich   Erbauung;    anderseits   ist   sie    Kunst,    nämhch    die    der 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  \q 


—     146     — 

Begriff sdichtung;  festzuhalten  aber  ist,  daß  Metaphysik  weder 
als  Religion  noch  als  Kunst  etwas  mit  dem  sogenannten  an  sich 
Wahren  oder  Seienden  zu  tun  hat."  Es  ist  mithin  klar,  daß 
Lange  wie  auch  Nietzsche,  indem  sie  eine  solche  Grundanschauung 
vertreten,  der  Kunst  jeden  positiven  Wert  absprechen.  Aber  dennoch 
baut  sich  auf  dieser  Grundanschauung  die  ganze  „Geburt  der  Tragödie" 
auf:  indem  nämlich  Nietzsche  Langes  Anschauungen  bis  in  ihre 
letzten  Konsequenzen  ausdenkt,  gehngt  es  ihm,  den  Mangel  an  po- 
sitiver Wahrheit,  den  er  in  Kunst,  Religion  und  Philosophie,  vor- 
nehmlich jedoch  im  Weltbilde  Schopenhauers  und  Wagners  gefunden 
hat,  dadurch  zu  ersetzen,  daß  er  der  Kunst  ethische  Bedeutung 
beimißt.  Ausgangspunkt  für  diese  Theorie  Nietzsches  ist  nämhch 
die  Erkenntnis,  daß  der  absolute  Pessimismus,  der  philosophische 
Nihilismus,  eine  praktische  Unmöglichkeit  sei.  Wenn  nach  Schopen- 
hauer die  Welt  vom  Standpunkte  der  Vernunft  schlecht  ist  und  der 
AnbUck  der  Wahrheit  den  Menschen  zur  Selbstvernichtung  treibt, 
so  zog  Nietzsche  aus  dieser  These]; die  umgekehrte  Schlußfolgerung: 
wenn  die  Wahrheit  schlecht  ist,  so  soll  man  die  Illusion  vorziehen 
und  so  schöne  und  verführerische  Illusionen  schaffen,  daß  uns  das 
Leben  trotz  seiner  unausbleiblichen  Schmerzen  wieder  lebenswert 
wird ;  und  man  soll  seine  ganze  Weisheit  und  Energie  in  den  Dienst 
dieser  lebenfördernden  Illusionen  stellen.  Wie  wir  bereits  gesehen 
haben,  waren  für  den  Jünger  Schopenhauers  und  Wagners  Kunst, 
Rehgion  und  Philosophie  die  drei  höchsten  Betätigungen  des  mensch- 
lichen Geistes :  sollte  sich  doch  in  ihnen,  wenn  auch  nur  in  Symbolen 
und  intuitiv,  das  wahre  Wesen  der  Welt,  die  Welt  jenseits  der 
Kategorien  der  Erfahrung,  entschleiern.  Aber  sie  sollten  auch  Mächte 
sein,  in  denen  der  Intellekt  sich  vom  Dienste  des  Wollens  befreit 
und  eine  Überwindung  und  Abkehr  vom  Leben,  eine  Negation  des 
Willens  zuwege  bringt.  Nun  argumentierte  Nietzsche  unter  Langes 
Einfluß  so :  Wie  aber,  wenn  diese  Lebensmächte  nichts  mit  Intellekt 
und  Wahrheit  zu  tun  hätten,  wenn  sie  am  Ende  geflissentlich  die 
Hüterinnen  des  ausgesprochen  Unwahren  und  Erlogenen,  des 
lebenerhaltenden  Irrtums,  der  schönen  Lüge,  des  wohltuenden 
Scheines  wären?  Daß  sie  das  sind  und  bleiben  müssen,  wäre  dann 
daraus  zu  erklären,  daß  sie  eben  nicht,  wie  Schopenhauer  will,  die 
Abkehr  des  Intellekts  vom  Willen  und  die  Überwindung  des  Lebens 
bezeichnen,  sondern  gerade  aus  dem  Leben  steigen  als  dessen  höchste 


—     147     — 

Bejahung,  ja  vielleicht  als  letzte  Zuflucht  des  geschwächten 
Lebenswillens.  Es  wäre  demnach  1.  die  Religion  eine  Einrichtung, 
die  das  Leben  erträglicher  und  behaglich  macht,  die  den  schwäch- 
lichsten, bangen,  lebensfeigen,  dem  Leben  noch  nicht  gewachsenen 
oder  schon  wieder  entfliehenden  Antrieben  der  Menschenseelen  eine 
Zufluchtsstätte  oifen  hält;  2.  die  Kunst  wäre  ein  Reizmittel,  das 
keinen  anderen  Zweck  hat,  als  den  Menschen  zur  Lebensbejahung 
anzuspornen  oder  aber  ihm  für  die  Mängel  und  UnvoUkommenheiten 
seiner  sozialen  Existenz  einen  tröstenden  Ersatz  zu  schaffen;  3.  die 
Philosophie,  vor  allem  die  Metaphysik,  wäre  nur  eine  Begriffsdichtung, 
aus  den  un vertilgbaren  metaphysischen  Schwächebedürfnissen  des 
Menschen  entspringend  und  im  Grunde  keinen  anderen  Sinn  habend 
als  den,  im  Wachstum  der  Wissenschaft  einen  vorläufigen  Horizont 
und  dem  Geiste  einen  Halt  und  beruhigende  Abfindung  zu  geben. 
Das  ist  die  Frucht  der  Erkenntnis  von  dem  fundamentalen  Gegensatz, 
der  zwischen  unserem  Erkennen  und  unserem  Erleben  besteht.  Wir 
wissen  dann,  daß  das  berühmte  „yvcb^i  eavrovl"  uns  den  Weg 
zum  —  Tode  weist !  Wir  verstehen  jetzt  die  in  unserem  Blute  ver- 
erbte Tragödie  unserer  frühesten  Ahnen :  die  „Erkenntnis  des  Guten 
und  Bösen"  war  an  das  Wissen  geknüpft.  Mit  ihm  ist  das  Paradies 
verloren!  Und  doch  sagte  Nietzsche  das  tröstende  Wort:  „Die 
Menschheit  hat  an  der  Erkenntnis  ein  schönes  Mittel  zum 
Untergang!"  Meines  Er  achtens  war  sich  seit  Kant  wohl  kf^in  Mensch 
in  dem  Grade  des  Gegensatzes  zwischen  unserem  Gefühl  und  unserem 
Verstände  bewußt  wie  Nietzsche.  Während  nämlich  der  Verstand  ohne 
die  Kategorie  der  ursächhchen  Bestimmtheit  in  allem,  auch  dem  seeli- 
schen Geschehen  nicht  auskommt,  sprengt  unser  Gefühl  und  unsere 
deutende  Betrachtung  immer  wieder  alle  Fesseln.  Bisweilen  fühlte 
Nietzsche  aber  doch,  daß  der  Wille  zur  Macht  kein  freier,  sondern  ein 
durch  unerklärliches  Schicksal  bestimmter  Wille  ist.  Das  Sein  ist,  an 
sich  betrachtet,,  zweck-,  ziel-  und  sinnlos.  Es  ist  zeitlich  Aufstieg  und 
Vervollkommnung,  Niedergang  und  Verelendung,  zeitlos  ein  in  sich 
ruhender  Ring,  in  den  auch  der  Mensch  als  ein  kleines  Glied  ein- 
gefügt ist.  MenschHcher  Stolz  und  menschhcher  Schöpferwille  ver- 
leihen dem  an  sich  Zweck-  und  Sinnlosen  Zweck,  Ziel  und  Sinn. 
Der  Mensch  ist  handelnd  und  betrachtend  viel  mehr  Künstler  als 
Wissenschaftler.  Er  arbeitet  an  großem,  gewaltigem  Werk  mit  dem- 
selben   leidenschaftlichen    Ernst,    mit   dem    das    am    Meeresstrande 

10* 


—     148     — 

spielende  Kind  Sandburgen  baut,  die  allzubald  von  Wind  und  Wellen 
fortgespült  werden.    Was  Nietzsche  im  Grunde  seines  Herzens  vom 
Zvp-eck  des  Weltgeschehens  hielt,    hat  er  meisterhaft  parodierend  in 
seinem  Gedichte  „An  Goethe"  ausgesprochen: 
„Das  Unvergängliche  ist  nur  dein  Gleichnis! 
Gott,  der  Vergängliche,  ist  Dichter-Erschleichnis . . . 
Welt-Rad,  das  rollende,  streift  Ziel  auf  Ziel: 
Not  —  nennt's  der  Grollende,  der  Narr  nennt's  Spiel . .  • 
Welt-Spiel,  das  herrische,  mischt  Sein  und  Schein:  — 
Das  Ewig-Närrische  mischt  uns  hinein I" 
Aber  mit  feinem  Gefühl  hat  Nietzsche  erkannt,  daß  alle  Kunst 
nicht  nur  für  das  Leben  des  einzelnen  Individuums,   sondern  haupt- 
sächlich   für    die  Bewertung    der  Kultur    eines    ganzen  Volkes    von 
ausschlaggebender  Bedeutung  ist.  Wenn  er  daher  unter  Kultur  die 
Einheit     des    Stiles     in     allen     Lebensäußerungen     eines 
Volkes  versteht,    verlegte    er    auf  diese  Weise  den  Kulturmaßstab 
in  eine  ästhetische  Kategorie :  er  verwirft  die  Kultur  seiner  Zeit  als 
eine  nicht  einheitliche,  intellektualistische  Pseudokultur    und  fordert 
die  Menschheit  auf  zu  einer  neuen  Kultur  der  Zukunft,  welche,  der 
Wissenschaft  mehr  abgewandt,  nur  der  Erzeugung  des  Genius  dienen 
soll,  der  Erzeugung  des  philosophischen,  religiösen  und  künstlerischen 
Genies,  wie  es  in  der  Person  Richard  Wagners  seine  vollkommenste 
Synthese  erreicht  hat.    Weil  aber  diese  ideale  Kultur,  die  Nietzsche 
herbeiführen  will,    ganz    unter    der  Herrschaft    des  philosophischen, 
künstlerischen  und  rehgiösen  Genius  steht,  gipfelt  sie  in  einem  ari* 
stokratischen    Individualismus;    sie    war    auf   Erden    bereits 
einmal    vorhanden.    Ihre    erste  Verkörperung    erblickt  Nietzsche  im 
vorsokratischen    Hellenentum,    dessen    Wiedererweckung    er 
ungestüm  herbeisehnt,    um    das  Anwachsen    der  demokratisch-kom- 
munistischen Kultur  seiner  Zeit,    die  wie   der  Optimismus  mit  dem 
Auftreten  des   „mächtigen  Querkopfes"  Sokrates  begann,   erfolgreich 
eindämmen  zu  können.  Nun  ist  aber  bekannthch  nach  Schopenhauer 
jede  Kulturentwicklung  eine  bloße  Illusion,  da  der  ewig  sich  gleich- 
bleibende Wille,    das  Ding    an    sich  als  das  Wesen  der  Welt,  jeder 
Entwicklung  entbehrt.  Das  war  nun  jener  Punkt,  an  dem  angelangt, 
Wagner  wie    auch  Nietzsche  Schopenhauers  Grundlehre  umbildeten: 
Wagner  schrieb  einfach  dem  Weltwillen  die  Tendenz  nach  moralischer 
Besserung  zu  und  glaubte  an  sie').  Dadurch  bekundet  er  am  stärksten 
^)  Daher  gibt  es  bei  Wagner  nicht  nur  „Erlöste",  sondern  auch  „Erlöser". 


—     149     — 

seine  Abhängigkeit  von  Hegel  und  Feuerbach.  Nietzsche  wiederum 
betonte:  „Der  Pessimismus  ist  nur  im  Reiche  des  Begriffes 
möglich.  Es  ist  nur  erträglich  zu  existieren  mit  dem  Glauben  an 
die  Notwendigkeit  des  Weltprozesses.  Dies  ist  die  große 
Illusion:  der  Wille  hält  uns  am  Dasein  fest  und  wendet  jede  Über- 
zeugung hin  zu  einer  Ansicht,  die  das  Dasein  ermöglicht."  Deshalb 
urteilte  er  im  „Ecce  homo"  über  „Die  Geburt  der  Tragödie":  „Sie 
riecht  anstößig  Hegehsch,  sie  ist  nur  in  einigen  Formeln  mit  dem 
Leichenbitter-Parfüm  Schopenhauers  behaftet."  Niemand  anderer  als 
Georg  Simmel  hat  in  einem  ausgezeichneten  Buche  über  Schopen- 
hauer— Nietzsche  diese  Tatsache  im  Hinblick  auf  Nietzsches  Stellung 
zu  Schopenhauer  klarer  präzisiert  als  mit  den  Worten,  daß  Schopen- 
hauer „der  metaphysische  Trieb  bewegt,  Nietzsche  dagegen  der 
moralische...  es  verkündet  von  vornherein  den  tiefsten  Gegensatz 
Nietzsches  zu  Schopenhauer,  daß  geschichtliche  Vorstellungen  sein 
ganzes  Denken  formen;  die  Wertbegriffe,  deren  Steigen  und  Sinken 
ihm  den  Sinn  des  Weltprozesses,  soweit  der  Mensch  ihn  trägt,  aus- 
macht, sind  spezifisch  historischer  Natur. "  Nietzsche,  der  der  Kultur 
gewiß  auch  metaphysische  Bedeutung  zuschreibt,  denn  „das  Ziel 
der  Menschheit  kann  nicht  am  Ende  liegen,  sondern  nur 
in  ihren  höchsten  Exemplaren",  hat  durch  diese  These  jenen 
Widerspruch  zwischen  Schopenhauer  und  Wagner,  der  ihn  in  seinen 
Dramen  nur  intuitiv,  ohne  jede  nähere  Begründung  tatsächlich  über- 
brückt hatte,  beseitigt:  Wagner  war  Künstler  und  Philosoph  in 
einer  Person,  seine  Werke  atmeten  Schopenhauerschen  Geist, 
sein  Leben  stand  ganz  im  Dienste  der  Kulturreformation: 
„Ich  will  Schopenhauer,  Wagner  und  das  ältere  Griechentum 
zusammenrechnen:  es  ergibt  einen  Bhck  auf  eine  herrliche  Kultur." 
Wenn  daher  der  Apostel  Wagners  begeistert  ausruft:  Wagners 
„Gedanken  sind,  wie  die  jedes  guten  und  großen  Deutschen, 
überdeutsch,  und  die  Sprache  seiner  Kunst  redet  nicht  zu 
Völkern,  sondern  zu  Menschen.  Aber  zu  Menschen  der 
Zukunft.  Das  ist  der  ihm  eigentümliche  Glaube,  seine  Qual  und 
seine  Auszeichnung",  so  ist  klar,  daß  die  Wurzel  dieser  Begeisterung 
Nietzsches  für  Wagners  Ideen  darin  liegt,  daß  in  Nietzsches  Seele 
ähnliche,  wenn  nicht  dieselben  Ideen  lagen.  Es  ist  das  das  alte 
Romantikerideal,  für  das  schon  Daumer,  Jordan  und  Dühring  ein- 
getreten sind.  Aber  freiUch:  bereits  hier  trennen  sich  die  Wege  beider 


—     150     — 

Genies;  Nietzsches  Forderung  nach  dem  „Üb  er  deutsch  tum"  ruht 
auf  einer  ganz  anderen  Basis  als  Wagners  streng  nationahstische 
Kulturtendenzen. 

^Die  Geburt  der  Tragödie''  will  aber  auch  eine  so  seltene  Er- 
scheinung wie  die  Richard  Wagners  erklären.  Deshalb  projizierte 
Nietzsche  den  Rationalismus  und  die  Romantik,  die  beiden  Prinzipien, 
welche  das  Wesen  der  Wagnerschen  Kunst  ausmachen,  einfach  in 
die  griechische  Kultur  hinein  und  nannte  sie  im  Anschluß  an  Jakob 
Burckhardt  „Apollon"  und  „Dionysos".  Im  Sinne  Schopenhauer- 
Wagners  gedeutet,  versinnbildet  ApoUon  jene  Vorstellungswelt,  die 
im  Gegensatz  zu  den  Begriffen  nur  in  der  Anschauung  gegeben  ist, 
also  jenen  Zustand  meines  Seelenlebens  bezeichnet,  wo  im  Traume, 
also  im  Scheine,  das  Leben  bei  schlummerndem  Willen  sozusagen 
in  gedämpften  Bildern  an  meinem  Auge  vorüberzieht.  Apollon  er- 
scheint als  der  verklärende  Genius  des  Individuationsprinzips,  weil 
er  die  Erlösung  im  Scheine  vollbringt.  Dionysos  dagegen  repräsentiert 
die  Welt  als  Wille;  er  offenbart  sich  am  deutlichsten  im  Rausche, 
also  in  jenem  Zustande  meines  Seelenlebens,  wo  der  Intellekt  sozu- 
sagen schlummert  und  nur  der  Wille  an  sich  waltet;  er  durchbricht 
den  Bann  der  Individuation  und  schließt  dem  Menschen  den  Weg 
zum  Wesen  der  Dinge  auf.  Es  ist  also  ein  Kampf  der  Elemente  und 
Triebe  untereinander,  schmerzvoller  Krieg,  schmerzvolle  Veränderung, 
das  Orchester  des  dunkel  gärenden  Chaos.  Dieser  Schmerz,  der  im 
Kampfe  liegt,  schreit  nach  Erlösung.  Die  Erlösung  hegt  im  Schaffen 
und  Formen.  Der  Weltgeist  selbst,  der  in  den  zeugenden  Kräften 
sein  Symbol  findet,  sehnt  sich  darnach,  ein  Abbild  seiner  selbst  zu 
schaffen,  sich  selbst  zu  betrachten.  So  wird  aus  dem  Willen  der 
angeschaute  Wille,  die  Vorstellung;  so  wird  aus  der  wilden  Kraft 
leidenschaftlicher  Triebe  die  geformte  Gestalt  der  sich  bekämpfenden 
Elemente,  so  entsteht  aus  dem  Rausche  das  Bild  des  Rausches,  so 
entsteht  das  dionysische  Kunstwerk.  Diese  an  sich  unvereinbaren 
Prinzipien  hätten  sich  in  wahrhaft  künstlerischer  Form  zum  ersten 
Male  in  den  Tragödien  des  Aischylos  versöhnt,  die  demnach  die 
apollinische  Versinnlichung  dionysischer  Kräfte  sind.  Nur  dem  vor- 
sokratischen  Hellenen  sei  es  eigen  gewesen,  den  dionysischen  Über- 
schwang zu  regeln  und  zu  ordnen,  daß  er  sich  im  Drama  mit  Hilfe 
der  Musik  zu  sinnvoll  deutbaren  Bildern  verdichten  ließ.  Dem  Schüler 
Schopenhauers    erscheint    „das  Denken  der  Griechen   im  tragischen 


—     151     — 

Zeitalter  pessimistisch  oder  künstlerisch  optimistisch".  Als 
Pessimist  im  Sinne  Schopenhauers  konnte  er  die  „griechische 
Heiterkeit"  nur  als  Maske  oder  Verfall,  als  ein  Dekadenzsymptom 
bewerten.  Indem  er  aber  dieses  Postulat  einfach  verwarf,  so  blieb 
nur  mehr  die  Definition  der  griechischen  Heiterkeit  als  ein  Attribut 
des  Hellenen  im  „tragischen  Zeitalter"  übrig.  Und  nun  stellen  wir 
uns  folgendes  vor :  Der  Schopenhauerianer  Nietzsche  wird  mit  Wagners 
Tondramen  bekannt  und  der  Verkehr  mit  dem  Meister  erscheint  ihm 
als  „ein  praktischer  Kursus  der  Schopenhauerschen  Philosophie": 
diesem  JüngUnge,  dessen  Seele  im  Hellenentume  aufging,  taten  sich 
vor  seinem  Blicke  jetzt  mit  einem  Male  zwei  Ideale  auf,  die,  wiewohl 
sie  unvereinbar  sind,  gleichwohl  aber  wahres  Leben  atmen.  Um 
über  diese  Aporie  hinwegzukommen,  folgerte  der  kühne  Stürmer 
und  Dränger  ganz  einfach:  wenn  diese  beiden  Ideale  wahr  sind,  so 
müssen  sie  auch  zusammenstimmen.  Aber  als  deutscher  Patriot,  als 
der  er  sich  damals  fühlte,  zog  Nietzsche  aus  dieser  Behauptung  die 
für  ihn  einzig  richtige  Konsequenz:  Aufgabe  des  Deutschen  sei  es, 
gleichfalls  ein  solches  Kunstgebilde  zu  schaffen  und  eine  solche 
Kultur,  in  der  das  Apolhnische  und  Dionysische  walten.  Wagners 
Kunst  weise  uns  den  Weg,  den  wir  einzuschlagen  hätten.  So  ward 
ihm  Wagner  zu  einem  zweiten  Aischylos;  denn  da  die  Kunst  das 
Verm'ögen  ist,  an  andere  die  Erlebnisse  der  eigenen  Seele  mitzuteilen, 
ist  Wagner  der  wahrhaft  dithyrambische  Dramatiker,  diesen  Begriff 
so  voll  genommen,  daß  er  zugleich  den  Schauspieler,  Dichter  und 
Musiker  umfaßt.  „Wagner,  wie  ich  ihn  kenne,  aus  seiner  Musik, 
seinen  Dichtungen,  seiner  Ästhetik,  zum  nicht  geringen  Teil  aus 
jenem  glückhchen  Zusammensein  mit  ihm,  ist  die  leibhaftige  Illu- 
stration dessen,  was  Schopenhauer  ein  Genie  nennt",  er  ist  ein  zweiter 
„Aischylos,  die  einzig  vollkommene  Erscheinung  des  dithyrambischen 
Dramatikers  vor  Wagner".  Deshalb  war  es  Nietzsches  Aufgabe, 
Wagners  Wesen  und  Werk  am  leidenschaftlichsten  und  gewaltigsten 
zu  erfahren,  zu  durchdringen  und  zu  durchdeuten,  um  so  am 
frühesten  und  notwendigsten  seiner  Grenzen  bewußt  zu  werden,  um 
hinweg  über  sie  zu  neuen  Wegen  und  Weiten  den  Bhck  zu  wenden. 
„Ich  sage  Ihnen  aufrichtig,"  schreibt  er  1882  an  Heinrich  v.  Stein, 
„daß  ich  selber  zu  viel  von  dieser  , tragischen'  Komplexion  im  Leibe 
habe,  um  sie  nicht  oft  zu  verwünschen.  Da  verlangt  es  mich  nach 
einer  Höhe,  von  wo  aus  gesehen  das  tragische  Problem  unter  mir 


—     152     — 

ist.  Ich  möchte  dem  menschlichen  Dasein  etwas  von  seinem  herz- 
brecherischen  und  grausamen  Charakter  nehmen."  Und  so  hat  er 
dann  die  romantische,  tragische,  dionysisch-mystische  Weltanschauung 
aus  ihrem  eigenen  Wesen  heraus  überwunden,  der  Tragiker  in  ihm 
hat  die  Tragik  überwunden,  das  Leben  hat  er  bejaht  aus  tragischer 
Erkenntnis,  trotz  tragischer  Erkenntnis,  eben  um  der  tragischen  Er- 
kenntnis willen. 

Wir  finden  es  daher  begreiflich,  wenn  Wagner  nach  Erhalt 
dieses  Werkes  an  Nietzsche  schrieb:  „Lieber  Freund!  Schöneres  als 
Ihr  Buch  habe  ich  noch  nichts  gelesen!  Alles  ist  herrlich!  Nun 
schreibe  ich  Ihnen  schnell,  weil  die  Lektüre  mich  übermäßig  aufregt 
und  ich  erst  Vernunft  abwarten  muß,  um  es  ordentlich  zu  lesen. 
—  Zu  Cosima  sagte  ich,  nach  ihr  kämen  gleich  Sie:  dann  lange 
kein  anderer  bis  zu  Lenbach,  der  ein  ergreifend  richtiges  Bild  von 
mir  gemalt  hat ! . . .  Adieu ! "  In  ähnlichem,  lobendem,  enthusiastischem 
Sinne  äußerten  sich  Liszt,  Bülow,  Burckhardt  und  Cosima  Wagner^). 
Aber  mit  weiser  Mäßigung,  man  könnte  fast  an  leise  Ironie  denken, 
äußerte  sich  Geheimrat  Professor  Ritschi  von  der  Leipziger  Uni- 
versität, Nietzsches  einstiger  Lehrer,  dem  er  seine  Berufung  nach 
Basel  zu  danken  hatte:  „Sie  können  dem  , Alexandriner'  und  Ge- 
lehrten unmöglich  zumuten,  daß  er  die  Erkenntnis  verurteile  und 
nur  in  der  Kunst  die  weltumgestaltende,  die  erlösende  und  be- 
freiende Kraft  erblicke ...  ob  sich  Ihre  Anschauungen  als  neue 
Erziehungsfundamente  verwerten  lassen  —  ob  nicht  die  große 
Masse  unserer  Jugend  auf  solchem  Wege  nur  zu  einer  unreifen 
Mißachtung  der  Wissenschaft  gelangen  würde,  ohne  dafür  eine  ge- 
steigerte Empfindung  für  die  Kunst  einzutauschen  —  ob  wir  nicht 
dadurch,  anstatt  Poesie  zu  verbreiten,  Gefahr  liefen,  einem  allseitigen 
Dilettantismus  Tür  und  Tor  zu  öffnen:  —  das  sind  Bedenken,  die 
dem  alten  Pädagogen  vergönnt    sein  müssen.    Daß    mir  so  gut  wie 


1)  In  seiner  Besprechung  der  „Geburt  der  Tragödie"  in  der  „Nordd. 
Allg.  Zeitung",  1872,  Nr.  24  (Kl.  Sehr.  II,  p.  350),  schrieb  Rohde:  „An  Wagners 
Kunstwerken  empfindet  Nietzsche  die  wunderbare  Gewalt  jenes  harmonischen 
Zwiegesangs  dionysisch-apollinisch  höchster  Kunst,  in  ihm  sieht  er  den 
Beginn  einer  neuen,  aus  den  Tiefen  künstlerischen  Weltverständnisses  auf- 
steigenden deutschen  Kultur,  zu  ihm  und  seinen  Werken  zu  stehen,  will  er 
alle  diejenigen  aufi-ufen,  die  für  die  größte  Kulturbewegung  der  Zeit  ein 
Verständnis  haben." 


—     153     — 

Ihnen  das  Griechentum  der  ewig  fließende  Born  der  Weltkultur  ist, 
zu  dem  wir  immer  wieder  mit  lebendiger  Empfänglichkeit  zurück- 
kehren müssen,  das  bedarf  wohl  keiner  Versicherung.  Ob  wir  deshalb 
zu  denselben  Formen  zurückgreifen  müssen,  ist  eine  Frage,  deren 
Lösung  wahrscheinhch  das  ganze  Menschengeschlecht  übernimmt/'' 
Diese  vornehme  Zurückhaltung  des  großen  Gelehrten,  die  uns  allen 
wohl  verständlich  erscheint,  teilte  jedoch  nicht  ein  jüngerer  Be- 
kannter Nietzsches,  gleich  ihm  ein  ehemaliger  „Pförtner",  Ulrich 
V.  Wilamowitz-Moellendorf,  gegenwärtig  Professor  an  der  Universität 
zu  Berlin,  ein  Mann,  in  dem  wir  nicht  nur  unseren  größten  Philo- 
logen, sondern  auch  einen  der  größten  und  glänzendsten  Stilisten 
der  Gegenwart  zu  bewundern  und  zu  verehren  alle  Ursache  haben, 
auch  einer  jener  wenigen  Philologen,  die  ihre  Philologie  leben. 
Wilamowitz  also,  der  damals  noch  an  ein  Hellenentum  im  Sinne 
Winckelmanns  und  Goethes  glaubte,  sah  natürlich  durch  diese  Schrift 
Nietzsches  die  heihgsten  Güter  der  Menschheit  gefährdet,  und  mit 
aller  Leidenschaft,  wie  sie  wohl  selten  einem  Verehrer  griechischen 
Wesens  eigen  ist,  schrieb  er  eine  Entgegnung:  „Zukunftsphilologie, 
eine  Erwiderung  auf  Fr.  Nietzsches  , Geburt  der  Tragödie'."  Er  warf 
ihm  in  dieser  Broschüre  „erträumte  Genialität  und  Frechheit  in  der 
Aufstellung  von  Behauptungen"  vor,  die  „genau  im  Verhältnis  stehe 
zur  Unwissenheit  und  Mangel  an  Wahrheitsliebe".  Es  lag  nun  nicht 
in  Nietzsches  zartem  Wesen,  auf  dieses  Pamphlet  zu  reagieren; 
seine  Briefe  an  Freiherrn  v.  Gersdorff  und  Erwin  Kohde  lassen  jedoch 
die  schmerzliche  Enttäuschung  erkennen,  die  ihm  „gerade  Wila- 
mowitz" bereitete,  der  ihn  doch  „in  Form  der  Verehrung" 
besucht  hatte,  dann  aber  „offenbar  stimuliert  und  aufgehetzt 
worden  sei".  So  muß  auch  Howald,  1.  c.  p.  24,  zugeben,  daß  diese 
Broschüre  Wilamowitz'  „oftmals  die  Grenzen  einer  erlaubten  Polemik 
zu  überschreiten  scheint ''.  Allein  „die  ungeheure  Bedeutung,  die 
dieser  geniale  Mann  später  für  seine  Wissenschaft  gewonnen  hat, 
soll  ihm  in  den  Augen  der  Nachwelt  das  Recht  geben,  diese  Streit- 
schrift geschrieben  zu  haben,  ein  Recht,  das  er  damals  noch  nicht 
besaß".  Da  griff  zur  tiefen  Freude  Nietzsches  Wagner  ein  und  ver- 
öffentlichte in  der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung" 
vom  23.  Juni  1872  einen  offenen  Brief  „an  Fr.  Nietzsche, 
ordentl.  Professor  der  klassischen  Philologie  an  der 
Universität  Basel".    Mit  feinem  Gefühl   setzt  hier  Wagner    aus- 


—     154     — 

einander,  wie  er  anfänglich  dem  klassischen  Altertume,  speziell  dem 
Griechentume,  tiefste  Verehrung  zollte,  wie  aber  dann  später  unter 
dem  Einflüsse  seiner  Lehrer  die  ursprüngliche  Liebe  zum  Hellenentume 
systematisch  ertötet  wurde,  weil  die  Denkmäler  des  klassischen 
Altertums  nicht  mehr  als  „Quellen  menschlicher  Erkenntnis" 
bewertet  wurden,  sondern  durch  die  staubige  Bücherweisheit  eines 
hohlen  Gelehrtendünkels  ihrer  ewigen  Lebenskraft  absichtlich  be- 
raubt worden  waren.  Indes  war  dieser  Aufsatz  des  Meisters  keines- 
wegs die  richtige  Antwort:  denn  durch  das  Eingreifen  eines  Laien 
auf  dem  Gebiete  der  Philologie  war  dem  Philologen  nichts  bewiesen 
worden  und  dann  wurde  durch  diese  Schrift  Wagners  das  bereits 
vorhandene  Mißtrauen  vor  dem  Dilettantismus  nur  noch  bestärkt, 
dies  um  so  mehr,  als  Wagner  „das  dumpfe  Gefühl"  in  sich  zu 
tragen  versichert,  „daß  der  Geist  der  Antike  am  Ende  ebenso  wenig  in 
der  Sphäre  unserer  griechischen  Sprachlehrer  liege,  als  zum  Beispiel 
das  Verständnis  der  französischen  Kultur  und  Geschichte  bei  unseren 
französischen  Sprachlehrern  als  nötige  Beigabe  vorausgesetzt  sein 
kann".  Bald  darauf  veröffentlichte  auch  Erwin  Kohde  eine  Broschüre: 
„Afterphilologie.  Zur  Beleuchtung  des  . . .  Pamphlets  Zukunfts- 
philologie, Sendschreiben  eines  Philologen  an  Richard  Wagner."  Er 
versuchte  darin  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  Nietzsches  an- 
gebliche Verstöße  gegen  die  Philologie  nur  auf  irrtümUche  Auffassung 
von  Seiten  Wilamowitz'  zurückzuführen  seien;  dann  spricht  er  von 
der  rühmenden  Aufrichtigkeit  seines  Freundes,  mit  der  er  sich  zu 
einer  philosophischen  Interpretation  bekannte,  wodurch  er  sich 
von  den  übrigen  Philologen  scharf  unterscheide,  deren  jeder,  nur 
ohne  deutliches  Bewußtsein,  seine  Lieblingsvorstellungen  auf  das 
Altertum  übertrage.  Nietzsche  dankte  Rohde  mit  den  Worten:  „Ich 
sehe,  •  was  Du  mit  Deiner  Freundestat  für  mich,  für  Wagner 
getan  hast!"  Wilamowitz  hat* auf  das  hin  nochmals  geantwortet 
mit  der  „Zukunftsphilologie,  IL  Stück",  die  er  mit  den  pathetischen 
Worten  schloß:  „Hier  (sc.  in  der  „Geburt  der  Tragödie")  sah  ich 
die  Entwicklung  der  Jahrtausende  geleugnet,  hier  löschte  man  die 
Offenbarungen  der  Philosophie  und  ReUgion  aus,  damit  ein  ver- 
waschener Pessimismus  in  der  Öde  seine  sauersüße  Fratze  schneide, 
hier  schlug  man  die  Götterbilder  in  Trümmer,  mit  denen  Poesie 
und  bildende  Kunst  unseren  Himmel  bevölkert,  um  das  Götzenbild 
Richard  Wagner  in  ihrem  Staube  anzubeten ;  hier  riß  man  den  Bau 


—     155     — 

tausendfa^en  Fleißes,  glänzenden  Genies  um,  damit  ein  trunkener 
Träumer  einen  befremdlich  tiefen  Blick  in  die  dionysischen  Ab- 
gründe tue:  das  ertrug  ich  nicht!. . .  mein  verletztes  Gemüt  reagierte 
religiös!"  Hermann  Usener,  der  ausgezeichnete  Bonner  Philologe, 
soll,  wie  Nietzsche  in  einem  Briefe  an  Rohde  schreibt,  die  „Geburt 
der  Tragödie"  „einen  baren  Unsinn,  mit  dem  gar  nichts  anzufangen 
sei",  genannt  haben  und  „der  so  etwas  geschrieben  habe,  sei  wissen- 
schaftlich tot".  Beachtenswert  und  erfreulicher  ist  das  Urteil,  das 
der  große  Philologe  Otto  Ribbek  über  die  „Geburt  der  Tragödie" 
fällte,  enthalten  in  einem  Briefe  an  Wilhelm  Dilthey:  „Aber  kennen 
Sie  denn  schon  des  Baseler  Nietzsche  , Geburt  der  Tragödie'  und 
was  sagen  Sie  dazu?  Ein  kunstphilosophischer  Dithyrambus  im 
Schopenhauer- Wagnerschen  Geist.  Etwas  holder  Wahnsinn  und 
gärender  Most,  aber  doch  in  der  Hauptsache  (die  freilich  im  Grunde 
nicht  eben  neu  ist)  treffend  und  durchaus  interessant.  Wir  können 
diese  Art  Ingenium  in  unserer  verknöcherten  Philologie 
recht  wohl  zur  Erfrischung  gebrauchen,  zumal  die  solidesten 
Studien  zugrunde  liegen!"  Kurz:  von  den  zünftigen  Philologen  wurde 
Nietzsche  in  Acht  und  Bann  getan,  den  Studenten  wurde  der  Besuch 
der  Baseler  Universität  abgeraten  —  so  hatte  er  in  einem  Semester 
nur  drei  Hörer !  Bereits  ergangene  Berufungen  an  die  Greifswalder  und 
Dorpater  Universität  wurden  wieder  rückgängig  gemacht.  Denn  so  ein 
Werk  konnte  kein  Mann  der  Wissenschaft,  sondern,  wie  die  „National- 
zeitung" schrieb,  nur  ein  „literarischer  Lakai  Wagners" 
schreiben;  und  daher  war  auch  die  „Geburt  der  Tragödie"  nach  der 
Bemerkung  eines  evangelischen  Anzeigers  „der  ins  Musikalische 
übersetzte  Darwinismus",  der  „Developpismus  des  Ur- 
schleims". 

Es  läßt  sich  leicht  begreifen,  daß  Nietzsche,  der  bekannt  hatte : 
„Was  das  Griechentum  betrifft,  so  halte  ich  mich  an  die  Erfahrungen, 
die  ich  Richard  Wagner  verdanke.  Die  sogenannte  historisch-kritische 
Wissenschaft  hat  gar  kein  Mittel,  so  fremden  Dingen  näher  zu 
kommen:  wir  brauchen  Brücken,  Erfahrungen,  Erlebnisse.  Dann 
wiederum  brauchen  wir  Menschen,  die  sie  uns  deuten,  die  sie  aus- 
sprechen", der  diesen  Menschen  in  Wagner  erblickte,  weshalb  ihm 
dieser  voll  Begeisterung  geschrieben  haben  mag:  „Genau  genommen 
sind  Sie,  nach  meiner  Frau,  der  einzige  Gewinn,  den  mir  das  Leben 
zugeführt",  mit  seinem  Werke  in  der  Philologen  weit  den  schärfsten 


—     156     — 

Widerspruch  erregen  mußte.  Denn  das^)  hatte  noch  niemaad  gewagt, 
die  wissenschaftUchen  Methoden  der  Philologie  in  den  Dienst  Schopen- 
hauer-Wagnerscher  Lehren  zu  stellen  und  die  Philologie  als  Wissen- 
schaft zu  einer  „ancilla''  des  zur  damaUgen  Zeit  als  Künstler  mit 
sehr  skeptischen  Blicken  betrachteten  Richard  Wagner  zu  erniedrigen ; 
und  das  alles  zu  einer  Zeit,  da  die  Wissenschaft  allverehrt  auf  dem 
Throne  saß,  vollends  aber  die  Verhöhnung  des  „theoretischen 
Menschen"  als  des  Vertreters  aller  wissenschaftlichen  Forschung! 
Aber  auch  diese  abfälligen  Urteile  über  Nietzsches  Erstlings- 
werk dürfen  uns  nicht  wundernehmen,  geschweige  denn  in  der  Be- 
urteilung des  Werkes  irre  machen.  Denn  damals  war  die  klassische 
Philologie  noch  ganz  beherrscht  von  dem  Dogma  des  Winckelmann- 
Goetheschen  Philhellenentums :  gleich  einer  uneinnehmbaren  Burg 
der  einseitigsten  Werturteile,  umgeben  von  einer  chinesischen,  das 
heißt  philhellenischen  Mauer,  mußte  das  Hellenentum  trotz  seiner 
unleugbaren  Schönheit  ein  toter  Besitz  bleiben,  ein  Buch  mit  sieben 
Siegeln  verschlossen,  weil  man  sich  absolut  nicht  der  Mühe  unterzog, 
die  Denkmäler  griechischen  Geistes  als  lebendige  Zeugen  menschlichen 
Strebens  zu  interpretieren :  dieses  Hellenentum  bestand  aus  lauter  Phan- 
tasmen. Kein  Wunder  daher,  daß  eine  solche  Zeit  noch  ganz  in  dem 
Wahne  lebte,  die  Lösung  der  Frage  nach  den  primitiven  Anfängen  und 
Versuchen  der  Lyrik  und  Dramatik  sei  einzig  und  allein  nur  dem  Lite- 
raturhistoriker vorbehalten.  Der  Ethnologe  vielmehr  wird  durch  ein- 
gehende, vergleichende  Studien  der  Künste,  wie  sie  heute  noch  unsere 
Naturvölker  pflegen,  wohl  besser  in  der  Lage  sein,  den  Ursprung  der 
dramatischen  Kunstübung  zu  erschließen  als  der  Berufsphilologe, 
dessen  Objektivität,  mag  sie  noch  so  achtunggebietend  sein,  in  der 
Ergründung  des  geheimsten  Wesens  der  antiken  Kunst  sich  nur  auf 
wenige  ^Zeugnisse"  stützen  kann  und  daher  doch  wohl  mehr  illu- 
sorisch ist.  Denn  es  ist  ja  klar,  daß  zwischen  der  Literatur  und 
Dichtung   eines  jeden  Volkes    ein    gewaltiger   Unterschied  besteht: 

1)  Sehr  schön  sagt  er  in  seinem  „Versuch  einer  Selbstkritik"  aus  dem 
Jahre  1886  über  dieses  Werk:  „Ich  will  nicht  gänzlich  unterdrücken,  wie 
unangenehm  es  mir  jetzt  erscheint,  wie  fremd  es  jetzt  nach  sechzehn  Jahren 
vor  mir  steht  --  vor  einem  älteren,  hundertmal  verwöhnteren,  aber  keineswegs 
kälter  gewordenen  Auge,  das  auch  jener  Aufgabe  selbst  nicht  fremder  wurde, 
an  welche  sich  jenes  verwegene  Buch  zum  ersten  Male  herangewagt  hat, 
—  die  Wissenschaft  unter  der  Optik  des  Künstlers  zu  sehen, 
die  Kunst  aber  unter  der  des  Lebens..." 


—     157     — 

jede  Dichtungsart  muß  erst  eine  bestimmte  Entwicklung  hinter  sich 
haben,  ehe  sie  in  der  Literatur  eines  Volkes  Erwähnung  findet.  So 
wird  ja  niemand  behaupten  wollen,  daß  etwa  Ilias  und  Odyssee,  die 
an  der  Schwelle  der  griechischen  Literatur  stehen,  die  ersten  epischen 
Erzeugnisse  des  Hellenenvolkes  wären.  Im  Gegenteil!  Gerade  die 
Großartigkeit  dieser  beiden  Epen,  ihre  technische  Vollkommenheit 
und  viele  andere  Umstände  zwingen  uns  zu  dem  Schlüsse,  daß  sie 
nur  die  Ergebnisse  einer  langen  Dichtungsperiode  sind,  deren  Fäden 
bis  in  die  graue  Urzeit  zurückreichen.  Aber  indem  wir  die  Ilias 
sprach-  und  religionsgeschichthch  usw.  usw.  analysieren  und  diese 
Forschungsergebnissse  mit  literarischen  Erzeugnissen  der  Naturvölker 
vergleichen,  gewinnen  wir  wertvolle  Aufschlüsse  über  den  Kultur- 
zustand von  Zeitperioden,  die  der  Abfassungszeit  der  Ilias  und 
Odyssee  weit  voraus  liegen.  Der  Literaturhistoriker  tritt  erst  dann 
in  seine  Rechte,  wenn  er  den  Ursprung  einer  bereits  kunstgemäß 
gewordenen  Dichtungsart  zu  erschließen  hat,  er  hat  sich  also  aus- 
schließlich mit  literaturhistorischen  Problemen  zu  befassen.  So  hatte 
man,  der  Tradition  der  alexandrinischen  Philologen  folgend,  in  der 
Literatur  eines  Volkes  zuerst  das  Epos  angesetzt,  dann  die  Lyrik 
und  schließlich  das  Drama  und  die  Blüte  dieser  drei  Gattungen 
chronologisch  abzugrenzen  versucht.  Aber  durch  die  Ethnologie  sind 
wir  mit  Tatsachen  bekannt  geworden,  die  uns  einen  tiefen  Einblick  nicht 
nur  in  die  prähistorische  Zeit  zum  Beispiel  des  Griechenvolkes,  sondern, 
was  noch  wichtiger  ist,  in  das  Wesen  der  Urkunst  gestatten.  So 
kommt  es,  daß  das  Epos  nicht  mehr  an  erster  Stelle  rangiert :  denn 
seine  Voraussetzung  ist  in  erster  Linie  lebendiges  Interesse  an  der 
Geschichte  einer  Nation,  und  dieses  Interesse  setzt  wiederum  eine 
hohe  Kulturstufe  voraus.  Die  Lyrik,  welche  durcli  die  Subjektivität 
des  dichtenden  Individuums  gekennzeichnet  ist,  muß  noch  später 
entstanden  sein  als  das  Epos.  Dagegen  lassen  sich  dramatische 
Versuche  bei  allen  Völkern  auf  noch  so  primitiver  Kulturstufe  nach- 
weisen. Allerdings  handeln  diese  Urdramen  nicht  von  Menschen, 
sondern  von  Wesen,  die  „die  Seele  der  primitiven  Menschheit  zwai- 
nicht  mit  Mitleid,  wohl  aber  mit  banger  Furcht  erfüllten*'.  Damit 
soll  aber  keineswegs  gesagt  sein,  daß  die  dramatische  Form  die 
älteste  Dichtungsart  sei:  neben  dem  Drama  entwickeln  sich  gleich- 
zeitig Epik  und  Lyrik,  wie  denn  tatsächlich  in  einer  jeden  dieser 
drei  Dichtungsgattungen  Elemente  der  beiden  anderen  sich  finden.  Das 


—     158     — 

Wort  Drama,  zb  ÖQäfia,  hängt  etymologisch  mit  dem  dorischen 
Worte  ÖQccv  zusammen  und  bedeutet  so  viel  wie  Geschehnis,  Er- 
eignis. Da  aber  das  Wort  dgäu  ein  integrierender  Bestandteil  des 
dorischen  Kultgebrauches  war,  werden  wir  demzufolge  den  Ursprung 
des  griechischen  Dramas  in  rehgiösen  Kultfeiern  und  Aufführungen 
zu  suchen  haben.  Dazu  waren  natürlich  bestimmte  Kostüme  er 
forderlich,  und  vor  allem  waren  es  die  mimischen  Gebärden,  die 
später  von  Tanz,  Musik  und  Chorgesang  begleitet,  uns  eine  Vor 
Stellung  vom  Urdrama  gestatten,  das  mithin  einer  getanzten  Panto 
mime  gleichkommt.  Das  wichtigste  Moment  spielt  dabei  der  Tanz 
dem  der  Naturmensch  die  Bedeutung  eines  besonderen  Zaubers  zu 
schreibt.  Ganz  von  animistischen  Vorstellungen  erfüllt,  läßt  der 
Naturmensch  in  diesen  getanzten  Pantomimen  verschiedene  Tier- 
gestalten, Dämonen  und  Seelentiere  auftreten,  unter  welchen  gerade 
jene  Dämonen  bevorzugt  werden,  welche  das  Keimen  der  Saat,  ihr 
Reifen  und  Gedeihen  behüten.  Denn  alljährlich  schwinden  die  Kräfte 
der  Natur  dahin,  um  erst  nach  geraumer  Zeit  wieder  zu  neuem 
Leben  zu  erwachen.  Bei  allen  Völkern  pflegte  dieser  Vorgang,  das 
Sterben  der  Natur  und  ihr  Wiedererwachen,  eine  tiefe  Erschütterung 
des  Gemütes  auszulösen.  Man  erblickte  darin  das  Schicksal  eines 
schönen,  jungen  Gottes,  dessen  Tod  man  mit  lebhaften  Klagen, 
dessen  Wiedergeburt  oder  Auferstehung  man  mit  ausgelassenem 
Jubel  begrüßte.  Dabei  pflegte  mit  der  Feier  jenes  Gottes  seit  grauer 
Vorzeit  ein  Analogiezauber  in  Form  einer  kultischen  Darstellung 
seines  Sterbens  und  Wiederauflebens  verknüpft  zu  sein.  Auf  primi- 
tiver Kulturstufe,  wo  die  Grenzen  zwischen  Geist  und  Natur  noch 
fast  unterschiedslos  durcheinanderliefen  und  der  Mensch  sich  noch 
in  einem  innerlich  sympathischen  Zusammenhang  mit  seiner  natür- 
lichen Umgebung  fühlte,  glaubte  er,  selbst  einen  Einfluß  auf  die 
Natur  auszuüben,  ihr  bei  ihrem  Wechsel  zwischen  Tod  und  Leben 
zu  Hilfe  zu  kommen  und  den  Verlauf  der  Geschehnisse  im  eigenen 
Interesse  beeinflussen  zu  können.  Dazu  mußte  er  diese  nachahmen. 
„Ein  Mensch,"  sagt  daher  Frazer  in  seinem  wundervollen  „the  golden 
bough",  II,  p.  196,  „den  die  ungezügelte  Phantasie  seiner  Verehrer 
mit  Gewändern  und  Attributen  des  Gottes  ausstattete,  gab  sein 
Leben  dahin  für  das  Leben  der  Welt.  Nachdem  er  aus  seinem 
eigenen  Körper  einen  frischen  Strom  von  Lebensenergie  in  die 
stagnierenden  Adern  der  Natur  ergossen  hatte,  wurde  er  selbst  dem 


—     159     — 

Tode  überliefert,  bevor  seine  eigene  dahinschwindende  Kraft  einen 
allgemeinen  Verfall  der  Natur  eingeleitet  haben  würde,  und  sein 
Platz  wurde  durch  einen  anderen  eingenommen,  der  wie  alle  seine 
Vorgänger  das  ewig  wiederkehrende  Drama  der  göttlichen  Auf- 
erstehung und  des  göttlichen  Todes  spielte."  So  wurden  tatsächlich 
noch  in  historischer  Zeit  lebende  Menschen,  allerdings  Verbrecher, 
geopfert,  während  sonst  das  Opfer  der  zum  Gotte  erhöhten  Menschen 
nur  scheinbar  stattfand :  ein  Bild  des  Gottes,  eine  Puppe  usw.  vertrat 
die  Stelle  des  Gottes.  Mit  der  Vorstellung,  die  ersterbende  Natur 
durch  das  Opfer  eines  Menschen  neu  zu  beleben,  war  die  des 
„Sündenbockes"  verknüpft.  Der  Geopferte  repräsentierte  nicht  bloß 
den  Gott  für  sein  Volk,  sondern  vertrat  auch  zugleich  das  Volk 
gegenüber  Gott  und  hatte  durch  seinen  Tod  die  von  jenem  während 
des  Jahres  begangenen  Missetaten  zu  sühnen.  Auch  im  prähistorischen 
Hellas  muß  das  Urdrama  mit  solchen  „Vegetationsdämonen"  operiert 
haben.  Denn  woher  käme  der  Name  tQaymöia,  wenn  nicht  die  bocks- 
füßigen  Satyrn,  die  tQdyoL,  welche  ursprünglich  als  Vegetations- 
dämonen zu  denken  sind,  in  der  Gestalt  des  Chors  fortlebten?  Mit 
der  fortschreitenden  Entwicklung  zur  Vorstellung  persönlicher  Götter 
geht  Hand  in  Hand  die  Entwicklung  des  Urdramas :  jene  Vegetations- 
dämonen werden  den  neuen  Göttern  unterstellt.  Nun  wissen  wir. 
daß  das  alte  Thrakien  den  Dionysoskult  herausgebildet  hatte,  der 
auch  in  Hellas  eingeführt  wurde.  Was  Wunder  also,  daß  die  alten 
xQdyoi,  die  Satyrn,  jetzt  die  Diener  und  untrennbaren  Begleiter  des 
Dionysos  wurden?  Diese  Einführung  des  neuen  Gottes  hatte  aber 
auch  eine  tiefgreifende  Veränderung  des  Inhaltes  des  Urdramas  zur 
Folge:  die  Pantomime  wurde  abgelöst  durch  die  Darstellung  der 
Erlebnisse  des  Gottes.  Der  Dionysoskult  beschäftigte  sich  mit  der 
Ermordung  des  Gottes  durch  die  Titanen,  seiner  Zerstückelung  durch 
dieselben  und  seiner  Wiedergeburt:  als  Zagreus,  das  ist  als  Sohn 
des  Zeus  und  der  Persephone,  verwandelte  er  sich,  um  den  Titanen, 
welche  die  Eifersucht  der  Hera  gegen  ihn  erregt  hatte,  zu  ent- 
gehen, in  einen  Stier ;  jedoch  die  Titanen,  die  Anbeter  des  göttlichen 
Stieres,  töteten  und  verzehrten  ihn.  So  wird  im  Zagreusmythos 
Dionysos  als  der  „gute  Stier"  angerufen,  der  dann  durch  die  Gnade 
des  Zeus  als  Dionysos  zu  neuem,  glorreichem  Leben  wiedergeboren 
wird;  daher  sein  Beiname  dtO-vpaft/Sog,  der  zweimal  Ge- 
borene =ö    ölg  %^vQttt,e   ßaivcov.     Und    zur    Erinnerung    an    seine 


—     160     — 

ursprüngliche  tierische  Natur  trug  der  wiedergeborene  Gott  Hörner. 
Deshalb  trugen,,  wie  uns  berichtet  wird,  auch  die  Bacchantinnen^ 
seine  Dienerinnen,  „Katä  ^i^rioiv  ydiovvöov"  gleichfalls  Hörner,  und 
auf  der  Insel  Tenedos  wurde  zum  Beispiel  der  Priester,  der  dem 
Dionysos  dessen  Totemtier,  einen  jungen  Stier,  geopfert  hatte,  zur 
Strafe  für  diese  Tötung  des  Gottes  nach  dem  Opfer  mit  Steinwürfen 
verfolgt.  Diese  Mythen,  die  wir  heute  als  alte,  halb  rationalistische 
Ausdeutungen  des  Kommunionopfers  interpretieren  können,  lassen 
sich  auch  bei  den  alten  Ägyptern  nachweisen,  bei  denen  Dionysos 
in  der  Gestalt  des  Osiris  mit  seinem  heihgen  Stier,  dem  Apis,  wieder- 
kehrt ;  auch  der  Orpheusmythus  gehört  in  diese  Kategorie.  In  Argolis, 
dem  Mutterlande  der  griechischen  Tragödie,  wurde  dem  Dionysos  als 
Totemtier  ein  Widder,  tgayögy  geopfert').  Durch  die  griechische 
Orphik,  deren  Kulte  sich  mit  den  bisher  bestehenden  Dionysoskulten 
vereinigten,  wurde  das  Dionysosmysterium  vertieft  zu  einem  Mysterium, 
in  dem  alle  Gegensätze  zu  einer  letzten  Einheit  verschmolzen:  der 
Gott,  der  Opferer  und  Opfer,  durch  das  Totemtier  angedeutet,  in 
einer  Person  war,  wurde  zu  einem  Tröster  derer,  die  da  mühselig 
und  beladen  sind,  zu  einem  Erlöser  der  sündigen  Menschheit.  Durch 


^)  Gewiß  wird  man  nun  fragen,  warum  an  die  Stelle  des  Stieres  als 
Totemtier  auf  einmal  der  Widder  getreten  ist?  Weil  infolge  des  sukzessiven 
Vorrückens  der  Tag-  und  Nachtgleiche,  die  Sonne,  die  bis  dahin  bei  Frühlings- 
anfang im  Sternbilde  des  Stieres  gestanden  war,  um  das  Jahr  800  a.  Ch.  n. 
in  das  Sternbild  des  Widders  eingetreten  war.  Damit  war  sie  nach  astro- 
logischer Denkweise  selbst  zum  Widder  geworden.  Wenn  sie  vorher  als 
Stier  den  Frühling  eröffnete  und  die  Welt  von  der  Herrschaft  des  Winters 
erlöst  hatte  —  eine  Vorstellung,ldie  sich  im  Mithraskulto  erhalten  hatte  — 
so  gingen  diese  Funktionen  nunmehr  auf  den  Widder  über  und  dieser  wurde 
zum  Symbol,  zum  Totem  des  Gottes  und  Sündenopfertier.  Bei  den  alten  Juden 
kehrt  dieser  Widder  wieder  als  das  Lamm,  das  bei  Jahresanfang  im  Frühlinge 
als  Passahlamm  geopfert  und  verzehrt  wurde.  Zum  Verständnis  diene 
folgendes:  die  Aufzählung  der  Reihenfolge  der  Tierkreiszeichen,  wie  sie  heute 
noch  üblich  ist:  Widder,  Stier,  Zwillinge,  Krebs,  Löwe,  Jungfrau,  Wage, 
Skorpion,  Schütze,  Steinbock,  Wassermann,  Fische  geht  auf  die  alten 
Babylonier  zurück  und  beruht  auf  der  Tagesgleicbenordnung.  Der  Tages- 
gleichenpunkt, das  heißt  der  Schnittpunkt  von  Äquator  und  Ekliptik,  liegt 
aber  heute  nicht  mehr  im  Zeichen  des  Widders,  sondern  in  dem  der  Fische. 
Er  wandert  nämlich  —  und  das  beruht  auf  der  wechselnden  Neigung  der 
Erdachse  —  allmählich  um  die  ganze  Ekliptik  herum  und  vollzieht  diesen 
ganzen  Kreislauf  in  26.000  Jahren,  bleibt  also  im  einzelnen  Tierkreiszeichen 
etwa  2200  oder  in  einem  Grade  72  Jahre.   Dieses  Vorrücken  nennt  man  die 


—     161     — 

die  Verspeisung  des  zerrissenen  Opfertieres  deutete  jetzt  der  Myste 
seine  Vereinigung  mit  der  Gottheit  an,  die  unio  mystica:  die  inneren 
Gegensätze  waren  ausgesöhnt  und  geboren  ward  der  tgCtog  [i^aog, 
wie  Dionysos  in  den  eleusinischen  Mysterien  genannt  wurde. 

Was  hatte  also  der  Philologe  Wilamowitz  an  der  „Geburt  der 
Tragödie"  auszusetzen?  Und  warum  bekämpfte  er  dieses  Werk? 
In  einem  Briefe  an  Rohde  gibt  uns  Nietzsche  selbst  die  beste  Antwort, 
wenn  er  meint,  Wilamowitz  habe  „mich  schlecht  gelesen,  denn  er 
versteht  mich  weder  im  ganzen  noch  im  einzelnen.  Er  muß  noch 
sehr  unreif  sein!"  In  der  Tat;  hätte  Wilamowitz  die  Tendenzen  der 
„Geburt  der  Tragödie"  richtig  erfaßt,  hätte  er  sich  sofort  sagen 
müssen,  daß  es  sich  in  dieser  Schrift  um  die  Aufrollung  eines 
kulturästhetischen  Problemes  handelte,  bei  dem  die  Philo- 
logie mehr  oder  weniger  nur  eine  Art  Fachgerüste  bildete.  Und 
gegen  dieses  Fachgerüste  richtete  Wilamowitz  seine  Geschosse,  und 
sein  ganzer  Kampf  war  nur  eine  Korrektur  der  von  Nietzsche  ver- 
tretenen philologischen  Anschauungen,  aber  keine  Widerlegung.  „Die 
Kritik  war  gut  gemeint,  aber  sie  war  ein  Mißverständnis.  Nietzsche 
wollte  keine  Facharbeit  liefern.    Auf  den    ästhetisch-psychologischen 


Präzession  der  Tagesgleiche;  sie  verläuft  umgekehrt  als  der  scheinbai-e 
Sonnenlauf,  also  in  der  umgekehrten  Reihenfolge  des  Tierkreiszeichens,  so 
wie  der  Tageslauf  der  Sonne  von  Osten  nach  Westen.  Solche  Änderungen 
werden  in  der  Regel  erst  vorgenommen,  wenn  der  Mißstand  schon  sehr 
schreiend  geworden  ist.  Der  griechisch-katholische  Kalender,  der  um  13  Tage 
falsch  ist,  beweist  das.  So  hat  auch  das  Altertum  wohl  die  betreffenden  Re- 
lormen  erst  vorgenommen,  nachdem  der  T^esgleichenpunkt  längst  über 
den  Anfangspunkt  des  betreffenden  Zeichens  vorgerückt  war.  Wir  wissen, 
wann  das  einmal  erfolgt  ist,  und  zwar  war  dieses  die  Einführung  der  Widder- 
rechnung, die  eben  seitdem  maßgebend  geblieben  ist.  Das  geschah  unter  der 
Regierung  des  Königs  Nabonassar  von  Babylonien  (747—735).  Über  2000  Jahre 
vorher  oder  noch  viel  länger  muß  man  nach  dem  Stiere  gerechnet  haben. 
Das  aber  ist  das  heilige  TierMarduks,  des  Gottes  von  Babylon;  cf.  dazu  den 
ägyptischen  Apis  und  den  Stier  des  Dionysos.  Diese  Verschiebung  in  das 
Zeichen  des  Stieres  hat  natürlich  bereits  lange  vor  3000  a.  Ch.  n.  statt- 
gefunden. Nun  ist  klar,  daß  die  Kulturanfänge  und  die  ganze  in  sich  ge- 
schlossene Formulierung  als  System  der  astralen  Weltanschauung  am 
Anfang  unserer  Geschichtskenntnis  als  etwas  bereits  Überkommenes  dasteht. 
Es  muß  also  bereits  in  dem  voraufgegangenen  Zeitalter  bestanden  haben,  wo 
die  Tagesgleiche  in  den  Zwillingen  lag.  Das  würde  aber  mindestens  bis  ins 
5.  und  6.  Jahrtausend  hinaufführen.  (Cf.  Winckler,  „Die  babylonische  Geistes- 
kultur"; p.  10,  78  sq.) 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  ^-^ 


—     162     — 

Kern  kam  es  ihm  an."  Darum  muß  auch  der  modernste  Beurteiler 
Nietzsches  als  Philologe  Ernst  Howald,  1.  c.  p.  25,  zugeben,  daß 
Nietzsche  und  Wilamowitz  als  „die  Vertreter  zweier  Welten  im 
Grunde  aneinander  vorüberreden".  Kein  Mensch  wird  es  jedoch  in 
Abrede  stellen  wollen,  daß  Nietzsche  durch  diese  Schrift  klar  er- 
wiesen hat,  daß  der  Mythos  für  die  Beurteilung  der  antiken  Kultur 
eine  ungleich  höhere  Bedeutung  habe,  als  die  Philologen  damals 
gelten  lassen  wollten.  So  schrieb  Nietzsche  bereits  im  Frühjahr  1867 
an  Gersdorff :  „Wir  wollen  es  nicht  leugnen,  eine  erhebende  Gesamt- 
anschauung des  Altertums  fehlt  den  meisten  Philologen,  weil  sie 
sich  zu  nahe  vor  das  Bild  stellen  und  einen  Ölfleck  untersuchen, 
anstatt  die  großen  und  kühnen  Züge  des  ganzen  Gemäldes  zu  be- 
wundern und  —  was  mehr  ist!  —  zu  genießen."  Daher  bedeutet 
„Die  Geburt  der  Tragödie"  nicht  nur  einen  Wendepunkt  für  die 
Völkerpsychologie,  sondern  auch  für  die  Auffassung  der  antiken 
Kunst:  Nietzsche  war  der  Entdecker  der  griechischen  Romantik, 
nur  beging  er  den  einen  Fehler,  daß  er  sie  über  die  hellenische  Klassik 
hat  hinwegrauschen  lassen.  Schon  seine  Baseler  Antrittsrede  be- 
wegte sich  ganz  im  Fahrwasser  Wagnerscher  Gedanken:  so  hob 
Nietzsche  unter  anderem  den  Gegensatz  von  Volksdichtung  und 
Individual-  oder  Kunstdichtung  auf,  weil  er  der  „folgenreichsten 
Entdeckung  der  historisch-philologischen  Wissenschaft,  der  Ent- 
deckung und  Würdigung  der  Volksseele"  geradezu  widerstreite:  der 
einzelne  Dichter  ist  nichts  anderes  als  der  Vermittler  des 
dichterischen  Empfindens  der  Volksseele.  Da  nun  nach 
Schopenhauer  die  Musik  %as  getreue  Abbild  des  Weltwillens  ist, 
wird  aus  dem  Dionysischen  die  Musik  herausgeholt.  Die  dionysische 
Lyrik,  die  ohne  Musik  für  Nietzsche  einfach  undenkbar  ist,  wird 
Wagner  zuliebe  zugunsten  des  Volksliedes  verworfen:  aus  diesem 
erst  entsteht  der  dionysische  Dithyrambus,  der  dann  eine  Ver- 
zauberung, Erhöhung  des  verzückten  Sängers  bewirkt.  Und  weil  die 
Musik  nach  Schopenhauer  die  höchste  Kunst  ist,  die  antike  Tragödie 
für  den  Ästhetiker  Nietzsche  gleichfalls  höchste  Kunst  ist,  ist  für 
ihn  die  Tragödie  aus  jener  geboren,  ja  selbst  Musik.  Daher  bestand 
Nietzsches  größter  Fehler  darin,  daß  er  bei  der  Untersuchung  der 
psychischen  Konstitution  des  Hellenenvolkes  dessen  plastischen  Sinn 
falsch  deutete.  Der  griechische  Genius  ist  vorzüglich  bildnerisch 
veranlagt  und    selbst  ein   so  streng  philosophisches  Gebilde  wie  die 


—     163     — 

Ideenwelt  Piatons  ist  ohne  Zugrundelegung  des  plastischen  Sinnes 
ihres  Schöpfers  nahezu  undenkbar.  Deshalb  sind  auch  die  griechischen 
Tragödien  gleichsam  aus  dem  Mythos  gemeißelte  Mamorwerke:  weil 
der  Hellene  gewohnt  war,  alles  plastisch  zu  sehen,  waren  bei  ihm 
die  räumlichen  Vorstellungen  stets  das  primäre  -Element,  aus  dem 
als  etwas  Sekundäres  die  mannigfaltigsten  Apperzeptionskomplexe 
sich  ergaben.  Daher  ist  die  Musik  nicht  das  Primäre,  sondern  nur 
das.  Mittel,  um  den  Wortinhalt  der  Tragödie  sinnvoll  zu  interpretieren. 
Diese  ursprünglich  rein  objektive  Auffassung  der  Welt  durch  die 
Hellenen  hat  sich  Nietzsche  durch  die  gewaltsame  Fixierung  der 
Schopenhauerschen  Musiktheorie  getrübt  und  daher  an  die  Stelle 
der  Realität  ganz  folgerichtig  die  metaphysische  Mysterienlehre  des 
Dionysischen  und  Apollinischen  gesetzt.  Wenn  daher  Wilamowitz 
Nietzsches  Theorie  „eine  Präsumption  über  das  Endresultat"  nannte, 
hatte  er  nicht  unrecht.  Denn  wir  haben  nicht  die  geringste  Berechti- 
gung, in  der  homerischen  Welt  einen  Pessimismus  zu  statuieren. 
Nicht  nur  in  der  „Zukunftsphilologie  I.  Stück"  verwahrte  sich  Wila- 
mowitz energisch  gegen  diesen  Gedanken,  sondern  auch  später 
noch  sagt  er  in  bezug  auf  diese  Projizierung  des  Schopenhauerschen 
Pessimismus  in  die  homerische  Zeit,  wobei  er  eine  allgemein  ge- 
schichthche  Theorie  über  Optimismus  und  Pessimismus  als  typische 
Erscheinungen  aufstellt:  Schopenhauer  habe  „in  der  Tragödie  die 
Predigt  des  Pessimismus  gehört,  unfähig  zu  würdigen,  daß  die 
Poesie,  und  zumal  ihre  älteste  und  prachtvollste  Erscheinungsform, 
die  Sage,  ein  Vollbild  der  in  einer  bestimmten  Zeit  und  Kultur  vor- 
-handenen  Stimmungen  und  Weltanschauungen  gibt,  also  jederzeit 
optimistisch  und  pessimistisch  zugleich  ist".  Denn  wenn  wir  Burk- 
hardts  und  Nietzsches  Raisonnement  auch  auf  andere  Völker  über- 
tragen, so  dürfte  es  wohl  kein  einziges  geben,  das  wir  glücklich 
nennen  könnten,  und  ist  also  die  sogenannte  apollinische  Kultur  der 
Hellenen  kein  Erzeugnis  abstruser  metaphysischer  Reflexionen, 
sondern  eine  mehr  „halb  unbewußt  gezeugte"  Welt,  und  die  Götter- 
gestalten dieser  Epoche  sind  keine  Traumgeburten,  sondern  sogar 
sehr  real  gedachte  Wesen. 

Und  doch  wird  es  sich  niemals  ganz  in  Abrede  stellen  lassen, 
daß  Nietzsche  mit  feinem  Instinkt  in  dieser  Schrift  an  eines  der 
tiefsten  Probleme  des  Hellenentums  gerührt  hat,  die  Frage  nämhch, 
ob  die  Hellenen  glücklich  waren.   —   Die  Geschichte  lehrt  uns,  daß 

II* 


—     164     — 

die  Bat-  und  Hilfelosigkeit  der  alten  Welt  gerade  in  den  vitalsten 
Problemen  in  dumpfer  Resignation  endigte.  Diese  erklärt,  wie  Schelling 
(Phil.  d.  Offenb.,  W.  W.  II.  Abt.  IV,  512)  bemerkt,  die  ganze  Eigen- 
tümlichkeit des  hellenischen  Charakters,  den  tieftragischen  Zug,  der 
durch  die  ReUgion  und  Philosophie  der  Alten  hindurchgeht;  läßt  es 
verstehen,  daß  selbst  in  bacchantische  Lebensfreude  ein  düsterer 
Schatten  fällt;  enthüllt  uns  jene  Schwermut,  die  wie  ein  süßes  Gift 
den  trefflichsten  Werken  selbst  der  bildenden  Kunst  ihren  eigen- 
artigen Stempel  aufdrückt.  Aus  der  Antike  tönt  das  Klagelied 
hoffnungslosen  Lebensschmerzes  und  dennoch  ringt  sich  in  ihr  wieder 
der  sehnsuchtsvolle  Ruf  nach  göttlicher  Hilfe  hervor.  (Cf.  Plat.  Phaedo, 
p.  85:  „Soll  bei  dem  jetzigen  Weltzustande  etwas  gebessert  werden, 
so  kann  dies  nur  durch  Vermittlung  eines  Gottes  geschehen,  der 
uns  das  Urbild  der  wahren  Gerechtigkeit  —  ^QX^i''^  ^*  ^^^  zvnov  tfjg 
dixaioövvrig  —  zeigt.")  Er  bezeichnet  dieses  höhere  Wesen  als  an 
sich  offenbarendes  „göttliches  Wort"  —  Xoyog  tig  &stog  — ,  auf  dem, 
als  auf  einem  festen  Schiff,  man  sicher  und  gefahrlos  durch  die 
Fluten  des  Lebens  sich  wagen  könne.  Deshalb  konnte  Lenau  in 
seinem  „Savonarola"  sagen: 

„daß  sie  am  Schmerz,  den  sie  zu  trösten 
nicht  wußte,  mild  vorüberführt, 
erkenn'  ich  als  der  Zauber  größten, 
womit  uns  die  Antike  rührt." 

Von  dieser  Erkenntnis  war  bereits  der  große  Altmeister  der 
Philologie  August  Boeckh  erfüllt,  als  er  in  seiner  berühmten  „Staats- 
haushaltung der  Athener"  den  Satz  aussprach:  „Rechnet  man  die 
großen  Geister  ab,  die,  in  der  Tiefe  ihres  Gemütes  eine  Welt  ein- 
schließend, sich  selbst  genug  waren,  so  erkennt  man,  daß  die  Menge 
der  Liebe  und  des  Trostes  entbehrte,  die  eine  reinere  Religion  in 
die  Herzen  der  Menschen  gegossen  hat.  Die  Hellenen  waren  im 
Glänze  der  Kunst  und  in  der  Blüte  der  Freiheit  unglück- 
lieber  als  die  meisten  glauben."  Und  in  der  Tat:  das  Rätsel 
des  irdischen  Lebens  konnte  die  antike  Philosophie  nicht  lösen.  Daß 
dies  zur  Befriedigung  des  Menschenherzens  geschehen  ist,  ist  der 
Sieg  der  christlichen  Philosophie:  sie  gab  der  Tragödie  des  Erden- 
daseins eine  versöhnende  Bedeutung  in  wunderbarem  Ausgleich 
ewiger  Gerechtigkeit  und  erbarmender  Liebe.  Zwar  ist  auch  nach 
dieser    Weltanschauung    der   Schmerz    des    Lebens    nicht    hinweg- 


—     165     — 

genommen  und  die  Not  des  Daseins  nicht  übertüncht;  aber  beide 
sind  tiefer  erfaßt  und  wahrer  empfunden.  Schmerz,  Not  und  Tod 
sind  verklärt,  die  Dissonanzen  zu  schöner  Harmonie  verschmolzen. 
Das  Herbe  und  Unversöhnte  der  Antike  ist  überwunden  in  der 
wundersamen  Erlösungsidee  und  in  der  Hoffnung  sehger  Unsterb- 
lichkeit. In  diesem  Sinne  konnte  Schiller  in  einem  Briefe  an  Goethe 
(17.  August  1797)  „das  Christentum  als  eine  Menschwerdung  des 
Heiligen,  als  die  einzige  ästhetische  Religion"  bezeichnen,  konnte 
Montesquieu  sagen,  daß  „die  christliche  Religion,  die  nur  das  Glück 
des  künftigen  Lebens  zum  Gegenstande  zu  haben  scheint,  auch  das 
Glück  des  gegenwärtigen  Lebens  begründe."  Aber  in  der  homerischen 
Zeit,  also  in  der  Kindheit  des  Volkstums,  wo  Freud  und  Leid  gleich- 
mäßig als  etwas  Selbstverständliches  hingenommen  wurden,  einen 
Pessimismus  zu  konstatieren,  dazu  haben  wir  keine  Ursache.  Daß 
jedoch  die  später  lebenden  Hellenen  es  mit  aller  Macht  versuchten, 
den  Pessimismus  zu  überwinden  und  welche  Konsequenzen  der  „letzte" 
Nietzsche  aus  dieser  Tatsache  zog,  darüber  will  ich  weiter  unten 
handeln.  Nietzsches  „Geburt  der  Tragödie"  bedeutet  den  Anfang  einer 
neuen  Auslegung  der  seehschen  Grundlagen  des  Altertums,  somit 
der  gesamten  Vorgeschichte  überhaupt  und  muß  in  Zukunft  von 
jedem  gekannt  und  verarbeitet  sein,  der  sich  irgend  an  die  Er- 
forschung symbolischen  Denkens  und  mythischen  Träumens  heran- 
wagen will.  Unwesentliche  Mängel  des  hochbedeutenden  Werkes 
sind  zu  erblicken  in  der  Übernahme  Schopenhauerscher  Kunstwörter 
und  in  der  Hereinziehung  von  Musikproblemen,  ein  wesentlicher 
dagegen  in  der  ganz  unscharf  begrenzten  Fassung  des  Apollinismus, 
die  den  Entdecker  dessen  Bedeutungsgleichheit  mit  dem  ihm  so 
gründlich  vertrauten  „Sokratismus"  zu  bemerken  verhindert  hat. 
In  Rohdes  genialer  „Psyche", ^speziell  in^der  prächtigen,  von  reichen  Be- 
legen getragenen  Schilderung  des  dionysischen  Orgiasmus  hat  Nietzsche 
in  archäologischer  Beziehung  bisher  am  stärksten  gewirkt.  Nun  hat 
bereits  vor  Nietzsche  ein  Forscher,  und  zwar  kein  Geringerer  als 
J.  J.  Bachofen,  durch  divinatorische  Ausdeutung  historischer  Befunde 
in  jene  unterste  Schichte  menschlicher  Bildungsantriebe  hinab- 
geleuchtet, in  der  —  unabhängig  von  Zeit  und  Völkerschranken  — 
sich  aus  Sagen  und  Sinnbildern  eine  Urreligion  wob,  deren  kultur- 
iichen  und  mythischen  Niederschlägen  gegenüber  ausnahmslos  alle 
Glaubenslehren  der  geschichtlichen  Menschheit  eine  Verdünnung  oder 


—     166     — 

Verfallserscheinungen  darstellen.  Es  ist  daher  nur  auf  das  freudigste 
zu  begrüßen,  daß  Ludwig  Klages  in  seinem  mit  dem  Nietzschepreise 
gekrönten  Buche  „Vom  kosmogonischen  Eros",  auf  Bachofens 
und  Nietzsches  Spuren  wandelnd,  dadurch,  daß  er  an  Hand  des  so 
vielfach  mißdeuteten  erotischen  Erlebnisses  in  die  elementarste 
Schichte  der  Menschheitsentwicklung  hinabgelangt,  gleichsam  in  die 
Tiefe  der  menschUchen  Seele  überhaupt  und  bis  heute  unbekannte 
seelische  Grundlagen  des  Altertums  freilegt  und  einen  noch  groß- 
artigeren Tiefblick  in  die  Metaphysik  eröffnet  wie  Nietzsche.  Auch 
Klages  gelangt  wie  Nietzsche  zu  dem  noch  zu  besprechenden  Resultate, 
daß  die  Problematik  und  unbefriedigte  Enge,  ja  Flachheit  des  klas- 
sischen Weltbildes,  dieser  bisher  innigsten  Verschmelzung  ger- 
manischen und  antiken  Wesens,  hauptsächlich  darin  ihren  Grund 
hat,  daß  von  der  Antike  ledighch  jene  der  christlich8n  Epoche  zu- 
gewandte Hälfte  bekannt  und  verständhch  war,  als  deren  ver- 
meintliche Höhepunkte  die  Tragiker  Sokrates  und  Piaton  gelten. 
Dem  Leser  sei  daher  dieses  Buch  von  Klages,  das  mir  erst  während 
der  Drucklegung  vorliegender  Arbeit  zugänglich  wurde,  aufs  wärmste 
empfohlen. 

Aber  uns  hat  hier  noch  eine  äußerst  wichtige  Frage  zu  be- 
schäftigen. Nämlich:  was  für  eine  Art  von  Kultur  preist  der  Ver- 
fasser der  „Geburt  der  Tragödie"?  Wir  sagten  bereits,  daß  der 
Nietzsche,  der  sozusagen  spontan,  aus  Instinkt  Wagners  Anhänger 
geworden  war,  noch  keine  Ahnung  hatte  von  den  ungeheuren 
Geisteskräften,  die  in  ihm  latent  waren.  Zu  dieser  Zeit  fühlte  und 
gebärdete  er  sich  noch  ganz  als  der  echte  Romantiker,  der  nichts 
mehr  haßte  als  jene  Art  von  Kunstschaffen,  die  sich  in  klare  Kunst- 
formen ergoß.  Und  nun  beruht  alle  Romantikerkunst  auf  zügelloser 
undisziplinierter  Einbildungskraft,  es  fehlt  jede  logische  Zucht.  Nur 
zu  leicht  fällt  sie  leidenschaftlicher  Überspanntheit  anheim.  Sobald 
aber  der  Verstand  logische  Richtlinien  in  das  Vorstellungschaos 
hineinbringt,  läutert  und  veredelt  sich  ihre  lose  Ungebundenheit  zu 
formeller  Gestaltung.  Der  Phantasie  verlauf  wird  nicht  mehr  von 
dumpfen  Gefühlen  beherrscht,  sondern  von  einer  gefühlsbetonten 
Vorstellung,  die  im  Walten  der  Phantasietätigkeit  Disziplin  schafft. 
So  beginnt  denn  auch  alle  Kultur  erst  mit  der  Beherrschung  der 
Affekte,  der  Instinkte.  Damals  aber  glaubte  Nietzsche  noch  so  felsen- 
fest an  die  Vorherrschaft  der  Instinkte  und  Triebe,  daß  er  sie  auch 


—      167     — 

in  den  Künsten  suchte  und  nur  jene  mit  mehr  Lebensfülle  begabt 
sein  ließ,  in  denen  ihm  mehr  Trieb,  mehr  Leidenschaft  ausgeprägt 
schien.  Wenn  wir  also  eine  primitive  und  eine  Hochkultur  oder  eine 
Instinktkultur  und  Willenskultur  unterscheiden,  so  verherrlichte 
Nietzsche  die  zv^eite  in  seiner  reiferen  Periode,  in  seiner  klassischen 
Zeit,  in  der  ihn  vom  Geiste  Goethes  ein  Hauch  umwitterte.  Die 
Abkehr  von  Wagner  bedeutete  den  Sieg  des  Apollinismus. 

Nun  ist  gewiß  zuzugeben,  daß  Wagner  mit  seinen  Worttondramen 
eine  ganz  neue  Kunstgattung  geschaffen  hat.  Aber  sein  und  Nietzsches 
Grundirrtum  bestand  darin,  daß  beide  das  Musikdrama  als  das  Kunst- 
werk an  sich  hinstellten,  neben  dem  jede  andere  Gattung  keine  Be- 
rechtigung mehr  habe.  Die  Genesis  dieses  Grundirrtums  Wagners 
führt  uns  bis  ins  Jahr  1849  zurück,  da  er  zum  ersten  Male  den 
Versuch  unternahm,  sein  „Gesamtkunstwerk"  zur  griechischen 
Tragödie  in  direkte  Beziehung  zu  bringen.  Er  begann  sich  als  der 
unmittelbare  Fortsetzer  der  griechischen  Tragödie  zu  fühlen.  Es  ist 
ein  bis  heute  noch  nicht  erforschtes  Problem,  wie  weit  Wagner  das 
Verständnis  für  das  Wesen  der  griechischen  Tragödie  aufgegangen 
war.  Das  eine  ist  indes  klar :  objektiv  hat  er  ihre  Entwicklung  nicht 
erforscht,  sondern  er  hat  sie  im  Sinne  einer  Verquickung  von  Drama 
und  Musik  interpretiert;  denn  das  Drama,  das  Wagner  begriff,  lag 
weit  hinter  Aischylos  zurück,  ja  es  reicht  noch  in  den  Dionysoskult 
hinein.  Nun  sind  im  Keiche  der  Künste  sehr  viele  Synthesen  möglich 
und  alle  echten  Künstler  finden  darin  ihren  Platz,  ohne  die  Fittiche 
ihres  Geistes  von  den  Normen  der  Ästhetik  allzusehr  beengen  lassen 
zu  müssen.  In  diesem  Reiche  klaffte  bis  auf  Wagner  eine  Lücke. 
Wagner  hat  sie  geschlossen.  Daß  aber  mit  Aufrichtung  dieses  Ge- 
bäudes alle  anderen  Künste  entthront,  Mägde  des  Musikdramas  sein 
sollen,  das  kann  nicht  gutgeheißen  werden.  Vom  Drama  führen  je 
nach  der  Beteiligung  der  dramatischen  Dichtung  und  je  nach  dem 
Vorwiegen  der  Musik  die  feinsten  Übergänge  zur  Musik  selbst.  Aber 
trotzdem  muß  dem  Wortdrama  gegenüber  dem  Tondrama  sein  volles 
Recht  gewahrt  bleiben.  Nicht  einmal  die  klassischen  Dramen  werden 
von  Wagner  als  echte  Dramen  anerkannt.  Er  nennt  sie  abfälhg 
„Sentenzdramen",  aus  dem  schiefen  Begriff  der  Tragödie  heraus,  an 
dem  er  als  Musiker  und  Komponist  festhing.  Dem  „Tondichter" 
besaß  ein  Drama  ohne  Musik  freilich  keinen  Wert!  Der  entwickelte 
Dialog  des  Wortdramas  schließt  jedoch  die  Musik  aus.  Dagegen  ver- 


—     168     — 

langen  schon  die  Chöre  in  der  „Braut  von  Messina"  Musik. 
Als  gesungene  Chöre  würden  sie  tiefer  wirken  denn  als  ge- 
sprochene. 

Im  Musikdrama  nun  begleitet  die  Musik  den  Text,  illustriert  sie  die 
Handlung,  der  sie  adäquat  ist.  Die  gleiche  Betonung  und  Heraus- 
arbeitung von  Musik  und  Drama  erfordert  aber  auch  einen  Kentauren 
von  Künstler.  Und  im  besten  Falle  ist  er  ein  halber  Musiker  und  ein 
halber  Dramatiker.  Die  Gefahr,  daß  dabei  nichts  Ganzes  herauskommt : 
keine  gute,  keine  ganze  Musik,  und  kein  gutes,  kein  ganzes  Drama, 
hängt  dabei  von  vornherein  über  dem  Künstler.  Denn  was  die  Kunst 
geschieden  hat,  das  soll  Wagner  nicht  wieder  zusammenleimen 
wollen.  Mit  der  geringsten  stärkeren  Betonung  der  Musik  nähert 
sich  schon  die  Oper.  Der  Komponist  gewinnt  die  Oberhand  über  den 
Dichter.  Natürlich  unterstreicht  er  jetzt  nicht  mehr  die  Handlung, 
sondern  er  unterstreicht  seine  Musik.  Arien  und  Kezitative  tauchen 
wieder  auf.  Noch  einen  Schritt  weiter,  und  die  Musik  befreit  sich  im 
Oratorium  und  in  der  Messe  aus  den  dramatischen  Schranken.  Noch 
einen  —  und  sie  hat  sich  in  der  Symphonie  völlig  emanzipiert. 
Während  bisher  Gefühle  und  Leidenschaften  in  ihr  vorherrschten, 
gewinnt  sie  jetzt  einen  absoluten,  exakten  Charakter,  nach  mathe- 
matischen Verhältnissen  und  Beziehungen  baut  sich  jetzt  ihr  Gebäude 
auf.  In  dieser  Region  verschmelzen  Rhythmus,  Melodie  und  Harmonie 
zur  Polyphonie  zusammen.  Hier  beginnen  erst  die  wahren  Freuden 
und  Genüsse  des  Musikkenners.  Aber  gerade  dem  dramatischen 
Elemente  machte  Wagner  so  viele  Konzessionen,  daß  er  fast  die 
Musik  darüber  verlor.  Er  verschob  ihre  Grenzen  bis  tief  ins  Dramatische 
und  Tragische  hinein.  Aber  um  so  größer  ist  der  Sturm  der  Gefühle, 
den  Wagners  Musik  —  und  das  ist  charakteristisch!  —  im  Herzen 
des  Laien  auslöst.  Daher  unsere  Jugend  sich  vornehmlich  nur  für 
und  an  Wagner  begeistert,  welche  Begeisterung  allerdings  mit 
reiferen  Jahren  einer  um  so  wärmeren  Verehrung  Beethovens  in  den 
meisten  Fällen  Platz  macht. 

Das  alles  beweist,  daß  Wagner  im  Reiche  des  Apollinischen 
nicht  sehr  heimisch  war,  wenn  er  es  auch  verstanden  hat,  so  viel 
für  sich  in  Beschlag  zu  nehmen,  als  er  für  seine  Zwecke  brauchen 
konnte;  und  das  war  herzlich  wenig!  So  wird  zum  Beispiel  für 
Wagner  der  Plastiker  zum  Ressigeur,  der  ihm  die  schönen  Menschen 
auszusuchen  hätte;    der  Maler    zum  Kulissendekorateur   und  Garde- 


—     169     — 

robier,  der  nur  schöne  Veduten  und  Landschaften  für  die  szenische 
Wirkung  zu  entwerfen  hätte. 

Diese  Irrtümer  Wagners  beruhen  aber  auf  einer  schiefen  Auf- 
fassung des  ästhetischen  Genusses.  Er  war  so  göttlich  einseitig,  daß 
er  sich  einen  anderen  künstlerischen  Genuß  als  den  seiner  Musik- 
dramen gar  nicht  denken  konnte.  Er  hypostasierte  sein  Werk  zum 
ästhetischen  Allheilmittel  überhaupt,  das  heißt  er  verkannte  das 
Wesen  des  ästhetischen  Genusses  in  einer  unheilvollen  Weise.  Dieser, 
in  der  bedeutsamen  Zusammenschmelzung'l  mit  dem  angeschauten 
oder  überhaupt  empfundenen  Kunstwerk,  läßt  stets  das  Gefühl  einer 
Gesamtkunst  entstehen,  in  deren  Genuß  der  Mensch  mit  der 
schönheitbesonnten  Welt  eins  ist.  Jedes  echte  Kunstwerk  hat  diese 
Wirkung.  Wagner  beschränkte  sie  auf  sein  Musikdrama,  eine  Ein- 
seitigkeit, in  der  er  noch  von  der  Schopenhauerschen  Metaphysik 
bestärkt  wurde.  Wo  aber  ästhetisches  Gefühl  ist,  da  ist  Kunst;  wo 
wir  uns  künstlerisch  in  ein  Objekt  einfühlen,  da  ist  Gesamtkunst- 
werk. Das  ästhetische  Gefühl  braucht  keinen  großen  Apparat  dazu. 
Ist  es  vorhanden,  so  sind  auch  künstlerische  Eindrücke  da.  Wer  in 
seiner  ästhetischen  Gefühlswelt  Einfachheit  bevorzugt,  könnte  das 
„Gesamtkunstwerk"  Wagners  gegenüber  seinen  Genüssen  einen 
barbarischen  Luxus  nennen.  (Cf.  Zeitler,  „Nietzsches  Ästhetik'', 
p.  112—116'). 


1)  Es  dürfte  nicht  uninteressant  sein,  in  diesem  Zusammenhange  zu 
erwähnen,  daß  der  empiriokri tische  Positivist  Josef  Petzoldt  in  seiner  „Ein- 
führung in  die  Philosophie  der  reinen  Erfahrung"  in  seiner  Ästhetik  von 
Wagner  sagt,  dieser  sei  als  Reformator  der  alten  Oper  gleich  Luther  auf 
halben  Wege  stehen  geblieben.  Deshalb  werde  einst  vieles  oder  das  meiste 
an  seinen  Musikdramen  für  ebenso  lächerlich  und  abgeschmackt  gelten  wie 
uns  heute  vieles  oder  das  meiste  an  den  alten  Opern.  Eine  Beethovensche 
Symphonie  dagegen  könne  nie  erheblich  an  Natürlichkeit  einbüßen,  wenn 
auch  die  Kunst  ihre  Mittel  noch  so  hoch  über  die  von  Beethoven  verwendeten 
hinaus  entwickeln  sollte.  Wagner  sei  wie  Luther  eine  Möglichkeit,  keine 
Notwendigkeit:  hätte  sich  in  ihnen  mit  der  gleichen  Tatkraft  und 
Überzeugungstreue  größeres  Genie  verbunden^  so  hätten  sie  beide 
ganze  Arbeit  machen  können.  Da  alles  Dramatische  schon  durch  Reim 
und  Rhythmus,  geschweige  deim  durch  Musik  beeinträchtigt  werde,  sei  ein 
musikalisches  Drama  eine  ästhetische  Unmöglichkeit;  es  gibt  keines,  manche 
Werke  nennen  sich  nur  sol  Vgl.  auch  den  sehr  lesenswerten  Aufsatz  von 
Leopold  Ziegler,  „Wagner,  Die  Tyrannis  des  Gesamtkunstwerkes*  in  der 
Zeitschrift  „Logos",  Jhg.  1910/11,  Bd.  I,  p.  371-404. 


—     170     — 

Nietzsche,  der  die  qualitativen  Kulturinhalte  aller  Zeiten  er- 
forschte und  ein  seiner  Meinung  nach  positives  Kulturideal  auf- 
richten v^ollte,  erblickte  es  zunächst  im  hellenischen  Ideal,  das 
ihm  durch  seine  Beschäftigung  mit  der  Antike  und  durch  Schopen- 
hauer und  Wagner  nahegebracht  worden  war.  Gleich  Piaton  wollte 
er  daher  auf  Grund  dieser  ästhetisierenden  Philosophie  „xh  noXlaxfi 
disönaQuiva,  öwögavta  Big  ^Iccv  Idsav  äysiv".  Er  forderte  aber  noch 
mehr,  denn  da  er  sich  für  das  Kunstgenie  Wagner  als  der  wissen- 
schaftliche Vermittler  der  neuen  Kunstkultur  fühlte,  war  er  der 
Meinung,  Wagners  Kunst,  die  eben  dieser  neuen  Kultur  den  Weg 
bereite,  dürfe  nicht  nur  genossen  werden,  ja  sie  müsse  sogar  zur 
Religion  proklamiert  werden.  Daher  müsse  man  gleich  den  alten 
Hellenen  zuerst  das  Leben  bis  zur  Neige  auskosten,  die  dionysischen 
Triebe  sich  austoben  lassen,  um  desto  sicherer  das  apollinische  Ideal 
zu  erreichen.  Grundbedingung  dafür  ist  jedoch:  den  Willen  zum 
Tragischen,  den  Willen  zum  Leiden  in  sich  aufzunehmen,  denn 
,.,in  unserer  Macht  steht  die  Zurechtlegung  des  Leidens  zu  einem 
Segen,  des  Giftes  zu  einer  Nahrung".  Indessen  dürfte  aber  wohl 
nur  ein  sehr  oberflächhcher  Kenner  der  Nietzscheschen  Philosophie' 
übersehen,  daß  in  dieser  Formulierung  seines  Kulturideals  bereits 
jenes  Ideal  in  nuce  vorgebildet  ist,  das  er  später  als  seinen  „Über- 
menschen" proklamierte. 

Wenn  Frau  Förster  behauptet,  Nietzsche  habe  durch  die 
„Geburt  der  Tragödie"  „die  Philologen  und  Historiker  vor  allem  für 
seine  neue  Richtung  der  Erfassung  des  Griechentums  gewinnen 
wollen",  so  erscheint  mir  diese  Behauptung  widerlegt  durch  die 
Tatsache,  daß  diese  Schrift  eine  ästhetisch-psychologische  Studie  ist, 
übei  deren  Empfängnis  weniger  das  Licht  der  Studierlampe  als 
vielmehr  Schopenhauers  Musiktheorie  und  die  Sonne  des  Tribschener 
Lichtes  geleuchtet  hatte.  Und  schließlich  war  Nietzsche  viel  zu 
schöpferisch  und  zukunftsträchtig,  um  in  der  Betrachtung  und  Re- 
konstruktion der  Vergangenheit  Genüge  finden  zu  können.  Daher 
schrieb  er  auch  im  Mai  1872  an  den  Freiherrn  v.  Gersdorff:  „Ich 
bin  glückhch,  in  meinem  Buche  mir  selbst  jene  Tribschener 
Welt  petrifiziert  zu  haben" ;  keine  philologische  Fach  arbeit  wollte  er 
liefern,  sondern  eine  Werbeschrift  für  Richard  Wagner,  der  ihm 
immer  noch  „sein  Mystagoge  in  den  Geheimlehren  der  Kunst  und 
des  Lebens  war". 


—     171     — 

Diese  Zeit,  in  der  sich  Genies  von  der  Bedeutung  eines  Wagner,- 
Nietzsche,  Bohde  und  Wilamowitz  gegenseitig  bekämpften,  war 
überhaupt  reich  an  ganz  merkwürdigen  Erzeugnissen  des  Bücher- 
marktes. Neu  gebildete  Worte,  wie  „Zukunftsmusik",  „Zukunfts- 
philologie", „Afterphilologie",  durchschwirrten  die  Luft:  durch  das 
künstlerische  Auftreten  des  Meisters  und  die  jüngste  Schrift  seines 
jungen  Freundes  erschien  die  bestehende  Welt  wie  auf  den  Kopf 
gestellt:  hatte  Nietzsches  heihge  Begeisterung  für  Wagner  so 
manches  Wort  geprägt,  das  seinen  Gegnern  willkommene  Waffen 
gegen  ihn  in  die  Hand  lieferte,  so  hatte  umgekehrt  das  selbst- 
bewußte Auftreten  Wagners,  der  unbeirrt  durch  das  Geschrei  und 
Gezeter  der  kleinen  Geister  rücksichtslos  alle  Mittel  in  den  Dienst  seiner 
Aufgabe  stellte,  einen  Münchener  Irrenarzt,  Dr.  Puschmann,  ver- 
anlaßt, Wagner  in  einer  Schrift  als  geisteskrank  zu  erklären.  Erscheint 
uns  diese  Tatsache  allein  schon  unfaßbar,  so  erscheint  es  uns  noch 
unfaßbarer,  daß  ein  Gelehrter,  wie  der  Bonner  Historiker  Alfred  Dove^ 
diesem  Versuche  Buschmanns  bedingungslos  beipflichtete.  In  gerechtem 
Zorne  schreibt  daher  Nietzsche  an  Rohde:  „daß  ein  Irrenarzt  in 
, edler  Sprache'  nachgewiesen  hat,  daß  Wagner  irrsinnig  sei,  daß 
dasselbe  durch  einen  anderen  Irrenarzt  für  Schopenhauer  geleistet 
worden  ist,  weißt  Du  wohl  schon?  Du  siehst,  wie  sich  die  , Gesunden' 
helfen:  sie  dekretieren  für  die  unbequemen  ingenia  zwar  kein 
Schafott;  aber  jene  schleichende,  böswilhgste  Verdächtigung  nützt 
ihnen  noch  mehr  als  eine  plötzliche  Beseitigung;  sie  untergräbt  das 
Vertrauen  der  kommenden  Geschlechter!  Diesen  Kunstgriff  hat 
Schopenhauer  vergessen!  Er  ist  der  Gemeinheit  des  gemeinsten 
Zeitalters  wunderbar  gemäß!"  Aus  dieser  Empörung  heraus  griff 
Nietzsche  in  einem  Artikel,  den  er  am  17.  Jänner  1873  im  „Musi- 
kalischen Wochenblatt"  in  Leipzig  veröffentlichte,  den  Professor 
Dove  an  und  vergalt  so  Wagner  den  Liebesdienst,  den  ihm  dieser 
in  der  Affäre  mit  Wilamowitz  erwiesen  hatte. 


XIII.  PSYCHOLOGISCHE  UND  KÜNSTLERISCHE 
GRÜNDE  FÜR  NIETZSCHES  ABFALL. 

Jedermann  wird  nun  glauben,  daß  die  Beziehungen  Nietszches 
zu  Wagner  jetzt  die  denkbar  innigsten  gewesen  sein  müssen.  Und 
doch  waren  sie  dies  nur  mehr  äußerlich.  Wie  schon  erwähnt,  schien 
sich  Nietzsche  wegen  der  schlechten  Aufnahme,  die  sein  jüngstes 
Werk  in  Gelehrtenkreisen  gefunden  hatte,  Selbstvorwürfe  gemacht 
zu  haben.  Aber  vollends  die  Tatsache,  daß  er  1872  plötzlich  er- 
krankte und  einer  dringenden.  Einladung  Wagners  nach  Tribschen 
deswegen  nicht  Folge  leisten  konnte  —  daneben  arbeitete  er  eifrig 
an  seinem  Vortrage  „über  die  Zukunft  unserer  Bildungsanstalten" 
—  hat  Wagner  mißtrauisch  gemacht,  zumal  Nietzsche  seiner  Ver- 
ehrung dem  Meister  gegenüber  in  so  überschwenghchen  Ausdrücken 
das  Wort  geredet  hatte  und  nun  mit  einem  Male  nichts  von  sich 
hören  ließ.  Wagner,  der  überhaupt  sehr  mißtrauisch  war,  vermutete 
sofort,  daß  sich  Nietzsche  seines  mannhaften  Eintretens  für  ihn  nicht 
nur  schäme,  sondern  es  sogar  bereue.  Nietzsche  hatte  mit  einem 
„wahrhaft  ergreifenden"  Briefe  alle  seine  Bedenken  zerstreut.  Es  ist 
kein  Zweifel,  daß  sich  schon  damals  bei  Nietzsche  der  Beginn  seiner 
nachmaligen  Krankheit  bemerkbar  machte:  die  furchtbaren  Kopf- 
schmerzen und  das  Augenleiden.  Schon  jetzt  zeigte  es  sich,  daß 
sein  schwacher  Körper,  der  noch  unter  den  Nachwirkungen  seines 
im  Kriege  zugezogenen  Leidens  litt,  den  Anforderungen,  die  er  an 
sich  selbst  stellte,  nicht  gewachsen  war.  Was  aber  das  Ausschlag- 
gebendste ist,  zu  diesem  physischen  Leiden  gesellten  sich  schwere  seeli- 
sche Krisen,  hervorgerufen  in  erster  Linie  durch  die  immer  zahlreicher 
werdenden  Enttäuschungen,  die  ihm  Wagners  Benehmen  bereitete, 
und  dann  Verstimmungen  wegen  des  wissenschaftlichen  Mißerfolges 
seines  Buches.  Es  wurde  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  sich 
Nietzsche  in  seinem  Denken  vielfach  von  Schopenhauer  entfernt 
hatte  und  damit  ganz  folgerichtig  auch  von  Wagner.  Denn  wiewohl 


—     173     — 

er  zu  jener  Zeit  sich  noch  ganz  im  Fahrwasser  des  Pessimismus 
treiben  heß,  so  folgerte  er  aus  ihm,  wie  Lichtenberger  geistvoll 
ausführt,  nicht  die  Notwendigkeit  der  Entsagung,  sondern  das  Gegen- 
teil derselben:  die  Notwendigkeit  des  Heroismus;  er  verneinte  also 
nicht  den  Willen  zum  Leben,  sondern  verehrte  diesen  Willen,  der 
das  ewige  Leben  will,  wie  der  dionysische  Grieche  und  suchte  ihn 
zu  rechtfertigen.  Aber  trotzdem  hielt  er  noch  immer  zu  Wagner. 
Frau  Förster  berichtet,  daß  sie  unter  Nietzsches  Manuskripten  ver- 
schiedene Skizzen  gefunden  habe,  die  sich  zwar  schwer  datieren 
lassen,  aber  uns  merkwürdige  Aufschlüsse  darüber  geben,  wie  der 
Autor  selbst  über  sein  Werk  gedacht  hat:  „Ich  fing  an  mit  einer 
metaphysischen  Hypothese  über  den  Sinn  der  Musik :  aber  zugrunde 
lag  eine  psychologische  Erfahrung,  welcher  ich  noch  keine 
genügende  historische  Erklärung  unterzuschieben  wußte.  Die  Über- 
tragung der  Musik  ins  Metaphysische  war  ein  Akt  der  Verehrung 
und  Dankbarkeit ...  in  meiner  Jugend  habe  ich  einmal  ein  Bild 
von  R.  Wagner  gemalt  unter  dem  Titel  R.  Wagner  in  Bayreuth. 
Einige  Jahre  später  sagte  ich  mir:  , Teufel!  es  ist  gar  nicht  ähn- 
lich!' ...  In  gewissen  Jahren  hat  man  ein  Recht,  Dinge  und  Men- 
schen falsch  zu  sehen  —  Vergrößerungsgläser,  welche  die  Hoffnung 
uns  gibt .  .  .  mein  Glaube  an  eine  gemeinsame  und  zusammen- 
gehörige Bestimmung  gereicht  weder  ihm  noch  mir  zur  Unehre  und 
hat  damals  uns  beiden  als  zwei  auf  sehr  verschiedene  Weise  Ver- 
einsamten keine  kleine  Erquickung  und  Wohltat  verschafft ...  ich  bin 
hundertmal  radikaler  als  Wagner  .  .  .  deshalb  bleibt  er  doch  mein 
Verehrtester  Lehrer:  ob  ich  schon  jetzt  zu  meiner  Erholung  und 
Erquickung  ganz  andere  Musik  nötig  habe  als  die  Wagners."  Einige 
der  hier  ausgesprochenen  Gedanken  werfen  so  helles  Licht  auf  die 
Zeit  vor  den  ersten  Bayreuther  Festspielen,  daß  sie  ganz  gut  damals 
schon  hätten  geschrieben  sein  können.  Aber  für  diese  im  Denken  und 
Fühlen  bereits  eingetretene  Abschwenkung  Nietzsches  von  Schopen- 
hauer und  Wagner  spricht  noch  folgender  Umstand:  die  zweite  un- 
zeitgemäße Betrachtung  „vom  Nutzen  und  Nachteil  der  Historie" 
stellt  sich  ihrer  Tendenz  nach  in  bewußten  Gegensatz  zur  „Geburt 
der  Tragödie"  und  der  „I.  Unzeitgemäßen".  Ist  das  Ziel  jener  beiden 
Schriften  die  Forderung,  die  in  Bayreuth  bereits  als  vorhanden 
angenommene  Kultur  als  eine  universelle  zu  proklamieren,  verwirft 
Nietzsche  jetzt   auf  einmal  diese  früher  für  ihn  als  heilig  geltende 


—     174     — 

Kultur  und  fordert  eine  neue  Kultur,  wenn  sie  auch  auf  jener 
ersteren  noch  basiert.  Diese  Lossage  von  Schopenhauer  und  Wagner 
war  zu  deutlich,  als  daß  sie  dem  Meister  hätte  entgehen  können; 
er  soll  mißmutig  ausgerufen  haben:  „Dieser  Nietzsche  geht  immer 
seine  eigenen  Wege!"  Dies  mochte  Nietzsche  wohl  auch  selbst 
fühlen,  brachte  aber  den  Mut  nicht  auf,  sein  Abschwenken  sich 
einzugestehen,  sondern  versuchte  durch  auffälUges  Betonen  rein 
persönlicher  Momente  in  der  „III."  und  „IV.  Unzeitgemäßen"  eine 
poetische  Rechtfertigung.  Er  selbst  mochte  es  vielleicht  am  schmerz- 
lichsten fühlen,  daß  er  sich  von  Wagner  entfernt  hatte;  deshalb 
strich  er  im  Texte  seine  radikale  Abkehr  von  der  einst  über  alles 
geschätzten  Bedeutung  des  Volksliedes:  „Wenn  wir  vom  deutschen 
Oeiste  reden,  so  meinen  wir  Luther,  Goethe,  Schiller  und  einige 
andere.  Besser  wäre  es  schon,  von  lutherartigen  Menschen  usw.  zu 
reden."  Denn  in  der  „Geburt  der  Tragödie"  galt  im  Sinne  Wagners 
der  geniale  Dichter  als  der  Interpret  der  Volksseele.  Jetzt  dagegen 
erklärt  sich  Nietzsche  die  Existenz  des  Genius  freilich  auch  als  eine 
Forderung  des  nationalen  Lebens,  aber  nicht  weil  die  Volksseele 
ihn  braucht,  sondern  nur  weil  durch  seine  Existenz  die  des  Volkes 
gerechtfertigt  wird.  So  wird  das  Ideal  des  Übermenschen  immer 
mehr  vorbereitet,  das  Ideal,  das  weder  zu  Schopenhauer  noch  zu 
Wagner,  paßte.  Ungemein  tief  ist  es  zu  bedauern,  daß  die  Briefe 
Nietzsches  an  Wagner  aus  dieser  Zeit,  wie  schon  erwähnt,  bei 
einem  Umzug  vernichtet  worden  sein  sollen!  So  bleiben  uns  die 
inneren  Vorgänge  in  Nietzsche  immerhin  ein  psychologisches  Rätsel, 
aber  ein  Rätsel,  das  mit  der  Konstatierung  einer  schon  damals  be- 
ginnenden Geisteskrankheit  nicht  im  geringsten  zu  lösen  ist.  Denn 
wie  konnte  dieser  Nietzsche  schon  damals  über  Wagner  so  herbe, 
-skeptische,  hellsichtige  Worte  finden,  daß  schon  alle  Keime  der 
Wagner-Schriften  von  1888  darin  zu  entdecken  sind!  Wie  tief,  fragt 
man  unwillkürlich,  muß  da  doch  zuweilen  das  Verhältnis  Nietzsches 
zu  Wagner  erschüttert  gewesen  sein,  daß  er  es  sogar  fast  wissen- 
schafthch  zu  analysieren  vermochte! 

Was  ging  in  Nietzsche  vor?  Professor  Richter  bezeichnet  diese 
Zeit  als  den  zweiten  Akt  in  dem  dreiaktigen  Freundschaftsdrama 
Wagner-Nietzsche:  der  Versucher  tritt  bei  Nietzsche  auf  als  die 
Treue  zum  philosophischen  Geiste.  Wagner  war  jetzt  für  Nietzsche 
nicht   mehr    die  Inkarnation    des  Schopenhauerschen  Geistes.     Und 


—     175     — 

da  Nietzsche  nur  dem  philosophischen  Geiste  in  Wagner  die  Treue 
gehalten  hatte,  solange  ihm  dieser  als  dessen  herrlichste  Objektivation 
erschien,  hätte  er  Wagner  im  tiefsten  Sinne  die  Treue  gebrochen, 
wenn  er  sie  ihm  gehalten  hätte.  Denn  er  hätte  sie  nicht  dem 
Freunde  Wagner,  sondern  einer  entgeistigten  Hülle  gehalten.  Auf 
eine  andere  Weise  läßt  sich  dieses  Abschwenken  Nietzsches  von 
Wagner  kaum  erklären,  am  allerwenigsten  durch  die  Argumente, 
die  Frau  Andreas  Salome  vorbringt.  Von  der  Tatsache  ausgehend, 
daß  Nietzsche  geneigt  war,  seine  eigenen  Empfindungen,  Absichten 
und  Anschauungen  bei  anderen  vorauszusetzen,  behauptet  sie: 
„Gerade  der  Umstand,  daß  Nietzsche  volles  Genügen,  Seelenfrieden 
und  eine  Geistesheimat  gefunden  hatte,  daß  ihm  Wagners  Welt- 
anschauung so  weich  und  glatt  anlag  wie  eine  , gesunde  Haut', 
kitzelte  ihn,  sie  sich  abzustreifen,  ließ  ihm  sein  , Überglück  als  Un- 
gemach' erscheinen,  ließ  ihn  , verwundet  werden  von  seinem  Glück'. " 
Allein  mit  solchen  Sentimentalitäten  wird  man  das  innerste  Wesen 
dieses  rastlos  strebenden  Geistes  durchaus  nicht  erklären  können! 
Und  selbst  wenn  man  je  eine  Sentenz  aus  „der  fröhlichen  Wissen- 
schaft" und  aus  dem  „Jenseits"  kombiniert  —  „wer  sein  Ideal  erreicht, 
kommt  eben  damit  über  dasselbe  hinaus",  denn  „sein  Überglück 
ward  ihm  zum  Ungemach"  —  und  den  auf  diese  Weise  erhaltenen 
Gedanken  als  ein  Selbstbekenntnis  Nietzsches  interpretiert,  ist  die 
Tatsache  des  Abfalles  von  Wagner  nicht  erklärt.  Sie  ist,  wie  schon 
gesagt,  nur  durch  Nietzsches  philosophischen  Trieb  zu  erklären, 
das  heißt,  sobald  sich  in  ihm  das  eigene  Denken  zu  regen  begann, 
mußte  er,  dem  philosophischen  Triebe  gleich  einem  kategorischen 
Imperativ  gehorchend,  sich  von  Wagner  entfernen.  Das  wollen  wir 
gerne  zugeben,  daß  ihm  diese  Art  der  Selbstbefreiung  schwer  fiel, 
daß  sie  einen  Akt  der  Entsagung  darstellte  —  denn  innerlich  konnte 
dieser  Mann  von  Wagner  nicht  loskommen,  mochte  er  ihn  auch 
überwunden  haben.  Und  daß  Nietzsche  in  seinem  Denken  bereits 
seinen  eigenen  Weg  betreten  hatte,  lehrte  uns  die  „11.  Unzeitgemäße", 
worüber  uns  die  „III."  und  „IV.  Unzeitgemäße"  wohl  kaum  hinweg- 
täuschen können:  Schopenhauer  ward  nur  mehr  eine  Maske,  die 
Nietzsches  „Liebenthusiasmus"  für  Wagner  seiner  Dankbarkeit  und 
schwärmerischen  Hingabe  gewissermaßen  schamhaft  vorhält.  An 
dieser  Tatsache  ändert  auch  der  Umstand  nichts,  daß  Hermann 
Türck    die     „III.*  Unzeitgemäße"     das]  Werk    eines     tobsüchtig 


—     176     — 

gewordenen  Tollhäuslers  nennt,  jene  Schrift,  von  der  der  Ver- 
fasser selbst  gestand:  „Ich  bin  ferne  davon,  zu  glauben,  daß  ich 
Schopenhauer  richtig  verstanden  habe,  sondern  nur  mich  selber 
habe  ich  durch  Schopenhauer  ein  Weniges  besser  verstehen  gelernt; 
das  ist  es,  weshalb  ich  ihm  die  größte  Dankbarkeit  schuldig  bin." 
Doch  trotz  alledem  hielt  Nietzsche  noch  zu  Wagner  und  begab 
sich  nach  Bayreuth,  um  die  Grundsteinlegung  des  Festspielhauses 
mitzumachen.  Die  Gefühle,  mit  denen  er  nach  Bayreuth  kam,  müssen 
sehr  gemischt  gewesen  sein;  denn  als  es  zu  Beginn  des  Jahres  1874 
hieß,  die  Bayreuther  Sache  werde  scheitern,  schrieb  Nietzsche  in 
sein  Notizbuch :  „Ich  sagte  als  Student:  Wagner  ist  Romantik,  nicht 
Kunst  der  Mitte  und  Fülle,  sondern  des  letzten  Viertels.  Bald  wird 
es  Nacht  sein.  Mit  dieser  Einsicht  war  ich  Wagnerianer,  ich  konnte 
nicht  anders,  aber  ich  kannte  es  besser."  Mit  anderen  Worten: 
er  glaubte  nicht  mehr  an  den  Reformator  Wagner  und  hielt  daher 
ein  Mißlingen  der  Wagner-Sache  für  möglich.  Ich  glaube  gerne,  daß 
dieser  Gesinnungswandel  Nietzsches  den  meisten  Menschen  etwas 
Unbegreifliches  ist  und  sein  wird;  denn  die  Psychologie  des  Genies 
und  gar  das  Verhältnis  zweier  Genies  zueinander  wird  dem 
„Bildungsphilister"  wohl  immer  verschlossen  bleiben,  und  sie  werden 
fortfahren,  das  Strahlende  zu  schwärzen  und  das  Erhabene  in  den 
Staub  zu  ziehen!  Der  zwanzigjährige  Friedrich  Hebbel  schreibt  in 
seinen  Tagebüchern:  „Ich  habe  die  Erfahrung  gemacht,  daß  jeder 
tüchtige  Mensch  in  einem  großen  Mann  untergehen  muß,  wenn  er 
jemals  zur  Selbsterkenntnis  und  zum  sicheren  Gebrauch  seiner  Kräfte 
gelangen  will;  ein  Prophet  tauft  den  zweiten,  und  wem  diese 
Feuertaufe  das  Haar  sengt,  der  war  nicht  berufen!"  Diese  Erfahrung 
machte  Nietzsche:  von  dem  Glücke,  in  dem  großen  Manne  Wagner 
unterzugehen  und  sein  eigentliches  Selbst  aus  diesem  Feuerbade 
tiefer  und  tüchtiger  zurückzuerhalten,  zeugen  seine  Briefe  an  Gers- 
dorff,  Deussen  und  Rohde  aus  der  Zeit  der  ersten  persönlichen  Be- 
kanntschaft mit  Wagner.  Und  die  erste  Frucht  dieses  beseligenden 
Glücksgefühls,  sich  selbst  in  Wagner  gefunden  zu  haben,  ist  „die 
Geburt  der  Tragödie" ;  Nietzsche  fühlt  sich  als  Prophet  einer  neuen 
Kultur.  Doch  dann  kommt  eine  Zeit,  wo  Nietzsche  langsam  aus 
dem  erträumten  Zukunftsreiche  auf  diese  Erde  zurückkehrt,  und 
verwundert  ruft  er  aus:  „Wo  bin  ich  doch  —  ach  weit,  ach  weit!" 
Es  folgen  die  unzeitgemäßen  Betrachtungen:  Nietzsche  fühlt  immer 


—     177     — 

deutlicher,  daß  seine  Zeit  kein  Boden  ist  für  seine  genialen  In- 
tuitionen. Und  dabei  schleicht  sich  in  seine  Briefe  aus  dieser  Zeit 
wie  ein  Symptom  des  langsam  unterminierten  G-laubens  an  Wagner 
ein  recht  melanchohscher,  entmutigter  Ton.  Das  klassischeste  Bei- 
spiel ist  jene  Stelle  aus  der  „Morgenröte",  wo  er  ausruft:  „Wer 
wagt  es,  einen  Blick  in  die  Wildnis  bitterster...  Seelennöte  zu  tun, 
in  welchen  wahrscheinlich  gerade  die  fruchtbarsten  Menschen  aller 
Zeiten  .  .  .  geschmachtet  haben!  Jene  Seufzer  des  Einsamen  und 
Verstörten  zu  hören :  ,Ach,  so  gebt  doch  Wahnsinn,  ihr  Himmlischen ! 
Wahnsinn,  daß  ich  endlich  an  mich  selber  glaube!  Der 
Zweifel  frißt  mich  auf,  ich  habe  das  Gesetz  getötet .  .  .  wenn  ich 
nicht  mehr  bin  als  das  Gesetz,  so  bin  ich  der  Verworfenste  von 
allen'  .  .  .  und  nur  zu  oft  erreichte  diese  Inbrunst  ihr  Ziel  zu  gut!" 
Doch  langsam  gewinnt  er  wieder  den  Glauben  an  sich  und,  wie 
von  einem  bösen  Alpdruck  befreit,  ruft  er  dankbar  aus:  „So  lebe  ich 
mich  allmählich  in  mein  Philosophentum  hinein  und  glaube  bereits 
an  mich;  ja,  wenn  ich  noch  zum  Dichter  werden  sollte,  so  bin  ich 
selbst  hierauf  gefaßt. "  Nietzsche  hatte  sich  selbst  gefunden :  er  Wieb 
dem  philosophischen  Triebe  treu;  und  was  jetzt  geschah,  das  mußte 
geschehen:  die  völlige  Entfremdung  von  Wagner. 

Wir  wissen  bereits,  daß  die  Anwesenheit  bei  den  Proben 
Nietzsche  sichtliches  Unbehagen  bereitete,  aber  dennoch  harrte  er 
aus,  bis  er  einfach  nicht  mehr  konnte.  Weder  das  Spiel  noch  das 
Publikum  hielten  das,  was  er  sich  von  ihnen  versprochen  hatte :  er 
war  namenlos  enttäuscht,  besonders  über  den  oft  allzu  lauten 
Fanatismus  und  die  theatralischen  Posen,  mit  denen  viele 
Wagnerianer  ihre  geistige  Gefolgschaft  dem  Meister  bekundeten, 
ohne  ihn  im  Grunde  zu  verstehen:  sie  erschienen  ihm  als  eine 
traurige  Parodie  auf  sich  selbst.  Über  diese  Wagnerianer,  „diese 
Imperativische  Behörde  der  Kultur",  die,  um  an  ein  Wort  Friedrich 
Paulsens  zu  erinnern,  Wagners  Kunstideal  zum  Verordnungspara- 
graphen der  Zukunft  gemacht  hatte,  hat  sich  niemand  anderer  als 
H.  St.  Chamberlain  noch  1896  folgendermaßen  geäußert :  „Öfters  las 
ich  von  jUnbedingten  Anhängern  von  Bayreuth' :  diese  Spezies  Wieb 
mir  jedoch  unauffindbar;  kein  Mensch  raisoniert  so  viel,  so  kleinlich 
und  so  verständnislos  über  alles,,  was  in  Bayreuth  geleistet  wird, 
wie  diese  angeblichen  , Anhänger';  der  Fremde  und  der  Feind 
empfinden    fast   immer   mit   mehr  oder  weniger  Klarheit  die  Größe 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  j^2 


—     178     — 

des  Vorhabens,  wenn  auch  weiter  nichts;  wer  aber  für  den  jähr- 
lichen Preis  von  vier  Mark  MitgUed  des  Allgemeinen  Wagner- Vereines 
geworden  ist,  scheint  sich  in  Bayreuth  so  zu  Hause  zu  fühlen  wie 
der  Fisch  im  Teiche;  für  das  bißchen  Geld  hat  er  zugleich  mit 
seiner  Mitghedschaft  sich  ein  lückenloses  Verständnis  eines  der  ge- 
waltigsten Kunstvorhaben,  von  denen  die  Geschichte  erzählt,  er- 
worben —  und  bekanntlich  dokumentiert  sich  echte  Kennerschaft 
zunächst  darin,  daß  man  an  allem  und  jedem  herumtadelt."  Das 
waren  jedoch  schon  wieder  paradiesische  Zustände  gegen  das 
Jahr  1876,  wo  man  sich  durch  seinen  Beitrag  das  Recht  erkaufte, 
gegen  jedermann  wie  ein  Wilder  zu  toben,  Bierseidel  drohend  in  die 
Höhe  erhob  und  überhaupt  zu  jeder  Art  „schlagender"  Gründe  bereit 
schien,  gegen  jedermann,  der  nicht  jede  Note,  jedes  Wort  des 
Meisters  als  ein  Evangelium  betrachtete.  Ich  glaube,  diese  Spezies 
ist  auch  heute  noch  nicht  ausgestorben  und  ihretwegen  ist  jeder 
Versuch,  eine  objektive  Würdigung  Wagners  oder  gar  des  „Ringes* 
aussichtslos  mehr  denn  je.  Wie  mußte  angesichts  solcher  Zuschauer 
Nietzsche  zumute'sein,  der  erwartet  hatte,  daß  in  Bayreuth  „auch 
der  Zuschauer  anschauenswert  sein  werde",  zumal  „hier  ihr  die 
Ergriffenheit  von  Menschen  findet,  welche  sich  auf  dem  Höhepunkte 
ihres  Glückes  befinden  und  gerade  in  ihm  ihr  ganzes  Wesen  zu- 
sammengerafft fühlen,  um  sich  zu  weiterem  und  höherem  Wollen 
bestärken  zu  lassen".  Und  was  sah  er  in  der  Tat?  Er  berichtet: 
„Sehen  Sie  doch  diese  Jünglinge,  erstarrt,  blaß,  atemlos!  Das  sind 
Wagnerianer;  das  versteht  nichts  von  Musik  —  und  trotzdem  wird 
Wagner  über  sie  Herr!"  Das  war  nicht  jene  „Vereinigung  aller 
wirklich  lebendigen  Menschen",  wie  er  sie  erwartet  hatte,  kein 
„Reich  der  Güte  hatte  sich  entfaltet,  kein  neuer  Genius  war  er- 
wacht", das  war  die  „gewöhnliche  gesellschafthche  Trivialität",  der 
er  „im  liebenswürdigen  Famihenkreise"  zu  Tribschen  ganz  entrückt 
war,  das  waren  jene  „Kerle,  die  für  Wagner  gar  nicht  reif  waren". 
Das  war  in  der  Tat  jene  Welt,  die  Wagner  einst  hinter  sich  ge- 
worfen und  der  er  mit  zwanglosester  Unumwundenheit  zugerufen 
hatte,  daß  er,  der  Künstler,  sie,  „diese  so  scheinheilig  um  Kunst 
und  Kultur  besorgte  Welt  aus  tiefstem  Grunde  verachte,  daß  in 
ihren  ganzen  Lebensadern  nicht  ein  Tropfen  künstlerischen  Blutes 
fließe,  daß  sie  nicht  einen  Atemzug  menschlicher  Gesittung,  nicht 
einen  Hauch    menschlicher  Schönheit    aus   sich    zu    ergießen  ver- 


—     179     — 

möge!"  Wie  anders' war's  zur  Zeit  der  Grundsteinlegung!  „Die  un- 
vergleichlichen Tage  der  Grundsteinlegung,  die  kleine  zugehörige 
Gesellschaft;  die  sie  feierte  und  der  man  nicht  erst  Finger  für  zarte 
Dinge  zu  wünschen  hatte:  kein  Schatten  von  Ähnlichkeit!"  sagt 
Nietzsche.  Noch  mehr  jedoch  enttäuschte  und  befremdete  ihn  Wagner 
selbst.  Frau  Förster  teilt  darüber  mit:  „Man  darf  nicht  vergessen, 
Wagner  war  bei  aller  Herzlichkeit  und  Wärme  der  Freundschaft 
im  Verkehr  oft  schwer  zu  ertragen,  vorzüglich  seit  er  ,in  die  Welt' 
zurückgekehrt  war  und,  um  seine  Pläne  in  Bayreuth  zu  verwirk- 
lichen, unzählige  Hindernisse  und  Schwierigkeiten  zu  überwinden 
hatte.  In  Tribschen,  in  dieser  fernen  abgeschlossenen  Insel  der 
Seligen,  hatte  Glück  und  künstlerisches  Schaffen  sein  ganzes  Wesen 
verklärt,  und  in  dieser  Verklärung  hatte  mein  Bruder  Wagner  haupt- 
sächUch  kennen  gelernt.  In  Bayreuth  dagegen  war  seine  Art  und 
Weise  recht  verändert :  die  Gereiztheit,  der  Mangel  an  Vornehmheit 
gegen  Kivalen,  die  maßlose  Heftigkeit,  das  kleinliche  Mißtrauen 
wirkte  auf  meinen  Bruder  geradezu  niederdrückend :  er  litt  darunter, 
das  Ideal,  das  er  von  Wagner  in  sich  trug,  in  so  verzogenen  Linien 
zu  sehen."  Seine  aristokratische  Gesinnung,  sein  vornehmes,  zurück- 
haltendes Wesen  stand  in  direktem  Widerspruch  zu  dem  Demagogen- 
tum  und  der  regen  Agitationstätigkeit,  die  der  Meister  in  dem 
Kampfe  um  die  Erreichung  seines  Zieles  mit  Benützung  der  irdische- 
sten Mittel  entfaltete.  Er  begann  leise  zu  zweifeln  an  der  un- 
bedingten Anerkennung  Wagners  als  des  typischen  Genies,  als  des 
himmelstürmenden  Künstlers,  als  des  tiefen  Denkers.  Das  war 
durchaus  nicht  mehr  jener  Wagner,  an  dem  er  noch  im  Jahre  1870 
in  einem  Briefe  an  Rohde  die  „idealistische  Art"  gepriesen  hatte, 
„in  der  er  mit  Schiller  am  stärksten  verwandt  ist".  Ernest  entwirft 
von  dem  Bayreuther  Wagner  eine  sehr  anschauhche  Schilderung: 
„Wenn  ihn  das  Theater  freigab,  dann  hatte  er  tausend  Pflichten 
als  Weltmann  und  Diplomat  zu  erfüllen,  da  hieß  es  Besuche  machen, 
Audienzen  erteilen,  einflußreiche  Freunde  empfangen.  Bedenken  be- 
seitigen, Gegensätze  ausgleichen.  Nietzsche  erkannte  den  Freund 
kaum  noch  wieder  —  war  das  der  Wagner  seiner  Träume?"  Ein 
Nachbericht  Nietzsches  aus  dem  Jahre  1878  enthält  über  diesen 
Wagner  folgende  charakteristische  Stelle:  „Ich  erkannte  kaum 
Wagner  wieder:  umsonst  blätterte  ich  in  meinen  Erinnerungen: 
Tribschen,    eine    ferne  Insel    der  Glückseligen,    kein    Schatten    von 

12* 


--     180     — 

Ähnlichkeit .  .  .  der  Wagnerianer  war  Herr  über  Wagner  geworden/ 
VölUg  zutreffend  resümiert  daher  Richter,  wenn  er  sagt:  „Nietzsches 
kritischem  Verstaride  konnte  das  Unedle,  Kleinliche,  Unlautere,  vor 
allem  die  Unangemessenheit  zu  seinen  eigenen  hochgespannten 
Idealen  nicht  entgehen ;  und  unfähig,  unter  falschen  Voraussetzungen 
mit  den  Menschen  und  dem  Leben  zu  verkehren,  sprengte  er  diese 
Hülle."  Dazu  kam  noch  ein  anderer  wichtiger  Umstand:  Nietzsche 
mißfiel  jetzt  der  „Ring  des  Nibelungen".  Aber  schon  im  Oktober  1866 
schrieb  er  über  die  Musik  zur  „Walküre",  daß  seine  Empfindungen 
über  sie  „sehr  gemischt  seien;  die  großen  Schönheiten  und  virtutes 
des  Werkes  würden  durch  ebenso  große  Häßlichkeiten  und  Mängel 
aufgehoben".  Und  an  Freiherrn  v.  Gersdorff  schrieb  er  anschließend: 
„4-  ^  4-  ( —  ö)  gibt  aber  nach  Riese  und  Buchbinder  0.  Jetzt 
arbeitet  derselbe  Komponist,  den  Zeitungen  nach,  an  einer  Hohen- 
staufen-Oper  und  läßt  sich  ab  und  zu  vom  König,  ,dem  holden 
Schirmherrn  seines  Lebens  .  .  /,  besuchen.  Es  schadete  übrigens 
nichts,  wenn  ,der  König  mit  dem  Wagner  ginge  (gehen  in  des 
Wortes  verwegenster  Bedeutung),  natürlich  aber  mit  anständiger 
Leibrente^"  Ja,  seine  Aversion  gegen  die  Wagnersche  Musik  ging 
so  weit,  daß  er  1868  mit  Jahn  Wagner  für  den  Repräsentanten 
eines  modernen,  alle  Kunstinteressen  in  sich  aufsaugenden  und  ver- 
dammenden Dilettantismus  hält.  Aber  dies  war  nur  vorübergehend: 
seine  ursprüngliche  Begeisterung  für  Wagner  sollte  um  so  stärker 
hervorbrechen ;  bereits  im  Oktober  desselben  Jahres  schreibt  er  nach 
einer  Konzertaufführung  der  Vorspiele  zu  „Tristan  und  Isolde"  und 
den  „Meistersingern"^)  an  Erwin  Rohde:  „Ich  bringe  es  nicht  übers 
Herz,  mich  dieser  Musik  gegenüber  kritisch  kühl  zu  verhalten ;  jede 
Faser,  jeder  Nerv  zuckt  mir,  und  ich  habe  lange  nicht  ein  solches 
andauerndes  Gefühl  der  Entzücktheit  gehabt  als  bei  der  letzt- 
genannten Ouvertüre."  Aus  dem  Jahre  1872  stammt  folgender  Brief 
an  Rohde:  „Ich  möchte,  Du  hörest  den  , Tristan'  —  es  ist  das  Un- 
geheuerste, Reinste  und  Unerwartetste,  was  ich  kenne.  Man  schwimmt 
in  Erhabenheit  und  Glück."    Rohde,  ein  reiner  Dilettant  in  musikali- 


')  Nach  der  ersten  „Meistersinger"- Auffülu'ung  in  Dresden  sclireibt  er  an 
Rohde:  „Weiß  Gott,  ich  muß  doch  ein  tüchtiges  Stück  von  Musiker  im  Leibe 
haben ;  denn  in  jener  ganzen  Zeit  hatte  ich  die  stärkste  Empfindung,  plötzlich 
zu  Hause  und  heimisch  zu  sein,  und  mein  sonstiges  Treiben  erschien  wie 
ein  ferner  Nebel,  aus  dem  ich  erlöst  war." 


~     181     — 

sehen  Dingen;  bekannte  sodann  dankbar  über  den  „Tristan":  „Gewiß 
gibt  es  in  der  Welt  keine  andere  Musik  von  solcher  Notwendigkeit : 
meine  Seele  sang  unmittelbar  mit  in  diesem  tönenden  Meeres- 
rauschen der  stürmenden  Empfindung.  Da  ist  nichts  von  künstlich- 
künstlerischer Willkür."  Für  die  Stellung,  die  Nietzsche  gerade 
diesem  Werke  des  Meisters  gegenüber,  das  er  bereits  in  der  „Geburt 
der  Tragödie"  so  enthusiastisch  gepriesen  hatte,  einnahm,  ist  es  nun 
bezeichnend,  daß  er  noch  1888  im  „Ecce  homo"  bekennt:  „Ich  suche 
heute  noch  nach  einem  Werke  von  gleich  gefährlicher  Faszination, 
von  einer  gleich  schauerlichen  und  süßen  Unendlichkeit  wie  der 
jTristan'  ist,  ich  suche  in  allen  Künsten  vergebens.  Alle  Fremdheiten 
Lionardo  da  Vincis  entzaubern  sich  beim  ersten  Tone  des  Tristan. 
Dies  Werk  ist  durchaus  das  non  plus  ultra  Wagners ;  er  erholte  sich 
von  ihm  mit  den  , Meistersingern'  und  dem  ,Ring'.  Gesünder 
werden  —  das  ist  ein  Rückschritt  bei  einer  Natur  wie  Wagner. 
Ich  nehme  es  als  Glück  ersten  Ranges,  zur  rechten  Zeit  gelebt  und 
gerade  unter  Deutschen  gelebt  zu  haben,  um  reif  für  dieses  Werk 
zu  sein."  Oder:  „Der  Tristan  ist  ein  kapitales  Werk  und  zweitens 
von  einer  Faszination,  die  nicht  nur  Musik,  sondern  in  allen 
Künsten  ohnegleichen  ist."  Warum,  fragen  wir  erstaunt,  verhielt 
sich  Nietzsche,  der  bekannt  hatte:  ^ Alles  erwogen,  hätte  ich  meine 
Jugend  nicht  ausgehalten  ohne  Wagnersche  Musik!",  dem  „Ring" 
gegenüber  so  ablehnend?  Nietzsche  hatte  jede  Note  des  Riesen- 
werkes gekannt,  in  dessen  geheimnisvollen  Bau  ihn  der  Meister  in  den 
Stunden  der  Andacht  selbst  eingeführt  hatte.  Allein  schon  damals, 
soll  Nietzsche  gar  manches  teils  zu  lang,  teils  zu  schwach  empfunden 
haben  —  aber  dennoch  glaubte  er,  daß  der  Gesamteindruck  einer 
Bühnenaufführung  alle  diese  Inkonsequenzen  kaum  merklich  machen 
werde.  Und  zudem  hoffte  er,  der  die  Tragödie  aus  dem  Geiste  der 
Musik  geboren  werden  ließ,  mit  diesem  Werke  seine  Behauptungen 
genau  so  wie  im  „Tristan"  durch  die  Tat  bewiesen  zu  sehen.  Daher 
hatte  er  sich  in  späteren  Jahren  über  sein  Werk  und  dessen  Wir- 
kung auf  Wagner  geäußert:  «Die  , Geburt  der  Tragödie'  hat  vielleicht 
im  Leben  Richard  Wagners  den  größten  Glücksklang  hervorgebracht; 
er  war  außer  sich  und  es  gibt  wunderschöne  Dinge  in  der  , Götter- 
dämmerung', welche  er  in  diesem  Zustande  einer  unerwarteten 
äußersten  Hoffnung  hervorgebracht  hat."  Damit  deckt  sich  eine 
Mitteilung,    die  Wagner   dem   Freunde    machte:    „Seit    der  Lektüre 


—     182     — 

(sc.  der  ,  Geburt  der  Tragödie')  komponiere  ich  wieder  an  meinem 
letzten  Akte  (sc.  der  ,GötterdämmerungO.  Ich  für  meinen  Teil  be- 
greife nicht,  wie  ich  so  etwas  erleben  durfte!"  Damals  gab  sich 
Nietzsche  der,  wie  er  glaubte,  begründeten  Hoffnung  hin,  Wagner 
zu  seinen  Ansichten  zu  bekehren,  aber  er  vergaß  „über  dem  Bilde 
dieses  Lebens  —  dieses  mächtigen,  im  eigenen  Strome  und  gleichsam 
den  Berg  hinanstrebenden  Lebens  —  zu  sagen,  was  er  von  Wagner 
in  Ansehung  der  Wahrheit  hielt".  Und  der  Einfluß,  den  der  junge 
Nietzsche  auf  den  Meister  ausübte,  erhellt  am  deutlichsten  aus  dem 
dritten  Akte  des  „Siegfried".  An  diese  Zeiten  sich  zurückerinnernd, 
konnte  daher  Nietzsche  noch  am  27.  April  1883  an  Peter  Gast 
schreiben:  „Wenn  ich  an  jene  Zeiten  denke,  wo  der  letzte  Teil  des 
, Siegfried'  entstand!  Damals  liebten  wir  uns  und  hofften  alles  für- 
einander—  es  war  wirklich  eine  tiefe  L  i  e  b  e,  ohne  Nebengedanken ! " 
Doch  was  lehrten  ihn  die  Proben?  Nietzsche  mußte  nur  zu  bald  er- 
kennen, „daß  hier  das  Drama  durch  die  Musik  oft  nur  aufgehalten, 
daß  die  Musik  wiederum  durch  die  Erfordernisse  des  Dramas 
oft  ihrer  eigensten  Aufgabe,  die  Wagner  selbst  in  die  Wirkung 
auf  das  Gemüt  gesetzt  hatte,  entfremdet  werde.  Er  fühlte, 
daß,  wenn  das  Drama  als  solches  zu  vollster  Geltung  kommen 
sollte,  die  Musik  viel  bescheidener  zurücktreten  müsse,  und  er  er- 
kannte doch  wieder,  daß,  wo  das  hier  geschah,  das  Drama  erst 
recht  nicht  wirkte,  weil  man  nach  musikalischen  Wundertaten,  wie 
dem  ersten  Akte  der  , Walküre',  auch  weiter  auf  gleiche  Wirkungen 
rechnete,  und  wo  diese  ausblieben,  die  Gründe  dafür  nicht  im  Drama, 
sondern  im  Künstler  suchte,  das,  was  dramatische  Notwendigkeit 
war,  nur  als  künstlerische  Schwäche  empfand.  Mit  einem  Wort :  die 
Wirkung  des  Werkes  beruhte  auf  dem,  was  darin  opernmäßig  war^ 
und  wo  es  nicht  opernmäßig  war,  da  wirkte  es  nicht!  Für  ihn 
konnte  es  nur  zweierlei  geben :  entweder  ein  Drama,  das  durch  sich 
selbst  so  gewaltig  ergriffe,  daß  die  Musik  nur  als  mithelfendes  Aus- 
drucksmittel erscheine,  oder  eine  Musik,  die  in  jedem  Augenblick 
durch  ihre  Schönheit  auch  die  Schwächen  des  Dramas  verhüllte. 
Hier  aber  glaubte  er  keines  von  beiden  rein  und  ganz  zu  finden 
und  vor  allem  —  was  Wagner  gewollt  —  die  Vormachtstellung  der 
Musik  auf  der  Bühne  den  anderen  Künsten  gegenüber  zu  brechen, 
das  war  ihm  nicht  gelungen."  Diese  feinsinnigen  Ausführungen 
Gustav  Ernests  sollten  auch  heute  noch  jenen  Wagnerianern,  die  den 


—     183    — 

„Ring**  überschätzen,  zu  denken  geben !  Mit  Recht  bemerkt  er,  daß 
das,  was  Nietzsche  damals  empfand,  nur  das  sei,  was  bis  heute 
viele  Vorurteilslose  gegenüber  Sem  Ringe  wirklich  empfinden.  Da 
Nietzsche  mit  einer  bestimmten,  überaus  hochgespannten  Erwartung 
dem  „Ring"  gegenüber  getreten  war,  war  die  Enttäuschung  unaus- 
bleiblich. Damit  sie  nicht  eine  noch  größere,  ganz  unaustilgbare 
werde,  floh  er.  Sehr  treffend  bemerkte  R.  Richter,  daß  wir  alle  es 
nie  werden  begreifen  und  nachfühlen  können,  was  Nietzsche  in  all 
diesen  Wochen  ausgestanden  habe;  nur  der  könne  dies  völhg  er- 
fassen, dessen  persönlichste  Leiden  und  Freuden  aus  seinem 
Verhältnisse  zu  unpersönlichen  Idealen  entspringen. 

Seine  Kritik  am  „Ring"  hat  Nietzsche  folgendermaßen  for- 
muliert : 

„An  unkünstlerische  Menschen  sich  wendend,  mit  allen  Hilfs- 
mitteln soll  gewirkt  werden,  nicht  auf  Kunst  Wirkung,  sondern 
auf  Nervenwirkung  ganz  allgemein  ist  es  abgesehen  .  .  . 
Wagner  hat  kein  rechtes  Vertrauen  zur  Musik:  er  zieht  verwandte 
Empfindungen  heran,  um  ihr  den  Charakter  des  Großen  zu  geben. 
Er  stimmt  sich  selber  an  andern,  er  läßt  seinen  Zuhörern  erst 
berauschende  Getränke  geben,  um  sie  glauben  zu  machen,  die 
Musik  habe  sie  berauscht  .  .  .  seine  Seele  singt  nicht,  sie 
spricht,  aber  so  wie  die  höchste  Leidenschaft  spricht.  Natürlich 
ist  bei  ihm  der  Ton,  Rhythmus,  Gebärdenfall  der  Rede;  die  Musik 
ist  dagegen  nie  ganz  natürhch,  eine  Art  erlernter  Sprache  mit 
mäßigem  Vorrat  von  Worten  und  einer  anderen  Syntax  .  .  .  man 
höre  den  zweiten  Akt  der  „Götterdämmerung"  ohne  Drama:  es  ist 
verworrene  Musik,  wild  wie  ein  schlechter  Traum  und  so  entsetzlich 
deutlich,  als  ob  sie  vor  Tauben  noch  deutlich  reden  wollte.  Dies 
Reden,  ohne  etwas  zu  sagen,  ist  beängstigend:  das  Drama  ist 
reine  Erlösung.  —  Ist  das  ein  Lob,  daß  diese  Musik  allein  un- 
erträgUch  ist  (von  einzelnen,  absichtlich  isoUerten  Stellen  abgesehen !) 
als  Ganzes?  —  Genug!  diese  Musik  ist  ohne  Drama  eine  fort- 
währende Verleugnung  aller  höchsten  Stilgesetze  der  älteren  Musik : 
wer  sich  völlig  an  sie  gewöhnt,  verliert  das  Gefühl  für  diese  Gesetze. 
Hat  aber  das  Drama  durch  diesen  Zusatz  gewonnen?  Es  ist  eine 
symbolische  Interpretation  hinzugetreten,  eine  Art  philologischen 
Kommentars,  welcher  die  innere  freie  Phantasie  des  Ver- 
Stehens  mit  Bann    belegt  —  tyrannisch!    Musik  ist  die  Sprache 


—     184     — 

des  Erklärers,  der  aber  fortwährend  redet  und  uns  keine  Zeit 
läßt,  überdies  in  einer  schweren  Sprache,  die  wieder  eine  Erklä- 
rung fordert.  Wer  einzeln  sich  erst  die  Dichtung  (Sprache!)  ein- 
gelernt hat,  dann  sie  mit  dem  Auge  in  Aktion  verwandelt  hat, 
dann  die  Musik-Symbohk  herausgesucht  und  verstanden  hat  und 
ganz  sich  hineinlebt,  ja  in  alles  Dreies  sich  verliebt  hat  —  der  hat 
dann  einen  ungemeinen  Genuß.  Aber  wie  anspruchsvoll!  Aber 
es  ist  unmöglich,  außer  für  kurze  Augenblicke  —  weil  zu  angreifend, 
diese  zehnfache  Gesamtaufmerksamkeit  von  Auge,  Ohr,  Verstand, 
Gefühl,  höchster  Tätigkeit  des  Aufmerkens,  ohne  jede  produktive 
Gegenwirkung!  —  Dies  tun  die  am  wenigsten:  woher  doch  die 
Wirkung  auf  so  viele?  Weil  man  intermittiert  mit  der  Auf- 
merksamkeit, ganze  Strecken  stumpf  ist,  weil  man  bald  auf  die 
Musik,  bald  auf  das  Drama,  bald  auf  die  Szene  allein  acht  gibt  — 
also  das  Werk  zerlegt.  Damit  ist  aber  über  die  Ga  t tu  n  g  der  Stab  ge- 
brochen: nicht  das  Drama,  sondern  ein  Augenblick  ist  das  Resultat 
oder  eine  willkürHche  Auswahl.  Der  Schöpfer  einer  neuen  Gattung 
hat  acht  hier  zu  geben!  Nicht  die  Künste  immer  nebenein- 
ander, sondern  die  Mäßigung  der  Alten,  welche  der  menschlichen 
Natur  gemäß  ist  .  .  .  die  Heftigkeit  der  erregten  Empfindung  und 
die  Länge  der  Zeitdauer  stehen  im  Widerspruch.  Dies  ist  ein  Punkt, 
worin  der  Autor  selber  keine  entscheidende  Stimme  hat:  er  hat 
sich  langsam  an  sein  Werk  gewöhnt  und  es  in  langer  Zeit  ge- 
schaffen: er  kann  sich  gar  nicht  auf  den  Standpunkt  des  Aufneh- 
menden unbefangen  versetzen.  Schiller  machte  denselben  Fehler 
(sc.  im  ,Don  Carlos')  .  .  .  Anscheinend  Kunst  für  alle  bei  Wagner, 
weil  gröbere  und  feinere  Mittel  zugleich.  Doch  aber  an  bestimmte 
musikalisch-ästhetische  Erziehung  gebunden,  namenthch  an  morali- 
sche Gleichgültigkeit .  .  .  Wagners  Nibelungenring  sind  strengste 
Lesedramen,  auf  die  innere  Phantasie  rechnend,  hohes  Kunst- 
genre ...  epische  Motive  für  die  innere  Phantasie:  viele  Szenen 
wirken  viel  schwächer  in  der  Versinnlichung  (der  Riesenwurm  und 
Wotan)  .  .  .  diese  wilden  Tiere  mit  Anwandlungen  eines  sublimierten 
Zart-  und  Tiefsinnes  haben  nichts  mit  uns  zu  tun  .  .  .  Wotan, 
wütender  Ekel:  mag  die  Welt  zugrunde  gehen.  Brünhilde  liebt: 
mag  die  Welt  zugrunde  gehen.  Siegfried  hebt:  was  schiert  ihn  das 
Mittel  des  Betruges  (ebenso  Wotan).  Wie  ist  mir  das  alles  zuwider  .  .  . 
einzelne  Töne  von  einer  unglaubwürdigen  Natürlichkeit  wünsche  ich 


—     185     — 

nie  wieder  zu  hören;  ja  sie  auch  nur  vergessen  zu  können  .  .  . 
Anwandlung  der  Schönheit:  Rheintöchterszene,  gebrochene 
Lichter,  Farbenüberschwang  wie  bei  der  Herbstsonne,  Buntheit  der 
Natur,  glühendes  Kot,  Purpur,  melancholisches  Gelb  und  Grün  fließen 
durcheinander  ...  am  wenigsten  stimme  ich  denen  bei,  welche  mit 
Dekorationen,  Szene,  Maschinerie  in  Bayreuth  unzufrieden  waren. 
Viel  zu  viel  Fleiß  und  Erfindung  war  darauf  verwandt,  die  Phantasie 
in  Fesseln  zu  schlagen,  bei  Stoffen,  die  ihren  epischen  Ursprung 
nicht  verleugnen.  Aber  der  Naturalismus  der  Gebärde,  des 
Gesanges,  im  Vergleich  zum  Orchester!  Was  für  geschraubte,  er- 
künstelte, verdorbene  Töne,  was  für  eine  falsche  Natur  hörte  man 
da!  .  .  .  mehrere  Wege  zur  Musik  stehen  noch  offen  (oder  standen 
noch  offen,  ohne  Wagners  Einfluß):  organische  Gebilde  als  Symphonie 
mit  einem  Gegenstück  als  Drama  (oder  Mimus  ohne  Worte?)  und 
dann  absolute  Musik,  welche  die  Gesetze  des  organischen  Bildens 
wiedergewinnt  und  Wagner  nur  benützt  als  Vorbereitung.  Oder 
Wagner  überbieten:  dramatische  Chormusik,  Dithyrambus. 
Wirkung  des  Unisono.  Musik  aus  geschlossenen  Räumen  ins  Gebirge 
und  Waldgehege  .  .  .  Wagner  hat  den  Gang  unterbrochen,  unheil- 
voll, nicht  wieder  die  Bahn  zu  gewinnen.  Mir  schwebte  eine  sich 
mit  dem  Drama  deckende  Symphonie  vor.  Vom  Liede  aus  sich 
erweiternd.  Aber  die  Oper,  der  Effekt,  das  Undeutsche  zog  Wagner 
anderswohin.  Alle  nur  denkbaren  Kunstmittel  in  der  höchsten 
Steigerung  .  .  .  den  Untergang  der  letzten  Kunst  erleben  wir. 
Bayreuth  überzeugt  mich  davon"  ^). 

1)  Das  ist  ein  ungemein  scharf-,  aber  auch  feinsinniges  Urteil!  Denn 
weiter  ausgesponnen,  heißt  dieser  Gedanke,  daß  Wagner  in  seinem  Be- 
streben, das  Musikdrama  zu  schaffen,  die  Musik  —  das  Höchste!  —  einem 
ästhetischen  Stilprinzip  unbedenklich  geopfert  hat:  anstatt  der  Musik 
dramatisches  Leben  einzuhauchen,  hat  er,  weil  er  von  der  dramatischen  Idee 
nie  loskommen  konnte,  durch  seine  Musik  ein  Drama  symphonisiert.  Und 
doch  ist  diese  Musik  keine  Symphonie  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes; 
denn  weil  er  stets  an  der  dramatischen  Grundidee  festhielt,  entbehrt  seine 
Musik  der  Melodie  im  Sinne  Mozarts:  das  heißt,  er  wird  maßlos,  pathetisch, 
ausdrucksvoll,  seine  Melodie  wird  sozusagen  materialisiert.  Mit  dieser  extremen 
Forderung  an  die  Vorherrschaft  der  Musik  hat  Nietzsche  nicht  nur  die 
orthodoxesten  Wagnerianer,  sondern  vor  allem  Wagner  selbst  übertrumpft. 
Aber  angesichts  dieser  nicht  wegzuleugnenden  Tatsachen  scheint  mir 
Th.  Lessings  Frage  nicht  unberechtigt:  „Und  ist  endlich  das,  was  Nietzsches 
fanatische  Ausschließlichkeit  wider  Wagner  kehrt,   nicht  etwa  wirklich 


—     186     — 

In  der  Tat  ist  das  Wagnersche  Kunstwerk  aus  dem  primären 
Wesen  der  Musik  hervorgegangen,  während  Wagner  selbst  in  seiner 
Theorie  der  Musik  nur  eine  sekundäre  Rolle  zuweist.  Deshalb  ist  es 
die  vorzügUchste  Aufgabe  einer  objektiven  Kritik,  zu  untersuchen, 
wo  die  Theorie  den  Künstler  überwältigt  hat.  Man  darf  nicht  ein- 
wenden, daß  eine  solche  Kritik  überflüssig  ist.  Niemand  Geringerer 
als  Felix  v.  Weingartner,  also  sicher  einer  der  Berufensten,  warnte 
direkt  vor  der  Phrase,  die  fortwährend  wiedergekäut  wird,  daß  die 
Kunst  Wagners  Religion  sei,  über  die  sich  nicht  streiten 
lasse.  Es  sei  das  Vorrecht  des  großen  Künstlers,  sich  der  schärfsten 
Probe  auf  seine  goldene  Echtheit  zu  unterwerfen  —  und  Weingartner 
ist  überzeugt,  daß  Wagner  diese  Probe  bestehen  werde.  Sein  Bild 
werde  uns,  vielleicht  sogar  mit  deutlich  erkannten  Fehlern,  später 
einmal  wertvoller  sein  als  heute,  wo  wir  es  durch  den  trüge- 
rischen Schleier  unnahbarer  Vollkommenheit  anschauen. 
Denn  wer  so  oft  und  so  tief  in  unser  Leben  eingegriffen  habe  wie 
Wagner,  mit  dem  müßten  wir  uns  auch  auseinandersetzen  dürfen, 
inwieweit  er  ein  Recht  gehabt  habe,  dies  zu  tun.  Wahrlich,  mit  dem 
bloßen  Bewundern,    dem  Geltenlassen    dessen,    was  da  ist,    wie    es 


der  wunde  Punkt  einer  Kultur,  für  die  ihm  Wagner  nun  einmal  vorbildlich 
wurde?  —  Er  ergreift  an  ihm  ein  bestimmtes  Problem,  das  Problem  des 
Schauspielers,  des  Theaters !  Und  soweit  in  Wagner  Schauspieler  und  Theater 
stecken,  ist  er  tatsächhch  eine  Gefahr  für  echte  und  schlichte  Kunst . . . 
alles,  was  Wagner  im  ,Judentum  in  der  Musik'  an  Meyerbeer  tadelt,  der 
Vorwurf  des  Requisiten-  und  Kolophoniumzaubers  kehrt  sich  wider  ihn 
selbst...  Kultur  der  Kulisse,  Requisit  und  Kostüm  treue  sind  Hemmnisse 
einer  neuen  Kunst.  Wagner  hat  beigetragen  zu  dieser  entsetzUchen  Barbarei, 
die  in  den  Sinnen  den  Sinn  erstickt,  und  im  Bestreben,  alles  greifbar- sinnfällig 
zu  machen,  die  selbstaufbauende  Phantasie  der  Hörer  ertötet."  Das  Aller- 
interessanteste  aber  ist,  daß  Nietzsche  bei  Formulierung  dieser  seiner  Kritik 
ganz  auf  aristotelischer  Grundlage  fußt  •—  also  war  er  sich  schon  damals 
des  unüberbrückbaren  Gegensatzes  zwischen  Hellenentum  und  Wagnertum 
voll  bewußt!  —  denn  bei  Aristoteles  heißt  es  in  der  Poetik,  c.  6:  „Das 
Trauerspiel  ist  eine  nachahmende  Darstellung  nicht  von  Menschen,  sondern 
von  Handlungen  und  Leben...  Es  sind  aber  die  Menschen  je  nach  ihren 
Charakteren  so  oder  so  beschaffen,  nach  ihren  Handlungen  jedoch  glückselig 
oder  das  Gegenteil  davon.  So  agieren  denn  die  Bühnenflguren  nicht,  um 
Charaktere  darzustellen,  sondern  sie  nehmen  die  Charaktere  um  der  Hand- 
lungen willen  in  den  Kauf.  Die  Begebenheiten  und  die  Fabel  sind  somit  der 
Zweck  des  Trauerspiels...  Ein  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Behauptung 
ist  es,  daß  die  angehenden  Dichter  früher  dazu  gelangen,  in  der  Diktion  und 


—     187     — 

auch  ist,  tut  man  nicht  nur  einem  Kunstwerke,  sondern  auch  einem 
Künstler  nicht  geringeres  Unrecht  als  die  Kritiker,  die  Goethes 
, Dilettant  und  Kritiker"  verhöhnt.  Kein  Künstler  ist  selbst  im  Un- 
organischen so  organisch  wie  Wagner:  wie  er  selbst  in  den 
„Meistersingern"  so  schön  sagt:  „Die  Meisterregeln  lernt  bei  Zeiten, 
daß  sie  getreuhch  euch  geleiten!"  hat  er  sich  an  dieses  Gebot  stets 
gehalten.  Wie  unwillkürUch  tauchen  aus  den  dramatischen  Wogen 
seiner  Tonfldten  die  festumrissenen  Formen  der  alten  Oper 
wieder  hervor,  ohne  die  er  in  seinen  eigenen  Tonfluten  er- 
trunken wäre.  Diese  Formen  gleichen  Sicherheitsbooten,  deren 
sich  ein  Schwimmer,  der  weite  Distanzen  durchmißt,  von  Zeit  zu  Zeit 
versichert.  Darum  gab  Wagner  unstreitig  dort  sein  Schönstes  und 
Bestes,  wo  er  sich  der  alten  Oper  wieder  näherte:  erster  Akt 
„Siegfried",  die  Schmiedelieder;  „Tristan",  zweiter  Akt,  Duett: 
„0  sink'  hernieder"  etc.  etc.  Diesen  Akten  würden  Wotans  Frage- 
spiel mit  Mime  oder  die  langatmige  ^Psalmodie  Markes  wohl  schwerlich 
die  Unsterblichkeit  gesichert  haben.  Diese  Beispiele  könnten  noch 
unzählig  vermehrt  werden.  Dafür  bietet  aber  kein  Werk  Wagners 
eine  solche  vollständige  Übereinstimmung  zwischen  seiner  Theorie 
und  Kunst  wie  der  „Parsifal" :  den  harmonischen  Einklang  zwischen 


Charakteristik  etwas  Erkleckliches  zu  leisten  als  im  Bau  der  Fabel . . .  Die 
szenische  Ausstattung  entbehrt  zwar  nicht  des  bestrickenden  Reizes,  doch 
ist  sie  das  geistesärmste  Element  und  hat  mit  der  Stilkunst  am  wenigsten 
zu  schaffen ;  tut  doch  überhaupt  das  Trauerspiel  auch  ohne  schauspielerische 
Aufführung  seine  Wirkung,  und  zudem  ist  bei  der  Anfertigung  der  Bühnen- 
requisite die  Kunst  des  Theatermeisters  maßgebender  als  jene  des  Dichters." 
—  c.  7:  „Das  Schöne  bedarf  nicht  nur  einer  Ordnung  seiner  Teile,  sondern 
auch  einer  gewissen,  nicht  eben  beliebigen  Größe.  Beruht  doch  alle  Schönheit 
auf  Größe  und  Ordnung...  Auch  die  Fabeln  müssen  eine  stattliche,  aber 
nicht  eine  der  Erinnerung  abträgliche  Länge  besitzen,  sonst  geht  dem  Be- 
trachtenden ihre  Einheit  und  Ganzheit  verloren...  Je  größer  innerhalb  der 
Grenzen  der  Übersichtlichkeit  die  Ausdehnung  einer  Fabel  ist,  um  so  größer 
ist  auch  insoweit  ihre  Schönheit..."  c.  24:  „Anfang  und  Ende  muß  man 
zugleich  überschauen  können..."  c.  18:  „Aus  dem  Trauerspiel  darf  man  nicht 
einen  eposartigen  Bau  machen.  Unter  ,eposartig'  verstehe  ich  den  allzu 
großen  Stoffreichtum..."  c.  24:  „Im  Trauerspiel  können  nicht  mehrere 
gleichzeitige  Geschehnisse  zur  Darstellung  gelangen,  sondern  nur  eben  das, 
was  jedesmal  auf  der  Bühne  durch  Schauspieler  erfolgt.  Im  Epos  aber  er- 
möglicht es  die  erzählende  Form,  daß  man  mehrere  Teile  der  Handlung 
zugleich  verlaufen  läßt,  wodurch,  ihre  iimere  Verwandtschaft  vorausgesetzt 
die  Wucht  des  Dichterwerkes  erhöht  wird." 


—     188     — 

Gewolltem  und  Geschaffenem.  Niemand  hat  dies  als  erster  klarer 
und  deutlicher  ausgesprochen  als  gerade  Nietzsche,  wiewohl  er  selbst 
die  dem  Parsifaldrama  zugrunde  liegende  Tendenz  auf  das  ent- 
schiedenste bekämpfte.  Der  Parsifal  ist  daher  nicht  das  Ende,  sondern 
der  Anfang  eines  neuen  musikdramatischen  Stils. 

An  dieser  Stelle  möge  es  mir  gestattet  sein,  Friedrich  Hebbels 
zu  gedenken  und  seiner  Stellungnahme  zu  Wagners  Kunstwerken. 
Als  Hebbel  Wagners  Werk:  „Oper  und  Drama"  gelesen  hatte,  re- 
ferierte er  darüber  am  27.  April  1852  an  den  Baron  Zigesar,  Inten- 
danten des  Weimarischen  Hoftheaters:  „Alle  Reform  vorschlage 
Wagners  beruhen  auf  gründlichem  Mißverständnis  des  Dramas. 
Welch  ein  Irrtum,  das  Drama,  welches  die  Totalität  des  Menschen 
und  der  Welt  in  sich  aufnehmen  und  wiedergeben  soll,  auf  die  Ge- 
fühlsmomente beschränken  zu  wollen!  Das  hieße,  es  zu  einer  Ka- 
stration verdammen,  die  wahrlich  nicht  weit  mehr  vom  Selbstmorde 
entfernt  wäre...  die  Tragödie  müßte  auf  alles  Verzicht  leisten, 
was  den  Dichter  in  Spannung  setzt...  die  Wahrheit  ist,  daß 
die  Musik  nur  die  Gefühlsmomente  ausdrücken  kann;  daraus  folgt 
aber  nicht,  daß  das  Drama  die  übrigen  ausscheidet,  sondern  einzig 
und  allein,  daß  jene  sich  auf  sie  beschränken  soll:  Im  übrigen  bin 
ich  längst  der  Überzeugung  gewesen,  daß  zwischen  Drama  und 
Musik  eine  weit  innigere  Verbindung  möglich  ist,  als  bisher  bestand. 
Das  Drama,  wenigstens  das  höhere,  hat  immer  Momente,  wo  es 
aus  Ökonomie  sich  individualisieren  darf  und  doch  auf  eine  Wirkung 
rechnen  muß,  die  durch  ein  paar  allgemeine  Linien  nur  halb  erreicht 
wird;  dort  trete  jedesmal  die  Musik  ein...  als  bloßer  Sauerteig, 
der  einmal  alles  wieder  in  Gärung  bringt,  hat  Wagner  seine  Berech- 
tigung. Seine  Dichtungen  sind  als  Opern  texte  vortrefflich,  wollen  sie 
aber  als  Surrogat  für  Dramen  gelten,  so  sind  sie  der  beste  Beweis 
für  das,  was  ich  sagte."  Daher  schrieb  er  dann  am  19.  Mai  weiter: 
„Wagners  Musik  verhält  sich  zum  Text  wie  das  heiße,  rollende 
Blut  zur  leeren,  ausgespritzten  Ader."  Über  den  „Lohengrin"  äußerte 
sich  Hebbel  gegenüber  der  Fürstin  v.  Wittgenstein:  „Der  Text  ist, 
das  Verhältnis  der  Musik  im  Auge  behaltend,  gewiß  einer  der  aller- 
vortrefflichsten,  aber  die  Aufgabe  des  Dramas  fängt  eben  da  erst 
an,  wo  er  aufhört,  und  zwar  im  einzelnen,  in  jedem  Vers  wie  im 
ganzen,  im  Gesamtorganismus."  Aber  auch  Hebbel  ward  durch 
Wagners    künstlerische    Gewalt    überwunden   —   Nietzsche    prägte 


-     189     — 

dafür  das  Drastikon,  Wagner  werfe  den  stärksten  Stier  noch  um !  — 
und  lieferte  sich  der  Macht  dieser  Tonsprache  mit  offener  Seele  aus, 
bis  er  bekannte,  „daß  alle  Künste  nur  verschiedene  Anläufe  einer 
und  derselben  Urkraft  seien"  —  der  Musik! 

Aus  allen  diesen  Ausführungen  erhellt,  daß  Wagners  Bedeutung 
nur  auf  dem  Gebiete  der  Musik  liegt:  „Tristan",  „Meistersinger^' 
und  „Parsifal"  sind  Marksteine  seiner  Entwicklung ;  rein  als  Dichter- 
werk gesehen  hat  jedoch  keines  seiner  Dramen  Bedeutung,  so  wenig 
man  die  dramatische  Begabung  Wagners  und  die  Größe  auch  seiner 
dichterischen  Intentionen  verkennen  darf.  Und  doch  ist  auch  der 
„Ring"  intuitiv  erschaut  und  keineswegs  nach  einer  philosophischen 
Formel  geschaffen.  Der  stärkste  Beweis  für  diese  Tatsache  ist  der 
Umstand,  daß  Wagner  erst  nach  seiner  Bekanntschaft  mit  Schopen- 
hauer (1854)  erkannte,  daß  der  „Ring",  den  er  selbst  bislang  nach 
Feuerbach  optimistisch  ausgedeutet  hatte,  ganz  mit  Pessimismus 
durchtränkt  sei.  Nietzsche,  der  große  Jasager  zum  Leben,  war  zuerst 
ganz  natürhch  für  dieses  Werk  so  begeistert,  weil  seine  optimistische 
Tendenz  ganz  im  Einklang  stand  mit  seiner  Vorliebe  für  den 
Willen  zur  Macht,  als  dessen  vollendetste  Verkörperung  ihm  Sieg- 
fried erschien.  Wenn  daher  Wagner  mit  einer  nicht  zu  verkennenden 
Selbstbefriedigung  seine  Ringtragödie  sich  mit  der  Schopenhauerschen 
Philosophie  interpretierte,  so  konnte  es  ihm  Nietzsche  natürlich  um 
so  weniger  mehr  verzeihen,  daß  der  Meister  seine  eigene  Vision, 
die  er  in  der  „Geburt  der  Tragödie"  und  in  der  „IV.  Unzeitgemäßen" 
gezeichnet  hatte,  durch  die  fratzenhafte  Verwirkhchung,  wie  das 
reale  Bayreuth  sie  darstellte,  geschändet  habe:  der  Mann,  der  einen 
Siegfried,  einen  Tristan  und  die  Meistersinger  geschaffen  hatte,  war 
zu  deren  Gegenidealen  kondeszendiert  und  hatte  der  mächtigen 
Pyramide  seines  Daseins  die  letzte  krönende  Spitze  für  immer  ge- 
raubt; hatte  um  des  raschen  Erfolges  bei  Lebzeiten  willen  sein 
revolutionäres  Werden  vorzeitig  in  einem  pseudolegitimen  Sein 
erstarren  lassen.  Darum  galt  die  Gestalt  Siegfrieds  Nietzsche  als 
der  ganzen  so  späten  lateinischen  Rasse  für  immer  unzugänglich, 
unnachfühlbar,  unnachahmlich:  dieser  sehr  freie  Mensch,  der  in  der 
Tat  bei  weitem  zu  frei,  zu  hart,  zu  wohlgemut,  zu  gesund,  zu  anti- 
hatholisch  für  den  Geschmak  alter  und  mürber  Kulturen  sei.  Heute  sah 
er  Wagner  nicht  mehr  durch  eine  selbstkonstruierte  Brille,  sondern 
er   sah  die  Wirklichkeit    und  bekannte  resigniert:    „Man  sieht,  was 


—     190     — 

ich  verkannte,  womit  ich  Wagner  und  Schopenhauer  beschenkte 
—  mit  mir!"  Wiewohl  dieser  Standpunkt  Nietzsches  bei  der  Be- 
urteilung der  Nibelungentragödie  und  des  Parsifal  einer  gewissen 
Einseitigkeit  nicht  entbehrt,  so  ist  es  dennoch  eine  irrige,  wenn 
auch  ernster  zu  nehmende  Ansicht,  die  behauptet,  wegen  dieser 
Meinungsverschiedenheiten  hätte  Wagner  Nietzsche  nicht  fallen 
lassen  dürfen.  Wer  diese  Ansicht  vertritt,  der  begeht  nur  den  einzigen 
Fehler,  seinen  eigenen  Horizont  mit  demjenigen  großer,  apostolisch 
veranlagter  Männer  zu  verwechseln;  weil  ihm  eben  die  Weit- 
anschauung keine  Herzenssache,  nichts  Persönhches  ist;  begreift  er 
nicht,  daß  sie  für  Männer  wie  Nietzsche  oder  Wagner  das  Alier- 
herzlichste,  das  Allerpersönlichste  darstellt.  Im  weiteren  Verlaufe 
meiner  Darstellung  werde  ich  auf  diesen  Punkt  noch  ausführlicher 
zu  sprechen  kommen. 

Aufzeichnungen  aus  dem  Jahre  1878,  die  eine  Art  Rückblick 
über  die  Bayreuther  Zeit  sind,  besagen,  daß  Nietzsche,  weil  er  mit 
einem  Ideal  nach  Bayreuth  gekommen  war,  die  bitterste  Enttäuschung 
erleben  mußte:  „Mein  Fehler  war  der,  daß  ich  nach  Bayreuth  mit 
einem  Ideal  kam;  so  mußte  ich  denn  die  bitterste  Enttäuschung 
erleben^).  Die  Überfülle  des  Häßlichen,  Verzerrten,  Überwürzten 
stieß  mich  heftig  zurück ...  ich  habe  hoch  über  Wagner  die 
Tragödie  mit  Musik  gesehen  —  und  hoch  über  Schopenhauer  die 
Musik  in  der  Tragödie  des  Daseins  gehört."  Er  hatte  Wagner 
„überwagnert".  Er  gelobte  sich  damals,  lieber  gar  nicht  mehr  zu 
leben,  als  seine  Mahlzeiten  wie  bisher  unter  dem  Schauspielervolk 
und  den  höheren  Kunstreitern  des  Geistes  zu  teilen;  er  fühlte  sich 
wie  unter  Zigeunern  und  Spielleuten,  unter  lauter  Caghostros  und 
unechten  Menschen;  er  machte  sich  Vorwürfe,  daß  er  dort  gehebt 
habe,  wo  er  hätte  verachten  sollen.  Bitter,  wie  Hohn  klingt  sein 
Geständnis  im  „Ecce  homo":  „Was  ich  in  jungen  Jahren  bei 
Wagnerischer  Musik  gehört  habe,  hat  überhaupt  nichts  mit  Wagner 
zu  tun.    Wenn  ich  die  dionysische  Musik  ^)  beschrieb,    beschrieb  ich 


1)  Cf.  Goethe  (Schweizerreise  1797):  „Die  Erfahrung  ist  fast  immer 
eine  Parodie  auf  die  Idee."  Dem  ist  in  der  Tat  so:  in  seiner  „IV.  Unzeit- 
gemäßen" beschrieb  Nietzsche  den  Meister,  wie  er  ihn  haben  möchte,  nicht 
wie  er  ist! 

2)  Nietzsche  hatte  das  Leben  gesucht,  der  Lebensbedürftige  dionysisches 
Leben,  das  lachend  alles  Endliche  verneinen  durfte,  weil  es  des  Unendlichen 


—     191     — 

das,  was  ich  gehört  hatte  —  ich  mußte  instinktiv  alles  in  den 
neuen  Geist  übersetzen  und  transfigurieren,  den  ich  in  mir  trug.** 
Und  da  riß  er  denn  dieses  Ideal  seiner  Jugend  mit  blutenden  Wurzeln 
aus  seinem  Herzen,  jagte  alle  die  Träume,  die  seine  Jugend  bis 
dahin  geliebt  hatte,  von  sich  und  ging  unbarmherzig  den  Weg 
der  Erkenntnis  um  jeden  Preis  weiter.  „Was  sich  damals  bei 
mir  entschied,"  erzählte  er  weiter,  „war  nicht  etwa  ein  Bruch 
mit  Wagner:  ich  empfand  eine  Gesamtabirrung  meines 
Instinktes,  von  der  der  einzige  Fehlgriff,  heiße  er  Wagner  oder 
Baseler  Professur,  bloß  ein  Zeichen  war."  Deshalb  schrieb  er  im 
Vollgefühle  der  gelungenen  Selbstbefreiung  an  Frau  Andreas-Salome 
(1882):  „Ich  habe  so  viel  in  bezug  auf  Wagner  und  seine  Kunst 
erlebt  —  es  war  eine  ganze  lange  Passion.  Ich  finde  kein 
anderes  Wort  dafür.  Die  hier  geforderte  Entsagung,  das  hier  endlich 
nötig  werdende  Mich-schön-Wiederfinden  gehört  zu  dem 
Härtesten  und  Melancholischesten  in  meinem  Schicksal."  Aus  seinem 
Tagebuche  seien  folgende  Aufzeichnungen  aus  dem  Jahre  1876 
zitiert:  „Zuerst  hat  man  in  seiner  intellektuellen  Leidenschaft  den 
guten  Glauben ;  aber  wenn  diese  bessere  Einsicht  sich  regt,  tritt  der 
Trotz  auf,  wir  wollen  nicht  nachgeben.  Der  Stolz  sagt,  daß  wir 
genug  Geist  haben,  um  auch  unsere  Sache  zu  führen.  Der  Hoch- 
teilhaft war,  Lebens  Verneinung  aus  Lebensübermaß,  Lebensvernichtung  aus 
Urlust  und  Schöpfungslust.  Das  war  die  dionysische  Gewalt  der  Musik,  daß 
sie  uns  hier,  im  Endlichen,  schon  am  Unendlichen  teilgibt.  Wagners  Kunst 
indes  „ist  überfliegend  und  transzendental;  sie  hat  etwas  wie  Flucht  aus 
dieser  Welt,  sie  negiert  dieselbe,  sie  verklärt  diese  Welt  nicht!"  In  gesunden 
Tagen  hatte  er  seine  Lebensfülle,  seinen  Lebenswillen  in  Wagners  Musik 
hineingeworfen,  er  hatte  sie  über  sich  selbst  hinausgedeutet,  er  war  an 
Wagner  zum  Dichter  geworden.  War  es  die  Vermischung  von  Musik  und 
Drama,  von  Wille  und  Erscheinung,  vom  Unendlichen  der  Musik  und  der 
Gebundenheit  ans  Endliche  durch  Person  und  Wort,  die  diese  Musik  nicht 
zu  ihrer  reinen  Wesenheit,  zur  absoluten  Lust  befreite,  die  ihr  nicht  die 
Erlösung  im  Endlichen,  sondern  nur  vom  Endlichen  möglich  machte ;  pessi- 
mistisch schwächliche  Weltflucht  und  müde  Verneinung?  „Mehrere  Wege 
zur  Musik  stehen  uns  noch  offen:  organische  Gebilde  als  Symphonie  mit 
einem  Gegenstück  als  Drama  (oder  Mimus  ohne  Worte?)  und  dann  absolute 
Musik,  welche  die  Gesetze  des  organischen  Hildens  wiedergewinnt  und 
Wagner  nur  benutzt  als  Vorbereitung?  Mir  schwebte  eine  sich  mit  dem 
Drama  deckende  Symphonie  vor.  Vom  Liede  aus  sich  erweiternd.  Aber  die 
Oper,  der  Effekt,  das  Undeutsche  zog  Wagner  anderswohin."  (Cf.  Ph.  Witkop, 
„Die  neue  deutsche  Lyrik",  II,  p.  364/65. 


—     192     — 

mut  verachtet  die  Einwendungen  wie  einen  niedrigen,  trocken- 
herzigen Standpunkt.  Die  Lüsternheit  zählt  sich  die  Freuden  im 
Genießen  noch  auf  und  bezweifelt  sehr,  daß  die  bessere  Einsicht  so 
etwas  bieten  kann.  Das  Mitleid  mit  dem  Abgott  und  seinem 
schweren  Lose  kommt  hinzu;  es  verbietet,  seine  Un Vollkommenheiten 
so  genau  anzusehen:  dasselbe  und  noch  mehr  tut  die  Dankbarkeit. 
Am  meisten  die  vertrauliche  Nähe,  die  Treue  in  der  Lust  des 
Gefeierten,  die  Gemeinsamkeit  in  Glück  und  Gefahr.  Ach,  und  sein 
Vertrauen  auf  uns  scheucht  den  Gedanken,  daß  er  unrecht  habe, 
wie  einen  Verrat,  eine  Indiskretion,  von  uns." 

Frau  Förster  sagt,  dieser  Bayreuther  Festspiele  gedenkend 
daß  sie  sich  nie  werde  überreden  können,  daß  Wagner  im  Innern 
von  dieser  Bayreuther  Festzeit  wirkUch  befriedigt  gewesen  sei.  Er 
habe  nur  so  getan!  —  Wagner  sei  nicht  mehr  jung  genug  und 
aufrichtig  gewesen,  um  gegen  sich  selbst  Partei  nehmen  zu  können. 
Diese  Überzeugung  der  Frau  Förster  ist  insofern  richtig,  als  tat- 
sächlich der  pekuniäre  und  künstlerische  Erfolg  dieses  ersten  Fest- 
spieljahres weit  hinter  den  gestellten  Erwartungen  zurückblieb.  Es 
ist  nun  klar,  daß  über  so  ein  Resultat  der  Meister  nichts  weniger 
als  befriedigt  sein  konnte,  daß  er  mit  banger  Sorge  der  nächsten 
Zukunft  entgegenblickte.  Aber  diese  Tatsache,  daß  eine  der  größten 
künstlerischen  Taten  des  XIX.  Jahrhunderts  mit  wahrhaft  unzu- 
reichenden Mitteln  vollbracht  worden  war,  gibt  keineswegs  zu  der 
Forderung  Anlaß  und  Berechtigung:  weil  das  Streben  Wagners  etwa 
zwecklos  gewesen  sei '),  hätte  er  als  alter  Mann  seinem  Streben  ein 
anderes  Ziel  geben  sollen,  ein  Ziel,  das  sich  mit  dem  Nietzsches 
gedeckt  hätte.  Dazu  war  Wagner  gewiß  nicht  mehr  jung  gewesen. 
Und  wenn  er  daher,  unbeirrt  durch  Nietzsches  ablehnende  Haltung, 
auf  dem  einmal  betretenen  Pfade  weiterging,  so  blieb  er  sich  selbst 
treu,  genau  so  treu,  wie  Nietzsche  gegen  sich  selbst  treu  war.  So 
wurden  beide  das,  was  sie  werden  mußten. 

Man  müßte  aber  freilich  ein  schlechter  Seelenkenner  sein, 
wollte  man  die  furchtbare  seelische  Erschütterung  verkennen,  die 
aus  Nietzsches  Worten  zu  uns  spricht,  daß  ihn  sein  teuerstes  Ideal, 
seine   heißeste  Hoffnung   so    schmählich    getrogen    hat.    War,    wie 


*)  Cf.  hiezu  die  feinsinnigen  Ausführungen  Höflers  (1.  c),  der  diese 
ereignisreichen  Tage  als  Augenzeuge  mitgemacht  hat.  Der  nunmehr  Ver- 
ewigte hat  mir  oft  und  oft  von  ihnen  erzählt! 


—     193     — 

schon  erwähnt,  seine  durch  die  Kriegsstrapazen  ohnehin  schon  stark 
angegriffene  Gesundheit  erschüttert  gewesen,  so  sollten  alle  diese 
schmerzlichen  Enttäuschungen  und  seehschen  Kämpfe  den  Ausbruch 
einer  Katastrophe  nur  noch  beschleunigen:  Bereits  Weihnachten  1875 
brach  Nietzsche  zusammen,  und  Monate  dauerte  es,  bis  er  sich 
wieder  erholte.  Dann  kam  der  unsehge  Sommer  des  Jahres  1876: 
„ein  Ekel  vor  sich  selber"  überfiel  ihn,  „sein  Ekel  an  den  Menschen 
war  zu  groß  geworden",  er  floh  nach  Italien,  Ruhe  wollte  er  sich 
geben  und  „den  Menschen".  Jene  Ruhe  wollte  er  ihnen  wiedergeben, 
„ohne  welche  keine  Kultur  werden  und  bestehen  kann.  Ebenso  die 
Schlichtheit,  Ruhe,  Einfachheit  und  Größe!  Auch  im  Stil  ein  Abbild 
dieses  Strebens,  als  Resultat  der  konzentriertesten  Kraft  seines 
Strebens".  In  der  ländlichen,  friedlichen  Stille  seines  Aufenthaltes  in 
Italien  fand  Nietzsche  in  der  Tat  die  heißersehnte  Ruhe  wieder,  die 
Wogen  des  stürmisch  aufgewühlten  Gemütes  legten  sich,  und  er 
faßte  einen  schweren  Entschluß:  mochte  der  Meister  immerhin 
Pfade  betreten  haben,  auf  denen  er  ihm  nicht  folgen  zu  können 
glaubte,  der  Person  des  von  ihm  über  alles  geliebten  Mannes  wollte 
er  treu  bleiben.  Aber  da  kam  auch  die  Familie  Wagner  nach  Sorrent, 
und  er  und  Nietzsche  hatten  sich  nicht  mehr  viel  zu  sagen.  Rück- 
sichtslos schob  der  alte  Mann  seinen  jungen  Freund  beiseite,  sobald 
sich  zwischen  seinen  Interessen  und  denen  Nietzsches  eine  unüber- 
brückbare Kluft  auftat.  Nur  als  Werkzeug  war  ihm  Nietzsche  will- 
kommen gewesen;  er  durfte  nicht  seine  eigenen  Wege  gehen,  all 
sein  Sinnen  und  Trachten  sollte  ganz  der  Person  des  Meisters  und 
dessen  Werk  erhalten  bleiben,  ja  Nietzsche  sollte  zwischen  Wagner 
und  dessen  Söhnlein  jenes  „Glied  bilden",  dessen  der  alte  Mann 
bedurfte,  „etwa  wie  der  Sohn  zum  Enkel".  Denn  durch  sein  Söhn- 
lein wurde  Wagner  direkt  auf  Nietzsche  hingewiesen  und  „ihm  die 
Sucht  eingegeben,  alle  seine  auf  Nietzsche  gegründeten  Hoffnungen 
buchstäblich  zur  Erfüllung  getrieben  zu  sehen,  da  der  Junge  diesen 
brauche".  Dieses  Ansinnen  ihm  gegenüber  hat  Nietzsche  sehr  bitter 
empfunden,  zumal  er  fühlte,  daß  zwischen  ihm  und  Wagner  schon 
längst  nicht  mehr  die  anfänghche  innige  Geistesgemeinschaft  bestehe. 
Wagner  überwachte  ängstlich  jeden  Schritt  seines  Freundes  und 
wollte  es  durchaus  nicht  gestatten,  daß  dessen  zur  Selbständigkeit 
erwachter  Genius  seine  Flügel  rege.  Wir  wissen  bereits,  daß  Nietz- 
sches  „II.  Unzeitgemäße"    keineswegs    Wagners   Erwartungen    ent- 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche,  ]^3 


—  :  194     — 

sprechen  hatte,  während  dagegen  Nietzsche  gelegentlich  seines  Auf- 
enthaltes in  Sorrent  sich  in  den  Gedanken  schon  eingelebt  hatte, 
Wagner  seinen  eigenen  Weg  gehen  lassen  zu  müssen,  wobei  er 
freihch  die  Hoffnung  hegte,  dali  auch  Wagner  seinerseits  ihm  dieses 
Zugeständnis  machen  werde,  so  daß  er  nichts,  was  seinen  Anschau- 
ungen widerstrebte,  anzuerkennen  und  nicht  mehr  anders  zu  scheinen 
brauchte,  als  wie  er  dachte.  Vielleicht  wäre  dies  möghch  gewesen: 
aber  Nietzsche  verkehrte  in  Sorrent,  wie  wir  bereits  wissen,  mit 
Paul  Ree,  der  Wagner  höchst  unsympathisch  war;  durch  diesen 
wurde  Nietzsche  mit  den  englischen  Positivisten  bekannt  und  lernte 
er  von  ihm,  seine  skeptische  Kritik  auf  der  historischen  Psychologie 
zu  begründen.  Auch  wurde  Nietzsche  durch  R6e  in  seiner  unter 
Langes  Einfluß  stehenden  prinzipiellen  Ablehnung  der  Metaphysik 
nur  noch  bestärkt.  So  mußte  Wagner  immer  mehr  in  der  Hoffnung 
enttäuscht  werden,  in  Nietzsche  einen  aufrichtigen  Verehrer  seiner 
Person  und  gläubigen  Vertreter  seiner  Denkrichtung  zu  haben.  Und 
dennoch!  Diesen  Mann  wollte  Wagner  auf  seine  Schwenkung  zum 
Christentum  vorbereiten,  ja,  er  hat  es  getan.  Denn  des  Meisters 
Ziele  hatten  sich  vom  Leben  immer  mehr  abgewandt,  die  Nietzsches 
dem  Leben  dagegen  immer  mehr  zugewandt.  Wagner  war  der 
Meinung,  daß  sich  die  tiefsten  Wahrheiten  nur  in  der  Kunst,  der 
Metaphysik,  der  Religion  entschleiern;  Nietzsche  hielt  zunehmend 
das  von  künstlerischen,  metaphysischen,  religiösen  Vorurteilen 
gereinigte  wissenschafthche  Denken  für  das  Vehikel  der  Wahrheit. 
Wagner  geriet  zunehmend  in  den  Mystizismus,  Nietzsche  in  den 
Positivismus.  Deshalb  mögen  die  damals  zwischen  beiden  Männern 
geführten  Gespräche  dem  äußerlichen  Anscheine  nach  die  Formen 
der  Höflichkeit  getragen  haben,  innerlich  jedoch  mußten  sie  erkennen 
lassen,  daß  beide  kein  geistiges  gemeinsames  Band  mehr  vereinte. 
Im  „Zarathustra"  findet  sich  folgende  schöne  Sentenz,  die  wohl  im 
Hinblick  auf  den  damaligen  Verkehr  Nietzsches  mit  Wagner  geprägt 
worden  sein  mag:  „Wie  lieblich  ist  es,  daß  Worte  und  Töne  da 
sind;  sind  nicht  Worte  und  Töne  Regenbogen  und  schöne  Brücken 
zwischen  ewig  Geschiedenem?"  Die  untrügliche  Überzeugung,  daß 
Nietzsche  seinen  Ideengang  nicht  mehr  teile  und  nie  mehr  teilen 
werde,  brachten  dem  Meister  die  beiden  Aphorismensammlungen: 
„Menschhches,  Allzumenschliches",  in  denen  Nietzsche  sein  einstiges 
Ideal  nunmehr  offen  angriff. 


—     195     — 

Professor  Richter  nennt  diese  stürmisch  bewegte  Zeit  im  Leben 
Nietzsches  den  dritten  Akt  seiner  Freundschaftstragödie  mit  Wagner : 
Seine  innere  Freiheit  hat  er  sich  mit  äußerer  Gebrochenheit  erkauft, 
als  er  aus  Bayreuth  floh.  „Die  Freundschaft,  die  der  philosophische 
Segen  einst  geschlossen,  sie  hob  der  philosophische  Fluch  nun 
wieder  auf."  Diese  Lösung  Nietzsches  von  Bayreuth  mußte  so  kommen, 
wie  sie  tatsächlich  gekommen  ist,  nicht  etwa  im  Sinne  des  Kausal- 
gesetzes, sondern  im  Sinne  einer  höheren  Zwangsrichtung,  die  durch 
keine  niedere  aufzuhalten  ist.  Bei  beiden  Genies  herrschte  der  Trieb  vor: 
die  Wahrheit  zu  erkennen,  sie  zu  gestalten,  sie  zu  leben.  Es 
begegnet  uns  hier  dieselbe  Tragödie,  von  der  die  Geschichte  oft 
Kunde  gibt,  nämlich  daß  große  und  starke  Persönhchkeiten  allein 
ihres  Weges  gehen  und  nur  außerordentlich  selten  Schüler  von 
gleicher  Bedeutung  heranzuziehen  oder  in  ihrem  Bannkreis  zu  er- 
halten vermochten;  und  wenn  andere  Heroen  ihre  Wege  kreuzten, 
waren  die  abstoßenden  Wirkungen  größer  als  die  anziehenden.  So 
war  es  im  alten  China  zwischen  Konfuzius  und  Laotse,  so  spalteten 
sich  die  Triumvirate  der  ausgehenden  römischen  Republik.  Aus  der 
neuesten  Zeit  könnte  man  sich  an  das  Verhältnis  von  Schleiermacher 
und  Hegel  erinnern.  Wo  aber  ein  Bündnis  hielt,  wie  zwischen 
Luther  und  Melanchthon,  da  ging  es  auch  nicht  ohne  Konflikte  ab^ 
die  nur  durch  eine  außerordentliche  sittliche  Selbstzucht  und  durch 
die  stärkste  sachliche  Einheit  in  letzten  Fragen  überwunden  wurden. 
Die  sachliche  Einheit  zwischen  Wagner  und  Nietzsche  begann  in 
dem  Augenblicke  zu  schwinden,  als  Nietzsche  ihre  gemeinsame 
Grundlage  —  Schopenhauer  —  auszuschalten  begann  und  sich  zu 
einem  internationalen  Denker  und  zum  „Antichristen"  entwickelte, 
während  Wagner  immer  mehr  nationalen  und  rehgiösen  Tendenzen 
huldigte:  „Was  ich  Wagner  nie  vergessen  habe...,  daß  er  reichs- 
deutsch wurde!"...  „Der  Dienst  der  Wahrheit  ist  der 
härteste  Dienst,  und  was  heißt  denn  rechtschaffen  sein 
in  geistigen  Dingen?  Daß  man  streng  gegen  sein  Herz 
ist,  daß  man  die  schönen  Gefühle  verachtet,  daß  man 
aus  jedem  Ja  und  Nein  ein  Gewissen  macht!"  Diese  stolzen 
Worte  konnte  und  durfte  allerdings  nur  ein  Nietzsche  aus  tiefster 
Seele  heraus  bekennen!  Wohl  im  Hinblick  auf  diese  Worte  konnte 
Hugo  Dinger  in  seiner  „Dramaturgie  als  Wissenschaft",  I,  p.  38, 
sagen:    „Der   einzige    ernste   und  gefährliche  Wagnerianer 

13* 


—     196     — 

ist  Nietzsche;  warum?  Weil  er  Wagner  bis  ins  Mark  verstanden 
hat;  er  griff  dessen  Werke  in  deren  Inhalt  an,  nicht  mit  will- 
kürlicher Normkritik. "  Daher  war  die  Freundschaft  nur  eine 
Äußerung  dieses  Triebes,  der  Freund  nur  Kampfgenosse  für  die 
gleichen  Ideale.  Zählen  wir  dazu  noch  den  großen  Altersunterschied, 
von  dem  Nietzsche  in  einem  Briefe  spricht,  so  kommen  wir  zu 
demselben  Resultat :  der  eine  befand  sich  in  seiner  Sturm  und  Drang- 
Periode,  der  andere  am  Ende  seiner  Bahn,  neuer  Wandlungen  nicht 
mehr  fähig.  Und  hatte  Nietzsche  nicht  das  tiefe  Wort  geprägt,  das 
fast  von  allen  seinen  Freundschaften  gelten  kann; 

Da  seid  ihr,  Freunde!  —  Weh,  doch  ich  bin's  nicht, 

Zu  dem  ihr  wolltet? 

Ein  andrer  ward  ich?  Und  mir  selber  fremd? 

Ihr  wendet  euch?  —  0  Herz,  du  trugst  genung, 

Stark  blieb  dein  Hoffen: 

Halt  neuen  Freunden  deine  Türen  offen  I 

Daß  alt  sie  wurden,  hat  sie  weggebannt: 

Nur  wer  sich  wandelt,  bleibt  mit  mir  verwandt.« 

Angesichts  dieser  Unabwendbarkeit  kann  man  wohl  kaum  von 
einer  Schuld  sprechen;  man  müßte  dann  auch  ein  Kind  schelten, 
daß  es  aus  seiner  Unbefangenheit  herauswächst,  einen  Jüngling, 
daß  er  seinen  naiven  Überschwang  verhert.  Einzig  und  allein  nur 
von  einer  tragischen  Schuld  kann  und  darf  die  Rede  sein.  Des- 
halb trifft  auch  Wagner  an  dieser  Trennung  keine  Schuld,  außer 
gleichfalls  nur  eine  tragische!  Genau  so  wie  Nietzsche  nur  „ Welt- 
anschauungsbrüder"  als  Freunde  duldete,  hat  dies  auch  Wagner 
getan.  Und  daraus  folgt,  daß  man  die  Entwicklung,  den  Höhepunkt 
und  das  Ende  dieser  Freundschaft  stets  nur  doppelseitig  be- 
trachten muß. 

Man  hat  vielfach  die  Frage  aufgeworfen,  welcher  Umstand 
wohl  Nietzsche  bewogen  haben  mag,  bereits  im  „Menschlichen" 
Wagner  offen  anzugreifen,  wiewohl  es  doch  noch  nicht  zu  einem 
tatsächlichen  Bruche  der  Beziehungen  gekommen  war.  Niemand 
anderer  als  Henri  Lichtenberger  hat  diese  Frage  so  klar  und  ein- 
deutig beantwortet,  wenn  er  sagt:  „Nietzsche  war  durchaus  kon- 
sequent, als  er  Wagner  mit  ebensoviel  Energie  angriff,  als  er  ihn 
bewundert  hatte.  Er  hat  seiner  intellektuellen  Aufrichtigkeit  das 
größte  Opfer  gebracht,  das  man  sich  denken  kann.  Er  hat  ihm  nicht 
ohne  Schmerz,    aber  ohne  Schwäche    eine  der  stärksten  Neigungen 


—     197     — 

geopfert;  die  er  kannte.  Sein  Benehmen  ist  nicht  allein  unangreifbar, 
sondern  sogar  sehr  schön,  wenn  das  einzige  Ziel  des  menschlichen 
Lebens  die  Entwicklung  der  genialen  Persönlichkeit  ist,  und  wenn, 
wie  Nietzsche  sagt,  die  Unpersönlichkeit  keinen  Wert  im  Himmel 
und  auf  Erden  hat." 

C.  Fr.  Glasenapp,  der  offizielle  und  offiziöse  Wagnerbiograph, 
bespricht  in  seinem  grundlegenden  Werke  natürhch  auch  des  Meisters 
Verhältnis  zu  Nietzsche  und  erkennt  ganz  richtig  an,  daß  Nietzsches 
„tiefernster,  dichterisch-philosophischer  Geist  und  der  lebhafte  Drang, 
als  öffenthcher  Zeuge  für  die  weltgeschichtlich  reformatorische 
Bedeutung  von  Wagners  Schaffen  einzutreten,  ihn  vorzeitig  zu  der 
kühnen  Kombination  jener  seiner  poetisch-philosophischen  Intuitionen, 
mit  seinem  Bedürfnis  einer  bedeutungsvollen  Huldigung,  eines  öffent- 
lichen Bekenntnisses  seiner  Zugehörigkeit  zu  dem  Meister  hingerissen 
haben,  als  deren  Dokument  die  , Geburt  der  Tragödie'  vor  uns 
liege,  eine  in  ihrer  Schönheit  berauschende  Schrift".  Da  muß  man 
aber  denn  doch  entgegnen,  daß  dieses  Werk  mehr  ist  als  eine 
„bedeutungsvolle  Huldigung"  und  eine  durch  „ihre  Schönheit  be- 
rauschende Schrift" :  es  ist  die  geistvollste,  philologisch-philosophische 
Interpretation  des  Wagnerschen  Gedankens,  von  Nietzsche  teuer 
genug  bezahlt.  Nicht  mit  Unrecht  behauptete  er  selbst  später  von 
dieser  Schrift,  sie  sei  „aufgebaut  aus  lauter  vorzeitigen  übergrünen 
Selbsterlebnissen";  das  kann  nur  gesagt  sein  mit  Rücksicht  auf  seine 
damahge  Stellung  zum  Hellenentum  und  zu  Wagner,  aus  dem  er 
sich,  wie  gezeigt  worden  ist,  ein  Idealbild  geschaffen  hatte.  Tief 
bedauerlich  ist  nur  das  eine,  daß  unsere  heutigen  Wagnerianer  diese 
schöne  Schrift  nur  vom  Hörensagen  kennen,  wie  ihnen  auch  Wagners 
theoretische  Schriften  meistens  völhg  unbekannt  sind.  Dieses  Urteil 
Glasenapps  über  die  „Geburt  der  Tragödie"  mag  als  entschuldbarer 
Irrtum  gelten.  Unverzeihlich  jedoch  ist  es,  daß  von  Glasenapp,  aller- 
dings noch  in  fast  schamhaft  verhüllter  Art  und  Weise,  die  Ver- 
mutung ausgesprochen  wurde,  Nietzsche  müsse  zur  Zeit  seines  Ab- 
falles von  Wagner  schon  geistig  krank  gewesen  sein!  Eine  Ver- 
mutung, die  nachher  von  gewissenlosen  Wagneraposteln  in  der 
schamlosesten  Weise  zu  einer  Tatsache  erhärtet  worden  ist.  Offen- 
bar nur  mit  Bezugnahme  auf  Briefe  Wagners  an  Nietzsche  und 
Overbeck  aus  der  Tribschener  Zeit,  worin  jener  seinen  Befürch- 
tungen   wegen  einer  seelischen  Erkrankung  des  Freundes  Ausdruck 


—     198     — 

gab,  erklärt  Glasenapp:  „Wer  konnte  verkennen,  daß  es  sich  um 
einen  nicht  mehr  gesunden,  sondern  um  einen  kranken  Mann 
handelt,  der  in  seiner  reizbaren  Empfindlichkeit  alles  vertrug,  nur 
keine  Erziehung  und  keine  leiseste  Ausstellung  an  der  subjektiven 
Willkür  seiner  Vorstellungen  und  Meinungen."  So  schrieb  nämlich 
Wagner  an  Overbeck:  „Sehr  auffällige  Veränderungen  sind  mit 
Nietzsche  vorgegangen;  v^er  ihn  jedoch  schon  vor  Jahren  in  seinen 
psychischen  Krämpfen  beobachtete,  dürfte  sich  fast  nur  sagen,  daß 
eine  längst  befürchtete  Katastrophe  nicht  ganz  unerwartet  bei  ihm 
eingetreten  ist",  deren  Folge  natürlich  der  Abfall  von  Wagner  und 
die  Aphorismensammlung  „Menschhches,  Allzumenschliches"  v^ar. 
Ferner  soll  Wagner  immer  das  Gefühl  gehabt  haben,  als  werde 
Nietzsche  im  Verkehre  mit  ihm  von  einem  geistigen  Lebenskrampfe 
beherrscht,  der  so  stark  gewesen  sei,  daß  er  seine  eigenen  Ideale 
mit  denen  Wagners  vereinigt  habe,  und  habe  es  den  Meister  wunder- 
bar bedünkt,  daß  dieser  Krampf  in  Nietzsche  ein  so  seelenvoll 
leuchtendes  und  wärmendes  Feuer  habe  erzeugen  können,  wie  es 
sich  aus  ihm  zum  Staunen  aller,  die  ihn  kannten,  kundgetan  habe. 
Aber  merkwürdig,  trotz  alledem  und  des  wahrhaften  Entsetzens, 
mit  dem  Wagner  sah,  wie  stark  und  endhch  unerträglich  jener 
Krampf  Nietzsche  bedrückte,  war  ihm  dieser  selbe  Nietzsche,  weil 
er  Wagners  Ideal  liebte,  zu  dem  seinen  gemacht  hatte  und  ver- 
teidigte, so  wertvoll,  daß  er  in  seinem  Denken  und  Fühlen  gleich  nach 
Cosima  rangierte !  Wenn  wir  Herrn  Glasenapp  glauben,  muß  Nietzsche 
damals  aber  auch  ein  Musterknabe  gewesen  sein,  der  gleich  den 
anderen  Verehrern  des  Meisters  sich  um  diesen  drängte,  ihm  jedes 
Wort  vom  Munde  ablauschte  und  als  eine  Offenbarung  hinnahm,  an 
deren  Glaubwürdigkeit  nicht  gerüttelt  werden  darf.  Denn  er  schreibt 
wohl  mit  Zugrundelegung  des  Widmungsbriefes,  mit  dem  Nietzsche 
seine  „Geburt  der  Tragödie"  an  Wagner  gesandt  hatte,  daß  Nietzsche 
in  seinen  ersten  Schriften  noch  von  den  Zinsen  des  ihm  vom  Meister 
anvertrauten  kostbaren  Kapitals  gelebt  habe,  um  es  dann  freilich 
mit  dem  Aphorismenbuche  anzugreifen  und  in  zwei  großen  Zügen 
völhg  aufzuzehren:  „Während  er  der  Reichste  zu  sein  schien,  der 
Befähigteste  im  Dienste  eines  großen  deutschen  Genius,  war  er 
innerUch  verarmt  und  leer;  er  hatte  sich  der  erneuten  Anregung 
in  ängsthcher  Scheu  geflissentlich  entzogen  und  war  danach  aus 
einem  , Wagnerschriftsteller'  im  besten  Sinne  und  Mitwirkenden 


—     199     ~ 

an  einer  schöpferischen  Kulturtat  ein  hohler  Schall  und  ein  hoch- 
trabendes leeres  Nichts,  mit  einem  Wort  ein  —  ,Nietzsche- 
schriftste  11  er'  geworden,  der  von  jetzt  ab  anstatt  der  höchsten 
die  minderwertigsten  Einflüsse  auf  sich  wirken  ließ,  deren  Nichtig- 
keit er  selber  durchschaute."  Das  heißt  mit  anderen  Worten: 
Nietzsche  „bedeutete  etwas",  solange  er  Wagners  unbedingter  An- 
hänger war.  Man  ist  bei  einer  solchen  Behauptung  wirklich  im 
Zweifel,  wen  man  mehr  bewundern  soll,  diesen  Wagner-Nietzsche 
oder  den  kindlich-naiven  Glasenapp?  Treffend  bemerkt  Julius  Kapp, 
daß  Glasenapp  mit  „solcher  tiefgründiger  Untersuchung"  und  ähn- 
lichen Kedensarten  diese  wohl  zu  den  ergreifendsten  zählende  Freund- 
schaftstragödie abtut.  Dagegen  berichtet  er  mit  größter  „Gewissen- 
haftigkeit", daß  Wagner  einmal  von  einem  gewissen  Herrn  Nettke, 
Wien,  Nibelungenstraße  10  (sogar  Straße  und  Hausnummer  sind 
nicht  vergessen!),  eine  Sendung  ausgewählter  Havannazigarren  zu- 
teil wurde.  Nun  liegt  Nietzsches  Bedeutung  für  das  deutsche  Kultur- 
leben zum  Glück  in  seiner  Bedeutung  als  Philosoph  mit  einem  ganz 
neuen  Raisonnement,  aber  nicht  in  seiner  problematischen  Stellung 
zu  Richard  Wagner  und  dessen  Kunstwerken.  Jeder  Nietzschekenner 
wird  gern  zugestehen,  daß  die  unter  dem  Einflüsse  Wagners  ge- 
schriebenen Werke,  ausgenommen  die  „II.  Unzeitgemäße'*,  nicht 
viel  Neues,  Originales  enthalten :  sie  sind  im  großen  und  ganzen  nur 
geschickte  Verarbeitungen  eines  bereits  vorhandenen  Materials  und 
zeugen  von  Nietzsches  glänzender  Darstellungskraft.  So  urteilt  auch 
Höfler  (1.  c),  daß  „jeder  Gedanke"  in  Nietzsches  fünf  Erstlingswerken 
„schon  längst  von  Schopenhauer  und  Wagner  vorgedacht  gewesen  war". 
Schließlich  tadelt  Glasenapp,  daß  der  kaum  dreißigjährige  Nietzsche 
den  um  fast  dreißig  Jahre  älteren  Wagner  seinen  „Freund"  genannt 
habe  und  beruft  sich  dabei  auf  Hans  Richter,  der  sich  über  das 
Unsinnige  und  Unberechtigte  dieses  Freundestitels  sehr  mißfällig 
geäußert  habe.  Hatte  nicht  der  Meister  selbst  Nietzsche  als  seinen 
besten  Freund  bezeichnet,  der  für  ihn  gleich  nach  Cosima  rangiere? 
Gewiß:  Nietzsche  erträumte  sich  eine  für  ihn  ersprießliche  Kultur- 
bewegung: mitberufen,  an  derselben  unter  den  ersten  mitzukämpfen 
und  mitzuarbeiten.  Aber  er  wollte  auch  gegenüber  Wagner  dessen 
intimer  Freund  sein,  und  das  wurde  ihm  von  den  Wagnerianern 
als  „dämonische  Selbstüberhebung"  ausgelegt  —  leider  auch  heute 
noch!  —,  denn  hier  hieß  es  nicht  Meister  und  Freund,    sondern 


—     200     — 

Meister  und  Jünger.  Über  diese  Enttäuschung  schreibt  er  selbst: 
„Es  liegt  jetzt  noch  wenig  daran,  daß  man  wisse,  was  ich  eigent- 
Uch  von  Wagner  wollte,  obwohl  der  Leser  meiner  „Geburt  der 
Tragödie"  darüber  nicht  im  Zweifel  sein  sollte;  ja  daß  ich  durch 
ein  Verlangen  dieser  Art  aufs  gründlichste  bewiesen  habe,  wie 
sehr  ich  mich  über  ihn  und  sein  Vermögen  im  Irrtum  befand ;  genug, 
daß  mein  Irrtum,  eingerechnet  den  Glauben  an  eine  gemeinsame  und 
zusammengehörige  Bestimmung,  weder  ihm  noch  mir  zur  Unehre 
gereicht."  Auch  diese  gewissenhaft  rapportierte  Tatsache  ist  für  die 
Lösung  dieser  Freundschaftstragödie  völlig  irrelevant.  Sie  mag  ledig- 
lich für  den  „BildungsphiUster"  von  Interesse  sein!  Mit  dem  „Freunde" 
Nietzsche  teilte  Wagner  wohl  kaum  eine  Eigenschaft!  Nietzsche, 
der  „Freund",  war  ein  Mensch,  der  mehr  auf  den  Verkehr  mit 
Geistern  eingestellt  war  als  auf  den  mit  Menschen,  ja  der  eigent- 
lich am  Menschen  alles  Nichtgeistige  als  störend  empfand,  wozu 
dann  seine  äußerst  geringe  Sinnlichkeit  stimmt.  Gegen  Menschen 
als  nur  vorübergehende  Erscheinungen  anspruchslos,  ist  er  anspruchs- 
voll nur  gegen  Menschen,  denen  er  wirklich  näher  tritt.  Ihr  Geist 
muß  stark,  ihr  Wille  rein  sein.  Nichts  verabscheut  er  so  sehr  wie 
die  Unwahrheit.  Viel  wichtiger  erscheint  mir  jedoch  das  Problem 
Nietzsche  als  „Wagnerschriftsteller"  und  „Nietzscheschriftsteller" ! 
Wäre  es  besser  gewesen,  wenn  Nietzsche,  anstatt  „aus  wahrhaft 
dämonischer  Selbstüberhebung"  am  Meister  und  dessen  Werken 
Kritik  zu  üben,  diesem  in  hingebender  Liebe  jedes  von  ihm  ge- 
sprochene Wort  ohne  Überlegung  hätte  nachbeten  sollen,  um  sich 
Wagners  „wahrhaft  väterliches  Wohlwollen"  ungeschmälert  zu  er- 
halten ?  Könnte  man  nicht  viel  eher  behaupten,  daß  Nietzsche  gerade 
dadurch,  daß  er  so  lange  unter  Wagners  Einfluß  stand,  eigentüch 
verhältnismäßig  ziemlich  spät  und  nur  auf  einem  Umwege  den  Weg 
zu  sich  selbst  wieder  gefunden  hat^)?  Bei  Beantwortung  dieser 
Frage  könnte  man  sich  fast  versucht  fühlen,  zu  sagen,  daß  Nietzsche 
beinahe  zu  lange  unter  Wagners  Einfluß  stand,  denn  nach  Paul 
Friedrich  habe  er  es  nie  mehr  vermocht,  sich  von  ihm  zu  befreien, 
ganz  abgesehen  von  jenem  „falschen  Blechtrompetenton",  der  trotz 
„all   seiner   mimosenhaften  Feinheit   in    seinen  Schriften    oft  unan- 

*)  Im  Zarathustra  findet  sich  der  äußerst  bezeichnende  Ausspruch: 
„Man  vergilt  seinem  Lehrer  schlecht,  wenn  man  immer  nur  der  Schüler 
bleibt." 


—     201     — 

genehm  laut  und  schrill  gellt •*  —  als  einem  Erbstücke  Wagners; 
in  so  ziemlich  alle  die  Fehler,  die  er  an  Wagner  tadelte,  sei  er 
später  selbst  gefallen^).  Diese  Wahrnehmung  mag  schheßlich  die 
Fabel  veranlaßt  haben,  daß  auch  der  von  Wagner  bereits  abgefallene 
Nietzsche  gelegentlich  noch  Wagners  Gedanken  für  seine  Zwecke 
verarbeitet  habe.  So  erzählt  Glasenapp,  der  russische  Maler  Paul 
von  Joukowsky,  den  Wagner  in  Neapel  kennen  gelernt  hat,  und 
dem  er  den  Dekorations-  und  Kostümentwurf  zum  „Parsifal"  anver- 
traute, nachdem  Böckhn  diese  Arbeit  abgelehnt  hatte,  sei  geradezu 
überzeugt  gewesen,  daß  Nietzsche  der  Begriff  des  Übermenschen 
einzig  und  allein  durch  seinen  Umgang  mit  Wagner  lebendig 
geworden  sei.  Wenn  auch  dem  allein  schon  die  Tatsache  entgegen- 
zuhalten ist,  daß  dies  gerade  der  spätere  Nietzsche,  nur  umgekehrt, 
wäre,  weil  der  Nietzschesche  Übermensch  total  antiwagnerisch  ist, 
so  enthält  diese  Behauptung  doch  ein  Körnchen  Wahrheit:  der 
Helden-  und  Geniebegriff  Nietzsches  geht  letzten  Endes  auf  Schopen- 
hauer und  Wagner  zurück,  wurde  dann  aber  immer  mehr  um- 
gebildet, bis  er  im  „Zarathustra"  schließlich  das  Ideal  einer  neuen 
Zukunft  wurde  ^).  In  diesem  Sinne  konnte  daher  Nietzsche  über  die 
„ni.  und  IV.  Unzeitgemäße"  im  „Ecce  homo"  sagen:  „Im  Grunde 
wollte  ich  mit  diesen  Schriften...  ein  Problem  der  Erziehung 
ohnegleichen;  ein  neuer  Begriff  der  Selbstzucht,  Selbstverteidigung 
bis  zur  Härte,  ein  Weg  zur  Größe  und  zu  welthistorischen  Aufgaben 
verlangte  nach  seinem  ersten  Ausdruck."  Und  jetzt  erst  entfaltete 
Nietzsche  alle  die  reichen  Kräfte  seines  geistigen  Könnens,  die  so 
lange  einer  Sache  dienen  mußten,  mit  der  ihn  nur  ein  selbst- 
konstruiertes Band  ideeller  Zusammengehörigkeit  verband,  jetzt  erst 
wurde  er  ein  „Nietzscheschriftsteller"  im  vollsten  Sinne  des  Wortes. 
Denn  —  sind  wir  nur  ganz  ehrlich I  —  der  Wagner,  den  Nietzsche 
verehrte,  war  ein  von  diesem  selbst  stihsierter  Wagner.  Malwida 
von  Meysenbugs  Worte:  „Ich  glaube,  man  kann  die  meisten  Menschen 


1)  Was  daher  Nietzsche  von  Wagners  Musik  sagte:  „Er  ist  immer  auf 
den  extremsten  Ausdruck  bedacht",  das  trifft  vielfach  auf  seine  eigenen 
Schriften  zu. 

2)  Joukowsky  hat  ja  in  gewissem  Sinne  recht.  So  sagt  auch  Höfler 
(1.  c),  daß  Nietzsches  „Kultus  des  Genies  die  Fortsetzung  des  Kultus  seiner 
beiden  Erzieher",  Schopenhauer  und  Wagner,  „war:  sein  Übermensch  eine 
Reprise  des  schonungslosen  Jung- Siegfried  (nur  daß  ihm  die  Züge  der  Liebens- 
würdigkeit abgestreift  sind)!" 


—■     202     — 

nur  richtig  beurteilen,  wenn  man  sie  ganz  in  ihrer  Sphäre  gesehen^ 
sich  auf  ihren  Standpunkt  gestellt,    die  Welt    gleichsam  durch  ihre 
Augen  angeschaut   und    sein  eigenes  Fühlen  und  Denken  ganz  aus 
^ dem  Spiele  gelassen  hat",  sind  nur  allzu  wahr;  Nietzsche  hatte  sich 
eben  selbst  noch  nicht  gefunden  und  glaubte,    sich    in  Wagner    ge- 
funden zu  haben.    Wagner  tat  das  Umgekehrte!   Ist  es  nicht  tiefste 
Tragik,    daß    sich    an    Nietzsche    genau  das  erfüllte,   was  er  seinen 
Zarathustra  verkünden  läßt:    „Ihr  verehret  mich;    aber   wie,    wenn 
eure  Verehrung  eines  Tages  umfällt?    Hütet    euch,    daß  euch  nicht 
eine  Bildsäule  erschlage!  Ihr  sagt,  ihr  glaubt  an  Zarathustra?  Aber, 
was    hegt  an  Zarathustra?    Ihr    seid    meine    Gläubigen:    aber,  was 
hegt    an    allen    Gläubigen?   Ihr  habt  euch  noch  nicht  gesucht,    da 
fandet  ihr  mich...    Nun    aber  heiße  ich  euch  mich  verlieren 
und  euch  finden!    Und    erst  wenn  ihr  mich  alle  verleugnet  habt, 
will  ich  euch  wiederkehren!"  Das  darf  uns  aber  nicht  wundernehmen, 
daß    Nietzsche    seine   Ideen    in  Wagners  Ideen    wiedergefunden    zu 
haben    wähnte:    ähnlich    erging    es  bekanntlich  Lessing  mit  Shake- 
speare: er  wollte  irgendwo  des  Aristoteles  Kunstgesetze  finden  und 
fand  sie  in  —  Shakespeare!    Geradeso    wollte  Nietzsche  in  Wagner 
die   Kunstvollendung    der   Hellenen    erblicken.    Sein    scharfes   Auge 
hatte  zwar  alle  Schwächen  Wagners  klar  erschaut  —  es  waren  im 
Grunde    vielfach   Nietzsches    eigene    Schwächen  —  und  doch  ist  er 
mit  einer  Inbrunst    an    dem    um  ein  Menschenalter  älteren  Meister 
gehangen,    wie  eben  der  Jüngling  an  seinem  Ideal  hängt,    aus  d^m 
er,  um  es  anbeten  zu  können,  jeden  allzu  irdisch  erscheinen  könnenden 
Zug  ängstlich  verbannt.    Wagner  wollte  den  deutschen  Geist  durch 
die  Kunst  erneuern  und  umbilden.  Diesen  Ehrgeiz  in  seiner  höchsten 
Potenz  hat  Nietzsche  übernommen   und    durch  seine  Sehnsucht,  zu 
schaffen,    sein  Siegel   auf  Jahrtausende  zu  drücken  wie  auf  Wachs, 
in  sich  fast  bis  zu  einer  pathologischen  Wahnvorstellung  gesteigert. 
Daß  er  in  der  ersten  Zeit   seiner   Bekanntschaft   mit  Wagner   sich 
dessen  und  Schopenhauers  Weltanschauung  zu  eigen  gemacht  hatte, 
ist  nur  ein  Beweis,    wie    sehr    diese  seiner  ganzen  Natur  entgegen- 
kam, wie  sehr  sich  in  ihr  aussprach,  was  in  ihm  schlummerte.  Von 
dem  Augenblicke  an  jedoch,  da  Nietzsche  zu  eigenem,  selbständigem 
Denken  erwacht  war,  mußte  er  erkennen,  daß  dieser  ideelle  Wagner, 
wie  er  sich  ihn  vorgestellt  hatte,  unmöglich  das  werden  könne,  was 
er  sich  von  ihm  versprochen  hatte:  und  so  nährte  er  zunächst  lange 


—     203     — 

die  Hoffnung  in  seinem  Herzen,  daß  sich  Wagner  dennoch  mit  ihm 
weiterentwickeln  könne,  und  zwar  in  der  Richtung  seiner  eigenen 
Ansichten.  Aber  nur  in  Tribschen  wäre  ein  solcher  Einfluß  möglich 
und  ist  damals  auch  tatsächhch  vorhanden  gewesen,  wie  man  aus 
den  damaligen  Schriften  Wagners  deutlich  erkennen  kann.  Frau 
Förster  ist  daher  geradezu  der  Ansicht,  daß  Wagner,  seine  Kunst 
und  Hinneigung  zu  nordischen  Mythen  zu  Nietzsches  Hauptansichten, 
wie  sie  sich  allmählich  entwickelten,  recht  gut  gepaßt  hätte;  nur 
sei  Wagner  wohl  schon  zu  alt  gewesen,  um  sich  Neues  zu  eigen 
zu  machen  und  gegen  seine  früheren  Ansichten  Partei  zu  nehmen. 
Ja,  sie  geht  so  weit,  daß  sie  behauptet,  Nietzsche  habe  in  der  Tat 
manchmal  angenommen,  daß  Wagner  im  innersten  Herzen  seinen 
neuen  Ideen  geneigt  wäre  und  seine  kritischen  Bemerkungen  be- 
rechtigt fände;  so  habe  sich  Nietzsche  einmal  geäußert:  „Dies  alles 
hat  sich  Wagner  oft  genug  in  heimhchem  Zwiegespräch  eingestanden, 
ich  wollte,  er  täte  es  öffenthch ;  denn  worin  besteht  die  Größe  eines 
Charakters  als  darin,  daß  er  zugunsten  der  Wahrheit  imstande  ist, 
auch  gegen  sich  selbst  Partei  zu  nehmen."  Als  einst  Frau  Förster 
zu  ihm  sagte:  „Ach,  ich  wollte,  Wagner  wäre  zwanzig  Jahre  jünger 
gewesen,  als  du  ihn  kennen  lerntest;  ich  glaube,  du  hättest  ihn  zu 
deinen  Ideen  bekehrt",  gab  Nietzsche  zur  Antwort:  „Was  du  da 
sagst,  habe  ich  früher  auch  geglaubt  und  gehofft;  aber  dann 
kam  der  ,Parsifal'  und  zerstörte  jede  Hoffnung,  ja  jede  Möglichkeit. 
Inzwischen  habe  ich  eingesehen,  daß  dieser  Glaube  ein  Irrtum  war, 
unser  innerstes  Wesen  war  zu  verschieden,  das  mußte  uns  früher 
oder  später  trennen."  Ganz  richtig  weist  Nietzsche  mit  diesen  Worten 
auf  einen  Fundamentalunterschied  zwischen  ihm  und  Wagner  hin, 
dessen  wir  bereits  früher  Erwähnung  taten:  es  waren  die  verschie- 
denen Denkrichtungen.  Dazu  gesellte  sich,  wie  Frau  Förster  betonte, 
der  enorme  Altersunterschied :  ja,  wären  beide  gleichalterig  gewesen, 
vielleicht  hätte  dann  Nietzsche  den  Meister  zu  seiner  Weltanschauung 
bekehren  können  oder  umgekehrt.  Doch  mit  solchen  auf  irrealen 
Bedingungen  sich  aufbauenden  Hypothesen  kommt  man  der  Wahr- 
heit des  Falles  Wagner-Nietzsche  absolut  nicht  näher. 

Ebensowenig  mit  dem  Hinweis  auf  den  Freundschaftsbund 
Goethes  mit  Schiller !  Von  vielen  Seiten  wurde  Wagners  Freundschaft 
mit  Nietzsche  mit  der  Goethes  und  Schillers  verglichen  und  hat 
man  aus  dieser  Tatsache  folgendes  abzuleiten  versucht:  Wenn  zwei^ 


—     204     — 

60  große  Genies  treu  zueinander  hielten,  wiewohl  nach  Schillers 
eigenem  Geständnis  Goethe  ihm  „an  Lebenserfahrung  und  Selbst- 
entwicklung weit  voraus  und  ihre  Vorstellungsarten  wesentlich  ver- 
schieden waren",  wiewohl  Chr.  Gottfried  Körner  an  Schiller  ge- 
schrieben hatte:  „Freundschaft  erwarte  ich  nicht,  aber  gegenseitige 
Reibung  und  dadurch  Interesse  füreinander"  — ,  um  wieviel  größer 
wäre  dann  die  Verpflichtung  Nietzsches,  der  damals  noch  „gar  nichts 
bedeutete",  gewesen,  treu  zu  Wagner  zu  halten,  der  zu  der  Zeit, 
als  er  mit  Nietzsche  bekannt  wurde,  in  Deutschland  eine  bereits 
anerkannte  Größe  war  und  nur  mehr  noch  nach  Mitteln  und  Wegen 
fahndete,  sein  Lebenswerk  durch  die  Schaffung  des  Festspielhauses 
in  Bayreuth  zu  krönen?  Nun  geben  wir  gerne  zu,  daß  jener  viel- 
gerühmte Freundschaftsbund  Goethes  mit  Schiller  ganz  einzigartig 
dasteht  und,  recht  verstanden,  einen  Höhepunkt  der  Entwicklungs- 
geschichte der  deutschen  Literatur  darstellt.  Das  Verhältnis,  in  dem 
diese  beiden  Geistesheroen  zueinander  standen,  war  ein  gegenseitiges 
Nehmen  und  Geben,  Fördern,  Anregen  und  Austauschen,  ein  gemein- 
sames Weiterbilden  und  Weiterkämpfen,  wobei  ganz  naturgemäß 
bald  der  eine,  bald  der  andere  der  Aktivere  war.  So  ist  Schiller 
trotz  des  von  Goethe  ausgehenden  griechisch-römischen  Klassizismus 
auf  dem  Umwege  über  die  von  ihm  abgelehnte  Romantik  („Jungfrau 
von  Orleans")  der  deutsche  und  nationale  Dichter  in  des  Wortes 
wahrstem  Sinne  geworden  und  hat  mit  seinem  „Teil"  sein  Bestes 
gegeben,  als  ihn  der  Tod  überraschte.  Goethe  wiederum  kam  durch 
seinen  Verkehr  mit  Schiller  aus  seiner  geistigen  Vereinsamung 
heraus  und  wurde  aus  dem  vermeintlichen  Griechen  wieder  der 
deutsche  Dichter,  der  moderne  Künstler,  der  uns  „Hermann  und 
Dorothea"  schenkte ;  und  als  Schiller  starb,  war  das  für  Goethe,  als 
ob  eine  Stütze  bräche:  ihm  fehlte  der  Freund,  der  ihm  bisher 
^tausendfach  Ideen"  gegeben  hatte,  er  wurde  alt!  Wie  jeder  Ver- 
gleich hinkt  natürUch  auch  dieser.  So  vergißt  man  bei  diesem  Hin- 
weis oder  dieser  Gegenüberstellung,  daß  die  organischen  Bedingungen, 
aus  denen  sich  Goethe  und  Schiller  entwickelt  hatten  und  neben- 
einander groß  wurden,  ganz  andere  waren,  als  sie  etwa  Wagner 
zur  Zeit  seines  Auftretens  vorfand  und  Nietzsche  mit  ihm  bekannt 
wurde.  Wer  war  damals  Richard  Wagner?  Ich  habe  diese  Frage 
bereits  beantwortet:  nicht  im  entferntesten  war  er  jene  „Kultur- 
gewalt",   als    welche    er    heute    noch    das    Leben    der    Gegenwart 


—     205     — 

beherrscht.  Er  war  noch  ein  Werdender,  ein  Mann,  der  sich  erst 
durchsetzen  mußte!  Daher  ist  es  grundfalsch,  wenn  als  Kriterium 
für  die  Beurteilung  der  Freundschaft  Nietzsches  mit  Wagner  Wagners 
heutige  Bedeutung  im  Kulturleben  des  deutschen  Volkes  heran- 
gezogen wird.  Und  zweitens  vergißt  man  in  diesem  glorreichen  Zeit- 
alter des  extremsten  Individualismus  ganz  die  individuellen  Ver- 
schiedenheiten der  Genien  Wagners  und  Nietzsches,  Goethes  und 
Schillers.  Gewiß  liefen  eine  Zeitlang  Nietzsches  Anschauungen  und 
Bestrebungen  mit  denen  Wagners  parallel.  Aber  erst  als  in  Nietzsche 
sich  die  Ahnung  zur  bitteren  Wahrheit  verdichtete,  daß  es  ihm  von 
Wagner  verübelt  wurde,  daß  er  mit  seinen  drei  „Unzeitgemäßen" 
eigene  Wege  zu  wandeln  sich  erlaubte,  daß  er  aus  einem  „Wagner- 
schriftsteller" ein  „Nietzscheschriftsteller"  zu  werden  begann,  als 
ihn  der  Meister  in  Sorrent  rücksichtslos  beiseite  schob  —  wer  darf 
empfinden  und  sich  unterwinden,  das  Ringen  um  geistige  Selbständig- 
keit Nietzsche  allein  zum  unverzeihlichen  Vorwurfe  zu  machen? 
Goethe  ist  immer  Goethe  geblieben,  Schiller  immer  Schiller!  Und 
daß  Nietzsche  immer  Nietzsche  geblieben  ist,  trotz  seiner  Freund- 
schaft mit  Wagner  —  das  kann  man  selbst  heute  dem  Toten  noch 
immer  nicht  verzeihen?  Einen  „ersten  und  zweiten"  Nietzsche  gibt 
es  wohl  nur  mit  Beziehung  auf  seine  Stellung  zu  Wagner,  erschaut 
unter  einem  ganz  falschen  Gesichtswinkel! 

Paul  Friedrich  vermerkt  es  als  eine  für  Nietzsche  charak- 
teristische Tatsache,  wie  er,  durch  den  Bruch  mit  Wagner  aus  allen 
seinen  Fugen  geschleudert,  zunächst  tastete,  um  sich  irgendwo 
Boden  unter  den  Füßen  zu  schaffen,  und  Paul  R6e  zujubelte.  Tat 
er  dies  deshalb,  weil  er  meinte,  auf  dem  Gebiete  der  von  jenem 
vertretenen  Moralpsychologie  biete  sich  die  beste  Gelegenheit,  auch 
seinerseits  etwas  Großes  zu  schaffen,  um  es  neben  Wagners 
Leistungen  als  etwas  Gleichwertiges  zu  stellen  ?  Sollte  wirklich  nur 
der  Neid,  gegen  den  er  sich  nach  Stekels  Annahme  anfänglich  durch 
seine  grenzenlose  Liebe  schützte,  die  letzte  und  innerste  Ursache 
dieses  Freundschaftsbündnisses  und  -bruches  gewesen  sein?  Zur 
Bekräftigung  des  in  diesen  Fragen  ausgesprochenen  Gedankens  weist 
Friedrich  darauf  hin,  wie  Nietzsche  in  der  Zeit  nach  dem  denk- 
würdigen Sommer  des  Jahres  1876  mit  Aufbietung  einer  fabelhaften 
Dialektik  alle  einstigen  Ideale,  ja  überhaupt  alle  Menschheitsideale 
rücksichtslos  zerfasert  und  zergliedert  und  als  bloße  Irrtümer  erweist, 


—     206     — 

bis  er  schauernd  erkennt,  in  diesem  erbarmungslosen  Zerreißen  seiner 
Ideale  könne  unmöglich  der  positive  Gewinn  seiner  Lebensarbeit 
liegen,  bis  er  an  sich  selbst  erkannte  und  fühlte,  daß  diese  Art  der 
Befreiung  von  Wagner  nur  eine  andere  Form  der  Entsagung  sei. 
Deshalb  habe  ihn  die  Sehnsucht  nach  dem  „versunkenen  Freunde'' 
immer  stärker  und  stärker  gepackt,  bis  es  ihm  nach  einigen  ver- 
geblichen Versuchen  gelang,  aus  seinem  eigenen  gequälten  Ich  einen 
Doppelgänger  und  doch  Größeren  herauszuwühlen,  den  Zarathustra, 
der  ihm  den  verlorenen  Helden  repräsentieren  sollte:  denn  „auch 
meine  Feinde  gehören  zu  meiner  Seligkeit".  Je  ekstatischer  er  schuf, 
e  „Größeres"  er  von  sich  gegeben  zu  haben  sich  einbildete,  desto 
erbitterter  und  höhnischer  ward  sein  Rachegefühl  gegen  den  Menschen, 
den  ihm  dies  alles  aber  trotzdem  nicht  zu  ersetzen  vermochte.  In 
seiner  maßlosen  Hysterie,  in  seiner  ewig  ihn  von  innen  bedrängenden 
ungesunden  Ekstatik,  die  durch  das  in  ihm  bereits  wühlende  schwere 
Leiden  und  die  Ablehnung  seiner  Schriften  in  der  damaligen  Welt 
entschuldbar  ist,  habe  er  sich  selbst  wie  einen  Bogen  überspannt, 
bis  er  zerbrach.  Aber  wie  unentrinnbar  er  an  Wagner  gefesselt 
gewesen  sei,  zeige  sich  selbst  noch  darin,  daß  er  sogar  noch  im 
Wahnsinnsstadium  noch  oft  des  Meisters  gedachte,  sich  oft  aus 
dessen  unsterblichen  Werken  vorspielen  ließ  und  durch  diese  Weisen 
bis  zu  Tränen  gerührt  wurde.  Nietzsche  und  Wagner,  so  schließt 
Friedrich  seinen  Essay,  hier  ein  feiner,  sensibler,  kränklicher  und 
vor  allem  femininer  Geist  und  dort  ein  starker,  männlich-robuster 
Sichselbstdurchsetzer  um  jeden  Preis.  Was  Wunder,  daß  bei  einer 
Trennung  dieses  einzigartigen  Bundes  der  Schwächere  —  wenn  auch 
wie  ein  antiker  Held  —  unterlag!  Er  wurde  wie  Minna  Wagner, 
wie  Hans  v.  Bülow  ein  Opfer  dieses  Molochs,  allerdings  ein  Opfer, 
das  auf  Kosten  seines  „sacrificio  dell'  intellecto"  erkauft  war.  Dieser 
Essay  Friedrichs  ist  nun,  und  das  sei  schon  jetzt  konstatiert,  die 
Quelle  für  den  bereits  erwähnten  Aufsatz  Stekels,  auf  den  wir  noch 
ausführlich  zu  sprechen  kommen  werden:  Alles,  was  der  bloße 
Essayist  im  pathetischen  Stil  des  typischen  Journalisten,  der  Sen- 
sationen, schreibt,  erzählt,  das  suchte  der  Psychoanalytiker  psycho- 
logisch zu  begründen.  Daher  sei  es  schon  hier  ausgesprochen,  daß 
nur  ein  Mann,  der  in  das  Wesen  der  Nietzscheschen  Philosophie 
nicht  eingedrungen  ist,  sich  die  Entstehung  von  „Menschliches,  All- 
zumenschliches" so  erklärt  wie  Friedrich;    im  Gegenteil:  mit  dieser 


—     207     — 

Schrift  beginnt  die  zweite  Schaffensperiode  Nietzsches,  die  int  eil  ek- 
tualistische  oder  rationalistische.  Hatte  er  früher  in  dem 
^sokratischen  Geist"  den  Urgrund  des  flachen,  ruchlosen  Optimismus 
gesehen,  der  nicht  nur  im  diametralen  Gegensatz  zu  aller  Kultur 
stehe,  sondern  auch  dieselbe  jederzeit  und  gänzlich  zerstöre,  so  ist 
ihm  dieser  Geist  nunmehr  das  einzige  Mittel,  um  zu  einer  klaren, 
aller  Lüge  und  Unvernunft  baren  Erkenntnis  der  Welt  zu  gelangen. 
Das  reine,  vernunftgemäße  Schließen  allein  kann  Aufschluß  geben 
über  die  Fragen,  die  für  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  in  Betracht 
kommen  und  zur  Wahrheit  selbst  führen.  Daher  tritt  nun  an  die 
Stelle  Wagners  Goethe,  an  die  Stelle  der  Kunst  die  Wissenschaft, 
an  die  Stelle  der  Metaphysik  das  Diesseits,  das  Nächste,  „der  schlichte 
Blick  für  das  wirkhche  Menschenleben".  „Der  Künstler  ist  nicht  der 
Führer  des  Lebens",  wie  ich  früher  sagte.  „Der  wissenschaftliche 
Mensch  ist  die  Weiterentwicklung  des  künstlerischen."  War  er  einst 
an  Wagner  zum  Dichter  geworden,  wird  er  es  hier  an  der  Wissen- 
schaft. Und  von  diesem  Standpunkte  aus  tritt  Nietzsche  jetzt  zum 
ersten  Male  an  jenes  Problem  heran,  das  ihn  von  nun  an  fast  aus- 
schließUch  mehr  beschäftigt,  nämUch  das  Problem  der  Moral- 
philosophie. Doch  begnügt  er  sich  in  dieser  Periode,  zunächst 
nur  über  den  Ursprung  der  Moral  Untersuchungen  anzustellen. 
Daß  er  dabei  das  Element  des  rein  materiellen  Interesses,  das 
Utilitätsprinzip,  als  Ursprung  findet,  ist  im  Sinne  der  logischen 
Entwicklung  des  Sokratismus  nur  selbst verständhch.  Aber  der  Mann, 
dessen  höchstes  Ideal  die  unaufhaltsame  Entwicklung  unseres  Er- 
kenntnisvermögens war,  konnte  auch  in  diesem  Eationahsmus  auf 
die  Dauer  nicht  seine  innere  Befriedigung  finden. 


XIV.  WAGNERS  MISSTEAUEN  UND  EGOISMUS; 
SEIN  „SCHAUSPIELERTUM". 

Doch  ehe  wir  uns  weiter  wenden^  wollen  wir  zunächst  eine 
Frage  beantworten,  die  wir  mit  Friedrich  schon  früher  gestellt 
haben,  die  Frage  nämlich,  ob  Wagner  bereits  in  der  Tribschener 
Zeit  in  Nietzsche  wirklich  nur  den  Freund  oder  nicht  doch  schon 
den  Mann  erbhckte,  den'  einzigen,  der  ihm  durch  seine  hervorragende 
Geisteskraft  im  Kampfe  um  die  Erringung  seines  Zieles  von  höchstem 
Nutzen  sein  könnte.  Gedanken  Nietzsches,  wie  „ich  erkannte  Wagner 
nicht  wieder,  oder  vielmehr,  ich  sah  ein,  daß  der  Wagner,  den  ich 
zu  kennen  glaubte  und  welchen  ich  geschildert  hatte,  nur  eine 
Idealbildung  war...  ich  habe  dabei  das  Los  der  Idealisten  getragen, 
welchen  der  Gegenstand,  aus  dem  sie  so  viel  gemacht  haben,  dadurch 
verleidet  wird.  Ideales  Monstrum:  der  wirkhche  Wagner  schrumpft 
zusammen . . .  mein  Irrtum  über  Wagner  ist  nicht  einmal  individuell, 
sehr  viele  sagen,  mein  Bild  sei  das  richtige.  Es  gehört  zu  den 
mächtigen  Wirkungen  solcher  Naturen,  den  Maler  zu  täuschen.  Aber 
gegen  die  Gerechtigkeit  vergeht  man  sich  ebenso  durch  Gunst  als 
Abgunst",  legen  die  Vermutung  nahe,  daß  Nietzsche  aus  zartem 
Taktgefühl  so  manches  verschweigt,  worüber  er  sich  vertrauten 
Personen  gegenüber  wohl  offener  ausgesprochen  haben  mag.  Es 
steht  außer  allem  Zweifel,  daß  Wagner,  dessen  Gefallen  Nietzsche 
schon  dadurch  erregt,  hatte,  daß  er  im  gasthchen  Hause  der  Frau 
Professor  Brockhaus  das  Preislied  aus  den  „Meistersingern"  mit 
tiefem  Verständnis  gespielt  und  erläutert  hatte,  diesen  lieb  gewann, 
weil  er  der  Meinung  gewesen  war,  er  habe  sich  selbst  in  Nietzsche 
wiedergefunden.  Bestärkt  wurde  er  in  diesem  Glauben  hauptsächlich 
dadurch,  daß  sich  Nietzsche  ganz  zu  des  Meisters  Idealen  bekannte. 
Der  junge,  bisher  nur  durch  seine  auf  philologischem  Gebiete  ge- 
leisteten, freihch  glänzenden  Arbeiten  doch  nur  in  Philologen-,  also 
Fachkreisen,    bekannte  Nietzsche  sah  sich  nun  durch  seine  Freund- 


—     209     — 

Schaft  mit  dem  Meister  aus  der  friedlichen  Stille  seiner  Gelehrten- 
stube auf  den  Kampfplatz,  wo  man  um  die  Berechtigung  einer  neuen 
Kunst  stritt,  versetzt  und  tat  durch  sein  mannhaftes  Eintreten  für 
Wagner  mit  der  „Geburt  der  Tragödie"  den  ersten  großen  Schritt 
in  die  breite  Öffentlichkeit.  Und  er  hätte  nicht  der  Jünghng  sein 
müssen,  in  dem  damals  noch  tausend  selbst  nicht  geahnte  MögUch- 
keiten  schlummerten,  um  sich  nicht  sofort  mit  all  dem  Feuer  seiner 
unverbrauchten  Jugend  in  diesem  Kulturkampfe  als  machtvoller 
Bundesgenosse  zu  bewähren.  Mochte  Wagner  an  der  Tüchtigkeit 
und  Zuverlässigkeit  Nietzsches  anfangs  leise  gezweifelt  haben,  so 
hat  ihn  „Die  Geburt  der  Tragödie"  in  seinen  kühnsten  Erwartungen 
übertroffen.  Das  war  Wagner  mehr  als  erwünscht.  Sein  Dankbrief 
an  Nietzsche  läßt  uns  vermuten,  daß  sich  in  ihm  dann  der  Ge- 
danke herausgebildet  haben  mag,  diesen  jungen  Mann  ganz  in  den 
Dienst  seiner  Sache  zu  stellen:  Nietzsche  sollte  ein  „Wagner- 
schriftsteller" im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  sein;  er,  der 
Professor  an  einer  berühmten  Universität  war,  der  sich  in  der 
Gelehrten  weit,  von  deren  Urteil  schließlich  doch  sehr  viel  abhing, 
des  größten  Ansehens  erfreute,  war  hiefür  wie  geschaffen.  Wenn 
ein  solcher  Mann  für  ihn  und  den  Bayreuther  Gedanken  Propaganda 
machte,  „ich  beklage  eine  Erziehung,  bei  der  es  nicht  erreicht  ist, 
Wagner  zu  verstehen,  bei  der  Schopenhauer  rauh  und  mißtönend 
klingt;  diese  Erziehung  ist  verfehlt",  so  war  er  dem  Meister  wohl 
nützlicher  als  tausend  Flachköpfe.  Also  erst  nach  dem  Erscheinen 
der  „Geburt  der  Tragödie"  kann  Wagner  die  ernstliche  Absicht 
gefaßt  haben,  Nietzsches  Geisteskraft  für  sich  zu  verwerten.  So 
schrieb  Wagner  am '24.  Oktober  1872  an  Nietzsche:  „Mein  Junge 
weist  mich  nun  auf  Sie,  Freund,  und  gibt  mir,  schon  aus  reinem 
Pamilienegoismus,  die  Sucht  ein,  alle  meine  auf  Sie  gegründeten 
Hoffnungen  buchstäblich  zur  Erfüllung  getrieben  zu  sehen:  denn  der 
Junge  —  ach!  —  braucht  Sie!"  Und  am  27.  Februar  1873:  „Es 
kommen  die  Momente,  wo  ich  mich  tief  besinne,  und  dann  kommen 
Sie  gewöhnhch  auch  mit  vor  —  so  zwischen  mir  und  Fidi. "  So  hatte 
auch  Wagner  wiederholt  die  Absicht  geäußert,  in  seinem  Testamente 
Nietzsche  als  Siegfrieds  Vormund  einzusetzen.  Aber  der  feinfühlige 
junge  Nietzsche,  für  dessen  psychologischen  Scharfbhck  die  „Geburt 
der  Tragödie"  ein  glänzendes  Beispiel  ist,  mochte,  als  er  sich  dessen 
bewußt  ward,  wieviel  in  ihm  nach  Reife  dürstete,  welch  tiefe  Probleme 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  j^ 


—     210     — 

sich  vor  seinem  Geiste  ausbreiteten,  bald  erkannt  haben,  daß  der 
weitere  ununterbrochene  Umgang  mit  dem  Meister  ihn  nur  an  sich 
selbst  irre  machen  könnte,  und  zog  sich  daher,  um  dem  Freunde 
die  Treue  zu  wahren,  selbstlos  zurück.  Er  ging  in  die  Einsamkeit, 
wo  er  die  Kräfte  sammeln  wollte,  um  sich  neben  jenem  zu  be- 
haupten. Sein  Hauptbestreben  dabei  war,  einem  eventuellen  Konflikte, 
der  sich  aus  einer  Meinungsverschiedenheit  hätte  entwickeln  können, 
auszuweichen.  Nietzsche  selbst  prägte  dafür  den  schönen  Ausspruch : 
„Ein  Mensch,  der  nach  Großem  strebt,  betrachtet  jedermann,  dem 
er  auf  seiner  Bahn  begegnet,  entweder  als  Mittel  oder  als  Ver- 
zögerung und  Hemmnis  —  oder  als  zeitweiliges  Ruhebett."  Und 
wenn  er  in  einem  Briefe  schreibt:  „Unter  einem  Jünger  würde  ich 
einen  Menschen  verstehen,  der  mir  ein  unbedingtes  Gelübde  machte", 
so  charakterisieren  diese  beiden  Sätze  nicht  nur  ihn,  sondern  auch 
Wagner:  die  alleinige  Wertung  der  Persönlichkeit,  einen  gewissen 
antisozialen  Zug,  der  sich  am  deutlichsten  in  einem  aristokratischen 
Radikalindividualismus  der  beiden  Männer  spiegelt.  Die  Trennung 
war  unvermeidhch !  Und  schheßlich  sagte  er  sehr  richtig:  „Jeder 
Meister  hat  nur  einen  Schüler  und  der  wird  ihm  untreu  —  denn 
er  ist  zur  Meisterschaft  auch  bestimmt!"^)  So  wird  der  Leser  sehr 
erstaunt  sein,  wenn  er  aus  der  Gesamtausgabe  von  Nietzsches 
Werken,  Band  X,  entnehmen  kann,  daß  bereits  in  der  „Geburt  der 
Tragödie"  Nietzsche  nur  mit  Rücksicht  für  Wagner  viele  Gedanken 


1)  Cf.  damit  Goethes  feinsinnige  Sentenz:  „Das  Schrecklichste  für  den 
Schüler  ist,  daß  er  sich  am  Ende  doch  wieder  gegen  den  Meister  herstellen  muß. 
Je  kräftiger  das  ist,  was  dieser  gibt,  in  desto  größerem  Unmut,  ja  Ver- 
zweiflung ist  der  Empfangende."  Es  wurde  bereits  des  öfteren  darauf  hin- 
gewiesen, welch  furchtbare  Seelenkämpfe  Nietzsche  au  Wagners  Seite  durch- 
zukämpfen hatte,  um  sich  schheßlich  um  den  Preis  eines  großen  Opfers 
—  des  Verlustes  des  Meisters!  —  zur  Selbständigkeit  durchzuringen.  Lassen 
wir  daher  alle  diese  inneren  Kämpfe  an  unserem  geistigen  Auge  noch  einmal 
vorüberziehen,  so  müssen  wir  staunend  erkennen,  daß  an  Nietzsche  Hebbels 
tiefsinnige  Sentenz:  „Lieben  heißt,  in  dem  andern  sich  selbst  erobern", 
Wahrheit  geworden  ist.  Und  schließlich:  war  es  nicht  Nietzsches  größter 
Fehler,  seine  Freunde,  darunter  auch  Wagner,  stets  maßlos  zu  überschätzen? 
Deshalb  sagte  Peter  Gast  in  stolzer  Bescheidenheit  noch  am  Grabe  Nietzsches: 
„Wie  konnten  wir  deine  Freunde  sein?  Doch  nur,  indem  du  uns  über- 
schätztest!" Aber  wie  ein  Trost  klingt  es,  was  unser  Altmeister  verkündet: 

„Was  ihr  niemals  überschätzt. 

Habt  ihr  nie  besessen!" 


—     211     — 

unterdrückt  hatte,  die  dessen  Mißfallen  hätten  erregen  können.  Denn 
der  Meister  war  sehr  mißtrauisch  und  mochte  wohl  auch  schon 
gelegentlich  die  Wahrnehmung  gemacht  haben,  daß  das  Wesen 
seines  jungen  Streitgenossen  allmählich  Züge  annehme,  die  seinem 
Wesen  fremd  waren.  Deshalb  fragte  Nietzsche  bei  allem,  was  er 
tat:  „Wird  es  auch  Wagner  recht  sein?"  Frau  Förster  erzählt 
folgende,  dieses  Verhältnis  scharf  charakterisierende  Episode :  Sie  und 
ihr  Bruder  saßen  einst  in  den  Parkanlagen  zu  Baden-Baden  und 
erörterten  kunstästhetische  Probleme.  Plötzlich  bemerkten  sie,  daß 
ihnen  ein  Herr  —  es  war  Turgenjew  —  aufmerksam  zuhöre.  Als  aber 
der  Lauscher  wahrnahm,  daß  man  ihn  bemerkt  hatte,  entfernte  er 
sich.  Da  meinte  Nietzsche,  es  sei  gut,  daß  jener  nicht  wisse,  wer 
sie  beide  seien ;  denn  sonst  käme  am  Ende  ihr  Gespräch  Wagner  zu 
Ohren.  Als  die  Schwester  dazu  bemerkte,  Wagner  könne  doch  un- 
möglich erwarten,  daß  Nietzsche  alle  seine  Ansichten  teile,  erwiderte 
Nietzsche:  „Doch,  Lisbeth,  das  verlangt  er!*  So  verzichtete 
Nietzsche  ferner  aus  Rücksicht  auf  Wagner  1872  auf  eine  Reise 
nach  Griechenland,  weil  sein  erwählter  Reisebegleiter,  Professor 
Mendelssohn  in  Freiburg  i.  Br.,  ein  Sohn  des  berühmten  Komponisten 
war,  dessen  Freund  Wagner  bekanntlich  nicht  war.  Kein  Wunder, 
wenn  Nietzsche  dann  sagte:  „Es  gibt  etwas,  das  im  höchsten  Grade 
das  Mißtrauen  gegen  Wagner  wachruft:  das  ist  Wagners  Mißtrauen! 
Das  wühlt  so  stark,  daß  ich  zweimal  zweifelte,  ob  er  Musiker  sei ! " 
Nach  der  „II.  Unzeitgemäßen",  die  er  Wagner  zugesandt  hatte, 
erhielt  Nietzsche  von  diesem  zwar  einen  herzlichen  Brief,  mußte 
jedoch  durch  eine  dritte  Person  erfahren,  daß  sich  Wagner  über 
dieses  Werk  sehr  kühl  und  absprechend  geäußert  habe.  Wagner 
selbst  schrieb  ihm  folgendes:  „Lob  erwarten  Sie  wohl  nicht  von 
mir?  Es  sähe  auch  hübsch  aus,  wenn  ich  Ihr  Feuer,  Ihren  Witz 

—  loben  wollte!    Meine    Frau  findet   für   so    etwas    die   rechte  Art 

—  dafür  ist  sie  eben  ein  Weib!"  Nietzsche  äußerte  sich  später  über 
diesen  Brief:  Wagners  „schöne  Worte"  seien  ihm  vorgekommen  wie 
„nur  Blumen,  die  eine  bittere  Wahrheit  verdecken  sollten!"  Auf  des 
Meisters  Äußerung:  „Dieser  Nietzsche  geht  immer  seine  eigenen 
Wege",  antwortete  Nietzsche:  „Ich  habe  in  Bayreuth  nur  Wert  als 
Wagnerschriftsteller,  ich  soll  nichts  weiter  sein,  ich  darf  nur  das 
bewundem  und  verehren,  was  in  Bayreuth  gebiUigt  wird!"  »Man 
muß  ihn  nehmen,  wie  er  ist!"  hatte  Wagner  oft  gesagt,  nie  jedoch 

14* 


--     212     — 

nach  dieser  Maxime  gehandelt.  Nietzsche  fehlte  eben  jener  etwas 
ans  Demagogentum  streifende  Zug  Wagners.  Damit  stimmt  eine 
Äußerung  Professor  Ritschis  über  Nietzsche  (Mai  1869):  „Dazu  ist 
er  nicht  zu  gebrauchen,  immer  will  er  mit  seiner  Liebe  und  Ver- 
ehrung besondere  Wege  gehen ! "  Das  heißt,  Nietzsche  war  eben  nie 
„Parteimann"  und  war  um  keinen  Preis  zu  bewegen,  sich  ins  Partei- 
getriebe der  Anhänger  zu  begeben.  —  Frau  Förster  zitiert  folgende 
Tagebuchnotiz  ihres  Bruders  aus  dem  Jahre  1875 :  „Ich  wüßte  nicht, 
auf  welchem  Wege  ich  je  des  reinsten  sonnenhellen  Glückes  teil- 
haftig geworden  ,wäre  als  durch  Wagners  Musik:  und  dies,  obwohl 
sie  durchaus  nicht  immer  von  Glück  redet,  sondern  von  den  furcht- 
baren und  unheimlichen  unterirdischen  Kräften  des  Menschentreibens, 
von  dem  Leiden  in  allem  Glücke  und  von  der  Endlichkeit  unseres 
Glücks:  es  muß  also  in  der  Art,  wie  sie  redet,  das  Glück  liegen, 
das  sie  ausströmt.  —  Man  rechne  nur  nach,  woran  Wagner  seine 
eigentUche  Lust  und  Wonne  hat,  an  was  für  Szenen,  Konflikten, 
Katastrophen  —  da  begreift  man,  was  er  ist  und  was  die  Musik 
für  ihn  ist.  Wotans  Verhältnis  zu  Siegfried  ist  etwas  Wundervolles, 
wie  es  keine  Poesie  der  Welt  hat:  die  Liebe  und  die  erzwungene 
Feindschaft  und  die  Lust  an  der  Vernichtung.  Dies  ist  höchst  sym- 
bolisch für  Wagners  Wesen:  Liebe  für  das,  wodurch  man  erlöst, 
gerichtet  und  vernichtet  wird;  aber  ganz  göttlich  empfunden."  Dazu 
bemerkte  Professor  Ernst  Holzer,  der  verdienstvolle  Herausgeber  von 
Nietzsches  philologischen  Schriften:  „So  wie  Wotan  Siegfried  gegen- 
überstand, so  hätte  Wagner  Nietzsche  empfinden  sollen,  dann  wäre 
er  göttlich  gewesen.  So  aber  fühle  ich  aus  den  Briefen  Wagners  und 
Cosimas  die  kleinhche  Besorgnis  heraus,  daß  Nietzsche  über  Wagner 
hinauswachsen  könnte.  Immer  wird  er  geduckt,  stets  wird  in 
Cosimas  Briefen  angedeutet,  daß  er  im  Dienste  von  Wagners  Genius 
seinen  eigentlichen  Beruf  zu  finden  habe."  Nun  ist  mit  Frau  Förster 
gewiß  gerne  zugegeben,  daß  diese  Bemerkung  übertrieben  sei,  indes 
ist  nicht  zu  vergessen,  daß  Nietzsche  sich  damals  durchaus  nicht 
zu  der  Anschauungsweise  verstiegen  habe,  daß  er  Wagner  als  Siegfried 
gegenüberstehe  und  daß  er,  um  ihm  im  Höchsten  treu  zu  bleiben, 
ihn  bekämpfen  müßte !  Ziehen  wir  aus  all  dem  Gesagten  die  Summe, 
so  ergibt  sich,  daß,  solange  Wagner  in  Tribschen  weilte  und  Männer 
wie  Nietzsche  sehr  nötig  hatte,  zwischen  beiden  die  schönste  Über- 
einstimmung herrschte.    Erst   als  Wagner   in  Bayreuth    festen  Fuß 


—     213     — 

gefaßt  hatte  und  sich  in  die  Rolle  des  europäischen  Kunstdiktators 
immer  tiefer  einlebte,  kamen  Sprünge  und  Risse  in  das  Verhältnis: 
Wagner  sah  in  Nietzsche  nur  seinen  untergeordneten  Helfer,  einen 
willkommenen  Handlanger  seiner  höheren  Pläne,  Nietzsche  aber 
hatte  von  Anfang  an  Gleichberechtigung  beansprucht.  In  dem  Maße, 
als  Wagner  sein  Bayreuther  Werk  gesichert  und  vollendet  sah,  ver- 
lor der  junge  Nietzsche  den  Wert,  den  er  als  Agitator  und  Propa- 
gandist dafür  besessen  hatte.  Wagner  brauchte  ihn  nicht  mehr, 
darum  konnte  er  ihn  ruhig  sich  selbst  überlassen.  Zudem  mögen 
ihm  die  originalen  Kunstauffassungen,  die  Nietzsche  den  seinigen 
gegenüber  geltend  machen  wollte,  immer  unbequemer  geworden 
sein.  Sobald  aber  Nietzsche ,  seinerseits  das  Bayreuther  Unternehmen 
nicht  mehr  in  seinem  Sinne  beeinflussen  konnte,  war  dort  nicht 
mehr  seine  Stätte.  Wagner  war  mächtiger.  Nietzsche  aber  vollendete 
seine  Abkehr  von  dem  einst  gehebten  Meister,  dem  er  doch  nur 
mehr  Helfer  denn  Freund  gewesen  war;  er  war  ihm,  wie  es  im 
„Menschlichen,  Ahzumenschhchen"  heißt,  „Hausgerät  und  Zimmer- 
schmuck, an  dem  der  Hausherr  vor  Gästen  seine  Eitelkeit  aus- 
lassen kann". 

Diese  Ausführungen,  die  ich  nicht  der  Sensation  halber,  sondern 
nur  zur  Steuer  der  Wahrheit  gebracht  habe,  lehren  uns,  daß  bei 
Nietzsche  für  seine  Abkehr  von  Wagner  nicht  allein  rein  philo- 
sophische Gründe  maßgebend  gewesen  sein  müssen,  wiewohl  er  im 
Hinblick  auf  Wagner  das  herrliche  Wort  geprägt  hat:  „Wenn 
Denken  dein  Schicksal  ist,  so  verehre  dies  Schicksal  mit  göttlichen 
Ehren  und  opfere  ihm  das  Beste  und  Liebste!"  Wir  ersehen  aber 
daraus,  wie  unrecht  Glasenapp  hat,  wenn  er  gegen  Nietzsche  den 
Vorwurf  erhebt,  er  habe  eine  Ausstellung  an  der  subjektiven  Willkür 
seiner  Meinungen  nicht  geduldet.  Wenn  dem  so  gewesen  wäre, 
hätte  sich  Nietzsche  dann  wohl  zurückgezogen?  Diese  feine  Vor. 
nehmheit  besaß  Wagner  keineswegs.  Daher  konnte  Freiherr  v.  Seyd- 
litz  über  Nietzsche  sagen:  „Ich  habe  keinen,  keinen  vornehmeren 
Menschen  kennen  gelernt  als  ihn.  Rücksichtslos  zu  sein  hat  er  nur 
verstanden  den  Ideen  gegenüber,  den  Menschen  nicht!"  Und  als  in 
Weimar  im  August  1898  die  Wiederkehr  von  Goethes  150.  Geburts- 
tage gefeiert  wurde,  fragte  Frau  Förster  den  Baron  Gersdorff,  den 
Nietzsche  seinen  Herzensfreund  genannt  hatte  und  dem  er  wohl 
mehr  anvertraut    hatte    als    all    den    anderen  Freunden,    ob    er  ihr 


—     214     — 

nicht  etwas  Ungünstiges  über  ihren  Bruder  mitteilen  könnte,  ihr 
fehle  etwas  Schatten  in  dem  lichten  Bilde  seines  Lebens.  Darauf 
sagte  Gersdorff  ernst  und  wehmütig:  „Ich  kann  mich  auf  nichts 
besinnen;  er  war  nur  Licht,  der  Schatten  waren  wir,  seine  Freunde, 
die  wir  ihn  nicht  verstanden." 

Aus  alle  dem  erhellt,  daß  Wagner  in  dem  „stets  seine  eigenen 
Wege  gehenden  Nietzsche"  einen  Abtrünnigen  erblicken  mußte,  weil 
er  seine  Wesensart  nie  verstanden  hat.  An  der  großen  Enttäuschung, 
die  der  Mensch  Wagner  Nietzsche  bereitete,  trug  der  Meister  auch 
Schuld  mit  seiner  Selbstbiographie  „Mein  Leben".  Einem  Briefe 
an  Otto  Wesendonk  läßt  sich  entnehmen,  daß  Wagner  das  Manu- 
skript seiner  Selbstbiographie  „demjenigen  übermachen  wolle,  der 
seine  wirkliche  Biographie  machen  wolle,  falls  ihn  nicht  die  Größe 
und  Widerwärtigkeit  der  laufenden  Entstellungen  seines  Lebens 
schon  früher  bestimmen  sollte,  einem  Berufenen  zur  Berichtigung 
einzelner  Punkte  das  nötige  Material  aus  diesen  Diktaten  an  die 
Hand  zu  geben".  Entstanden  ist  dieses  Werk  über  Wunsch  des 
Königs  Ludwig  und  war  nach  Glasenapps  Mitteilung  zunächst  nur 
für  die  Familie  des  Meisters  bestimmt.  Veröffentlicht  wurde  es  erst 
im  Jahre  1911.  Um  es  kurz  zu  sagen,  ist  diese  Autobiographie 
nichts  anderes  als  „typische  Schauspielermemoiren  in  ihrer  naiv 
raffinierten,  beinahe  schon  wieder  unbewußt  gewordenen  Ver- 
stellungsfreude und  Geschicklichkeit  des  Ich-Inszenierens".  Nietzsche 
nun  war  einer  der  wenigen,  die  außerhalb  des  Familienkreises 
standen,  dem  der  Meister  die  stärkste  Probe  seines  Vertrauens  gab, 
indem  er  ihm  das  Werk  zur  Durchsicht  überließ;  wohl  sicherlich 
in  der  Hoffnung,  er  habe  in  Nietzsche  den  vollkommenen  Wagner- 
schriftsteller gefunden.  Dieser  Aufgabe  hat  er  den  Freund  nachher 
bald  entbunden,  offenbar  deshalb,  weil  Nietzsche  die  Ansicht  ver- 
trat, daß  ganz  besonders  geartete  Naturen  gerade  in  Sitte  und  Her- 
kommen einen  starken  Schutz  fänden,  um  in  der  Welt  des  Geistes, 
frei  und  unbeschwert  von  kleinlichen  Alltagskämpfen,  desto  höher 
zu  steigen.  Frau  Förster  berichtet  nun,  daß  Wagner  nur  aus  Rück- 
sicht auf  Nietzsches  zartes  Empfinden  vieles  Unerfreuliche  aus 
seinem  Leben  vor  der  Bekanntschaft  mit  dem  Philosophen  wohl- 
weislich verschwiegen  habe,  wiewohl  ihm  später  Nietzsches  zarte 
Tugendhaftigkeit  recht  ärgerhch  war,  so  daß  er  sowohl  über  sich 
selbst   als    auch    über  Cosima   mitunter  sehr  Derbes  und  Häßliches 


—     215     — 

sagen  konnte.  Allerdings  suchte  er  stets  dies  sofort  wieder  gut  zu 
machen,  indem  er  auf  seine  Neigung,  schlechte  Witze  zu  machen, 
kräftig  schimpfte.  So  sagte  er  einst  zu  Frau  Förster:  „Ihr  Bruder 
ist  in  seiner  zarten  Vornehmheit  oft  recht  unbequem;  dazu  sieht 
man  ihm  auch  alles  an,  was  er  denkt;  manchmal  schämt  er  sich 
ordentlich,  was  ich  für  Witze  mache  —  und  dann  treibe  ich's 
immer  toller.  Ihr  Bruder  ist  gerade  wie  Liszt,  der  mag  meine 
Witze  und  Spässe  auch  nicht."  Deshalb  konnte  es  dem  scharf- 
blickenden Psychologen  Nietzsche  unmöglich  entgangen  sein,  daß 
der  Meister  in  der  Selbstbiographie  von  sich  ein  Bild  entwarf,  das 
der  Wirklichkeit  am  allerwenigsten  entsprach.  Im  „Fall  Wagner" 
äußerte  er  sich  über  diese  Autobiographie:  „Das,  was  bisher  als 
Leben  Wagners  in  Umlauf  gebracht  worden  ist,  ist  fable  convenue, 
wenn  nichts  Schlimmeres.  Ich  bekenne  mein  Mißtrauen  gegen  jeden 
Punkt,  der  bloß  durch  Wagner  selbst  bezeugt  ist.  Er  hatte  nicht 
Stolz  genug  zu  irgendeiner  Wahrheit  über  sich;  niemand  war 
weniger  stolz ;  er  blieb  ganz  wie  Viktor  Hugo  auch  im  Biographischen 
sich  treu  —  er  blieb  Schauspieler."  Und  in  der  „Genealogie  der 
Moral":  „Man  verspricht  uns  eine  Selbstbiographie  R.  Wagners: 
Wer  zweifelt,  daß  es  eine  kluge  Selbstbiographie  sein  wird?" 
Wenn  aber  Wagner  im  Vorworte  zu  „Meinem  Leben"  schrieb,  daß 
„der  Wert  der  hiemit  gesammelten  Autobiographie  in  der  schmuck- 
losen Wahrhaftigkeit  beruhe",  ist  dadurch  Nietzsche,  der  Wagner 
„den  Schauspieler  seines  eigenen  Ideals"  nannte,  nicht  widerlegt? 
Ernest  weist  in  seinem  Buche  über  Wagner  diese  Behauptung 
Nietzsches  zurück  mit  folgender  Argumentation:  Schauspieler  sei 
nur  der,  „der  sich  als  etwas  anderes.  Größeres  geben  möchte  als 
er  ist.  Konnte  das  aber  in  der  Natur  eines  Mannes  liegen,  der  so 
unerschütterlich  fest  von  seiner  Bedeutung  durchdrungen  war,  wie 
Wagner?  Und  auch,  wenn  er  sich  immer  von  neuem  als  einen 
anderen  offenbarte,  beruhte  das  nicht  auf  einem  Rollen-,  sondern 
einem  Überzeugungswechsel,  wobei  nie  das  Ziel  durch  die  Überzeugung, 
sondern  die  Überzeugung  durchs  Ziel  bedingt  wurde".  Dem  ist  jedoch  ent- 
gegenzuhalten, daß  Nietzsche  unter  Schauspieler  an  all  den  Stellen, 
wo  er  Wagner  damit  belegt,  stets  den  Menschen  versteht,  der 
alle  seine  körperlichen  und  geistigen  Gaben  unkeusch 
in  den  Dienst  der  unmittelbaren  Wirkung  stellt.  Diese 
Art  der  Verachtung  des  Schauspielers   besaß    aber  Nietzsche    schon 


—     216     — 

vor  seinem  Abfalle  von  Wagner;  denn  bereits  1871  heißt  es  in 
dem  Aufsatz  „Musik  und  Tragödie" :  „Noch  im  Munde  des  innerlich 
überzeugtesten  Schauspielers  klingt  uns  ein  tiefsinniger  Gedanke, 
ein  Gleichnis,  ja  im  Grunde  jedes  Wort  wie  abgeschwächt,  ver- 
kümmert, entheiligt;  wir  glauben  nicht  an  diese  Sprache,  wir 
glauben  nicht  an  diese  Menschen,  und  was  uns  sonst  als  tiefste 
Weltoffenbarung  berührte,  ist  uns  jetzt  ein  widerwilUges  Masken- 
spiel. Man  fühlt  etwas  wie  eine  Entweihung."  Dasselbe  Grundmotiv 
wird  wiederkehren  in  Nietzsches  Kritik  am  „Parsifal".  Nietzsche  hat 
an  Wagner  geglaubt,  solange  ihm  dieser  als  der  dionysisch  Ver- 
zückte erschienen  war,  jetzt  sah  er  in  ihm  nur  mehr  den  Komö- 
dianten, den  klugen  maestro.  Und  das  konnte  er  nie  ganz  verwinden. 
Bereits  in  dem  Panegyrikus  „R.  Wagner  in  Bayreuth"  heißt  es: 
„Wenn  man  versucht  hat,  die  großartigsten  Entwicklungen  aus 
inneren  Hemmungen  oder  Lücken  herzuleiten,  wenn  zum  Beispiel 
für  Goethe  das  Dichten  eine  Art  Auskunftsmittel  für  einen  ver- 
fehlten Malerberuf  war,  wenn  man  von  Schillers  Dramen  als  von 
einer  versetzten  Volksberedsamkeit  reden  kann,  wenn  man  in  ähn- 
licher Weise  Wagners  Entwicklung  mit  einer  solchen  inneren 
Hemmung  in  Verbindung  setzen  wollte,  so  dürfte  man  wohl  in  ihm 
eine  schauspielerische  Urbegabung  annehmen,  welche  es 
sich  versagen  mußte,  sich  auf  dem  nächsten,  trivialsten  Wege  zu 
befriedigen  und  welche  in  der  Heranziehung  aller  Künste 
zu  einer  großen  schauspielerischen  Offenbarung  ihre 
Auskunft  und  ihre  Rettung  fand."  In  dieser  Schrift  findet 
sich  aber  noch  eine  höchst  bedeutsame  Stelle,  die  den  Schauspieler- 
begriff von  Wagners  Kunst  bereits  auf  dessen  Leben  überträgt: 
„Das  Leben  Wagners,  ganz  aus  der  Nähe  und  ohne  Liebe  gesehen, 
hat  sehr  viel  von  der  Komödie  an  sich,  und  zwar  von  einer 
merkwürdig  grotesken."  In  einem  Nachlaßfragment  heißt  es:  „In 
meiner  Jugend  hatte  ich  Unglück,  es  lief  mir  ein  sehr  zweideutiger 
Mensch  über  den  Weg.  Als  ich  ihn  als  das  erkannte,  was  er  ist, 
nämlich  ein  großer  Schauspieler,  der  zu  keinem  Ding  ein  echtes 
Verhältnis  hat  (selbst  zur  Musik  nicht),  war  ich  so  angeekelt  und 
krank,  daß  ich  glaubte,  alle  berühmten  Menschen  seien  Schauspieler 
gewesen,  sonst  wären  sie  nicht  berühmt  geworden  —  und  an  dem, 
was  ich  ,Künstler'  nannte,  sei  eben  das  Hauptsächhchste  die 
schauspielerische  Kraft."    Und  im  „Fall  Wagner":  „Sie  wissen 


—     217     — 

nicht,  wer  Wagner  ist:  Ein  ganz  großer  Schauspieler!  Der 
Schauspieler  Wagner  ist  ein  Tyrann,  sein  Pathos  wirft  jeden  Ge- 
schmack, jeden  Widerstand  über  den  Haufen.  War  Wagner  überhaupt 
ein  Musiker?  Jedenfalls  war  er  etwas  anderes  mehr:  Nämlich  ein 
unvergleichlicher  histrio,  der  größte  Mime,  das  erstaunlichste  Theater- 
genie, das  die  Deutschen  gehabt  haben.  Er  gehört  wo  anders  hin 
als  in  die  Geschichte  der  Musik:  mit  deren  großen  Echten  soll  man 
ihn  nicht  verwechseln.  Wagner  und  Beethoven  —  das  ist  eine 
Blasphemie.  Wagner  war  auch  als  Musiker  nur  das,  was  er  über- 
haupt war:  er  wurde  Musiker,  er  wurde  Dichter,  weil  der  Tyrann 
in  ihm,  sein  Schauspielergenie,  ihn  dazu  zwang.  Man  errät  nichts 
von  Wagner,  solange  man  nicht  seinen  dominierenden  Instinkt 
erriet.  Wagner  will  die  Wirkung,  er  will  nichts  als  die  Wirkung. 
Er  hat  darin  die  Unbedenklichkeit,  die  jeder  Theatermensch  hat. 
Auch  im  Entwerfen  der  Handlung  ist  Wagner  vor  allem  Schau- 
spieler. Wagner  bedeutet  die  Heraufkunft  des  Schauspielers  in  der 
Musik.  Noch  nie  wurde  die  Eechtschafifenheit  der  Musiker,  ihre 
, Echtheit'  gleich  gefährlich  auf  die  Probe  gestellt ...  ein  Zeitalter 
der  Demokratie  treibt  den  Schauspieler  auf  die  Höhe  —  in  Athen 
ebenso  wie  heute.  Richard  Wagner  hat  bisher  alles  darin  überboten 
und  einen  hohen  Begriff  vom  Schauspieler  erweckt,  der  Schauder 
machen  kann.  Musik,  Poesie,  Religion,  Kultur,  Buch,  Familie,  Vater- 
land, Verkehr  —  alles  vorerst  Kunst,  will  sagen  Bühnenattitude . . . 
Wagner  war  ein  großer  Schauspieler:  aber  ohne  Halt  und  inwendig 
die  Beute  von  allen  Sachen,  welche  stark  berauschen  ...  er  ist 
verurteilt,  Schauspieler  zu  sein.  Seine  Kunst  selbst  wird  ihm  zum 
beständigen  Fluchtversuch,  zum  Mittel  des  Sichvergessens,  des  Sich- 
betäubens  —  es  verändert,  es  bestimmt  zuletzt  den  Charakter  seiner 
Kunst.  Ein  solch  ,Unfreier'  hat  eine  Haschisch- Welt  nötig,  er  hat 
Wagnersche  Musik  nötig.  Eine  gewisse  Katholizität  des  Ideals  vor 
allem  ist  bei  einem  Künstler  beinahe  ein  Beweis  von  Selbstver- 
achtung, von  Sumpf."  Durch  den  „Parsifal"  vollends  „brachte"  Wagner, 
„ein  im  Grunde  zerbrochener  und  überwundener  Mensch,  die  große 
Schauspielerei  seines  Lebens  auf  die  Spitze".  Wichtig  erscheint  mir 
noch  jene  Szene  im  „Zarathustra",  da  der  alte  Zauberer  —  dichterische 
Maske  für  Wagner  —  mit  seiner  Kunst  und  „rührenden  Gebärde" 
sich  Zarathustras  Liebe  erschleichen  will,  von  diesem  jedoch  zurecht- 
gewiesen wird :  „Halt  ein,  du  Schauspieler!  du  Falschmünzer! 


-     218     — 

du  Lügner  aus  dem  Grunde!  Ich  erkenne  dich  wohl  . . .  du 
Meer  der  Eitelkeit,  was  spieltest  du  vor  mir,  du  schlimmer 
Zauberer,  an  wen  sollte  ich  glauben?"  —  „Den  Büßer  des  Geistes," 
sagte  der  alte  Mann,  „den  spielte  ich  ...  und  gesteh  es  nur  ein: 
es  währte  lange,  bis  du  hinter  meine  Kunst  und  Lüge 
kamst.  Du  glaubtest  an  meine  Not,  ich  hörte  dich  jammern, 
,man  hat  ihn  zu  wenig  geUebt,  zu  wenig  geliebt!'  Daß  ich  dich 
so  weit  betrog,  darüber  frohlockte  inwendig  meine  Bosheit."  — 
„Du  magst  Feinere  betrogen  haben  als  mich",  sagte  Zarathustra 
hart.  „Ich  bin  nicht  auf  der  Hut  vor  Betrügern,  ich  muß  ohne  Vor- 
sicht sein,'  so  will  es  mein  Los.  Du  aber  —  mußt  betrügen:  so 
weit  kenne  ich  dich!  Ich  errate  dich  wohl:  du  wurdest  der  Bezau- 
bere r  aller,  aber  gegen  dich  hast  du  keine  Lüge  und  List  mehr 
übrig  —  du  selber  bist  dir  entzaubert!  Du  erntetest  den  Ekel  ein 
als  deine  eine  Wahrheit.  Kein  Wort  ist  mehr  an  dir  echt,  aber 
dein  Mund:  nämlich  der  Ekel,  der  an  deinem  Munde  klebt."  —  „Wer 
bist  du  doch?"  schrie  hier  der  alte  Zauberer,  „wer  darf  also  zu 
mir  reden,  dem  Größten,  der  heute  lebt?"  und  ein  grüner 
Blitz  schoß  aus  seinem  Auge  nach  Zarathustra.  Aber  gleich  darauf 
verwandelte  er  sich  und  sagte  traurig:  „0  Zarathustra,  ich  bin's 
müde,  es  ekelt  mich  meiner  Künste,  ich  bin  nicht  groß;  was  ver- 
stelle ich  mich!  Aber,  du  weißt  es  wohl  —  ich  suchte  nach 
Größe!  Einen  großen  Menschen  wollte  ich  vorstellen 
und  überredete  viele:  aber  diese  Lüge  ging  über  meine  Kraft. 
An  ihr  zerbreche  ich.  0  Zarathustra,  alles  ist  Lüge  an  mir; 
aber  daß  ich  zerbreche  —  dies  mein  Zerbrechen  ist  echt!"  — 
„Du  schlimmer  alter  Zauberer,  das  ist  dein  Bestes  und  Redlichstes, 
was  ich  an  dir  ehre,  daß  du  deiner  müde  wurdest  und  es  aus- 
sprichst: ,Ich  bin  nicht  groß'  und  wenn  auch  nur  für  einen  Hauch 
und  Husch,  diesen  einen  Augenblick  warst  du  —  echt!"  Indes 
hat  der  „Schauspieler"  Wagner  nie  widerrufen,  wie  sehr  auch 
Nietzsche  —  diese  Zarathustrastelle  beweist  es!  —  eine  Palinodie 
bei  Wagner  herbeigesehnt  haben  mag.  Es  kann  aber  nicht  genug 
davor  gewarnt  werden,  die  Gestalt  des  alten  Zauberers  ohneweiters 
immer  mit  Wagner  zu  identifizieren.  Denn  nur  mitunter,  wie  zum 
Beispiel  in  der  zitierten  Stelle,  ist  sie  so  individuell  gezeichnet,  daß 
alle  geschilderten  Einzelheiten  uns  direkt  auf  Wagner  hinweisen. 
Sonst  wird  nämlich  durch  den  Zauberer    der   rehgiöse  Mensch  sym- 


—     219     — 

bolisiert.  —  Nietzsches  abfällige  Kritik  über  Wagners  Autobiographie 
erscheint  uns  begreiflich,  zumal  wenn  man  bedenkt,  daß  er  sie 
innerhalb  der  Jahre  1865 — 1870  seiner  Lebensgefährtin  Cosima  in 
die  Feder  diktierte,  also  zu  einer  Zeit,  da  jene  ihren  Gatten  Hans 
V.  Bülow  verlassen  hatte  und  am  5.  August  1868  zu  dauerndem 
Aufenthalte  in  Tribschen  eingetroffen  war.  Es  .mochte  ihm  daher 
wünschenswert  erscheinen,  manches  aus  seinem  Leben  der  neu- 
gewonnenen Gefährtin  in  ganz  bestimmter  Beleuchtung  kundzutun. 
Hieher  gehört  in  erster  Linie  sein  Verhältnis  zu  Mathilde  Wesen- 
donk.  Dieses  ist  vollständig  verschleiert  und  auf  Kosten  der  Mit-- 
beteiligten  als  nichtig  und  bedeutungslos  dargestellt.  Wagner  konnte 
eben  damals  nicht  einmal  ahnen,  daß  seine  herrlichen  Ergüsse  an 
Mathilde  einmal  bekannt  würden,  zumal  er  ihr  gegenüber  den 
Wunsch  geäußert  hatte,  sie  sollten  vernichtet  werden.  Nun  schreibt 
Prof.  Golther  in  der  Vorbemerkung  seiner  Ausgabe  der  Briefe 
Wagners  an  Mathilde,  daß  diese  sie  zur  Veröffentlichung  bestimmt 
habe;  die  Familie  Wagner  habe  sich  ferner  „ausnahmsweise  und 
für  diesen  Fall"  ihres  Autorrechtes  entäußert.  (Cf.  dazu  mein  Buch: 
„B.,  Wagners  Tristan  und  Isolde,  ein  Interpretationsversuch",  p.  250 
bis  281.)  Ferner  entspricht  nicht  den  Tatsachen  die  Schilderung 
seines  Verhältnisses  zu  seiner  ersten  Frau  Minna,  deren  ganzes 
Vorleben,  deren  sämtliche  Vergehen  und  Fehltritte  bis  ins  kleinste 
Detail  mit  schonungslosester  Breite  ausgemalt  werden,  während 
Wagner  an  sein  eigenes  Verhalten  in  puncto  ehelicher  Treue  den 
gleich  strengen  Maßstab  nicht  anlegt.  Seltsam  berührt  es  auch,  daß 
Wagner  gegen  das  Ende  des  Buches  fast  auf  jeder  Seite,  jedesmal^ 
wenn  von  einer  größeren  Einnahme  die  Kede  ist,  seine  „Verpflich- 
tungen gegen  Minna"  betont,  während  er  der  Ausgaben  für  sich 
mit  keiner  Silbe  gedenkt.  Wer  ferner  Wagners  Briefwechsel  mit 
Liszt  und  Otto  Wesendonk  kennt,  wird  sich  wundern,  wie  karg, 
kühl  und  spöttisch  er  in  seiner  Selbstbiographie  dieser  beiden  Männer 
gedenkt;  denen  er  so  unendhch  viel  verdankt.  So  entspricht  es 
ferner  gleichfalls  nicht  den  Tatsachen,  wenn  Wagner  erzählt, 
Schopenhauer  habe  sich  „bedeutend  und  günstig"  über  seine  Ring- 
dichtung ausgesprochen;  das  Gegenteil  trifft  zu  (cf.  mein  Buch: 
„Wagners  Tristan  und  Isolde",  p.  237/38).  So  verschweigt  er  auch 
ein  Zerwürfnis  mit  Liszt  im  Jahre  1858.  Über  Mendelssohn,  Meyer- 
beer,   Brahms   und   andere   fällt   er   geradezu  vernichtende  Urteile.. 


—     220     — 

Diese  Autobiographie   kündet   uns    nicht;    wie  Wagners  Leben  war, 
sondern  wie  Wagner  es  später  sah  oder  sehen  wollte! 

Ohne  Zweifel  hatte  Nietzsche  bereits  frühzeitig  das  Schau- 
spielerhafte, Lärmende,  allzu  Laute  in  Wagners  Wesen  klar  erkannt 
und  sich  dadurch  von  ihm  abgestoßen  gefühlt,  was  freilich  Eigen- 
schaften sind,  die  wir  an  Nietzsches  späterem  Wesen  leider  auch 
konstatieren  können,  wiewohl  sie  aber  auf  eine  ganz  andere  Wurzel 
zurückzuführen  sind  wie  bei  Wagner.  Zu  Wagners  Autobiographie 
mag  man  sich  stellen,  wie  man  wolle:  auch  sie  ist  ein  Kunstwerk 
und  demzufolge  genau  so  einzuschätzen  wie  die  anderen  Kunstwerke 
des  Meisters.  Jedoch  vermissen  wir  in  ihm  jene  Wahrhaftigkeit,  mit 
der  Wagner  z.  B.  im  Tristandrama  in  poetischer  Verklärung  eine 
Episode  aus  seinem  Leben  geschildert  hatte.  Und  daher  gebe  ich 
Beiart  recht,  der  allein  schon  wegen  der  Zwitterstellung  Wagners 
in  der  Wesendonk-Affaire  Wagner  einen  Schauspieler  nannte,  der 
in  seiner  Autobiographie  mit  ängstlicher  Scheu  oder  aus  kluger 
Berechnung  nicht  nur  über  diese  größte  Tragödie  seines  Lebens, 
sondern  auch  über  so  manche  andere  Tatsache  den  rettenden  Vor- 
hang fallen  läßt.  Wenn  man  aber  bedenkt,  daß  auch  Wagner  in 
erster  Linie  nicht  so  sehr  nach  Glück,  sondern  vielmehr  nach  seinem 
Werke  trachtete,  daß  er  eine  stark  sinnliche  Natur  war,  ein  so- 
genanntes „Gehirnraubtier",  das  gleich  Hebbel  alles,  das  ihm 
begegnete,  rücksichtslos  in  den  Dienst  der  eigenen  Sache  stellte, 
daher  auch  das  Glück  Nietzsches,  so  hätte  er  diesen  Wagner  mit 
größerer  Berechtigung  den  verkörperten  Willen  zur  Macht  nennen 
können.  Schrieb  doch  Wagner  selbst  am  24.  Oktober  1872  an 
Nietzsche:  „Ich  bin  jetzt  so  weit,  nach  gar  keiner  Seite  zu  mir 
ein  Blatt  vor  das  Maul  zu  nehmen;  und  käme  mir  die  Kaiserin 
Augusta  in  den  Weg,  sie  sollte  bedient  werden!  Es  muß  endhch 
-etwas  dabei  herauskommen.  Denn  das  eine  steht  fest,  daß  an  einen 
Kompromiß,  eine  Transaktion  gar  nicht  zu  denken  ist:  sich  gefürchtet 
machen,  da  man  nun  einmal  so  sehr  gehaßt  ist,  kann  einzig  etwas 
helfen."  In  späteren  Jahren  mochte  Nietzsche  selbst  eine  solche 
Identifikation  für  richtig  gehalten  haben;  denn  im  „Jenseits"  heißt 
es  von  Wagner,  daß  es  dieser  in  allem  stärker,  verwegener,  härter, 
höher  getrieben  habe  als  es  ein  Franzose  des  XIX.  Jahrhunderts 
treiben  könne,  „dank  dem  Umstände,  daß  wir  Deutschen  der  Bar- 
barei noch  näher  stehen  als  die  Franzosen".  —  Das  Genie  hat  eben 


—     221     — 

seine  eigenen  Gesetze.  Es  sind  die  eines  rücksichtslosen  und  dadurch 
fast  ehrlichen  Egoismus.  Eine  egozentrische,  also  vom  eigenen  Ich 
mit  solch  überwältigender  Kraft  unbewußt  getriebene  Gefühlswelt, 
daß  sie  als  Äußerung  eines  ungeheuren  Instinktes  fast  jenseits  der 
gewöhnlichen  menschUchen  Moralbegriffe  steht.  Unbegreiflich  ist  nur 
das  eine,  daß  gerade  die  offiziellen  Wagnerbiographen  sich  sichthch 
bemühen,  aus  dem  Bilde  Wagners  alles  Unlautere  wegretouchieren 
zu  wollen,  um  ihn  nicht  nur  zum  größten  Künstler,  sondern  auch 
zum  größten  Menschen  aller  Zeiten  zu  stempeln.  Wenn  aber  heute 
ein  Biograph  mit  rücksichtsloser  Offenheit  im  Bilde  Goethes,  des 
größten  Deutschen,  uns  auf  oft  recht  kleinliche  Züge  aufmerksam 
macht,  auf  Züge,  in  denen  sich  das  Allzumenschliche  des  Olympiers 
offenbart,  denken  wir  nur  an  sein  Verhältnis  zu  Schopenhauer  oder 
Kleist,  die  er  beide  als  Rivalen  empfand,  so  nehmen  wir  dies  als 
etwas  Selbstverständliches  hin,  zumal  derselbe  Goethe  das  schöne 
Wort  ausgesprochen  hat,  daß  selbst  Mahadöh,  der  Herr  der  Erden, 
soll  er  schonen,  soll  er  strafen,  Menschen  menschlich  sehen  müsse. 
Warum  macht  man  uns  dagegen  aus  dem  Menschen  Wagner  das 
Idealbild  eines  Menschen,  dem  in  der  Wirklichkeit  gar  nichts  ent- 
spricht? Die  Beantwortung  dieser  Frage  führt  uns  auf  eine  Tat- 
sache, die  Th.  Lessing  etwa  so  formuliert  hat:  Es  sei  ein  liebens- 
würdiger, aber  allgemeiner  Irrtum,  zu  glauben,  daß  die  schöpferischen 
Meister  irgendeines  Gebietes  auch  in  ihrem  Ich  soziale  Werte  ver- 
körpern müssen.  Ein  gewichtiges  psychologisches  Gesetz  scheint 
gerade  das  Gegenteil  wahrscheinUcher  zu  machen.  Überall  nämlich 
entdecken  wir  eine  Alternative  zwischen  jenen  Werten,  die  der 
Mensch  in  seinem  Tun  und  Schaffen,  und  jenen  andern,  die  er  im 
Wesen  und  Charakter  verkörpert,  derart,  daß  die  Handelns-  und 
Punktionswerte  als  Äquivalent  für  die  Lücken  seiner  Persönlichkeit 
auftreten  oder  auch  umgekehrt  die  geschlossene  Harmonie  und 
Schönheit  der  Person  ein  Manko  an  schöpferischen  Antrieben  ein- 
schließt. Dieses  Gesetz  treffe  am  stärksten  bei  Künstlern  und  ganz 
besonders  wieder  bei  Musikern  zu,  die  sich  in  bloßem  Fühlen  und 
Vorstellen  so  sehr  erschöpfen,  daß  für  ihre  tägUche  Umgebung  meist 
nicht  mehr  viel  übrig  bleibt.  So  gähnt  eine  endlose  Kluft  zwischen 
dem  das  Werk  umspannenden  Wunschleben  und  dem  historischen 
Ich,  das  die  nächste  Umgebung  zu  ertragen  hat.  Denken  wir  nur 
an  das  Verhältnis  Wagners  zu  seiner  Frau  Minna,    deren  Leben  an 


_     222     — 

seiner  Seite  „ein  langsamer  Untergang"  war,  zu  Otto  Wesendonk, 
zu  Bülow  und  Cosima.  Und  je  mehr  wir  uns  bemühen,  in  das 
Menschentum  großer  Männer  einzudringen,  auf  eine  desto 
größere  Unsumme  von  Rätseln  und  Widersprüchen  stoßen 
wii^.  Ein  apodiktisches  Urteil  ist  daher  nicht  möglich,  weil  nur  all- 
zuoft Kunst  und  Wirklichkeit  in  eins  verschmelzen.  Aber  trotzdem 
sind  Geistesheroen  das  einzige,  was  unser  Leben  recht- 
fertigt und  heiligt,  in  dem  Maße,  wie  wir  sie  lieben  und 
verstehen;  sie  sind  das  einzige,  was  von  unser  aller 
Leben  und  all  der  nutzlosen  Arbeit  sich  in  eine  bessere 
Zeit  hinüberrettet.  Daher  wird  es  für  uns  ein  ewiges  Rätsel 
bleiben,  daß  derselbe  Nietzsche,  der  sich  in  seinen  Schriften  als 
rücksichtsloser  Bekämpfer  der  Menschen  und  ihrer  Meinungen  ent- 
hüllt —  so  spricht  Rohde  in  betreff  der  „Genealogie  der  Moral ^ 
direkt  von  einer  „'Kannibalenmoral"  —  im  persönhchen  Umgange 
mit  Menschen  das  friedfertigste  und  sanfteste  Geschöpf  war,  das 
man  sich  überhaupt  nur  denken  kann.  Nietzsche  selbst  äußert  sich 
in  der  „Genealogie  der  Moral"  zu  diesem  Problem:  „Man  soll  sich 
vor  der  Verwechslung  hüten,  in  welche  ein  Künstler  nur  zu  leicht 
selbst  gerät  —  wie  als  ob  er  eben  das  wäre,  was  er  darstellen, 
ausdenken,  ausdrücken  kann.  Tatsächlich  steht  es  so,  daß,  wenn  er 
eben  das  wäre,  er  es  schlechterdings  nicht  darstellen,  ausdenken, 
ausdrücken  würde."  In  diesem  Sinne  verstehe  ich  daher  den  be- 
rühmten Ausspruch  Goethes:  „Ich  habe  niemals  von  einem  Ver- 
brechen gehört,  das  ich  nicht  hätte  begehen  können!"  Goethe 
brauchte  keine  Verbrechen  zu  begehen,  weil  er  sie  künstlerisch 
gestalten  konnte:  in  der  Dichtkunst  konnte  sich  sein  angeborener 
„Wille  zur  Macht '^  unbeschränkt  austoben.  „Eben  darum",  sagt 
Th.  Lessing  1.  c,  „konnte  und  durfte  Nietzsche  unter  der  Qual  un- 
veräußerlicher Hemmung  eine  Ethik  zügelloser  Freiheit  predigen, 
von  deren  eisernen  Strenge  und  unvergleichhchen  seelischen  Höhe 
diejenigen  keine  Ahnung  haben,  die  sie  uns  als  Emanzipation  des 
Sichgehenlassens  zu  diskreditieren  versuchten."  Das  wäre  aber  nur 
ein  Beweis  für  Lessings  Theorie,  daß  eben  das  Aussinnen  dieser 
„Kannibalenmoral"  und  die  sprichwörthch  gewordene  Rücksichts- 
losigkeit in  Nietzsches  Werken  als  ein  Äquivalent  für  die  Lücken 
in  seiner  Persönlichkeit  aufzufassen  sind.  Nun  lesen  wir  bei  Hebbel, 
der  ja  auch  so  ein  „Gehirnraubtier"  war:  „Große  Menschen  werden 


—     223     — 

immer  Egoisten  heißen.  Ihr  Ich  verschhngt  alle  anderen  Individu- 
alitäten, die  ihm  nahe  kommen,  und  diese  halten  nun  das  Natürliche 
und  Unvermeidliche,  das  einfach  aus  dem  Kraftverhältnis  hervorgeht, 
für  Absicht."  Gut!  Aber  trotzdem  fragt  man  sich,  wie  ist  es  zu 
erklären,  daß  gerade  zwei  solche  Ausnahmsmenschen  wie  Wagner 
und  Nietzsche,  die,  wie  ihre  Werke  tausendfach  beweisen,  die  ge- 
heimsten Regungen  der  menschhchen  Psyche  genau  kannten,  trotz 
ihrer  Forderung,  sich  selbst  und  andere  zu  erlösen,  ihnen  den  Weg 
zur  wahren  Freiheit  zu  weisen,  in  sich  selbst  nicht  die  Kraft  fanden, 
einander  zu  verstehen  und  den  dornenvollen  Weg  der  Entsagung  zu 
gehen,  der  allein  uns  Erdenmenschen  zu  den  Höhen  höchsten 
Menschentums  emporzuführen  vermag?  Daß  beide  einander  stark 
verkannten,  trotz  klar  zutage  liegender  Wahlverwandtschaft,  daß  sie 
das,  was  an  ihnen  echteste  und  unveräußerlichste  Natur  war,  für 
böse  Absicht  erklärten?  0  ewig  unlösbares  Rätsel  der  Persönhchkeit! 
Wie  sagt  doch  Zarathustra?  „0  Einsamkeit  aller  Schenkenden! 
0  Schweigsamkeit  aller  Leuchtenden !  0,  dies  ist  die  Feindschaft  des 
Lichts  gegen  Leuchtendes;  erbarmungslos  wandelt  es  seine  Bahnen. 
Unbillig  gegen  Leuchtendes  im  tiefsten  Herzen,  kalt  gegen  Sonnen, 
—  also  wandelt  jede  Sonne!  Ihrem  unerbittlichen  Willen  folgen  sie, 
das  ist  ihre  Kälte!**  —  Darum  wird  es  mir  ewig  unvergeßhch  in 
tiefster  Seele  stehen :  unser  aller  Lehrer,  Freund  und  Meister,  Wagners 
treuester  Paladin,  unser  unvergeßhcher  Alois  Höfler,  feierte  seinen 
68.  Geburtstag.  Ich  stand  an  seinem  Krankenlager  und  er,  der 
Gütige,  der  stets  einen  guten  Rat  Wissende,  besprach  mit  mir  dieses 
mein  Buch.  Da  kamen  wir  auch  auf  dieses  ewige  Rätsel  zu  sprechen; 
und  er  faßte  mich  bei  der  Hand  und  Tränen  füllten  ihm  die  Augen, 
als  er  mir  sagte:  „Auch  hier  ist  der  Rest  Schweigen  und  sich 
neigen  in  Ehrfurcht!"  Drum  rufe  ich  ihm,  der  dem  Meister  von 
Bayreuth  „bis  hinüber  nach  jenem  Reiche  der  Weltennacht"  die 
Treue  gehalten  hat,  zu:  „Non  confunderis  in  aeternum  anima  Candida!" 


XV.  NIETZSCHE-BIZET-WAGNER. 

In  der  „Fröhlichen  Wissenschaft"  schreibt  Nietzsche :  „Ich  muß 
den  Fuß  weiter  heben,  diesen  müden,  verwundeten  Fuß:  und  weil 
ich  muß,  so  habe  ich  oft  für  das  Schönste,  das  mich  nicht  halten 
konnte,  einen  grimmigen  Rückblick  —  weil  es  mich  nicht  halten 
konnte!"  Dieser  Ausspruch  präzisiert  Nietzsches  ferneres  Verhalten 
Wagner  gegenüber:  er  konnte  von  ihm  nicht  loskommen!  „Sein 
Kampf  gegen  Wagner  ist  nur  Sinnbild  eines  Bruderzwistes  in  der 
eigenen  Brust,  wie  er  so  wild,  so  schonungslos  gegen  sich,  so 
faustisch- überdeutsch,  so  unauskämpfbar  verhängnisvoll  vielleicht 
nur  in  einem  deutschen  Herzen  sich  zutragen  kann. "  Denn  in  seiner 
Seele  lebte  das  „große,  das  liebende  Verachten,  welches  am  meisten 
hebt,  wo  es  am  meisten  verachtet";  immer  noch  war  und  blieb  er 
„das  Erbe  und  Erdreich"  von  Wagners  „Liebe",  „blühend  zu"  seinem 
„Gedächtnisse"  —  allerdings  blühend  von  sehr  „bunten  und  wild- 
wachsenden Tugenden!"  Und  doch!  Wie  wehe  vollste  Menschenklage 
klingt  sein  erschütternder  Ausruf:  „Es  hilft  nichts;  man  muß  erst 
Wagnerianer  sein!"  Es  wurde  bereits  hervorgehoben  und  betont, 
daß  Nietzsche  mit  seiner  Abkehr  von  Wagner  sich  wieder  für  die 
Musik  der  Itahener  zu  interessieren  begann,  daß  er  seinen  Freund 
Peter  Gast  über  aUes  schätzte.  Gleichzeitig  erwacht  aber  in  ihm 
eine  schwärmerische  Liebe  und  Begeisterung  für  den  genialen 
Bizet,  dessen  „Carmen"  Nietzsche  gegen  Wagners  Kunstwerke  aus- 
spielen will.  Seine  Randglossen  zur  „Carmen"  beweisen  seine  Fähig- 
keit zur  musikalischen  Analyse,  überhaupt  seine  hohe  musikahsche 
Begabung.  Diese  Randglossen  lauten:  „Bizet,  ein  echt  französisches 
Talent  der  komischen  Oper,  gar  nicht  desorientiert  durch  Wagner, 
dagegen  ein  wahrer  Schüler  von  Hektor  Berlioz.  So  etwas  habe  ich 
nicht  für  möglich  gehalten.  Es  scheint,  die  Franzosen  sind  auf  einem 
besseren  Wege  in  der  dramatischen  Musik;  und  sie  haben  einen 
großen  Vorsprung    vor    den  Deutschen   in  einem  Hauptpunkte:    die 


—     225     — 

Leidenschaft  ist  bei  ihnen  keine  so  weit  hergeholte  (wie  z.  B.  alle 
Leidenschaften  bei  Wagner) ...  ich  bin  nahe  daran,  zu  denken, 
, Carmen'  sei  die  beste  Oper,  die  es  gibt;  und  solange  wir  leben, 
wird  sie  auf  allen  Kepertoiren  Europas  sein . . .  diese  Musik  scheint 
mir  vollkommen  zu  sein.  Sie  kommt  leicht,  biegsam,  mit  Höflichkeit 
daher.  Sie  ist  liebenswürdig,  sie  schwitzt  nicht.  ,Das  Gute  ist  leicht, 
alles  Göttliche  läuft  auf  zarten  Füßen' :  erster  Satz  meiner  Ästhetik. 
Diese  Musik  ist  böse,  raffiniert,  fatahstisch :  Sie  bleibt  dabei  populär, 
das  Eaffinement  einer  Easse,  nicht  eines  einzelnen.  Sie  ist  reich. 
Sie  ist  präzis."  —  Das  Duett  zwischen  Jose  und  Micaela  tadelt  er 
dagegen  als  „zu  sentimental,  zu  tannhäuserhaft".  Zum  Einsatz  der 
Harfe  bemerkt  er:  „Das  war  es,  was  Wolfram  v.  Eschenbach  zum 
Lobe  der  Liebe  singen  wollte  —  aber  er  fand  die  ,Weise'  nicht 
und  begnügte  sich,  sein  Verlangen  danach  auszudrücken."  Joses 
Auftrittlied  nennt  er  „prachtvoll  naiv  und  gut".  Der  Schluß  der 
Oper  ist  ihm  „wahrhafte  Tragödienmusik" :  im  „Fall  Wagner" 
schreibt  er:  „Endhch  die  Liebe,  die  in  die  Natur  zurückversetzte 
Liebe!  Nicht  die  Liebe;  einer  ,höheren  Jungfrau'!  Keine  Senta  — 
Sentimentalität!  Sondern  die  Liebe  als  Fatum,  als  Fatalität,  zynisch, 
unschuldig,  grausam  —  und  eben  darin  Natur!  Die  Liebe,  die  in 
ihren  Mitteln  der  Krieg,  in  ihrem  Grunde  der  Tothaß  der  Ge- 
schlechter ist  ...  eine  solche  Auffassung  der  Liebe  (die  einzige, 
die  des  Philosophen  würdig  ist)  —  ist  selten:  sie  hebt  ein  Kunst- 
werk unter  Tausenden  heraus.  Denn  im  Durchschnitt  machen  es 
die  Künstler  wie  alle  Welt,  sogar  schlimmer  —  sie  mißverstehen 
die  Liebe!"  Für  Nietzsches  musikalische  Ästhetik  ist  es  charakte- 
ristisch, daß  ihn  der  Weg  zu  Bizet  über  Schumann  und  Mendelssohn 
und  Wagner  führte.  Schätzte  er  bei  Wagner  die  „unendliche 
Melodie",  so  begeisterte  er  sich  jetzt  an  der  Einzelmelodie; 
war  ihm  Wagners  Musik  die  Verkündigung  der  Welteinheit, 
so  ist  ihm  jetzt  Bizets  Musik  die  rhythmische  Umbildung  des 
Operntextes,  was  R.  M.  Meyer  auf  Nietzsches  immer  stärkere 
Entwicklung  vom  Komponisten  zum  Dichter  zurückführt.  Diese 
Tatsache  charakterisiert  aber  auch  die  von  Nietzsche  nun  betretene 
Denkrichtung:  als  Pessimisten  regiert  ihn  die  Musik  Wagners, 
in  der  sich  der  reine  Wille  Schopenhauers  auszusprechen  schien; 
daher  bleibt  das  metaphysische  Prinzip  siegreich.  Als  Optimist, 
der    eine    empirisch-psychologische  Auffassung    der  Musik    vertritt. 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  jg 


—     226     — 

interessiert  ihn  daher  nicht  mehr  die  Musikpsychologie  des 
Menschen  Wagner  mit  seiner  „erlösenden"  Musik,  sondern 
die  Psychologie  der  südländischen  Menschen,  deren  Musik  daher 
„erlöst"  ist-  sie  atmet  eine  ganz  andere  Sinnlichkeit,  eine  andere 
Sensibilität,  eine  andere  Heiterkeit,  die  in  die  Natur  zurücküber- 
setzte Liebe.  Und  diese  Art  Musik  glaubt  Nietzsche  in  der  Carmen- 
musik Bizets  gefunden  zu  haben.  Wenn  er  aber  1888  an  Fuchs 
über  Bizet  schreibt:  ^Das,  was  ich  über  Bizet  sage,  dürfen  Sie  nicht 
ernst  nehmen;  so  wie  ich  bin,  kommt  Bizet  tausendmal  für  mich 
nicht  in  Betracht.  Aber  als  ironische  Antithese  gegen  Wagner 
wirkt  er  sehr  stark",  liegt  die  Wahrscheinlichkeit  nahe,  daß  er 
Bizets  Kunst  nur  zu  dem  Zwecke  heranzog,  um  Wagner  extrem  zu 
verdeutlichen.  Damit  würde  sich  decken,  was  Prof.  Alois  Riehl  über 
den  „Fall  Wagner"  schreibt,  diese  Schrift  sei  dem  Anscheine  nach 
allerdings  nur  eine  Invektive  gegen  Wagner,  in  Wahrheit  eine  Ab- 
rechnung über  den  Wert  des  Modernen  überhaupt.  Dies  exemplifiziert 
er  an  dem  extremisierten  Stil  Wagners.  Damit  würde  sich  die  An- 
sicht der  Frau  Förster  erledigen,  welche  die  Entstehung  des  „Falles 
Wagner"  so  erklärt:  Im  Jahre  1888  sei  Nietzsche  von  Hans  v.  Bülow 
eine  Botschaft  ausgerichtet  worden,  die  eine  sehr  scharfe  Kritik  des 
Bayreuther  Kreises  enthielt  und  schloß:  „Nietzsche  sollte  doch  ein- 
mal schreiben,  weshalb  er  von  Bayreuth  fortgegangen  wäre;  daraus 
würde  sicherhch  viel  zu  lernen  sein;  er  selbst  (sc.  Bülow)')  wolle 
sich  über  ein  verwandtes  Thema  äußern."  Allerdings  gibt  nun  Frau 
Förster  zu,  daß  die  Frage,  ob  diese  Botschaft  tatsächlich  die  An- 
regung zum  „Fall  Wagner"  gegeben  habe,  heute  nicht  mehr  entscheid- 


1)  Es  scheint  nicht  uninteressant  zu  sein,  die  Tatsache  zu  vermerken, 
daß  Bülow,  der  jahrzehntelang  völlig  im  Banne  der  Wagnerschen  Kunst  ge- 
standen und  über  Brahms  zur  Tagesordnung  geschritten  war,  in  seinen 
späteren  Jahren  sich  von  einem  Saulus  zu  einem  Paulus  wandelte  und  der 
begeistertste  und  eifrigste  Interpret  der  Brahmsschen  Musik  geworden  ist, 
wie  ihn  denn  auch  mit  dem  Wiener  Meister  ein  inniges  Freundschaftsver- 
hältnis verband.  Ob  aber  diese  Wandlung  in  Bülows  Gesinnung  auf  Nietzsches 
Einfluß  zurückzuführen  ist,  das  bleibe  dahingestellt.  Den  „Lebenserinnerungen" 
Felix  V.  Weingartners  läßt  sich  entnehmen,  daß  Bülow  sehr  abfällige  Aus- 
sprüche gegen  Wagner  zu  Brahms'  Gunsten  tat,  die  wesentlich  dazu  bei- 
trugen, daß  sich  die  echten  Wagnerianer  von  Brahms'  Kunstschaffen  ent- 
fernten. Der  Grund  hiefür  wird  wohl  das  weder  gerechte  noch  vornehme 
Verhalten  Wagners  gegen  den  um  20  Jahre  jüngeren  Brahms  gewesen  sein 


-     227     — 

bar  sei.  Richtiger  ist  es  daher,  wenn  sie  meint,  diese  Schrift  gehe 
auf  Vorstudien  zum  „Willen  zur  Macht"  zurück:  Die  Gegenüber- 
stellung des  aufsteigenden  Lebens,  das  sich  in  der  Herrenmoral 
und  der  klassischen  Kunst  zeigt,  und  des  niedergehenden  Lebens, 
das  sich  als  Sklavenmoral  und  romantische  Kunst  manifestiert. 
Ferner  die  Erkenntnis  Nietzsches,  daß  der  moderne  Mensch  diese 
beiden  entgegengesetzten  Wertschätzungen  in  sich  trage,  und  daß 
eines  der  markantesten  Beispiele  dieser  Modernität  mit  allen  ihren 
Widersprüchen  und  ihren  verderblichen  Wirkungen  R.  Wagner  selbst 
sei.  Im  „Ecce  homo**  schreibt  Nietzsche  über  den  „Fall  Wagner": 
,Um  dieser  Schrift  gerecht  zu  werden,  muß  man  am  Schicksale  der 
Musik  wie  an  einer  offenen  Wunde  leiden.  Woran  ich  leide,  wenn 
ich  am  Schicksale  der  Musik  leide?  —  Daran,  daß  die  Musik  um 
ihren  weltverklärenden,  jasagenden  Charakter  gebracht  worden  ist, 
daß  sie  Dekadencemusik  und  nicht  mehr  die  Flöte  des  Dionysos 
ist  . . .  gesetzt  aber,  daß  man  dergestalt  die  Sache  der  Musik  wie 
seine  eigene  Sache,  wie  seine  eigene  Leidensgeschichte  fühlt,  so 
wird  man  diese  Schrift  voller  Rücksichten  und  immer  noch  mild 
finden.  In  solchen  Fällen  heiter  sein  und  sich  gutmütig  mitver- 
spotten —  ridendo  dicere  severum,  wo  das  verum  dicere  jede  Härte 
rechtfertigen  würde  — ,  ist  die  Humanität  selbst.  Wer  zweifelt  eigent- 
lich daran,  daß  ich  als  der  alte  Artillerist,  der  ich  bin,  es  in  der 
Hand  habe,  gegen  Wagner  mein  schweres  Geschütz  aufzufahren? 
Ich  hielt  alles  Entscheidende  in  dieser  Sache  bei  mir  zurück  —  ich 
habe  Wagner  geliebt^)!"  Wer  sich  in  Nietzsches  Gedankenwelt  ver- 
senkt, begreift,  daß  diese  Schrift  geschrieben  werden  mußte.  Aber 
so  wie  damals  wird  sie  auch  heute  nicht  verstanden  —  was  heute 
genau  wie  damals  nur  ein  Beweis  dafür  ist,  daß  Nietzsches  Werke 
viel  zu  wenig  bekannt  sind.  Daher  ist  es  nur  auf  das  freudigste 
zu  begrüßen,  daß  Felix  v.  Weingartner,  sicherlich  kein  Unberufener 
in  musikalischen  Dingen,  in  seinem  Vortrage  zu  Ehren  von  Wagners 

1)  Cf.  Nietzsche  an  seine  Schwester,  3.  Mai  1888:  „Der  Fall  Wagner 
ist  ein  Pamphlet  über  Musik,  das  sich  gegen  Wagner  wendet.  Hier  mache 
ich  den  leidenschaftlichen  Krieg,  da  ich  nichts  in  der  Welt  so  wie  Wagner 
und  seine  Musik  geliebt  und  bewundert  habe  und  mit  Tribschen  die  erquick- 
lichsten und  erhabensten  Erinnerungen  verbinde.  Jetzt  aber  hat  die  Wagnerei 
ihre  Zeit  gehabt,  sie  wirkt  verderblich.  Das  sollte  sich  ihre  Gefolgschaft 
sagen;  sie  wird  aber  immer  fanatischer,  christlicher  und  verdüsterter,  wie 
das  ganze  Europa;   die  Wagnerei  ist  nm'  ein  Einzelfall.    Wie  hat  sich  alles 

15' 


—     228     — 

100.  Geburtstage  offen  bekannte,  man  möge  sich  zu  Nietzsche  stellen, 
wie  man  wolle,  aus  seinem  „Fall  Wagner"  spreche  ein  wohltuend 
freier  Geist,  der  viel  erquickender  wirke  als  etwa  die  Schriften 
Chamberlains  oder  Henry  Todes. 

Was  Nietzsches  Kunstanschauungen  betrifft,  so  war  er  ein 
leidenschaftlicher  Liebhaber  „der  schönen  Form",  ein  überzeugter 
Bewunderer  des  Hellentums,  der  Eenaissance  und  der  französischen 
Kultur  des  XVIII.  Jahrhunderts.  Nur  langsam  ward  er  sich  des 
tiefen  Unterschiedes  bewußt,  der  zwischen  dem  griechischen  und 
dem  Wagnerschen  Drama  besteht:  Durch  die  Wahl  seiner  Stoffe, 
den  symboUschen  Charakter,  den  er  ihnen  gegeben,  den  Umfang, 
den  er  der  inneren  Handlung  auf  Kosten  der  äußeren  gibt,  erklärte 
sich  Wagner  als  durchaus  deutsch  empfindender  Künstler.  Dadurch 
aber  scheidet  er  sich  scharf  von  den  Meistern  der  einfachen,  Hebten 
„schönen  Form".  Diese  waren  Nietzsche  „eine  große  Schule  der 
Genesung,  im  Geistigsten  und  Sinnlichsten,  eine  imbändige  Sonnen- 
fülle und  Sonnenverklärung,  welche  sich  über  ein  selbstherrliches, 
an  sich  glaubendes  Dasein  breitet".  Daher  sehnt  er  sich  von  der 
gelehrten,  komplizierten  und  überladenen  Wagnerschen  Kunst  weg 
nach  einer  Kunst  mit  den  einfachen  Linien  eines  griechischen 
Tempels,  nach  einer  mehr  leidenschaftlichen  als  träumerischen 
Kunst,  „nach  einer  überdeutschen  Musik,  welche  vor  dem  An- 
blick des  blauen,  wollüstigen  Meeres  und  der  mittelländischen 
Himmelshelle  nicht  verklingt,  verblaßt,  wie  es  alle  deutsche  Musik 
tut".  Eine  Vorstufe  zu  dieser  neuen  Kunst  ist  ihm  Bizets  „Carmen", 
eine  Kunst,  die  der  „wahre"  Ausdruck  des  „lateinischen"  Geistes 
ist,  wie  Wagners  Werke  der  Ausdruck  des  deutschen  Geistes  sind. 
Demgemäß  können  wir  es  nur  auf  das  freudigste  begrüßen,  daß 
Nietzsches  Schriften  gegen  Wagner,  die  zuerst  als  die  Skandal- 
broschüren eines  Wahnsinnigen  abgelehnt  wurden,  uns  heute  zu 
ernstem    Nachdenken    über  Wagner   anregen    und    einer   gerechten, 

gegen  1869  bis  1872  verändert!  Damals  war  ich  Wagnerianer  wegen  des 
guten  Stückes  , Antichrist',  das  Wagner  mit  seiner  Kunst  und  Art  vertrat." 
(Deshalb  nannte  auch  die  Fürstin  Wittgenstein  damals  selbst  Bayreuth  „das 
Atheistennest!")  „Aber  in  dem  Augenblicke,  wo  es  anständiger  als  je  war, 
Heide  zu  sein,  wurde  Wagner  Christ.  Frau  Cosima  nennt  man  jetzt  die 
Markgräfin  von  Bayreuth,  ein  hübscher  Scherz;  doch  habe  ich  allerhand 
wehmütige  Hintergedanken  dabei.  Wie  hat  man  seit  Tribschen  den  armen 
Wagner  verweltlicht  und  verchristlicht,  ja,  ja,  die  Frauen!" 


—     229     — 

objektiven  Würdigung  seiner  Kunstwerke  den  Weg  vorbereiten  helfen. 
Nie  wollen  wir  es  ihm  vergessen,  daß  er  von  Wagner  gesagt  hat, 
er  wirke  als  Musiker  am  stärksten  und  reinsten  dort,  wo  er  die 
Stimmung  des  Müden,  Halben,  Kesignierten,  des  Verfalls,  des  Zu- 
endegehens,  des  Herbstes  wiedergebe.  Für  seine  Stellung  zu  Wagner 
ist  es  bezeichnend,  daß  er,  wie  erwähnt,  bereits  zur  Zeit  seiner 
uneingeschränktesten  Wagnerverehrung  erklärte,  aus  Bach  und 
Beethoven  spräche  eine  viel  „reinere  Natur"  als  aus  Wagner. 

Die  Erwähnung  des  so  vielfach  miß-,  bzw.  unverstandenen 
Begriffes  der  sogenannten  „unendlichen  Melodie",  dieses  wich- 
tigsten Requisits  der  Wagnerschen  Musikästhetik,  macht  es  erforder- 
lich, zunächst  diesen  Begriff,  dann  überhaupt  Wagners  Ästhetik  einer 
kritischen  Beleuchtung  zu  unterziehen.  Am  besten  ist  es,  man  geht 
von  Wagners  eigenen  Worten  aus.  Ausgangspunkt  seiner  Definition 
ist  das  moderne  Orchester,  in  erster  Linie  seine  Verwendung;  denn 
chatte  die  antike  Tragödie  den  dramatischen  Dialog  zu  beschränken, 
weil  sie  ihn  zwischen  die  Chorgesänge,  von  diesen  losgetrennt,  ein- 
streuen mußte,  so  ist  dieses  urproduktive  Element  der  Musik,  wie 
es  in  jenen,  in  der  Orchestra  ausgeführten  Gesängen  dem  Drama 
seine  höhere  Bedeutung  gab,  unabhängig  vom  Dialoge  im  modernen 
Orchester,  dieser  größten  künstlerischen  Errungenschaft  unserer  Zeit, 
der  Handlung  selbst  stets  zur  Seite,  wie  es,  in  einem  tiefen  Sinne 
gefaßt,  die  Motive  aller  Handlung  gleichwie  in  ihrem  Mutterschoße 
verschließt".  Demnach  ist  das  Orchester  sozusagen  nur  ein  Grlied 
►  des  Dramas,  und  Wagners  Hauptbestreben  ging  dahin,  Wort  und 
Gesangsweise  frei  von  Störung  durch  überlautes  Musizieren  des 
Orchesters  zu  sichern.  Das  Verhältnis  der  Musik  zur  Dichtung  be- 
zeichnete er  daher  folgendermaßen:  „In  Wahrheit  ist  die  Größe  des 
Dichters  am  meisten  danach  zu  ermessen,  was  er  verschweigt,  um 
uns  das  Unaussprechliche  selbst  schweigend  sagen  zu  lassen;  der 
Musiker  ist  es  nun,  der  dieses  Verschwiegene  zum  hellen  Ertönen 
bringt  und  die  untrügliche  Form  seines  laut  erklingenden  Schweigens 
ist  die  unendhche  Melodie."  Das  ist  die  „tiefe  Kunst  des  tönen- 
den Schweigens",  die,  wie  Wagner  in  einem  Briefe  an  Mathilde 
Wesendonk  bekannte,  von  ihm  nie  herrlicher  geübt  wurde,  wie  im 
„Tristan",  der  daher  „mehr  Musik  ist  als  alles,  was  er  zuvor  gemacht 
habe".  Die  unendUche  Melodie  ist  daher  ein  Gewebe  von  „rastlos 
a,uftauchenden,  sich  entwickelnden,  verbindenden,  trennenden,    dann 


—     230     — 

neu  sich  verschmelzenden,  wachsenden,  abnehmenden,  endhch  sich 
bekämpfenden,  sich  umschlingenden,  gegenseitig  fast  sich  ver- 
schlingenden musikalischen  Motiven,  welche  um  ihres  bedeutsamen 
Ausdruckes  willen  der  ausführlichsten  Harmonisation,  wie  der  selb- 
ständig bewegten  orchestralen  Behandlung  bedurften  ...  sie  drücken 
ein  Gefühlsleben  aus,  wie  es  bisher  in  keinem  rein  symphonischen 
Satze  mit  gleicher  Kombinationsfülle  entworfen  werden  konnte,  und 
somit  hier  wiederum  nur  durch  Instrumentalkombination  zu  ver- 
sinnlichen war,  wie  sie  mit  gleichem  Reichtum  kaum  noch  reine 
Instrumentalkomponisten  in  das  Spiel  zu  setzen  sich  genötigt  sehen 
dürften".  Die  unendliche  Melodie  ist  also  eine  ununterbrochene 
Seelen-  und  Geistessprache  in  Tönen,  die  nicht  dem  nächsten  schönen 
Klang,  sondern  stets  dem  Ausdruck  der  Dichtung  folgt.  Nun  decken 
sich  in  Bizets  „Carmen"  Musik  und  Stoff  vollkommen,  aber  trotz- 
dem muß  man  sagen,  daß  die  Melodie  auch  so  ihr  ganzes  Tempera- 
ment auslebe,  denn  sie  kümmert  sich  nicht  so  sehr  um  das  Ge- 
wissen des  Textes  und  der  einzelnen  Gefühls  Wahrheit,  sondern 
drückt  die  gesamte  Gefühls  Wahrheit  durch  ihre  leidenschaftliche 
Bewegtheit  und  durch  ihre  von  dauernder  Phantasie  wachgehaltene 
Buntheit  und  Rhythmik  aus.  Die  Wagnersche  Musik  ist  und  bleibt 
Programmusik.  Wenn  aber  Programmusik  die  Musik  ist,  die 
nicht  durch  sich  selbst  wirkt,  sondern  durch  die  Idee,  welche  ihr 
unterschoben  ist,  wenn  sie  nur  die  Illustration  eines  Vorganges  oder 
Erläuterung  eines  philosophischen  Problemes  sein  soll,  dann  hat  die 
Musik  aufgehört,  das  zu  sein,  was  sie  sein  soll  —  Musik.  Als  ab- 
solute Musik  wäre  demnach  die  Musik  zu  definieren,  die  ohne  Zu- 
hilfenahme von  Vorstellungen  oder  ohne  Verbindung  mit  anderen 
Künsten  nur  durch  sich  und  an  sich  selbst  wirkt.  Wird  aber  nicht 
alles  als  absolut  definiert,  was  eigentlich  absolut  nicht  zu  definieren 
ist?  Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  einer  kleinen  Rossini- Anekdote 
Erwähnung  tun,  die  unser  Problem  schlaglichtartig  beleuchtet:  man 
sprach  an  Rossinis  Tafel  von  Wagner  und  seiner  Musik.  „Er  ist", 
äußerte  Rossini,  „ein  Mann  von  ungeheurem,  aber  durch  ein  falsches 
System  verdorbenem  Talent.  Seine  Musik  ist  voller  Wissen  ...  es 
fehlt  nur  der  Rhythmus,  die  Form  und  die  Idee,  die  Melodie.* 
Während  er  sprach,  legte  er  einen  prächtigen  Turbot  mit  Kapern- 
sauce vor,  und  als  die  Reihe  an  Herrn  Carafa  kam,  der  eben  eine 
Lanze  für  Wagner  gebrochen  hatte,   sandte  ihm  Rossini  nur  Sauce 


—     231     — 

und  Kapern.  „Nun  denn,"  rief  Carafa,  „du  gibst  mir  keinen  Fisch?" 
—  „Was  willst  du?"  entgegnete  Rossini,  „ich  bediene  dich  nach 
deinem  Geschmak  . . .  das  ist  Wagnersche  Musik!  Sauce,  kein  Fisch!" 
Diese  Anekdote  entbehrt  jedoch  nicht  eines  charakteristischen  Reizes.- 
wenn  man  bedenkt,  daß  Rossini  einer  der  klassischesten  Vertreter 
der  reinen  Melodik  ist.  Denn  bei  seinem  Kunstschaffen  zog  er 
einzig  und  allein  die  stimmliche  Begabung  des  Sängers  in  sein 
Kalkül,  und  nur  ihr  leiht  seine  Kunst  um  jeden  Preis  die  schöne 
Linie.  Bei  ihm  ist  die  Melodie  wirklich  „erdenlos";  materialisiert 
ist  sie  nur  insofern,  als  sie  des  Elementes  bedarf,  das  sie  hörbar 
macht:  der  Luft.  Deshalb  gestattet  sie  tausend  Variationen,  die  uns 
allerdings  nur  ein  Virtuose  faßbar  machen  kann.  Bei  Wagner  da- 
gegen müssen  wir,  abgesehen  von  seiner  unendlichen  Melodie,  das 
als  Melodie  bewerten,  was  ein  unzerstörbares  und  am  wenigsten 
verspielbares  Wesen  von  höchstem  Ausdruckscharakter  und  heiligster 
Symbolik  ist.  Deshalb  wird  bei  ihm  die  Variation  des  melodischen 
Motivs,  um  mit  Oskar  Bie  zu  sprechen,  ein  Spiegel  psychologischer 
Wandlung. 

Wenn  daher  vielfach  behauptet  wird,  daß  Wagners  Kunst 
als  „reine  Musik"  das  Formloseste,  Unmöghchste  sei,  das  sich  über- 
haupt denken  läßt,  so  wird  nur  der  Mensch,  dem  die  entmateriali- 
sierte Melodie  über  alles  geht,  die  Wahrheit  der  oben  ausgesprochenen 
Behauptung  rückhaltslos  anerkennen.  Wessen  Ohr  dagegen  in  der 
Musik  nur  eine  Polyphonie  hört,  wer  Geist  für  Gefühl  und  Distanz 
für  Erfahrung  nimmt,  der  wird  die  obige  These  aufs  entschiedenste 
bestreiten;  denn  es  gibt  Menschen,  die  nur  für  eine  materialisierte 
Melodie  ein  Ohr  haben.  Nimmt  man  daher,  um  beim  Begriff  „reine 
Musik"  zu  bleiben,  der  Wagnerschen  Musik  die  Bühne  weg,  so  fällt 
sie  auseinander.  Denn  in  seinen  Werken  war  bis  zur  letzten  Note 
das  Poetische  das  Zeugende,  und  von  hier  aus  gewann  er  auch  für 
die  musikalische  Seite  seiner  Werke  eine  Form,  die  zwar  nicht  aus 
der  Musik  selber  kam,  aber  doch  eben  immerhin  eine  Form  war, 
das  Letzte  in  unserer  Musik,  das  wirklich  nach  Beherrschung  und 
Gestaltungskraft  aussah.  Die  Melodie,  die  bei  Mozart  nichts  anderes 
als  Form  war,  ist  bei  Wagner  bereits  Gefühl  und  in  gewissem 
Sinne  sogar  auch  schon  Geist  geworden.  Aber  trotzdem  darf  man 
im  Wagnerschen  Kunstwerke  das  Ewige  und  Bleibende  nicht  über- 
sehen.    Und   das   ist,    daß   er   das   rein   persönliche  Element,    das 


—     232     — 

Beethoven  als  erster  in  seine  Symphonien  hineingetragen  hatte,  als 
echter  Deutscher  von  der  Symphonie  auf  die  Oper  übertrug.  Das 
ist  das  „Problem  Wagner" !  Und  daß  diese  seine  Tat  den  reinsten, 
den  ideellsten  Motiven  entsprang,  dafür  ist  Beweis,  daß  er  unser 
Theaterleben  reformieren  wollte,  die  Bühne  ganz  im  Sinne  Schillers 
als  moralische  Anstalt  betrachtete.  Aber  die  Göttin  Musik  hat,  um 
wieder  mit  Bie  zu  sprechen,  selbst  durch  dieses  Opfer  an  die  Welt 
ihre  Haltung  nicht  verloren!  So  ist  die  Musik  des  „Tristan"  gerade 
dafür  ein  charakteristisches  Beispiel,  daß  die  Gesangsmelodien  mit 
Liedmotiven  sich  nahezu  decken,  weshalb  einer  meiner  Freunde 
einst  den  „Tristan"  treffend  „Wagners  itahenischeste  Oper"  genannt 
hat.  Wer  denkt  da  nicht  ganz  besonders  an  das  herrliche  Duett  im 
zweiten  Aufzuge!  Aber  einen  gewaltigen  Unterschied  bedeutet  es, 
wenn  im  „Ring  des  Nibelungen",  dem  einzigen  Werke  des  Meisters, 
in  dem  seine  Theorie  des  Leitmotivs  sozusagen  zum  Prinzip  er- 
hoben ist,  die  Motive  zur  Charakterisierung  der  auftretenden  Per- 
sonen schlechthin  angewendet  werden.  Was  daher  bereits  der 
Franzose  Fetis  über  diese  Art  der  Verwendung  des  Leitmotivs 
gesagt  hat,  daß  es,  so  verwertet,  die  freischaffende  Inspiration 
erstickt  und  die  Arbeit  des  Künstlers  zu  einer  ununterbrochenen 
Reihe  von  künstlichen  Kombinationen  macht,  ist  mit  gewissen 
Einschränkungen  auch  heute  noch  gültig,  und  sollten  diese  Worte 
vornehmlich  jenen  zu  denken  geben,  welche  Wagners  Musik  um 
jeden  Preis  gegen  die  Musik  selbst  eines  Beethoven  oder  Mozart 
ausspielen  wollen.  Denn  es  gibt  im  „Ring"  Stellen,  die,  statt  den 
Eindruck  eines  wahren  Kunstwerkes  zu  machen,  auf  mich  den 
Eindruck  bewußtest  geleisteter  Verstandesarbeit  ausüben.  So  dienen 
im  „Ring"  viele  Leitmotive  nicht  so  sehr  der  Affektbetonung  als  viel- 
mehr der  intellektuellen  Verdeutlichung,  sie  sind  sozusagen  ein 
Kommentar  zum  Text.  Man  könnte  nun  einwenden :  Das  sogenannte 
Schwertmotiv  z.  B.  braucht  in  mir  nicht  bloß  die  Vorstellung  eines 
Schwertes  erwecken,  es  kann  ja  damit  gleichzeitig  in  mir  das  Ge- 
fühl siegreicher  Kraft  erzeugen!  Das  zugegeben  ist  aber  klar,  daß 
das  Leitmotiv  dann  nicht  nur  Vorstellungssymbolik  mit  Tönen  treibt, 
sondern  gerade  an  solchen  Stellen,  wo  Text  und  Szene  einen  dem 
Motiv  direkt  entgegengesetzten  Affekt  ausdrücken,  dem  Ganzen 
keineswegs  zum  Vorteil  gereicht,  besonders  dann  nicht,  wenn  es 
harmonisch,    rhythmisch,    instrumental   und   dynamisch  variiert  ist. 


—     233     — 

Deshalb  formulierte  Nietzsche  als  der  genaueste  Kenner  der  Psycho- 
logie Wagners  sein  Urteil  über  die  Musik  des  Meisters  in  den  Worten : 
„Wagner  war  nicht  Musiker  von  Instinkt!  Dies  bewies  er  damit, 
daß  er  alle  Gesetzlichkeit  und,  bestimmt  geredet,  allen  Stil  in  der 
Musik  preisgab,  um  aus  ihr  zu  machen,  was  er  nötig  hatte,  eine 
Theater-Rhetorik,  ein  Mittel  des  Ausdrucks,  der  Gebärden-Verstärkung, 
der  Suggestion,  des  Psychologisch-Pittoresken.  Wagner  dürfte  nur 
hier  als  Erfinder  und  Neuerer  ersten  Ranges  gelten  —  er  hat  das 
Sprachvermögen  der  Musik  ins  Unermeßliche  vermehrt. 
Immer  vorausgesetzt,  daß  man  zuerst  gelten  läßt,  Musik  dürfe  unter 
Umständen  nicht  Musik,  sondern  Sprache,  sondern  Werkzeug,  sondern 
ancilla  dramaturgica  sein."  . . .  Dafür  aber  ist  Wagner  der  Musiker, 
der  „in  der  Musik  das  Mittel  erraten  hat,  müde  Nerven  zu  reizen. . . 
ist  er  der  Meister  hypnotischer  Gifte,  wirft  er  die  Stärksten  noch 
wie  Stiere  um".  Und  dem  ist  in  der  Tat  so:  denn  auch  die  Wider- 
strebendsten  haben  sich  seiner  Macht  fügen  müssen!  Selbst  wer  im 
melodischen  Gesänge  das  Heil  der  Musik  sieht,  und  wer  die  ver- 
standesmäßigen Auseinandersetzungen  ebenso  unmusikalisch  findet, 
wie  die  epischen  Erzählungen  undramatisch,  gerät  doch  immer  wieder 
in  den  Bann  dieser  sprechenden  Motive,  dieser  spannenden  Harmonik, 
dieser  ungeheuren  Steigerungen  und  dieser  niederschmetternden  Kraft- 
akzente; in  seiner  Art  ist  Wagner  eben  einzig  und  bis  heute  un- 
erreicht! 

Indessen  wird  dieses  Urteil  Nietzsches  nur  den  oberflächhchen 
Kenner  der  Wagnerschen  Kunst  befremden.  Der  tiefer  Blickende,  in 
erster  Linie  natürlich  derjenige,  der  mit  Wagners  theoretischen 
Schriften  vertraut  ist,  über  die  gleichfalls  niemand  anderer  ein  zu- 
treffenderes Urteil  gefällt  hat  als  Nietzsche,  wird  gerne  zugeben, 
daß,  weil  Wagner  die  Kraft  mangelte,  das  in  Worten  mitzuteilen, 
was  ihn  im  Innersten  bewegte,  er  dies  nur  mit  Hilfe  der  Musik  hat 
sagen  können.  Aber  demselben  Manne,  der  das  stolze  Wort  geprägt 
hat,  „ich  kann  den  Geist  der  Musik  nicht  anders  fassen  als  -in  der 
Liebe!";  war  diese  Liebe  keineswegs  ein  Etwas  nach  Art  des  pla- 
tonischen Eros,  sondern  eine  Liebe,  der  kein  Mittel  zu  schlecht 
schien,  Befriedigung  ihres  glühenden  Sehnens  zu  finden.  Daher  sind 
seine  Tonwerke  nicht  wie  bei  Beethoven  aus  der  keuschen  Stimmung 
des  absolut  empfindenden  Geistes  empfangen  und  geboren;  seine 
Themen    entstehen    vielmehr    „immer   nur   im  Zusammenhang  und 


—     234     — 

nach  dem  Charakter  einer  plastischen  Erscheinung".  Das  dichterische 
Stimmungsbild  im  Herzen,  die  zukünftigen  Darsteller  vor  Augen, 
verrichtet  Wagner  mit  der  musikalischen  Gestaltung  seiner  Szene 
mehr  eine  „ruhige  und  besonnene  Nachtarbeit,  der  das  Moment  des 
eigentlichen  Produzierens  bereits  vorausgegangen  ist",  da  er,  ehe  er 
zum  Schaffen  eines  Werkes  gelangt,  schon  lange  in  dessen  musi- 
kalischen Dult  untergetaucht  ist.  Aber  dazu  braucht  er  einen 
Arbeitsraum,  ausgestattet  mit  raffiniertester  Pracht,  betäubende 
Wohlgerüche,  Licht-  und  Farbeneffekte,  den  oszillierenden  Glanz 
schwerster  Seidenstoffe,  weiche  Pelze  und  dicken  Atlas,  deren  Be- 
fühlen ihn  heftig  erregten,  als  berauschende  Reizmittel  für  seine 
gestaltende  Phantasie.  Aus  ihnen  sog  er  jenes  Narkotikum,  das 
dann  in  seine  Musik  übergeströmt  ist.  „Muß  ich  mich  wieder  in  die 
Wellen  der  Phantasie  stürzen,  um  mich  in  einer  eingebildeten  Welt 
zu  befriedigen,  so  muß  wenigstens  meiner  Phantasie  auch  geholfen, 
meine  Einbildungskraft  unterstützt  werden.  Ich  kann  dann  nicht 
wie  ein  Hund  leben:  ich  kann  mich  nicht  auf  Stroh  betten  und 
mich  in  Fusel  erquicken:  ich  muß  irgendwie  mich  geschmeichelt 
fühlen,  wenn  meinem  Geiste  das  blutig  schwere  Werk  der  Bildung 
einer  unvorhandenen  Welt  gelingen  solle!"  Daher  sind  Pathos  und 
Sinnlichkeit  die  beiden  Pole,  innerhalb  deren  sich  sein  Ausdrucks- 
vermögen bewegt.  Und  doch  mußte  auch  ein  Nietzsche  gestehen: 
„Will  man  mir  glauben,  so  hat  man  den  höchsten  Begriff  Wagner 
nicht  aus  dem  zu  entnehmen,  was  heute  von  ihm  gefällt,  ...  es  gibt 
noch  einen  Wagner,  der  kleine  Kostbarkeiten  beiseite  legt:  unseren 
größten  Melancholiker  der  Musik,  voll  von  Blicken,  Zärtlichkeiten 
und  Trostworten,  die  ihm  keiner  vorweggenommen  hat ...  ein  Lexikon 
der  intimsten  Worte  Wagners,  lauter  kurze  Sachen  von  5  bis  15  Takten, 
lauter  Musik,  die  niemand  kennt...  Wagner  ist  der  größte  Minia- 
turist der  Musik,  der  in  den  kleinsten  Raum  eine  Unendlichkeit 
von  Sinn  und  Süße  drängt." 

Vielleicht  wird  es  nun  so  mancher  Wagnerianer  eine  Blasphemie 
nennen,  daß  ich  mit  Wagner  Rossini  und  nun  auch  noch  Verdi  in 
einem  Atem  nenne.  Denn  Wagnersche  Musik  und  die  Musik  Rossinis 
oder  Verdis  —  kann  es  für  einen  „waschechten"  Wagnerianer  etwas 
Disparateres,  Inkommensurableres  geben,  als  die  durch  Wagner  ver- 
tretene germanische  Musik  und  die  romanische,  deren  glänzendste 
Vertreter  die  beiden  genannten  itahenischen  Meister  sind?  Und  doch 


—     235     — 

hatte  kein  Geringerer  als  der  Meister  selbst  in  bezug  auf  die 
romanische  Musik  sich  zu  H.  v.  Wolzogen  geäußert:  „Freilich  habt 
ihr's  leichter,  darauf  zu  schimpfen  als  davon  zu  lernen!"  Ich  möchte 
nun  meinen,  daß  auch  unsere  Wagnerianer  gerade  von  Verdi  sehr 
viel  lernen  könnten,  um  das  Lebenswerk  Wagners  voll  und  ganz^ 
also  objektiv,  zu  begreifen,  jenes  Wagner,  der  sich  die  ganze  Welt 
erobert  hat  und  dem  alle  großen  Meister  ihren  schuldigen  Tribut 
entrichtet  haben,  Verdi  hauptsächhch  dadurch,  daß  er  in  seinen 
Opern  gleich  Wagner  das  Hauptgewicht  auf  das  dramatische  Moment 
legte  und  auf  der  musikalischen  Szene  als  der  Einheit  der  Gestaltung 
die  einzelnen  Akte  aufbaute.  Von  Wagner  unterscheidet  er  sich 
jedoch  insofern,  als  er  die  dramatische  Charakterisierung  in  die 
melodische  Gesangslinie  verlegte,  die  durch  das  Orchester  nur  ge- 
stützt wird,  während  Wagner,  wiewohl  er  ein  aufrichtiger  Be- 
wunderer der  italienischen  Gesangskunst  war,  seinem  Orchester  die 
Aufgabe  zuteilte,  instrumental  diesen  oder  jenen  dramatischen  Affekt 
zu  malen,  wobei  der  Sänger  bloß  ausdrucksvoll  deklamiert.  Mit 
anderen  Worten:  ist  in  einem  Worttondrama  Wagners  die  Gefahr 
vorhanden,  daß  die  Stimme  des  Sängers  durch  die  Polyphonie  des 
Orchesters,  das  die  „unendliche  Melodie"  spielt,  sozusagen  erstickt 
wird,  läßt  Verdi  sein  Orchester  nie  zu  solcher  Stärke  anschwellen, 
daß  jene  Gefahr  eintreten  könnte.  Deshalb  sagte  der  Meister  woht 
mit  Beziehung  auf  jene  Komponisten,  die  in  einem  Musikgetöse  die 
menschliche  Stimme  begraben,  daß  „unsere  vornehmen  Opernkom- 
ponisten den  guten  italienischen  Kantabilitätsstil  hübsch  ablernen, 
dabei  aber  sich  vor  den  modernen  Auswüchsen  desselben  hüten 
müßten".  Das  kann  doch  nichts  anderes  heißen,  als  daß  die  Melodie 
das  A  und  das  ii  aller  Musik  ist  und  es  bleiben  wird  in  alle  Ewig- 
keit, jene  Melodie,  die  uns  nirgends  schöner,  edler  und  reiner  ent- 
gegentönt, als  aus  den  Meisterwerken  Mozarts,  Schuberts  und 
Beethovens.  Was  daher  Nietzsche  1884  an  seinen  Jugendfreund 
Krug  schrieb:  „Ich  sehe  mir  ^'etzt  alle  Musik  auf  die  immer  größer 
werdende  Verkümmerung  des  melodischen  Sinnes  an.  Die  Melodie, 
als  die  letzte  und  sublimste  Kunst  der  Kunst,  hat  Gesetze  der 
Logik,  welche  unsere  Anarchisten  als  Sklaverei  verschreien  möchten  1", 
wird  gleichfalls  ewige  Geltung  haben.  Und  selbst  der  Meister  von 
Bayreuth,  dessen  Melodien  nach  ganz  eigenen,  individuellen  Gesetzen 
geschaffen   sind,    konnte    nicht    umhin,    trotz   seiner    „unendlichen 


—      236     — 

Melodie",  die  unsere  Wagnerianer  mit  geschlossenen  Augen  aus 
dem  Orchester  herauszuhören  sich  bemühen  —  sie  hören  aber  stets 
nur  die  Motive!  — ,  zu  bekennen:  „Setzen  wir  zunächst  fest,  daß 
die  einzige  Form  der  Musik  die  Melodie  ist,  daß  ohne  Melodie  die 
Musik  gar  nicht  denkbar  ist,  und  Musik  und  Melodie  durchaus  un- 
trennbar sind.  Eine  Musik  habe  keine  Melodie,  kann  daher,  in 
höherem  Sinne  genommen,  nur  aussagen:  Der  Musiker  sei  nicht 
zur  vollen  Bildung  einer  ergreifenden,  das  Gefühl  sicher  bestimmen- 
den Form  gelangt,  v^as  dann  einfach  die  Talentlosigkeit  des  Kom- 
ponisten anzeigt,  seinen  Mangel  an  Originalität,  der  ihn  nötigte,  sein 
Stück  aus  bereits  oft  gehörten  und  das  Ohr  gleichgültig  lassenden 
melodischen  Phrasen  zusammenzusetzen."  Gewiß:  Wagners  Kunst- 
werke werden  als  einzig  in  ihrer  Art  auch  weiterhin  unerreicht  da- 
stehen; aber  ebenso  auch  die  Kunst  Verdis,  die  Kunst  des  bell 
canto;  freilich  wird  damit  die  Frage  nicht  gelöst,  ob  Wagner,  der 
mit  seinem  „Lohengrin"  seine  herrlichste  Oper  alten  Stils  geschaffen 
hat,  mit  seinen  späteren  Werken  mehr  unbewußt  die  alte  Opernform 
zerbrach,  oder  ob  er  auf  Grund  seines  revolutionären  Programms  aus 
dem  Jahre  1848,  daß  „nur  die  Revolution  aus  ihrem  tiefsten  Grunde  das 
von  neuem  und  schöner,  edler,  allgemeiner  gebären  könne,  was  sie  dem 
konservativen  Geiste  einer  früheren  Periode  schöner,  aber  beschränkter 
Bildung  entriß",  mehr  in  Befolgung  einer  willkürlichen  Konsequenz 
eine  Form  zerstörte,  die,  wie  Verdi  durch  seine  Meisterwerke  „Othello'' 
und  „Falstaff"  bewies,  sich  durchaus  noch  nicht  überlebt  hatte. 
Es  ist  klar,  daß  mit  der  Erörterung  dieser  Frage  ein  Gebiet 
betreten  wurde,  das  das  tiefste  und  innerste  Wesen  aller  Musik 
ausmacht.  Nicht  der  Klang,  auch  nicht  die  kühnste  Kombination 
der  Klänge  geben  der  Musik  ihren  Ewigkeitswert,  sondern  einzig 
und  allein  nicht  die  Erfindung  des  „Motivs",  sondern  der  Melodie! 
Und  diese  ist  stets  eine  für  sich  selbständige  Wesenheit  und  durch- 
wegs ein  wahrhaftes  Geschenk  der  Götter.  Wenn  daher  Ferrucio 
Busoni  in  seinem  Buche  „Ästhetik  der  Tonkunst"  weder  für  Pro- 
gramm-, noch  für  absolute  Musik  ist,  welch  letztere  ihm  wegen 
ihres  regelmäßigen  Baues  nicht  behagt;  wenn  ihm  Beethoven  die 
„ganz  absolute  Musik"  zwar  „nicht  erreicht",  aber  „in  einzelnen 
Augenblicken  doch  geahnt"  hat;  wenn  ihm  Wagner  wegen  seiner 
„selbstgeschaffenen  Grenzen"  nicht  mehr  „steigerungsfähig"  erscheint 
uud  er  daher  der  gegenwärtigen  Verarmung  unserer  Musik  abhelfen 


—     237     — 

will  durch  Erweiterung  der  Tonleiter  um  Vierteltöne  —  die  un- 
geahntesten Klangwirkungen  würden  sich  da  ergeben!  — ,  so  ist  all 
der  langen  Reden  kurz  er  Sinn  nur  der :  die  eigene  Armut  an  Melodien 
soll  verhüllt  werden!  Freilich,  in  einem  Punkte  hat  Busoni  ent- 
schieden recht:  alle  unsere  heutige  Musik  nach  Brahms  ist  etwas 
Totes,  Abgestorbenes,  ist  Theatermusik  spätromantischer  Prägung, 
nur  auf  Klangwirkung  gestellt,  nicht  auf  Erfindung.  Um  die  Musik 
Haydns,  Mozarts,  Brahms',  Beethovens  schwebt  ein  eigentümhches 
Geheimnis:  wir  kennen  sie  nur  vom  „Hören",  wissen  aber  gar  nichts 
von  ihren  ungeheuren  Werten,  von  dieser  niemals  wieder  über- 
troffenen  beispiellosen  Originalität  der  Erfindung,  der  Arbeit  und  des 
Stils.  Und  dunkel  liegt  vor  dem  Bück  der  gegenwärtigen  Musiker- 
generation die  Schaffens  weit  eines  Johannes  Brahms,  ihre  Tiefe,  ihr 
feierhcher  Ernst,  ihre  innerste  Beziehung  zum  deutschen  Naturell. 
Statt  sich  in  die  Geisteswelt  der  Werke  unserer  großen  Meister  zu 
vertiefen,  statt  zu  ergründen,  was  ihnen  ihre  ewige  Lebenskraft  gab, 
glaubte  man  sie  überbieten  zu  können  durch  eigene  Werke,  ohne 
aber  im  Geringsten  zu  sehen,  daß  ihnen  selbst  das  kürzeste  Leben 
beschieden  sei.  Wie  ist  dies  möglich?  Allgemein  nimmt  man  an, 
daß  etwa  mit  dem  Jahre  1900  der  Höhepunkt  einer  Entwicklung 
des  Menschengeschlechtes  erreicht  war,  innerhalb  deren  dieses  aus 
seiner  ursprüngUchen  geistigen  Heimat  in  das  Reich  der  Materie, 
die  irdische  Erscheinungswelt  hinabgestiegen  sei.  Dieser  Abstieg 
habe  ganz  naturgemäß  erfolgen  müssen:  das  Pendel  mußte  so  weit 
nach  dieser  Seite  ausschwingen,  damit  es  nun,  um  so  heftiger,  nach 
der  anderen  aushole.  Nun  kehre  das  Pendel  langsam  zurück,  zu- 
nächst zum  Höhepunkte,  und  in  dieser  Schwingung  schwinge  die 
gesamte  bisherige  Kultur  der  Menschheit:  also  auch  die  Musik.  Nun 
steht  aber  fest:  die  Musik  allein,  ob  im  Verein  mit  den  anderen 
Künsten  oder  für  sich,  erinnerte  in  diesem  Siegeslaufe  der  materiellen 
Entwicklung  an  die  geistige  Heimat  des  Menschen,  sie  allein  nahm 
sich  des  vernachlässigten  „Gefühles"  an,  sie  allein  trug  dem  Menschen 
die  Dosis  Gemüt  zu,  deren  er  bedarf,  um  zu  leben.  Darum  war  sie 
so  schön,  so  kunstvoll,  so  tief,  so  willig  und  lebte  unter  den  Ge- 
setzen, die  sie  sich  selbst  holte  und  gab  aus  ewigen  Bereichen. 
Was  sie  errang,  was  sie  als  Botschaft  aus  höheren  Welten  auf 
diese  Erde  brachte,  reicht  weit  hinaus  für  ferne  Zukunft.  Indes :  sie 
gab  nicht  nur,  sie  nahm  auch  auf:  den  Geist  der  Zeit  verspürte  sie 


— -     238     — 

und  die  Verlockung,  alle  materiellen  Möglichkeiten  auszunutzen. 
Aber  auch  sie  trägt  jetzt  die  Kosten  der  Reise  und  nimmt  sie  aus 
erworbenen  Schätzen,  ziert  sie  mit  wiederholtem  und  erborgtem 
Glänze,  mit  epigonenhafter  Verschwendung  und  —  verarmt  doch 
dabei!  Das  Musikdrama  war  ihr  erstes,  großes,  freiwilliges  Armuts- 
bekenntnis. Nichts  ist  daher  verkehrter,  als  das  „Entwicklungs- 
gesetz" auch  ihr  um  jeden  Preis  zuzumuten,  jenes  Entwicklungs- 
gesetz, das  die  Quelle  so  vieler  heilloser  Irrtümer  auf  Erden  geworden 
ist.  Denn  daß  wir  uns  nur  nicht  täuschen:  was  irdische  Musik  an 
Innerlichkeit  erwerben  und  geben  konnte,  ist  durch  die  großen 
Meister  der  Musik  erschöpft.  Tief  und  beherzigenswert  sind  die  ewig 
wahren  Worte  Grillparzers  aus  seiner  Vorrede  zum  „Goldenen  Vlies*': 
„Es  gehört  —  bei  aller  Besonnenheit  —  eine  gewisse  Unschuld  des 
Gemütes  zu  aller  Produktion;  wer  ist  denn  noch  imstande,  sie  zu 
bewahren?  Daher  sind  die  ersten  Werke  unserer  neuesten  Dichter 
die  besten;  sobald  sie  zur  Reflexion  kommen,  tötet  die  Masse  der 
eindringenden  Rücksichten  jedes  freie  Emporstreben,  und  Nebel  und 
Begriffe  geben  sie  statt  Anschauung  und  Gestalt.  Über  dem  Suchen 
nach  immer  tieferer  Begründung,  nach  imm.er  höheren  Anhalts- 
punkten verliert  sich  das  ganze  Bestreben  ins  Ungeheure,  Unsinn- 
liche, Schranken-  und  Formlose,  bei  jedem  Schritte  wird  an  Extension 
gewonnen,  und  darüber  geht  zuletzt  alle  Intension  bis  zur  hohlen 
Leerheit  verloren."  So  hat  denn  auch  Goethe  nur  das  wirkliche 
Genie  im  Auge,  wenn  er  sagt: 

„Wer  Großes  will,  muß  sich  zusammenraffen, 
in  der  Beschränkung  zeigt  sich  erst  der  Meister 
und  das  Gesetz  nur  kann  uns  Freiheit  geben!" 

Darum  beruhte,  wenn  wir  zusammenfassen,  Nietzsches  Trennung 
von  Wagner  auf  seiner  wachsenden  Einsicht  in  Wagners  Mängel  und 
Unvollkommenheiten.  Je  weniger  Nietzsche  geneigt  war,  sich  für 
diese  fragwürdigen  Dinge  aufzuopfern  —  Schopenhauertum  und 
buddhistische  Mitleidsmoral  in  katholischem  Gewände!  — ,  je  mehr 
er  sich  der  Wissenschaft,  dem  klassischen  Drama,  der  Epik  näherte, 
je  apollinischer  seine  Weltauffassung  wurde,  desto  mehr  befriedigte 
er  seine  musikalischen  Bedürfnisse  in  dem  Lautertranke  der  absoluten 
Musik.  Dort  konnte  er  die  Form  genießen  und  das  Maß,  das  Gesetz  an- 
beten, das  uns  erst  Freiheit  gibt  —  Eigenschaften,  die  er  im 
Wagnerschen  Musikdrama  schmerzlichst  vermißt  hatte. 


XVI.  CHAMBERLAIN,  SEILING,  BRUNO  GOETZ 
ÜBER  NIETZSCHE. 

Wir  wollen  uns  zunächst  aber  mit  H.  St.  Chamberlain  be- 
schäftigen. Im  Vorworte  zur  3.  Auflage  seiner  „Grundlagen  des 
XIX.  Jahrhunderts"  schreibt  er:  „Mit  Recht  wird  Untreue,  wenn 
auch  nicht  als  das  schwerste,  so  doch  als  das  schwärzeste  Ver- 
brechen betrachtet.  Für  sie  gibt  es  keine  Sühne ;  nur  der  Wahnsinn 
kann  sie  entschuldigen.  Seit  Jahren  streiten  die  Gelehrten  darüber, 
in  welchem  Augenblicke  Nietzsche  tatsächlich  in  Wahnsinn  verfiel; 
und  doch  liegt  es  klar  vor  aller  Augen:  in  dem  Augenblicke,  als  er 
von  Wagner  abfiel.  Und  recht  war  es  und  versöhnend,  daß  der 
arme  Mann  sich  dann  öffentlich  gegen  den  Freund  wandte,  daß  er 
ihn  mit  Kot  bewarf,  daß  er  das  Heiligtum  seines  Herzens  vor  aller 
Welt  niederriß  und  zugleich  alles  andere  Edle  verleugnete,  aus  dem 
^r  in  heißem  Ringen  sein  gutes  Ich  nach  und  nach  aufgebaut  hatte ; 
"das  war  echte  Natur;  so  sprach  die  gute  Mutter  für  ihn  und  ver- 
kündete laut:  Seht,  er  ist  nicht  untreu,  er  ist  von  Sinnen."  Die 
Saat,  die  Glasenapp  vorsichtig  gesäet,  sie  trug  gar  bald  vielver- 
heißende Frucht^):  und  heute  wuchert  dieses  Unkraut  üppiger  denn 
je.  Und  doch,  wenn  man  die  Worte  Chamberlains  liest  und  in  ihrer 
ganzen  Schwere    auf  sich  wirken  läßt,    ist   man   in  faktischer  Ver- 


*)  So  schrieb  auch  Wolfgang  Golther  („Deutsche  Literaturzeitung", 
Jahrgang  1908,  Nr.  1):  „Nietzsche  fiel  von  Wagner  ab  aus  maßlos  eitler 
Selbstüberhebung;  der  angeblich  so  starke  und  selbständige  Nietzsche  mit 
seinem  unerträglich  psalmodierenden  Predigerton  und  seinen  endlos  phrasen- 
haften Wiederholungen  unterliegt  überall  den  minderwärtigsten  äußeren  Ein- 
flüssen, die  er  in  gesunden  Tagen  aufs  tiefste  verachtet  hätte.  Daß  in  diesem 
tollen  Wirrwarr  gelegentlich  die  Blitze  eines  einmal  großen  und  reinen 
Geistes  nachzucken,  ist  eine  aus  jeder  Krankengeschichte  genügsam  be- 
kannte Tatsache.  Wer  den  Fall  Nietzsche  in  seinem  Verhältnis  zu  Wagner 
untersuchen  wollte,  müßte  von  den  hier  angedeuteten  Gesichtspunkten  aus- 
gehen." 


—     240     — 

legenheit,  was  uns  mehr  abstößt:  das  holde  Pathos  seiner  Diktion 
oder  die  gekünstelte  Naivität,  mit  der  dieser  sittlich  so  hoch- 
stehende Mann,  dieser  trotz  oder  vielleicht  gerade  wegen  seines 
profunden  Wissens  genialste  —  wie  er  sich  selbst  nannte  — 
„Dilettant"  sich  als  der  größte  Wagnerianer  im  schlechtesten 
Sinne  des  Wortes  gebärdet.  Wie  kindlich  naiv  ist  es  doch,  sich 
auf  das  Urteil  der  „guten"  Mutter  Nietzsches  zu  berufen,  einer 
Frau,  die  als  Mutter  die  liebendste  und  sorgendste  Mutter  war,  die 
man  sich  denken  kann,  aber  eben  deshalb,  zu  ihren  Ehren  sei 
es  gesagt,  kein  Verständnis  für  die  geistige  Größe  ihres  Sohnes  besaß. 
Sie,  als  die  fromme  Pastorsfrau,  die  es  erleben  mußte,  daß  ihr 
Sohn  die  heihgsten  Güter  der  Menschheit  rücksichtslos  angriff,  konnte 
nichts  anderes  tun,  sie  mußte,  wie  Richard  Oehler,  Nietzsches  Vetter, 
erzählt,  den  harten  Schicksalsschlag,  der  ihren  Sohn  traf,  als  eine 
Strafe  des  Himmels  für  seine  irreligiösen  Schriften  auffassen.  Aber 
die  Wissenschaft,  die  doch  Chamberlain  vertritt  oder  vertreten  will, 
steht  hoch  über  der  Person;  daher  kann  für  sie  die  Klage  einer 
Mutter  kein  gewichtiges  Argument  sein.  Nicht  viel  besser  urteilt 
Chamberlain  über  Nietzsche  in  seiner  „berühmten"  Monographie 
über  Wagner:  Wie  schon  erwähnt  wurde,  bewundert  er  in  der 
„IV.  Unzeitgemäßen"  Nietzsches  Prägnanz  der  Gedanken,  seine 
Sicherheit,  mit  der  er  überall  das  Wesentliche  hervorhebt,  die  lapidare 
Kürze  und  edle  Begeisterung;  deshalb  sei  diese  Schrift  das  Beste, 
was  dieser  merkwürdige  Mann  je  geschrieben  habe.  Und  doch  erbhckt 
er  in  dem  Urteile  Nietzsches  „Wagner  gehöre  zu  den  ganz  großen 
Kulturgewalten",  etwas  Einseitiges,  einen  frühzeitigen  Hinweis  auf 
die  krankhafte  Anlage  von  Nietzsches  scharfem  Geiste:  denn  dieser 
habe  in  hellster  Beleuchtung  erblickt,  was  dem  anderen  noch  ver- 
schleiert blieb,  sei  jedoch  von  dem  Lichte  selber  geblendet  worden; 
er  hätte  sagen  sollen  „Wagner  diene  einer  großen  Kulturgewalt!" 
Aber  infolge  von  Eindrücken,  die  mit  Wagner  und  Bayreuth  in 
keinerlei  Verbindung  standen,  habe  sich  sein  Geist  zu  umnachten 
begonnen,  sich  von  der  so  klar  erkannten  Wahrheit  abgewendet, 
habe  Nietzsche  närrische  Broschüren  von  abstoßender  Trivialität 
gegen  den  Mann  gerichtet,  dessen  Größe  er  in  so  einziger  Weise 
verkündet  hatte.  Hinter  den  Gaukelbildern,  mit  denen  die  Krankheit 
seinen  außerordentlichen  Verstand  umhüllte,  lebte  doch  noch  Wagners 
Gestalt,  nur  in  tiefster  Seele,  seinem  zerrütteten  Denken  nicht  mehr 


—     241     — 

erreichbar  ...  als  dieser  herrliche  Verstand  zertrümmert  war,  hatte 
das  furchtbare  Leiden  ihn  zum  Hofnarren  eines  frivolen,  skandal- 
süchtigen fin  de  siecle  gemacht.  Und  daneben  zählt  Chamberlain 
Nietzsche  doch  zu  jenen  PersönHchkeiten,  die  einem  kleinen  Mikro- 
kosmus gleichen.  Gelehrt,  wahrhaft  gelehrt,  von  einer  Gelehrsamkeit^ 
die  nicht  aus  der  Addition  zahlloser  Ziffern  besteht,  sondern  aus 
einem  zu  Fleisch  und  Blut,  zu  tiefer  Überzeugung  und  hoher  Be- 
geisterung umgewandelten  Wissen ;  man  kann  bei  ihm  lernen,  wenn 
nicht,  was  Genie,  so  doch,  was  Kultur  heißt,  weil  „Fülle  des  Wissens* 
bei  ihm  wirklich  zur  „Fülle  des  Verstandes"  ward.  Dieses  Lob 
Nietzsches  ist  aber  leicht  erklärlich:  es  gilt  nur  dem  „Wagner- 
schriftsteller" Nietzsche.  Und  damit  ist  Chamberlains  Standpunkt 
zur  Genüge  illustriert. 

Max  Seiling,  der  sich  Chamberlain  anschließt  und  geradezu 
erklärt,  „die  Absage  Nietzsches  an  Wagner  sei  so  ungeheuer 
und  einzig  dastehend,  daß  sie  aus  der  normal  entwickelten 
Erkenntnis  eines  etwaigen  noch  so  großen  Unterschiedes  zwischen 
dem  eigenen  und  dem  fremden  Wesen  unmöglich  erklärt  werden 
könnte,"  behauptet,  „daß  unter  den  zahlreichen  Aussprüchen 
Nietzsches,  die  darauf  schließen  lassen,  daß  sein  Geist  zeitweise 
umnachtet  war,  lange  bevor  die  eigentliche  Katastrophe  ausbrach,  es 
einen  gebe,  der  ganz  besonders  geeignet  sei,  diese  Annahme,  bzw. 
Tatsache  zu  erhärten:  Nietzsche  war  es  vorbehalten,  Jesum  von 
Nazareth  in  einer  Weise  zu  schmähen,  die  selbst  den  schlimmsten 
Feinden  des  Christentums  ganz  ferne  liegt.  Er  nennt  jenen  Einzigen 
eine  ,arme,  kranke  Pöbelart,  die  nicht  zu  tanzen  weiß!!'"  Kein 
Wunder,  daß  nach  Möbius  solche  Gedanken  gegen  das  Christentum 
nur  „ein  Lump  oder  ein  Gehirnkranker"  schreiben  konnte.  Doch 
müßte  dann  nicht  auch  Meister  Luther  dieser  Ehre  teilhaftig  sein? 
Das  fragen  wir  nur  nebenbei!  Sowohl  Chamberlain  als  auch  Seiling 
scheinen  mir  im  höchsten  Grade  oberflächlich  zu  urteilen:  denn  ein 
Mann  von  der  geistigen  Größe  eines  Nietzsche  läßt  sich,  selbst 
wenn  er  sich  noch  so  wütende  Ausfälle  gegen  das  Christentum  und 
Wagner  leistete,  doch  nicht  so  leicht  abtun,  daß  man  ihm  einfach 
früh  beginnende,  allerdings  intermittierende  Verrücktheit  nachweist 
und  so  sich  bilhg  der  Aufgabe  entzieht,  festzustellen,  was  bei  ihm 
positiv  und  negativ  ist.  Wer  von  uns  weiß  denn,  wie  Gehirnkrank- 
heiten Form    oder  Gehalt  der  geistigen  Leistungen    eines  Menschen 

Grießer,  Wagner  und  Nietzache.  ]ß 


—     242     — 

beeinflussen?  Sie  mögen  das  eine  Mal  herabdrücken  und  ein  anderes 
Mal  steigern,  womit  aber  auch  nichts  gesagt  ist.  (Sehr  richtig  urteilt 
daher  Reininger  [1.  c.  p.  180]:  „Im  allgemeinen  haben  die  [stets 
sporadischen]  pathologischen  Angriffe  nur  eine  noch  überhöhte  Affekt- 
betonung gewisser  Probleme  bis  zur  extremsten  Subjektivität  erzeugt ; 
also  nur  die  Steigerung  eines  Zuges,  der  auch  dem  gesunden  Philo- 
sophen wesentlich  war.")  Aber  diese  jeder  Wissenschaftlichkeit  ent- 
behrende Aburteilung  Nietzsches  auf  Grund  seiner  Verhöhnung  der 
Lichtgestalt  Jesu,  abgesehen  davon,  daß  Nietzsche  dies  noch  öfters 
und  in  noch  gröberer  Art  getan  hat!  ist  nur  ein  deutlicher  Beweis 
dafür,  daß  man  die  Genesis  des  Übermenschenideals  nicht  kennt 
oder  nicht  kennen  will.  Paul  Deussen,  der  größte  und  treueste 
Schüler  Schopenhauers,  von  dem  ich  gelegentlich  eines  Vortrages 
das  bedeutsame  Wort  hörte,  daß  Nietzsche  sein  Freund,  ja  sein 
treuester  Freund  war,  wie  er  nie  einen  hatte  noch  je  fand,  hat  über 
Nietzsches  Übermenschenideals  ich  in  Worten  geäußert,  die  es  wahrlich 
verdienen,  von  allen  denen,  die  selbständig  denken  gelernt  haben, 
tief  beherzigt  zu  werden:  der  Übermensch  ist  ein  Menschheitsideal, 
geradeso  wie  es  die  Christusgestalt  der  Kirche  ist.  Beide  treffen  in 
den  wesentlichen  Zügen  zusammen,  und  es  ist  kein  besonderer 
Unterschied  zwischen  beiden  Idealen,  wenn  Nietzsche  die  Verwirk- 
Uchung  seines  Ideals  von  der  Zukunft  erwartet,  die  Kirche  das  ihrige 
verwirkUcht  sieht  in  einem  Menschen  der  Vergangenheit.  In  Wahrheit 
nämlich  gehört  dieses  Menschheitsideal,  mögen  wir  es  nun  Christus 
oder  Übermensch  nennen,  weder  der  Vergangenheit  noch  der  Zukunft 
an^  sondern  ist  eine  metaphysische,  zeitlose  Gotteskraft,  welche 
potentiell  in  uns  allen  schlummert  und  in  uns  allen  hervortreten 
kann.  Das  geschieht  jedoch  nicht  auf  dem  Wege  der  Genialität, 
sondern  durch  Selbstverleugnung,  das  heißt  durch  Moralität').  Denn 


1)  Damit  beweist  jedoch  Nietzsche  nur,  daß  er  auch  von  Schopenhauer 
nicht  loskommen  konnte.  „Der  Wille  zur  Macht,  den  Nietzsche  zur  Entfaltung 
bringen  will,  liegt,  recht  verstanden,  in  der  Richtung  der  Verneinung,  nicht 
in  der  der  Bejahung,  deren  Grundzug  Sinnlichkeit,  Schwäche  und  Unvermögen 
zu  allem  Großen  ist.  Oder  wenn  man  eine  andere  Terminologie  vorzieht,  der 
Wille  zur  Macht  ist  nicht  eine  individuelle,  sondern  eine  ü b e r i n d i- 
V  i  d  u  e  1 1  e  B  e  j  a  h  u  n  g,  das  heißt  er  ist  Verneinung"  (Deussen,  1.  c, 
p.  106).  Nietzsche  selbst  sagte  wiederholt:  „Meine  stärkste  Eigenschaft  ist 
die  Selbstüberwindung...  meine  Selbstüberwindung  ist  im  Grunde 
meine  stärkste  Kraft." 


__     243     — 

der  Intellekt  in  uns  ist  und  bleibt  immer  etwas  Sekundäres;  das 
Radikale  aber  und  Metaphysische  in  uns  allen,  das  primäre  Element,  ist 
immer  nur  der  Wille.  Dieser  aber  ist  eine  Potenz,  welche  nicht  nur 
dem  Genie,  sondern  allen  Menschen  ohne  Unterschied  zukommt. 
Daher  ist  der  Übermensch  kein  Messias,  sondern  ein  jedem  Menschen 
ergreifbares  Lebensideal.  Mit  wieviel  christlichen  Idealen  der  Nietzsche^ 
sehe  Übermensch  durchsetzt  und  durchtränkt  ist,  lehrt  am  deut- 
hchsten  eine  Lektüre  seines  Nachlasses  zum  „Zarathustra":  Er 
fordert  die  schaffende  Liebe,  die  sich  selber  über  ihren  Werken 
vergißt;  und  sein  Übermensch,  der  Verklärer  des  Daseins,  ganz 
epikurischer  Gott,  ist  Caesar  mit  der  Seele  Christi  usw.  Was 
Nietzsches  Stellung  zum  Christentum  betrifft,  so  sei  hier  nur  daran 
erinnert,  daß  er  speziell  mit  seinem  „Antichrist"  aufreizen,  gleich 
Ibsen  „den  Torpedo  unter  die  Arche  legen"  wollte,  um  sie  in  die 
Luft  zu  sprengen.  Aber  trotz  allen  Bedauerns  für  seine  einseitige 
Auffassung  und  Gehässigkeit  muß  man  anerkennen,  daß  dieses 
Buch  „die  auf  Leben  und  Tod  herausfordernde  Streitschrift  eines 
im  Innersten  verwundeten  Gläubigen  ist".  Genauer  und  eingehender 
soll  über  diesen  Punkt  später  gehandelt  werden.  Um  zu  Seilings 
Behauptung  zurückzukehren,  fragen  wir,  wäre  schließlich  Nietzsche 
wegen  seiner  Anfeindung  des  Christentums  wirkhch  jener  Narr  ge- 
wesen, als  den  man  ihn  so  gerne  hinstellt,  was  müßte  man  dann 
erst  von  Heine  ^)  sagen,  der  das  Kreuz  auch  ganz  umstoßen  wollte, 
der  Jesum  schmähte  und  besudelte,  der  die  Seele  des  Christentums 
töten  wollte,    dessen    sterblichen  Leib  Voltaire  mit  seinen  Scherzen 

^)  Heine  sagte  sich  gleich  Börne  nur  äußerlich  vom  Christentume  los, 
„wie  Kämpfer",  bemerkt  Grätz  sehr  treffend,  „die  des  Feindes  Rüstung  und 
Fahne  ergreifen,  um  ihn  desto  sicherer  zu  treffen  und  desto  nachdrücklicher 
zu  vernichten!"  Cf.  sein  Gedicht: 

„Und  als  der  Morgennebel  zerrann, 

da  sah  ich  am  Wege  ragen 

im  Frührotschein  das  Bild  des  Manns, 

den  man  ans  Kreuz  geschlagen. 

Mit  Wehmut  erfüllt  mich  jedesmal 

dein  Anblick,  mein  armer  Vetter, 

der  du  die  Welt  erlösen  gewollt, 

du  Narr,  du  Menschheitsretter !" 
Diesem  Heine  gegenübergestellt,  ist  Nietzsche  sehr  zahm,  ja  geradezu 
ein  Stümper;   Nietzsche  wollte  gewiß  auch  das  Christentum  vernichten,  um 
es   in  veredel terer  Form  auferstehen   zu  lassen,   Heine  dagegen  wollte  nur 

16- 


—     244     — 

und  Spöttereien  nur  geritzt  habe*)?  Aber  je  begreiflicher  diese 
Stellungnahme  Chamberlains  und  Seilings  Nietzsche  gegenüber  uns 
erscheint,  weil  beide  in  den  ersten  Reihen  der  Wagnerianer  fechten, 
desto  unbegreiflicher  erscheint  uns  der  Umstand,  daß  beide  an  den 
Versuchen,  Wagner  zu  einem  Geisteskranken  zu  stempeln,  mit  Still- 
schweigen vorübergehen.  Schrieb  doch  Max  Nordau,  ein  Berliner 
Irrenarzt  und  „fingerfertiger  Journalist,  der  zuerst  als  Moralprediger 
auftrat,  später  als  Arzt  der  Zeit" :  „R.  Wagner  zeigt  in  seiner 
allgemeinen  Geistesverfassung  Verfolgungswahnsinn,  Größenwahn 
und  Mystizismus,  in  seinen  Trieben  verschwommene  Menschenliebe, 
Anarchismus,  Auflehnungs-  und  Widerspruchsgeist,  in  seinen  Schriften 
Zusammenhanglosigkeit,  Gedankenflucht  und  Neigung  zu  blödsinnigen 
Kalauern."  Wahrlich,  es  wäre  gerechtfertigter,  wenn  Chamberlain 
und  Seiling  solche  und  ähnlich  geartete  Angriffe  gegen  Wagner  und 
sein  Werk  zurückgewiesen  hätten,  als  daß  sie  die  ganz  absurde  An- 
nahme verträten,  Nietzsche  sei,  solange  er  Wagners  Pilot,  gesund,  als 
er  sich  jedoch  von  ihm  abwandte,  krank  gewesen;  denn  mit  einer 
solchen  Parole  ist  die  Freundschaftstragödie  nicht  zu  lösen!  Sehr 
treffend  sagt  Walter  v.  Hauff  in  „Den  Manen  Friedrich  Nietzsches", 
p.  87 :  „Nietzsche  gleicht  in  dieser  Zeit  einem  Forscher,  dem  es 
gelungen  ist,  die  stärksten  Naturkräfte  in  enge  Behälter  zu  bannen, 
und  der  nun  darangeht,  die  Gefangenen  zu  besehen.  Dabei  ist  die 
größte  Vorsicht  nötig,  denn  aus  der  kleinsten  Öffnung  jedes  einzelnen 
Gefäßes  schlagen  ihm  Feuerlohen  entgegen,  die  das  ganze  Gebäude 
in  Brand  zu  stecken  drohen.  Darum  muß  er  nur  immer  dämpfen 
und  zurückhalten,  während  er  bisher  zu  jedem  Feuer,  das  er  sah, 
seine  eigene  Flamme  hinzuschleuderte.  So  entsteht  der  Eindruck, 
als  wäre  er  ein  anderer  geworden,  was  aber  genau  so  wenig  berechtigt 
ist  als  die  Behauptung,  ein  Reiter,  der  ein  schäumendes  Pferd  aus 
dem  Galopp  in  den  Schritt  zwingt,  sei  nicht  mehr  derselbe." 

Würdiger,  ernster  und  erfreulicher  mutet  uns  die  Besprechung 
des  Verhältnisses  Nietzsche- Wagner  durch  Bruno  Goetz  an,  wenn 
auch    sie  der  Wahrheit   nicht  entspricht.    Im  folgenden  seien  daher 


vernichten,  um  jenes  Chaos  zu  schaffen,  unter  dessen  Druck  heute  gerade 
das  Volk  schmachten  muß,  das  das  „Volk  der  Dichter  und  Denker"  ist, 
das  einen  Meister  von  Bayreuth  hervorgebracht  hat! 

1)  Ich  erinnere  nur  an  den  von  ihm  oft  gebrauchten  Ausdruck:  „ecrasez 
rinfäme!" 


—     245     — 

seine  Gedanken  im  Auszuge  wiedergegeben.  Als  Nietzsche  mit 
Wagner  bekannt  wurde,  liebte  er  ihn  als  die  Erfüllung  seiner 
Wünsche  und  seiner  Sehnsucht,  sein  Verhältnis  zu  Wagner  war 
damals  wie  „ein  langes,  stummes,  weltvergessenes  Gebet**  und  man 
wird  Nietzsche  nie  verstehen,  wenn  man  nicht  seine  flammende 
Liebe  zu  Wagner  verstanden  hat.  Doch  in  den  dunkelsten  Tiefen 
seiner  Seele  lauerte  etwas  dämonisch  Zerstörendes,  etwas  sehn- 
süchtig Irres.  Lange  hat  er  es  beharrhch  unterdrückt.  Und  als  es 
endUch  hejnmungslos  hervorbrach,  da  lachte  Nietzsche  über  seine 
Gebete  und  seinen  „Götzen":  sein  bisheriges  Leben  kam  ihm  vor  wie 
ein  wirrer  Traum,  der  ihn  bedrückte,  dem  er  sich  nun  glückhch  in 
das  Land  der  Freiheit  entronnen  wähnte.  Und  in  diesem  Gefühle 
der  Freiheit  schwelgte  er  um  so  mehr,  je  mehr  er  sich  einbildete, 
durch  den  Umgang  mit  Wagner  sei  er  im  Dienste  seines  Kultur- 
ideals unfrei  geworden.  Wie  wenn  er  daher  jetzt  erst  sehend  ge- 
worden wäre,  erblickte  er  nun  in  Wagner  mit  erschreckender  Deut- 
lichkeit den  unheimhchsten  Verführer  zur  Müdigkeit,  zur  Lebens- 
verneinung als  Berauschung  und  begann  ihn  nach  seinem  eigenen 
Maßstabe  zu  werten,  wobei  er  aber  die  Inkommensurabilität  in  der 
Genesis  der  beiden  Lebensanschauungen  irrtümlich  übersah :  Wagners 
Weltanschauung  war  die  Frucht  seines  Lebens,  sie  wurde  von  dem 
Schaffenden  und  Leidenden  am  Feuer  der  Kunst  geschmiedet, 
während  die  Lebensverneinung  Nietzsches  aus  Ekel  geboren  ward, 
als  eine  rachsüchtige  Flucht  aus  dem  Leben,  die  sich  mit  Stolz  und 
Trotz  drapiert  hatte.  Sich  selbst  täuschend  hielt  er  diese  Lebens- 
verneinung für  die  höchste  Lebensbejahung.  Als  er  sich  aber  dieses 
Irrtums  bewußt  ward,  warf  er  ihn  nicht  allsogleich  über  Bord, 
sondern  klammerte  sich  ängstlich  an  Wagner  an,  zu  dem  ihn 
sein  Selbst  ungestüm  hinzog  und  mit  dem  ihn  gemeinsames 
Fühlen  verband.  Gierig  sog  er  die  Welt  Wagners  in  sich  ein  und 
überhörte  absichtlich  die  warnenden  Stimmen  seines  Innern,  die 
ihm  die  Unvereinbarkeit  seiner  und  der  Wagnerschen  Lebens- 
anschauung sagten.  Und  als  die  Reaktion  eingetreten  war,  fühlte 
er  sich  wie  ein  dem  Kerker  Entflohener  und  schloß  nun  von  sich 
auf  Wagner,  dessen  Weltanschauung  ihm  wie  eine  Flucht  aus  dem 
Leben  vorkam,  als  ein  sehnsuchtgeborenes  Angstprodukt  vor  dem 
Leben  und  seinen  Kräften:  auch  für  Wagner  sei  dessen  Kunst  das, 
was  sie  ihm  war,  ein  toller  Rausch,  aber  keine  Notwendigkeit,    ein 


—     246     — 

furchtbarer  Betrug,  die  furchtbarste  Verleumdung  des  Lebens.  So 
ward  ihm  Wagner  zu  einem  Feigling,  der  den  Kampf  mit  dem 
Leben  floh,  der  sich  an  seiner  Kunst  berauschte  und  vor  sich  und 
vor  der  Welt  eine  heldische  Maske  trug,  um  die  Menschen  in  seine 
Netze  zu  fangen,  um  das  Leben  aus  unbewußter  Rachsucht  zu  ver- 
leumden und  zu  entkräften.  Wie  von  einem  bösen  Alpdruck  fühlte 
er  sich  nun  von  Wagners  Einüufs  befreit  und  glaubte  zu  erkennen, 
daß  alles  Müde  und  Kranke,  womit  seine  Seele  „infiziert"  war^ 
geheimnisvoll  von  Wagner  angezogen  wurde:  so  erschien  ihm  nun 
seine  bisherige  Hingabe  an  etwas  außerhalb  des  Lebens  Stehendes 
wie  eine  böse  Krankheit,  der  er  zum  Glück  noch  bei  Zeiten  ent- 
ronnen war:  „Mein  größtes  Erlebnis  war  eine  Genesung;  Wagner 
gehört  bloß  zu  meinen  Krankheiten!"  Er,  dessen  Brust  ein  ungeheurer 
Freiheitsdrang  schwellte,  vermeinte,  Wagners  Kunst  sei  in  ihrem 
innersten  Mark  krank,  da  sie  ihn  unterdrückt  und  unfrei  gemacht 
hatte.  Und  diese  innere  Unfreiheit  war  für  ihn  das  untrüghche 
Symptom  der  Urkrankheit,  an  der  sein  höherer  Mensch  krankte. 
Statt  ihn  zu  stärken,  hat  ihn  Wagner  durch  seine  Kunst  nur  berauscht. 
Deshalb  erbhckte  er  in  Wagner  die  größte  Gefahr  für  die  Freiheit 
des  höheren  Menschen :  Wagner  wurzelte  im  Christentum,  das  nach 
Nietzsche  die  Verkörperung  und  der  Inbegriff  alles  Lebensfeindlichen 
und  Unfreien  ist;  Wagner  vertrat  eine  Sklavenreligion,  hinter  deren 
Sittlichkeit  sich  jeder  Machtlose  ängstlich  verschanzt.  Nietzsche 
dagegen  verlangte  die  unbedingte  Macht,  die  nur  die  Freiheit  schafft. 
Wie  mußte  sich  daher  Nietzsche  mit  einem  Male  furchtbar  ver- 
einsamt fühlen,  als  der  Mensch,  der  für  ihn  bislang  der  Größte  und 
Stärkste  war,  jener  knechtischen  Sklavenmoral  erlegen  war!  Doch 
er,  der  sich  freier  fühlte  als  Wagner,  wollte  noch  freier  werden, 
ganz  frei  wollte  er  werden.  Förmlich  hypnotisiert  von  diesem  Ge- 
danken zerstörte  er  nun  alles,  was  noch  von  früher  her  in  ihm 
lebendig  war:  er  haßte  sich  und  haßte  —  den  Wagner  in  sich.  Von 
ihm  sich  gänzlich  loszumachen,  das  erachtete  er  für  seine  vornehmste 
Pflicht:  er  machte  Wagner  klein,  lächerlich,  niedrig  —  um  sich  in 
stillen  Stunden  doch  wieder  von  ihm  überrumpeln  zu  lassen.  Er 
zerfetzte  alle  seine  Gefühle  und  Empfindungen  mit  beißendem  Spott : 
frei  bleiben  wollte  er  von  aller  Frommheit,  in  der  er  die  größte 
Gefahr  erblickte,  das  Lachen  über  diese  kleine  Welt  verlieren  zu 
können.  Aber  nur  der  wahrhaft  freie  Mensch  kann  lachen!  Nietzsche- 


—     247     — 

aber,  der  so  gern  lachen  wollte,  mußte  sich  krampfhaft  bemühen, 
um  frei  bleiben  und  lachen  zu  können,  denn  er  war  nicht  frei!  Das 
fühlte  er  mit  heimlich  wachsender  Angst  —  und  ihr  und  seiner 
steten  Furcht,  das  Lachen  noch  ganz  zu  verlieren,  galt  sein  Lachen! 
Öeshalb  erträumte  er  sich  ein  fernes  Wunderland  weniger  freier 
Lebensbejaher,  die  aus  allem  Bösen  und  Unheimhchen  Kraft,  aus 
dem  Furchtbaren  und  Wehen  sich  nur  Freude  zu  gewinnen  ver- 
stehen werden.  Denn  e  r  selbst  hatte  gelernt,  aus  den  tiefsten  Leiden 
und  Schmerzen,  die  ihm  das  Leben  bot,  dieses  selbst  auf  das  freu- 
digste zu  bejahen.  Aber  trotzdem  bheb  er  einsam:  die  Menschen 
verstanden  ihn  nicht,  weil  keiner  die  Freiheit,  die  er  meinte,  wollte 
und,  die  sie  ja  wollten,  denen  fehlte  die  Macht.  Deshalb  mußte 
er  sich  noch  einsamer  als  je  zuvor  fühlen:  aber  er  erfand  sich 
einen  Freund,  mit  dem  er  des  vereinten  Sieges  gewiß  das  Fest  der 
Feste  feierte:  Freund  Zarathustra  kam,  der  Gast  der  Gäste  —  und 
jetzt  erst  glaubte  sich  Nietzsche  wahrhaft  frei  oder  zwang  sich  zu 
diesem  Glauben,  weil  Wagner  noch  immer  in  ihm  lebte.  Tag  und  Nacht 
mußte  er  sich  bewachen,  mußte  er  vor  sich  selber  auf  der  Lauer 
Hegen,  um  „frei"  zu  bleiben.  Deshalb  zwang  er  sich  den 
Glauben  auf,  er  habe  Wagner  durch  seinen  „Zarathustra"  besiegt. 
Und  das  ist  die  furchtbare  Tragik  in  seinem  Leben,  daß  er,  der 
sich  durch  Wagners  Kunst  nur  berauscht  fühlte,  der  diesem  Rausche 
für  immer  entfliehen  wollte,  sich  nun  selbst  berauschen  mußte,  sich 
ein  trauriges  Surrogat  schaffen  mußte  für  die  lebendige  Kunst  der 
christUchen  Kultur,  aus  der  er  seine  besten  Kräfte  gesogen.  Indem 
er  jede  Religion  vernichten  wollte,  tötete  er  seinen  Gott  und  schuf 
sich  einen  neuen  Gott.  Dabei  aber  fühlte  er  in  seinem  Herzen,  daß 
sein  tiefstes  Wesen  in  einer  ganz  anderen  Welt  verankert  war  als 
in  der  Zarathustras  —  und  dennoch  kämpfte  er  weiter,  bis  er 
zusammenbrach.  Den  Größten  wollte  er  bekämpfen  und  fiel  in  diesem 
Kampfe:  so  stark  war  dieser  Große  in  ihm.  Er  hat  sich  selbst 
zerstört,  als  er  sich  selbst  im  Wege  stand. 

Diese  Darstellung,  die  sich  mehr  auf  willkürlicher  Dichtung  als 
auf  der  Wahrheit  aufbaut,  beruht  letzten  Endes  auf  der  Voraus- 
setzung des  Pathologischen  in  Nietzsche:  so  konstruiert  Goetz  aus 
dem  Leben  und  Schaffen  Nietzsches,  das  von  einer  krankhaften 
Eifersucht  auf  Wagner  als  dem  treibenden  Elemente  beherrscht  wird, 
eine  neue  Tragödie,  mit  der  er  die  Freundschaftstragödie  erklären  will. 


—     248     — 

Bei  einer  solchen  Annahme  ließ  sich  Goetz  offenbar  von  der  fälsch- 
lichen Tatsache  leiten,  daß  Nietzsche  mehr  Dichter  als  Philosoph 
sei,  wie  denn  auch  tatsächlich  im  „Zarathustra"  das  Dichterische 
vorherrschend  ist.  Dadurch  mußte  sich  Goetz  vom  Boden  der  Wahr- 
heit entfernen,  weil  er  nicht  fähig  war,  durch  den  Schleier  der 
Dichtung  das  Tatsächliche  im  „Zarathustra"  zu  erblicken  und  so 
einzudringen  in  das  tiefste  Wesen  der  Nietzscheschen  Philosophie.  Es 
soll  aber  nicht  geleugnet  werden,  daß  seine  Darstellung  ganz  richtig 
die  Gegensätzlichkeit  im  Denken  Nietzsches  und  Wagners  betont, 
also  das,  was  die  beiden  a  priori  trennte.  Hätte  nun  Goetz  das  Motiv 
der  Eifersucht  ausgeschaltet,  hätte  sich  ihm  die  tatsächliche  Genesis 
von  Nietzsches  lebensbejahender  Philosophie  und  dem  Übermenschen- 
tum ergeben  müssen.  Aber  seine  Analyse  Nietzsches  lehrt  uns, 
genau  so  wie  die  bereits  besprochene  Friedrichs,  daß  es  ein  ver- 
fehltes Beginnen  ist,  mit  Ausschaltung  der  philosophischen  Inter- 
pretation und  durch  einseitige  Betrachtung  diese  Freundschaftstragödie 
in  befriedigender  Weise  zu  lösen. 


XVII.  NIETZSCHES  UND  WAGNERS  „SCHICKSALS- 
GEMEINSCHAFT". 

Ehe  wir  Stekels  psychoanalytische  Interpretation  des  Verhält- 
nisses Nietzsches  zu  Wagner  besprechen,  sei  vorher  noch  eine  der 
neuesten  Darstellungen  dieses  Gegenstandes  erörtert:  Bertrams  Ver- 
such, mit  Zugrundelegung  einer  Schicksalsgemeinschaft  zwischen 
den  beiden  Männern  ihr  Verhalten  zueinander  zu  erklären.  Ein 
solcher  Versuch  mag  nun  tatsächlich  probabler  sein  als  die  tiefst 
schürfende,  gelehrteste  Abhandlung,  weil  er  das  Mystische  in  Nietz- 
sches Wesen  betont,  aber  mit  einem  „glauben  müssen"  oder  „ignora- 
bimus!"  vor  dem  letzten  Unaufhellbaren  haltmacht.  Unwillkürlich 
wird  man  versucht,  die  Freundschaftstragödie  zwischen  Nietzsche 
und  Wagner,  diesen  —  liceat  dictu !  —  unerhörten  Verrat  des  Jüngers 
an  dem  von  ihm  einst  über  alles  geliebten  Meister  mit  dem  Verrate 
des  Judas  an  Jesus  Christus  zu  vergleichen.  Leider  steht  uns  in 
diesem  Falle  kein  so  ausgezeichnetes,  fast  lückenloses  Tatsachen- 
material zur  Verfügung,  ja,  es  erhebt  sich  sogar  die  Frage,  ob  nicht 
die  ganze  Gestalt  des  Judas  nur  eine  Schöpfung  der  dichterischen 
Phantasie  ist,  die  dem  Prinzip  des  Guten,  um  es  besser  begreifen 
zu  machen,  das  Prinzip  des  Bösen  als  notwendiges  Korrelat  hinzu- 
gefügt hat.  Doch  sehen  wir  von  dem  Werte  oder  Unwerte  einer 
solchen  rationalistischen  Ausdeutung,  weil  für  unsere  Zwecke  völlig 
gegenstandslos,  ab,  so  ergibt  sich,  daß  uns  die  vier  Evangelisten  in 
übereinstimmender  Weise  nur  die  nackte,  grauenerregende  Tat  des 
Judas  berichten,  Berichte,  auf  Grund  derer  wir  uns  wohl  kaum  ein 
auch  nur  halbwegs  auf  Wahrheit  Anspruch  erhebendes  hypothetisches 
Bild  des  tatsächlichen  Sachverhaltes,  bzw.  seiner  Motive  rekon- 
struieren können.  Dafür  hat  sich  die  Legendendichtung  des  Judas- 
stoffes als  eines  der  dankbarsten  Stoffe  bemächtigt  und  in  Anbetracht 
der  Simplizität  dieses  Falles  denselben  uns  natürhch  dementsprechend 
menschlich  begreiflich  zu  machen  bemüht.    So  wird  uns  Judas  teils 


—     250     — 

als  Repräsentant  der  niedrigsten  menschlichen  Habsucht  geschildert, 
als  ein  Ausbund  teuflischer  Bosheit,  teils  aber  als  ein  Mensch  größter 
geistiger  Beschränktheit  —  mit  anderen  Worten,  als  eine  ziemhch 
gemeine  Alltagsnatur,  deren  Tat  man  keine  edleren  Motive  unter- 
schieben darf;  so  zum  Beispiel  bei  Abraham  a  Santa  Clara:  ,, Judas 
der  Erzschelm."  Eine  tiefere  Auffassung  des  Judascharakters  be- 
kunden die  dramatischen  Entwürfe,  welche  die  Motive  seiner  Tat 
psychologisch  zu  ergründen  versuchen;  zum  Beispiel  Paul  Heyse: 
„Maria  von  Magdala".  Und  selbst  Ernst  Renan  scheut  sich  nicht, 
die  Tat  des  Judas  nach  Klopstocks  Vorbilde  aus  Eifersucht  zu  er- 
klären. Aber  von  allen  diesen  Erklärungsversuchen  erscheint  mir 
keiner  so  beachtenswert,  wie  jene  Version  der  Judaslegende,  nach 
der  Judas  geradezu  als  die  conditio  sine  qua  non  für  das  Erlösungs- 
werk Jesu  hingestellt  wird:  Judas  muß  sich  opfern,  das  heißt,  er 
muß  den  gräßhchsten  Fluch  der  Jahrtausende  auf  sich  nehmen, 
den  Weltheiland  verraten  zu  haben,  damit  das  Wort  der  Schrift  er- 
füllt werde  und  Jesus  das  Erlösungswerk,  dessen  die  Welt  bedarf, 
vollbringen  könne.  Judas  also  verrät  den,  den  einer  verraten  muß; 
er  handelt  gewissermaßen  als  das  Werkzeug  einer  Macht,  die  un- 
entrinnbar hoch  über  ihm  und  Jesus  waltet.  Daher  zieht  diese 
Judaslegende  aus  jener  Voraussetzung  nur  die  folgerichtige  Kon- 
sequenz, wenn  sie  Jesum  darstellt,  wie  er  sich  der  Größe  und 
Schwere  des  Opfers  bewußt  ist,  das  Judas  ihm  und  seinem  be- 
gonnenen Erlösungswerke  bringt,  damit  er  es  vollenden  könne.  Denn 
er  weiß  und  fühlt  es,  wenn  Judas  ihn  nicht  verrät,  wenn  Judas  vor 
dem  Worte  der  Schrift  „oval  ds  rö  ävd'QaTt^  ixslvo),  öl  o{)  6  vlbg 
Tov  dvd^gaTCov  nagaöldotail"  feige  zurückbebt,  die  Weissagung  dieser 
selben  Schrift  an  ihm  sich  nicht  erfüllen  könne.  Deshalb  ist  Jesu 
Schicksal  mit  dem  des  Judas  unzertrennlich  verbunden,  und  Jesus 
ist  sich  dieser  Schicksalsgemeinschaft  bewußt:  so  ruht  am  letzten 
Abende  des  Herren  Auge  voll  Liebe  auf  dem,  von  dem  er  weiß,  daß 
er  ihn  verraten  werde ;  er  spricht  mit  ihm  in  Worten,  deren  wahrer 
Sinn  den  Jüngern  verborgen  bleibt.  Einen  leisen  Anklang  jener 
Schicksalsgemeinschaft  können  wir  vielleicht  im  JohannesevangeUum 
erblicken:  Jesus  reicht  beim  letzten  Abendmahle  dem  Judas  einen 
Bissen  Brot  —  dadurch  deutet  er  eben  die  Schicksalsgemeinschaft 
an  —  und  spricht  die  bedeutungsvollen  Worte,  deren  wahrer  Sinn 
nur   ihm    und    dem  Angeredeten    klar  ist:     „Was  du  tust,    das  tue 


—     251     — 

bald!"  (Ev.  Joh.  XIII;  26,  27:  „ßdifjag  o^v  tb  i/^wfAtov  ?M^ßdvsi  xal 
didcooiv  ^lovda  .  .  .  Xsysi .  .  .  ''Irjöovg:  ,o  Ttotstg,  tcolyiöov  tccxiovV)  Und 
wenn  dann  Judas  nach  dem  Verrate  hingeht  und  zur  selbigen  Stunde 
seinem  Leben  ein  Ende  macht,  da  der  Menschensohn  auf  Golgotha 
sein  „Es  ist  vollbracht!"  sterbend  ausruft,  tut  er  das  nicht  aus 
Reue,  nein!  sondern  weil  er  Jesus  treu  bis  in  den  Tod  bleibt,  weil 
er  der  zwischen  ihm  und  Jesus  bestehenden  Schicksalsgemeinschaft 
zufolge  diesem  seine  Jüngerschaft  und  Anhängerschaft  nur  mehr 
noch  durch  den  Tod  beweisen  kann,  während  alle  anderen  Jünger 
Jesu  diesen  in  seiner  schweren  Stunde  feige  verließen  und  flohen. 
Deshalb  konnte  Hebbel  sagen:  ^ Judas  ist  der  Allergläubigste!" 

Diese  Judaslegende  kann  uns  nun  mutatis  mutandis  Nietzsches 
„Verrat"  an  Wagner  verständlich  machen.  Zu  diesem  Zwecke  muß 
aber  die  Judaslegende,  an  deren  Ausgestaltung  zwei  Jahrtausende 
gearbeitet  haben,  auf  das  ihr  wie  jeder  anderen  Legende  zugrunde 
liegende  Tatsächliche  reduziert  werden:  jede  Erlösergestalt  zerfällt 
in  die  zwei  Komponenten  des  Guten  und  des  Bösen;  der  gute  Geist 
und  der  böse  Dämon  müssen  zusammenwirken,  soll  das  geschicht- 
lich Gewordene  zu  etwas  Neuem,  die  Menschheit  •  von  Grund  aus 
Erneuerndem  umgeschaffen  werden.  Auf  ein  einfaches  Gesetz  zurück- 
geführt heißt  dies,  daß  der  Mythos,  die  Legende,  das,  was  sie 
logischerweise  als  die  Tat  eines  einzigen  Individuums  erkennen, 
unter  den  Gestalten  zweier  sich  bekämpfender  Individuen  für  das 
allgemeine  Verständnis  verdeutlichen,  die  Tatsache,  daß  jeder 
Schaffende  zugleich  auch  ein  Vernichter,  jeder  Erlöser  gleichzeitig 
auch  ein  Verräter  ist. 

Dieses  Gesetz,  auf  Nietzsches  geistiges  Schaffen  angewandt 
und  übertragen,  gestattet  eine  Folgerung,  die  näherer  Beweise  wohl 
kaum  bedarf:  Nietzsche  ist  der  typische  Zweiseelenmensch;  denn 
zwei  Seelen  wohnen  in  ihm,  eine  gute  und  eine  böse.  Die  Tragik 
seines  Lebens  bestand  jedoch  darin,  daß  er  diesen  beiden  Seelen 
dienen  mußte,  daß  er  beide  ganz  und  ungeteilt  sein  mußte.  Im 
„Ecce  homo"  schreibt  er,  dieses  Zwittertums  sich  voll  bewußt: 
„Und  wer  ein  Schöpfer  sein  will  im  Guten  und  Bösen,  der  muß 
ein  Vermittler  erst  sein  und  Werte  zerbrechen.  Also  gehört  das 
höchste  Böse  zur  höchsten  Güte:  diese  aber  ist  die 
schöpferische.  Ich  bin  bei  weitem  der  furchtbarste  Mensch, 
den  es  bisher  gegeben  hat;    dies  schließt  nicht  aus,    daß    ich 


—     252     — 

der  wohltätigste  sein  werde.  Ich  kenne  die  Lust  am  Ver- 
nichten in  einem  Grade,  der  meiner  Kraft  zum  Vernichten  gemäß 
ist  —  in  beidem  gehorche  ich  meiner  dionysischen  Natur,  welche 
das  Neintum  nicht  vom  Jasagen  zu  trennen  weiß ...  ich  bin  der 
Vernichter  par  excellence."  Nietzsche  war  nun,  wie  schon  betont, 
seiner  ganzen  natürlichen  Veranlagung  nach  ein  äußerst  feinfühliger, 
zarter  Mensch,  ein  dankbarer  Mensch ;  er  war  „die  höchste  Güte"! 
Doch  „das  höchste  Böse"  in  ihm,  die  andere  Seele,  bewog  ihn 
mitunter,  mit  derselben  Intensität,  mit  der  er  jemandem  seine  Liebe 
und  Verehrung  bezeugte,  diesen  selben  Menschen  schonungslos  an- 
zugreifen; so  bekannte  er:  auch  „Angreifen  ist  bei  mir  eine  Form 
4er  Dankbarkeit!"  Aber  wohlgemerkt:  nie  griff"  er  den  betreff'enden 
Menschen  als  solchen  an,  sondern  stets  nur  die  Ideen,  die  dieser 
vertrat.  Dies  zeigt  sich  deutlich  in  seinem  Verhältnisse  zu  Erwin 
Eohde  und  kein  vernünftiger  Mensch  wird  glauben,  daß  lediglich 
Rohdes  Meinung  über  die  Bedeutung  des  Franzosen  Taine,  die  der 
Nietzscheschen  entgegengesetzt  war,  der  wahre  Grund  der  zwischen 
beiden  eingetretenen  Entfremdung  sein  kann.  Der  philosophische 
Trieb  in  ihm  war  es,  dieses  rücksichtslose,  durch  nichts  zu  beirrende 
Streben  nach  der  Wahrheit,  das  ihn  oft  über  der  Sache  die  Person 
vergessen  ließ.  Ähnlich  ist  es  ihm  ja  auch  mit  Paul  Deussen  er- 
gangen. Noch  deuthcher  aber  zeigt  sich  die  Kehrseite  von  Nietzsches 
Doppelnatur  in  seinem  Verkehre  mit  Mutter  und  Schwester.  So 
schreibt  er  einmal:  „Es  gehört  zu  den  Rätseln,  über  die  ich  einige 
Male  nachgedacht  habe,  wie  es  möglich  ist,  daß  wir  blutsverwandt 
sind!"  Nun  ist  es  vom  höchsten  psychologischen  Interesse,  daß 
Nietzsche,  der  sich  selbst  dieser  Doppelnatur  seines  Wesens  teils 
stolz,  teils  schmerzlich  bewußt  war,  diesen  mit  innerer  Notwendig- 
keit sich  vollziehenden  Verrat  an  der  von  ihm  geUebten  Person 
nicht  nur  niemals  bereute,  sondern  stets,  so  besonders  in  seinem 
Verhältnis  zu  Wagner,  immer  und  immer  wieder  die  fatale  Zu- 
sammengehörigkeit, die  nie  zerreißbare  Gemeinsamkeit  seines  Wesens 
mit  dem  der  verratenen  Person  betont.  Nachdem  er  Rohde  brieflich 
wegen  seiner  Stellung  zu  Taine  die  bittersten  Vorwürfe  gemacht 
hatte,  bittet  er  ihn  kurz  darauf  flehenthch:  „Nein,  laß  dich  nicht 
zu  leicht  von  mir  entfremden!"  und  ebenso  bittet  er  die  Schwester, 
in  jenem  Briefe  nicht  seinen  Haß  gegen  sie  zu  sehen,  sondern  nur 
seine  Bitte  um  Liebe  und  Verstehen!    Und    im  Jahre  1887    schrieb 


—     253     — 

er  ihr:  „Malwida  schrieb  mir  einmal,  daß  ich  gegen  zwei  ungerecht 
wäre:  gegen  Wagner  und  gegen  Dich,  meine  Schwester.  Warum 
wohl?  Vielleicht,  weil  ich  Euch  beide  am  meisten  geliebt 
habe  und  den  Groll  nicht  verwinden  kann,  daß  Ihr  mich 
verlassen  habt!" 

In  der  Vorrede  zum  „Fall  Wagner"  heißt  es:  „Wagner  den 
Rücken  zu  kehren,  war  für  mich  ein  Schicksal."  Dieses 
höchst  bedeutungsvolle  Wort  besagt,  daß  sowohl  Wagner  wie 
Nietzsche  dieser  furchtbaren  Freundschaftstragödie  nie  und  nimmer 
haben  entrinnen  können,  Nietzsche  als  der  tragischeste  Held  dieser 
Tragödie  des  Lebens,  der,  mochte  er  sich  zu  Wagner  stellen  wie 
er  wollte  oder  wie  die  Besserwisser  zu  glauben  vermeinen,  daß  er 
sich  hätte  stellen  sollen,  das  ihm  vorbestimmte  Schicksal  unmöglich 
ändern  kann.  Dieses  Walten  des  Schicksals  scheint  überhaupt  im 
Leben  Nietzsches  eine  große  Rolle  zu  spielen,  speziell  in  betreff 
seiner  Beziehungen  zu  R.  Wagner :  Als  Nietzsche  das  erstemal  nach 
Tribschen  kommt,  bleibt  er  lange  vor  Wagners  Villa  stehen.  Aus 
dem  Innern  des  Hauses  hört  er  einen  immer  wiederholten,  schmerz- 
lichen Akkord  spielen.  Später  entdeckte  er,  daß  dies  eine  Stelle  aus 
dem  III.  Akte  des  „Siegfried"  war:  „Verwundet  hat  mich,  der  mich 
erweckt!"  Den  „Zarathustra"  vollendete  er  „genau  in  der  heiligen 
Stunde,  in  der  R.  Wagner  in  Venedig  starb".  Und  sofort  nach  Erhalt 
von  Wagners  Todesnachricht  schreibt  er  an  Peter  Gast:  „Soeben 
kommt  die  Nachricht  von  Wagners  Tode  aus  Genua.  Ich  bin  heute 
ohne  allen  Grund  hieher  gereist  und  kaufte  eben,  wider  meine  Ge- 
wohnheit, die  eben  erschienene  Nummer  des  ,Caffaro'.  Mein  erster 
Blick  fällt  auf  das  Telegramm  aus  Venedig!"  Er  selbst  gesteht  sich, 
daß  es  „in  seinem  Leben  Kuriosa  von  Sinn  im  Zufall  gäbe,  die  nicht 
ihresgleichen  haben.**  Als  Nietzsche  1882  in  Naumburg  seiner 
Schwester  den  „Parsifal"  vorspielte,  hielt  er  plötzlich  inne;  er  be- 
sann sich,  ganz  dieselbe  Art  Musik  gemacht  zu  haben,  als  er,  noch 
ein  Knabe,  ein  Oratorium  komponierte.  Er  berichtet  darüber  an 
Peter  Gast:  „Ich  habe  die  alten  Papiere  hervorgeholt  und  nach 
langer  Zeit  wieder  abgespielt:  die  Identität  von  Stimmung  und  Aus- 
druck war  märchenhaft!  Ja,  einige  Stellen,  zum  Beispiel  der  Tod 
der  Könige,  erschienen  uns  beiden  ergreifender  als  alles,  was  wir 
uns  aus  dem  , Parsifal*  vorgeführt  hatten,  aber  doch  ganz  parsifalesk ! 
Ich    gestehe:    mit    einem    wahren    Schrecken    bin    ich    mir   wieder 


—     254     — 

bewußt  geworden,  wie  nah  ich  eigentlich  mit  Wagner  ver- 
wandt bin!"  Oder  er  schreibt  in  den  Vorredeentwürfen  der  letzten 
Jahre:  „Als  Knabe  war  ich  Pessimist,  so  lächerhch  dies  klingt; 
einige  Zeilen  Musik  aus  meinem  zwölften,  dreizehnten  Lebensjahre 
sind  im  Grunde  von  allem,  was  ich  an  rabenschwarzer  Musik  kenne, 
das  Schwärzeste  und  Entschiedenste.  Ich  habe  bei  keinem  Dichter 
oder  Philosophen  bisher  Gedanken  und  Worte  gefunden,  die  so  sehr 
aus  dem  Abgrunde  des  letzten  Neinsagens  heraus  kämen . . .  als 
Knabe  liebte  ich  Händel  und  Beethoven:  aber  , Tristan  und  Isolde' 
kam,  als  ich  fünfzehn  Jahre  alt  war,  hinzu  als  eine  mir  verständ- 
liche Welt.  Während  ich  damals  den  »Tannhäuser'  und  ,Lohengrin' 
als  unterhalb  meines  Geschmacks  empfand:  Knaben  sind  in  Sachen 
des  Geschmacks  ganz  unverschämt  stolz!"  Enthält  nicht  gerade 
diese  letzte  Aufzeichnung  Nietzsches  später  erfolgte  Abkehr  von 
Wagner  schon  in  seiner  Jugend  vorgebildet?  Das  war  Fatum!  Und 
diesem  über  ihnen  schwebenden  Fatum!  vergleichbar  etwa  dem 
Liebesmotiv,  das  in  Wagners  „Tristan"  auf  Markes  Frage: 

„Den  unerforschhch  tief,  geheironisvollen  Grund, 
wer  macht  der  Welt  ihn  kund?" 

vielsagender  erkUngt  als  die  längsten  Auseinandersetzungen  zwischen 
Marke  und  Tristan,  diesem  Unnennbaren,  undefinierbaren  Etwas 
konnten  beide  nicht  entrinnen:  denn  beide  gehorchten  nur  der 
Stimme  in  ihrem  Innern,  beide  blieben  sich  selbst  treu  und  litten 
an  ihrem  Schicksal  bis  an  ihr  Lebensende,  wobei  nach  Frau  Försters 
Versicherung  „in  dieser  Sache  Nietzsche  am  meisten  gelitten  hat". 
Daß  es  so  kommen  mußte,  daß  dieser  Verrat  durch  Nietzsches 
tiefstes  Wesen  bedingt  war,  dafür  spricht  auch  der  Umstand,  daß 
Nietzsche  im  Falle  Wagner  genau  so  wie  Rohde  und  seiner  Schwester 
gegenüber  die  Bande  der  Freundschaft  nie  ganz  gelöst  hat:  selbst 
Angreifen  ist  ja  bei  ihm  eine  Form  der  Dankbarkeit  und  der  Abfall 
war  daher  eine  Form  seiner  Liebe.  Und  an  Wagner  fühlte  sich 
Nietzsche  bis  an  sein  Lebensende  untrennbar  gekettet,  sowohl  an 
dessen  Person  wie  an  dessen  Kunst,  speziell  an  den  „Tristan".  Ja, 
man  kann  steigernd  sagen,  daß  er  den  Meister  so  sehr  geliebt  hat, 
daß  er,  ohne  je  diesen  Verrat  zu  bereuen  —  einen  Brief  an  Peter 
Gast  ausgenommen!  — ,  den  Schmerz  über  seinen  Verrat  nie  hat 
ganz  zu  verbergen  vermocht,  ja  daß  er  nicht  einmal  zu  jener  Zeit, 
da  er  Wagners   treuester  Anhänger  war,    diesen  so  sehr  hebte  und 


—     255     — 

verehrte,  wie  zur  Zeit  nach  der  Trennung  von  ihm;  denn  „ich  habe 
R.  Wagner  mehr  gehebt  und  verehrt  als  irgend  sonst  jemand!" 
Jeder  werde  es  daher  seinem  Urteile  anmerken,  daß  er  Wagner 
sehr  liebe,  denn  kein  Gegner  nehme  je  einen  Gegenstand  so  tief. 
„Ich  denke,  ich  kenne  besser  als  irgend  jemand  das  Ungeheure, 
das  Wagner  vermag,  die  fünfzig  Welten  fremder  Entzückungen,  zu 
denen  niemand  außer  ihm  Flügel  hatte;  und  so  wie  ich  bin,  stark 
genug,  um  mir  auch  das  Fragwürdigste  und  Gefährhchste  noch 
zum  Vorteil  zu  wenden  und  damit  stärker  zu  werden,  nenne  ich 
Wagner  den  größten  Wohltäter  meines  Lebens.  Das,  worin  wir 
verwandt  sind,  daß  wir  tiefer  gelitten  haben,  auch  an. 
einander,  als  Menschen  dieses  Jahrhunderts  zu  leiden 
vermochten,  wird  unsere  Namen  ewig  wieder  zu- 
sammenbringen; und  so  gewiß  Wagner  unter  Deutschen  bloß 
ein  Mißverständnis  ist,  so  gewiß  bin  ich's  und  werde  es  immer 
sein!"  Kein  Wunder,  daß  der  Mann,  der  bekannt  hatte:  „Ich  hätte 
meine  Jugend  nicht  ausgehalten  ohne  Wagnerische  Musik!**  im 
Nachlaß  zur  „Umwertung"  in  die  wehe  Klage  ausbrach,  ja  ausbrechen 
mußte:  „Ich  habe  ihn  geliebt  und  niemand  sonst.  Er  war 
ein  Mensch  nach  meinem  Herzen...  es  versteht  sich  von 
selber,  daß  ich  niemandem  so  leicht  das  Recht  zugestehe,  diese 
meine  (jetzige)  Schätzung  Wagners  zur  seinigen  zu  machen,  und 
allem  unehrerbietigen  Gesindel,  wie  es  am  Leibe  der  heutigen 
Gesellschaft  gleich  Läusen  wimmelt,  soll  es  gar  nicht  erlaubt  sein, 
einen  solchen  großen  Namen,  wie  der  Richard  Wagners  ist,  über- 
haupt in  das  Maul  zu  nehmen,  weder  im  Lobe  noch  im  Wider- 
spruche!"^) Goldene  Worte,  die  Nietzsche  hier  sprach!  Worte,  die 
gerade  einer  heute  heranwachsenden  Generation  ins  Herz  gehämmert 
zu  werden  verdienten,  einer  Generation,  die  in  stolzer  Selbstüber- 
hebung und  leichtsinniger  Voreingenommenheit,  ohne  sich  ihrer 
Kleinheit  bewußt  zu  sein,  an  dem  Lebenswerke  des  Meisters  rüttelt 

^)  Aus  dem  Jahre  1882  stammt  folgende  Äußerung:  „Ich  bin  damals, 
als  ich  Wagner  fand,  unbeschreiblich  glücklich  gewesen.  Ich  hatte  so  lange 
nach  dem  Menschen  gesucht,  der  höher  war  als  ich  und  der  mich  wirklich 
übersah.  In  Wagner  glaubte  ich  ihn  gefunden  zu  haben.  Es  war  ein  Irrtum. 
Jetzt  darf  ich  mich  nicht  einmal  mehr  mit  ihm  vergleichen.  Ich  gehöre 
einem  andern  Rang  an."  Und  kurz,  ehe  er  den  „Fall  Wagner"  geschrieben: 
„Wagner  selber,  als  Mensch,  als  Tier,  als  Gott  und  Künstler  geht  tausend- 
fach über  allen  Verstand  und  Unverstand  der  Deutschen  hinaus." 


—     256     — 

und  in  Franz  Schrecker  ihren  „Überwagner"  verehrt.  Wagner,  und 
das  kann  nicht  genug  betont  werden,  ist  und  bleibt  eine  im  Geistes- 
leben des  deutschen  Volkes  ganz  eigenartige  Erscheinung.  Und  selbst 
zugegeben,  daß  vor  dem  Forum  einer  objektiven  Kunstkritik,  welche 
die  absolute  und  doch  dramatisch  bewegte  Musik  Beethovens  zu 
ihrem  Kriterium  nimmt,  so  manches,  das  Wagner  schuf,  nicht  be- 
stehen kann:  als  Ganzes  genommen,  bleibt  sein  Lebenswerk  un- 
antastbar! Daher  alle  die  Fehler,  die  man  diesem  Großen  nachrechnet, 
Fehler  von  gleichfalls  ganz  eigener  Art  sind:  es  sind  Fehler,  die 
nur  ein  Genie  sich  erlauben  darf,  Fehler,  aus  denen  wir  Pygmäen 
nur  lernen  können  und  sollen.  Wagners  Fehler  und  Irrtümer  sind 
schöpferischer  Natur !  Indes  ist  diese  Abkehr  unserer  Generation  von 
Wagner  begreifbar,  wenn  wir  der  nervösen  Unruhe  gedenken,  die 
heute  mehr  denn  je  die  ganze  Welt  beherrscht.  Aber  wozu,  fragen 
wir,  zerstört  die  Menschheit  in  törichtem  Wahne  alles  Überkommene, 
negiert  sie  tief  im  Menschenherzen  eingewurzelte  Werte?  Bloß  um 
überall  Neuland  zu  schaffen?  Sehen  wir  uns  doch  dieses  Neuland 
nach  Wagner  an !  Trotz  aller  Abkehr  von  ihm  ist  und  bleibt  Wagner 
in  seiner  Titanengröße  der  Boden,  aus  dem  diese  Neuschaffer,  diese 
Umstürzler,  diese  Atonalisten,  und  wie  sie  sich  auch  nennen  mögen, 
die  wertvollsten  Nährstoffe  für  ihr  eigenes  Schaffen  saugen,  Wagner 
ist  und  bleibt  der  Genius,  dem  die  Fluten  dieser  „Zukunftsmusik" 
kaum  die  Füße  umspülen.  Dr.  Liebstöckl  hat  für  diese  Art  „Musik- 
macher" das  klassische  Wort  geprägt:  „Sie  grüßen  Wagner;  aber 
Wagner  dankt  ihnen  nicht!"  Sie  haben  Wagner  „überwagnert" !  Ja, 
in  seinen  Fehlern:  das  Rauschende,  Faszinierende  seiner  Inszenierungs- 
kunst artete  bei  ihnen  zu  einem  oft  geradezu  widerlichen  Kulissen- 
zauber aus,  der  ihre  Armut  an  „Musikalität"  verbergen  muß.  Aber 
die  Zeit  wird  kommen,  da  das  deutsche  Volk  reuevoll  und  dankbar 
zu  diesem  seiner  größten  Söhne  zurückkehren  wird,  um  sich  aus 
seinen  unsterblichen  Werken  die  Kraft  zu  holen,  deren  es  heute 
mehr  denn  je  bedarf,  will  es  seine  hohe  Sendung  als  Volk  der 
Dichter  und  der  Denker  erfüllen.  Denn  gleich  den  Klassikern  in 
Weimar  schuf  uns  der  Meister  in  Bayreuth  eine  Geistesburg.  Aber 
betrachtet  man  sein  und  der  Klassiker  Wirken  sub  specie  aeternitatis 
und  im  Hinblicke  auf  das,  was  gerade  Wagner  trotz  Not  und  Elend 
die  Schaffensfreude  gab  und  erhielt,  so  werden  wir  erkennen,  daß 
sie  alle  am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit  der  einen,  ewigen  Gottheit 


—     257     — 

lebendiges  Kleid  wirkten,  wie  sie  ihnen  eben  aus  dem  Herzen  sprach, 
werden  wir  diese  Burg  weder  in  Weimar  noch  in  Bayreuth  suchen 
und  finden,  sondern  in  unserem  eigenen  Innern:  hier  liegt  sie,  in 
uns  selbst !  Denn  wir  selbst  sind  eine  zu  erbauende  Burg  und  unsere 
ureigensten  Erlebnisse  liefern  die  Bausteine  hierzu.  Der  Tondichter 
des  „Lohengrin"  nannte  diese  Burg  Montsalvat,  die  unnahbar  unseren 
Schritten  in  fernen  Landen  stolz  gen  Himmel  ragt: 

„Ein  lichter  Tempel  stehet  dort  inmitten, 
so  kostbar,  wie  auf  Erden  nichts  bekannt. 
Drin  ein  Gefäß  von  wundertät'gem  Segen 
wird  dort  als  höchstes  Heihgtum  bewacht." 

Es  heißt  der  Gral,  vom  Himmel  herab  durch  eine  Engelschar 
gebracht.  Drum  naht  alljährlich  vom  Himmel  eine  Taube,  um  neu 
zu  stärken  seine  Wunderkraft.  Und  dann  erteilt  durch  ihn  sich  selig 
reinster  Glaube  seiner  Ritterschar.  —  Diese  alljährlich  vom  Himmel 
wiederkehrende  Taube  ist  der  Menschheit  guter  Genius,  der  immer 
wieder  und  unaufhörlich,  von  Generation  auf  Generation  sich  ver- 
erbend, die  Brücke  baut  zwischen  der  Gottheit  und  uns  und  uns 
von  unserer  Materialität  erlöst,  wenn  wir  —  wollen!  Geben  wir 
uns  nur  keiner  Täuschung  hin :  nicht  der  Intellekt,  die  vielgerühmte 
bessere  Vernunft,  ist,  wie  die  Rationalisten  uns  weismachen,  das 
Primäre  und  Radikale  in  uns,  sondern  der  Wille:  er  allein  ist  jene 
zeitlose,  ewige,  metaphysische  Gotteskraft,  die  potentiell  in  uns  allen 
schlummert,  die  aber  jederzeit  in  die  Tat  umgesetzt  werden  kann, 
zumal  wenn  wir  uns  dessen  voll  bewußt  werden,  daß  auch  unser 
Herz  ein  Tempel  ist,  in  dem  jenes  heilige  Wundergefäß  glüht  und 
leuchtet:  der  heiUge  Gral! 

Darum  drängt  es  mich,  gerade  an  dieser  Stelle  meiner  per- 
sönlichen Stellungnahme  zu  Wagner  und  seiner  Kunst  das  Wort  zu 
sprechen;  denn  es  könnte  den  Anschein  erwecken,  als  würde  ich 
des  Meisters  Kunst  ablehnen.  Das  liegt  mir  ferne!  Im  Gegenteil, 
ohne  unseres  Meisters  Kunst  könnte  ich  mir  die  Welt  einfach  nicht 
mehr  vorstellen!  Aber  die  wissenschaftliche  Objektivität  gebot  mir, 
auch  das  zu  sagen,  was  meinem  subjektiven  Empfinden  nicht  ent- 
spricht, gebietet  mir  zu  sagen:  Anstatt  daß  unser  Volk  sich  freute, 
daß  ein  gnädiges  Geschick  in  Wagner  und  Nietzsche  ihm  auch 
„zwei  solche  Kerle**  beschert  hat,  die  an  der  niemals  rastenden, 
niemals  vollendeten  Erziehung  des  Menschengeschlechtes  mit  Erfolg 

Grießer.  Wagner  und  Nietzsche.  I7 


—     258     — 

gearbeitet,  spielt  man  noch  immer  den  einen  gegen  den  anderen  aus. 
Ist  das  nicht  kleinhch?  Von  beiden  gilt  das  schöne  Wort:  Wagner 
wie  Nietzsche  „sind  kein  ausgeklügelt  Buch;  sie  sind  Menschen  in 
ihrem  Widerspruch!"  Als  ich  zum  ersten  Male  in  meinem  Leben 
des  Meisters  „Tristan"  hörte,  gehörte  mein  Herz  ihm!  Und  heute, 
als  gereifter  Mann,  der  dieses  Buch  schrieb,  weiß  ich,  daß  ich  in 
diesem  Wunderwerke,  das  gleich  dem  Goetheschen  „Faust"  noch 
heute  tausend  nicht  gelöste  Rätsel  in  sich  birgt,  Rätsel,  denen 
gegenüber  der  kühnste  Musiktheoretiker  ohnmächtig  ist,  weil  sie 
die  herrlichste  Offenbarung  des  Göttlichen  sind,  die  Quintessenz  der 
Wagnerschen  Musik  und  Kunst  erblicke,  das  Höchste,  das  er  uns 
geschenkt  hat.  Ich  weiß  es,  daß  auch  ich  dem  Meister  schon  um 
des  „Tristan"  willen  die  Treue  halten  werde  bis  hinüber  nach  jenem 
Reiche  der  Weltennacht.  Der  „Tristan"  ist  ein  Kunstwerk,  das  die 
„Welt"  nicht  sucht;  denn  die  „Welt"  muß  zu  ihm  kommen;  es  ist 
göttlich,  weil  es  ganz  Natur  ist;  denn  die  Natur  ist  immer  Gottes! 
Und  nur  im  „Tristan",  vornehmlich  in  der  grandiosen  Schlußszene, 
erklomm  der  Meister  die  höchste  Musik,  die  hier  sich  weitet  zu 
unendlicher,  weltumfassender  Fülle:  man  hört  das  Licht,  denn  hier 
ist  es  Musik  geworden!  Eine  Musik  des  Todes  ohne  jeghche  nöte 
macabre:  eine  Musik  des  Lebens,  das  über  der  Ewigkeit  steht;  eine 
Musik,  in  der  alles  Individuelle  „in  des  Weltatems  wehendem  All" 
sich  verklärt;  eine  Musik  sub  specie  aeternitatis ;  das  Letzte,  das 
erlösungsselige  Amen  in  dieser  grandiosen  missa  solemnis  der  Liebe 
und  des  sich  selbst  bejahenden  Willens  zum  Leben!  Nur  wer  gleich 
mir  die  Offenbarungen  dieses  heiligsten  Mysteriums  der  Menschheit 
so  unzähhge  Male  erlebt  hat,  nur  der  soll  das  Recht  haben,  gleich 
mir  Nietzsche  und  Wagner  in  einem  Atem  zu  nennen,  in  ihnen 
beiden  die  letzten  großen  Deutschen  zu  erblicken ;  beide  warfen  ihre 
Werke  in  die  unendliche  Zeit,  wohl  wissend,  daß  ihnen  diese  ein 
gerechterer  Richter  sein  werde  als  ihre  sie  nicht  verstehen  wollende 
Mitwelt! . . . 

Von  höchstem  psychologischem  Interesse  erscheint  ferner  noch 
jener  Aphorismus  aus  der  „Fröhlichen  Wissenschaft",  durch  den 
Nietzsche  seinen  Verrat  an  Wagner  unter  dem  Titel  „Zum  Ruhme 
Shakespeares"  verherrlicht.  Zunächst  dankt  er  Shakespeare,  daß  er 
Worte  zur  Rechtfertigung  der  Tat  des  Brutus  gefunden,  den  Dante 
zugleich  mit  Judas  dem  Rachen  Luzifers   überantwortet  habe.    Die 


—     259     — 

Annahme  liegt  nahe,  daß  Nietzsche  in  Shakespeares  Caesartragödie 
eine  Art  Freispruch  seiner  selbst  und  eine  Eechtfertigung  seines  an 
Wagner  begangenen  Verrates  erblickte:  „Das  Schönste,  was  ich 
zum  Ruhme  Shakespeares,  des  Menschen,  zu  sagen  wüßte,  ist  dies : 
Er  hat  an  Brutus  geglaubt  und  ihm  kein  Stäubchen  Mißtrauens  auf 
diese  Art  Tugend  geworfen!  Ihm  hat  er  seine  beste  Tragödie  ge- 
weiht —  sie  wird  jetzt  immer  noch  mit  einem  falschen  Namen 
genannt  —  ihm  und  dem  furchtbarsten  Inbegriff  hoher  Moral.  Un- 
abhängigkeit der  Seele  —  das  gibt  es  hier!  Kein  Opfer  kann  da  zu 
groß  sein:  Seinen  liebsten  Freund  selbst  muß  man  ihr  opfern 
können,  und  sei  er  noch  dazu  der  herrlichste  Mensch,  die  Zierde 
der  Welt,  das  Genie  ohnegleichen  —  , . .  derart  muß  Shakespeare 
gefühlt  haben!  Die  Höhe,  in  welche  er  Caesar  stellt,  ist  die  feinste 
Ehre,  die  er  Brutus  erweisen  konnte:  so  erst  erhebt  er  dessen 
inneres  Problem  ins  Ungeheure  und  ebenso  die  seelische  Kraft, 
welche  diesen  Knoten  zu  zerhauen  vermochte!  .  .  .  Stehen  wir  viel- 
leicht vor  irgendeinem  unbekannt  gebliebenen  dunklen  Ereignisse 
und  Abenteuer  aus  des  Dichters  eigener  Seele,  von  dem  er 
nur  durch  Zeichen  reden  mochte?  Was  ist  alle  Hamletmelancholie 
gegen  die  Melancholie  des  Brutus!  —  und  vielleicht  kannte  Shake- 
speare auch  diese,  wie  er  jene  kannte,  aus  Erfahrung!  Vielleicht 
hatte  auch  er  seine  finstere  Stunde  und  seinen  bösen 
Engel  gleich  Brutus!"  Speziell  diese  letzten  von  mir  gesperrten 
Worte  beweisen,  daß  sich  Nietzsche  der  unheimlichen  Doppelnatur 
seines  Wesens  bewußt  war  und  danach  trachtete,  der  Gewissens- 
bisse, die  der  gute  Geist,  die  höchste  Güte,  in  ihm  weckte,  durch 
dieses  künstlich  rekonstruierte  Analogen  Herr  zu  werden  und  den 
Verrat  selbst  demnach  als  etwas  vom  Fatum  Vorbestimmtes  hin- 
zustellen. Nietzsches  Judas-  oder  Brutusverhältnis  zu  Wagner  ist 
unbedingt  das  tiefste,  umwandelnde  Schicksalereignis  seines  persön- 
lichen Lebens;  es  ist  auch  die  Perspektive,  unter  der  Nietzsches 
Stellung  zum  Christentum  betrachtet  werden  sollte. 


17^ 


XVIII.  NIETZSCHE  UND  DIE  PSYCHOANALYTIKER. 

Gleichfalls  einer  ausführlichen  Besprechung  würdig  erscheint 
mir  die  bereits  mehrfach  erwähnte  Abhandlung  Dr.  Wilhelm  Stekels 
„Nietzsche  und  Wagner",  worin  er  „in  denkbar  einseitigster  Form, 
unter  Nichtachtung  der  einfachsten  Grundlehren  der  Psychiatrie" 
(Placzek:  „Freundschaft  und  Sexualität**,  p.  139),  den  Versuch  unter- 
nimmt, mit  Hilfe  der  Psychoanalyse  die  menschlichen  Motive  des 
Verrates  Nietzsches  an  Wagner,  eines  Verrates,  der  in  der  Geschichte 
bedeutender  Männer  nicht  seinesgleichen  finde,  aufzuweisen.  Aus- 
gangspunkt seiner  Betrachtungen  bildet  die  von  ihm  als  psycho- 
logisches Grundgesetz  aufgestellte  Tatsache,  daß  fast  jeder  Verräter, 
besonders  aber  der  geniale  —  und  ein  solcher  war  Nietzsche  — 
seinen  Verrat  ethisch  zu  rechtfertigen  strebt,  das  heißt  ihn  „ratio- 
nalisiert", ihn  als  Folge  seiner  geistigen  Entwicklung,  mithin  als 
eine  Notwendigkeit  und  innere  Wahrheit  darstellt.  Das  hätte  nun 
in  hohem  Grade  bereits  Nietzsche  selbst  getan,  und  auch  das  Buch 
seiner  Schwester  „Wagner  und  Nietzsche  zur  Zeit  ihrer  Freund- 
schaft" sei  nichts  anderes  als  ein  Versuch,  den  Abfall  Nietzsches 
von  Wagner  zu  „rationalisieren",  ihn  als  Folge  der  divergierenden 
Entwicklungshnien  beider  Genies  zu  erweisen.  Doch  beide,  Nietzsche 
wie  seine  Schwester,  begehen  einen  großen  Fehler:  sie  übersehen 
alle  anderen  Motive,  besonders  die  menschlichen.  Schon  gelegenthch 
der  Besprechung  der  musikalischen  Kompositions  versuche  Nietzsches 
wurde  von  mir  Stekels  Abhandlung  erwähnt,  weil  auch  er  auf 
Nietzsches  hervorragende  Fähigkeit,  auf  dem  Klaviere  frei  zu 
phantasieren,  hinweist,  darin  jedoch  den  Grund  für  persönliche 
Differenzen  zwischen  den  beiden  Freunden  erblickt.  Stekel  ist 
nämlich  der  Ansicht,  daß  Nietzsche  zeitlebens  von  einer  tiefen 
Sehnsucht  nach  etwas  Hohem  erfüllt  war,  daß  er,  der  Philosoph 
wurde,  eigentlich  seinen  Beruf  verfehlt  habe.  Er  hatte  in  sich  das 
Zeug   zum    Musiker.     Doch    durch   Pflicht    und   Neigung    in    einen 


—     261     — 

anderen  Beruf  abgedrängt,  mußte  in  ihm,  als  er  mit  Wagner  be- 
kannt wurde,  der  Neid  erwachen;  Resultat:  er  wollte  es  als  der 
geborene  Musiker  dem  Meister  gleichtun.  Zunächst  jedoch  bezähmte 
er  seinen  Neid,  indem  er  sich  vor  ihm  durch  —  Liebe  rettete.  So 
ward  er  Wagners  uneingeschränkter  Bewunderer.  Es  mag  sein,  daß 
Stekel  dies  aus  den  von  ihm  natürlich  nicht  erwähnten  Sentenzen 
im  „Zarathustra"  schloß:  „Unser  Glaube  an  andere  verrät,  worin 
wir  gerne  an  uns  selber  glauben  möchten.  Unsere  Sehnsucht  nach 
einem  Freunde  ist  unser  Verräter  I"  Aber  Nietzsche  beneidete  den 
Meister  nicht  nur  um  seine  musikalisch-schöpferischen  Fähigkeiten, 
sondern  auch  um  sein  —  Weib!  Zu  diesen  Ausführungen  seines 
Kollegen  bemerkt  Placzek  (1.  c.  p.  141):  „Armer  Nietzsche!  Was 
wird  nun  aus  dir  unter  der  tüftelnden  Spürkunst  eines  scharf- 
sinnigen Psychoanalytikers!  Natürlich  wird  dein  Sexualleben  durch- 
schnüffelt, die  in  dir  wie  in  jedem  anderen  Menschen  angeblich 
schlummernde  ,Homosexual-Komponente'  hervorgezerrt  und  jede 
deiner  Empfindungen  und  Affektäußerungen  sexuell  ausgedeutet!" 
Heißt  das  nicht:  den  Teufel  mit  Beelzebub  austreiben  wollen?  Wie 
bitterster  Hohn  klingen  auf  diese  Art  Seelenkunde  Dr.  Kraßnas 
Worte : 

„So  oft  ich  den  Geist  rief 

der  Psychiatrie, 

Psychiater  sind  kommen, 

der  Geist  jedoch  nie!" 

Und  wenn  Wagner  in  einem  Briefe  an  Nietzsche  Ehe  und  Oper 
einander  „ironisch"  gegenüberstellt,  so  folgert  Stekel  daraus,  man 
könne  aus  diesem  Briefe  ersehen,  wie  deutlich  sich  Wagner  der 
Quelle  von  Nietzsches  Neid  bewußt  gewesen  sei!  Nietzsches  Ver- 
sicherung, daß  Frau  Cosima  die  einzige  Frau  gewesen  sei,  die  ihm 
imponierte,  veranlaßt  nun  Stekel  zu  der  Behauptung,  Nietzsche  habe 
diese  Frau  geliebt,  und  als  Sexualpsychologe  erblickt  er  in  dieser 
Liebe  des  Philosophen  zu  Cosima  „nur  ein  Überspringen  von  der 
Liebe  zu  Wagner  auf  das  von  diesem  gehebte  Wesen".  Ja,  um 
Gottes  willen,  warum  denn?  fragen  wir  ganz  entsetzt!  Der  Psycho- 
analytiker, der  nie  um  eine  Antwort  verlegen  ist,  erwidert:  Das  ist 
eine  verdrängte  Affektwirkung  ins  Unbewußte,  die  nun  bei  passender 
oder  unpassender  Gelegenheit  auftauche  und  sich  neu  verankere. 
Aber,  warum  Nietzsches  Liebe  zu  Wagner  starb,  warum  sie  so  un- 


—     262     — 

motiviert  starb,  das  verschweigt  uns  wohlweislich  der  alles  wissende 
Psychoanalytiker.  Oder  sollen  wir  nicht  eher  annehmen,  daß  auch 
bei  ihm  die  Erkenntnis  des  Grundes  ins  Unbewußte  verdrängt  worden 
ist  und  nur  auf  die  passende  Gelegenheit  lauere,  um  aufzutauchen? 
Wenn  weiters  Nietzsche  sich  bemühte,  alle  seine  Freunde  mit 
Wagner  bekannt  zu  machen,  damit  auch  sie  ihn  liebten,  so  enthält 
nach  Stekel  „dieser  Kommunismus  der  Liebe"  deutliche  Beziehungen 
zu  Problemen  der  Sexualpsychologie,  da  es  sich  hiebei  um  die 
Wirkung  der  unbewußten  homosexuellen  Komponente  in  Nietzsches 
Liebesleben  handle.  In  jenem')  Briefe  hat  Wagner  Nietzsche  auch 
den  Rat  erteilt,  bei  Wahl  der  Frau  auch  deren  Vermögensverhält- 
nisse zu  prüfen,  und  sein  Ausruf,  „warum  muß  nur  Gersdorff  gerade 
eine  Mannsperson  sein?"  lasse  den  Schluß  zu,  daß  Wagner  klar 
erkannt  habe,  nur  in  Nietzsches  Liebe  zu  seinen  Freunden 
stecke  jenes  Hindernis,  das  ihn  vom  Weibe  abhalte.  Ich  bewundere 
diese  kühne  Schlußfolgerung  Stekels,  die  jedoch  seine  frühere  Be- 
hauptung, Nietzsche  habe  Cosima  geliebt,  geradezu  über  den  Haufen 
wirft!  Was  ist  denn  dann  wahr?  Beide  Behauptungen  schließen 
doch  einander  völHg  aus!  Doch  diese  Aporie  bereitet  dem  Sexual- 
psychologen keine  Verlegenheit,  sondern  das  Fundament,  um  die 
Frage  aufzuwerfen,  ob  Nietzsche  ein  sexuell  abnorm  veranlagter 
Mensch  war.  Er  beantwortet  sie  damit,  daß  er  zugibt,  Nietzsches 
Liebe  zu  Wagner  sei  die  stärkste  Kraft  seines  Lebens  gewesen:  er 
habe  Wagner  geliebt,  nur  um  sich  vor  seiner  Eifersucht  auf  Cosima 
zu  retten!  Diese  nun  zwischen  Nietzsche  und  Wagner  und  dessen 
Frau  sich  abspielende  Liebestragödie  seien  nur  „Masken  der  Homo- 
sexualität", da  sie  im  letzten  Grunde  auf  gleichgeschlechtlichen 
Neigungen  beruht.  Wieso?  Diese  Frage  beantworten  die  Psycho- 
analytiker mit  dem  Hinweis  auf  Weiningers  M  -\-  W-Theorie, 
nach  der  das  männliche  Element  im  Manne  nur  im  Zustande  des 
Primates  lebe,  aber  keineswegs  als  allein  vorhanden  sei.  Daraus 
ergibt  sich  dann  der  notwendige,  ja  selbstverständliche  Schluß,  daß 
die  Sexualität  die  Fähigkeit  besitze,  „von  ihrer  sonst  gewohnten 
Richtung  abzubiegen  und  sich  mit  dem  ganzen  Register  ihrer 
Strebungsformen  auf  das  gleiche  Geschlecht  zu  werfen.  An  dieser 
Inversion   hat  jeder  Mensch  irgendwie  teil,    nur   verschieden   stark 


1)  Cf.  p.  97. 


—     263     — 

und  in  verschiedener  Schichtung  der  Psyche."  —  „Nietzsches  ewiges 
Bedürfnis  nach  Freunden/  sagt  Stekel,  „seine  Flucht  vor  den  Frauen, 
seine  Liebe  zu  Wagner  und  seine  Liebe  zu  der  Frau  Wagners  — 
schließlich  liebt  man  den  Becher,  aus  dem  der  andere  trinkt",  das 
a-lso  ist  für  Dr.  Stekel  ein  vollgültiger,  unantastbarer  Beweis  für 
Nietzsches  Homosexualität!  Denn  Nietzsche  litt  an  „hysteria  virilis", 
die  innig  zusammenhängt  mit  homosexueller  Paranoia.  (Wozu  Placzek 
(1.  c.  p.  147)  bemerkt:  „Stekel  geht  von  einer  vorgefaßten  Idee  aus, 
sieht  alles  nur  in  deren  Beleuchtung  und  kann  daher  nur  zu  der 
denkbar  einseitigsten  Ausdeutung  gelangen.  Man  kann  nur  ver- 
wundert fragen,  wie  das  von  einem  hervorragenden  Nervenarzte 
geschehen  konnte!"  Saaler  (1.  c.)  bezeichnet  diese  psychologische 
Determinierung  Stekels  als  dichterisch  zwar  recht  schön,  medizinisch 
aber  undenkbar.  Zurück  bleibt  das  tiefe  Bedauern,  daß  die  Psycho- 
analyse in  grenzenloser  Überschätzung  ihrer  Leistungsfähigkeit  und 
in  einseitiger  Dogmatisierung  ihrer  Ergebnisse  menschhche,  künstle- 
rische und  ästhetische  Werte  antastet  und  erschüttert.)  Auf  diesen 
Zusammenhang  deuten  folgende  Symptome:  Nietzsches  Eifersucht; 
die  Frage,  ob  Nietzsche  nicht  auch  auf  Wagners  Sohn  Siegfried 
eifersüchtig  gewesen  sei,  scheut  sich  Stekel  allerdings  positiv  zu 
beantworten.  Er  konstatiert  lediglich  nur  so  viel,  daß  sich  Nietzsche 
um  Siegfried  Wagner  herzlich  wenig  gekümmert  habe!  Doch  aus 
einem  von  mir  bereits  zitierten  Briefe  Nietzsches  an  seine  Schwester 
geht  hervor,  daß  Nietzsche  sich  keineswegs  so  wenig  um  den 
Knaben  gekümmert  habe !  Weitere  Symptome  für  Nietzsches  Homo- 
sexualität seien:  Die  Einschränkung  seines  geistigen  Gesichtsfeldes, 
sein  maßloser  Neid,  sein  Größenwahn  und  seine  Unfähigkeit  zur 
dauernden  heterosexuellen  Liebe.  Es  sei  daher  tief  bedauerlich,  daß 
uns  Nietzsche  in  seinen  Bekenntnissen  und  Werken  kein  so  wahr- 
heitsgetreues Bild  seines  Sexuallebens  wie  Rousseau  geliefert  habe; 
sie  enthielten  nur  die  letzten  und  feinsten  Äußerungen  seines  sexu- 
ellen Innenlebens.  Im  weiteren  Verlaufe  kommt  Stekel  auf  die  Be- 
hauptung zu  sprechen,  die  Nietzsches  Schwester  vertritt:  Ihr  Bruder 
habe  sich  von  Wagner  durch  dessen  „Parsifal"  abgewendet,  den  er 
eine  „Geschmackskondeszendenz  zu  den  katholischen  Instinkten 
seines  Weibes,  der  Tochter  Liszts",  genannt  habe,  und  wirft  die 
Frage  auf,  ob  wirklich  nur  „die  Empörung  über  den  Abfall  Wagners 
von  der  atheistischen  Weltanschauung  Nietzsche  zum  Gegner  Wagners 


—     264     ~ 

gemacht  habe".  Diese  Frage  sei  negativ  zu  beantworten.  Denn 
Nietzsche  selbst  war  Asket  und  Abstinenzler,  dem  Wagner  einmal 
sogar  zurufen  mußte:  ,, Essen  Sie  auch  Fleisch!"  Hiezu  sei  bemerkt, 
daß  Nietzsche  dem  Berichte  seiner  Schwester  zufolge  zur  Zeit  seiner 
Besuche  in  Tribschen,  erste  Hälfte  des  Jahres  1870,  ein  eifriger 
Vegetarianer  war  und  daß  Wagner  wie  auch  dessen  Frau  Nietzsche 
nach  Kräften  zuredeten,  diese  Art  der  Ernährung  aufzugeben.  Später 
sei  jedoch  Nietzsche  zur  gewohnten  Kost  allmähhch  zurückgekehrt; 
ob  er  dies  jedoch  Wagner  zuUebe  getan  habe,  wisse  sie  nicht.  Im 
„Ecce  homo"  dagegen  schreibt  Stekels  Untersuchungsobjekt  selbst: 
„Ich,  ein  Gegner  des  Vegetariertums  aus  Erfahrung,  ganz  wie 
R.  Wagner,  der  mich  bekehrt  hat ! "  Doch  kehren  wir  zurück  I  Dieser 
Asketismus  Nietzsches  passe  aber  schlecht  zu  dem  Bilde  des 
Dionysos^),  wie  sich  Nietzsche  gerne  nannte,  während  er  den  Ge- 
kreuzigten, dessen  Attribut  die  Askese  ist,  verhöhnte.  Das  sei  ein 
charakteristischer,  ja  typischer  Fall  von  Hypochondrie,  der  uns 
jedoch  sofort  begreiflich  erscheint,  wenn  man  bedenkt,  daß  Nietzsche 
im  Grunde  seines  Herzens  immer  fromm  war,  daß  er  die  Religion 
nur  intellektuell  überwunden  habe,  während  er  im  Herzen  immer 
der  fromme  Pastorensohn  war  und  blieb,  dessen  sehnlichster  Wunsch 
es  war,  selbst  einmal  Pastor  zu  werden.  Daher  war  Christus  sein 
Vorbild  und  sein  Übermensch  nach  Prof.  Runzes  Analyse  nur  ver- 
setzte Sehnsucht  nach  Jesum.  Aber  hat  man  je  schon  einen  Dionysos 
gesehen,  der  Vegetarianer  ist,  nicht  trinkt,  nicht  raucht  und  die 
Weiber  meidet?  Und  da  klaffe  der  große  Gegensatz  und  Widerspruch 
zwischen  Nietzsches  Leben  und  seinen  Anschauungen.  Sein  Leben 
war  ein  Kompromiß  zwischen  rehgiösen  und  antireligiösen  Strö- 
mungen. Ein  wirklicher  Atheist  war  er  nie  gewesen,  weil  der  wirk- 
liche Atheist  es  nicht  notwendig  hat,  Propaganda  zu  treiben  und 
sich  als  den  Antichristen  zu  proklamieren.  Sein  steter  Kampf  gegen 
Christus  beweist  vielmehr,  daß  er  innerhch  von  ihm  nicht  loskommen 
konnte.  Und  daher  lebte  er  wie  ein  Heiliger,  schrieb  ein  Buch  nach 
Art  der  Bibel,  den  „Zarathustra",  glaubte  gleich  Christus  an  eine 
große  historische  Mission  seinerseits  und  fühlte  sich  am  Ende  selbst 
als  Christus.     Stekel    hält   es    nun   für  wahrscheinlich,    daß  sich  in 


1)  Es  entbehrt  nicht  einer  gewissen  Komik,  wenn  wir  bei  Möbius 
(1.  e.  p.  90)  lesen,  daß  sich  Nietzsche  Dionysos,  „den  Gott,  den  Patron  der 
Hysterie,  ohne  es  zu  ahnen,  zum  Heiligen  gewählt  habe"! 


—     265     — 

Nietzsche  ein  ähnlicher  Abfall  wie  früher  von  Wagner  auch  vom 
Atheismus  vorbereiten  wollte^  der  aber  nicht  perfekt  wurde,  und 
darum  habe  er  Wagner  später  um  den  „Parsifal"  beneidet,  wiewohl 
er  ihn  früher  gerade  wegen  dieses  Werkes  auf  das  erbittertste  be- 
fehdete; denn  Wagner  habe  mit  dem  „Parsifal"  die  Regression  zum 
infantilen  Glauben  vollziehen  können.  Weiters  zieht  Stekel  aus  einem 
Briefe  Nietzsches  an  Wagner  den  Schluß,  daß  jener  unter  des  Meisters 
Jüngern  der  erste  und  unter  den  wenigen  Auserlesenen,  die 
für  Wagner  eintraten,  dessen  Liebling  sein  wollte^):  „Denn  wenn 
es  das  Los  des  Genius  ist,  eine  Zeitlang  nur  paucorum  hominum 
zu  sein:  so  dürfen  sich  wohl  diese  pauci  in  einem  besonderen 
Grade  beglückt  und  ausgezeichnet  fühlen,  weil  es  ihnen  vergönnt 
ist,  das  Licht  zu  sehen  und  sich  an  ihm  zu  wärmen,  wenn  die 
Masse  noch  im  kalten  Nebel  steht  und  friert.  Auch  fällt  diesen 
Wenigen  der  Genuß  des  Genius  nicht  so  ohne  alle  Mühe  in  den 
Schoß,  vielmehr  haben  sie  kräftig  gegen  die  allmächtigen  Vorurteile 
und  die  entgegenstrebenden  eigenen  Neigungen  zu  kämpfen,  so  daß 
sie,  bei  glücklichem  Kampfe,  schließhch  eine  Art  Eroberungsrecht 
auf  den  Genius  haben.''  Den  Widmungsbrief,  mit  dem  Nietzsche 
„Die  Geburt  der  Tragödie"  an  Wagner  übersandte,  zitiert  Stekel 
auffälUgerweise  nicht,  obwohl  gerade  aus  ihm  der  unverkennbare 
Stolz  Nietzsches  spricht,  „daß  er  jetzt  gekennzeichnet  sei  und  daß 
man  ihn  jetzt  immer  in  einer  Beziehung  mit  Wagner  nennen 
werde!"  Nach  Stekel  heißt  dies:  Nietzsche  war  stolz,  Wagnerianer 
zu  sein,  solange  es  noch  eine  Rarität  war,  Wagnerianer  zu  sein. 
Ja,  er  wurde  der  „Wagnerei"  zuhebe  sogar  Märtyrer,  indem  er  zum 

1)  Charakteristisch  für  diese  Art  wissenschaftlicher  Exegese  der  ge- 
heimsten seelischen  Regungen  eines  Menschen  ist  es,  was  Bruno  Saaler  (1.  c.) 
schreibt:  „Wäre  Nietzsche  wirklich  eifersüchtig  gewesen  auf  Wagners  Lebens- 
werk, hätte  er  nicht  denselben  Grund  gehabt,  um  auf  Schopenhauer  eifer- 
süchtig zu  sein?"  Saaler  zieht  aus  der  Tatsache,  daß  bei  Nietzsches  Ab- 
wendung von  Schopenhauers  Lehre  kein  wie  immer  gearteter  Neid  auf  dessen 
Lebenswerk  mitspielte,  die  Folgerung:  „Schon  diese  Tatsache  sollte  davon 
abhalten,  aus  der  Betrachtung  des  Freundschaftsverhältnisses  zwischen 
Wagner  und  Nietzsche  eine  sexual  psychologische  Studie  zur  Psychogenes© 
des  Freundschaftsverrates  zu  machen.  Doch  ein  Analytiker  reinster  Observanz 
gönnt  seiner  Ausdeutungskunst  keine  Schranken,  enträtselt  die  Erscheinungen 
einer  Geistesstörung  gleich  hurtig  und  geschickt  wie  die  rein  psychisch  be- 
dingten Vorgänge  einer  Neurose  und  zergliedert  darum  Nietzsches  Innenleben 
ÄJit  größter  Seelenruhe/ 


—     266     — 

Lohne  für  die  Abfassung  seiner  „Geburt  der  Tragödie''  als  abtrünnig 
gewordener  Philologe  von  den  Philologen  in  Acht  und  Bann  getan 
und  seine  Kollegien  von  den  Studenten  einfach  boykottiert  wurden. 
Aber  trotzdem  hielt  er  noch  treu  zu  Wagner,  entfaltete  eine  wirkungs- 
volle Propaganda  für  diesen  und  warb  Freunde  für  den  Meister,  die 
mit  ihm  „unter  den  ersten  für  Wagner  kämpfen  und  arbeiten" 
sollten.  Und  daher  ist  es  begreiflich,  daß  ihm  die  ersten  Aufführungen 
in  Bayreuth  eine  herbe  Enttäuschung  brachten,  wo  er  „einige  Aus- 
erlesene und  die  Ehren  des  Apostels  erwartete",  dafür  aber  eine 
Horde  und  den  Meister  von  vielen  Jüngern  umgeben  fand:  „Man 
hatte  das  ganze  müßiggängerische  Gesindel  Europas  beieinander, 
und  jeder  Beliebige  ging  in  Wagners  Hause  ein  und  aus,  wie  als 
ob  es  sich  um  einen  Sport  mehr  handeln  würde."  Da  mußte  sich 
denn  Nietzsches  Liebe,  die  sich  sein  ganzes  Leben  lang  nach  Liebe 
sehnte,  aber  verschmachten  mußte,  nach  innen  kehren  und  er  begann 
langsam  —  sich  selbst  zu  heben,  sich  selbst  zu  bewundern!  Diese 
Liebesenttäuschung  jagte  ihn  aus  Bayreuth  davon!  Aber  statt  sich 
das  einzugestehen,  suchte  Nietzsche  nach  Motiven  für  seinen  Haß 
gegen  Wagner  und,  indem  er  sich  seinen  Haß  „rationalisierte",  fand 
er  deren,  so  viele  er  brauchte.  Er  zerstörte  die  Tempel  der  Liebe, 
die  er  errichtet  hatte,  Wagner  ward  für  ihn  der  große  Verführer, 
der  Seelenfänger,  der  alte  Käuber,  der  ihm  seine  Schüler  raubt:  „Er 
raubt  uns  die  Jünglinge,  er  raubt  selbst  noch  unsere  Frauen  und 
schleppt  sie  in  seine  Höhle  ...  ah,  dieser  alte  Minotaurus!  Was  er 
uns  schon  gekostet  hat!  Alljährlich  führt  man  ihm  Züge  der 
schönsten  Mädchen  und  Jünglinge  in  sein  Labyrinth,  damit  er  sie 
verschlinge,  alljährlich  intoniert  ganz  Europa  ,auf  nach  Kreta,  auf 
nach  Ejreta!'"  Diese  Klage  wird  uns  begreiflich,  wenn  wir  der  Tat- 
sache gedenken,  daß  Wagner  Nietzsche  alle  Freunde  geraubt  hat: 
Gersdorff,  Rohde,  Heinrich  v.  Stein!  Sie  alle  ergriffen  für  Wagner 
gegen  ihn  Partei,  ebenso  auch  Malwida  v.  Meysenbug.  Da  war  es 
denn  kein  Wunder  mehr,  daß  er  am  Ende  das  wurde,  was  er 
Wagner  verächtlich  vorgeworfen  hatte:  ein  Schauspieler!  Er 
spielte  sich  eine  Überzeugung  vor,  wo  es  sich  nur  um  eine  Rache 
zurückgesetzter  Liebe  und  gekränkten  Musikerstolzes  handelte.  Des- 
halb schuf  er  den  „Zarathustra".  Freilich  muß  auch  Stekel  zu- 
gestehen, daß  Nietzsches  Sprache  in  diesem  Werke  eine  ungeahnte 
Vollendung    aufweise,    einen    zauberhaften   Klang   besitze,    der   die 


—     267     — 

Alliterationskünste  Wagners  weit  hinter  sich  lasse:  Hier  sei  ihm 
der  Sieg  über  Wagner,  den  „Bauchredner  Gottes",  geglückt,  von 
dem  er,  der  maßlos  Ehrgeizige,  der  immer  nur  der  Erste  sein  wollte, 
dessen  Wille  zur  Macht  sein  einziges  Gesetz  wurde,  musikalisch 
geschlagen  worden  war.  Diese  Niederlage,  die  er  nie  verschmerzen 
konnte,  zeitigte  eine  furchtbare  Tragik:  Nietzsche  schauspielerte  bis 
an  sein  Lebensende  vor  sich  selbst,  wollte  die  eigene  Erbitterung 
nicht  hören,  verschwendete  in  unsinniger  Weise  eine  Unsumme  von 
Lebenskraft,  um  die  Rolle  zu  Ende  zu  spielen,  die  es  ihm  gestattete, 
unter  der  Maske  des  Dionysos  asketischen  Tendenzen  zu  leben.  Der 
tief  und  unausrottbar  in  ihm  wurzelnde  Hang  zum  Kathohzismus 
ließ  ihn  den  Heihgen  des  Mittelalters  spielen,  eine  Tendenz,  gegen 
die  er  mit  aller  Kraft  seines  Geistes  ankämpfen  mußte.  Und  in 
diesem  permanenten  Kampfe  liegt  die  Ursache  für  Nietzsches 
geistigen  Zusammenbruch:  Seine  Hysterie  griff  immer  mehr  um 
sich,  griff  auf  dem  Wege  der  Konversion  auf  andere  Organe  über 
und  machte  ihn  asozial.  (Unter  den  „anderen  Organen"  können 
wohl  nur  Magen  und  Darm  gemeint  sein.  Bekanntlich  litt  Nietzsche 
sehr  unter  Verdauungsstörungen,  die  wiederum  eine  sehr  natürliche 
Folge  des  Chloralhydrats  waren,  das  Nietzsche  zur  Bekämpfung 
seiner  Schlaflosigkeit  in  großen  Dosen  einnahm.  Ein  Internist  soll 
bei  ihm  „chronischen  Magenkatarrh  mit  bedeutender  Erweiterung 
des  Magens"  diagnostiziert  haben.)  ...  „Er  brauchte  nur  die  Ruhe, 
die  er  in  einer  Flucht  in  die  Krankheit  erzwang.  Auch  der  Wahn- 
sinn ist  kein  Erzwungenes,  sondern  ein  Gewolltes.  Er 
wurde  wieder  ein  Kind  ...  er  konnte  wieder  fromm  sein  und  ein 
vegetatives  Leben  führen,  er,  der  für  eine  ganze  Menschheit  gedacht 
hatte.  Er  wurde  sein  eigener  Erlöser,  er  war  der  reine  Tor,  der 
alle  Wunder  der  Auferstehung  erwarten  konnte."  Deshalb  ist  nach 
Siekel  die  Hypothese  einer  auf  luetische  Infektion  zurückzuführenden 
progressiven  Paralyse  bei  Nietzsche  absolut  nicht  bewiesen;  es  ent- 
spreche nur  dem  materialistischen  Zuge  unserer  Zeit,  das  Psycho- 
logische ganz  zu  vernachlässigen  und  das  Somatische  voranzustellen. 
So  bot  denn  auch  nach  Prof.  Binswangers  Diagnose  Nietzsches 
Krankheit  das  Bild  einer  „atypischen  Paralyse" ;  dasselbe  diagnosti- 
zierte auch  der  Berliner  Psychiater  Dr.  Ziehen. 

Es  ist  tief  zu  bedauern,   daß  Placzek,  der  als  Assistent  Prof. 
Binswangers  Nietzsches  Behandlung  auf  der  Jenenser  psychiatrischen 


—     268     -— 

Klinik  leitete,  mit  Berufung  auf  seine  ärztliche  Schweigepflicht 
seine  ,, unauslöschlichen,  persönlichen  Eindrücke"  der  Mitwelt  vor- 
enthält und  „nur  die  Tatsachen  verwertet,  die  aus  der  Nietzsche- 
literatur der  Allgemeinheit  zugänglich  gemacht  wurden";  unter 
diesen  „Tatsachen"  hebt  er  „besonders"  (sie!)  das  Möbiussche  Buch 
über  Nietzsche  und  Frau  Försters  Buch  „Wagner  und  Nietzsche  zur 
Zeit  ihrer  Freundschaft"  hervor.  Ich  bin  nun  allerdings  kein  Psych- 
iater, aber  ich  muß  bemerken,  daß  es  mich  mehr  als  sonderbar  an- 
mutet, daß  auch  Placzek  seine  Schlüsse  über  Nietzches  geistige 
Physiognomie  lediglich  aus  den  „besonders"  zitierten  Werken  zieht l 
Ich  glaube,  da  hat  nicht  lediglich  der  §  300  des  deutschen  StGB,  als 
rettender  deus  ex  machina  gewirkt,  sondern  die  eigene  Unfähigkeit, 
ein  so  kompliziertes  und  feinst  differenziertes  Seelenleben  psychiatrisch 
zu  analysieren.  Das  erhellt  am  deutlichsten  aus  der  Art  und  Weise^ 
wie  Placzek  Nietzsches  Verhalten  dem  weiblichen  Geschlecht  gegen- 
über abtut.  Die  „Tatsache",  auf  die  sich  Placzek  beruft,  daß  „fein- 
sinnige Naturen"  —  also  in  diese  Kategorie  zählt  er  Nietzsche!  — 
„am  allerwenigsten  ihre  Beziehungen  zu  Frauen  an  die  große  Glocke 
hängen"  ^),  genügt  ihm,  „aus  der  Tatsache  der  progressiven  Paralyse 
auf  ihre  unumgängliche  Vorbedingung  einer  luetischen  Ansteckung 
schließen  müssen".  Wenn  man  aber  bei  Möbius  nachlesen  kann,  wie 
trotz  seiner  gewaltsamen  Konstruktionen  gerade  diese  Annahme  zur 
Aufhellung  des  späteren  Krankheitsbildes  so  gut  wie  gar  nichts 
beiträgt,    bleibt  nichts  übrig  als  zu  rufen:    „Risum  teneatis  amici!" 


^)  Dieser  „Tatsache"  steht  jedoch  die  von  Deussen  (1.  c.  p.  24)  berichtete 
Tatsache  gegenüber:  „Nietzsche  war  . . .  allein  nach  Köln  gefahren,  hatte  sich 
dort  von  einem  Dienstmann  zu  den  Sehenswürdigkeiten  geleiten  lassen  und 
forderte  diesen  zuletzt  auf,  ihn  in  ein  Restaurant  zu  führen.  Der  aber  bringt 
ihn  in  ein  übel  berüchtigtes  Haus.  „Ich  sah  mich",  so  erzählte  mir  Nietzsche 
am  anderen  Tage,  „plötzlich  umgeben  von  einem  halben  Dutzend  Erschei- 
nungen in  Flitter  und  Gaze,  welche  mich  erwartungsvoll  ansahen.  Sprachlos 
stand  ich  eine  Weile.  Dann  ging  ich  instinktmäßig  auf  ein  Klavier,  als  auf 
das  einzige  seelenhafte  Wesen  in  der  Gesellschaft,  los  und  schlug  einige 
Akkorde  an.  Sie  lösten  meine  Erstarrung  und  ich  gewann  das  Freie."  Nach 
diesem  und  allem,  was  ich  von  Nietzsche  weiß,  möchte  ich  glauben,  daß  auf 
ihn  die  Worte  Anwendung  finden,  welche  Steinhart  in  einer  lateinischen 
Biographie  des  Piaton  uns  diktierte:  „Mulierem  numquam  attigit."  Wenn  nun 
die  Psychiater  argumentieren,  Nietzsche  habe  sich  im  Jahre  1866  luetisch 
infiziert,  so  sei  ausdrücklich  betont,  daß  dieses  von  Deussen  berichtete 
Faktum  in  den  Februar  1865  fällt;  demnach  müßte  die  Infektion  noch  viel 


-—     269     — 

Ja,  wenn  nicht  dieser  verdammte  §  300  des  StGB,  wäre!  Denn  es 
ist  besser,  einfacher  und  bequemer,  ein  Genie,  das  nunmehr  schon 
22  Jahre  tot  ist,  in  Mißkredit  zu  bringen;  warum?  Weil  einigen 
wenigen,  denen  vor  ihrer  eigenen  Gottähnlichkeit  nicht  im  mindesten 
bange  ist,  vor  der  Gottähnlichkeit  des  Genius  —  bange  ist!  Spottet 
Placzek  zu  Beginn  seines  Buches  über  das  Bestreben  der  Psychiater, 
seiner  Kollegen,  alles  aus  dem  berühmten  einen  Punkte,  von  dem 
aus  alles  zu  kurieren  sei,  zu  erklären,  so  fällt  er  am  Ende  in  den- 
selben Fehler!  Die  Katze  kann  eben  das  Mausen  nicht  lassen!  Nun 
lehren  unsere  heutigen  Psychiater,  daß  auch  die  sogenannte 
„atypische"  oder  „Binswangersche  Paralyse"  ätiologisch  auf  eine 
luetische  Infektion  zurückzuführen  sei.  Bei  Nietzsche  liege  das 
„Atypische"  des  Falles  eben  darin,  daß  solche  Patienten,  deren 
Kranksein  der  Laie  nicht  im  entferntesten  ahne,  ganz  gut  im  Voll- 
besitze ihrer  geistigen  Kräfte  tätig  sein  können,  wiewohl  bei  ihnen 
eine  latente  Demenz  besteht,  deren  Vorhandensein  freilich  nur  der 
Fachmann  konstatieren  könne.  Und  bei  Nietzsche  schließt  der  Fach- 
mann auf  das  Vorhandensein  dieser  latenten  Demenz  aus  seinem 
Abfalle  von  Wagner.  Bewiesen  wird  dies  mit  der  Tatsache,  daß 
Nietzsche  nach  der  Abfassung  von  innerlich  so  harmonischen  Kunst- 
werken, wie  „Geburt  der  Tragödie"  und  den  vier  „Unzeitgemäßen" 
(speziell  der  vierten!);  im  Buche  „Menschliches,  AllzumenschUches" 
mit  einem  Male  einem  aphoristischen  Stile  huldige,    der  jede  innere 


früher  anzusetzen  sein,  um  aus  ihr  das  „taedium  cohabitationis"  abzuleiten. 
Aber  auch  einer  solchen  Annahme  steht  die  von  Deussen  berichtete  Tatsache 
entgegen,  daß  Nietzsche  wiederholt  zu  ihm  geäußert  habe :  „Ich  werde  wohl 
für  mich  allein  drei  Frauen  verbrauchen."  Schließlich  aber  möchte  ich 
—  wenngleich  als  Laie !  —  auf  die  neuesten  Forschungsergebnisse  der  Sexual- 
ärzte und  Sexualbiologen  hinweisen,  die,  fußend  auf  Ostwalds  Unterscheidung 
von  „Romantikern"  und  „Klassikern"  annehmen,  daß  die  geistige  Pro- 
duktivität des  Individuums  auf  seiner  verschiedenen  Disposition  zur  Um- 
wandlung seiner  sexuellen  Energien  beruhe.  Nach  dieser  Theorie  wäre 
Nietzsche  zu  den  „Klassikern"  zu  zählen:  deren  geschlechtliche  Intensität 
sei  bedeutend  geringer  als  bei  den  „Romantikern",  da  ihr  Organismus  sich 
von  der  Produktion,  resp.  Regenerationsfähigkeit  der  Geschlechtszellen  ab- 
wende und  sich  die  im  allgemeinen  zwischen  Hirn  und  Geschlecht  geteilten 
Energien  allein  auf  das  erstere  konzentrieren.  Daher  werde  die  Produktivität 
des  Geistes  mit  der  Produktivität  des  Geschlechtes  bezahlt.  Nietzsche  wäre 
demnach  wie  Newton  vollständig  impotent  gewesen.  Ein  aus  solchen 
Prämissen  abgeleitetes  „taedium  coöundi"  wäre  jedenfalls  probabler. 


—     270     — 

Harmonie  ganz  vermissen  lasse.  Das  sei  nur  so  erklärlich,  daß  in 
seinem  geistigen  Wesen  eine  gewaltige  momentane  Veränderung 
Platz  gegriffen  habe:  die  zerstörende  Wirkung  einer  akquirierten 
Lues  auf  das  Gehirn  mache  sich  bereits  bemerkbar,  physisch  sei 
sie  lediglich  in  der  Anamnese  auf  Grund  des  wiederholt  auftretenden 
Kopfleidens  zu  konstatieren.  Interessant  ist  da  die  „physiologische 
Erklärung"  für  Nietzsches  geänderte  Denkrichtung  durch  Frau  Cosima 
(zitiert  bei  Höfler  1.  c):  „Eine  zersetzte  Organisation  kann  die 
Macht  gewisser  Empfindungen  und  Ansichten  nicht  mehr  ertragen  und 
fühlt  sich  zum  Verrat  durch  das  Unbehagen  gedrängt."  Nun  ist  aber 
eine  luetische  Infektion  bei  Nietzsche  noch  immer  nicht  nachgewiesen^ 
trotz  Möbius  (1.  c.  p.  28)  und  Bernoulli  (1.  c.  I,  p.  433).  Das  Gegen- 
teil scheint  eher  wahr  zu  sein,  daß  nämhch  Nietzsche  „muherem 
numquam  attigit".  So  schrieb  Prof.  Binswanger  1904  persönlich  an 
Peter  Gast:  „Eine  genaue  Krankengeschichte  Nietzsches  zu  schreiben, 
wird  niemandem  gelingen,  da  die  Anfänge  des  Leidens  nicht  völlig 
klargestellt  sind.  Nach  der  Turiner  Katastrophe  war  der  arme 
Patient  außerstande,  selbst  Bericht  über  die  Vorgeschichte  zu  geben. 
Die  Angaben  der  Begleiter  Nietzsches  waren  zu  unvollständig,  um 
darauf  absolut  sichere  Konstruktionen  aufzubauen."  Man  sieht,  wie 
vorsichtig  Binswanger  ist:  für  ein  apodiktisches  Urteil  fehlen  ihm 
die  Grundlagen.  Anders  Möbius:  für  ihn  ist  eine  frühzeitig  erfolgte 
syphilitische  Infektion  bei  Nietzsche  das  Primäre  und  stützt  er  sich 
auf  die  heute  allgemein  geltende  Annahme,  daß  jede  Form  von 
Paranoia  syphilitischen  Ursprunges  sei.  Allerdings  vermag  er  sich 
auf  direkte  Zeugnisse  über  Paranoiaerscheinungen,  vor  allem  kör- 
perlicher Natur,  nicht  zu  stützen,  sondern  er  erschließt  sie  nur 
indirekt  aus  brieflichen  Andeutungen  und  sammelt  seine  Beweise 
aus  Form  und  Inhalt  von  Nietzsches  Schriften.  Und  in-  der  Tat 
kann  man  manche  Erscheinungen  als  Vorzeichen  einer  beginnenden 
geistigen  Störung  auffassen.  Aber  absolut  zwingend  beweisen  läßt 
sich  das  nicht,  vor  allen  Dingen  gibt  es  keinen  objektiven  Maßstab, 
um  das  Kranke  vom  Gesunden  scharf  abzusondern,  und  endlich 
besteht  noch  die  Möglichkeit,  daß  gerade  mit  aus  krankhaften  Anlässen 
wertvolle  Gaben  erwuchsen.  Für  die  letztere  Behauptung  wollen  wir 
wenigstens  einen  Beweis  bringen.  Charakteristisch  für  den  Eintritt 
der  Paranoia  soll  ein  besonderes  Wohlgefühl,  eine  Heiterkeit  im 
Unterschiede  zu  sonstiger  Unlust  und  Schwermut  sein,  die  sogenannte 


—     271     — 

Euphorie.  Auch  Nietzsche  lernte  sie  besonders  in  dem  letzten  Viertel- 
jahre vor  seinem  Zusammenbruche  kennen.  Wozu  aber  regte  sie 
ihn  an?  Zu  einem  seiner  besten  und  ergreifendsten  Gedichte!')  Wollen 
wir  diesem  Gedichte  seinen  Wert  absprechen,  weil  es  wahrscheinlich 
auch  durch  Krankheitssymptome  angeregt  ist?  Gewiß  nicht!  Infolge- 
dessen' wird  man  zu  dem  Eesultat  kommen,  daß,  so  bestimmt  es 
auch  nicht  an  Vorbereitungen  und  Anzeichen  der  1889  ausgebrochenen 
Krankheit  gefehlt  hat,  man  doch  praktisch  mit  ihnen  kaum  wird 
rechnen  können,  da  sie  sich  nicht  sicher  aussondern  lassen  und  selbst 
die  auf  sie  zurückgehenden  Produkte  nicht  schon  dadurch  allein 
wertlos  werden.  So  spricht  denn  selbst  Höfler  im  Hinblick  auf 
diese  Art  der  Genieerklärung  von  einer  „nachahmenden  schöngeistigen 
Einfügung  von  Nietzsches  Gestalt  in  einen  der  mit  den  wissen- 
schafthchen  Etiketten  ,Paranoia',  ,Mania',  ,Dementia'  etc.  ver- 
sehenen fertigen  Rahmen".  Aber  gleichwohl  wird  Höfler  durch  den 
im  «Fall  Wagner"  herrschenden  „zynischen  Ton  von  Feindseligkeit 
nur  allzusehr  an  eine  dem  Psychiater  wohlbekannte  paradoxe  Er- 
scheinung erinnert:  es  überfällt  gewisse  Kranke  ein  Drang  nach 
gröbster  Unanständigkeit  in  Ausdrücken  und  Gebärden,  und  er 
überfällt  sie  um  so  heftiger  und  findet  sie  um  so  wehrloser,  je 
zarter  und  schamhafter  sie  in  gesunden  Tagen  gewesen  waren". 
Was  daher  erzählt  wird  über  erbliche  Belastung  oder  eine  luetische 
Infektion,  das  alles  sind,  um  wieder  mit  Höfler  zu  reden,  „Mut- 
maßungen, die  hier  zu  schweigen  haben,  solange  hier  nicht  ein 
pathologischer  Anatom,  der  zugleich  sensibelster  Psychologe  ist,  das 
allein  entscheidende  Wort  gesprochen  hat".  Leider  ist  das  einzige 
positive  Auskunftsmittel,  die  Schädel-,  resp.  Gehirnsektion,  aus 
unbekannten  Gründen  verabsäumt  worden.  Und  wenn  man  den 
aphoristischen  Stil  des  „zweiten  Nietzsche"  gegen  den  des  „ersten 
Nietzsche"  als  Krankheitssymptom  ausspielt,  so  ist  darauf  zu  erwidern, 
daß  die  aphoristische  Form  zu  tief  mit  seiner  ganzen  Geistesart 
zusammenhing,  als  daß  er  sie  je  wirklich  zu  überwinden  vermocht 
hätte.  Darum  wird  das  Urteil  über  sie  verschieden  lauten,  je  nach 
den  Ansprüchen  und  Bedürfnissen,  mit  denen  man  an  Nietzsches 
Werke  herantritt.  Will  man  aus  ihnen  mühelos  diese  oder  jene  Gabe 
naschen,  sie  rasch  genießen  und  sich  nur  anregen  lassen,  dann  wird 


1)  Nietzsche  W.  W.  X.,  468. 


—     272     — 

der  Aphorismus  willkommen  sein,  der  aber  als  völlig  unzureichend 
erscheint,  wenn  man  nach  ernster  Denkarbeit  und  wissenschafthcher 
Allseitigkeit,  Begründung  und  Klarheit  verlangt.  Daher  gründet  eine 
große  Anzahl  von  Menschen  ihr  Endurteil  bewußt  oder  noch  mehr 
unbewußt  auf  die  Eindrücke  von  Nietzsches  Stil.  Die  trockenen 
Gelehrten,  denen  jede  Abweichung  vom  „holperigen  Unterprimanerstil" 
verdächtig  erscheint,  die  Philister,  die  im  Leben  schon  gar  nichts 
mit  Blumen  und  Bildern  anfangen  können,  geschweige  denn  in  der 
Literatur,  werden  von  vornherein  einen  Stilisten  wie  Nietzsche  ab- 
schütteln, und  zwar  mit  der  Form  auch  den  Inhalt,  da  dieser  ohne 
jene  nicht  zu  erreichen  ist.  Umgekehrt  werden  künstlerisch  emp- 
findende Menschen  in  dem  Maße  unter  die  Gewalt  der  Form  sich 
beugen,  daß  ihnen  der  Inhalt  fast  verborgen  bleibt. 

Daß  nun  Nietzsche  gerade  diese  Form  der  pointierten,  un- 
zusammenhängenden Einzeldarstellung,  des  Aphorismus,  wählte, 
erklärt  sich  einmal  aus  der  zum  guten  Teil  durch  seine  Krankheit 
bedingten  Form  seiner  Produktion  —  er  dachte  und  entwarf  meistens 
seine  Konzeptionen  im  Freien,  arbeitete  nur  dann,  wenn  seine 
Stimmung  ihn  dazu  trieb,  wenn  eine  Inspiration  kam.  Dann  aber 
bot  ihm  diese  Form  auch  die  Möglichkeit,  seine  stilistische  Begabung 
besonders  gut  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Aber  trotzdem  hat  niemand 
das  Unzureichende  dieser  Form  mehr  empfunden  als  er  selbst, 
sobald  seine  gelehrte  Ader  zum  Vorschein  kam  und  das  Ideal  ihm 
aufleuchtete,  eine  wirkUch  begründete,  alles  umfassende  Welt- 
anschauung auszubilden. 

Ist  es  aber  nicht  merkwürdig,  daß  wiederum  andere  Denker 
von  Nietzsches  Aphorismen  behaupten,  ihr  Verfasser  erhebe  sich  in 
ihnen  zu  einer  Meisterschaft  des  Prosastils,  die  unter  den  Deutschen 
sehr  selten  gefunden  werde?  Daß  hier  die  ästhetischen  Quellen  am 
reichsten  flössen,  daß  der  Autor  hier  die  reifsten,  tiefsten  und 
gültigsten  Aussagen  über  das  Kunstschaffen  gebe,  Erkenntnisse  von 
objektivem  Werte,  die  mit  den  analogen  von  Franz  Brentano,  Jodl  oder 
Fechner  getrost  rivalisieren  könnten?  Wie  reimt  sich  das  zusammen 
mit  der  These  der  ärztlichen  Sachverständigen,  daß  die  bisher  latent 
gebliebene  Paranoia  sich  manifestiere?  Wahrlich:  „Difficile  estsatiram 
non  scribere!"  Liegt  etwa  das  Symptom  der  Paranoia  darin,  daß 
der  aphorismenschreibende  Nietzsche  mit  sich  experimentierte,  indem 
er   immer   nur  Ansätze    zum  Schaffen  machte,    dann  aber,    anstatt 


~     273     — 

daß  er  geschaffen  hätte,  wiedergab,  was  er  aus  dem  Schaffen  erlauscht 
hatte? 

Wir  entsinnen  uns,  daß  Nietzsche  anläßhch  der  Zurückweisung 
der  Broschüre  Dr.  Puschmanns,  der  bereits  1873  Wagner  als  geistes- 
krank erweisen  wollte,  an  Rohde  unter  anderem  schrieb:  „Dieser 
Kunstgriff,  unbequeme  ingenia  zu  beseitigen,  der  noch  mehr  nütze 
als  eine  plötzliche  Beseitigung,  weil  er  das  Vertrauen  der  kommenden 
Geschlechter  untergrabe,  sei  der  Gemeinheit  des  gemeinsten  Zeitalters 
wunderbar  gemäß!"  Hat  Nietzsche  damals  geahnt,  daß  er  selbst 
kaum  ein  Menschenalter  später  ein  Opfer  desselben  Kunstgriffes 
werden  sollte  ?  —  Wie  allgemein  bekannt,  traf  Nietzsche,  als  er  auf 
der  Höhe  seines  geistigen  Schaffens  stand,  das  denkbar  fürchterlichste 
Schicksal:  er  verfiel  in  geistiges  Siechtum,  aus  dem  ihn  erst  nach 
11  Jahren  ein  sanfter,  schmerzloser  Tod  erlöst  hatte.  Mit  der 
geistigen  Erkrankung  wohl  keines  Genies  ist  so  viel  Mißbrauch 
getrieben  worden,  wie  mit  dieser  Krankheit  Nietzsches:  die  psycho- 
logische Schulung  unserer  Psychiater,  die  Begriffe  medizinischer 
Psychologie  sind,  wie  Th.  Lessing  das  ausführt,  noch  so  grob,  so 
schematisch,  daß  es  naiv  wäre,  in  Fragen  zartester  seelischer  Er- 
fahrung auf  diese  beschreibenden  Nomenklaturen  auch  nur  Bezug 
nehmen  zu  wollen.  Ich  möchte  noch  hinzufügen,  daß  es  äußerst 
unvornehm  und  bequem  ist,  mit  dem  Hinweis  auf  den  bei  Nietzsche 
ausgebrochenen  Irrsinn  alle  seine  Gedankengänge,  und  zwar  gerade 
da,  wo  sie  schwierig  und  gefährlich  erscheinen,  mit  einem  Schlage 
abzutun,  als  ob  es  nicht  feinere  und  geistigere  Waffen  gäbe,  mit 
denen  man  seiner  Herr  werden  kann!  Es  gibt  keine  geniale  und 
nicht  einmal  außergewöhnliche  Begabung,  an  welcher  nicht  der 
gesunde  Menschenverstand  mit  Bürgerplattheiten  Lombrosos  oder 
Max  Nordaus  bilUg  sein  Mütchen  kühlen  könnte.  Man  hat  über 
Wagner,  hat  über  Beethoven  fachmännische  Schriften  veröffentlicht, 
in  denen  man  eine  Geisteskrankheit  diagnostizierte.  Goethe  wurde  als 
Erotomane,  Kleist  als  Hysteriker,  Shakespeare  als  Autosexualer 
hingestellt.  Und  schließlich  kommt  der  Mediziner  zu  der  Überzeugung, 
daß  seit  Homer  alles  Genie  pathologisch  und  nur  der  Mandarine 
vom  Tschin  vor  solcher  Krankheit  sicher  ist.  Wenn  man  indessen 
wirkUch  aus  Nietzsches  letzter  Schaffensperiode  ein  Symptom  als 
krankhaft  ansprechen  müßte,  dann  wäre  es  am  ehesten  sein  zur 
Manie  gewordener  Gesundheitsfanatismus,  sein  Argwohn,  hinter 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  13 


—     274     — 

allem  Geistigen  Dekadenzzeichen  zu  wittern,  und  sein  Wille,  alles 
unter  der  Lupe  der  „Biologie"  zu  betrachten.  Sein  gewaltsamer 
Glaube  an  das  Leben  und  seine  Macht  und  Herrlichkeit,  sein  ekstatisch 
vorgetragenes  Evangelium  der  Lebensfreude  —  sie  muten  uns  an 
als  die  subjektiv  notwendige  Reaktion  eines  Menschen,  der  am  Leben 
litt.  Er  mußte  das  Leben  so  unermeßlich  lieben,  weil  er  sonst  es 
hätte  nicht  ertragen  können:  „Kein  Schmerz  hat  vermocht  und  soll 
vermögen,  mich  zu  einem  falschen  Zeugnisse  über  das  Leben,  wie 
ich  es  erkenne,  zu  verführen!"  Ebenso  haben  wir  unwillkürlich  das 
Empfinden,  daß  seine  mitunter  sehr  unmäßigen  und  übermäßigen, 
krankhaft  verzerrten  Angriffe  auf  Schopenhauer  und  Wagner,  die  für 
ihn  als  der  Inbegriff  alles  Lebensarmen  galten,  eine  Abwehr  sind  gegen 
jene  Mächte,  deren  er  selbst  nicht  ganz  Herr  geworden  war.  Aber 
diese  seine  Schwäche  wurde  ihm  zur  Stärke!  Indessen  wäre  der 
logische  Gehalt  seiner  Philosophie,  die  man  nur  nach  objektiven 
Gesichtspunkten  beurteilen  kann,  schließlich  selbst  dann 
nicht  widerlegt,  wenn  man  etwa  nachweisen  könnte,  daß  ihr 
Schöpfer  zur  Zeit  ihrer  Abfassung  geistig  abnorm  war.  Ein  Psychiater 
wie  Placzek  (1.  c.  p.  140)  ist  allerdings  so  vorsichtig,  den  Beginn 
von  Nietzsches  geistiger  Erkrankung  erst  Mai- Juni  1888  anzusetzen; 
Möbius  verlegt  diesen  Termin  bereits  ins  Jahr  1881;  die  Wagnerianer 
extremster  Parteirichtung  gar  schon  ins  Jahr  1876.  Da  müßte  also 
ein  großer,  wenn  nicht  der  größte  Teil  von  Nietzsches  Werken  als 
die  Arbeit  eines  Geisteskranken  betrachtet  werden !  So  gesteht  selbst 
Möbius  in  seinerSchrift„Über  das  Pathologische  bei  Nietzsche", 
daß  der  „Nachweis  der  Geisteskrankheit  noch  kein  Einwand  ist",  und 
daß  gerade  in  Hinsicht  auf  jenes  Anstößige,  das  als  offenbare  Wirkung 
der  Paralyse  genommen  werden  könnte,  von  vornherein  bei  Nietzsche 
eine  „Neigung"  dazu  vorhanden  war.  Zweifellos  ist  doch,  wobei  wir  der 
Argumentation  Hollitschers  folgen,  daß  ein  Mensch,  der  eine  schließlich 
so  geschlossene  Arbeit  wie  den  „Antichrist"  als  letztes  Werk  schaffen 
kann,  unter  keinen  Umständen  als  irrsinnig  genommen  werden 
darf.  Und  ob  da  ein  paar  oder  eine  ganze  Masse  anstößiger  Dinge 
vorkommen,  die  pathologischer  Natur  sein  können  —  was  tut  das 
weiter  viel  zur  Sache!  Auf  das  Wesen,  auf  den  innersten  Gedanken 
kommt  es  allein  an'  und  der  ist  bei  Nietzsche  so  wenig  irrsinnig, 
wie  etwa  bei  Max  Stirner.  Muß  man,  um  über  Nietzsche  hinaus- 
zukommen,   zu  seiner  Krankheit  greifen?   Wahrlich,    „in  dem  Falle 


—     275     — 

wäre  dann  die  Paralyse  nicht  ein  Einwand  gegen  ihn,  sondern  ein 
Argument  für.  ihn".  Eben  weil  Nietzsche  krank  war,  muß  es  heißen: 
alles,  was  er  dachte  und  schrieb,  stammt  aus  einem  gesunden  Geist, 
und  trotzdem  hat  es  die  und  die  Fehler,  ist  nach  der  und  der 
Richtung  hin  falsch;  und  trotzdem  ist  es  nicht  schwer,  über  ihn 
zur  Reife  und  Klarheit  zu  kommen.  So  urteilte  bereits  Rohde,  der 
in  der  Schrift  „Zur  Genealogie  der  Moral"  keine  Symptome 
einer  geistigen  Erkrankung  finden  konnte,  „daß  alles  luzid  bis  ans 
Ende  sei,  aber  zur  reinen  Kannibalenmoral  führe",  und  nur  er  selbst 
sei  unfähig,  Nietzsches  „letzten  Evolutionen  zu  folgen".  Rohde 
konnte  lediglich  nur  Spuren  einer  Erkrankung  des  Empfindens 
konstatieren:  Nietzsches  „Verhalten  zu  Wagner  in  den  letzten  Zeiten 
zeigte,  daß  wirkhch  etwas  krank  war  in  ihm:  denn  sicher  wäre 
ihm  in  diesem  Falle  diese  Art  des  Kampfes  unmöglich  gewesen 
nach  seiner  ganzen  Natur".  Und  schrieb  nicht  Nietzsche  selbst 
noch  1888:  „Alle  krankhaften  Störungen  des  Intellekts  sind  mir  bis 
heute  fremde  Dinge  gebheben!"  Und  ein  anderes  Mal  schrieb  er 
resigniert:  „Obwohl  ich  im  45.  Lebensjahre  stehe  und  ungefähr 
fünfzehn  Werke  herausgegeben  habe,  hat  man  es  auch  noch  nicht 
zu  einer  einzigen,  auch  nur  mäßig  achtbaren  Besprechung  auch 
nur  eines  meiner  Bücher  gebracht.  Man  hilft  sich  jetzt  mit  den 
Worten:  ,exzentrisch',  ,pathologisch',  ,psychiatrisch'." 
Wenn  wir  jedoch  bei  Max  Nordau  lesen:  „Die  Tatsache,  daß 
ein  erklärter  Tobsüchtiger  in  Deutschland  für  einen  Philo- 
sophen gehalten  werden  und  Schule  machen  konnte,  bleibt 
immer  noch  eine  schwere  Schmach  für  das  deutsche  Geistes- 
leben der  Gegenwart",  so  enthält  dieser  Satz  allein  schon 
so  viel  Ungeheuerliches,  daß  er  durch  folgenden  Satz  Nordaus 
kaum  mehr  übertrumpft  werden  kann:  „Dozenten  halten  rite 
Universitätsvorlesungen  über  die  Verbigeration  dieses  Irrsinnigen! 
Angesichts  einer  so  unheilbar  tiefen  Geistesstumpfheit  kann  es 
nicht  wundernehmen,  wenn  der  klar  denkende  und  gesunde  Teil 
der  heutigen  Jugend  in  vorschneller  Verallgemeinerung  auf  die 
Philosophie  selbst  die  Verachtung  überträgt,  welche  amtlich  bestellte 
Lehrer  der  Philosophie  verdienen,  die  sich  unterfangen,  ihre  Schüler 
in  die  Geisteswissenschaft  einführen  zu  wollen,  und  dann  nicht 
einmal  die  Fähigkeit  benützen,  die  zusammenhanglose  Gedanken- 
flucht  eines    Tobsüchtigen    von    vernünftigem    Denken     zu    unter- 

18* 


—     276     — 

scheiden^)."  Ein  positiver  Beweis  dafür,  daß  Nietzsche  seine  Lehren  im 
Wahnsinn  gebildet  habe,  ist  noch  nicht  erbracht  worden.  Gewiß  war 
Nietzsche  oft  krank,  aber  nicht  geisteskrank.  Das  wurde  er  erst  im 
Jahre  1888.  Oberkonsistorialrat  Juhus  Kaftan,  der  einer  ganz  anderen 
Weltanschauung  huldigt  als  Nietzsche,  war  im  Spätsommer  1888 
drei  Wochen  in  Sils  Maria  mit  ihm  zusammen  und  glaubt,  „wirklich 
beurteilen  zu  können,  wie  es  damals  um  ihn  stand".  Sein  Urteil 
lautet:  „Ich  habe  während  der  ganzen  Zeit  niemals  irgendwelche 
Spur  einer  beginnenden  geistigen  Erkrankung  wahrgenommen."  Aber 
selbst  wenn  er  geisteskrank  auch  schon  vor  dem  Jahre  1888  gewesen 
sein  sollte,  so  hätten  wir  doch  die  Pflicht,  sachhch  und  unbefangen 
zu  prüfen.  Tut  man  das  denn  nicht  bei  den  Werken  eines  Schumann, 
Lenau,  Hölderlin,  Hugo  Wolff,  die  schließhch  alle  in  geistige  Um- 
nachtung verfallen  sind?  Sehr  richtig  urteilte  daher  mein  unvergeß- 
licher Lehrer  Prof.  Jodl,  daß  Gedanken  in  ihrem  Werte  und  ihrer 
weltgeschichtlichen  Wirkung  davon  ganz  unabhängig  seien,  wie  be- 
schaffen das  Individuum,  welches  zufällig  ihr  Träger  ist,  als  Person 
sein  mag  und  was  diese  Gedanken  für  sein  Schicksal  bedeuten.  Der 
Gedanke,  einmal  ausgesprochen,  die  Tat,  einmal  gesetzt,  gewännen 
ein  Sein  für  sich  und  wirkten  fort,  unbekümmert  um  die  Erzeuger 
wie  Kinder,  die  dem  Elternhause  den  Kücken  gedreht  haben.  „Die 
heute  so  beliebte  und  von  großen  Autoritäten  vertretene  Zusammen- 
ordnung des  Genies  mit  dem  Wahnsinn  ist  grundfalsch  und  gänzhch 
irreführend.  Wenn  beide  auch  bisweilen  in  demselben  Individuum 
zusammen  vorkommen,  so  sind  sie  psychisch  doch  durch  eine  weite 
Distanz  voneinander  getrennt.  Gerade  die  heute  so  vielfach  studierten 
Phänomene  des  Doppel-Ich  machen  das  wohl  begreiflich.  Das  Ich, 
welches  das  geistige  Zentrum  einer  genialen  Tätigkeit  bildet,  ist 
ein    überpersönliches  Ich,    erfüllt   mit  objektiven  Inhalten;    das  Ich, 


')  Feinsinnig  bemerkt  Wieland:  „Ein  solcher  Mann  (sc.  Horatius)  wird  von 
—  den  Kommentatoren  seiner  Schriften  und  auf  ihren  Kredit  hin  beinahe  von 
der  ganzen  gelehrten  Welt  der  niedrigsten  und  schlechtesten  Gesinnungen  fähig 
gehalten  und  beschuldigt!  So  gefährlich  ist  es  für  einen  Schriftsteller,  mehr 
Geist  und  Witz  zu  haben  als  seine  Ausleger!"  Von  dieser  Art  Exegeten 
gelten  die  Worte,  die  Faust  Mephisto  zuruft:  „Ward  eines  Menschen  Geist 
in  seinem  hohen  Streben  von  deinesgleichen  je  gefaßt?"  —  „Vom  Patho- 
logischen aus  gelangt  man  nie  zum  Großen,  sondern  immer  zum  Kleinen, 
Jämmerlichen;  nie  zum  Unsterblichen,  sondern  immer  nur  zum  Vergäng- 
lichen." (Jodl  1.  c.) 


—     277     •— 

welches  sich  die  Charakteristik  des  Wahnsinns  gefallen  lassen  muß, 
ist  das  rein  persönliche,  individuelle  Ich,  das  Subjekt  als  einzelnes. 
Dieses  verkümmert  entweder,  weil  der  regierende  Herr,  der  Über- 
mensch im  Ich,  keine  Zeit  hat,  an  seine  Bedürfnisse  zu  denken..., 
oder  es  wird  auf  glühender  Bahn  durchs  Leben  gejagt,  weil  es  auch 
die  Kleinigkeiten  des  Tages  in  der  riesenhaften  Vergrößerung  erblickt, 
die  ihm  gestatten,  als  Denker  oder  Künstler  Dinge  zu  schauen,  die 
kein  Auge  noch  gesehen  und  die  in  keines  Menschen  Herz  je  zuvor 
gekommen."  (Jodl:  „Vom  Lebenswege**  I,  p.  44/45.)  Nun  war  Nietzsche 
gewiß  eine  Doppelnatur:  zugleich  ein  nüchterner,  tiefbohrender 
Psychologe,  der  die  versteckten  Triebkräfte  menschlichen  Denkens 
und  Handels  durchschaute,  zugleich  aber  auch  ein  leidenschaftlicher 
Gefühlsmensch,  von  glühender  Sehnsucht  getrieben,  leuchtende  Ideale 
zu  schaffen.  Ich  frage  jedoch:  muß  man  angesichts  dieser  Tatsache 
unbedingt  auf  eine  „Schizophrenie"  schließen?  Als  Antwort  auf 
diese  Frage  seiReininger  zitiert  (1.  c.  p.  178):  „Was  sich,  dem  Leser 
unsichtbar,  in  der  Tiefe  von  Kants  Seele  abgespielt  haben  mag,  als 
er  durch  die  unerbittUche  Kraft  seines  kritischen  Denkens  den 
metaphysisch-religiösen  Halt  des  ihm  zu  höchst  Stehenden:  des 
sittlichen  Bewußtseins  dahingleiten  sah  —  dieses  bange  Gefühl  des 
nun  Ganz-auf-sich-selbst-gestelltseins  und  damit  der  höchstgesteigerten 
Selbstverantwortlichkeit  in  allen  letzten  Entscheidungen,  das  rollt 
sich  in  Nietzsches  Denkerleben  offen  vor  unseren  Augen  ab. 
Dieser  Kampf  einer  hochgestimmten  Menschenseele  um  einen  letzten 
Sinn  des  Lebens  in  einer  entgötterten  Welt,  dieses  prometheische 
Emporringen  eines  unbeugsamen  Willens  zum  Wert  aus  einer  mit 
hartem  Entschluß  festgehaltenen  Nachtansicht  des  Wirklichen  — 
dieses  menschlich-übermenschliche  Schauspiel  wird  einem  mitver- 
stehenden Geist  allezeit  ein  ebenso  erhebender  als  ergreifender 
Anblick  bleiben."  Als  Romantiker  überflog  er  jede  Grenze  der  Wirk- 
lichkeit. Seine  Zeit  ist  Vergangenheit  und  Zukunft,  aber  nicht  die 
Gegenwart.  Aus  Ungenügen  an  der  Zeit  flüchtete  er  zu  den  Griechen 
der  Vergangenheit,  zu  den  Übermenschen  der  Zukunft.  Die  wirkliche 
Quelle  von  Nietzsches  Philosophie,  hat  man  ferner  behauptet,  sei  der 
Sadismus,  freilich  mit  der  Einschränkung,  daß  er  lediglich  auf  die 
geistige  Sphäre  beschränkt  sei.  Wenn  jedoch  potenziertes  Selbst- 
bewußtsein tatsächlich  ein  Symptom  für  Tobsucht  wäre,  dann  hätten 
nach  Nordau  auch  Luther,  Beethoven  und  Wagner  ins  Irrenhaus  ein- 


—     278     — 

gesperrt  werden  müssen !  Diese  Tatsachen  lehren  uns  aber  folgendes : 
Je  weniger  Verständnis  jemand  für  die  Eigenart  eines  Menschen  hat, 
desto  freudiger  weiß  er  alles  dies  zu  entdecken,  was  ihn  vom  nor- 
malen Menschen  unterscheidet  und  also  pathologisch  macht.  Was 
daher  Max  Nordaus  mäßigem,  „gesundem  Menschenverstände''  nicht 
gefiel,  das  erklärte  er  schlankweg  für  verrückt  und  für  das  blöd- 
sinnige Machwerk  „vertierter  Idioten"!  Das  ist  eine  große  Ober- 
flächlichkeit, weil  auf  diese  Weise  die  Frage  nach  dem  wahren 
Wesen  einer  ungewöhnlichen  Erscheinung  in,  wie  Emil  Lucka  aus- 
führte, Begleitumstände  aller  Art  verschoben  wird.  Ein  typisches 
Beispiel  dafür  ist  es,  daß  man  zum  Beispiel  die  Epilepsie,  an  der 
Dostojewski  litt,  zu  einer  Ursache  seiner  Sonderart  machte, 
während  diese  Krankheit  in  der  Tat  nur  ein  Merkmal  unter  vielen 
anderen  ist,  das  ihn  charakterisieren  kann.  So  erzählte  er  wiederholt, 
daß  er  vor  epileptischen  Anfällen  in  begeisterte  Ekstase  gerate: 
„Während  einiger  AugenbUcke  durchströmt  mich  ein  Glücksgefühl, 
wie  es  ihn  normalem  Zustande  undenkbar  ist  und  von  dem  gesunde 
Leute  keine  Ahnung  haben.  Ich  empfinde  in  mir  selbst  und  in  der 
ganzen  Welt  die  höchste  Harmonie;  dieses  Gefühl  ist  so  stark  und 
beseligend,  daß  man  imstande  ist,  für  ein  paar  solcher  Sekunden 
zehn  Jahre,  ja,  selbst  das  ganze  Leben  zu  opfern";  oder:  „Ihr  ge- 
sunden Menschen  ahnt  nicht,  welch  herrhches  Wonnegefühl  den 
Epileptiker  eine  Sekunde  vor  dem  Anfall  durchdringt.  Mohammed 
erzählt  in  seinem  Koran,  er  sei  im  Paradiese  gewesen.  Alle  klugen 
Narrenköpfe  behaupten,  er  sei  einfach  ein  Lügner  und  Betrüger. 
Das  ist  aber  nicht  wahr,  er  lügt  nicht!  Sicher  war  er  im  Paradiese 
während  eines  epileptischen  Anfalles!"  Es  wäre  in  diesem  Falle 
immerhin  möglich,  daß  Dostojewskis  Wonnegefühl  auf  sexuell- 
reUgiöser  Basis  beruht  hat.  In  seinem  Werke  „Unser  Seelenleben 
im  Kriege",  p.  71,  stellt  Stekel  die  merkwürdige  Behauptung  auf: 
„Der  Künstler  ist  immer  Neuro tiker,  der  seine  psychischen  Konflikte 
im  Schafi'en  zu  lösen  versucht."  Mein  Freund,  Univ.-Prof.  Richard 
Meister,  bemerkte  in  seiner  Besprechung  zu  dieser  Behauptung: 
„Sofern  der  Künstler  Konflikte  erlebt  und  im  Schaffen  löst  und  sich 
so  von  ihnen  befreit,  ist  er  noch  kein  Neuro  tiker!  Neurose  ist  erst 
der  gar  nicht  oder  unvollständig  zum  Austrag  gelangte  und  daher 
habituell  gewordene  Konflikt."  Prof.  Reininger  hat  in  seinem  jüngsten, 
Nietzsche    gerecht    werdenden  Werke    „Friedrich    Nietzsches  Kampf 


—     279     — 

um  den  Sinn  des  Lebens"  für  dieses  Problem  die  schönen,  für  seine 
Objektivität  zeugende  Worte  gefunden:  „Ob,  seit  wann  und  in 
welchem  Umfange  Nietzsches  geistige  Erkrankung  auf  sein  geistiges 
Schaffen  von  Einfluß  geworden  ist,  wird  sich  wohl  nie  mit  völliger 
Sicherheit  entscheiden  lassen.  Aber  so  wichtig  begründete  Ver- 
mutungen dieser  Art  für  den  Biographen  sein  mögen,  so  gleich- 
gültig sind  sie  im  Grunde  für  den  Philosophen.  Angenommen,  es 
würde  uns  nachträglich  Kunde,  daß  Descartes  zur  Zeit,  als  er  sein 
berühmtes  „Cogito,  ergo  sum"  erdachte,  vorübergehend  geistesgestört 
gewesen  ist  —  und  jene  Vielen,  die  ja  längst  wußten,  daß  es  mit 
einem  Manne,  der  seine  eigene  Existenz  bezweifelt,  nicht  ganz 
richtig  sein  könne,  möchten  sich  darüber  gar  nicht  wundern  — 
würde  damit  dem  echten  philosophischen  Problem,  das  sich  hinter 
jenen  paar  Worten  verbirgt,  etwas  von  seiner  Wucht  und  Bedeutung 
genommen  sein?  Ich  glaube  nicht;  wenigstens  nicht  bei  jenen,  denen 
das  unerläßlichste  Merkmal  eines  Philosophen  eignet:  Freiheit 
von  jedem  Vor-Urteil.  Daher  halte  ich  es  auch  methodisch  für 
allein  richtig,  an  Nietzsches  Geisteswerk  so  heranzutreten,  als  ob 
wir  von  dem  persönlichen  Schicksal  seiner  geistigen  Umnachtung 
gar  nichts  wüßten.  Was  an  seiner  Lehre  falsch,  irreführend  und 
ungesund  ist,  müßte  fallen,  gleichgültig,  ob  ihr  Urheber  gesund  oder 
krank  war;  das  Große  und  Wertvolle  aber  an  ihr  auf  den  bloßen 
Verdacht  eines  pathologischen  Ursprungs  hin  nicht 
sehen  zu  wollen,  erschien  mir  als  schweres  Unrecht  gegen  diesen 
ebenso  edlen  als  unglücklichen  Geist  . . .  eingedenk  jenes  Wortes 
Spinozas,  daß  das  Licht  sich  selbst  offenbar  macht  und  die  Finsternis. " 
Man  bemüht  sich  vielmehr  in  barbarischer  Absicht  und  nach  einer 
Methode,  die  an  den  Gegenstand  ganz  willkürhch  aus  fremden  Ge- 
bieten herangetragen  wird,  ein  einmaliges  Phänomen  —  das  wert- 
vollste, das  die  Welt  besitzt !  —  unter  allgemeine  Regeln  zu  bringen, 
die  vom  Durchschnitt  hergenommen  und  dem  Durchschnitt  an- 
gemessen sind.  Während  die  ältere  Schule  der  Psychiater  vorwiegend 
auf  Degeneration  und  Alkoholismus  schwört,  ist  jetzt  ein  Schema 
von  Sexualität  in  Mode,  in  das  Patienten  und  Genies  gleichmäßig 
hineingezwängt  werden.  Da  der  Untersuchende  durch  keinerlei 
psychologische  Instinkte  gehemmt  zu  werden  pflegt,  tritt  das  Er. 
gebnis  immer  mit  verblüffender  Einfachheit  zutage.  Aber  die  Tendenz, 
am  bedeutenden  Menschen  das  zu  finden,  was  ihm  mit  dem  Neurotiker 


-      280     — 

gemein  ist,  erscheint  Lucka  überdies  als  ein  Zeichen  vollkommener 
Kulturlosigkeit.  Denn  das  erste  Erfordernis  zur  Kultur  ist  wohl  die 
Fähigkeit,  Wertvolles  zu  spüren  und  Achtung  davor  zu  emp- 
finden. Und  gerade  die  als  pathologisch,  das  heißt  minderwertig 
„Erwiesenen"  haben  die  kulturellen  Güter  hervorgebracht.  So  ist 
es  auch  Tatsache,  daß  die  meisten  jener  großen  Männer,  die  in  der 
Geschichte  der  Menschheit  eine  Rolle  spielten,  körperliche  Dekadenten 
waren,  zum  Beispiel  Alexander  der  Große,  Caesar,  Wallenstein, 
Napoleon.  Und  umgekehrt  gibt  es  Tausende  körperlich  ganz  gesunder 
Menschen,  welche  geistig  durch  und  durch  Dekadenten  sind.  Daher 
ist,  wie  R.  M.  Meyer  treffend  bemerkte,  Nordaus  schmähliches  Buch 
ein  Denkmal  dafür  geworden,  daß  Deutschland  immer  noch  nicht 
gelernt  hat,  was  Goethe  als  die  Wurzel  aller  Tugend  und  Religion 
seinem  Volke  einprägen  wollte:  Ehrfurcht.  Wir  respektieren  jede 
Uniform;  wer  aber  bloß  ein  großer  Geist,  eine  feurig  suchende 
Seele,  ein  epochemachender  Künstler  ist,  der  steht  am  Pranger  für 
jeden  Schmutzwurf!  Es  scheint  auch  heute  noch  volle  Geltung  zu 
haben  Goethes  Wort  zu  Sorot,  14.  März  1830:  „Ein  deutscher 
Schriftsteller  —  ein  deutscher  Märtyrer!"  Ich  kann  es  mir  jedoch 
nicht  versagen,  schon  wegen  ihrer  Schönheit  und  warmen  Begeisterung 
für  alles  Große,  jene  Worte  hier  zu  zitieren,  die  Wilamowitz  in 
seiner  Kriegsrede  über  Alexander  den  Großen  über  eine  solche  Art 
Genieerklärung  gefunden  hat:  „Nach  der  neuesten  Methode  nennt 
man  pathologisch,  was  dem  Betrachter  unheimlich  wird,  weil  es 
sich  nicht  in  dem  Horizont  seines  Könnens  und  Begreifens  hält. 
Den  vielen  Kleinen,  die  das  Gefühl  des  eigenen  Nichts  durchaus 
nicht  durchbohrt,  erscheint  jede  Größe  als  Mißbildung.  Man  kann 
sie  nicht  hindern,  mag  sie  gewähren  lassen;  aber  den  Namen 
der  Wissenschaft  sollen  sie  nicht  mißbrauchen  ^).  Wissenschaft  kommt 
nicht  mit  einem  fertigen  Maßstabe,  sondern  sucht  das  Verständnis 
aus  dem  Objekte  herauszuholen;  sie  erforscht  die  äußeren  und 
inneren  Lebensbedingungen  der  Vergangenheit,  ehe  sie  einen  Menschen 
dieser  Vergangenheit  beurteilt.  Und  damit  ist  es  noch  nicht  abgetan. 


1)  Cf.  A.  Messer,  „Die  Philosophie  der  Gegenwart",  p.  142:  „Die  Psycho- 
analyse des  Wiener  Psychiaters  Sigmund  Freud  und  seiner  Schule  erneuert 
den  Geist  der  mittelalterlichen  mystischen  Religionsphilosophie  der  Kabbala. 
Ihre  allegorische  Deutungskunst  (richtiger  =  Künstelei)  erinnert  an  die  Traum- 
deutung des  Talmud." 


— '     281     — 

Wissenschaft  erkennt  mit  Ehrfurcht  neben  dem,  was  in  jeder  Zeit 
das  Gewöhnliche  und  Gattungsmäßige,  daher  leicht  Verständliche 
ist,  auch  das  Individuelle  an,  das  sich  von  dem  Gewöhnlichen,  von 
der  Gattung  abhebt.  Wissenschaft  weiß  dabei,  daß  sie  das  Individuelle 
niemals  ganz  erklären  kann.  Das  gilt  auch  von  jedem  wahren 
Kunstwerk.  Je  tiefer  wir  es  verstehen,  um  so  freudiger  erkennen 
wir  an,  daß  es  ein  Wunder  ist  und  bleibt;  das  heißt  zugleich  die 
Unzulänglichkeit  unseres  Verständnisses  eingestehen!!!  Auch  der 
große  Mensch  ist  eine  Offenbarung  des  Göttlichen;  aber  hier  liegt 
die  göttliche  Größe  in  dem,  was  von  der  Regel  abweicht,  im  Indi- 
viduellen!" 

Ich  werde  nun  die  Berechtigung  der  Sexualpsychologie  und 
der  Psychoanalyse  als  Wissenschaften  nie  in  Abrede  stellen  wollen; 
denn  sie  haben  bereits  großen  Segen  gestiftet,  indem  wir  gewisse 
abnorme  Erscheinungen  als  psychische  Konstitutionskrankheiten 
nicht  nur  gerecht  beurteilen,  sondern  auch  bessern,  wenn  nicht  gar 
definitiv  zu  heilen  lernten.  Und  wer  möchte  verkennen,  daß  sich 
gerade  auf  dem  Gebiete  der  Sexualpathologie  der  Forschung  das 
weiteste  und  dankbarste  Feld  auftut?  Unvergeßlich  wirkt  fort 
Magnus  Hirschfelds  berühmtes  Wort:  „Durch  die  Wissenschaft 
zurGerechtigkeit!"  Wie  indes  die  Dinge  heute  liegen,  hat  leider 
noch  immer  Goethes  Wort  recht:  „Gerechtigkeit:  Eigenschaft 
und  Phantom  der  Deutschen!"  Aber  daß  Psychoanalyse  und 
Sexualpsychologie  allein,  ohne  Zuhilfenahme  der  reinen  Geistes- 
wissenschaften, ausreichend  sein  sollten,  uns  den  wahren  Gehalt 
epochaler  Geisteswerke  eindeutig  zu  erklären,  das  stelle  ich  ent- 
schieden in  Abrede.  Damit  ist  aber  noch  immer  nicht  behauptet, 
daß  das  Geschlechthche  der  ästhetischen  Betrachtung  durchaus 
feindlich  sei!  Im  Gegenteil!  Hat  doch  selbst  ein  Piaton  aus  dem 
physischen  Eros  die  höchste  ästhetische  Betrachtung  geistiger  Natur 
abgeleitet:  er  entdeckte  eben  den  Widerschein  des  Göttlichen  in 
der  Sinnenwelt,  während  ihn  die  „Freudianer"  etc.  verdecken! 
Schon  die  bekannte  Tatsache,  daß  mit  dem  Erwachen  des  Geschlechts- 
lebens auch  der  geistige  Schaffenstrieb  erwacht,  ein  künstlerischer 
Drang  sich  regt,  daß  in  der  Zeit  der  Pubertät  jeder  Jüngling  ein 
Dichter  ist,  spricht  für  den  innigen  Zusammenhang  von  Sexualität 
und  ästhetischem  Empfinden.  Gibt  doch  erst  die  Sinnlichkeit  dem 
Leben  Farbe,    erzeugt  nur  sie  die  feinen  Nuancen  und  Abtönungen 


—     282     — 

unserer  Gefühle;  ohne  sie  würde  das  Leben  grau  in  grau  erscheinen, 
eine  öde  Monotonie  sein,  Daseinslust  und  Schaffenskraft  vernichtet 
oder  wenigstens  auf  ein  Minimum  reduziert  werden.  Selbst  die 
idealste  Liebe  muß  von  der  Sinnlichkeit  genährt  werden,  wenn  sie 
schöpferisch  und  lebendig  bleiben  soll.  Ein  absolut  zwingender  Be- 
weis für  den  innigen  Zusammenhang  zwischen  Sexualität  und 
Ästhetik  ist  die  Tatsache,  daß  die  großen  Künstler  und  Dichter  in 
der  großen  Mehrzahl  durchaus  sinnliche  Naturen  sind;  ihr  ästhe- 
tisches Empfinden  ist  nämlich  mit  einer  glühenden  Sinnlichkeit 
gepaart,  die  von  dem  Schönen  schlechthin  ihre  mächtigsten  Impulse 
erfährt.  So  leugnet  zum  Beispiel  von  Krafft-Ebing  die  Möglichkeit 
einer  echten  Kunst  und  Poesie  ohne  sexuelle  Grundlage.  Selbst 
Volkelt  muß  den  genetischen  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden 
Momenten  anerkennen.  Und  Nietzsche,  der  gegen  die  Schopenhauersche 
Theorie  von  der  Willenlosigkeit  {=  Selbstaufhebung  des  Willens  im 
reinen  anschauenden  Intellekt)  Einspruch  erhoben  hatte,  spricht 
geradezu  von  einer  „Ästhetik  des  Geschlechtstriebes".  Der  „Wille 
zur  Macht"  ist  es,  der  in  der  Kunst  sich  manifestiert,  der  das  Da- 
sein bejaht  und  niemals  in  Resignation  verneint.  Es  gibt  keine 
Kunst  im  Sinne  des  Schopenhauerschen  Pessimismus.  Die  tiefe 
Lust  an  "allem  Gegenständlichen,  die  sich  bis  zum  Rausch,  bis  zur 
Ekstase  steigert,  ist  der  künstlerische  Zustand,  ein  Zeichen  vollen 
und  blühenden  Lebens,  welche  man  heute  „gewohnt  ist,  als  krank- 
haft zu  beurteilen".  Überfülle,  nicht  Romantikerschwäche  schafft 
die  großen  Werke!  Es  gibt  auf-  und  absteigende  Kunstperioden. 
Kunstschaffen  und  Kunstgenießen  werden  daher  von  Nietzsche  in 
dieser  Periode  seines  Denkens  häufiger  als  bisher  mit  dem  sexuellen 
Leben  in  Parallele  gestellt.  „Es  ist  ein  und  dieselbe  Kraft,  die  man 
in  der  Kunst-Konzeption  und  die  man  im  geschlechtlichen  Actus 
ausgibt:  es  gibt  nur  eine  Kraft";  das  ist  der  „Wille  zur  Macht". 
In  diesem  Sinne  definiert  daher  Stekel  alle  Kunst  als  „umgewertete 
Erotik";  der  Künstler  zeugt  seine  Werke  wie  seine  Kinder;  ein 
Stück  seiner  Erotik  geht  für  das  Leben  verloren.  „Das  hat  R.  Wagner 
gewußt,  wenn  er  ausführte:  ,Die  Kunst  fängt  genau  da  an,  wo  das 
Leben  aufhört;  wo  nichts  mehr  gegenwärtig  ist,  da  rufen  wir  in 
der  Kunst:  ich  wünschte!'  In  der  Kunst  lebt  der  leidende  Künstler 
seine  übermächtige  SexuaUtät  aus.  Alle  Kraft,  die  Wagner  in  seinen 
, Tristan'    hineingelegt   hat,    ging   der  Wesendonk    verloren.     Durch 


—     283     — 

den  , Tristan^  konnte  er  sich  freimachen,  wie  sich  Groethe  durch 
den  Werther  aus  der  Hörigkeit  der  Liebe  in  die  Freiheit  des 
Schaffenden  gerettet  hat"  (cf.  Stekel  „Berufswahl  und  Erotik"  im 
„Neuen  Wiener  Journal"  vom  7.  Dezember  1919).  Im  selben  Sinne 
hat  daher  Rosa  Mayreder  auf  Grund  der  Selbstoffenbarungen  in 
seinen  Briefen  und  Tagebuchblättern  an  Frau  Wesendonk  Wagner 
als  „erotisches  Genie"  definiert:  „Die  geistige  Differenzierung 
des  erotischen  Empfindens  bringt  eine  neue  Fähigkeit  mit  sich,  die 
das  Bewußtsein  der  Überlegenheit  auslöscht  und  das  Bedürfnis  nach 
dem  Abstand  in  das  Bedürfnis  der  Gemeinsamkeit,  der  Gegenseitig- 
keit verwandelt  —  die  Fähigkeit  der  Hingebung.  Damit  begibt  sich 
das  Merkwürdige  in  der  männlichen  Psyche,  das  große  Wunder,  das 
eine  völlige  Umkehrung  des  primitiven  Empfindens  bewirkt,  eine 
Wandlung  der  teleologischen  Geschlechtsnatur.  Das  erotische  Genie 
umfaßt  die  Wesen  des  anderen  Geschlechtes  mit  intuitivem  Ver- 
ständnis und  vermag  sich  ihnen  ganz  zu  assimilieren.  Sie  sind  ihm 
das  Urverwandte  und  Urvertraute ;  die  Vorstellungen  der  Ergänzung, 
der  Erfüllung,  der  Befreiung  des  eigenen  Wesens  oder  selbst  die 
einer  mystischen  Verschwisterung  begleiten  seine  Liebesbeziehungen. 
Ihm  bedeutet  die  Geschlechtlichkeit  nicht  eine  Aufhebung  oder  Be- 
schränkung der  Persönhchkeit,  sondern  eine  Steigerung  und  Be 
reicherung  durch  die  Individuen,  mit  denen  es  auf  diese  Weise  ver- 
knüpft wird."  Nur  unter  dieser  Perspektive  ist  es  erklärlich,  daß 
Nietzsche  nur  den  Wagner  der  Tristanzeit  bis  an  sein  Lebensende 
als  das  größte  Künstlergenie  aller  Zeiten  pries:  Infolge  seiner  Be- 
ziehungen zu  Frau  Wesendonk  stand  eben  Wagner  damals  im  nie 
mehr  erreichten  Vollgefühle  seiner  Schaffenskraft.  Das  „Gesünder- 
werden", das  heißt  die  Entsagung,  die  Abkehr  von  der  Leidenschaft 
wurde  für  ihn  zu  einem  künstlerischen  Rückschritt.  Solch  ein 
:,erotischo3  Genie"  war  auch  Goethe;  man  vergleiche  nur  seine 
Bekenntnisse  an  und  über  Frau  v.  Stein: 

„Sag,  was  will  das  Schicksal  uns  bereiten? 
Sag,  wie  band  es  uns  so  rein  genau? 
Ach,  du  warst  in  abgelebten  Zeiten 
meine  Schwester  oder  meine  Frau!" 

Und  an  Wieland  schrieb  er  (April  1776):  „Ich  kann  mir  die  Be- 
deutsamkeit, die  Macht,  die  Frau  Charlotte  v.  Stein  über  mich  hat, 
anders   nicht    erklären,    als    durch    die   Seelenwanderung.     Ja,    wir 


—     284     — 

waren  einst  Mann  und  Weib!    Nun  wissen  wir  uns  —  verhüllt^ 
in  Geisterduft!" 

Ferner  ist  die  Tatsache,  daß  in  Wagners  Kunstschaffen  das 
sexuelle  Moment  eine  große  Rolle  spielt,  unleugbar  und  wird  durch 
die  Tendenz  seiner  Werke  geradezu  selbst  bewiesen.  Gewiß,  niemand 
wird  es  bestreiten,  daß  Wagners  Name  eine  Welt  für  sich  um- 
schließe, eine  Welt,  die  einzig  dasteht.  Aber  um  diese  Welt  liegt 
keine  reine  himmlische  Atmosphäre ;  es  ist,  als  entstiegen  aus  allen 
ihren  Poren  narkotisierende,  betäubende  süße  Dämpfe,  die  die  Seele 
einhüllen;  sie  knechtet  die  Empfindungen,  anstatt  sie  zu  befreien. 
Und  in  diesem  Geknechtetsein  liegt  die  ganze  Wollust  ihres  Zaubers. 
Der  Venusberg  im  „Tannhäuser"  ist  ein  Symbol  für  Wagners  Kunst; 
es  ist,  als  sei  sie  gleichsam  unterirdisch  abgeschlossen,  dumpf  um- 
wölbt  von  einer  Riesenhöhle,  die  den  Himmel  nicht  mehr  sehen  läßt. 
Und  sein  Tannhäuser  selbst  kommt  uns  vor  wie  ein  Mensch,  der 
sich  gewaltsam  aus  dieser  Welt,  die  ihn  zu  ersticken  droht,  befreit 
—  es  hat  etwas  Erschütterndes  an  sich,  wie  er  wiederum  zum 
erstenmal  die  Hirtenflöte  des  freien  Tales  hört,  wie  wenn  Wagner 
sich  selbst  den  Rücken  kehren  möchte  zu  einer  anderen  Welt  hin. 
Es  ist  der  Kampf  um  die  endgültige  Befreiung  aus  den  Banden  der 
Sinnhchkeit.  Und  selbst  noch  der  H.  Akt  des  „Parsifal"  mit  seiner 
aufreizenden  Verführungsmusik  läßt  es  uns  ahnen,  wie  übermächtig 
in  dem  bereits  altgewordenen  Meister  dieser  Trieb  lebte.  Alle  Ver- 
suche daher,  aus  der  „Parsifal"- Musik  einen  Schluß  auf  das  Nach- 
lassen der  geistigen  Schaffenskraft  Wagners  ziehen  zu  wollen,  zeugen 
von  krassester  Unkenntnis  der  tatsächlichen  Verhältnisse.  Sagt  man 
von  Nietzsche,  daß  er  in  seinen  Werken  mit  einem  wahren  Fana- 
tismus das  preise  und  verherrliche,  was  dem  Kranken  fehlte:  die 
Gesundheit,  die  Macht,  die  Stärke,  so  gilt  dasselbe  mutatis  mutandis 
auch  von  Wagner:  dieser  preist  die  höchste  Glückseligkeit,  die  aus 
dem  Einsgefühl  mit  sich  und  der  Welt  resultiert,  weil  sie  ihm  fehlte. 
Dementsprechend  hat  Th.  Lessing  Wagner  treffend  charakterisiert, 
wenn  er  sagt:  „Er  vermittelt  die  höchste  Ekstase  der  Sinne,  so 
daß  seine  Musik  (man  denke  an  Stimmen  vom  Venusberg  oder 
Montsalvat!)  den  doppelten  Reiz  hat,  jede  Nervenfaser  vor  Leben 
erbeben  zu  lassen,  während  sie  doch  das  himmlische  Jerusalem 
und  Kreuzigung  des  Fleisches  predigt.  Ein  Menschenbeglücker  und 
Menschenverächter,  ein  großer  Mitleider  und  großer  Selbstsüchtling, 


—     285     — 

ein  Mann  von  unendlicher  Hingabe  und  despotischem  Eigenwillen^ 
verschlossen  und  wahr,  einheitlich  und  zerbrochen,  ein  Verklärer, 
Verherrlicher,  Vergolder  und  jauchzender  Liebhaber  unseres  Lebens 
und  zugleich  sein  weiser  Verächter  und  todestrauriger  Kichter.  Der 
Narr  des  Lebens  und  sein  Henker  zugleich,  das  alles  liegt  neben- 
einander in  diesem  großartigen  Menschen  und  in  dem  Ausdruck 
seiner  seelischen  Flutungen:  der  Musik."  Spricht  daher,  wie  schon 
erwähnt,  Nietzsche  von  einer  „Ästhetik  des  Geschlechtstriebes",  so 
hat  er  dabei  offenbar  die  Tatsache  im  Auge  gehabt,  daß  überall 
dort,  wo  einem  starken  Sexualtrieb  auch  eine  starke  aktive  Apper- 
zeption, die  mit  dem  Willen  identisch  ist,  gegenübersteht,  die  sinn- 
liche Empfindung  ein  Lustgefühl  zur  Folge  habe,  das  sich  deutlich 
in  den  Worten  und  Taten  des  betreffenden  Menschen  ausdrücke  als 
innere  Harmonie  und  Heiterkeit.  Und  dieses  schöne  Lust- 
gefühl, das  im  Bewußtsein  einer  hohen  Kraft  und  deren  harmonischem 
Gebrauche  liegt,  ist  es,  das  das  Menschenleben  mit  jener  Wonne 
erfüllen  kann,  die  ihn  zu  den  Göttern  erhebt.  Goethe  hatte  es; 
man  lese  nur  das  herrUche  Lied  des  Türmers  im  H.  Teile  „Faust" ; 
Nietszche  hatte  es  auch,  „denn  alle  Lust  will  Ewigkeit!"  Der  Wert 
des  sexuellen  Lustgefühles  kann  also  nach  W.  Wundt  nur  psycho- 
physiologisch bestimmt  werden.  Richard  Wagner  als  Mensch 
scheint  mir  daher,  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  eine 
mehr  a sexuelle  Natur  gewesen  zu  sein;  das  heißt,  ihm  fehlte  zur 
Tätigkeit,  zum  Leben,  zum  Glück  jene  echte,  schöpferische  Lebens- 
kraft, die  einen  Goethe  so  herrlich  ausgezeichnet  hat.  Der  Quell 
alles  Lebens  floß  in  ihm  nicht  ursprünglich  und  nicht  reich  genug. 
Dafür  sprechen  alle  seine  Heldengestalten,  dafür  spricht  seine  Kunst, 
die  in  allen  Variationen  dasselbe  Thema,  „Überwindung  der  Sexualität", 
behandelt  (Holländer,  Tannhäuser,  Lohengrin,  Tristan,  Hans 
Sachs,  Brünhilde,  Parsifal).  Und  darin  dürfte  wohl  auch  ein 
Hauptgrund  dafür  liegen,  daß  sich  Nietzsche,  weil  er  diesen  Mangel 
der  Wagnerschen  Kunst  als  scharfblickender  Psychologe  klar  er- 
kannte, vom  Meister  abwendete.  Es  wäre  eine  nur  zu  begrüßende 
und  dankbare  Aufgabe  der  Wissenschaft,  eine  psychophysiologische 
Analyse  der  Werke  Wagners  oder  Nietzsches,  auf  breitester  Basis 
aufgebaut,  zu  liefern.  Nur  sie  wäre  imstande,  uns  den  tiefsten 
Einblick  in  die  geheimnisvolle  Werkstatt  eines  gottbegnadeten 
Menschen  und  Künstlers  zu  gestatten.    Denn  in   allem   und  jedem 


—     286     — 

mit  den  „Freudianern''  immer  nur  den  sexuellen  Unterton  zu 
wittern,  ihn  meisterhaft  aufzuspüren  und  kabbaUstisch  auszudeuten, 
das  ist  mehr  als  eine  danaidenhafte  Ausdauer! 

Ich  gebe  gerne  zu,  dafa  die  meisten  Genies  gegenüber  dem 
normalen  Durchschnittsmenschen  im  Denken,  Fühlen  und  Handeln 
exzentrisch  veranlagt  sind,  eine  Wahrnehmung,  auf  die  bereits 
Piaton  und  Aristoteles  hingewiesen  haben;  ja  Cicero  sagt  sogar: 
„Omnes  ingeniöses  melancholicos  esse!"  Aber  damit  ist  noch  nicht 
erwiesen,  daß,  weil  die  Verfasser  exzentrischer  Werke  auch  gewisse 
Exzentrizitäten  besaßen,  ihre  Werke  anders  beurteilt  werden  müßten, 
als  die  des  ^gesunden"  Durchschnittsmenschen,  daß  uns  irgendein 
Werk,  das  die  Menschheit  als  höchste  Offenbarung  des  menschlichen 
Geistes  verehrt,  mit  einem  Male  nur  als  ein  schöner  Deckmantel  der 
entsetzhchsten,  gar  nicht  auszudenkenden  seelischen  Abnormitäten 
erscheint.  So  entsinne  ich  mich,  vor  Jahren  eine  Abhandlung  gelesen 
zu  haben,  worin  uns  ein  Sexualpsychologe  den  „Faust"  Goethes, 
also  sicherlich  eines  der  erhabensten  Kunstwerke,  nach  seiner  Art 
und  Weise,  mit  Hilfe  seiner  Wissenschaft  erklärt.  Er  geht  dabei 
aus  von  dem  sexualpsychologischen  Grundgesetze,  daß  jeder  Mensch 
im  ersten  Kindheitsstadium  gegen  seinen  Vater,  der  Mutter  gegen- 
über, mehr  oder  minder  eifersüchtig  ist,  welche  Eifersucht  sich  bei 
Kindern  mit  starkem  sexuellen  Triebleben  bis  zum  gewollten,  mit- 
unter sogar  zum  tatsächlich  beabsichtigten  Inzest  verdichten  kann, 
wenn  auch  mit  zunehmender  geistiger  und  körperlicher  Reife  und 
unter  dem  Einfluß  der  Erziehung  diese  psychischen  Zwangsvor- 
stellungen wieder  unter  die  Schwelle  des  Bewußtseins  sinken.  Auf 
den  „Faust"  das  übertragen,  sei  diese  Dichtung  der  poetische 
Versuch  Goethes,  sich  von  den  ihn  beherrschenden  inzestiösen  Ge- 
danken gegen  seine  Mutter  zu  befreien.  Substituieren  wir  für  die 
Hauptpersonen  der  Tragödie  die  Personen,  die  Goethes  Denken  und 
Fühlen  beherrschten,  ergibt  sich:  Faust  =  Goethe,  Gretchen  =^ Goethes 
Mutter,  Valentin  =:  Goethes  Vater.  Was  der  Knabe  Goethe  gedacht 
und  gefühlt,  was  er  in  heißen  Nächten  vergeblich  ersehnt  hatte, 
das  läßt  er  in  seiner  Tragödie  den  Faust  tatsächlich  tun :  Goethe  = 
Faust  verführt  seine  Mutter  =  Gretchen.  Valentin  —  Goethes 
Vater  wird  getötet,  weil  er  die  verlorene  Ehre  seiner  Schwester  ==^ 
Frau  strafen  wollte!  Heißt  das  nicht,  die  höchsten  Offenbarungen 
des    Menschengeistes    einem    bloßen    Prinzip    zuliebe    einfach    aus- 


—     287     — 

löschen?  Jeder  kennt  Goethes  Gedicht  „Der  Zauberlehrling".  Nun 
kommt  der  Psychoanalytiker  Prof.  Freud,  analysiert  es  und  sein 
Ergebnis  ist:  Als  Goethe  dieses  Gedicht  schuf,  habe  er  eifrig  der 
Masturbation  gefröhnt!  Karl  Kraus,  der  bekannte  Schriftsteller,  hat 
einmal  darüber  geschrieben:  „Nervenärzten,  die  uns  das  Genie  ver- 
pathologisieren,  soll  man  mit  dessen  gesammelten  Werken  die 
Schädeldecke  einschlagen.  Nicht  anders  soll  man  mit  den  Vertretern 
der  Humanität  verfahren,  die  die  Vivisektion  der  Meerschweinchen 
beklagen  und  die  Benützung  der  Künstler  zu  Versuchszwecken  ge- 
schehen lassen.  Wer  immer  sich  zum  Nachweis  erbötig  macht,  daß 
die  Unsterbhchkeit  auf  Paranoia  zurückzuführen  sei,  allen  rationellen 
Tröstern  des  Normalmenschentums,  die  es  darüber  beruhigen,  daß 
es  zu  Werken  des  Witzes  und  der  Phantasie  nicht  inkliniere,  trete 
man  mit  dem  Schuhabsatz  ins  Gesicht,  wo  man  ihrer  habhaft  wird ! 
Aber  die  anderen,  die  modernen  Psychiatraliker,  die  uns  die  Werke 
der  Großen  auf  die  Sexualität  hin  prüfen,  lache  man  bloß  aus.  Mir 
hat  einmal  einer  den  , Zauberlehrling^  als  einen  handgreiflichen 
Beweis  für  die  masturbatorischen  Neigungen  seines  Schöpfers  ge- 
deutet. Ich  war  sittlich  entrüstet,  nicht  wegen  des  Inhalts,  aber 
wegen  der  unsäglichen  Ärmlichkeit  der  Zumutung.  Ich  fühlte,  wie 
sich  zum  legitimen  Schwachsinn  der  literaturhistorischen  Kom- 
mentatoren allmählich  ein  neuer  Wahnsinn  geselle.  Die  wissen- 
schaftlich fundierte  Stimmung  eines  Herrenabends  reklamiert  den 
Besen  des  Zauberlehrlings  —  ,oben  sei  ein  Kopf  —  für  ihre  be- 
sonderen Zwecke"  (sc.  als  Phallus),  „aber  sie  würde  gegebenenfalls 
auch  nicht  davor  zurückschrecken,  uns  den  ,Mond'  ebenso  zu  deuten 
von  dem  es  in  dem  wundervollen  Gedicht  doch  heißt,  daß  er  ,wieder 
Busch  und  Tal  füllt'/  —  „Was  fällt  Ihnen  dazu  ein?"  lautet  die 
Frage  des  psychischen  Analytikers.  Aber  wir  haben  ein  Eecht,  sie 
in  empörtem  Ton  zurückzugeben:  Was  Ihnen  nicht  einfällt!  . . .  Man 
beruhigte  mich  mit  der  Versicherung,  daß  hier  bloß  eine  Mitwirkung 
des  , Unbewußten'  bei  Goethe  angenommen  werde .. .  Die  Psychiater 
waren  nur  uneinig,  ob  hier  Masturbation  oder  Bettnässen  sublimiert 
sei. . .  Dieses  Unbewußte  eines  Dichters  ist  nun  freilich  ein  Gebiet, 
in  dem  das  Bewußtsein  eines  Mediziners  volle  Bewegungsfreiheit 
hat.  Das  ist  tief  bedauerlich.  Denn  die  psychischen  Analysen,  die 
an  einem  Privatpatienten  vorgenommen  werden,  sind  eine  Privat- 
sache zwischen  den  beiden  vertragschließenden  Teilen,   aber  Kunst- 


—     288     — 

werke  sollten  dem  Untersucher  schon  wegen  ihrer  Wehrlosigkeit 
Respekt  einflößen.  Goethe  —  irrsinnig?  In  Gottes  Namen,  daraus 
können  wir  uns  noch  etwas  herausfetzen !  Vielleicht  sinkt  die  Mensch- 
heit auf  die  Knie  und  fleht,  vor  ihrer  Gesundheit  bang,  den  Schöpfer 
um  mehr  Irrsinn  an!  Aber  die  Verurteilung  zur  Masturbation  läßt 
ein  Gefühl  der  Leere  zurück,  verzweifelnd  empfängt  man  die  Er- 
kenntnis, daß,  selbst  wenn  alle  Welt  masturbierte,  dennoch  kein 
, Zauberlehrling'  entstehen  müßte.  Und  trostlos  ist  auch  der  Gedanke, 
daß  er,  Goethe,  es  nicht  gewußt,  nicht  einmal  nachträglich  bemerkt 
hat.  Er  schrieb  den  ,Zauberlehrling'  und  wußte  nicht,  was  er  bedeute ! 
Und  man  hatte  doch  geglaubt,  daß  das  Unbewußte  eines  Goethe 
noch  immer  bewußter  sei  als  das  Bewußteste  eines  Sexualpsycho- 
logen! . . .  Ausgerechnet  den  siebenten  Tag,  an  dem  Gott  der  Ruhe 
pflegt,  benützt  der  Psychoanalytiker,  um  zu  zeigen,  daß  die  Welt 
nicht  von  Gott  sei.  Er  kann  nicht  anders.  Er  unterscheidet  sich 
vom  Teufel  dadurch,  daß  er  von  Gott  nicht  abfallen  kann,  ohne  ihn 
zu  leugnen.  Nur  so  kann  er,  was  nicht  vorhanden  ist,  behaupten: 
sein  Ich!  Helden  und  Heilige  darf  es  nicht  geben,  weil  sonst  am 
Ende  der  Schleim  lebensüberdrüssig  wäre!" 

Ein  zweites  klassisches  Musterbeispiel  psychoanalytischer  Inter- 
pretation ist  im  Anschluß  an  die  von  Goethes  « Faust"  oder  „Zauber- 
lehrling" die  des  „Oedipus  rex"  des  Sophokles.  Und  wenn  man 
erwägt,  daß  uns  von  Sophokles  keine  so  ausgezeichneten  Biographien 
zur  Verfügung  stehen  wie  über  Goethe  etc.,  so  kann  man  diesen 
Scharfsinn  der  Psychoanalytiker  nur  bewundern!  Die  Freudianer 
nämlich,  gestützt  auf  ihre  Wissenschaft,  werden  nicht  müde,  uns 
zu  versichern:  Das,  was  Ödipus  vollbrachte  (sc.  den  Vatermord,  die 
Schändung  der  eigenen  Mutter),  war  der  „unbewußte"  Wunsch 
unserer  Kindheit!  Ich  muß  gestehen,  daß  unserem  Sophokles  trotz 
des  „berüchtigten"  Verses  981:  „Wie  viele  haben  schon  einmal  im 
Traum  mit  ihrer  Mutter  sich  vergangen",  nichts  ferner  lag,  als  sein 
„Unbewußtes"  gestaltend  bewußt  zu  machen;  das  blieb  erst  den 
„Preudianern"  und  dem  durch  ihre  Schule  gegangenen  „genialen" 
Nachdichter  Sophokleischer  Kunst  Hoffmannsthal  vorbehalten,  wenn 
er   aus    diesem    einen  Sophokleischen  Vers  folgendes  gemacht   hat: 

„Des  Erschlagens  Lust 
hast  du  gebüßt  am  Vater,  an  der  Mutter 
Umarmens  Lust  gebüßt,  so  ist's  geträumt 
und    so  wird  es  geschehn!" 


—     289     — 

Wo  bleibt  da  das  Segens  wort:  „Durch  die  Wissenschaft  zur 
Gerechtigkeit?"  zur  gerechten  Beurteilung  unserer  „abnormen*' 
Genies!  Bjerre  hat  mit  seiner  ausgezeichneten  Schrift  „Der  geniale 
Wahnsinn"  Nordau,  Möbius,  Türck  et  Konsorten  fachwissenschaftlich 
widerlegt.  Oder  hat  am  Ende  denn  doch  Ernest  Renan  recht,  wenn  er  in 
einem  Briefe  an  einen  Freund  die  schicksalsschwere  Frage  ausspricht: 
„Vielleicht  ist  Geist,  vielleicht  ist  Bewußtsein  eine  Krank- 
heit, gleichwie  die  Perle  zwar  das  schönste,  glänzendste 
Produkt  der  Muschel  und  doch  die  Erkrankung  des  Muschel- 
tieres ist?"  Wir  wollen  diese  Betrachtung  mit  den  Worten  eines 
Psychiaters  schließen,  der  am  Ende  unter  dem  Druck  der  Tatsachen 
gestehen  muß  (Placzek,  1.  c.  p.  151/152):  „Doch  selbst  wenn  Forscher 
des  Nietzsche-Wagner-Problems  anderer  Ansicht  sein  mögen,  ihm 
als  echte  Freudianer  zu  Leibe  rücken  und  es  enträtselt  zu  haben 
glauben  —  enträtselt  in  dem  Sinne,  wie  es  eben  nur  die  Psycho- 
analytiker fertigbringen  —  auch  dann  sollte  eine  verständliche 
Scheu  verwehren,  solche  sexualpsychologische  Studien  in  die  Welt 
zu  setzen.  Diese  Scheu  sollte  wirksam  werden,  wenn  auch  Nietzsche 
selbst  sagt:  ,Heute  gilt  es  uns  als  eine  Sache  der  Schicklichkeit, 
daß  man  nicht  alles  nackt  sehe,  nicht  bei  allem  dabei  sein,  nicht 
alles  verstehen  und  »wissen«  wolle.'  Und  derselbe  Nietzsche  fährt 
fort:  ,Man  sollte  die  Scham  besser  in  Ehren  halten,  mit  der  sich  die, 
Natur  hinter  Rätsel  und  bunte  Ungewißheiten  versteckt  hat.  Vielleicht 
ist  die  Wahrheit  ein  Weib,  das  Gründe  hat,  ihre  Gründe  nicht 
sehen  zu  lassen.'"  (Paul  Bjerre  scheint  mir  in  seinem  aus- 
gezeichneten Buche  „Der  geniale  Wahnsinn"  bezügUch  Nietzsches 
eher  das  Richtige  zu  treffen,  wenn  er  sagt:  „Nietzsche  waren  die 
paralytischen  Rauschzustände  die  höchste  Inspiration.  Die  Degeneration 
macht  die  Persönlichkeit  und  den  Blick  für  das  Leben  frei  und  trägt 
zum  Auslösen  der  Kräfte  der  Persönlichkeit  bei.  Was  im  Innern 
des  Menschen  entfesselt  wurde,  hat  auch  zur  Auslösung  welt- 
gestaltender Kräfte  geführt.  Was  durch  die  Entwicklung  freigemacht 
wurde,  kommt  zum  Dasein,  etwas,  das  über  Raum  und  Zeit  erhaben 
ist,  etwas  Ewiges.") 


Griefier,  Wagner  und  Nietzsche.  jg 


XIX.  NIETZSCHE  UND  FRAU  COSIMA  WAGNER. 

Nach  diesen  Bemerkungen  wollen  wir  uns  nun  der  Besprechung 
des  Stekelschen  Aufsatzes  zuwenden  und  untersuchen,  inwiefern  sein 
Maßstab  als  Kriterium  für  die  Beurteilung  Nietzsches  als  Mensch 
und  Denker  gelten  darf.  Stekels  Annahme,  Nietzsche  sei  „ein 
genialer  Verräter"  ist  allein  schon  ein  deutlicher  Beweis  dafür, 
daß  er  als  Psychoanalytiker  mit  einem  fertigen  Maßstabe,  mit  einer 
gebundenen  Marschroute  in  ein  ihm  gänzhch  unbekanntes  Reich 
sich  begibt:  darum  kann  Nietzsches  ethische  Rechtfertigung 
seines  Verrates,  wie  durch  divergierende  EntwicklungsHnien,  für 
Stekel  a  priori  nicht  ausreichend  sein:  und  da  Nietzsche  tatsächlich 
in  geistige  Umnachtung  fiel,  sein  Geistesleben  wirklich  zerrüttet 
ward,  muß  Nietzsche  schon  frühzeitig,  bereits  zu  einer  Zeit,  wo 
noch  kein  Mensch  sein  schreckUches  Ende  auch  nur  ahnen  konnte, 
Symptome  einer  geistigen  Erkrankung  aufgewiesen  haben :  G-rößen- 
wahn!  Von  dem  Wunsche  beseelt,  etwas  Großes  zu  werden,  etwas 
Exzeptionelles  zu  leisten,  mußte  Nietzsche,  der  als  Philosoph  natür- 
lich seinen  Beruf  verfehlt  hatte,  sobald  er  mit  Wagner  bekannt 
wurde,  selbstverständlich  auf  dessen  musikalisches  Können  eifer- 
süchtig geblickt  haben,  da  er  jetzt  — ■  freilich  zu  spät!  —  erkannte, 
welch  großes  Gebiet  einer  wirkungsvolleren  Tätigkeit  er  sich  durch 
falsche  Neigung  habe  entgehen  lassen.  Das  menschliche  Motiv  für 
Nietzsches  Abfall  von  Wagner,  das  bisher  noch  niemand  so  recht 
zu  betonen  wagte,  ist  also  ein  sehr  gewöhnliches,  allzumenschliches : 
Neid,  hervorgegangen  aus  Größenwahn !  Darum  war  auch  Nietzches 
Liebe  zu  Wagner  keine  echte,  sondern  nur  eine  erkünstelte:  er 
liebte  Wagner  lediglich  zu  dem  Zwecke,  um  sich  über  seinen  tief 
wurzelnden  Neid  hinwegzutäuschen!  Je  mehr  Wagners  Ruhm  als 
Musiker  wuchs,  desto  mehr  mußte  ihn  Nietzsche  beneiden,  desto 
eifriger  verlegte  er  sich  selbst  aufs  Komponieren,  ließ  sich  jedoch 
durch    die    absprechendsten   Urteile,    auch   von    des  Meisters  Seite, 


—     291     — 

über  seine  Leistungen  als  Musiker  nicht  beirren,  er  blieb  dem  Meister 
derselbe  ergebene  Freund,  der  er  früher  war;  weil  er  aber  nicht 
mehr  ihn  Heben  konnte  —  denn  wer  liebt  seinen  Rivalen?  —  ließ 
er  seine  Liebe  auf  das  von  Wagner  geliebte  Wesen,  auf  dessen 
Gattin,  überspringen.  Und  indem  er  alle  seine  Freunde  mit  Wagner 
bekannt  machte,  damit  auch  diese  ihn  liebten,  gesellt  sich  zum 
ersten  Symptom  des  geistig  nicht  mehr  ganz  normalen  Nietzsche 
folgerichtig  das  zweite:  abnormes  geschlechtliches  Emp- 
finden! Als  durch  und  durch  femininer  Geist  war  er  zur  Homo- 
sexualität prädestiniert,  die  sich  in  seiner  Unfähigkeit  zu  dauernder 
heterosexueller  Liebe  am  stärksten  ausspricht.  Aber  mit  dieser  Be- 
hauptung schuf  Stekel  einen  Widerspruch :  Wie  kann,  so  fragen  wir 
nämhch,  dieser  dem  weiblichen  Geschlecht  a  priori  abholde  Mann, 
dem  Wagner  vom  ausschließlichen  Umgange  mit  Männern  ernstlich 
abraten  muß,  mit  einem  Male  in  Liebe  zu  Wagners  Frau  entbrennen? 
Einer  näheren,  sich  auf  Tatsachen  stützenden,  beweisenden  Beant- 
wortung dieser  Frage  weicht  Stekel  vorsichtig  aus;  die  Anführung 
der  Tatsache,  daß  Frau  Cosima  die  einzige  Frau  gewesen  sei,  die 
Nietzsche  imponiert  habe,  kann  doch  unmöglich  als  Beweis  für  eine 
Liebe  Nietzsches  zu  ihr  gelten!  Er  weist  lediglich  auf  die  gewiß 
unbestreitbare  Tatsache  hin,  daß  Nietzsches  Liebe  zu  Wagner  dessen 
stärkstes  Erleben  gewesen  sei:  ganz  seltsamer  Glanz  fiel  durch 
dieses  Verhältnis  in  Nietzsches  Jugend  und  er  lernte  damals  aus 
vollem  Herzen  kennen,  was  er  später  verlernen  mußte:  ver- 
ehren! Aber  nun  erfahren  wir  zu  unserem  größten  Erstaunen,  daß 
nicht  so  sehr  die  Eifersucht  und  der  Neid  auf  Wagners  Künstlertum 
Nietzsche  bewogen,  Wagner  zu  lieben  und  zu  verehren,  sondern 
vielmehr  seine  eifersüchtige  Liebe  zu  Cosima!  Aber  diese  Liebe 
Nietzsches  zu  Cosima  ist  nach  Stekel  nicht  wahre  heterosexuelle 
Liebe,  sondern  eine  Maske  für  die  bereits  an  Nietzsche  konstatierte 
Homosexualität,  und  diese  wiederum  eine  Folge  seiner  Hysterie. 
Was  berichten  die  Tatsachen  über  diese  angebliche  Liebe  Nietzsches 
zu  Cosima  Wagner')? 


^)  Interessant  sind  die  Ausführungen  eines  anderen  Psychiaters,  mag 
er  auch  zu  ganz  anderen  Ergebnissen  als  Stekel  gelangen.  So  können  wir 
beiMöbius  (I.e.  p.  48/49)  wörtlich  lesen:  „Bei  Freundschaft  mit  unbewußtem 
geschlechtlichem  Hintergrunde  ist  im  Bewußtsein  gar  nichts  von  Geschlecht- 
lichkeit, ja   der  Gedanke  daran  würde  Entrüstung  hervorrufen.   Ich  betone 

19* 


—     292     — 

In  seiner  Wagnerbiographie  berichtet  Julius  Kapp,  „daß  außer 
der  durch  die  divergenten  Entwicklungslinien  der  beiden  Männer 
bedingten  Gegnerschaft  auch  ein  privater  Grund  vorlag,  der  sie  als 
Menschen  auseinanderbrachte,  dies  bezeugt  ein  Brief  Wagners  an 
Nietzsches  Arzt  Dr.  Eiser  aus  dem  Jahre  1877,  der  sich  seines 
intimen  Inhaltes  wegen  der  Veröffentlichung  entzieht".  Glasenapp 
berichtet  über  diesen  Brief  nur  so  viel,  daß  er  einen  Bericht  über 
Nietzsches  Gesundheitszustand  enthalten  habe.  Beiart  wirft  nun  die 
Frage  auf,  ob  nicht  dieser  Brief  mit  der  „Ariadne frage"  im  Zu- 
sammenhange stehe??  —  Im  Jahre  1889,  kurz  nachdem  Nietzsches 
geistiger  Zusammenbruch  erfolgt  war,  sandte  er  einen  Zettel  an 
Frau  Cosima:  „Ariadne,  ich  liebe  dich!"  Ebenso  findet  sich  in  einem 
Briefe  an  Prof.  Burckhardt  folgende  merkwürdige  Stelle  als  Post- 
skriptum: „Der  Rest  für  Frau  Cosima,  Ariadne;  von  Zeit  zu  Zeit 
wird  gezaubert!"  Aber  bereits  im  „Ecce  homo"  spricht  Nietzsche 
von  einer  Ariadne.  Er  selbst  hat  an  dieser  Stelle  Zarathustras 
herrliches  Nachtlied  zitiert  und  fährt  dann  fort:  „Dergleichen  ist 
noch  nie  geUtten  worden !  So  leidet  ein  Gott,  ein  Dionysos  . . .  auch 
noch  die  tiefste  Schwermut  eines  solchen  Dionysos  wird  noch 
Dithyrambus;  die  Antwort  auf  einen  solchen  Dithyrambus  der 
Sonnenvereinsamung  im  Lichte  wäre  Ariadne.  Wer  weiß  außer  mir, 

das  deshalb,  weil  wiederholt  bei  Nietzsche  ein  gewisser  Grad  von  Verkehning" 
(sc.  des  normalen  Geschlechtstriebes,  der  HeterosexuaUtät,  ins  Homosexuelle) 
„vermutet  worden  ist,  weil  insbesondere  seine  innige  Freundschaft  mit 
einigen  Schülern  in  Basel  diese  Meinung  unterhalten  hat.  Soweit  ich  die 
Sache  beurteilen  kann,  ist  die  Vermutung  unberechtigt.  Man  kann  Nietzsches 
Empfinden  nur  insofern  abnorm  nennen,  als  die  Wirkung  des  anderen  Ge- 
schlechts auf  ihn  schwach  war.  Er  empfand  rein  körperlich  wohl  ebenso 
wie  andere  Leute,  aber  es  fehlte  der  starke  seeHsche  Trieb  zum  Weibe,  der 
den  gesunden  Mann  zur  Hingabe  an  ein  Weib  zu  nötigen  pflegt.  Diese  Freiheit 
von  dem  den  meisten  gefährlichen  Zauber  verlieh  ihm  eine  gewisse  Un- 
befangenheit dem  weiblichen  Geschlechte  gegenüber  und  betähigte  ihn  früh- 
zeitig zu  einem  kalten  und  richtigen  Urteile  über  die  Weiber."  Von  wannen 
dieser  seltsame  Widerspruch  in  den  Forschungsergebnissen  zweier  solcher 
Kapazitäten?  Wir  antworten  abermals  mit  Dr.  Hermann  Kraßna: 

„So  oft  ich  den  Geist  rief 

der  Psychiatrie, 

Psychiater  sind  kommen, 

der  Geist  jedoch  nie !" 
Wenn  also  schon  die  „Sachverstandigen"  so  reden,   wie  müssen  dann 
erst  die  „schwachverständigen"  Laien  roden! 


^    293     — 

wer  Ariadne  ist;  von  allen  solchen  Rätseln  hatte  niemand  bisher 
die  Lösung,  ich  zweifle,  daß  je  jemand  hier  auch  nur  Rätsel  sah!" 
Aus  den  Dionysosdithyramben  und  ganz  besonders  aus  einer  Auf- 
zeichnung in  der  „Genealogie  der  Moral"  gehe  unzweideutig 
hervor,  daß  Nietzsche  unter  Ariadne  nur  Frau  Cosima  verstanden 
haben  konnte.  Auf  diese  Tatsache  weist  schon  C.  A.  Bernoulli  hin. 
Nach  dem  Mythos  verhebte  sich  Ariadne,  die  Tochter  des  Königs 
Minos  von  Kreta,  in  Theseus,  der  sich  als  Tribut  für  den  Minotauros 
auf  Kreta  hatte  landen  lassen.  Sie  gab  ihm  einen  Faden,  mittels 
dessen  Theseus  nach  Erlegung  des  Minotauros  aus  dem  Labyrinthe 
hatte  flüchten  können.  Ariadne  floh  sodann  mit  Theseus,  wurde  jedoch 
von  diesem  auf  der  Insel  Naxos  verlassen.  Dionysos  fand  die  Verlassene 
und,  von  ihrer  Schönheit  bezaubert,  vermählte  er  sich  mit  ihr.  Ber- 
noulli sagt:  „Der  Gewinn  seines  Tribschener  Erlebnisses  war  Nietzsches 
rein  subjektives  Geschenk  seiner  Dionysoskonzeption  als  einer  tiefsten, 
eigensten  Erfahrung.  Als  sich  sein  erlöschendes  Ichbewußtsein  aus- 
breitete zur  Dionysosinkarnation,  wurde  ihm  der  unvergeßliche 
Schatten  dieser  Frau  (sc.  Cosima)  zur  Vision  der  Dionysosbraut . . . 
die  Lösung  des  Ariadnerätsels  ist  ausschließlich  biographischer 
Natur!"  Nietzsches  Ariadne  in  den  Mund  gelegte  Bemerkungen: 
„Theseus  wird  absurd,  Theseus  wird  tugendhaft  . . .  das  ist  meine 
letzte  Liebe  zu  Theseus,  ich  richte  ihn  zugrunde",  sein  Spott,  daß 
Theseus-Wagner  keinen  Faden  mehr  hat,  mittels  dessen  er  sich 
aus  dem  Labyrinth  der  Ariadne,  in  das  er  sich  verirrt  hat,  retten 
kann;  Ariadnes  Antwort,  daß  an  ihr  alle  Helden  zugrunde  gehen; 
sie  wolle  die  Liebe  des  zum  Kreuze  zurückgekehrten  Helden  nicht 
mehr,  besagen  jedoch  mehr  als  deutlich,  daß  Wagner  wegen  seiner 
Rückkehr  zum  Christentume  verspottet  wird,  daß  Nietzsche  auf  den 
„Parsifal"  abzielt,  daß  nach  seiner  Meinung  selbst  Ariadne  parsifal- 
müde  ward,  ihre  katholischen  Instinkte  sich  in  moralfreie  Tugenden 
verwandeln  werden,  daß  sie  Theseus-Wagner  als  Lebensverleumder 
zugrunde  richten  und  sich  mit  Dionysos-Nietzsche  vermählen  werde! 
Aus  alle  dem  erhellt  die  wohl  kaum  zu  bestreitende  Tatsache,  daß 
Frau  Cosima  in  der  Tribschener  Zeit  auf  den  jungen  Nietzsche  wohl 
den  tiefsten  und  nachhaltigsten  Eindruck  gemacht  hat.  Damals 
äußerte  „die  königliche  Hoheit",  wie  Bernoulli  Frau  Wagner  einmal 
nannte,  keine  katholisierenden  Instinkte,  dort  atmete  ihr  Wesen, 
nach  einer  Beschreibung  der  Frau  Förster  zu  schließen,  den  ganzen 


—     294     — 

Zauber  der  Romantik,  haftete  etwas  aus  den  Salons  ihrer  Mutter, 
der  Gräfin  d* Agoult  ^),  an  ihr.  Zudem  war  Wagner  für  Nietzsche  damals 
der  große  Immoralist  und  Atheist,  der  nicht  nur  seinen  Siegfried 
und  seine  Brunhilde  das  Sakrament  der  freien  Liebe  feiern  heß, 
sondern  unbekümmert  um  eine  ganze  Welt,  ja  selbst  um  seinen 
königlichen  Freund,  es  mit  Cosima  v.  Bülpw  gefeiert  hatte.  So 
sagte  Nietzsche  noch  nach  der  Zeit  der  Trennung  von  diesem 
Wagner:  „Er  war  ein  Mensch  nach  meinem  Herzen,  so  unmoralisch, 
atheistisch,  antinomistisch ! "  Daher  wollte  Nietzsche  „um  keinen 
Preis  die  Tage  von  Tribschen  aus  seinem  Leben  weghaben,  Tage 
des  Vertrauens,  der  Heiterkeit,  der  sublimen  Einfälle!"  Daß  diese 
geistig  hochstehende  Dame  den  Verkehr  ihres  Gatten  mit  Nietzsche 
auf  das  anregendste  zu  gestalten  verstand,  daß  sich  Nietzsche  in 
Wagners  gastlichem  Hause,  wo  man  seinen  Ideen  mit  feinem  Ver- 
ständnisse entgegenkam,  wohl  fühlte,  das  ist  ja  menschlich  begreiflich 
und  nachfühlbar.  Es  ist  rührend,  zu  lesen,  mit  welcher  Liebe  die 
Kinder  dieses  Künstlerpaares  an  dem  „Fressor  Nützsche"  hingen  und 
mit  welch  zärtlicher  Sorgfalt  dieser  auf  die  Erfüllung  ihrer  Wünsche 
bedacht  war.  Und  warum  sollte  Nietzsche  dieser  einzigen  Frau,  die 
nicht  nur  eine  gute  Mutter,  sondern  auch,  was  ihre  Hingabe  an 
Wagner  und  dessen  Lebenswerk  betrifft,  die  treueste  Gattin  war, 
nicht  ein  tiefes  und  treues  Gedenken  bewahrt  haben?  So  schrieb  er 
noch  im  Jahre  1880  an  Malwida:  „Frau  Wagner,  Sie  wissen,  es  ist 
die  sympathischeste  Frau,  der  ich  im  Leben  begegnet  bin."  Aus 
dem  Jahre  1883  stammt  folgender  Briefentwurf,  den  Nietzsche  an- 
läßlich Wagners  Tode  an  Frau  Cosima  verfaßte:  „Sie  haben  einem 
Ziele  gelebt  und  ihm  jedes  Opfer  gebracht;  und  über  die  Liebe  jenes 
Menschen  hinaus  erfaßten  Sie  das  Höchste,  was  seine  Liebe  und 
sein  Hoffen  erdachte!  Dem  dienten  Sie,  dem  gehörten  Sie  und  Ihr 
Name  immerdar,  dem,  was  nicht  mit  einem  Menschen  stirbt,  ob  es 
schon  mit  ihm  geboren  wurde!  So  sehe  ich  heute  auf  Sie  und  so 
sah  ich,  wenngleich  aus  großer  Ferne,  immer  auf  Sie,  als  best- 
verehrte Frau,  die  es  in  meinem  Herzen  gibt."  Im  „Ecce  homo": 
„Die  wenigen  Fälle  hoher  Bildung,  die  ich  in  Deutschland  vorfand, 
waren  alle  französischer  Herkunft,  vor  allem  Frau  Cosima  Wagner, 
bei  weitem  die    erste  Stimme   in  Fragen  des  Geschmackes,    die  ich 


*)  Bekannt  unter  dem  Namen  Daniel  Stern, 


—     295     — 

gehört  habe."  Beiart,  dessen  Gewährsmann  Bernoulli  ist,  nimmt 
jedoch  an,  daß  eine  bereits  in  der  Tribschener  Zeit  bestehende  tiefe 
Leidenschaft  Nietzsches  für  Cosima  mehr  als  wahrscheinlich  sei. 
Doch  unter  dem  Anwachsen  des  psychischen  Leidens,  das  Nietzsche 
bereits  noch  in  Tribschen  befiel  und  das,  wie  wir  sahen,  auch 
Wagner  mit  Besorgnis  um  seinen  Freund  erfüllte,  sei  diese  Leiden- 
schaft zu  erschütternder  Tragik  geworden :  Nietzsche,  der  mit  dem 
„Gast  der  Gäste"  auf  hohen  Bergen  bereits  die  Vermählung  gefeiert 
hatte,  die  Vermählung  von  Licht  und  Finsternis  —  er  feierte 
schUeßUch  die  Hochzeit  von  Dionysos  mit  Ariadne! 

Zu  ganz  anderen  Ergebnissen  führend,  sind  die  Mitteilungen 
Frau  Försteis:  Hans  v.  Bülow,  auf  den  Nietzsches  „Geburt  der 
Tragödie"  tiefen  Eindruck  gemacht  hatte,  machte  Nietzsche  seinen 
Besuch.  Nietzsche  war  bei  diesem  Besuche  sehr  verlegen;  denn 
Bülows  Besuch  fiel  in  die  Zeit,  da  den  Philosophen  die  tiefste 
Freundschaft  mit  "Wagner  verband.  Und  Frau  Cosima,  die  damals 
mit  Wagner  lebte,  war  ja  noch  Bülows  Gattin  —  wenigstens  nach 
dem  Gesetz!  Bülow  suchte  Nietzsches  Verlegenheit  dadurch  zu 
zerstreuen,  daß  er  selbst  sein  damahges  Verhältnis  zu  Wagner  und 
seiner  Frau  berührte  und  in  folgendem  Bilde  darstellte :  Cosima  war 
Ariadne;  er,  Bülow,  Theseus  und  Wagner  Dionysos.  Wie  alle 
Gleichnisse  hinkte  auch  dieses  etwas:  denn  hier  hatte  nicht 
Theseus  Ariadne  verlassen,  sondern  die  Sache  lag  umgekehrt.  Aber 
Bülow  wollte  auch  nur  ausdrücken,  daß  nach  ihm  der  Höhere,  der 
Gott,  gekommen  sei.  „Mein  Bruder  hatte  große  Freude  daran,  daß 
Bülow  seine  Erlebnisse  gewissermaßen  ins  Unpersönliche  und  My- 
thische erhob,  wenn  er  auch  einige  sehr  scharfe  Bemerkungen 
Bülows  über  die  geliebten  Freunde,  die  ihm  außerordentlich  weh 
taten,  Bülow  aber  nicht  unterdrücken  konnte,  mit  in  Kauf  nehmen 
mußte."  Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  Nietzsche  bei 
Erwähnung  seiner  Beziehungen  zu  Wagner  und  dessen  Frau  mit 
Rücksicht  auf  die  ihm  durch  den  „fromm"  gewordenen  Wagner  be- 
reitete Enttäuschung  sich  dieser  mythologischen  Nomenklatur 
Bülows  bediente.  Sehen  wir  aber  von  jeder  mythischen  Hülle  ab, 
so  ergibt  sich  folgendes,  was  Nietzsche  sicherhch  im  Sinne  gehabt 
haben  dürfte:  so  wie  Cosima -Ariadne  seinerzeit  ihren  Gatten 
Bülow  -  Theseus,  der  doch  sicher  keiner  der  Geringsten  war,  verUeß, 
mehr  angezogen  durch    das  Genie  Wagners,    wie    sie    durch  diesen 


—     296     — 

Schritt  rücksichtslos  alle  Bande  der  gesellschafthchen  Konvention 
brach  und  dadurch  einen  durch  nichts  einzudämmenden  Willen  zur 
Macht  bewies,  geradeso,  meint  Nietzsche,  sollte  Ariadne  jetzt,  wo- 
ihr  Gatte  wieder  „fromm"  geworden  war,  sich  zu  dem  neuen 
Dionysos  flüchten,  der,  geistig  größer  als  Wagner,  ihr  in  Nietzsche 
erstanden  wäre.  Selbstverständlich  ist  es  geradezu  absurd,  aus 
diesen  Worten  eine  Liebesleidenschaft  Nietzsches  für  Cosima  zu 
konstruieren. 

In  ihrem  Buche  „Der  junge  Nietzsche",  p.  292,  berichtet  Frau 
Förster  ergänzend  zu  obigem,  daß  seit  jenem  Besuche  Bülows 
Frau  Cosima  im  geheimen  Ariadne  genannt  wurde.  „Merkwürdiger- 
weise kehren  in  meines  Bruders  Entwürfen  zu  seinen  , Gesprächen 
auf  Naxos',  die  offenbar  im  Spätherbst  1885  entstanden  sind,  die 
drei  Personen  Dionysos,  Theseus  und  Ariadne  wieder  und  bedienen 
sich  ungefähr  derselben  Worte,  die  in  Wirklichkeit  von  Cosima,. 
Wagner  und  Bülow  in  den  Jahren  1871  und  1872  gesagt  worden 
sind.  Dionysos  wiederholt  genau  Wagners  eigenen  Ausspruch  in 
Hinsicht  auf  seine  mangelnde  Eifersucht  auf  Cosima:  ,Was  ich  an 
ihr  liebe?  Wie  könnte  das  ein  anderer  lieben?'  —  während 
Ariadne  die  boshaften  Worte  Bülows  auf  Cosima,  die  damals 
meinem  Bruder  so  wehe  getan  hatten,  selbst  sagt:  ,An  mir  sollen 
alle  Helden  zugrunde  gehen.'  Bülow  hatte  in  seiner  schmerzlichen 
Verbitterung  wörtlich  zu  meinem  Bruder  gesagt:  ,Frau  Cosima  hat 
mich  ruiniert,  die  wird  auch  Wagner  zugrunde  richten!'  Später, 
als  mein  Bruder  annahm,  daß  Wagner  durch  Cosimas  Einfluß  ,mehr 
Liszt  als  Wagner'  geworden  war,  so  daß  er  zu  ,seinem  Siegfried 
dessen  Parodie  Parsifal'  schuf,  kamen  ihm  Bülows  Worte  oft  in 
den  Sinn,  wohl  auch  in  jenen  projektierten  Gesprächen  auf  Naxos. 
Aber  alles  ist  dort  in  die  Sphäre  des  Symbolischen  erhoben  und  hat 
nichts  mehr  mit  den  genannten  PersönUchkeiten  zu  tun.** 

Frau  Förster,  die  Cosima  genau  kannte  und  duzte,  nennt 
diese  angebliche  Liebe  ihres  Bruders  zu  Wagners  Gattin  eine  Tor- 
heit —  und  sie  wird  wohl  für  immer  recht  haben!  Ansonsten 
hätte  das  Haus  Wahnfried,  das  durch  seine  wissenschaftlichen 
Bannerträger  über  Nietzsche  nur  Ungünstiges  verbreiten  läßt 
(cf.  Chamberlain,  Seiling,  Glasenapp),  die  Dokumente  jedoch,  die 
über  Nietzsche  Lobendes  enthalten,  entweder  bei  einem  Umzüge 
umkommen    ließ   oder    der  Veröffentlichung   konsequent  vorenthält, 


—     297     — 

sicher  Einspruch  erhoben.  Schließlich  decken  sich  mit  den  'ob- 
zitierten  Ausführungen  Nietzsches  folgende  aus  dem  „Fall  Wagner": 
^Die  anbetenden  Weiber  sind  ihr"  (sc.  der  Genies)  „Verderben.  Fast 
keiner  hat  Charakter  genug,  um  nicht  verdorben  —  ,erlöst^  zu 
werden,  wenn  er  sich  als  Gott  behandelt  fühlt :  —  er  kondeszendiert 
alsbald  zum  Weibe  .  .  .  der  Mann  ist  feige  vor  allem  ewig  Weib- 
lichen :  das  wissen  die  Weiblein  ...  in  vielen  Fällen  von  weibhcher 
Liebe,  und  vielleicht  gerade  in  den  berühmtesten,  ist  Liebe  nur  ein 
feiner  Parasitismus,  ein  Sich  -  Einnisten  in  eine  fremde  Seele,  mit* 
unter  selbst  in  ein  fremdes  Fleisch  —  ach!  wie  sehr  immer  auf 
—  des  , Wirtes'  Unkosten."  Nietzsche  war  daher  nur  konsequent, 
wenn  er  in  dem  Wagner  des  „Parsifal"  Züge  „durchaus  feminin! 
generis"  fand.  Außerdem  hatte  er  schon  kurz  nach  dem  Erscheinen 
des  Klavierauszuges  zum  „Pajrsifal"  folgende  Aufzeichnungen  gemacht: 
„Frau  Cosima  ist  das  einzige  Weib  größeren  Stils,  das  ich  kennen 
gelernt  habe;  aber  ich  rechne  es  ihr  an,  daß  sie  Wagner  verdorben 
hat.  Er  verdiente  solch  ein  Weib  nicht,  zum  Dank  dafür  verfiel  er  ihr. 
Der  ,Parsifal' Wagners  war  zu  allererst  und  anfänglich  eine  Geschmacks- 
kondeszendenz an  die  katholischen  Instinkte  seines  Weibes,  der 
Tochter  Liszts;  eine  Art  Dankbarkeit  und  Demut  von  selten  einer 
schwächeren,  vielfacheren,  leidenderen  Kreatur  hinauf  zu  einer, 
welche  zu  schätzen  und  zu  ermutigen  verstand,  d.  h.  zu  einer 
stärkeren,  begrenzteren,  zuletzt  selbst  eine  Art  jener  ewigen  Feig- 
heit des  Mannes  vor  allem  Ewigweiblichen.  Ob  nicht  alle  großen 
Künstler  bisher  durch  anbetende  Weiber  verdorben  worden  sind? 
Wenn  diese  unsinnig  eitlen  und  sinnlichen  Affen  —  denn  das  sind 
sie  fast  allesamt  —  zum  ersten  Male  und  in  nächster  Nähe  den 
Götzendienst  erleben,  den  das  Weib  in  solchen  Fällen  mit  allen 
ihren  untersten  und  obersten  Begehrungen  zu  treiben  versteht, 
dann  geht  es  bald  genug  zu  Ende;  der  letzte  Rest  von  Kritik, 
Selbst  Verachtung,  Bescheidenheit  und  Scham  vor  dem  Größeren  ist 
dahin,  von  da  an  sind  sie  jeder  Entartung  fähig.  Diese  Künstler, 
die  in  der  stärksten,  herbsten  Zeit  ihrer  Entwicklung  Gründe  genug 
hatten,  ihre  Anhängerschaft  in  Bausch  und  Bogen  zu  verachten, 
werden  unvermeidlich  das  Opfer  jeder  ersten  intelHgenten  Liebe 
oder  vielmehr  jedes  Weibes,  das  intelligent  genug  ist,  sich  in 
Hinsicht  auf  das  Persönhchste  des  Künstlers  intelligent  zu  geben, 
ihn  als  leidend  zu  verstehen    und  zu    lieben."     So  spricht  sicherUch 


—     298     — 

kein  Mann,  der  für  das  Weib,  das  er  so  schonungslos  angreift,  in 
leidenschaftlicher  Liebe  entbrannt  sein  soll! 

Der  Darstellung  Belarts  (1.  c.)  kann  ich  nicht  beipflichten, 
ebensowenig  auch  Prof.  Charles  Andler  von  der  Pariser  Universität, 
der  in  seinem  groß  angelegten  Werke  über  Nietzsche  von  der  An- 
nahme eines  platonischen  Liebesverhältnisses  Nietzsches  zu  Frau 
Cosima  ausgeht. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  solche  ganz  willkürUche  Kon- 
struktionen nichts  anderes  als  Versuche  der  frei  schaffenden  dich-* 
terischen  Phantasie  sind,  die  in  dem  Bestreben,  die  traurige  Wirk- 
lichkeit interessanter  zu  gestalten,  sie  noch  trauriger  gestaltet.  Als 
historischer  Kern  bleibt  in  allen  diesen  Fällen  Nietzsches  Verehrung 
für  Frau  Cosima  zurück.  Da  jedoch  Nietzsche  über  seinen  „Zara- 
thustra"  an  Karl  Hillebrand  schrieb:  „Alles,  was  ich  gedacht,  ge- 
litten und  gehofft  habe,  steht  darin  und  in  einer  Weise,  daß  mir 
mein  Leben  jetzt  wie  gerechtfertigt  erscheinen  will",  drängt 
sich  uns  folgende  Erwägung  auf:  Jeder  Leser  des  „Zarathustra" 
kennt  die  Gestalt  des  alten  Zauberers,  unter  dessen  Maske  niemand 
anderer  als  Richard  Wagner  eingeführt  wird.  Dieser  alte  Zauberer 
widerruft  nun  alle  seine  früheren  Anschauungen,  was  bekannthch 
in  Wirkhchkeit  bei  Wagner  nicht  eingetreten  ist,  von  Nietzsche 
aber  gewünscht  und  herbeigesehnt  wurde  ^).  Diese  Tatsache  legt  die 
Vermutung  nahe,  daß  Nietzsche,  der  sich  in  seinem  letzten 
Schaffensstadium  eifrigst  mit  der  Gestalt  des  Dionysos  beschäftigte, 
mit  der  historischen  Gestalt  der  Frau  Cosima  dasselbe  tat,  was  er 
mit  Wagner  getan  hatte:  weil  er  jetzt  die  „mystische  Narkose" 
als  notwendiges  Komplement  für  seinen  alles  zersetzenden  Zweifel 
brauchte,  verquickte  er  das  historische  Ich  der  Frau,  die  ihn  wegen 
seiner  Angriffe  auf  Wagner  hassen  mußte,  mit  dem  Idealbilde  der 
Frau,  wie  es  in  seinem  Herzen  fortlebte:  unter  dem  befreienden 
Einflüsse  des  Dionysos  widerruft  auch  sie  ihre  Feindschaft  gegen 
Nietzsche.  Denn  im  Dionysosdithyrambos  „Klage  der  Ariadne"  heißt  es: 

„All  meine  Tränen  laufen  zu  dir  den  Lauf 
und  meine  letzte  Herzensflamme,   dir  glüht  sie  auf. 
Oh,  komm  zurück,  mein  unbekannter  Gott!  mein  Schmerz! 
mein  letztes  Glück!  ..." 
(Ein  Blitz.    Dionysos  wird  in  smaragdener  Schönheit  sichtbar.) 


1)  Cf.  p.  218. 


—     299     — 

Dionysos: 
„Sei  klug,  Ariadnel  . . . 
Muß  man  sich  nicht  erst   hassen,  wenn  man  sich 

lieben  soll?  . . . 
Ich  bin  dein  Labyrinth  ..." 

Die  letzte  Zeile  kann  doch  nichts  anderes  bedeuten  als: 
ebenso  unbegreifbar,  wie  nach  dem  Erscheinen  des  „Menschliches, 
Allzumenschliches",  als  ein  Labyrinth,  in  dem  sie  sich  nicht  zurecht 
finden  konnte,  muß  Nietzsche  Frau  Cosima  auch  heute  noch  er- 
scheinen, trotz  seines  treuesten  Gedenkens  an  "Wagner,  aus  dem  er 
auch  nach  der  Zeit  der  Trennung  kein  Hehl  gemacht  hatte.  Doch 
diese  Hinweise  dürften  m.  E.  genügen,  um  in  BernouUis,  Belarts 
und  vollends  Stekels  ganz  willkürliche  Hypothesen  so  viel  Wahr- 
scheinliches zu  bringen,  das  auf  Wahrheit  berechtigten  Anspruch 
erheben  darf.  Nur  nebenbei  möchte  ich  die  Frage  aufwerfen, 
welchen  Zweck  die  Konstruktion  eines  zwischen  Nietzsche  und 
Wagners  Frau  bestehenden  Liebesverhältnisses  verfolgen  mag! 
Offenbar  doch  keinen  anderen  als  den :  die  tiefe  Verehrung,  die 
Nietzsche  Frau  Wagner  selbst  nach  dem  Tode  des  Meisters  zollte, 
begreiflich  zu  machen.  Denn  gewisse  Leute  können  und  werden  es  nie 
begreifen,  daß  ein  Mann  von  der  geistigen  Größe  eines  Nietzsche, 
wenn  er  auch  alle  seine  Mitmenschen  nur  auf  Grand  ihrer  geistigen 
Qualitäten  einzuschätzen  pflegte,  daß  ein  solcher  Mann,  betone  ich, 
mit  Wagner  aus  rein  ideellen  Gründen  sich  verfeindete,  in  dessen 
Gattin  jedoch,  wie  die  angeführten  Zitate  beweisen,  immer  noch 
und  trotz  allem  die  geistig  hochstehende  Frau  schätzte  und  ver- 
ehrte. Diesen  kleinen  Geistern  hätte  es  jedenfalls  besser  gefallen, 
wenn  Nietzsche  auch  Frau  Cosima  so  schonungslos  und  so 
systematisch  bekämpft  hätte  wie  ihren  Gatten.  Das  wäre  mehr 
sensationell  gewesen!  Aber  so  wie  die  Tristansage  zur  Erklärung 
der  zwischen  Tristan  und  Isolde  herrschenden  tiefen  Liebesleiden- 
schaft des  Liebestrankes  bedurfte  und  auch  noch  heute  bedarf,  be- 
darf umgekehrt  jene  Sorte  von  Besserwissern  der  Liebesleidenschaft, 
um  die  rein  geistigen  Beziehungen  zwischen  zwei  intellektuell  so 
hochstehenden  Menschen  sich  selbst  und  anderen  erklärlich  zu 
machen. 


XX.  DAS  „PARSIFALPEOBLEM". 

Was  nun  Stekels  Behauptung  betrifft,  es  sei  absolut  nicht  zu- 
treffend, daß  sich  Nietzsche  einzig  wegen  des  „Parsifal"  von  Wagner 
abgewendet  habe,  weil  er  in  dem  Kunstwerke  eine  Geschmacks- 
kondeszendenz des  Meisters  zu  den  katholischen  Instinkten  seines 
Weibes  erblickte,  sei  darüber  folgendes  gesagt:  Die  Abwendung 
Nietzsches  von  Wagner  ist  viel  früher  anzusetzen!  Das  Erscheinen 
des  „Parsifal"  hat  ledighch  den  äußeren  Anlaß  hiezu  gegeben,  denn 
innerlich  hatte  der  Philosoph  die  völhge  Entfremdung  bereits  längst 
gefühlt  und  durchgelitten.  Bölart  dagegen  vertritt  in  seiner  Mono- 
graphie über  die  Tragödie  Wagners  mit  Mathilde  Wesendonk  die 
Ansicht  Nietzsches.  Vielleicht  stützt  er  sich  auf  die  Tatsache,  daß 
Frau  Cosima  nach  der  Taufe  des  jungen  Siegfried  in  einem  Briefe 
an  Nietzsche  sich  äußerte,  daß  „Fidi  hoffen thch  unserem  Heilande 
treu  bis  ans  Kreuz  bleiben  werde!"  und  folgert  aus  diesen  Worten, 
daß  Frau  Cosima  eine  strenggläubige  Katholikin  gewesen  sei. 
Allerdings  soll  Wagner  über  derartige  pathetische  Bemerkungen 
seiner  Frau  mit  Vorliebe  ganz  unchristliche  und  atheistische  Be- 
merkungen gemacht  haben.  So  schrieb  Nietzsche  an  Malwida: 
„Sie  wissen  vielleicht  nicht,  wie  klug  Wagner  in  Tribschen  gegen 
mich  gewesen  ist:  er  spielte  damals  vorzüghch  den  Atheisten  — 
er  wußte,  in  welchen  Dingen  ich  keine  Halbheit  zulasse;  er  hatte 
einiges  in  der  , Geburt  der  Tragödie'  verstanden."  Und  schon 
1873  äußerte  er  über  Wagner:  „Wagner  ist  ein  moderner  Mensch 
und  vermag  sich  nicht  durch  den  Glauben  an  Gott  zu  ermutigen 
und  zu  befestigen.  Er  glaubt  nicht  in  der  Hand  eines  guten  Wesens 
zu  stehen,  aber  er  glaubt  an  sich.  Keiner  ist  mehr  gegen  sich 
ganz  ehrlich,  der  nur  an  sich  glaubt . . .  mit  einem  etwas  roman- 
tischen Christentum  würde  Wagner  harmonischer  und  glückhcher 
sein."  Dies  konnte  Nietzsche  sagen,  weil  er  selbst  trotz  seiner 
freien  Anschauungen  über  diesen  Punkt  im  persönlichen  Verkehr  so 


—     301     — 

rücksichtsvoll  und  zartfühlend  war,  daß  er  im  Gegensatze  zu 
Wagner  fremde  Überzeugungen  achtete.  Aber  wenn  Wagner,  z.  B. 
gelegentlich  seines  Zusammentreffens  mit  Nietzsche  in  Sorrent, 
diesem  gegenüber  von  seinen  christlichen  Empfindungen  erzählte 
und  ihm  seine  tiefe  Neigung  zu  den  christlichen  Dogmen  gestand, 
ja,  ihm  sogar  versicherte,  daß  die  Feier  des  heiligen  Abendmahles 
für  ihn  stets  ein  Genuß  sei,  so  erbhckte  Nietzsche  und  mit  ihm 
Bölart,  weil  es  das  Nahehegendste  war,  in  diesem  plötzUchen  Ge- 
sinnungswandel Wagners  offenbar  die  Nachwirkung  der  katholi- 
sierenden  Tendenzen  Cosimas,  die  durch  Wagners  Zusammenleben 
mit  ihr  immer  mehr  die  Oberhand  gewannen.  So  schrieb  Nietzsche 
1888:  nWie  nat  man  seit  Tribschen  den  armen  Wagner  zugleich 
verweltlicht  und  verchristlicht!  Ja,  ja,  die  Frauen!"  So 
heißt  es  auch  im  „Zarathustra":  „Und  einst  wollte  ich  tanzen,  wie 
ich  noch  nie  tanzte:  über  alle  Himmel  weg  wollte  ich  tanzen.  Da 
überredetet  ihr  meinen  liebsten  Sänger!  Und  nun  stimmte 
er  eine  schaurige,  dumpfe  Weise  an;  ach,  er  tutete  mir,  wie  ein 
düsteres  Hörn,  zu  Ohren!"  Denn  in  der  Wagn ersehen  Musik  habe 
sich  die  am  Leben  irre,  die  wieder  christlich  gewordene,  gebrochene 
moderne  Seele  ausgesungen.  Hinter  aller  scheinbaren  Glut  und 
Kraft  —  der  Klagelaut!  Ähnlich  wie  bei  jenem  großen  Bildner 
Böcklin :  hinter  Glut,  heiß  quellendem  Leben  —  am  Ende  taucht  er 
immer  wieder  auf,  der  Tod,  der  Schauer,  das  große  Fragezeichen, 
das  Nichts!  Doch  diese  Ansicht  Nietzsches  wie  Belarts  vermag  ich 
nicht  zu  teilen,  weil  sowohl  ideelle  Gründe  wie  materielle  gegen 
sie  sprechen.  So  ist  die  Frage,  ob  bei  Wagner  die  atheistischen 
oder  die  christUch-pessimistischen,  der  Erlösung  bedürftigen  Vor- 
stellungen den  tiefsten  Grund  seines  Wesens  ausgemacht  haben, 
durch  die  tatsächhche  Entwicklung  seines  Denkens  zugunsten  der 
letzteren  entschieden.  So  konnte  Wagner  selbst  bereits  in  der 
„Mitteilung  an  meine  Freunde"  schreiben:  „Wenn  in  meinen 
Werken  ein  poetischer  Grundzug  ausgedrückt  ist,  so  ist  es  die 
hohe  Tragik  der  Entsagung,  der  wohlmotivierten,  endüch  not- 
wendig eintretenden,  einzig  erlösenden  Verneinung  des  Willens", 
was  aber  nichts  anderes  ist  als  das  offene  Bekenntnis  zu  Schopen- 
hauer, dem  christianissimus  omnium  philosophorum.  Th.  Lessing 
fand  dafür  das  schöne  Wort:  „Wagner  wollte  von  der  Erde  zum 
Himmel,    Nietzsche    vom   Himmel    zur    Erde.     Da   fanden  sie  sich 


—     302     — 

einen  Augenblick  auf  ihrem  Wege.  Wagner  war  müde  des  Vielen, 
was  er  gelebt  und  gesehen  hatte.  Sein  letztes  Schaffen  war  ein 
Reich,  das  nicht  von  dieser  Welt  ist.  Aber  er  brachte  die  reif 
und  müde  machende  Erfahrung  reichen  Erlebens  mit  sich.  Nietzsche 
aber,  unter  Büchern  und  Idealen,  wußte  nichts  von  jenem  Welt- 
leben. Seine  Jugend  verlief  unter  den  stillen  Kreisen  gelehrten 
Mittelstandes.  Aber  er  kam  herab  aus  jenem  Reiche,  das  nicht 
von  dieser  Welt  ist.  Dort  war  er  eigentlich  zu  Hause.  Und  nun 
sah  und  liebte  der  feine,  zarte,  keusche,  liebe  Mensch  mit  inniger 
Hingabe  in  Wagner  den  Starken,  der  das  laute,  verworrene  Leben 
beherrscht.  So  fanden  sich  Jüngling  und  Mann,  jeder  auf  dem 
Wege,  dem  der  andere  entfloh."  Aber  eben  durch  Schopenhauer 
ließ  sich  Wagner  in  einen  Quietismus  verstricken,  daß  er  von  der 
göttlichen  Höhe  seines  Sehertums  den  Weg  nicht  mehr  zurückfand 
ins  wirkliche  Leben.  Auf  der  obersten  Stufe  seiner  Erkenntnis 
zeigt  er  sich  als  Weltweiser  zugleich  und  als  Kind:  er  wird  das 
wieder,  was  er  vor  dreißig  Jahren  war  —7  ein  Schwärmer!  Und  in 
diesen  Mystizismus  des  alten  Wagner  ist  der  letzte  Nietzsche  am 
Ende  selbst  gefallen,  aber  mit  dem  Unterschiede,  daß  er  Nietzsche 
zum  beseligendsten,  die  Rätsel  des  Lebens  tatsächlich  lösenden  Er- 
lebnisse ward!  Frau  Försters  Ansicht,  daß,  wenn  Wagner  zu 
Nietzsche  in  aller  Schlichtheit  und  Aufrichtigkeit  gesagt  hätte:  „In 
diesem  christlichen  Mittelalter  mit  seinem  gesteigerten  religiösen 
Empfinden  liegen  für  einen  Künstler  starke  Antriebe  vor,  sie  künst- 
lerisch-musikalisch zu  gestalten**,  wenn  Wagner  mit  stolzer  Heiter- 
keit und  etwas  Schelmerei  ihm  gesagt  hätte:  „Jetzt  will  ich  einmal 
diese  Zeitempfindung  in  Musik  setzen!",  Nietzsche  dies  sehr  wohl 
begriffen  und  ihm  zugestimmt  haben  würde,  hat  ja  etwas,  das 
nicht  unterschätzt  werden  soll,  für  sich:  Nietzsches  Einwürfe  gegen 
den  „Parsifal"  beziehen  sich  nicht  so  sehr  auf  das  Drama  als 
musikalisches  Kunstwerk,  sondern  vielmehr  auf  die  Person 
des  Schöpfers  und  die  Tendenzen,  die  er  mit  dem  „Parsifal"  ver- 
trat. Deshalb  hat  es  auch  Rohde  beim  „Parsifal",  soweit  dieses 
Werk  andere  als  rein  künstlerische  Zwecke  verfolgte,  nicht  über 
sich  gewonnen,  dem  Meister  Gefolgschaft  zu  leisten;  er  war  gleich 
Nietzsche  nie  in  dem  Sinne  Wagnerianer,  daß  er  sich  in  seinen 
persönlichen  Überzeugungen  hätte  binden  lassen.  Doch  ganz 
anders  zu  bewerten  sind  die  Gründe  materieller  Natur !  Frau  Förster 


—     803     — 

erwähnt,  daß  Nietzsche,  der  stets  bei  jedem  Menschen  seine  auf- 
richtige Gesinnung  schätzte  und  daher  aus  seiner  Hochachtung  für 
Christen,  die  sich  aus  innerster  Überzeugung  zu  Christum  be- 
kannten, niemals  ein  Hehl  machte,  es  nie  für  möghch  halten  wollte, 
daß  ein  Mensch,  der  so  wie  Wagner  bis  in  die  letzten  Konsequenzen 
sich  zum  Atheismus  bekannt  hatte,  nun  mit  einem  Male  reuig  wieder 
zurückkehre  zu  dem  frommen,  naiven  Glauben.  So  äußerte  sich 
Nietzsche  über  jene  Christen,  die  sich  das  im  „Parsifal"  vertretene 
Christentum  gefallen  ließen:  „Ich  bewundere,  anbei  gesagt,  die  Be- 
scheidenheit der  Christen,  die  nach  Bayreuth  gehen.  Ich  selbst 
würde  gewisse  Worte  nicht  aus  dem  Munde  eines  Wagner  aus- 
halten. Es  gibt  Begriffe,  die  nicht  nach  Bayreuth  gehören . . .  Wie  ? 
ein  Christentum,  zurechtgemacht  für  Wagnerianerinnen,  vielleicht 
von  Wagnerianerinnen  —  denn  Wagner  war  in  alten  Tagen  durch- 
aus feminin!  generis  — ?  Nochmals  gesagt,  die  Christen  von  heute 
sind  mir  zu  bescheiden!"  Nun  ist  es  eine  leider  nicht  zu  wider- 
legende Tatsache,  daß  die  Herausgeber  der  Briefe 
Wagners  in  diesen  des  Meisters  unter  Feuerbachs  Ein- 
fluß gegen  das  Christentum  gerichteten,  oft  maßlosen 
Angriffe  zumeist  gestrichen  haben.  Der  Wagner  der  Jahre 
1849 — 1859  perhorresziert  tatsächlich  jede  Transzendenz  und  huldigt 
dem  krassesten  Atheismus.  Mit  feinem  Instinkte  witterte  Nietszche 
hinter  diesem  Gesinnungswechsel  Interessen  höchst  materieller  Art, 
deren  Erreichung  Wagner,  dem  die  finanzielle  Seite  seines  Bayreuther 
Unternehmens  stets  sehr  am  Herzen  lag,  nicht  gleichgültig  sein 
konnte.  Er  erklärte  sich  daher  Wagners  plötzliche  Wandlung  nur 
als  einen  Versuch,  sich  mit  den  fromm  gewordenen  herrschenden 
Mächten  in  Deutschland  zu  arrangieren,  zu  dem  einzigen  Zwecke: 
um  desto  sichereren  Erfolg  zu  haben.  Diese  Vermutung  knüpfte 
Nietzsche,  so  berichtet  Frau  Förster,  direkt  an  eine  Äußerung 
Wagners  an,  die  er  anläßlich  des  minimalen  effektiven  Erträgnisses 
der  Bayreuther  Festspiele  Nietzsche  gegenüber  tat:  „Die  Deutschen 
wollen  jetzt  nichts  von  heidnischen  Göttern  und  Helden 
hören,  die  wollen  was  Christliches  sehen!"  Und  das 
nannte  Nietzsche  „Schauspielerei!"  Schauspielerei  gegen  sich  selbst, 
die  ihm  Ekel  einflößte!  Ich  beschränke  mich  ledigUch  auf  die  Tat- 
sache, daß,  was  den  persönlichen  Verkehr  Nietzsches  mit  Wagner 
betreffen  mußte,    sich  dieser  von  dem    plötzlich  fromm  gewordenen 


—     304     — 

Meister  abgestoßen  fühlen  mußte,  was  schließlich  die  zwischen 
beiden  bereits  bestehende  Kluft  nur  noch  vergrößerte.  Ob  jedoch 
Nietzsche  mit  seiner  Vermutung  über  die  Genesis  des  „Parsifal" 
Wagner  unrecht  tat,  das  läßt  sich  heute  nicht  mehr  einwandfrei 
feststellen;  klar  ist  nur  so  viel,  daß  auch  der  „Parsifal''  geschrieben 
werden  mußte,  und  zwar  mit  derselben  inneren  Notwendigkeit,  wie 
etwa  der  „Tristan".  Daß  Nietzsche  das  nicht  einsehen  konnte  oder 
wollte,  hat  nicht  zum  mindesten  darin  seinen  Grund,  daß  er  die 
Person  Wagners  als  sein  tiefstes  seelisches  Erlebnis  in  vielen 
Punkten  viel  zu  subjektiv,  anstatt  objektiv,  beurteilte.  Denn  hätte 
er  nach  dem  Erscheinen  des  „Parsifal",  mit  dem  sich  der  Meister 
bekanntlich  nicht  erst  seit  gestern  beschäftigt  hatte,  den  geistigen 
Entwicklungsgang  Wagners  objektiv  beurteilt,  so  hätte  er  unfehlbar 
erkennen  müssen,  daß  all  sein  Schmerz  und  alle  seine  Entrüstung 
über  den  fromm  gewordenen  Wagner  sich  nur  aus  Beziehungen  von 
Gefühlsketten  ergebe,  die  notwendig  in  ein  Nichts  zusammen- 
fallen müssen,  während  tatsächlich  Wagners  Entwicklung  einem 
System  logischer  Beziehungen  gleichkommt,  bei  denen  eine  mit 
Notwendigkeit  aus  der  anderen  folgte;  ja,  als  feiner  Psychologe 
hätte  er  sich  sagen  müssen,  das  mußte  so  sein,  weil  Wagners 
geistiges  Wesen  gerade  so  und  nicht  anders  beschaffen  war,  aus 
sich  nicht  heraus  konnte  und  blind  wie  die  Kugel  auf  der  schiefen 
Ebene  dem  Gesetze  der  inneren  Schwerkraft  folgen  mußte. 

Und  damit  berühren  wir  eine  der  Kardinalfragen,  um  die  sich 
die  Lösung  des  Freundschaftsverhältnisses  zwischen  Wagner  und 
Nietzsche  dreht:  Spielte  der  „Parsifal"  dabei  überhaupt  eine  Rolle? 
Und  wenn  ja,  welche?  Die  extremen  Wagnerianer  behaupten  heute 
noch,  Nietzsche  habe  sich  nur  wegen  des  „Parsifal"  von  Wagner 
getrennt;  sie  motivieren  dies  damit,  daß  Nietzsche  eben  damals 
schon  wahnsinnig  gewesen  sei  und  daher  nicht  wußte,  was  er  tat. 
„Der  Wahn  brach  die  Treue!"  In  Wirklichkeit  war  Nietzsche  damals 
durchaus  nicht  wahnsinnig,  sondern  wußte  wohl,  was  er  tat:  also 
hat  er  sich  mit  der  Ablehnung  des  „Parsifal"  auch  kein  Armuts- 
zeugnis ausgestellt,  wie  wenn  er  es  in  blindem  Hasse  total  über- 
sehen hätte,  daß  der  „Parsifal"  den  krönenden  Abschluß  von  Wagners 
Schaffen  bilde.  Nun  habe  ich  bereits  den  bindenden  Nachweis  er- 
bracht, daß  Nietzsches  Trennung  von  Wagner  sich  schon  bedeutend 
früher  vorbereitete,  daß  der  „Parsifal"  die  ohnehin  schon  bestehende 


—     305     — 

Kluft  noch  weiter  aufriß  und  einfach  unüberbrückbar  machte.  Wie 
läßt  sich  dieser  auffallende  Widerspruch  —  er  besteht  aber  nur 
scheinbar!  —  lösen?  Wer  Nietzsches  Schriften  gegen  Wagner  kennt, 
weiß,  daß  er  in  ihnen  den  Meister  als  den  genialsten  Vertreter  der 
Dekadenz  bezeichnet,  d.  h.  Wagner  vereinigte  in  sich  alles,  was  das 
verflossene  Jahrhundert  an  hemmenden  Schwächen  aufzuweisen 
hatte:  Romantik  und  Mystik,  höchstes  Pathos  der  Leidenschaft  und 
trüben  Pessimismus;  letzteren  auch  als  eine  Folge  der  früher  näher 
beschriebenen  Asexualität;  ausgelassene  Sinnenlust  und  ein  mar- 
terndes Erlösungsbedürfnis,  wobei  sich  die  klaren  Grenzen  zwischen 
Diesseits  und  Jenseits  verrücken.  Über  die  Genesis  solcher  hemmender, 
pessimistischer  Faktoren  sei  folgendes  gesagt:  Je  komplizierter  die 
Kulturverhältnisse  werden,  je  mehr  Verpflichtungen  dem  Menschen 
aus  verwickelten  sozialen  Beziehungen  erwachsen,  je  mehr  er  sich 
daher  außerstande  sieht,  sie  alle  in  vollem  Umfange  zu  erfüllen, 
je  stärker  ferner  die  nervöse  Gesundheit  durch  die  Abkehr  von  der 
Instinktsicherheit  eines  naturgemäßen  Lebens  beeinträchtigt  wird, 
desto  drückender  wird  sein  Schuldbewußtsein,  wenn  er  nicht  nur  die 
zahlreichen  Übel  des  Daseins  als  Folgen  seiner  Sündhaftigkeit 
betrachten  muß,  sondern  auch  keine  Verbesserung  oder  gar  noch 
eine  Verschlechterung  seiner  Lage  im  Jenseits  zu  erwarten  hat. 
Aus  diesem  Schuldbewußtsein  und  aus  diesem  Pessimismus  heraus 
erwächst  ein  starkes  Erlösungsbedürfnis,  das  Tausende  veranlaßt, 
nachzugrübeln  über  die  Möglichkeit  einer  Rettung  der  sünd-  und 
leiderfüllten  Welt.  Und  schUeßlich  kommt  in  einer  Prophetennatur 
das  Drängen  all  der  Tausende  zum  Durchbruch.  Dabei  ist  freihch 
das  eine  bemerkenswert,  daß  die  eine  große  Frage,  wie  die  große 
Erlösung  zu  gewinnen  sei,  eine  viel  geringere  Rolle  spielt  als  die 
Frage,  ob  es  eine  Erlösung  überhaupt  gebe.  Das  gilt  sowohl  von 
der  christlichen  wie  buddhistischen  Erlösungslehre.  Erst  Rudolf 
Lehmann  hat  in  seinem  Werke  „Schopenhauer,  ein  Beitrag  zur 
Psychologie  der  Metaphysik"  den  bindenden  Nachweis  erbracht,  daß 
zwei  große  Strömungen  zu  Beginn  des  XIX.  Jahrhunderts,  Ratio- 
nalismus und  Romantik,  auf  Schopenhauer  —  ich  möchte  er- 
gänzen: auch  auf  Wagner  —  ihren  Einfluß  ausgeübt  haben.  Denn 
echt  rationalistisch  ist  beider  Männer  wenig  entwickelter  historischer 
Sinn  und  ihr  Verständnis  für  das  Individuelle.  Romantisch  das 
Streben  beider,    das  Rätsel  des  Lebens    von   innen  heraus  lösen  zu 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  20 


—     306     — 

können,  und  die  Gefühlsethik,  die  in  ausgesprochenem  Gegensatz 
zu  Kants  Lehre  von  der  praktischen  Vernunft  steht.  Daneben  steht 
Schopenhauer  unverkennbar  unter  dem  Einflüsse  Spinozas,  dem  er 
seinen  modifizierten  Monismus  verdankt,  der  mutatis  mutandis  auch 
bei  Goethe,  Schelling  und  Schleiermacher  hervortritt.  Schopenhauer 
modifizierte  diesen  Monismus  insofern,  als  er  an  die  Stelle  der 
ästhetisch-optimistischen  Betrachtung  des  spinozistischen  Weltganzen 
die  asketisch-pessimistische  Moralbetrachtung  setzte.  Im  engsten 
Zusammenhange  damit  steht  Schopenhauers  Mystizismus,  der  die 
Seele,  Welt  und  Gott  in  eins  zusammenfaßt,  also  eine  Welt- 
anschauung, welche  unter  Verzicht  auf  die  üblichen  Erkenntniswege 
der  philosophischen  Wissenschaften  die  Menschenbrust  als  den 
lautersten  Wahrheitsquell  verehrt.  So  ist  es  begreiflich,  daß  Schopen- 
hauer in  der  Kontemplation  die  letzten  Offenbarungen  seiner  Philo- 
sophie erlebt.  Und  diese  Irrationalität,  dieser  mystische  Schleier 
umhüllt  fast  jedes  Stück  seiner  Gedankenwelt.  Es  wird  nun  ein  für 
ewige  Zeiten  merkwürdiges  Phänomen  bleiben,  daß  Wagner  ganz 
unbewußt  aus  derselben  Atmosphäre,  die  einen  Schopenhauer  um- 
gab, die  tragende  tragische  Idee  seiner  Werke  sich  geholt  hat, 
lange  ehe  er  Schopenhauers  Gedankenwelt  kannte  und  sich  dieselbe, 
so  gut  er  eben  konnte,  mit  der  gegenteiligen  Philosophie  Feuerbachs 
zurech tinterpretierte.  Ein  klassisches  Beispiel  dafür  ist  der  „Ring". 
Daneben  aber  läuft  parallel  ein  unverkennbarer  Hegelianismus,  wenn 
Wagner  an  ein  Besserwerden  des  absolut  bösen  Weltwillens 
Schopenhauers  glaubt,  also  ein  Glaube  an  den  Hegeischen  Entwick- 
lungsgedanken, der  bei  Wagner  trotz  seines  ausgesprochenen  Pessi- 
mismus den  Regenerationsgedanken  zeitigte.  Eine  Tatsache,  die 
beweist,  daß  Wagner  alles  andere  eher  war  denn  ein  —  Philosoph, 
was  auch  Schopenhauer  nach  der  Lektüre  der  ihm  übersandten 
„Ring "-Dichtung  klar  erkannt  hat. 

Das  also  sind  die  Fundamente,  auf  denen  sich  Wagners  Kunst- 
werke aufbauen,  das  sind  die  Ideen,  denen  er  durch  seine  Musik 
suggestive  Kraft  verlieh.  Nicht  nur  Nietzsche  allein,  sondern  — 
um  nur  einen  zu  nennen  —  kein  Geringerer  als  Friedrich  Jodl 
nannte  „diese  Zukunftsmusik  des  Protestanten  und  Freimaurers  die 
Reaktion";  glaubte  doch  Wagner  felsenfest,  daß  seine  Musik  allein 
erlösen  könne;  durch  sie  wurde  in  den  gleißenden  Farben  des  Fort- 
schritts die  Ursünde  des  XIX.  Jahrhunderts,  seine  geistige  Trägheit 


—     307     — 

und  Genußsucht,  zum  künstlerischen  Prinzip  erhoben.  Nun  ist  es 
einerseits  klar,  daß  Nietzsche  wegen  des  „Tristan",  der  ;, Meistersinger" 
und  einiger  Akte  aus  der  „Ring "-Tetralogie  Wagners  uneingeschränkter 
Bewunderer  wurde  und  blieb,  während  er  den  anderen  Werken  des 
Meisters  gegenüber  sich  ziemlich  reserviert,  ja  ablehnend  verhielt'). 
Anderseits  aber  ist  es  ebenso  klar,  daß  der  „Parsifal"  nur  den  folge- 
richtigen Schlußstein  in  Wagners  Kunstschaffen  bildet.  Ragt  er  doch 
schon  seiner  Entstehung  nach  in  die  „Tannhäuser"-  und  „Tristan "-Zeit 
hinein  und  besteht  ein  ideeller  Zusammenhang  zwischen  den 
Gestalten  des  Tannhäuser-Tristan- Amfortas ;  Venus-Klingsor- Alberich ; 
Venusberg-Klingsors  Zaubergarten.  Nietzsche  hätte  also  sämtliche 
Werke  Wagners  verwerfen  müssen,  denn  der  Grundgedanke  der 
Entsagung  ist  ihnen  allen  gemeinsam.  Indessen  ist  diese  Antinomie 
zwischen  Nietzsches  Werturteilen  nur  eine  scheinbare :  Bedenkt  man 
nämlich,  daß  z.  B.  „Meistersinger"  und  „Tristan"  auf  ein  rein  persön- 
liches Erleben  ihres  Schöpfers  zurückgehen,  daher  trotz  ihres  schein- 
bar typischen  künstlerischen  Gehaltes  ganz  individuelles  Leben 
atmen,  ohne  eine  wie  immer  geartete  Tendenz  zu  vertreten,  so 
war  es  nur  recht  und  bilHg,  daß  Nietzsche  diese  beiden  Werke  als 
die  vollendetsten  pries;  sind  sie  doch  geschaffen  aus  dem  seligen 
Gefühle  des  Unbewußten.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  „Ring" : 
die  Gestalt  Siegfrieds,  dessen  Gegenteil  später  der  Parsifal  wurde, 
entsprach  nämlich  nur  zu  sehr  dem  damaligen  Wagner,  und  der 
„Immoralist"  Nietzsche  sah  in  Siegfried  sein  und  des  Meisters  Ideal 
verwirkHcht.  Anders  aber,  ganz  anders  liegt  die  Sache  beim  „Parsifal" ! 
Wenn  man  sich  vor  Augen  hält,  daß  in  die  achtziger  Jahre  des 
verflossenen  Jahrhunderts  die  deutsche  Hochdekadenz  fällt,  daß  man 
nicht  nur  am  rehgiösen  Prinzipe  starr  festhielt,  sondern  selbst  im 
protestantischen  Lager  mit  dem  Katholizismus  zu  liebäugeln  begann, 
so  ist  der  Künstler  Wagner  an  diesen  Zeiterscheinungen  nicht 
gedankenlos  vorübergegangen  —  in  seinem  Geiste  bespiegelten  sich 
die  Zeiten!  — ,  so  zeigte  er  sich  mit  der  Schöpfung  des  „Parsifal" 
wiederum  als  der  echte  Künstler,  als  der  bewunderungswürdige 
Spiegel,  durch  den  wir  in  die  tiefsten  Herzensfalten  der  damahgen 
Zeit  hineinblicken  können ;  denn  alle  Kunst  ist  nur  ein  Gleich- 
nis. Ob  aber  dabei,  wie  Frau  Förster  meint,  auch  materielle  Gründe 


')  Cf.  p.  180,  181;  254. 

20' 


—     308     — 

mitgespielt  haben,  diese  Frage  wollen  wir  lieber  unerörtert  lassen. 
Tatsache  ist,  daß  eine  beredtere,  gewaltigere  Apologie  des  katho- 
lischen Kultus^)  in  Deutschland  noch  nie  geschrieben  worden  ist 
als  mit  dem  „Parsifal"  von  Richard  Wagner.  Man  kann  nur  staunen 
vor  dieser  Macht  der  künstlerischen  Phantasie  bei  einem  Manne, 
der  selber  nicht  KathoHk  gewesen  ist  und  es  doch  verstand,  alle 
äußeren  Mittel  dieses  Glaubens  in  einem  Brennpunkte  zu  sammeln. 
Der  Zauber,  mit  dem  man  in  Bayreuth  durch  musikalische  und 
szenische  Kunst  umfangen  wird,  ist  so  groß,  daß  man  keine  Zeit 
übrig  behält,  um  auf  das  grob-materialistische  und  mittelalterlich- 
kathohsche  Blendwerk  zu  reflektieren,  mit  dem  der  Erlösungs- 
gedanke im  „Parsifal"  umgeben  wird.  Daß  der  Kunst  der  damaligen 
Tage  eine  derartige  Wiederbelebung  religiöser  Stoffe  gelang,  das  gab 
nicht  nur  Nietzsche,  das  gab  auch  Jodl  und  vielen  anderen  zu 
denken,  Theologen  katholischen  oder  evangelischen  Bekenntnisses: 
War  es  bloß  ein  Nachklang  einer  früheren  Zeit?  War  es  nur  ein 
Vorspiel  neuer  Liebe?  Mit  ungemein  feiner  Witterung  hat  Nietzsche 
das  fremdartig  betäubende  Parfüm,  das  Narkotische,  Entnervende, 
das  von  Schopenhauers  Ethik  und  Wagners  Kunst  ausgeht,  heraus- 
gefühlt, die  ungeheure  Gefahr  für  die  deutsche  Kultur,  welche  in 
dieser  kathohsierenden  Wendung  der  größten  Kunstmacht  der  Gegen- 
wart lag,  das  Erschlaffende,  welches  eine  buddhistische  Mitleidslehre 
und  das  Dogma  von  der  unheilbaren  Trostlosigkeit  der  Welt  mit 
sich  bringen  müßte.  Wehe  denen,  die  da  wollen,  daß  wir  den 
Künstler  in  Wagner  vergessen  und  nur  den  Propheten  ver- 
ehren sollen!  So  liegt  in  Nietzsches  Urteilen  über  Wagners  Kunst- 
werke durchaus  kein  Widerspruch:  er  blieb  nur  konsequent,  wenn 
er  den  „Parsifal"  wegen  der  in  ihm  klar  zum  Ausdruck  gebrachten 
Tendenz  bekämpfte.  Dem  Künstler  Wagner,  der  einen  „Parsifal" 
schrieb,  ließ  er  volle  Gerechtigkeit  widerfahren;  so  schreibt  er  an 
Peter  Gast  nach  Anhörung  des  „Parsifal" -Vorspieles  (21.  Jänner  1887): 
„Abgesehen  von  allen  unzugehörigen  Fragen  (wozu  solche  Musik 
dienen  kann  oder  etwa  dienen  soll?),  sondern  rein  ästhetisch 
gefragt:    hat  Wagner   je  etwas  besser  gemacht?   Die    allerhöchste 


^)  Cf.  Prälat  Dr.  Kluger:  „R.  Wagners  ,Parsifal'  als  rehgiöses  Kunst- 
werk", der  in  katholischem  Sinne  interpretiert,  während  der  Jesuitenpater 
E.  Hemmes  („R.Wagners  ,Parsifal"0  jedwedes  katholisch-religiöse  Moment 
energisch  ablehnt. 


—     809     — 

psychologische  Bewußtheit  und  Bestimmtheit  in  bezug  auf  das,  was 
hier  gesagt,  ausgedrückt,  mitgeteilt  werden  soll,  die  kürzeste 
und  direkteste  Form  dafür,  jede  Nuance  des  Gefühls  bis  aufs  Epi- 
grammatische gebracht;  eine  Deutlichkeit  der  Musik  als  deskriptiver 
Kunst,  bei  der  man  an  einen  Schild  mit  erhabener  Arbeit  denkt; 
und  zuletzt,  ein  sublimes  und  außerordenthches  Gefühl,  Erlebnis, 
Ereignis  der  Seele  im  Grunde  der  Musik,  das  Wagner  die  höchste 
Ehre  macht,  eine  Synthesis  von  Zuständen,  die  vielen  Menschen, 
auch  höheren  ,Menschen',  als  unvereinbar  gelten  werden,  von 
richtender  Strenge,  von  ,Höhe'  im  erschreckenden  Sinne  des  Wortes, 
von  einem  Mitwissen  und  Durchschauen,  das  eine  Seele  wie  mit 
Messern  durchschneidet,  —  und  von  Mitleiden  mit  dem,  was  da 
geschaut  und  gerichtet  wird.  Desgleichen  gibt  es  bei  Dante,  sonst 
nicht.  Ob  je  ein  Maler  einen  so  schwermütigen  Blick  der  Liebe 
gemalt  hat  als  Wagner  mit  den  letzten  Akzenten  seines  Vorspieles?" 
An  Freiherrn  von  Seydlitz  schrieb  er:  „Die  Situationen  und  ihre 
Aufeinanderfolge,  ist  das  nicht  von  der  höchsten  Poesie,  ist  es  nicht 
eine  letzte  Herausforderung  der  Musik?"  Sind  das  vielleicht  Urteile 
eines  Wahnsinnigen?  Umgekehrt  kann  aber  auch  ich,  der  ich  mich 
einen  guten  Christen  zu  nennen  getraue,  unmöglich  im  „Parsifal", 
so  sehr  ich  ihn  als  Kunstwerk  schätze,  das  Endergebnis  mensch- 
lichen Strebens  und  Ringens  erblicken  oder  gar  einen  Ersatz  für 
unsere  Religion.  Nicht  durch  die  Kunst  Wagners  werden  wir  Gott 
suchen  und  finden,  wohl  aber  durch  unser  Erkennen  und  Handeln: 
Denn  in  uns  selbst  tragen  wir  das  Bild  der  Gottheit,  die  immer  nur 
die  Züge  unseres  besten  Wesens  annimmt.  Das  Himmelreich  ist  nur 
in  unserer  Liebe  und  Barmherzigkeit.  Der  wahre,  lebendige 
Christus,  das  sei  unsere  Parole,  aber  nicht  ein  auf  die  Opernbühne 
gebrachtes,  mit  Schopenhauerschen  und  buddhistischen  Lehren  ver- 
quicktes Romantikerchristentum.  Über  Nietzsches  Irrtümer  in 
der  Bekämpfung  der  Tendenz  des  „Parsifal"  zu  sprechen,  ist  hier  nicht 
der  Ort ;  mir  handelte  es  sich  nur  darum,  zu  zeigen,  daß  Nietzsche 
auch  in  diesem  Kampfe  konsequent  blieb  und,  was  das  Höchste  ist, 
sich  selbst  die  Treue  gehalten  hat. 

In  diesem  Zusammenhange  scheint  mir  aber  noch  folgendes 
äußerst  beachtenswert:  Wagner  war  sein  ganzes  Leben  hindurch  ein 
leidenschaftlicher  -  Unchrist,  dem  die  bisherige  Opernform  als  ein 
Greuel    erschienen    war,    weil   ihr  jedweder    ethische  Wert   fehlte. 


—     310     — 

Wagner  wollte  ihr  einen  neuen  Inhalt,  und  zwar  einen  rein  ethischen, 
geben,  und  das  ist  ihm  seiner  Meinung  nach  damit  gelungen,  daß 
er  alle  seine  Werke  mit  einem  Erlebnis  erfüllte,  das  nicht  sein 
individuelles,  sondern  unser  aller  Erleben  ist;  daß  er  alle  seine 
Werke  mit  seiner,  das  heißt  wiederum  mit  unserer  heißen 
Sehnsucht  nach  restloser  Lösung  der  Rätsel  dieses  Daseins  füllte. 
Aber  wenn  wir  uns  fragen,  ob  Wagner  die  Lösung  dieser  Rätsel 
so  restlos  geglückt  sei, .  wie  er  es  sich  dachte,  so  kann  die  Antwort 
nur  lauten,  daß  er  dieser  Lösung  niemals  ferner  war  als  gerade  in 
all  den  Stunden,  da  er  aus  innerster  Seele  zu  schaffen  wähnte: 
denn  Gott  war  für  Wagner  niemals  ein  so  tiefgreifendes  Erlebnis 
wie  für  Nietzsche,  den  „Feind  Gottes";  Wagner  hat  nie  so  tief 
-gelitten  an  Gott  wie  Nietzsche ;  Wagner  hat  niemals  Gott  mit  dieser 
mystischen  Sehnsucht  gesucht  wie  Nietzsche.  Deshalb  hat  Nietzsche 
m.  E.  wiederum,  wie  so  oft,  seinen  feinen  psychologischen  Instinkt 
auf  das  glänzendste  bewiesen,  als  er  die  Tendenz  des  „Parsifal"  rück- 
sichtslos ablehnte;  sein  durch  keine  Äußerlichkeiten  zu  trügendes 
Gefühl  sagte  ihm,  daß  hier  trotz  aller  gegenteiligen  Beteuerungen 
nicht  Gott  verkündet  und  verherrlicht  werde,  sondern  daß  vielmehr, 
genau  so  wie  im  „Tannhäuser",  „ein  heißer  Eros  aus  dem  nordischen 
Nebel  seine  Stimme  schicke" ;  aber  daß  die  künstlerische  Entwick- 
lung des  Meisters  von  Bayreuth  mit  seinem  letzten  Werke  in 
einem  Mysterium  endete,  das  jenen  heidnischen  Eros')  mit  dem 
Christentume  zu  einer  neuen  Einheit  verbinden  wollte,  das  konnte 
oder  wollte  Nietzsche  an  Wagner  nicht  erkennen!  Eben  weil  in 
Wagner  zeitlebens  ein  Rest  christlichen  Empfindens  lebendig  war, 
suchte  er  sein  ganzes  Leben  lang  mit  allen  Sinnen  die  Erlösung 
und  endete  in  der  —  Entsagung.  Nietzsche  hat  dieselbe  Erlösung 
gesucht  und  —  gefunden!  Doch  über  diese  tiefsten  Probleme  der 
hier  nur  angedeuteten  Wesensverwandtschaft  zwischen  Wagner 
und  Nietzsche  soll  erst  am  Schlüsse  des  Buches  ausführlich  ge- 
handelt werden. 

Mit  seiner  Behauptung  also,  daß  nicht  „die  Empörung  über 
den  Abfall  Wagners  von  der  atheistischen  Weltanschauung  Nietzsche 
zum  Gegner  Wagners  gemacht  habe",  hat  Stekel  das  Richtige 
getroffen;  nur  ist  seine  Beweisführung  eine  grundfalsche.  Die  Argu- 


1)  Sc.  germanisch-hellenischen. 


—     311     — 

mente  rein  philosophischer  Natur^  die  Auswirkung  des  philosophischen 
Triebes  in  Nietzsche,  die  man,  wie  wir  es  getan  und  auch  nach- 
gewiesen haben,  für  die  Erklärung  des  Abfalles  Nietzsches  von 
Wagner  bereits  aus  den  frühesten  Zeiten  ihrer  Freundschaft  heran- 
ziehen muß,  schiebt  Stekel  mit  kühner  Verachtung  der  Geistes- 
wissenschaften beiseite.  Das  ist  ja  begreiflich:  bei  seiner  Methode 
ist  es  ja  auch  gar  nicht  notwendig,  daß  man  sich  darum  allzu 
ängstlich  quäle: 

„Denn  eben  wo  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein. 
Mit  Worten  läßt  sich  trefflich  streiten, 
mit  Worten  ein  System  bereiten, 
an  Worte  läßt  sich  trefflich  glauben, 
von  einem  Wort  läßt  sich  kein  Jota  rauben!" 
Doch  Stekel  bleibt  konsequent!  Wie  würde,  so  fragt  er  sich  oiffen- 
bar,  zu  Nietzsches  von  Haus  aus  zerrüttetem  Gehirn  jetzt  auf  ein- 
mal die  Konzeption  einer  Weltanschauung  taugen,  die  zu  der 
Wagnerschen  im  direkten  Widerspruch  stünde?  Wer  sagt  uns  denn, 
daß  Nietzsche  wirklich  ein  Philosoph  ist?  Und  doch  war  Nietzsche, 
als  er  Richard  Wagner  kennen  lernte,  in  der  Tat  „ein  herrlicher 
Mensch",  der  Rohde  wie  „eine  neue  Offenbarung  menschlichen 
Wesens"  vorkam.  Schon  damals  lebte  in  ihm  jener  gewaltige 
Sri^Lovgyog,  der  die  Materie  so  bildete,  wie  nur  er  es  wollte.  Wer 
von  uns  armen  Sterblichen  vermag  jene  Tiefen  aufzudecken,  in 
denen  in  einer  gottbegnadeten  Menschenseele  irgendein  gütiger  ^sbg 
sein  lebendiges  Kleid  wirkt?  Mag  der  Rationalismus  und  die  Psycho- 
analyse unserer  Tage  noch  so  spitzfindig  zu  Werke  gehen:  Wieder 
Genius  in  die  Welt  gekommen,  wie  erwirkt  und  schafft,  das  sollen 
und  werden  sie  nie  uns  künden,  auch  bei  Nietzsche  nicht.  Aber 
nur  die  Wissenschaft,  welche  sich  die  Erforschung  der  Wahrheit 
zum  Ziele  gesetzt  hat,  nicht  jene  Wissenschaft,  die  Winkel  Wahr- 
heiten nachjagt,  kann  uns  dem  Genius  näher  führen,  denn  „Wissen- 
schaft", sagt  Wilamowitz,  „ist  immer  schön  und  heilig,  ewig  und 
unsterblich  gegenüber  uns  Sterblichen,  die  wir  wissen,  daß  unser 
Wissen  Stückwerk  ist.  Sie  fordert  immer  den  ganzen  Einsatz  der 
Person,  auf  daß  diese  selbst  darin  aufgehe  und  vergehe.  Wissen- 
schaft fordert  Resignation.  Aber  ein  Hochgefühl  ist  es,  das  erkannte 
Wahre  und  Göttliche  zu  verkünden  und  mit  dem  Einsätze  der 
eigenen  ganzen  Person  unmittelbar  anderen  Seelen  zuzuführen." 


—     312     — 

„Alle  bekränzen  wir  uns  mit  den  Zweigen  des  heiligen  Ölbaums 
Aus  Akademos  Bezirk!  An  des  Prometheus  Altar 
Zünden  wir  alle  die  Fackel  zum  Wettlauf!  Der  himmlischen  Muse 
Sohn  gab  allen  dazu,  Eros,  die  Weihe  der  Kraft!" 

Mit  denselben  Methoden;  die  Nietzsche  begeistert  in  den  Dienst  des 
Wagnerschen  Kulturideals  gestellt  hat,  mit  den  Forschungsmethoden 
der  Philologie,  kann  man  Nietzsches  Gedankenwelt  interpretieren 
und  erschließen,  besser  jedenfalls  als  auf  Grund  einer  vorgefaßten 
Meinung,  die  das  Endresultat  einfach  präsumiert.  Das  will  ich  im 
folgenden  tun.  Die  Interpretation  eines  Dokumentes  der  mensch- 
lichen Geistesgeschichte  ist  entschieden  schwieriger  als  das  Auf- 
stellen eines  Schemas  von  ein  paar  psychiatrischen  Nomenklaturen^ 
in  das  der  Autor  dieses  Dokumentes  rücksichtslos  hineingezwängt 
wird.  Diese  Art  der  wissenschaftlichen  Forschung  und  Interpreta- 
tionskunst mag  immerhin  ein  geistreiches  AperQu  sein.  Aber  ein 
Dokument,  voll  verstanden,  ist  mehr  wert  als  die  geistreichsten. 
Aper<jus,  die  darüber  geschrieben  werden. 


XXI.  NIETZSCHE  ALS  RELIGIÖSER  UND 
ETHISCHER  REFORMATOR. 

Was  denkt  sich  der  Laie,  der  nur  weiß,  daß  Nietzsche  seinen 
Freund  Wagner  verraten  hat,  von  diesem  Nietzsche,  V7enn  er  durch 
Stekel  mit  der  epochalen  Entdeckung  bekannt  gemacht  wird: 
Nietzsche  sei  zwar  selbst  Asket  und  Abstinenzler  gewesen,  war 
mithin  für  die  im  „Parsifal"  ausgesprochene  Weltanschauung  prä- 
destiniert, habe  aber  trotzdem  für  Dionysos,  den  Inbegriff  des 
vollen,  nach  Betätigung  ringenden  Lebenswillens  (das  versteht  näm- 
lich Stekel  unter  dem  Dionysos!),  geschwärmt!  Mithin  hat  Nietzsche, 
der  in  praxi  der  Asket  par  excellence  war,  in  der  Theorie  aber  das 
Gegenteil  des  Asketismus  vertrat,  sich  durch  die  Bekämpfung  des 
„Parsifal"  entschieden  widersprochen.  Diese  „Tatsache"  in  Nietzsches 
Leben  wertet  Stekel  als  ein  klassisches  Beispiel  für  Hypochondrie 
und  zugleich  als  neuerlichen  Beweis  für  Nietzsches  geistige  Ab- 
normität: Nietzsche,  der  Sohn  eines  Pastors,  Nietzsche,  dessen 
sehnlichster  Wunsch  es  war,  selbst  einmal  Pastor  zu  werden,  hatte- 
die  Keligion,  in  der  er  erzogen  worden  war,  nur  intellektuell 
überwunden,  und  daher  war  Christus,  der  Inbegriff  einer  asketischen 
Weltanschauung,  sein  Vorbild;  wer  aber  hat  je  einen  asketischen 
Dionysos  gesehen,  für  den  sich  Nietzsche  ausgab?  Schon  bei  einer 
früheren  Gelegenheit  sagte  ich,  daß  für  Stekel  das  Problem,  das 
Dionysos  sowohl  für  die  Religionsgeschichte  als  auch  im  konkreten 
Falle  für  das  „Problem  Nietzsche"  bedeutet,  ein  Buch,  verschlossen 
mit  sieben  Siegeln  ist.  Deshalb  ist  die  mit  sichtlicher  Ironie  erfol- 
gende Betonung  des  angeblichen  Gegensatzes  in  Nietzsches  Leben 
und  Lehre  wohl  der  stärkste  Beweis  dafür,  daß  Stekel  trotz  seines 
reichen  Wissens  als  Psychopathologe,  das  ich  in  seiner  Anwendung' 
auf  Patienten  durchaus  nicht  bestreiten  werde,  nicht  reif  ist,  das 
Fundamentalproblem  der  Nietzscheschen  Philosophie  zu  lösen;  und 
meine    mit    rein    geisteswissenschaftlichen    Argumenten    erfolgende- 


—     314     — 

Widerlegung  seiner  Ansichten  soll  dartun,  daß  Psychoanalyse, 
Sexualpsychologie  und  wie  sonst  noch  die  für  unfehlbar  erklärten 
Methoden  der  neuesten  Interpretationskunst  heißen  mögen,  weil  sie  nur 
das  „Menschliche",  leider  aber  nicht  das  „Ewig-Menschliche"  betonen, 
bei  der  Erklärung  der  Philosophie  Nietzsches,  speziell  der  aus  seinem 
letzten  Stadium,  unfehlbar  in  die  Irre  gehen  müssen. 

Nietzsche  war  in  der  Tat  aus  theologischem  Blute,  aus  durch- 
wegs religiös-patriarchalisch  gestimmten  Ahnen  hervorgegangen. 
Dieser  ererbte  bürgerlich  honette  Theologengeist,  hier  als  religiöse 
Mystik,  dort  als  ein  Zug  zu  protestantisch-rationalistischem  Vernunft- 
glauben  wirksam,  ist  in  Nietzsche  immer  lebendig  geblieben.  Denn 
Nietzsche  ist  —  und  damit  berühren  wir  den  tiefsten  Kern  seines 
Wesens!  —  so  weit  entfernt  davon,  ein  Religions  zersetz  er  zu 
sein,  daß  man  ihn  geradezu  als  den  religiösen  Genius  unserer 
Tage  zu  bezeichnen  hat.  Aber  „eine  gewisse  Neigung  zum  Wahn- 
sinn", sagt  Emerson,  „hat  immer  den  Aufgang  des  religiösen  Gefühls 
im  Menschen  begleitet,  als  wären  sie  vom  Übermaß  des  Lichtes 
geblendet  worden".  Th.  Lessing  z.  B.  weiß  außer  Pascal  und  Kierke- 
gaard keinen,  der  die  Psychologie  typisch  religiöser  Erfahrungen 
an  sich  selber  so  durchgelitten  und  durchgegrübelt  hätte,  wie 
Nietzsche.  Machen  wir  uns  das  klar!  Jeder  Mensch  glaubt,  daß  er 
seine  Ruhe,  sein  Glück  und  damit  sein  Leben  preisgibt,  wenn  er 
seine  Arbeit,  seine  Art  abhängig  macht  vom  Erfolg,  der  Anerkennung 
und  der  Dankbarkeit  anderer.  Das  ist  gewiß  nichts  Neues.  Jesus 
und  fast  alle  Religionsgründer,  unsere  Philosophen  sind  auch  auf 
anderem  Wege  als  dem  der  Erfahrung  zu  diesem  Urteile  gekommen. 
Jesus  aber  und  sein  Volk  konnten  es  nicht  verstehen,  wie  ein  Mensch 
ohne  Lohn  sein  Leben  lang  seine  Pflicht  tun  kann,  deshalb  suchte 
und  fand  er  den  großen  Löhnungstag  —  im  Himmel!  Nun,  dieser 
Himmel  ist  eine  herrhche  Erfindung,  älter  als  Jesus,  aber  eben  — 
eine  Erfindung!  Die  Wirklichkeit  belehrt  uns,  daß  die  Belohnung 
des  Guten  eine  Ausnahme,  nicht  die  Regel  ist.  Demnach  kann  die 
Aussicht  auf  solchen  Lohn  nicht  genügen,  uns  in  unserem  Streben 
aufrechtzuerhalten,  sondern  einzig  und  allein  nur  das  Vertrauen 
in  die  Vernunft  des  Menschenschicksals,  die  Bestimmung  unserer 
Gattung,  und  daß  unser  wahrer  Wert  davon  abhängt,  wie  weit  wir 
dieser  Vernunft  dienen  und  uns  aufopfern.  Und  diese  Vernunft  des 
Menschenschicksals  ist  seit  den  Tagen,    da  es  Piaton  gelehrt  hatte, 


--     315     — 

nichts  anderes  als  die  Realisierung  des  Guten!  Verpflichtet 
sein  zum  Guten  und  sich  dabei  nicht  irre  machen  lassen  durch  Un- 
verstand, Mißtrauen,  Undankbarkeit,  Verleumdung  —  „so  sprich  und 
stammle:  das  ist  mein  Gutes,  das  liebe  ich,  so  gefällt  es  mir  ganz, 
so  allein  will  ich  das  Gute!"  —  das  ist  unsere  Aufgabe,  nicht  um 
Heilige  zu  werden,  sondern  weil  es  das  einzig  Möghche  ist,  wo- 
durch wir  nun  einmal  bei  unserer  Anlage  gedeihen  und  glücklich 
sein  können.  Wir  sind  Menschen,  wollen  keine  Märtyrer  sein  oder 
werden,  aber  wir  sind  unglücklich,  wenn  wir  unsere  Erfahrung,  daß 
wir  den  Lohn  für  das  Gute  von  jemand  außer  uns  nicht  erwarten 
dürfen,  ignorieren.  Doch  schon  Euripides  sagte:  „Du  bist  gut  ge- 
boren und  kannst  das  Gute,  so  du  nur  willst.  Auf  deiner  eigenen 
Kraft  stehst  du,  kein  Gott  und  kein  Mensch  nimmt  dir  ab,  was  du 
zu  tun  hast;  aber  deine  Kraft  genügt  zum  Siege,  wenn  du  sie  ge- 
brauchst." So  läßt  Wilamowitz  den  hellenischen  Dichter  das,  was 
die  Heraklessage  bedeutet,  in  Worte  kleiden.  Und  was  kündet 
Nietzsche:  „Ich  liebe  die,  welche  nicht  erst  hinter  den  Sternen 
einen  Grund  suchen,  unterzugehen  und  Opfer  zu  sein:  sondern  die 
sich  der  Erde  opfern!  Ich  Hebe  den,  welcher  die  Zukünftigen  recht- 
fertigt und  die  Vergangenen  erlöst:  denn  er  will  an  den  Gegen- 
wärtigen zugrunde  gehen!  Ich  liebe  den,  dessen  Seele  übervoll  ist, 
so  daß  er  sich  selber  vergißt,  und  alle  Dinge  in  ihm  sind:  so  werden 
alle  Dinge  sein  Untergang."  Daß  wir  aber  eines  Lohnes  sicher 
sind,  der  uns  nimmer  entgehen  kann,  darüber  sind  sich  die  Menschen 
stets  einig  gewesen.  Dieser  ist  aber  nichts  anderes  als  der  Glanz 
unseres  Herzens.  Menschen,  an  die  wir  uns  hängen,  können 
sterben  oder  sich  von  uns  wenden,  Einrichtungen,  materielle  Werte 
können  zugrunde  gehen.  Den  Glanz  unseres  Herzens  allein  kann 
uns  niemand  aus  unserem  Leibe  reißen,  darüber  verfügen  wir  allein 
und  ausschließlich.  Für  Mühen  und  Selbstüberwindung  darf  man 
nicht  mehr  fordern  als  ein  gutes  Gewissen  und  ein  reines  Herz. 
Das  wird  wohl  jedem  verständlich  sein.  Weniger  indes  die  Motive, 
aus  denen  Nietzsche  sein  Übermenschenideal  ableitete.  Und  doch 
schrieb  der  Nietzsche,  der  sich  angebUch  selbst  für  diesen  Über- 
nienschen  gehalten  haben  soll,  an  seinen  Freund  Freiherrn  v.  Gers- 
dorff:  „Wenn  wir  einmal  unser  Leben  austragen  müssen,  versuchen 
wir  es,  dieses  Leben  so  zu  gebrauchen,  daß  es  andere  als  wertvoll 
segnen,    wenn  wir    glücklich  von    ihm    erlöst    sind."    Beachten  wir 


—     316     — 

den  Wortlaut:  andere  sollen  unser,  d.  h.  sein  Leben  als  wertvoll 
segnen!  Der  einsame  Nietzsche  segnete  selbst  sein  Leben!  Wie 
gelangte  nun  Nietzsche  zu  der  vorher  skizzierten  Weltansicht; 
welche  die  Gegensätze  zwischen  Theorie  und  Praxis  in  unserem 
Herzen  mild  versöhnend  ausgleicht?  Wilhelm  Bölsche  schließt 
eines  seiner  Werke  mit  den  Worten,    daß  „durch    alle  die  Melodien 

des  Geistes  ein  Größtes  klinge,  das  mehr  noch  ist  als  Liebe das 

Schöpferwort,  das  Welten  gebaut  hat  und  aus  Welten  bessere 
Welten  baut,  das  Triumphwort  aller  Erfüllung  und  das  stille  Resig- 
nationswort aller  zeitlichen  Beschränkung  im  engen  Kämmerlein: 
Sehnsucht".  Sehnsucht  pocht  in  unseren  Tagen  mehr  denn  je  an 
unser  Herz:  ein  tiefes  Sehnen  durchzittert  gerade  die  Welt  des 
Geistes,  es  ringt  in  all  den  Erzeugnissen  des  menschlichen  Geistes 
sichtbar  und  hörbar  nach  Ausdruck;  damit  ist  jedoch  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  angedeutet  als  unsere  Sehnsucht  nach  einer 
neuen  Bildung.  Diese  soll  berufen  sein,  den  scharfen  Gegensatz 
zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart  in  einer  reich  fortblühenden 
Zukunft  aufzulösen,  d.  h.  wir  suchen  nach  einem  solchen  Ausdrucke 
unseres  Selbst,  der  mit  dem  alten,  den  wir  an  uns  doch  nicht 
missen  wollen,  unser  neues  Wesen  verbindet.  Der  Vater  und  Ur- 
heber dieser  Bildung  ist  Nietzsche,  er  wollte  uns  tatsächlich  neue 
Lebensinhalte  geben.  „Wer  noch  Ohren  hat  für  Unerhörtes,  dem 
will  ich  sem  Herz  schwer  machen  mit  meinem  Glücke!"  ruft  er 
uns  voll  prophetischen  Geistes  zu.  Und  seine  Worte  tönen  uns 
entgegen  gleich  dem  Morgenglockenton,  der  das  Nahen  des  Tages 
kündet,  an  dem  die  Menschen  stärker,  freier  und  schöner,  im  Eins- 
gefühle mit  sich  und  der  Welt  und  dem  Leben  der  Zukunft  froh 
entgegengehen,  „voll  Hoffnungen,  die  noch  keinen  Namen  haben, 
voll  neuen  Willens  und  Strömens,  voll  neuen  Unwillens  und  Zu- 
rückströmens".  Nietzsches  Sehnsucht  hat  aus  der  alten  Welt 
wirkUch  eine  neue  Welt  des  Geistes  geschaffen.  Doch  welcher  Art 
ist  diese  seine  neue  Welt?  Philosophie  ist,  sagen  wir,  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes  Weltanschauungslehre.  Aber  nun  ist  es  sattsam 
bekannt,  daß  der  menschliche  Geist  in  der  Tat  jenem  mythischen 
Simson  gleicht,  der  an  den  Säulen  seines  Hauses  so  lange  rüttelt, 
bis  es  zerfällt;  aber  aus  den  Trümmern  baut  er  ein  neues.  Das 
heißt:  philosophische  Systeme  kommen  und  gehen,  jeder  Philosoph 
gleicht   jenem  Simson.     Der    uns  Menschen    angeborene  Zweifel    an 


—     317     — 

allem  Überlieferten,  unsere  ungeheure  Sehnsucht,  dieses  Ali  und 
alles  Geschehen  in  ihm  in  einem  einheitlichen,  widerspruchslosen 
Bilde  zu  erfassen,  zeigt  uns  den  Verlauf  unserer  Geistesentwicklung 
als  ein  beständiges  Fluktuieren  von  Vertrauen  und  Mißtrauen  in 
die  Macht  unserer  Erkenntnis.  Ebenso  wie  einst  Kant  die  Philo- 
sophie den  Armen  des  Skeptizismus,  ihrem  Niedergange,  entriß, 
brach  auch  Nietzsche  in  vielleicht  noch  tieferer  "Weise  als  Kant 
mit  dem  herrschenden  Skeptizismus  seiner  Zeit,  der  doch  durch 
Schopenhauer  zum  Pessimismus  ausgeartet  war.  Nietzsche  zog  in 
den  Bereich  seiner  fundamentalen  Untersuchungen  das  Problem  vom 
Werte  der  Wahrheit  und  erbrachte  den  Nachweis,  daß  der  mensch- 
liche Trieb  zur  Wahrheit  nur  ein  Mittel  des  allgemeinen  Lebens- 
willens sein  könne.  Sein  Ideal  ist,  wie  bereits  gesagt  wurde,  die 
unaufhaltsame  Entwicklung  unseres  Erkenntnisvermögens.  Deshalb 
perhorresziert  er  jeden  Dogmatismus  in  unserer  Philosophie  und 
setzt  das  vorwärts  schreitende  Erkennen  einer  Art  Schaffen  gleich. 
An  dieses  Ergebnis  knüpft  er  sodann  die  entscheidende  Frage  nach 
dem  Sinne  des  Menschenlebens  und  erblickt  denselben  mit  Piaton 
in  einer  Art  Schwangerschaft  des  Menschen:  der  Mensch  soll  den 
Übermenschen  zeugen!  Für  ihn  ist  der  Mensch  nicht  mehr  das 
„Wesen,  das  gar  nicht  existieren  sollte,  das  sein  Dasein  abbüßt 
durch  vielgestaltetes  Leiden  und  den  Tod**,  sondern  die  Vorstufe  zu 
einer  noch  höheren,  edleren  Art  Mensch.  Bei  Formulierung  dieser 
seiner  Forderung  hat  Nietzsche  den  Goetheschen  Gedanken  auf- 
genommen: „Das  letzte  Produkt  der  sich  immer  steigernden  Natur 
ist  der  schöne  Mensch . . .  wer  weiß,  ob  nicht  auch  der  ganze 
Mensch  wieder  nur  ein  Wurf  nach  einem  höheren  Ziele  ist?"  In- 
dem Nietzsche  den  Mängeln  seiner  Zeit  seine  Ideale  entgegenhielt, 
formulierte  er  den  Grundwert  der  starken,  selbsteigenen  Persön- 
lichkeit, brachte  er  seiner  Zeit  die  Gefahren  des  Gleichschätzens 
und  Gleichmachens  eindringlich  zum  Bewußtsein,  und  er  hätte 
nicht  klassischer  Philologe  sein  müssen,  wenn  er  nicht  im  Hellenen- 
tum  gleich  Goethe  das  Endziel  seiner  Pläne  bereits  einmal  ver- 
wirkhcht  gesehen  hätte:  „bisher,  nach  langer  kosmopolitischer  Um- 
schau, der  Grieche  als  Mensch,  der  es  am  weitesten  brachte!" 
Diesen  Menschentypus  will  er  erreichen  durch  die  Hebung  des 
Niveaus  der  Menschen:  je  höher  das  Postament,  desto  höher  die 
von   jenem    getragene  Säule.    Zu    diesem  Zwecke    schuf   er  „neue 


—     818     — 

Werte",  d.  h.  „wertete"  er  die  bestehenden  Wahrheiten  „um", 
und  nannte  sie  das  Übermenschliche,  das  Vorbildliche.  Also  geistige 
Werte  sind  es,  Werte,  welche  die  Handlungen  der  Menschen  beein- 
flussen, unsere  Gesinnung  neu  beseelen  sollen.  Diese  Werte  stehen 
jedoch  mit  dem  Sinn  und  Zweck  des  Menschenlebens  in  einem  ge- 
wissen Zusammenhange,  indem  Nietzsche  alle  Dinge  nach  ihrem 
biologischen  und  physiologischen  Werte  beurteilt;  daher  sagt  er 
zum  aufsteigenden  Leben  ja  und  gut,  zum  absteigenden  nein  und 
schlecht.  Sein  Kriterium  bildet  also  die  Lebensenergie  in  ihren 
verschiedenen  Äußerungen.  Daher  verabscheut  er  jede  Vergut- 
mütigung  des  Menschen,  stellt  sich  in  Gegensatz  zum  Christentum, 
zu  Rousseau  und  allen  Demokraten,  die  mit  dem  ersten  Menschen 
den  Begriff  einer  angebornen  Gutmütigkeit  verbinden.  Feinsinnig 
sind  die  Ausführungen  bei  M.  Kronenberg,  „Kant,  sein  Leben  und 
seine  Lehre",  p.  15 — 19:  „Die  Philosophie  im  tragischen  Zeitalter 
der  Griechen",  diese  Blütezeit  der  Antike,  in  welcher  die  Ideenwelt 
der  Philosophie  das  natürliche  Abbild  der  wirklichen  Menschenwelt 
zu  sein  schien  und  diese  nichts  anderes  als  die  Reahsierung  der 
Ideen,  welche  der  Gedanke  aus  sich  erzeugt  hatte,  im  bildsamen 
Stoffe  der  lebendigen  Wirklichkeit  —  diese  glückhchste  Periode  war 
schnell  vorüber,  und  bald  traten  Denken  und  Sein,  Idee  und  Wirk- 
lichkeit immer  zwiespältiger  auseinander.  Diese  Divergenz  endete 
schließlich  in  einer  Abkehr  von  der  Wirklichkeit,  in  einer  leiden- 
schaftlichen Zuwendung  zum  menschlichen  Innern.  Man  begann 
leidenschaftlich  zu  schwärmen  für  die  Unendlichkeit,  entdeckte 
Welten  über  Welten,  bis  zuletzt,  durch  den  Eintritt  des  Christen- 
tums, Realität  und  Idealität  einander  völlig  ausschlössen.  Denn 
nun  galt  die  Realität  als  der  Sitz  des  Bösen,  diese  als  Sitz  des 
Guten,  nur  durch  höhere  Erkenntnis,  geheime  Offenbarung  etc.  er- 
kennbar, während  die  Vernunfterkenntnis  nur  auf  die  reale  Welt 
beschränkt  wurde.  Kein  Wunder,  daß  der  Ruf  nach  Erlösung  von 
dieser  wirklichen  Welt  immer  lauter  wurde  und  sich  zuletzt  zum 
einzig  brausenden  Akkord  verdichtete,  wenngleich  die  höchste  Er- 
kenntnis dieser  Forderung  nach  Erfüllung  ohnmächtig  gegenüber- 
stand. Denn  selbst  das  feinst  ausgedachte  Gedankensystem  einer 
Erlösung  von  dieser  Welt  konnte  nicht  gleichkommen  der  fak- 
tischen Losreißung  vom  eigenen  Leben,  wie  es  Christi  Opfertod 
darstellt.     Daher  seine  faszinierende  Wirkung  auf  alle  Welt.    Davor 


-     319     — 

mußte  die  Vernunft,  die  so  siegreich  ihren  Flug  begonnen,  be- 
dingungslos kapitulieren,  und  der  religiöse  Mythos  begann  üppiger 
denn  je  zu  blühen.  Es  ist  charakteristisch,  daß  man  nun  unter  dem 
Einflüsse  antiken  Geistes,  der  noch  lange  wie  eine  fernhinziehende 
Abendröte  die  christliche  Welt  bestrahlte,  den  Weg  zur  Natur  und 
Vernunft  zurückzufinden  sich  bemühte.  Und  wenn  selbst  der 
„letzte"  Nietzsche  in  seinem  Mystizismus  scheinbar  ganz  neue, 
noch  nie  dagewesene  Lehren  vorträgt,  so  hat  er  damit,  konsequent 
wie  er  war,  seiner  langen  Entwicklungsreihe  gleichfalls  nur  den 
Schlußstein  eingefügt:  er  hat  stets,  sein  ganzes  Leben  lang,  die 
antike  Philosophie,  resp.  die  echt  hellenische  Weltanschauung  re- 
produziert. Bereits  der  Philologe  Nietzsche  predigt  in  seiner  Schrift 
„Wir  Philologen"  den  Abfall  vom  Christentum,  dem  er  Mangel 
an  Rehgiosität  vorwirft,  und  schon  damals  gipfelt  seine  Rehgion  in 
der  Erzeugung  des  Genius,  als  des  einzigen,  der  das  Leben  wahr- 
haft schätzen  und  verneinen  kann.  „Rettet  euren  Genius! 
befreit  ihn!"  ruft  er  uns  zu.  So  liegt  im  Anfange  seiner  Philo- 
sophie bereits  deren  Ende,  und  das  Ende  seiner  Philosophie  deckt 
sich  folgerichtig  mit  dem  Anfange:  so  wird  dieser  „Genius"  erst 
seinem  späteren  Denken  zum  Übermenschen,  der  aber  freilich  nicht 
bloß  befreit,  sondern,  was  die  Hauptsache  ist,  erst  geschaffen 
werden  muß:  er  ist  der  bewußt  gewordene  Wille  in  menschhcher 
Gestalt.  Nun  war  Nietzsche  eine  von  Haus  aus  religiös  gestimmte 
Natur;  daher  atmet  selbst  dieser  sein  so  früh  ausgesprochener 
Atheismus  rehgiöse  Farbe  und  Glut.  Nietzsche  leugnet  Gott  als 
Gott,  weil  ihm  die  gewöhnhche  Gottesvorstellung  nicht  genügte, 
weil  er  in  seinem  Übermenschenideal,  in  dem  er  das  aristokratische 
Ideal  der  Antike  wieder  aufnahm.  Besseres  und  Höheres  gefunden 
zu  haben  glaubte.  Denn  der  Gedanke,  daß,  wenn  Gott  als  das 
vollkommenste  Wesen  gedacht  wird,  durch  die  Existenz  eines 
solchen  V/esens  alles  Höherstreben  des  Menschen  einfach  nutzlos 
wird,  ist  echt  hellenisch  gedacht:  ein  bereits  einmal  erreichtes  Ziel 
wird  man  doch  nicht  neuerdings  erreichen  wollen!  Gott  bildet 
demnach  die  Grenze  für  das  Streben  des  Menschen.  Nur  in  den 
aus  diesem  Gedanken  gezogenen  Konsequenzen  unterscheidet  sich 
Nietzsche  von  den  Hellenen:  „Ist  es  nicht  deine  Frömmigkeit  selbst, 
die  dich  nicht  mehr  an  Gott  glauben  läßt?"  fragt  Zarathustra  und 
argumentiert  so:  „Wenn  es  Götter  gäbe,  wie  hielte  ich's  aus,  kein 


—     320     — 

Gott  zu  sein!...  Also  gibt  es  keine  Götter!  Wohl  zog  ich  den 
Schluß;  nun  aber  zieht  er  mich.  Schaffen,  das  ist  die  große  Er- 
lösung vom  Leiden  und  des  Lebens  leicht  werden.  Aber,  was  wäre 
denn  zu  schaffen,  wenn  —  Götter  da  wären?"  Aus  Unverstand 
und  wohl  auch  in  böser  Absicht  hat  man  diese  Argumentation  mit 
der  durch  Aristophanes  in  den  „Rittern"  gegebenen  in  eine 
Parallele  gestellt;  es  heißt  dort:  „Glaubst  du,  mein  Freund,  daß 
Götter  sind  oder  nicht  sind?"  —  „Ich  glaube,  daß  sie  sind!"  — 
„Und  womit  beweisest  du  das?"  —  „Ich  bin  ihr  Feind!  Wie 
sollten  sie  nicht  sein?"  So  behauptete  man,  der  größenwahn- 
sinnige Nietzsche  erträumte  sich  Gottgleichheit,  habe  sich  selbst 
als  Gott  gefühlt.  Er  hatte  indes  Besseres  zu  tun!  Seine  Polemik 
gegen  das  Christentum  wie  seine  Forderung  des  Übermenschen 
fußt  nämlich  auf  der  Aufopferung  des  Menschen  für  ein  höheres  Sein: 
der  Mensch  muß  dieses  Leben  zuerst  verlieren,  um  ein  höheres  zu 
gewinnen.  Das  ist  allerdings  eine  frappante  Ähnlichkeit  mit  dem 
christUchen  Ideal,  die  man  jedoch  nicht  mit  Stekel  auf  den  in 
Nietzsche  „tief  und  unausrottbar  wurzelnden  Hang  zum  Katholi- 
zismus" zurückführen  darf.  Ein  Reich  eines  allerdings  nur  zeitlichen 
Jenseits  wird  erdichtet,  in  das  der  Mensch  nur  geistig  eingehen 
kann:  denn  das  Übermenschenideal  ist,  wie  bereits  gesagt  wurde, 
ein  uns  allen  zwar  jederzeit  ergreifbares,  nie  aber  erreich- 
bares Ideal;  wir  werden  immer  nach  ihm  streben,  es  jedoch  nie 
erschauen.  Das  Höchste,  das  Einzige,  was  wir  können,  ist:  gleich 
Zarathustra  alle  unsere  Erlebnisse  segnen  und  als  Segnende 
sterben;  dafür  müssen  wir  aber  zunächst  aus  Betenden  Seg- 
nende geworden  sein!  Nichts  ist  jedoch  verkehrter,  als  wenn 
man  aus  Nietzsches  scharfer  Polemik  gegen  das  Christentum 
schließt,  dieser  sein  Kampf  gelte  der  Lichtgestalt  Jesu,  oder  Nietzsche 
habe  das  Christentum  und  die  herrschende  Moral  als  eine  Art 
Sklavenmoral  einfach  abschaffen  wollen;  im  Gegenteil!  Er  will  es 
überbieten,  durch  eine  höhere  Lebensordnung  ersetzen.  Die  christ- 
liche Weltanschauung  nämlich,  begründet  auf  Aristotelischer  Grund- 
lage und  ausgebaut  durch  Thomas  von  Aquino,  hatte  unverrück- 
bare Wertbegriffe,  die  durch  Vermittlung  der  Bibel  und  der  Kirche 
von  Gott  selbst  geprägt  waren.  Meinungsverschiedenheiten  konnten 
nur  über  ihre  Interpretation  herrschen,  nicht  jedoch  über  ihre 
Geltung.     Daher  war    und    ist  die  ganze  christliche  Ethik  gewisser- 


—     321     ~ 

maßen  kosmisch  verankert,  ein  integrierender  Bestandteil  der  gött- 
lichen Weltordnung.  Im  Lichte  der  beginnenden  Aufklärung  jedoch 
erschien  diese  Lehre  als  aeschichtsfälschung  und  Aberglaube;  daher 
der  Abfall  von  den  alten  Idealen  zunächst  durch  die  Reformation, 
dann  der  Abfall  in  der  Abkehr  vom  Dogma  durch  die  Aufklärung, 
dann  die  Abkehr  von  Gott  im  Materialismus,  schließlich  die  Abkehr 
von  der  Moral  im  Zynismus.  Aus  diesem  so  entstandenen  Chaos 
können  nur  zvsrei  Wege  zur  Kettung  führen:  die  Rückkehr  in  die 
Vergangenheit  =  die  Reaktion,  und  der  Weg  in  die  Zukunft  =  die 
Revolution.  Vertreter  der  ersten  Richtung  sind  Tolstoi  und  Strind- 
berg,  der  zweiten  Goethe  und  Nietzsche.  Der  Rückweg  ist  uns 
durch  das  Lebenswerk  eines  Kopernikus  und  Darwin  versperrt,  und 
nur  der  zweite  Weg  kann  nicht  nur  Europa,  sondern  die  ganze 
Welt  zum  Siege  oder  zum  Tode  führen.  So  wie  seinerzeit  Sokrates 
und  durch  den  Ausbau  seiner  Philosophie  Piaton  die  Menschheit 
zwischen  krassem  Aberglauben  und  wildem  Unglauben  neuen  Zielen 
entgegenführten,  hat  Nietzsche  die  durch  Goethe  inaugurierte  Re- 
ligion der  Zukunft  auszubauen  versucht.  Er  stellte  die  Wertfrage 
statt  auf  die  bisherigen  Pole  Lust  oder  Unlust  im  Diesseits  oder 
Jenseits,  auf  die  neuen  Pole  Entwicklung  und  Entartung  und  hat 
dadurch  den  Blick  der  Menschheit,  der  bislang  auf  die  Mitwelt  be- 
schränkt war,  auf  die  Nachwelt  fixiert.  Und  als  echter  Erbe  Goethes 
huldigt  er  dem  ästhetischen  Ideal  nicht  des  Heiligen,  sondern  des 
Helden;  nicht  dem  des  Guten,  sondern  dem  des  Edlen;  nicht  dem 
des  Mitleidigen,  sondern  dem  des  Tapferen;  nicht  dem  des  Weich- 
herzigen, sondern  dem  des  Großherzigen.  Nietzsche  sah  infolge 
der  nicht  auszumerzenden  Antinomie  zwischen  einem  durch  das 
Hellenische  verschönten  Germanentum  und  dem  Christentum  den 
Augenbhck  für  gekommen,  die  Maske,  die  uns  orientahsche  Fremd- 
herrschaft aufgezwungen,  abzuwerfen  und  mit  gutem  Gewissen  sich 
zu  bekennen  zu  einem  durch  das  Christentum  verklärten  Heidentum 
der  Zukunft,  basierend  auf  dem  Schönheitsideal  eines  Goethe:  aus 
der  Vermählung  des  Heidentums  des  Nordens  mit  dem  des  Südens 
soll  eine  neue  Religion  entstehen,  deren  innerste  Seele  das  Christen- 
tum ist  und  bleiben  muß;  daher  der  „Caesar  mit  der  Seele  Jesu 
Christi".  Dieses  Gefühl  der  Lebenssteigerung,  das  Nietzsche  als 
das  Wertvollste  preist,  soll  sich  in  seinen  sublimsten  und  feinsten 
Ausstrahlungen  äußern  als  innere  Harmonie  mit    sich    selbst,    als 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  '  21 


—     322     — 

liebende  Harmonie  mit  den  Menschen,  als  religiöse  Harmonie  mit 
dem  ganzen  All.  Denn  ihr  Endziel  ist  die  Schönheit.  Wenn  Nietzsche, 
wie  Stekel  meint,  zufolge  seines  Hanges  zum  Katholizismus  Christ 
war,  dann  war  er  es  auf  eine  heimliche,  parodische  und  paradoxale 
Art.  So  war  er  es  zunächst,  daß  er  seine  Feinde  liebte.  Mit  einer 
Liebe  freilich,  in  der  christlicher  Selbsthaß  und  hellenisch  wett- 
eifernder Neid  eine  echt  Nietzschesche  Vermählung  eingehen.  Nietzsche 
ist  niemandem  dankbarer  gewesen,  hat  sich  niemandem  mehr  hin- 
gegeben als  denen,  die  er  beleidigte  und  verfolgte,  ein  anderer 
Saulus.  Bertrams  Analyse  des  Zweiseelenmenschen  Nietzsche  hat 
daher  etwas  furchtbar  Erschütterndes  an  sich,  nicht  nur  in  bezug 
auf  sein  Verhältnis  zu  Wagner,  sondern,  im  konkreten  Falle,  auf 
seine  Stellung  zu  Jesus.  Es  ist  wahr:  auch  von  Jesus  konnte 
dieser  Nietzsche  niemals  loskommen !  Wenn  man  aber  von  Nietzsches 
Haß  gegen  das  Christentum,  nicht  Jesu,  sondern  des  Apostels 
Paulus  spricht,  dann  möge  man  aus  diesem  seinen  Hasse  nicht 
Waffen  gegen  Nietzsche  selbst  schmieden,  sondern  „die  Gestalt 
Christi  in  dem  Schatten  von  Scheu  und  Ehrfurcht  lassen,  mit  dem 
selbst  der  leidenschaftliche  Antichrist  den  Stifter  des  von  ihm  mit 
solcher  Saulus-Rachsucht  verfolgten  Christentums  umgibt";  denn 
ein  Nachlaßfragment  —  es  stammt  aus  der  Zeit  des  „Antichrist" 
—  lautet:  „Christus  am  Kreuz  ist  das  erhabenste  Symbol  — 
immer  noch!"  In  einem  Briefe  an  Peter  Gast  heißt  es:  „Das 
Christentum  ist  aber  doch  das  beste  Stück  idealen  Lebens,  welches  ich 
wirklich  kennen  gelernt  habe!",  cf.  auch  seinen  schönen  Ausspruch : 
„Man  muß  lieben  lernen,  gütig  sein  lernen  und  dies  von  Jugend  auf." 
R.  M.  Meyer  fragt  daher  mit  Recht:  „Warum  überhören  die  mo- 
ralistischen und  die  theologischen  Kritiker  Nietzsches  gar  so  gern 
solche  Sätze,  um  nur  immer  wieder  das  , Werde  hart!'  zu  wieder- 
holen —  das  doch  auch  aus  Liebe  und  Güte  geboren  ist?"  Dem- 
zufolge hat  G.  Simmel  Nietzsches  „Fernstenliebe"  sehr  zutreffend 
als  eine  „weitsichtige  Technik  der  christlichen  Nächsten- 
liebe" bezeichnet.  (Zum  Problem  vgl.  E.  Becker  „Der  Darwinismus 
und  die  soziale  Ethik",  p.  66:  „Die  sozial-ethische  Berücksichtigung 
von  Darwins  Lehre  führt  nicht  zu  rücksichtslosem  Egoismus, 
sondern  steigert  in  ungeheurem  Maße  unsere  Verantwortung,  fordert 
Opferfreudigkeit,  Pflichtgefühl  und  klarschauende  Liebe  zur  Mensch- 
heit.")   Diese  Äußerung  ist  für  uns  wahrlich  wichtiger  als  die  maß- 


--     323     — 

losesten  Angriffe  und  Schmähungen,  die  Nietzsche  gegen  Jesus  ge- 
richtet hat.  R.  M.  Meyer  hatte  nicht  unrecht,  wenn  er  z.  B.  aus 
der  Tatsache,  daß  sich  Nietzsche  als  der  Einzige  gegen  den  Ein- 
zigen stellte,  die  Folgerung  zog,  daß  dieser  Nietzsche  seine  frühere 
Weltanschauung  mit  einem  Male  zweimal  verleugnet  habe.  Werfen 
wir  in  seinen  „Willen  zur  Macht",  das  leider  unvollendete  Haupt- 
werk seiner  Philosophie,  einen  Blick,  so  wird  uns  das  Ziel,  für 
dessen  Erreichung  er  das  Christentum  bekämpft,  sofort  klar:  in  der 
Religiosität  der  Griechen  konstatiert  Nietzsche  anfänglich  eine  un- 
bändige Fülle  von  Dankbarkeit;  daher  ist  der  Hellene  eine  sehr 
vornehme  Art  Mensch.  Später  jedoch,  als  der  Pöbel  zum  Über- 
gewicht kam,  überwucherte  die  Furcht  auch  in  der  Religion,  und 
damit  war  die  Grundbedingung  für  die  Entwicklung  des  Christen- 
tums gegeben.  Aber  als  historische  Realität  darf  man  das 
Christentum  nicht  mit  jener  einen  Wurzel  verwechseln,  an  welche 
es  uns  mit  seinem  Namen  erinnert;  denn  die  anderen  Wurzeln, 
aus  denen  es  erwachsen  ist,  sind  bei  weitem  mächtiger  gewesen. 
Es  ist  ein  Mißbrauch  ohnegleichen,  wenn  solche  Verfallsgebilde  und 
Mißformen,  wie  „christliche  Kirche",  „christUcher  Glaube"  und 
„christliches  Leben",  sich  mit  jenem  heiligen  Namen  abzeichnen. 
Was  hat  Christus  verneint?  Alles  das,  was  heute  christlich 
heißt.  Die  ganze  christliche  Lehre  von  dem,  was  geglaubt  werden 
soll,  die  ganze  christliche  „Wahrheit"  ist  eitel  Lug  und  Trug  und 
genau  das  Gegenteil  von  dem,  was  den  Anfang  der  christlichen 
Bewegung  gegeben  hat.  Christus  geht  direkt  auf  den  Zustand  los, 
das  „Himmelreich'"  im  Herzen,  er  ist  rein  innerlich.  Ebenso 
macht  er  sich  nichts  aus  den  sämtlichen  groben  Formeln  im  Ver- 
kehre mit  Gott:  er  wehrt  sich  gegen  die  ganze  Büß-  und  Ver- 
söhnungslehre; er  zeigt,  wie  man  leben  muß,  um  sich  als  „ver- 
göttlicht"  zu  fühlen.  „Es  liegt  nichts  an  Sünde"  ist  sein  Haupt- 
urteil. Das  Himmelreich  ist  ein  Zustand  des  Herzens;  nichts,  was 
„über  der  Erde"  ist.  Das  Reich  Gottes  ist  eine  „Sinnesänderung 
im  einzelnen",  etwas,  das  jederzeit  kommt  und  jederzeit  noch 
nicht  da  ist. 

Wenn  der  Verbrecher  selbst,  der  Schacher  am  Kreuz, 
urteilt:  „So  wie  dieser  Jesus,  ohne  Revolte,  ohne  Feindschaft, 
gütig,  ergeben  leidet  und  stirbt,  so  allein  ist  es  das  Rechte":  hat 
er  das  Evangelium  bejaht:  und    damit   ist    er   im  Paradiese... 

21* 


—     324     — 

die  Seligkeit  wird  nicht  verheißen,  sie  wird  nicht  an  Bedingungen 
geknüpft:  sie  ist  die  einzige  Realität  ...  das  Christentum  ist  jeden 
Augenblick  noch  möglich.  Es  ist  an  keines  der  unverschämten 
Dogmen  gebunden,  welche  sich  mit  seinem  Namen  geschmückt 
haben:  es  braucht  weder  die  Lehre  vom  persönlichen  Gott,  noch 
von  der  Sünde,  noch  von  der  Unsterblichkeit,  noch  von  der' 
Erlösung,  noch  vom  Glauben:  es  hat  schlechterdings  keine  Meta- 
physik nötig  ...  es  ist  eine  Praxis,  keine  Glaubenslehre.  Es  sagt 
uns,  wie  wir  handeln,  nicht  was  wir  glauben  sollen. 

Durch  Paulus  wurde  es  zu  einer  heidnischen  Mysterienlehre 
umgedreht;  er  geht  vom  Mysterienbedürfnis  der  großen  Menge  aus: 
er  sucht  ein  Opfer,  eine  blutige  Phantasmagorie,  die  den  Kampf 
aushält  mit  den  Bildern  der  Geheimkulte:  Gott  am  Kreuze,  das 
Bluttrinken,  die  unio  mystica  mit  dem  „Opfer".  Er  sucht  die  Fort- 
existenz als  Auferstehung  in  Kausalverbindung  mit  jenem  Opfer 
zu  bringen  (nach  dem  Typus  des  Dionysos,  Mithras,  Osiris).  Er  bringt 
nicht  eine  neue  Praxis  (wie  sie  Jesus  selbst  zeigte  und  lehrte), 
sondern  einen  neuen  Kultus,  einen  neuen  Glauben,  einen  Glauben 
an  eine  wundergleiche  Verwandlung  („Erlösung"  durch  den  Glauben). 

Kein  Geringerer  als  Wilamowitz  hat  den  Nachweis  erbracht, 
daß  Paulus  nur  durch  totale  Verkennung  der  unsterblichen  platonischen 
tpvxri  das  Dogma  von  der  Auferstehung  schuf.  Die  platonische  ipvxrj 
ist  nach  dem  „Phädon"  die  individuelle,  unkörperliche  und  doch  un- 
sterbliche Menschenseele,  die  ohne  Leib  fortlebt  und  doch  derselbe 
Mensch  bleibt,  eine  Art  dem  Tode  nicht  verfallender  Doppelgänger 
des  Menschen.  Als  das  existierte  sie  bereits  in  den  Mythen,  die 
Piaton  übernahm,  weil  sie  sich  mit  seinem  Verstände  vertrugen. 
Schon  der  hellenische  Volksglaube,  schon  Homer  ist  dadurch  dem 
Semitischen  überlegen,  das  vom  Körperlichen  nicht  los  kann.  Wer 
für  die  semitische  Denkart  nicht  dem  Tode  verfallen  ist,  wer  also 
weiter  wirkend  gedacht  wird,  muß  entweder  samt  seinem  Körper 
in  die  Unsterblichkeit  erhoben  oder  samt  seinem  Körper  aus  dem 
Tode  auferstanden  sein.  Wenn  Paulus  sich  bei  der  ^jjvxt]  auch  nur 
so  viel  gedacht  hätte,  wie  Piaton  bei  seinen  Lesern  voraussetzt,  so 
würde  er  den  Korinthern  nichts  von  einem  psychischen  und  einem 
pneumatischen  Leibe  geschrieben  haben.  Weil  er  von  der  Seele 
nichts  weiß,  braucht  er  eine  biblische  Auferstehung  statt  der  Un- 
sterblichkeit und  für  den  Erlösten  einen  neuen  Leib,  der  „aus  Himmel" 


—     325     — 

(Kor.  I,  15,  47)  gemacht  ist,  genau  wie  das  Trugbild  der  Helene 
bei  Euripides,  das  Paris  raubte,  während  die  wahre  von  den  Gröttern 
entrückt  war.  Aus  dieser  paulinischen  Verlegenheitsausrede  ist  das 
Dogma  von  der  Auferstehung  des  Fleisches  entstanden,  weil  die 
Menschen  ihren  Leib  wieder  haben  wollten,  nicht  ohne  auf  die  Be- 
friedigung seiner  Genüsse  zu  hoffen,  und  schon  die  ältesten  Theoretiker 
der  Kirche  werden  zu  den  abgeschmacktesten  Fragen  gedrängt,  wo 
denn  bei  der  allgemeinen  Auferstehung  die  einzelnen  Stückchen  des 
verfaulten  Kadavers  zu  finden  sein  würden.  Das  ist  kein  wirkUcher 
Mythos,  sondern  eine  der  Not  abgerungene  Konsequenzmacherei. 
Paulus  hat  das  große  Bedürfnis  der  heidnischen  Welt 
verstanden  und  aus  den  Tatsachen  vom  Leben  und  Tode  Christi 
eine  vollkommen  willkürhche  Auswahl  gemacht,  alles  neu  akzentuiert, 
überall  das  Schwergewicht  verlegt,  er  hat  prinzipiell  das  ursprüng- 
liche Christentum  annulliert^).  Das  unverschämte  Gerede  von  der 
.Rechtfertigung  durch  den  Glauben"  ist  nur  die  Folge  davon,  daß 
die  Kirche  nicht  den  Mut  noch  den  Willen  hatte,  sich  zu  den 
Werken  zu  bekennen,  w^elche  Jesus  forderte.  Die  Kirche  ist  exakt 
das,  wogegen  Jesus  gepredigt  hat  und  wogegen  er  seine  Jünger 
kämpfen  lehrte.  Das  Christentum  ist  etwas  Grundverschiedenes  von 
dem  geworden,  was  sein  Stifter  tat  und  wollte:  es  ist  die  Herauf- 
kunft  des  Pessimismus  (während  Jesus  den  Frieden  und  das  Glück 
der  Lämmer  bringen  wollte),  und  zwar  der  Pessimismus  der  Schwachen, 
der  Unterdrückten.  Drum  soll  das  Menschheitsideal,  das  von  diesem 
Christentum  erfunden  worden  ist,  in  Grund  und  Boden  zerstört 
werden.  —  „Ich  heiße  das  Christentum  den  einen  großen  Fluch, 
die  eine  große  innerlichste  Verdorbenheit,  den  einen  großen  Instinkt 
der  Rache,  dem  kein  Mittel  giftig,  heimlich,  unterirdisch,  klein 
genug  ist,    —    ich  heiße   es    den    einen    unsterblichen  Schandfleck 


*)  Hat  Nietzsche  nicht  mit  diesen  lapidaren  Sätzen  an  ein  Problem 
gerührt,  dessen  restlose  Lösung  heute  das  Programm  des  freigesinnten, 
geschichtlich  denkenden  Protestantismus  ist,  dessen  glänzendsten  Vertreter 
ich  in  Adolf  Harnack  erblicke?  In  seinem  Hauptwerke  „Das  Wesen  des 
Christentums"  scheidet  er  bekanntlich  scharf  zwischen  der  Religion  Jesu,  die  in 
Gott  nicht  sowohl  den  strengen  Richter  als  den  liebenden  Vater  finden  lehrt, 
und  der  Religion  der  Christengemeinde,  die  miter  Einwirkung  hellenistischer 
Kulte  Jesum  zum  Gott  macht,  wie  das  schon  die  paulinischen  Briefe  zeigen. 
„Nicht  der  Sohn,  sondern  der  Vater  gehört  ins  Evangelium,  wie  Jesus  es 
verkündigt  hat,  hinein." 


—     326     ■— 

der  Menschheit."  —  „Das  Christentum  ist  die  höchste  aller  denk- 
baren Korruptionen^)."  —  Denn  mit  seiner  krankhaften  Schönheit 
redet  es  allen  Feigheiten  und  Eitelkeiten  müde  gewordener  Seelen 
zu,  wie  als  ob  das  tugendhafte  Durchschnittstier  und  Herdenschaf 
Mensch  geradezu  für  den  Menschen  überhaupt  das  Ideal,  das  Ziel, 
die  höchste  "Wünschbarkeit  abgebe. 

Es  liegt  mir  durchaus  ferne,  etwa  der  Nietzscheschen  „Moral" 
das  Wort  zu  sprechen.  Denn  darüber  sind  wir  uns  ja  alle  einig, 
daß  sie  auf  einer  totalen  Verkennung  der  menschlichen  Natur  beruht. 
Der  Mensch  ist  nicht  nur  individuell,  sondern  auch  sozial  ver- 
anlagt. Schaltet  man  eins  dieser  beiden  Elemente  aus  und  erbaut 
sein  Lehrgebäude  der  Ethik  nur  auf  dem  einen,  wie  Nietzsche  es 
tut,  so  kommt  eine  unnatürliche  Moral  heraus,  welche  eine  Ver- 
nichtung der  Gesellschaft,  der  Menschheit  zur  Folge  hat.  Nun  ist 
es  heute  für  den  Forscher,  speziell  wenn  er  einer  Nietzsche  ent- 
gegengesetzten Denkrichtung  angehört,  etwas  leichtes,  ihm  alle 
seine  Fehler  gewissenhaft  nachzurechnen  und  sie  am  Ende  als 
logischen  Unsinn  zu  erweisen  oder  zu  sagen,  sein  Kampf  gegen 
Jesum  und  das  Christentum  gelte  selbstgeschaffenen  Phantomen. 
Doch  damit  ist  nichts  Positives  erreicht!  So  ist  z.  B.  der  positive 
Gewinn  des  Nachweises,  daß  Nietzsche  bei  seiner  Bewertung  der 
Moral  als  eines  natürlichen  Phänomens  es  vollkommen  übersah, 
daß  dieses  „Natürliche"  diesseits  wie  jenseits  der  Ethik  liegen  kann, 
eine  sehr  negative  Erkenntnis.  Denn  Moral  ist  keine  Naturtatsache, 
sondern  ist  Heraustreten  des  Menschen  aus  der  Natur,  die  an  sich 
weder  moralisch  noch  unmoralisch,  eben  damit  aber  als  das  Un- 
moralische   erfaßt   und   bewertet  wird.    In  diesem  Sinne   muß  jede 


1)  Jetzt  begreifen  wir  es,  warum  Chamberlain  (cf.  p.  240  dieses  Buches) 
bei  der  Konstatiening  von  Nietzsches  "Wahnsinn  sich  auf  die  „gute  Mutter" 
des  Philosophen  beruft,  wir  verstehen  aber  auch  Seilings  Polemik  gegen 
Nietzsche.  Denn  Frau  Pastor  Nietzsche,  die  fromme  alte  Frau,  der  ihr  Sohn 
wegen  so  scharfer  Ausfälle  gegen  das  Christentum  als  wahnsinnig  erscheinen 
mußte,  ging  schließlich  so  weit,  daß  sie  es  für  ihre  Pflicht  hielt,  ja  vielleicht 
für  eine  Art  Sühne,  die  ihrem  unglücklichen  Sohne  im  Jenseits  zugute 
kommen  möge,  seine  gottlosen  Schriften  zu  verbrennen  und  zu  vernichten. 
Als  Frau  Elisabeth  aus  Südamerika  heimkehrte,  gab  es  harte  Kämpfe,  um 
die  Mutter  zu  überzeugen,  daß  das  Werk  eines  Genies  nicht  der  Familie, 
sondernder  Welt  gehöre.  (Cf.  Gabriele  Reuter,  „Begegnung  mit  Fr.  Nietzsche" 
im  Feuilleton  der  „Neuen  Freien  Presse"  vom  24.  Juni  1921.) 


—     327     — 

Ethik  destruktiv  und  asketisch  sein,  und  eine  andere  als  destruktive 
und  asketische  Sitthchkeit  ist  eben  keine  Sitthchkeit!  Aber  alle 
Ethik  ist  im  letzten  Grunde  eine  Machtfrage.  Es  fragt  sich  nur, 
wer  die  Macht  haben  sollte!  Indes  vergißt  man  über  dem  Streben, 
Nietzsche  zu  widerlegen,  nur  allzugerne  die  Pflicht,  ihm  in  erster 
Linie  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen.  Hat  der  trockene  Buch- 
stabengelehrte eine  Ahnung  davon,  welche  tiefe  Leidenschaft  als 
das  untrennKche  Attribut  aller  Größe  Nietzsche  zeitlebens  beseelte? 
Leidenschaft  ist  Fanatismus,  Fanatismus  ist  einseitig  und  Einseitig- 
keit ist  Beschränktheit.  Und  gewiß  erscheint  uns  dieser  Nietzsche 
einseitig  und  beschränkt.  Sind  wir  ja  doch  tausendmal  reifer  und  ein- 
sichtiger als  er  und  viel  zu  klug,  um  etwa  an  einer  Leidenschaft 
zu  sterben!  Wir  haben  vielmehr  gelernt,  jedes  Ding  von  zehn 
Seiten  zu  sehen.  Wir  durchschauen  alle  Motive  und  legen  jene 
Illusionen  brach,  die  zu  jedem  hochherzigen  Handeln  nötig  wären. 
Wir  wissen  viel  von  Seele  und  Leben,  aber  wir  verlieren  die  naive 
Begeisterung,  die  spontane  Opfer-  und  Todesseligkeit  und  jenen 
„großartigen  Mut  der  Unwissenden",  wie  Treitschke  einst  das 
nannte,  was  das  Wesen  und  den  Vorzug  der  Unreife  ausmacht.  Je 
reifer  wir  werden,  um  so  seltener  begeistern  wir  uns.  Um  so  weniger 
Glaubenskraft  tragen  wir  in  uns.  Aber  ist  nicht  der  Glaube 
gerade  das  Starke  im  Menschen,  das  einzige,  was  dieses  Leben 
noch  erträglich  macht,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  das  im  Sonnen- 
glanze des  Glaubens  erschaute  Ideal  vor  dem  Forum  der  Vernunft 
absolut  nicht  bestehen  kann?  Aber  diese  Kraft  des  Glaubens,  das 
ist  die  Stärke  des  Propheten.  In  Nietzsches  Seele  lebte  eine 
solche  prophetische  Gewalt  und  prophetische  Eigenart,  daß  er  mit 
einem  Blick  das  All,  Weltliches  und  Außerweltliches  umspannte, 
aber  von  einem  einzigen  Augenpunkte  aus.  Er  glaubt  an  die  objektive 
Wahrheit  des  Bildes,  das  er  sieht,  ordnet  und  wertet  danach  die 
Dinge.  Das  Heil  der  Welt  erblickt  er  darin,  daß  sie  sehen  und 
schätzen  lerne  wie  er,  und  sucht  sie  dazu  zu  bekehren.  Eine  subjektiv 
gewaltige  Natur  ist  er:  darum  weckt  er  noch  heute  starke  Sym- 
pathien und  Antipathien.  Was  er  wirkte,  das  wirkte  er  durch  den 
vollen  Einsatz  seines  objektiven  Glaubens.  Darum  war  er  auch  nicht 
„glücklich",  was  die  Menschen  so  nennen.  Aber  sein  Wort  ist,  eben 
weil  es  Prophetenwort  ist,  vieldeutig.  Daher  kann  seine  Lehre,  ein- 
gekleidet  in     eine    berauschend    schöne    Sprache,     noch    so    tiefen 


—     328     -- 

Enthusiasmus  in  uns  auslösen  oder  mögen  wir  uns  von  seinen  Idealen 
noch  so  sehr  abgestoßen  fühlen:  sicher  bleibt  das  eine,  daß  auch 
Nietzsche  einer  von  denen  ist,  die  uns  den  Weg  zur  ewigen  Wahrheit 
weisen:  nicht  der  Nietzsche  sei  unser  Vorbild,  der  gegen  das  Mitleid 
den  Krieg  predigt,  sondern  der  Nietzsche,  der,  solange  er  lebte, 
das  Kreuz  auf  sich  nahm  und  dem  nachfolgte,  den  er  theoretisch 
überwunden  zu  haben  vermeinte.  Praktisch  vertrat  eben  auch  er 
eine  destruktive  und  asketische  Ethik.  Das  war  eben  auch  seiner 
Weisheit  letzter  Schluß.  „Und  wenn  selbst  ein  Engel  vom  Himmel 
käme  und  ein  anderes  Evangelium  verkündete,  glaubet  ihm  nicht!" 
Mit  Recht  sagt  daher  Joel  (1.  c.  p.  85):  „Wer  nur  je  einen  Stein 
erhoben  gegen  Nietzsche,  der  halte  ein  vor  diesem  Bilde:  er,  dessen 
Lehre  alle  Bande  der  Liebe  und  Treue  zerreißt,  eilt  freiwiUig  herbei, 
bereit,  sein  Leben  hinzugeben  für  das  alte  Vaterland,  und  er,  dessen 
ganze  Lehre  Krieg  verkündet,  er  pflegt  in  Liebe  Feind  wie  Freund, 
und  er,  der  das  Herrentum  predigt  in  stolzester  Gewalt,  er  dient, 
er  tut  die  niedrigsten,  widrigsten  Dienste  selbst  für  gefangene  Turkos, 
und  er,  der  Todfeind  der  Nächstenliebe  und  am  meisten  des  Mitleids, 
der  Verächter  und  Preisgeber  der  Schwachen  und  Elenden  in  seiner 
Lehre  —  er  übt  Krankenpflege  Tag  und  Nacht,  opferwillig,  bis  er 
selbst  hinsinkt,  geschwächt  und  angesteckt  zu  schwerer  Krank- 
keit . . .  Nietzsche,  ein  Opfer  des  Krieges,  und  wunderbarer  noch : 
ein  Opfer  des  Mitleids!** 

Also  nur  im  Hinblick  auf  die  früher  entwickelten  Gesichtspunkte,, 
aber  nicht,  weil  er  ein  Dionysos  im  Sinne  Stekels  oder  Möbius'  zu 
sein  sich  einbildete,  bekämpft  Nietzsche  mit  hinreifsender  Sprach - 
und  Gedankengewalt  die  Überschätzung  der  Selbstüberwindung  und 
Askese,  weil  sie  die  Tatkraft  des  Menschen  lähmen  und  ihn  innerlich 
erst  brechen  zu  müssen  glauben,  damit  er  moralisch  werde:  „Nicht 
anders  wußten  sie  ihren  Gott  zu  ehren,  als  indem  sie  den  Menschen 
ans  Kreuz  schlugen!"  Die  Selbstüberwindung  kann  gewiß  ein  er- 
zieherisches Mittel  sein,  das  zwar  tüchtig  geübt,  nie  jedoch  Selbst- 
zweck werden  darf.  Nun  ist  es  freilich  tief  im  Wesen  des  Menschen 
begründet,  daß  er  die  kraftvolle  Betätigung  der  in  ihm  vorhandenen 
Fähigkeiten  als  lustvoll  empfindet.  Deshalb  fordert  Nietzsche,  daß. 
bei  jedem  Menschen  diese  Funktionslust  entwickelt  und  in  die 
richtigen  Bahnen  geleitet  werde,  nicht  jedoch,  daß  man  in  der 
Hemmung  oder  Aufhebung  dieser  Lust  ein  Verdienst  erblicke.    Nur 


—     329     — 

deshalb  verdammt  er  alle  Askese  und  Selbstquälerei:  denn  auszu- 
dauern  unter  dieser  Sonne  trotz  aller  Schmerzen  und  Entsagungen 
dieses  Lebens,  immer  nur  zu  arbeiten  am  Wohle  der  Menschheit, 
Kunst  zu  treiben,  zu  forschen  und  werktätige  Liebe  zu  verbreiten, 
auf  daß  der  dumpfe  Naturwille  geläutert  und  durchsonnt  werde  zum 
edelsten  Dasein,  zu  echt  menschenwürdiger  Gestalt,  „zum  Caesar 
mit  der  Seele  Christi",  wahrhch,  dieses  Gelübde  zu  leben  ist 
schwerer  —  aber  auch  wirksamer  im  Weltenschicksale  ^) ! 

Nein,  nicht  mit  Schopenhauer  und  Wagner  geben  wir  diese 
ganze  Welt  in  Kauf,  um  auf  Grund  ihrer  eklen  Existenz  ein  phan- 
tastisches Weltmysterium  für  erwiesen  zu  nehmen,  das  uns  jede 
Schaffensfreude  in  Leben  und  Liebe  nehmen  muß  und  dafür  nichts 
zurückgibt  als  eine  im  Innersten  wesenlose  Phantasmagorie.  Nur 
der  Übermensch,  in  dem  der  Mensch  „aus  der  Katakombenluft  des 
Christentums  ans  Tageslicht  emporsteigt",  kann  uns  aus  unserem 
„dogmatischen  Schlummer"  wecken  und  mahnt,  unsere  intellektuellen 
Werte  und  Güter  einer  gründlichen  Prüfung  zu  unterziehen.  Nur 
das  Echte,  ewig  Menschliche  wird  diese  Feuerprobe  bestehen! 

Aber  umgekehrt  haben  in  diesem  Weltbilde  Nietzsches  Zügel- 
losigkeit  und  Ungebundenheit  gar  kein  Recht,  sich  auf  ihn  zu  be- 
rufen. Wie  tief  müßte  er,  der  Herrhche,  enttäuscht  sein,  wenn  er 
heute  die  Summe  seines  Lebenswerkes  ziehen  könnte,  wenn  er  zu 
erkennen  vermöchte,  wie  er,  der  der  Philosoph  der  geistig  Starken  sein 
wollte,  zum  Schutzheiligen  der  morahsch  Schwachen  geworden  ist! 
Gar  nicht  zu  reden  von  jenen  unreifen  Jungen,  die  aus  Nietzsches 
Werken  das  Recht    zum  Ausleben  der  Persönhchkeit  ableiten !    Wie 


^)  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  an  Pfarrer  Rittelmeyer  erinnert,  der 
in  seinem  ausgezeichneten  Buche  „Fr.  Nietzsche  und  die  Religion*'  der  Ver- 
mutung Ausdruck  gibt,  daß  Nietzsche  die  Religion  viel  zu  sehr  in  der  Form 
der  stillen  Ergebung  und  des  demütigen  Gott-walten-lassens  kennen  gelernt 
hat  und  es  überhaupt  als  eine  Schwäche  bezeichnet,  die  die  Verkündigung 
der  Religion  vielfach  an  sich  trägt,  daß  zu  viel  von  Trost  geredet  wird  und 
zu  wenig  von  freudigem  Heldenmut:  „Hierin  kann  und  wird  es  anders 
werden  —  und  gerade  Nietzsche  wird  dazu  helfen."  Und  ich  selbst  kann  nur 
aufrichtig  gestehen,  daß  die  Loktüre  von  Kalthoffs  „Zarathustrapredigten" 
und  Jathos  „Der  ewig  kommende  Gott",  Werke,  die  auf  jeder  Seite  Nietzsches 
Geist  atmen,  auf  mich  stets  befreiend  gewirkt  hat,  daß  Nietzsche,  richtig, 
verstanden  und  interpretiert,  unser  religiöses  Fühlen  und  Denken  nur  be- 
reichern, läutern  mid  vertiefen  kann:  denn  „im  Anfang  war  die  Tat!" 


—     330     — 

schmerzlich  müßte  er  es  empfinden,  wenn  sein  Gesetz  der  geistigen 
Herrenrechte  zum  Deckmantel  niederer  Instinkte,  seih  Traum  des 
höheren  Ichmenschentums  zum  Schlagwort  des  persönlichsten  und 
kleinhchsten  Egoismus  verdreht  worden  ist:  der  Unverstand  nervöser 
Frauen  und  die  Zuchtlosigkeit  verweichlichter  Männer  benützen 
einige  Brocken  Nietzsches  als  glänzenden  Mantel  für  ihre  sozialen 
und  individuellen  Ausschreitungen  und  stellen  ihr  Unvermögen  zur 
Selbstbeschränkung,  ihr  Versagen  aller  höchsten  Instinkte  —  der 
des  Kampfes  gegen  sich  selbst  —  noch  als  Ergebnis  besonderer 
psychischer  Kraftwirkungen  hin!  Sie  haben  eben  sich  selbst  noch 
nicht  gesucht,  da  fanden  sie  ihn!  Er  selbst  ruft  ihnen  zu:  „Nun 
heiße  ich  euch,  mich  verlieren  und  euch  finden!"  —  „Ich 
suchte  nach  großen  Menschen,  ich  fand  immer  nur  die  Affen  ihres 
Ideals^)!''  Ein  moderner  Dichter  hat  für  diese  Tatsache  folgende 
zutreffenden,  launigen  Verse   geschrieben: 

„Er  blickte  zu  tief.  Die  Götter  schraken  zu  Tode. 
Sie  haben  rächend  den  klarsten  Geist  umnachtet. 
Sie  kannten  die  Jünger  nicht,  die  ihn  brachten  in  Mode: 
Sonst  hätten  sie  ihn   genug  gestraft  erachtet!" 

Ach,  wo  sich  die  Ewigkeit  ihre  Tempel  baut,  baut  die  Vergäng- 
lichkeit eine  Kapelle  daneben!  Der  Weg,  der  zum  Übermenschen 
führt,  ist  nicht  so  leicht  zu  begehen,  wie  es   etwa  einige  Hitzköpfe 


1)  Während  Richard  Dehmel,  einer  der  besten  Jünger  Nietzsches,  aus 
Nietzsches  zu  starker  Überschätzung  der  Bedeutung  der  starken  Persönlich- 
keit zuungunsten  der  Masse  nach  einem  Modus  sucht,  um  die  gewaltigen 
Kräfte  überragender  Menschen  dem  ganzen  Volke  und  damit  der  Mensch- 
heit dienstbar  zu  machen,  versuchte  Hermann  Conradi  mit  unzulänglichen 
Mitteln  dasselbe:  die  Vereinigung  des  Ai'istokratismus  Nietzschescher 
Färbung  mit  proletarischen  Formen.  Dehmel  fand  diesen  Weg  von  der 
Einzelpersönlichkeit  zum  Volke,  ohne  seine  machtvolle  Persönlichkeit  dar- 
über zu  vergessen.  In  seinem  „Bergpsalm"  läßt  er  den  einsamen  Wanderer 
mit  sich  selbst  Zwiesprache  halten.  Zu  seinen  Füßen  liegt  die  Weltstadt 
mit  ihren  Türmen,  Häusern,  Fabriken.  Millionen  Menschen  schreien  in 
ihrem  Seelenhunger  „gell  nach  Brot".  Da  hört  auch  der  Dichter  die  Stimme 
der  Pflicht  in  seinem  Herzen,  aus  Mitleid  und  Liebe  zu  den  Vielen  wird  die 
Tat  geboren: 

„Den  Kelch  des  Schweißes  seh  ich  geistverklärt,  ^ 

das  Kreuz  der  Mühsal  blütenlaubumflattert! 

Was  lachst  du  Sturm?  —  Im  Rohr  der  Nebel  gärt, 

die  Kiefer  knarrt  und  ächzt,  mein  Mantel  knattert: 


—     331     — 

sich  einbilden;  denn  Nietzsche  stellt  seine  Forderungen:  „Bist  du 
eine  neue  Kraft  und  ein  neues  Recht?  Eine  erste  Bewegung?  Ein 
aus  sich  rollendes  Rad?  Kannst  du  auch  Sterne  zwingen,  daß  sie 
sich  um  dich  drehen?  Ach,  es  gibt  so  viel  Lüsternheit  nach  Höhe! 
Es  gibt  so  viele  Krämpfe  der  Ehrgeizigen!  Zeige  mir,  daß  du 
keiner  der  Lüsternen  und  Ehrgeizigen  bist!  Ach,  es  gibt  so  viele 
große  Gedanken,  die  tun  nicht  mehr  als  ein  Blasebalg:  sie  blasen 
auf  und  machen  leerer.  Frei  nennst  du  dich?  Deinen  herrschenden 
Gedanken  will  ich  hören  und  nicht,  daß  du  einem  Joch  entronnen 
bist.  Bist  du  ein  solcher,  der  einem  Joche  entrinnen  darf?  Es  gibt 
manchen,  der  seinen  letzten  Wert  wegwarf,  als  er  seine  Dienstbarkeit 
wegwarf!"  Und  ein  Ausspruch,  den  nur  zu  viele  Bewunderer  und  Nach* 
ahmer  des  Propheten  vergessen  zu  haben  scheinen,  lautet:  „Ich  bin  ein 
Geländer  am  Strome:  fasse  mich,  wer  mich  fassen  kann!  Eure 
Brücke  aber  bin  ich  nicht!"  —  „Der  vornehme  Mensch  ehrt  sich 
in  den  Mächtigen,  auch  den,  welcher  Macht  über  sich  selbst  hat, 
der  zu  reden  und  zu  schweigen  versteht,  der  mit  Lust  Strenge 
und  Härte  gegen  sich  selbst  übt  und  Ehrerbietung  vor 
allem  Strengen  und  Harten  hat."  Und  seine  Nachfolger,  das 
heißt  alle  jene,  die  „modern"  sein  wollen  und  zu  Nietzsche  beten 
als  dem  so  oft  ungekannten  Gotte,  seien  an  diese  seine  Worte  er- 
innert: „Solchen  Menschen,  welche  mich  etwas  angehen,  wünsche 
ich  Leiden,  Verlassenheit,  Krankheit,  Mißhandlung,  Entwürdigung; 
ich  wünsche,    daß  ihnen  die  tiefe  Selbstverachtung,    die  Marter   des 


Empor  aus  deinem  Rausch!  Mitleid  glüh  ab! 

Laß  dir  die  Kraft  nicht  von  Gefühlen  beugen! 

Hinab!  Laß  deine  Sehnsucht  Taten  zeugen! 

Empor,  Gehirn!  Hinab,  Herz!  Auf!  Hinab!" 
Conradi  z.  B.  bleibt  dagegen  auf  halbem  Wege  stehen  und  wird  zu  jenem 
so  unerfreuhchen  Typus  der  Nietzschejünger,  die  sich  in  orgiastischer,  zügel- 
loser Erotik  ausleben.  Ein  sexuelles  Übermenschentum  hat  indes  Nietzsche 
niemals  gepredigt.  Aber  vielen  jungen  Leuten  ist  sein  Werk  zum  Ver- 
hängnis geworden:  sie  haben  die  vielen  unzweideutigen  Aussprüche,  die 
im  Werk,  in  der  Leistung  alles,  im  Genuß  gar  nichts  sehen,  nicht 
beherzigt:  „Wollust  ist  nur  dem  Welken  ein  süßlich  Gift,  für  die  Löwen  — 
Willigen  aber  —  der  ehrfürchtig  geschonte  Wein  der  Weine!"  —  „Sie  kennen 
mich  nicht  und  meine  edelsten  Worte  wissen  sie  nicht.  Sie  ehren  mich 
nicht  mit  ihren  Ruhmreden,  denn  sie  wissen  nicht,  wo  ich  allein  geehrt 
werden  kann.  Ich  war  ein  Mensch  und  sie  haben  mich  zu  einem  falschen 
Götzen  gemacht!" 


—     882     — 

Mißtrauens  gegen  sich,  das  Elend  des  Überwundenen  niclit  unbekannt 
bleibt:  ich  habe  kein  Mitleid  mit  ihnen,  weil  ich  ihnen  das  einzige 
wünsche,  was  heute  beweisen  kann,  ob  einer  Wert  hat  oder  nicht 
—   daß  er  standhält!" 

Wenn  jedoch  jemand  von  uns,  denen  die  Begriffe  Moral  und 
Vergutmütigung  nahezu  identisch  sind,  glaubt,  daß  durch  eine 
systematische  Moralisierung  oder  Vergutmütigung  des  Menschen- 
geschlechtes  dieses  an  persönlicher  Kraft  und  Vollkommenheit  zu- 
nehmen müßte,  so  ist  eine  solche  Ansicht  mit  Nietzsche,  der  in 
einem  solchen  Verfahren  Verminderung  unseref  Vitalität  erbhckt, 
entschieden  zu  verneinen.  Denn  die  Menschheit  von  heute  ist  ver- 
letzlicher, rücksichtenreicher,  mitleidiger,  selbstflüchtiger,  unpersön- 
licher denn  je:  der  Instinkt  des  Herdentieres  Mensch,  den  das 
Griechenvolk  in  seiner  glückUchsten  Epoche  so  siegreich  überwunden 
hat,  droht  heute  Herr  zu  werden  über  die  immer  seltener  werdenden 
Instinkte  eines  souverän  veranlagten  Menschen  und  seine  Bedeutung 
für  die  Kulturaufgaben  eines  Volkes,  ja  der  gesamten  Menschheit. 
Denn  Nietzsches  Philosophie  basiert  auf  dem  Grundsatz,  daß  es 
einen  gewaltigen  Unterschied  bedeute,  das  Leben  als  Problem 
oder  als  ein  bloßes  Spiel  zu  absolvieren.  Daher  der  billige  Liber- 
tinismus  unserer  Tage,  der  dem  kategorischen  Imperativ  der  Pflicht 
den  Optativ  des  Herzens  und  der  Sinne  entgegengestellt,  mit 
Nietzsches  ethischem  Individuahsmus  sich  durchaus  nicht  befreunden 
kann  und  mag.  Mit  Recht  konnte  daher  Peter  Gast  Nietzsche  als 
den  Aristokraten  durch  und  durch  bezeichnen  und  sagen,  Nietzsche 
würde,  in  ein  Zeitalter  hineingeboren,  das  wir kh che  Herren  gehabt 
hätte,  sofort  zu  dem  geworden  sein,  der  er  einst  werden  wollte: 
ein  Mann  der  Tat,  ein  Ordensstifter,  ein  Kolonisator.  Eine  neue, 
heroische  Menschenklasse  wollte  er,  einen  neuen  Adel,  der  sein 
geistiges  Ideal  in  der  höchsten  Intensität  seiner  Willens-  und  Geistes- 
betätigung sucht,  den  vornehmen  Menschen  mit  dem  Willen  zur 
Selbstverantworthchkeit,  der  Ehrfurcht  vor  sich  selbst,  der  Macht 
über  sich  und  sein  Geschick.  Die  höchste  Entfaltung  des  Individuums 
bedeutet  eben  die  Überwältigung  des  „Menschen",  aller  bisherigen 
Moral.  Der  Tod  ist  seiner  Zufälhgkeit  entkleidet.  Am  Schaffen 
selbst  stirbt  der  Schaffende,  der  Schöpfer  aus  Güte  und  Weisheit. 
Diesen  Zusammenhang  beleuchtet  ein  Nachlaßfragment  zum  „Zara- 
thustra",    das,    da    es   nur   in    die    große  Ausgabe    von    Nietzsches 


—     333     — 

Werken  aufgenommen  wurde  und  deshalb  zo  ziemlich  unbekannt 
ist;  hier  wörtlich  zitiert  sei:  „Zarathustra  vor  dem  Könige.  Es  ist 
nicht  mehr  die  Zeit  für  Könige:  die  Völker  sind  es  nicht  mehr 
wert,  Könige  zu  haben.  Du  hast  es  gesagt,  König:  das  Bild,  das 
vor  dem  Volke  hergeht,  das  Bild,  an  dem  sie  alle  zu  Bildnern 
werden:  das  Bild  soll  dem  Volke  der  König  sein.  Vernichten,  ver- 
nichten sollst  du,  0  König,  die  Menschen,  vor  denen  kein  Bild  her- 
läuft: das  sind  aller  Menschheit  schlimmste  Feinde!  Und  sind  die 
Könige  selber  solche,    so  vernichte,  o  König,    die  Könige,    so  du  es 

vermagst!" „Meine  Richter   und  Fürsprecher    des  Rechts 

sind  übereingekommen,  einen  schädlichen  Menschen  zu  vernichten; 
sie  fragen  mich,  ob  ich  dem  Rechte  seinen  Lauf  lassen  wolle  oder 
die  Gnade  vor  dem  Rechte."  —  „Was  ist  das  Schwerere  zu  wählen 
für  einen  König,  die  Gnade  oder  das  Recht?"  —  „Das  Recht",  ant- 
wortete der  König;  denn  er  war  milden  Sinnes.  —  „So  wähle  das 
Recht  und  laß  die  Gnade  den  Gewaltmenschen  als  ihre  eigene 
Überwältigung."  —  „Ich  erkenne  Zarathustra,"  sagte  der  König 
mit  Lächeln:  „wer  verstünde  wohl  gleich  Zarathustra  auf  eine 
stolze  Weise  sich  zu  erniedrigen?  Aber  das,  was  du  aufhobst,  war 
ein  Todesurteil."  —  Und  er  las  langsam  daraus  und  mit  halber 
Stimme,  wie  als  ob  er  mit  sich  allein  sei  „des  Todes  schuldig  — 
Zarathustra,  des  Volkes  Verführer."  —  „Töte  ihn,  wenn  du  die 
Macht  hast"  —  rief  Zarathustra  auf  eine  furchtbare  Weise  abermals ; 
und  seine  Bhcke  durchbohrten  die  Gedanken  des  Königs.  Und  der 
König  trat  nachsinnend  einige  Schritte  zurück,  bis  hinein  in  die 
Nische  des  Fensters;  er  sprach  kein  Wort  und  sah  auch  Zarathustra 
nicht  an.  EndUch  wandte  er  sich  zum  Fenster.  Als  er  aber  zum 
Fenster  hinausbhckte,  da  sah  er  etwas,  darob  die  Farbe  seines  An- 
gesichtes sich  verwandelte.  „Zarathustra,"  sagte  er  mit  der  Höflich- 
keit eines  Königs,  „vergib,  daß  ich  dir  nicht  gleich  antwortete. 
Du  gabst  mir  einen  Rat:  und  wahrhaftig,  ich  hörte  gerne  schon 
auf  ihn!  —  Aber  er  kommt  zu  spät!"  —  Mit  diesen  Worten  zerriß 
er  das  Pergament  und  warf  es  auf  den  Boden.  Schweigend  gingen 
sie  voneinander.  Was  der  König  aber  von  seinem  Fenster  aus  ge- 
sehen hatte,  das  war  das  Volk:  das  Volk  wartete  auf  Zara- 
thustra." Wen  erinnert  nicht  dieses  Fragment  an  Piaton,  dessen 
Traum  von  einer  herrschenden  Aristokratie  auf  geistigem  Gebiete 
nachmals  Nietzsches  Lieblingsgedanke  geworden  ist?  In  der  „Politeia" 


—     384     — 

lesen  wir:  „Nicht  früher  wird  es  einen  Stillstand  der  Übel  für  die 
Staaten,  ja  ich  meine  für  das  ganze  Menschengeschlecht  geben, 
bis  die  politische  Macht  und  die  Philosophie  in  eins  zusammen- 
fallen, bis  entweder  die  Philosophen  Könige  werden  oder  die  jetzt 
sogenannten  Könige  und  Gewalthaber  wahrhaft  und  nicht  bloß  ober- 
flächlich zu  philosophieren  beginnen.  Erst  dann  kann  unser  Staat 
erwachsen  und  das  Licht  der  Sonne  schauen." 

Und  doch  wird  uns  dieser  Nietzsche,  der  solches  lehrte,  über- 
einstimmend als  einer  der  rücksichtsvollsten  und  zartfühlendsten 
Menschen  im  persönlichen  Verkehr  geschildert,  weshalb  man  mit  Kecht 
von  ihm  sagen  kann :  er  selbst  war  durchaus  nicht  jener  Übermensch, 
den  er  lehrte  und  ersehnte,  der  reue-  und  gewissenlos  über  die  zer- 
trümmerten Existenzen  der  Mühsehgen  und  Beladenen,  der  Schwachen 
und  Kranken  hinwegschreitet.  Man  kann  aber  aus  dieser  Tatsache 
erkennen,  ein  wie  heikles  Problem  es  ist,  aus  der  Lehre  eines  Philo- 
sophen Rückschlüsse  auf  dessen  persönhches  Leben  zu  ziehen.  Als 
Arzt  und  Psychologe  hätte  es  daher  Stekel  nicht  verabsäumen 
dürfen,  die  Frage  näher  zu  untersuchen,  ob  nicht  gerade  der  Wert 
kraftvoller  Gesundheit  und  Lebensfreude,  die  Nietzsche,  dem  Leidenden 
versagt  waren  und  ihn  nur  in  Stunden  berauschender  Produktion 
beglückten,  von  ihm  so  tief  empfunden  wurde,  daß  nicht  nur  sein 
höchstes  Ideal,  sondern  überhaupt  seine  Philosophie  eine  aus- 
gesprochene Färbung  nach  dieser  Seite  hin  erhielt?  Wer  es  ihm 
etwa  verübelt,  daß  er  einen  Cesare  Borgia  und  Napoleon  verherrlicht 
und  aus  dieser  Tatsache  den  Schluß  ableitet,  daß  derjenige,  der 
einen  Giftmischer  und  Gewaltmenschen  preist,  selber  nicht  viel 
besser  gewesen  sein  muß  als  seine  „Ideale",  der  befindet  sich  in 
einem  gewaltigen  Irrtume  und  sei  an  folgendes  erinnert:  1.  Cesare 
Borgia  und  Napoleon  stehen  jenseits  von  Gut  und  Böse.  Niemals 
kam  es  ihnen  in  den  Sinn,  die  Menschheit  als  Ganzes  zu  heben, 
harte  Selbstzucht  zu  üben,  Opfer  zu  bringen  für  das  in  der  Ferne 
winkende  Menschheitsideal,  ja  sich  selbst  dafür  zu  opfern ;  2.  Nietzsche 
hat  sie  nur  als  Ästhet  gesehen;  und  das  will  heißen:  bei  Borgia 
sah  er  nur  die  Kraft  der  ungezügelten  Leidenschaft,  die  sich  lachend 
über  alle  Schranken  hinwegsetzte;  in  Napoleon  sah  er  nur  den 
Imperator,  der  ohne  Gewissensbedenken  alle  anderen,  nur  sich  selbst 
nicht  opferte,  der  mit  dröhnenden  Schritten  durch  Europa  dahin- 
khrrte  und    mit  Kronen    und  Krönchen  souverän  spielte.    Nietzsche 


—     335     — 

hat  sich  in  seiner  vorwiegend  ästhetischen  Beanlagung  zu  einem 
Lobhed  auf  diese  Männer  von  der  furchtbaren  Pracht  ihrer  Er- 
scheinung begeistern  lassen,  wie  sich  etwa  Dichter  von  einem  in 
seiner  elementaren  Kraft  alles  zerpeitschenden  und  zerschmetternden 
Gewittersturm  zu  einem  Hymnus  aufs  Gewitter  begeistern.  Nietzsche 
selbst  war,  es  sei  nochmals  betont,  ein  guter,  um  in  seiner  Sprache 
zu  reden,  ein  „vornehmer"  Mensch.  Sein  Selbstbewußtsein  war 
allerdings  stark  entwickelt  und  entwickelte  sich  in  der  Einsamkeit 
seines  Daseins  immer  mehr,  je  weniger  sein  gleichstarker  Ehrgeiz 
befriedigt  wurde.  Von  ihm  stammt  das  schöne  Wort:  „Alles  Il- 
legitime ist  mir  verhaßt!"  Bescheiden  in  seinen  Ansprüchen  an 
das  Leben,  wohnte  er  oft  genug  so  einfach,  daß  mancher  seiner 
Besucher  über  diese  spartanische  Bedürfnislosigkeit  erstaunt  war, 
er  nahm  herzlichen  Anteil  an  dem  Geschick  der  kleinen  Leute,  bei 
denen  er  wohnte,  nahm  regen  Anteil  am  Geschick  seiner  Freunde, 
war  von  äußerster  Höflichkeit  im  Verkehr  mit  seinen  Mitmenschen, 
besonders  mit  Damen,  die  seinen  Umgang  geradezu  gesucht  haben, 
er  übte  Rücksichten.  „Eben  darum  konnte  und  durfte  er",  sagt 
Th.  Lessing  (1.  c.  p.  433),  „unter  der  Qual  unveräußerhcher  Hemmung 
eine  Ethik  zügelloser  Freiheit  predigen,  von  deren  eiserner  Strenge 
und  unvergleichlichen  seeHschen  Höhe  diejenigen  keine  Ahnung 
haben,  die  sie  uns  als  Emanzipation  des  Sichgehenlassens  zu  dis- 
kreditieren versuchten')  . . .  daher  sind  die  Kämpfe,  die  Nietzsche 
kämpfte,  die  unseren.  Die  Kontraste,  denen  er  erlag,  der  Gegensatz 
ästhetisch-rehgiöser  und  sozial-ethischer  Impulse  ist  der  Konflikt 
unserer  Zeit,  und  in  irgendeiner  Form  müssen  wir  alle  durch  ihn 
hindurch.  Kein  Philosoph  kann  uns  dabei  besserer  Halt  werden,  ein 
besserer  Schutz  gegen  alles  Zuchtlose  und  Schwächliche,  alles  Halbe 
und  Gemeine!  Keiner  freilich  macht  uns  das  Leben  so  schwer! 
Keiner  fordert  gleich  strenge  Auffassung  und  Führung  unseres 
Lebens.  Denn  für  ihn  ist  das  individuelle  Leben  nur  die  harte 
Schule  der  Selbstbestimmung  und  Selbstkultur.  Strebe  ich  denn 
nach  meinem  Glück?  Ich  strebe  nach  meinem  Werk!  So  spricht 
eine  neue  Pflichtenlehre,  deren  Blickpunkt  zwar  ein  anderer  ge- 
worden ist,  die  aber  an  Strenge  und  Erhabenheit  den  alten  Lebens- 
lehren   nicht   nachsteht.     Wer   freiüch    kann    wissen,    zu   welchem 


1)  Cf.  p.  221/22. 


—     336     — 

Mißverständnis  auch  die  beste  Wahrheit  im  Munde  derer  wird, 
die  für  sie  nicht  reif  sind  oder  die  für  Interesse  und  BequemHch- 
keit  nur  einen  Deckmantel  suchen?  Auch  Wissenschaft  ist  Kunst! 
Sie  steigt  aus  unserem  Blut,  aus  unserem  Leben.  Sie  ist  kein 
passives  Ereignis,  sondern  menschliche  Wirkung  und  befreiende  Tat! 
Somit  wissen  wir  nicht,  was  in  letzter  Objektivität  wahr  oder 
falsch  sei,  denn  alles  bestimmt  die  Stunde,  das  Zeitalter  und  die 
Umgebung,  das  Gefühl  und  die  Wahrheit  eines  jeden  Augenblicks, 
und  es  bleibt  uns  nichts  übrig  als  blind  zu  vertrauen,  daß 
irgendwo  und  in  irgendwem  alles  und  jedes  zu  seiner  Reife  komm.e ! 
Wir  dürfen  aber  nicht  den  Schmied  verantwortlich  machen,  wenn 
sein  Meisterstück  irgendwo  Schäden  stiftet.  Käme  es  in  eines 
Kindes  Hände,  dann  werden  sie  sich  zerschneiden.  Fällt  es  in  die 
Hand  eines  Verzweifelten,  dann  kann  er  das  Schwert  gegen  sich 
selber  kehren.  Aber  der  Tapfere  wird  mit  ihm  seine  Feinde  bestehen." 
In  diesem  Sinne  konnte  daher  Jerusalem  sagen,  die  Philosophie 
Nietzsches  sei  eine  „reiche  Rüstkammer,  aus  der  kommende  Ge- 
schlechter sich  die  Waffen  holen  werden  gegen  unberechtigte  Unter- 
drückung  der  freien  Persönhchkeit  im  Menschen",  daß  „die  lautere 
Aufrichtigkeit  seiner  Gesinnung  zweifellos  zu  einem  sehr  wertvollen 
Kulturelemente"  sich  entwickeln  werde.  Zum  Schlüsse  endlich  sei 
es  mir  gestattet,  die  schönen  W^orte  R.  M.  Meyers  zu  zitieren:  „Daß 
ein  Schwäcnling  sich  für  die  eigene  Unkraft  durch  ein  Schwelgen  in 
geträumten  Heraklestaten  entschädigt,  kommt  gewiß  vor,  und 
Nietzsche  selbst  hat  auf  solche  Erscheinungen  hingewiesen  —  man 
hat  diese  Sprüche  weidhch  gegen  ihn  ausgenützt !  . . .  Wenn  ich 
einen  Mann  sehe,  der  mit  unerschütterlicher  Energie,  durch  alle 
Krankheiten,  Versuchungen,  Ablenkungen  unbeirrt,  ein  großes  Ziel 
im  Auge  behält;  wenn  ich  einen  Mann  sehe,  der  fast  ohne  Unter- 
stützung (außer  durch  den  trefflichen  Peter  Gast),  mit  kranken 
Augen  und  schmerzendem  Kopf  zwanzig  große  Werke  vollendet; 
wenn  ich  einen  Mann  sehe,  der  auf  sein  größtes  Lebensglück,  die 
Freundschaft  mit  Wagner,  unbedenklich  verzichtet,  weil  er  es  seiner 
Wahrheitshebe  und  seiner  Entwicklung  schuldig  zu  sein  glaubt  — 
so  genügen  mir  diese  Zeugnisse  für  Nietzsches  ungewöhnliche 
Willenskraft,  mag  er  sich  auch  einmal  in  irgendeiner  Nebensache 
haben  überstimmen  lassen.  Und  wenn  eine  Natur  wie  diese  sich 
zuletzt  in  Vorstellungen  des  Größenwahns  hineinsteigert,  so  sehe  ich 


—     337     — 

auch  hierin  eben  nur  die  Steigerung  und  Überspannung  seines 
starken  Willens;  etwa  wie  bei  Napoleons  letztem  Feldzug.  Nein, 
die  Kraftberauschung  eines  Schwächlings  sieht  anders  aus!  Der 
träumt  sich  in  aller  BequemUchkeit  zum  Sultan  und  denkt  nicht 
daran,  auf  den  Willen  der  anderen  zu  wirken !  . . .  Nietzsche  ist  nicht 
der  Schwächling,  zu  dem  ihn  eine  an  Kraft  verzagende  Nation  um- 
dichten will!" 

Wie  jedes  starke,  die  Erkenntnis  wie  den  Mut  der  Kultur- 
arbeit gleichmäßig  umfassende  Weltbild  ruht  auch  das  Weltbild 
Nietzsches  auf  dem  Unterbau  freier  Wahrheitsforschung.  Aber  es 
mündet  ebenso  wie  das  Weltbild  Piatons  oder  Schopenhauers  im 
Rehgiösen,  in  das  hinein  der  Denker  gleichsam  die  Konsequenz 
seiner  Ideale  projiziert.  Denn  das  Religiöse  kann  nie  dauernd  auf 
das  Ideal  der  unbedingten  Hingabe  an  die  Wahrheitssuche  um  jeden 
Preis  verzichten.  Heilig  muß  ihm  auch  die  Arbeit  an  der  Wahrheit 
sein,  die  aus  diesem  Ideal  hervorgeht:  die  Forschung  und  ihr  Er- 
kenntnisgewinn. Das  sollten  wir  bei  Nietzsche  nie  vergessen, 
speziell  nicht  bei  seiner  Verherrlichung  des  Dionysos.  Aus  dem 
eigenen  inneren  Erlebnis,  aus  Intuition,  das  ist  eigentlich  aus 
innerem  Schauen,  stammt,  was  Nietzsche  da  verkündet,  und  auch 
sein  igag  führt  über  alles  Intellektuelle  hinaus,  eben  zur  Intuition, 
zur  dauernden  Befriedigung  im  reinen  Anschauen.  Frau  Andreas- 
Salomö  hat  daher  mit  ihrer  Behauptung  vollkommen  recht,  daß 
vorzüglich  Nietzsches  letzte  Werke  ein  klarer  Beweis  dafür  seien? 
bis  zu  welchem  Grade  es  der  reUgiöse  Grundtrieb  war,  der  Nietzsches 
Wesen  und  Erkennen  stets  beherrschte.  Aber  sie  vergaß  ganz,  daß 
selbst  die  abstrakteste,  strengste  Denktätigkeit  in  der  Inbrunst  eines 
Gefühlslebens  ihre  Ergänzung  findet,  die  wir  religiös  nennen  müssen, 
wenn  sie  weiter  behauptet,  allen  Phasen  von  Nietzsches  Denken 
entsprächen  ebenso  viele  Gottsurrogate,  die  ihm  helfen  sollen,  ein 
mystisches  Gottideal  außer  seiner  selbst  entbehren  zu  können.  Mit 
einer  Selbsttäuschung  ohnegleichen  löse  Nietzsche  den  tragischen 
Konflikt  seines  Lebens,  des  Gottes  zu  bedürfen  und  dennoch  den 
Gott  leugnen  zu  müssen.  Zuerst  gestalte  er  mit  sehnsuchtstrunkener 
Phantasie  das  Übermenschenideal  und  dann,  um  sich  vor  sich  selbst 
zu  retten,  suche  er  mit  einem  ungeheuren  Sprung  sich  mit  dem. 
selben  zu  identifizieren.  So  werde  er  zuletzt  zu  einer  Doppelgestalt: 
halb  kranker,  leidender  Mensch,  halb  erlöster,  lachender  Übermensch. 

Grieß  er,  Wagner  und  Nietzsche.  22 


—     338     — 

Das  eine  sei  er  als  Geschöpf,  das  andere  als  Schöpfer,  das  eine  als 
WirkHchkeit,  das  andere  als  mystisch  gedachte  Überwirklichkeit. 
IndeS;  was  Goethe  in  die  herrlichen  Verse  gekleidet  hat: 

„In  unseres  Busens  Reine  lebt  ein  Streben, 
sich  einem  Höhern,  Reinem,  Unbekannten 
aus  Dankbarkeit  freiwillig  hinzugeben, 
enträtselnd  sich  dem  ewig  Unbenannten. 
Wir  heißen's  fromm  sein!" 

das  traf  auch  bei  Nietzsche  ein:  dem  Unbekannten,  tief  in  seine  Seele 
Greifenden,  sein  Leben  wie  ein  Sturm  Durchschweifenden,  ihm  Ver- 
wandten, den  er  schon  als  Jüngling  sehnend  gesucht,  als  reifer 
Mann  hatte  er  ihn  gefunden  und  ward  sein  Diener:  mit  der  For- 
mulierung seines  Übermenschenideals  hatte  Nietzsche  die  Eudämonie 
erreicht  und  der  Gewinn  dieses  Augenblicks  war  unverlierbar:  indem 
er  es  erkannte,  erfüllte  sich  seines  Herzens  Sehnsucht.  Das  Göttliche 
wohnt  jenseits  der  Grenzen,  die  der  Wissenschaft  gesteckt  sind; 
aber  sein  Licht  ist  es,  an  dessen  Abglanz  wir  das  Leben  haben; 
im  farbigen  Abglanze  erschien  dieses  Licht  Nietzsche  als  der  Über- 
mensch. Das  war  mehr  wie  eine  mystische  Verzückung :  das  war  das 
plötzliche  Erfassen  einer  Wahrheit,  die  für  ihn  ein  unverlierbarer  Besitz 
ward.  Aber  der  Dichter  in  ihm  ist  es,  dem  wir  uns  begeistert  an- 
vertrauen, wenn  er  uns  einen  Vorgeschmack  von  der  Seligkeit  gibt, 
die  ihm  in  der  wunschlosen  Erfüllung  alles  irdischen  und  über- 
irdischen   Strebens   als    höchstes  Ziel,  als  Vollendung    vorschwebt'). 


1)  M.  E.  hat  daher  Erwin  Rohde  gelegentlich  einer  Kritik  über  „Jenseits 
von  Gut  und  Böse"  Nietzsche  sehr  richtig  beurteilt :  „  Was  ich  für  Nietzsches 
spätere  Jahre  fürchte?  Er  wird  zu  Kreuze  kriechen  aus  Ekel  an  allem  und 
wegen  seiner  Veneration  für  alles  Vornehme,  die  ihm  immer  im  Blute  steckte, 
nun  aber  eine  recht  unangenehme  theoretische  Verherrlichung  bekommen 
hat."  In  diesem  Zusammenhange  verdient  es  als  von  Interesse  vermerkt 
zu  werden,  was  mir  einige  katholische  Theologen  versicherten:  sie  seien  der 
festen  Überzeugung,  daß  Nietzsche,  wäre  er  nicht  so  frühzeitig  in  geistige 
Umnachtung  verfallen,  sicheriich  zum  KathoUzismus  übergetreten  wäre.  Ob 
als  ein  Opfer  des  Wagnerschen  „Parsifal"?  Tatsache  ist,  daß  sich  Mietzsche 
zu  dem  kühlen,  ja  kalten  evangehschen  zum  äußerlich  pompösen,  mystischen 
Kultus  der  katholischen  Kirche  sehr  hingezogen  gefühlt  hat.  Cf.  seine 
Äußerung  an  Frau  Salomö:  „Wenn  alle  Kombinationen  erschöpft  wären, 
müßte  man  dann  nicht  wieder  beim  Glauben  anlangen,  vielleicht  bei  einem 
katholischen  Glauben?"  Diesen  Zusammenhang,  daß  sich  Nietzsche, 
wäre  ihm  ein  längeres  Leben  beschieden   gewesen,  wenn  nicht  dem  Katho- 


—     339     — 

Aber  freilich,  „die  letzten  Züge  im  Bilde  dieses  Nietzsche  wird 
man  unphilosophischen  und  unproduktiven  Gemütern  schwer  klar- 
machen können ;  um  ihnen  eine  Ahnung  davon  zu  geben,  muß  man 
sie  bitten,  was  sie  etwa  bei  ihren  Eltern  oder  einer  Geliebten  gegen- 
über empfinden,  unter  Gegenstandswechsel  sich  auf  die  letzten 
Daseinszusammenhänge  übertragen  zu  denken".  Ich  möchte  diesen 
Ausspruch  Prof.  Richters  noch  steigern,  indem  ich  sage:  Selbst  der 
kritischeste  Verstand,  unsere  vielgerühmte  bessere  Vernunft  wird 
diesen  Nietzsche  nie  voll  und  ganz  begreifen  können;  eher  noch 
unser  Gefühl.  In  diese  Tiefen  seines  Wesens  vermag  selbst  das 
hellste  Licht  der  Erkenntnis  nie  hinabzuleuchten.  Heraklit  hat  dafür 
herrliche  Worte  gefunden:  „'^vxfjg  ndgata  Icjv  ovx  av  i^svQOLO  Ttäeav 
iTtLTtoQsvofisvog  öööv  ovTCj  ßa^vv  Xoyov  ixsi^  . . .  der  Seele  Grenzen 
kannst  du  nicht  ausflnden,  und  ob  du  jegliche  Straße  abschrittest; 
so  tiefen  Grund  hat  sie."  (Frg.  45,  Diels.)  Gewiß,  der  religiöse 
Genius  war  in  Nietzsche  immer  lebendig,  am  lebendigsten  in  der 
letzten  Periode  seines  Schaffens.  Frau  Salomes  vorher  zitierter  Er- 
klärungsversuch, der  ja  an  und  für  sich  psychologisch  begründet 
wäre,  erscheint  mir  doch  nur  als  ein  unzureichender  Versuch,  eben 
dieses  Unzulängliche  in  Nietzsches  Wesen  —  in  der  „Geburt  der 
Tragödie"  nannte  er  es  selbst  die  tragische  Erkenntnis  —  zu 
einem  in  jeder  Phase  seiner  Entwicklung  auf  Grund  psychologischer 
Gesetze  begreiflichen  Ereignisse  zu  machen.  Gar  nicht  zu  reden  von 
Stekel,  der  behauptet,  es  habe  sich  bei  Nietzsche  ein  Abfall  vom 
Atheismus,  eine  Regression  zum  Glauben  der  Kindheit  vorbereitet, 
sei  jedoch  nicht  perfekt  geworden!  Ein  solcher  Nietzsche  wäre  ein 
krankhaft  veranlagter  Schwärmer,  dessen  Größe  eben  nur  eine 
selbsterdichtete  Scheingröße  wäre!  Es  ist  leicht,  aus  der  Tatsache, 
daß  in  Nietzsches  Übermenschenideal  alle  labyrinthischen  sinnlichen 
Gefühle  eine  Heiligung  zugleich  und  eine  Rechtfertigung  erfuhren 
—  sie  brauchten  nicht  als  böse  Fleischeslust  durch  Askese  aus- 
getrieben   zu  werden,    sondern  wurden  dem  Dienste  des    erkannten 


lizismus,  so  doch  dem  Christentume  wieder  zugewendet  hätte,  haben  Gallwitz 
in  seinem  Buche  über  Nietzsche  („Fr.  Nietzsche,  ein  Lebensbild"),  A.  Bonus 
in  einer  Besprechung  in  den  „Preußischen  Jahrbüchern",  auch  Th.  Ziegler 
und  A.  Riehl  näher  beleuchtet  und  einen  solchen  Ausgang  für  wahr- 
scheinlich oder  doch  für  wohl  möglich  erklärt.  Denn  Nietzsche  sagte  selbst: 
„Wer  gut  verfolgt,  lernt  leicht  folgen;  ist  er  doch  einmal  hinterher!" 

22* 


—     340     — 

Göttlichen  in  Selbsterziehung  und  Seelenführung  eingeordnet  —  die 
Behauptung  Stekels,  Nietzsche  selbst  sei  Asket  gewesen,  bewiesen 
zu  sehen.  Aber  für  die  Bedeutung  des  uns  durch  ihn  erschlossenen 
Ideals  kommt  es  letzten  Endes  sehr  wenig  darauf  an,  ob  sein 
Schöpfer  in  punkto  Alkohol,  Nikotin  und  Weiberliebe  abstinent 
gelebt  hat  oder  nicht.  Denn  auch  dieses  Ideal,  das  sich  mit  dem 
Jesu  nahezu  deckt'),  ist,  während  wir  Menschen  zwar  auch  sind, 
das  heißt  aber  mit  der  Einschränkung,  daß  wir  nur  das  Bewußtsein 
unseres  kleinen  Lebens  „Sein"  nennen.  Und  zu  der  Reinheit  und 
Vollkommenheit  des  Übermenschenideals,  das  in  der  Sphäre  der 
allgütigen  und  allverknüpfenden  Welt  der  platonischen  Ideen  leuchtet, 

1)  Sehr  richtig  bemerkit  daher  G.  Sinimel  (1.  c.  p.  200  sq.),  daß  Nietz- 
sches einseitige  Werttheorie  aiieh  deshalb  ein  ungeheures  Mißverständnis  ist, 
weil  er  keine  spezifisch  transzendente,  sondern  eine  auf  Leben,  Geschichte 
und  Moral  aufgebaute  Natur  war.  Darum  blieb  es  ihm  verborgen,  daß  ein 
wesentliches  Maß  seiner  und  der  christlichen  Wertungen  unter  dieselben 
Oberbegriffe  gehören,  wenn  man  nur  die  transzendenten  Beziehungen  und 
Glaubensvorstellungen  des  Christentums  dazunimmt  und  es  nicht,  wie 
Nietzsches  Blickrichtung  es  freilich  mit  sich  brachte,  auf  seine  dem  Irdischen 
zugewandten  Rangierungen  beschränkt.  Denn  beiden  kommt  es  auf  die 
Seinsbeschaffenheiten  des  Individuums  an,  die  für  Nietzsche  im 
Begriff  des  Lebens  ihre  Kulmination  gewinnen,  im  Christentum  aber  als 
Elemente  einer  höheren,  göttlichen  Ordnung,  innerhalb  deren  sie  die  eigen- 
tümliche Doppelstellung  als  Endwerte  und  als  Glieder  eines  über  sie  hinweg- 
greifenden Ganzen  besitzen.  Nietzsche  übersieht  im  Christentum  völlig  diese 
Zuspitzung  zu  dem  Eigenwerte  der  Seele,  indem  er  das  christliche  Wert- 
gefühl ausschließlich  in  den  Altruismus  verlegt.  Nicht  auf  den,  dem  gegeben 
wird,  sondern  auf  den,  der  gibt,  nicht  auf  den,  für  den  gelebt  wird,  sondern 
auf  den,' der  lebt,  kommt  es  Jesus  an.  Und  so  legen  denn  Nietzsche  wie 
Jesus  allen  Wert  der  Seele  in  ihre  rein  innerlichen  Qualitäten.  Sein 
Haß  gegen  das  Christentum  richtet  sich  prinzipiell  gegen  den  Gedanken  der 
Gleichheit  vor  Gott,  als  dessen  Konsequenz  erst  man  die  Wendung  der 
praktischen  Interessen  zu  den  geistig  Armen,  den  Mittelmäßigen,  den  Zukurz- 
gekommenen  ansehen  kann.  Daß  die  Seele  jedes  armen  Schachers,  jedes 
kleinen  Lumpen  und  Dummkopfes  dieselben  metaphysischen  Werte  haben 
soll  wie  die  Michelangelos  und  Beethovens  —  das  ist  der  Scheidepunkt  der 
Weltanschauungen:  auf  der  einen  Seite  beruht  der  Wert  des  Menschentums 
auf  der  Gleichheit  seiner  Exemplare  —  sei  es  ihrer  Wirklichkeit,  sei  es 
dem  Ideal  und  Sollen  nach  — ,  für  Nietzsche  dagegen  darauf,  daß  es  Höhe- 
punkte der  Menschheit  gibt,  daß  ihre  innere  Distanzierung  dem  einzelnen 
einen  Aufschwung  und  ein  Entwicklungsmaß  über  alles  sonst  bestehende 
Niveau  hinaus  gestattet.  Nicht  mit  Unrecht  nannte  ihn  daher  Strindberg  im 
„Inferno"  „die  vor  der  Zeit  verbrauchte  und  ins  Feuer  geworfene  Zuchtrute". 


—     341     — 

genau  so  unerreichbar,  unberührbar,  unwesenhaft  wie  jene,  führt 
uns  nur  der  Glaube,  derselbe  Glaube,  der  den  Gläubigen  ins  Himmel- 
reich, ins  Nirwana  führt. 

Wenn  jedoch  Nietzsche  in  der  Tat  ein  Asket  im  Sinne  der 
christUchen  Lehre  war,  bedingt  durch  ein  Leben,  das  eine  ununter- 
brochene Kette  von  Leiden  darstellt,  die  ihn  jedoch  in  seinem  rast- 
losen Schaffen  durchaus  nicht  behinderten ;  wenn  sein  trauriges  Los, 
von  Generation  auf  Generation  verpflanzt  und  wachsend,  genügt 
hätte,  daß  eine  ganze  Menschheit  an  ihm  zerscheitere,  dann  sollten 
wir  um  so  mehr  Achtung  haben  vor  diesem  angebhchen  Dekadenten, 
der  durch  die  Aussicht  auf  künftige  Siege  seine  Lebensfreude  so 
weit  zu  steigern,  sein  Lebensgefühl  so  ungeheuerHch  zu  vertiefen 
vermocht  hat,  daß  er  uns  zurufen  konnte:  „War  das  das  Leben? 
Um  Zarathustras  willen,  wohlan !  Noch  einmal!"  Und  wenn  er  selbst 
die  Lehre  der  ewigen  Wiederkunft  gelehrt  hat,  durch  die  er  theo- 
retisch und  praktisch  seinem  Übermenschenideal  eher  mehr  Schaden 
als  Nutzen  zugefügt  hat,  dann  muß  man  eben  auch  diese  sonderbare 
Lehre  in  seinem  Sinne  sich  erklären^);  denn  auch  sie  führt  zum 
Ziele,  auch  sie  ist  wie  der  Übermensch  der  notwendige  Gedanke 
einer  und  derselben  Philosophie:  „Wirklich  den  Pessimismus  über- 
winden, ein  Goethescher  Blick  voll  Liebe  und  gutem  Willen  als 
Resultat ! "  Nur  der  vergrößerte  Mensch,  der  starke,  glückliche  Mensch 
kann  die  Wiederkunft  wünschen,  weil  sein  Leben  in  seiner  Schätzung 
so  wertvoll  ist,  daß  eine  Wiederkehr  desselben  ihm  ein  schöner  Gedanke 
wird:  „So  leben,  daß  du  wünschen  mußt,  wieder  zu  leben,  ist  die 
Aufgabe.  So  leben,  daß  wir  nochmals  leben  und  in  Ewigkeit  so  leben 
wollen!  Unsere  Aufgabe  tritt  in  jedem  Augenbhck  heran.  Drücken 
wir  das  Abbild  der  Ewigkeit  auf  unser  Leben!  Dieser  Gedanke 
enthält  mehr  als  alle  Religionen,  welche  nach  einem  anderen 
Leben  hinzublicken  lehrten!"  Jedem  anderen,  allem  Elenden,  Miß- 
ratenen, das  nur  mit  Unmut  und  Widerwillen  auf  das  eigene  Leben 
blickt,  muß  dieser  Gedanke  furchtbar  sein. 

^)  Cf.  R.  M.  Meyer  (1.  c.  p.  445) :  Nietzsches  Lehre  der  ewigen  Wieder- 
kunft „ist  eine  Selbstüberwindung  um  ihrer  selbst  willen,  es  ist  seine  Askese, 
die  er  hier  übt;  die.Überwindung  des  Pessimismus  soll  bis  zu  diesem  Un- 
geheuersten steigen,  daß  die  ewige  Wiederkehr  als  Freudenbotschaft  begrüßt 
wird."  Cf.  Bertram  (1.  c.  p.  130):  „Die  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkunft 
ist  psychologisch  unzweifelhaft  eine  äußerste  Form  des  Selbstmartyriums, 
eine  heroische  Negation  ursprünglicher  schopenhauerischer  Lebensangst." 


—     342     — 

Man  hat  gegen  Nietzsche  den  Einwand  erhoben:  damit,  dafs 
er  den  freiwilHg  erwählten  Tod  als  den  Gipfel  unserer  Autonomie 
erklärte,  stelle  er  sich  zu  seiner  eigenen  Lehre  in  Widerspruch; 
denn  die  freie  Todeswahl  kann  nur  der  Ausgang  des  gebrochenen 
Lebenswillens  sein,  während  er  selbst  gerade  die  Ungebrochenheit 
des  Willens  und  eine  absolute  Bejahung  des  Lebens  für  das  Wesen 
aller  Sittlichkeit  erklärte.  Indes  erkannte  Nietzsche,  wie  Th.  Lessing 
ausführt,  einerseits,  daß  eine  absolute  Bejahung  den  Stillstand  alles 
Lebens  und  das  Ende  aller  Ethik  bedeutet,  während  er  anderseits 
den  Gipfel  aller  Ethik  in  einer  Bejahung  sieht,  die  zur  Selbst- 
vernichtung führen  muß.  Daher  bebt  er  zurück  vor  dem  Gedanken, 
daß  alle  Mühen  aller  Existenzen  eigentlich  völlig  wertlos  sind,  aber 
sein  Übermensch  sagt  freudig  sein  „ja!"  zur  Ewigkeit  aller  seiner 
Taten.  Nun  hat  Nietzsche  zeitlebens  nie,  selbst  dann  nicht,  wenn 
er  auf  dem  tiefsten  Punkte  seiner  Vitalität  angelangt  war,  seinen 
Lebenswillen  als  gebrochen  anerkannt  und  deshalb  die  Konsequenz 
des  Selbstmordes  daraus  für  sich  abgeleitet.  Daher  muß  uns  die 
Zeit  seines  geistigen  Siechtums,  vom  Jahre  des  Zusammenbruchs 
bis  zu  seinem  Todesjahre  als  eine  Tat  heroischester  Selbstaufopferung 
erscheinen;  denn  auf  einer  je  höheren  sittlichen  Stufe  ein  Mensch 
steht,  desto  eher  wird  er  im  äußersten  Falle  eben  das  zum  Inhalte 
eines  freien  Willensentscheides  machen,  was  im  Grunde  nur  in  der 
Konsequenz  seines  Handelns,  seines  Gefühls  oder  seiner  Ansicht  liegt. 
Daher  ist  sein  persönlicher  Untergang  die  letzte  Konsequenz  einer 
absoluten  Lebensbejahung.  Den  letzten  Sieg  erringt  die  unheimliche 
Folgerichtigkeit  dieses  großartigen  Denkers  eben  dadurch,  daß  sie 
in  der  Bejahung  des  Lebens  auch  den  Tod  und  im  völligen  Stillstand 
noch  das  Leben  bejahte.  Im  Sterben  Nietzsches  glühte,  wie  sein 
Zarathustra  so  schön  sagt,  wirklich  noch  sein  Geist  und  seine 
Hoffnung,  gleich  einem  Abendrot  um  die  Erde.  Wohl  im  Hinblick 
auf  dieses  Menschenschicksal  konnte  Th.  Lessing  sagen:  „Es  bleibt 
etwas  Großes,  an  Unmöglichem  zugrunde  gehen  zu  wollen.  Und 
wenn  der  Heros  das  Ziel  der  Geschichte  ist,  dann  ist  eben  der 
Tod  ihr  Ziel,  in  welchem  das  Leben  über  sich  selbst  hinausblickt 
und  sich  vernichtet,  um  erneut  aus  sich  emporzutauchen."  Dieser 
Nietzsche,  der  durch  sein  Leben  selbst  ein  heldenhaftes  Beispiel 
dafür  gegeben  hat,  was  leben  heißt,  wie  das  einzelne  Individuum, 
wenn  es  eben  nur  will,    sich  dem  Ideal  des  Übermenschen  nähern 


—     343     — 

kann,  hat  dieses  sein  Ideal  nicht  als  Gottsurrogat  aufgerichtet,  der 
hat  sich  nicht  in  die  Rolle  des  mittelalterlichen,  asketischen  Heiligen 
hineingespielt,  bis  schließlich  auch  sein  Wahnsinn  etwas  Gewolltes 
war,  sondern  gerade  dieser  Nietzsche  war  der  fleischgewordene, 
lebendige,  bewußte  Wille  in  seiner  höchsten  Potenz.  Daher  haben 
bei  der  Formulierung  des  Nietzscheschen  Übermenschenideals  nicht 
nur  allgemein-geschichthche,  sondern  auch  persönliche  Gründe  mit- 
gespielt'). Wie  Goethe  hat  er  das,  was  ihm  auf  der  Seele  brannte, 
sich  besonders  im  „Zarathustra"  von  der  Seele  geschrieben.  Dort  singt 
Nietzsche,  der  Künstler,  von  dem,  was  ihm  fehlt,  von  der  Kraft; 
seine  Lieder  sind  nach  Riehl  „der  Rückschluß  vom  Ideal  auf  den, 
der  es  nötig  hat".  Seine  Leiden  steigerten  sich  nach  seinen  eigenen 
Worten  „in  langen  Jahren  bis  zum  Höhepunkte  habitueller  Schmerz- 
haftigkeit".  Es  kam  so  weit,  daß  er,  der  die  unbedingte  Bejahung 
des  natürhchen  Lebens  predigte,  von  Todessehnsucht  gepackt  wird: 
„Die  furchtbaren  und  fast  unablässigen  Martern  meines  Lebens  lassen 
mich  nach  dem  Ende  dürsten,"  so  klagt  er,  „und  nach  einigen  An- 
zeichen ist  mir  der  erlösende  Hirnschlag  nahe  genug,  um  hoffen  zu 
dürfen.  Was  Qual  und  Entsagung  betrifft,  so  darf  ich  das  Leben 
meiner  letzten  Jahre  mit  dem  jedes  Asketen  irgendeiner  Zeit  messen." 
Kein  Wunder,  daß  er,  wenn  er  in  den  Ruhepausen  seiner  Schmerzen 
seine  Werke  schrieb,  Gesundheit,  Kraft,  Willen  in  allen  Tönen  pries, 
alles,  was  ihm  abging,  dessen  Besitz  er,  der  Besitzlose,  am  besten 
zu  schätzen  verstand.  Selbstmord  hätte  er  begehen  sollen?  0  nein! 
Zu  leben  ist  unendlich  schwerer  als  das  Leben  fortzuwerfen:  aber 
das  ist  Menschenadel  und  Menschenmut,  den  Schritt  der  Feigheit 
nicht  zu  tun.  So  überwindet  der  „Weltenüber winder"  sich  selbst. 
Georg  Forster  schrieb  einmal:  „Hundertmal  habe  ich  schon  erfahren, 
daß  es  größer  ist  zu  leben  als  zu  sterben.  Jeder  elende  Hund  kann 
sterben.  Aber  wenn  hernach  der  Teufel  —  oder  wer  ist  der  schaden- 

1)  Wenn  früher  gesagt  worden  ist,  daß  Nietzsche  durch  die  Aufstellun.sr 
seines  Übermenschenideals  die  herrschende  Moral  und  das  Christentum  nicht 
nur  ersetzen,  sondern  sogar  überbieten  wollte,  so  sei  jetzt  diese  Behauptung 
<lahin  ergänzt,  daß  er  dieses  Ideal  hauptsächlich  deswegen  errichtete,  um, 
wie  er  selbst  sagte,  „der  größten  Gefahr  der  geistigen  Unfreiheit"  zu 
entgehen.  Denn  er  vermeinte  die  volle  Freiheit  des  Denkens  und  des 
Handelns  zu  verlieren,  wenn  er  an  eine  Vorsehung  glaube;  denn  „in  der 
Religion  fehlt  der  Zwang,  uns  als  wert  setzend  zu  betrachtend 


—     344     — 

frohe,  zähnefletschende  Geist  in  uns,  der  so  einzusprechen  pflegt?  — 
wenn  der  fragt,  was  ist  dir  nun  die  Größe?  Bist  du  nicht  ein  eitler 
Narr,  dich  für  besser  als  andere  zu  halten  ?  0  mein  Gott,  da  versink' 
ich  in  meinen  Staub,  nehme  meine  Bürde  auf  mich  und  denke  nichts 
mehr  als:  du  mußt,  bis  du  nicht  mehr  kannst.  Dann  hat's  von 
selbst  ein  Ende!"  Steigt  nicht  auch  dieses  Menschenleben  un- 
sichtbar auf  zu  jenem,  das  die  Legende  zur  durchsichtigen  Lilie 
verklärt  hat:  „Und  Jesus  verließ  sie,  warf  sich  auf  die  Knie  nieder 
und  betete:  Vater!  Wenn  du  willst,  laß  diesen  Kelch  an  mir  vor- 
übergehen; doch  nicht  mein,  sondern  dein  Wille  geschehe!"  Nicht 
Wahnsinn  war's,  sondern  auch  Nietzsche  hat  den  Ewigen  Aug  in  Aug 
geschaut,  und  daher  war  ihm  der  Frieden  mit  dem  Dämon  im 
eigenen  Herzen  unverlierbar.  Könnte  man  nicht  in  diesem  Sinne 
den  Ausspruch  Novalis'  auf  Nietzsche  deuten:  „Das  Leben  eines 
wahrhaft  kanonischen  Menschen  muß  durchgehends  symbolisch  sein. 
Wäre  unter  dieser  Voraussetzung  nicht  jeder  Tod  ein  Versöhnungs- 
tod?" 


XXII.  „DER  EINSAME  NIETZSCHE." 

Die  Verse  Hölderlins: 

„denn  weil 
die  Seligsten  nichts  fühlen  von  selbst, 
muß  wohl  ...  in  der  Götter  Namen, 
teilnehmend  fühlen  ein  andrer    — 
den  brauchen  sie;  jedoch  ihr  Gericht 
ist,  daß  sein  eigenes  Haus 
zerbreche  der,  und  das  Liebste 
wie  den  Feind  schelt  und  sich,  Vater  und  Kind, 
begrabe  unter  den  Trümmern, 
wenn  einer  wie  sie  sein  will,  und  nicht 
Ungleiches  dulden,  der  Schwärmer", 

und  was  Piaton  in  seinem  berühmten  siebenten  Briefe  schrieb: 
„Wenn  einer  jetzt  oder  in  Zukunft  behauptet,  er  besäße  ein  Wissen 
um  dasjenige,  dem  mein  Streben  eigentlich  gilt,  einerlei,  woher  er 
das  Wissen  haben  will,  so  sage  ich,  er  hat  keine  Ahnung  davon. 
Ich  habe  nicht  darüber  geschrieben  und  werde  niemals  darüber 
schreiben,  denn  es  läßt  sich  nicht  wie  die  Objekte  wissenschaftlicher 
Untersuchung  behandeln;  der  Wissenschaft  ist  es  unaussprechlich. 
Nach  langer  Arbeit,  wenn  man  sich  hineingelebt  hat,  geht  plötzlich 
in  der  Seele,  wie  wenn  ein  Funke  hineinschlüge,  ein  Feuer  auf,  das 
nährt  sich  dann  selbst.  Ich  weiß  wohl,  ich  könnte  am  besten  darüber 
reden  und  mir  geht  es  am  nächsten,  wenn  schlecht  darüber  geredet 
wird.  Wenn  ich  glaubte,  es  ließe  sich  befriedigend  vor  der  Öffent- 
lichkeit darüber  reden  oder  schreiben,  so  würde  ich  es  für  die  höchste 
Aufgabe  meines  Lebens  halten;  ich  würde  ja  der  Menschheit  den 
größten  Dienst  erweisen,  denn  die  ganze  Natur  der  Dinge  würde 
damit  ans  Licht  gebracht  (das  Rätsel  des  Lebens  gelöst).  Aber  ver- 
ständlich würde  ein  Versuch  schriftlicher  Mitteilung  doch  nur  ganz 
wenigen  sein,  und  denen  hilft  ein  leiser  Wink  dazu,  es  selbst  zu 
finden.  Die  anderen  würden  sich  mit  Verachtung  abwenden  oder  sich 
in  dem  Wahn  wiegen,  sie  wüßten  nun  etwas  ganz  Erhabenes!" 
mögen  die  Voraussetzung  bilden  für  unsere  letzte  Betrachtung. 


—     346     — 

Wie    alle   moralischen  Persönlichkeiten    hegte    auch  Nietzsche 

—  R.  M.  Meyer  hat  dies  wunderschön  auseinandergesetzt  —  eine 
leidenschaftliche  Sehnsucht,  sein  Ideal  verwirklicht  zu  sehen.  Das 
ist  die  Größe  und  zugleich  die  Tragik  prophetischer  Naturen,  daß 
sie  das  Wahrwerden  ihrer  Träume  nicht  abzuwarten  vermögen.  An 
dem  nicht  Wahrwerden  seines  kühnsten  Traumes,  seines  Idealstaates, 
hat  ein  noch  Größerer  als  Nietzsche,  Piaton,  so  tief  gelitten,  daß 
er  nach  seiner  dritten  Reise  nach  Sizilien  nie  mehr  das  ward,  was 
er  früher  war:  der  hoffnungsfreudige,  himmelstürmende  Piaton.  Im 
Grunde  ist  jeder  Moralist  ein  Prediger  des  kommenden  100jährigen 
Reiches,  in  das  er  sich  und  seine  Hörer  schon  hineinzuversetzen 
mit    allen  Organen  verlangt.    Nietzsches  Ideal   ist    der  Übermensch 

—  er  muß  den  Übermenschen  sehen;  denn  niemals  hat  er  sich  für 
den  Übermenschen  gehalten  —  nur  sein  Yerkünder  wollte  er  sein. 
Aber  Johannes  ist  da,  damit  er  Christum  tauft.  Indes  ist  nichts 
törichter  und  abgeschmackter  als  die  platte  Behauptung,  Nietzsche 
hätte  durch  seine  Schriften  zu  einem  Religionsstifter  im  weltlichen 
Sinne,  zum  Haupte  einer  Gemeinde  von  Anbetern  werden  wollen; 
auf  die  geistige  Gefolgschaft  allein  kam  es  ihm  an  und  auch 
schon  eine  so  beiläufig  organisierte  Gemeinde,  wie  sie  Schopenhauer 
aus  seinen  Evangelisten  und  Aposteln  aufbaute,  wäre  nicht  nach 
seinem  Geschmack  gewesen,  geschweige  denn  eine  so  fest  organisierte 
wie  die  von  Bayreuth.  Jede  egoistische  Absicht  hat  man  bei  diesem 
resoluten  Verteidiger  des  Egoismus  zu  verneinen;  er  war  von 
Herrschsucht  ganz  frei,  aber  früh  erfüllt  von  dem  berechtigten 
Ehrgeiz  zu  wirken,  Schüler  zu  bilden,  „zu  werden,  was  er  war". 
Ein  persönlich  zur  Macht  gearteter  Wille  lag  ihm  ferne,  ebenso 
Ausnützen,  wie  Wagner  es  unbedenklich  für  sein  Recht  hielt: 
er  empfand  es  schmerzlich,  wie  wenig  in  den  schlimmsten  Zeiten 
die  Freunde  für  ihn  taten,  gefordert  aber  hat  er  niemals  einen 
Dienst.  Aber  weil  er  die  mit  feurigster,  zitternder  Leidenschaft  er- 
faßten Dinge  nicht  wie  ein  Gelehrter  systematisch  darlegen  konnte 

—  denn  alle  Systematik  war  ihm  gleich  Piaton  verhaßt!  —  trieb 
es,  ebenso  wie  Wagners  Lohengrin  das  „Verlangen  aus  der  geistigen 
Höhe  in  die  Tiefe  der  Liebe"  herabzusteigen,  die  „Sehnsucht,  vom 
Gefühl  begriffen  zu  werden",  treibt,  auch  Zarathustra  —  „denn  ich 
liebe  die  Menschen!"  —  aus  seiner  Einsamkeit  unter  die  Menschen, 
damit  sie  gleich  ihm  sein  neues  Ideal  mit  Herz  und  Geist  erfassen. 


—     347     — 

Gleich  Piaton  wollte  auch  er  auf  die  Gegenwart  wirken  und  empfand 
es  bitter,  daß  sie  ihn  zwang,  ein  Lehrer  zu  bleiben;  aber  daß  er 
Lehrer  und  Schriftsteller  bleiben  mußte  gleich  Piaton,  das  ist  nie 
sein  Wille  gewesen,  das  hat  er  als  den  bittersten  Verzicht  empfunden. 
Dieses  Bewußtsein  einer  gewissen  apostolischen  Sendung  bewog  den 
jungen  Nietzsche  bereits  in  Schulpforta,  mit  den  zwei  Freunden 
aus  der  Kinderzeit  Gustav  Krug  und  Wilhelm  Pinder  die  „Germania** 
zu  gründen,  geboren  aus  der  reinen  Begeisterung  für  Kunst  und 
Wissenschaft  und  dem  Streben,  nach  den  eigenen  Idealen  zu  leben 
und  ihnen  auch  das  Leben  anderer  untertänig  zu  machen.  Und  im 
Jahre  1870  schrieb  er  an  Rohde:  „Etwas  wahrhaft  Umwälzendes 
wird  von  der  Universitätsweisheit  aus  nicht  seinen  Ausgang  nehmen 
können.  Wir  können  nur  dadurch  zu  wirklichen  Lehrern  werden, 
daß  wir  uns  selbst  mit  allen  Hebeln  aus  dieser  Zeitluft  heraus- 
heben ...  wir  werfen  einmal  dieses  Joch  ab,  das  steht  für  mich 
ganz  fest.  Und  dann  bilden  wir  eine  neue  griechische  Akademie!" 
An  Peter  Gast  schrieb  er:  „Wo  wollen  wir  den  Garten  Epikurs  er- 
neuern?" Es  ist  klar,  um  „Auserwählte"  hat  Nietzsche  immer  ge- 
worben, aber  die  „Ehren  eines  Apostels",  weder  seines  eigenen  Ideals 
noch  des  Wagnerschen,  hat  er  nie  erwartet;  die  „Affen  seines  Ideals" 
waren  ihm  in  tiefster  Seele  zuwider.  Mit  der  Behauptung  indes,  daß 
Nietzsche  gleich  Wagner  Jünger  suchte,  hat  Stekel  also  recht,  ja 
auch  mit  der  Behauptung,  daß  der  Philosoph  den  Meister  um  seine 
Jünger  beneidete!  Aber  was  Wagner  aus  rein  praktischen  Gründen, 
als  Selbstdurchsetzer  um  jeden  Preis  verfolgte,  das  erfloß  bei 
Nietzsche  aus  Gründen  rein  ideeller  Natur.  Eine  Besonderheit  des 
philosophischen  Triebes  in  Nietzsche  war  sein  Expansionsbedürfnis, 
das  Mitfortreißenwollen  anderer,  der  fast  fanatische  Bekehrungseifer. 
„Wenn  jemand  zu  überreden,  mitfortzureißen  verstand",  so  sagt 
Prof.  Richter,  „so  war  es  der  Nietzsche  der  Zarathustraperiode ;  aber 
mit  diesem  Werke  war  er  seiner  Zeit  vorausgeeilt.  Man  verstand 
ihn  nicht";  das  war  der  eigenthche  Grund,  weshalb  ihm  niemand 
folgte,  niemand  ihn  ernstlich  studierte.  Deshalb  fielen  alle  Freunde 
von  ihm  ab,  in  erster  Linie  Richard  Wagner.  Overbeck  und  Gersdorff 
hielten  menschhch  noch  zu  ihm,  wiewohl  sich  ersterer  in  seiner 
Studie  über  Nietzsche  zu  dem  unwahrsten  und  häßlichsten  aller 
Urteile  verstieg,  Nietzsches  Vornehmheit  sei  nur  Affektation  gewesen ! 
Doch  beide  vermochten  den  Pfaden  seiner  Sehnsucht  nicht  zu  folgen. 


—     348     — 

Ebenso  Deussen,  der  unbedingter  Anhänger  Schopenhauers  blieb. 
R6e  verharrte  bei  seinem  naturwissenschafthchen  Positivismus,  den 
Nietzsche  im  „Menschlichen"  so  glänzend  vertreten  hatte;  und  an 
dem  grausamen  Doppelspiele,  das  Röe  mit  dem  immer  einsamer 
werdenden  Nietzsche  trieb,  scheiterte  auch  diese  Freundschaft.  Mit 
Burckhardt  verlor  er  immer  mehr  die  geistige  Fühlung.  Malwida 
konnte  sich  vom  „Fall  Wagner"  nicht  erholen.  Auch  Rohde  konnte 
nicht  Treue  halten:  er  wurde  der  resigniert-skeptische  Gelehrte, 
Nietzsche  Kosmopolit.  Nur  mit  tiefer  Wehmut  wird  man  die  fol- 
genden Zeilen  lesen  können,  die  einem  Brief  an  Rohde  aus  dem 
Jahre  1884  entnommen  sind:  „Mein  lieber,  alter  Freund,  als  ich 
Deinen  letzten  Brief  las,  da  war's  mir,  als  ob  Du  mir  die  Hand 
drücktest  und  mich  dabei  wehmütig  ansähest;  schwermütig,  als  ob 
Du  sagen  wolltest:  ,Wie  ist  es  nur  möglich,  daß  wir  so  wenig  noch 
gemeinsam  haben  und  wie  in  verschiedenen  Welten  leben!  Und 
einstmals ! . . . '  Und  so,  Freund,  geht  es  mir  mit  allen  Menschen,, 
die  mir  lieb  sind:  alles  ist  vorbei,  Vergangenheit,  Schonung;  man 
sieht  sich  noch,  man  redet,  um  nicht  zu  schweigen  —-  man  schreibt 
sich  Briefe  noch,  um  nicht  zu  schweigen.  Aber  die  Wahrheit  spricht 
der  Blick  aus,  und  der  sagt  mir  (ich  höre  es  gut  genug):  ,Freund 
Nietzsche,  du  bist  nun  ganz  allein!'"  In  der  „Psyche",  Rohdes 
Meisterwerk,  „wendet  sich"  zwar  „manche  Stelle  an  Nietzsche  wie- 
ein stummer  Gruß  aus  der  Ferne",  aber  Nietzsches  Namen  zu 
nennen  vermeidet  er,  gleichsam  als  schöbe  auch  er  dessen  Werk 
aus  dem  Kreise  der  Wissenschaft  hinaus,  ja,  einmal  soll  er  Overbeck 
gegenüber  sein  seinerzeitiges  Eintreten  für  Nietzsche  geradezu  als 
eine  Jugendtorheit  bezeichnet  haben.  An  Gersdorff  schreibt  er: 
,,  Verschafft  mir  einen  kleinen  Kreis  von  Menschen,  die  mich  hören 
und  verstehen  wollen,  und  ich  bin  gesund!"  Seine  einzige  Hoffnung 
blieb  noch  Heinrich  v.  Stein,  nächst  Wagner  und  Rohde  der  dritte- 
Mensch,  mit  dem  er  sich  „wie  unter  Gleichen"  gefühlt  hatte;  doch 
dieser  wurde  ihm  1887  in  der  Blüte  der  Jahre  durch  einen  früh- 
zeitigen Tod  geraubt.  Als  sich  Nietzsche  1882  um  eine  Professur 
an  der  Berliner  Universität  bewarb,  teilte  man  ihm  mit,  daß  sein 
Gesuch  ganz  aussichtslos  sein  werde:  „Die  Fakultät  werde  es  nicht 
wagen,  mich  dem  Ministerium  vorzuschlagen  —  von  wegen  meiner 
Stellung  zum  Christentum  und  den  Gottesvorstellungen. 
Bravo!    Dieser  Gesichtspunkt   gab   mir  meinen  Mut  wieder!"    Kein 


.   —     349     — 

Wunder  daher,  daß  dieser  einsame  Nietzsche  Wagner  um  dessen 
Jünger  und  Schüler  bildende  Kraft  tief  und  schmerzlich  beneidete! 
So  schrieb  er  an  Peter  Gast,  den  einzigen,  den  er  hatte,  der  treu 
bei  ihm  ausharrte:  „Mich  ekelt  davor,  daß  ,Zarathustra'  als  Unter- 
haltungsbuch in  die  Welt  tritt,  wer  ist  ernst  genug  dafür!  Hätte 
ich  die  Autorität  des  ,letzten  Wagner',  so  stünde  es  besser!  Aber 
jetzt  kann  mich  niemand  davon  erlösen,  zu  den  ,Belletristen'  ge- 
worfen zu  werden  . . .  was  den  eigentlichen  Wagner  betrifft,  so  will 
ich  schon  noch  zu  einem  guten  Teile  sein  Erbe  werden...  im 
letzten  Sommer  empfand  ich,  daß  er  mir  alle  Menschen  weggenommen 
hatte,  auf  welche  in  Deutschland  zu  wirken  überhaupt  Sinn  haben 
kann."  Und  an  Freiherrn  v.  Seydlitz  schrieb  er  bereits  1876:  „Bin 
ich  doch  immer  auf  Menschenraub  aus,  wie  nur  irgend  ein  Korsar; 
aber  nicht,  um  diese  Menschen  in  die  Sklaverei,  sondern  um  mich 
mit  ihnen  in  die  Freiheit  zu  verkaufen."  Als  Wagner  1883  starb, 
„ist  ihm  der  Tod  Wagners  eine  große  Erleichterung*',  denn  jetzt 
fühlt  er  sich  als  dessen  Erbe  und  Nachfolger. 

Gewiß,  niemand  wird  es  in  Abrede  stellen  wollen,  daß  Nietzsches 
Gedanken  mitunter  übertrieben,  ja  sogar  krankhaft  verzerrt  er- 
scheinen. Aber  auch  diese  Tatsache  dürfen  wir  nicht,  wie  es  leider 
vielfach  geschieht  und  auch  Stekel  getan  hat,  als  die  notwendige  Folge 
seines  inneren  Wesens,  das  schon  von  Haus  aus  nicht  ganz 
normal  gewesen  sein  soll,  hinstellen.  Wenn  irgendwo,  so  gilt  gerade 
hier  Magnus  Hirschfelds  großes  Wort :  „Durch  die  Wissenschaft  zur 
Gerechtigkeit!"  Und  gerade  die  Wissenschaft  von  der  Seelenkunde 
wäre  die  geeignetste,  um  jetzt  auf  Grund  der  Tatsachen,  ohne  Vor- 
urteil, speziell  in  diesem  Punkte  eine  gerechte  Beurteilung  des 
Mannes  herbeizuführen,  dessen  geistige  Größe  trotz  aller  Fehler,  die 
man  ihm  nachweist,  unerreicht  in  die  heutige  Zeit  noch  hineinragt 
und  noch  kommenden  Geschlechtern  ein  Wegweiser  sein  wird  auf 
dem  Pfade  zu  innerer  Freiheit.  Nichts  wunderte  mich  daher  bei 
Stekel  mehr,  als  daß  er  als  Psychologe  vergaß,  auf  den  konstanten 
Druck  der  äußeren  Lebensumstände  zu  verweisen,  unter  dem  sich 
Nietzsches  Wesen  verändern  mußte,  weil  solchem  Druck  kein 
normaler  Mensch  auf  die  Dauer  gewachsen  sein  kann.  Da  ist  vor 
allem  seine  furchtbare  Einsamkeit  zu  erwähnen!  Bereits  1879 
schrieb  er:  „Ich  habe  ganz  und  völlig  das  Urteil  über  meine  Sachen 
eingebüßt,    weil   ich    zu  wenig   mit  Menschen    verkehre    und   keine 


—     350     — 

Bücher  lese."  Diese  innere  Einsamkeit,  der  Mangel  an  ernster  Kritik 
und  die  Unmöglichkeit  einer  Aussprache  mit  Gleichgesinnten  muß 
die  Individualität  eines  Menschen  mit  Notwendigkeit  wenn  nicht 
brechen,  so  zur  Karikatur  ihrer  selbst  hintreiben:  unwichtige 
Einzelzüge  müssen  zunehmen,  weil  der  Warner  fehlt!  Die  ganze 
Persönlichkeit,  von  niemandem  gehört,  schreit  schließlich  nach 
innen,  indem  sie  alles  doppelt  so  dick  aufträgt  wie  es  ihrem  eigent- 
lichen Wesen  geziemt.  Daher  ist  die  Mahnung,  für  Nietzsches  Super- 
lative stets  die  Positive  zu  setzen,  wenn  man  ihn  verstehen  will, 
gerechtfertigt.  Aber  ebenso  begreifhch  sollte  es  sein,  daß  eine  so 
apostolisch  veranlagte  Natur,  wie  die  Nietzsches,  unter  diesem  Fluche 
des  Totgeschwiegenwerdens  entsetzlich  leiden  und  seine  geistige 
Physiognomie  durch  dieses  Leiden  schließlich  auch  krankhafte 
Züge  annehmen  mußte.  Und  der  wichtigste  Grund  für  diese  „Ab- 
normitäten" seines  Wesens  ist  wohl  der:  Nietzsche  war  ein  Philosoph, 
der  seine  Philosophie  nicht  lehrte,  sondern  im  wahrsten  Sinne  des 
Wortes  lebte!  Während  die  Mehrzahl  der  Philosophen  ihre  Ehre 
dareinsetzt,  sich  zu  entselbsten,  sich  ihres  Ichs  zu  entledigen 
und  ihr  „Auge  Licht  werden  zu  lassen",  wie  Goethes  schöner  Aus- 
spruch lautet,  macht  Nietzsche  gerade  seine  Persönlichkeit  zum 
Angelpunkte  seiner  Philosophie.  Er  bringt  sein  Leben  damit  zu,  sich 
zu  suchen  und  das  Ergebnis  dieses  Suchens  mitzuteilen.  Er  lieferte 
in  seiner  eigenen  Person  das  Objekt  für  seine  psychologischen, 
ethischen,  ästhetischen  und  religionsphilosophischen  Analysen. 
„Niemals  war  eine  psychologische  Anatomie  mit  schönerem  Leichen- 
materiale  ausgestattet."  Als  Psychologe  hätte  sich  daher  Stekel 
sagen  müssen,  daß  jede  Versuchsperson  mit  der  Zeit  nicht  mehr  so 
naiv  reagiert,  wenn  sie  zugleich  die  Resultate  der  Beobachtung 
registrieren  muß.  Dadurch  ward  Nietzsche  genötigt,  die  natürliche 
Entfaltung  seines  Wesens  zu  fälschen  und  zu  schädigen,  daraus 
erklärt  sich  auch  seine  Selbstüberhebung,  seine  fanatische  Unduld- 
samkeit, seine  schmähende  Polemik.  Indem  er  den  Schauplatz  der 
eigenen  Seelenkämpfe,  der  Kämpfe  zwischen  „Opfertier"  und  „Opfer- 
gott" in  die  Weltgeschichte  verlegte,  folgerte  er,  daß  es  so  wie  bei 
ihm  auch  bei  den  Völkern  zugegangen  sein  muß.  So  machte  er  aus 
seiner  Auto  Psychologie  eine  Völkerpsychologie,  aus  der  Selbst- 
anschauung eine  Weltanschauung.  Diese  Flecken  aufzuzeigen  fordert 
die  Gerechtigkeit,    aber  ebenso  gerechtfertigt  ist  die  Forderung,   die 


—     351     — 

Schuld  an  ihnen  der  Mitwelt  aufzubürden.  Auf  ihn  passen  Hebbels 
Worte : 

„Doch  sie,  die  Welt,  die  das  verbrach, 

sie  schändet  meinen  stummen  Schmerz, 

sie  wagt  die  allerhöchste  Schmach 

und  ruft,  nachdem  sie's  selbst  durchstach, 

mir  höhnend  zu:  du  hast  kein  Herz!" 

Unter  der  Wirkung  des  von  ihm  oft  in  reichlichen  Dosen  genommenen 
Chlorais  hat  er  nach  seinem  eigenen  Geständnis  Dinge  geschrieben, 
die  ihm  hinterher  als  vollkommen  falsch  erschienen  sind;  das  Chloral 
habe,  wenn  er  es  vor  dem  Schlafengehen  nahm,  am  anderen  Morgen 
nach  dem  Erwachen  einen  eigentümlich  erregten  Zustand  hinterlassen, 
der  ihm  Menschen  und  Dinge  in  einem  ganz  falschen  Lichte  gezeigt 
habe.  Gegen  Mittag  sei  dann  dieser  Zustand  geschwunden  und  es 
seien  ihm  „menschenfreundliche  Gefühle"  wiedergekehrt.  Ist  es  nun 
nicht  recht  gut  denkbar,  daß  seine  wütenden  Ausfälle  gegen  Wagner 
oder  das  Christentum,  zumal  sie  doch  von  Ausdrücken  höchster 
Hochachtung  abgelöst  werden,  im  Zustande  dieser  betäubenden 
Wirkungen  des  übermäßigen  Chloralgenusses  geschrieben  worden 
sind?  Aber  ganz  abgesehen  davon  erhebt  sich  für  uns  die  Frage, 
ob  sein  Fanatismus  bloß  gegen  Sachen  oder  auch  gegen  Personen 
gerichtet  war.  Nietzsche  selbst  gibt  nur  das  erstere  zu;  so  schreibt 
er:  „Ich  greife  nie  Personen  an  —  ich  bediene  mich  der  Person 
nur  wie  eines  starken  Vergrößerungsglases,  mit  dem  man  einen 
allgemeinen,  aber  schleichenden,  aber  wenig  greifbaren  Notstand 
sichtbar  machen  kann  . . .  ich  greife  nur  Dinge  an,  wo  jede  Personen- 
differenz ausgeschlossen  ist,  wo  jeder  Hintergrund  schlimmer  Er- 
fahrungen fehlt."  Wer  jedoch  Nietzsches  Kampf  gegen  Wagner 
kennt,  wird  diese  Selbsteinschätzung  des  Philosophen  gewiß  bestreiten ; 
und  doch  schreibt  er  in  einem  Briefe  aus  dem  Jahre  1888:  „Wenn 
ich  jetzt  zu  den  Gegnern  der  Wagnerschen  Bewegung  gehöre,  so 
liegen,  wie  es  sich  von  selbst  versteht,  dahinter  keine  persönlichen 
Motive."  Klafft  nicht  auch  hier  zwischen  dem  Tatsächlichen  und 
dem  „Rechtfertigungsversuche"  Nietzsches  ein  nicht  lösbarer  Wider- 
spruch? Nein;  nicht  lösbar  nur  für  den  boshaften  Durchschnitts- 
kenner Nietzsches.  Aber  gerade  hier  hätten  unsere  Psychiater  und 
Psychologen  das  geeignetste  Feld  für  ihre  wissenschaftliche,  das 
heißt    objektive    Betätigung.    Spricht    man    immer    nur    von    dem 


—     352     — 

Künstler  Wagner,  nie  von  dem  Menschen  Wagner,  von  dem 
Wagner,  der  alles  immer  nur  mit  dem  Auge  des  Künstlers  be- 
trachtete, um  wie  viel  mehr  gilt  diese  Forderung  von  dem  Künstler 
Nietzsche,  den  man  in  dem  historischen  Menschen  Nietzsche  —  aus- 
genommen seine  für  Wagner  eintretenden  Werke!  —  absichtlich 
ignoriert!  Denn  auch  in  allen  polemischen  Werken  Nietzsches 
offenbart  sich  seine  Künstlernatur  mit  ihrer  starken  Phantasie,  die 
alles  Abstrakte  konkret,  alles  Sachhche  ins  PersönUche  wendet,  weil 
es  dadurch  plastischer  und  eindrucksvoller  wird.  Für  ihn  gewinnen 
die  Gestalten  vergangener  Geschichte  in  dem  Maße  Leben  und  Farbe, 
daß  er  mit  ihnen  in  eine  Diskussion  eintritt,  als  lebten  sie,  so  daß 
die  temperamentvolle  Stimmung  des  persönlichen  Auge-in-Augesehens 
entsteht.  Anderseits  aber  ist  die  Bekämpfung  doch  auch  in  dem  Maße 
gegen  persönliche  Eigentümlichkeiten  des  Angegriffenen  gerichtet, 
daß  man  sie  nicht  allein  als  symbohsche  Bezeichnung  sachlicher 
Werte  auffassen  kann,  sondern  urteilen  muß,  daß  die  sachliche  und 
persönliche  Bekämpfung  unmerklich  und  unentscheidbar  ineinander 
übergehen;  trennen  läßt  sich  beides  nur  am  grünen  Tisch  und  bei 
der  Aufstellung  des  ethischen  Ideals.  Wenn  es  Nietzsche  darum 
nicht  gelungen  ist,  und  gerade  auch  da  nicht,  wo  ehemals  freundliche 
Beziehungen,  wie  mit  Wagner,  in  gegenteilige  umgeschlagen  waren, 
das  persönhche  Moment  fernzuhalten,  so  steht  er  darum  nicht  tiefer 
als  viele  andere  Menschen.  Haben  doch  fast  die  meisten  großen 
Männer,  auch  die  der  Religionsgeschichte,  einen  starken  persönhchen 
wie  sachlichen  Fanatismus  besessen.  Daß  er  die  Scheidung  von 
beiden  als  Ideal  empfand,  hebt  den  Grundwert  seiner  PersönUchkeit. 
(Cf.  Grützmacher;  1.  c.  p.  44/45.)  Anderseits  aber  tut  man  m.  E. 
Nietzsche  nicht  weniger  Unrecht,  wenn  man  behauptet,  daß  die  so- 
genannte „Euphorie"  in  ihm  jene  Seligkeitsräusche  erzeugt  habe,  die 
dem  geistigen  Zusammenbruche  eines  Paralytikers  voranzugehen 
pflegen,  und  ihn  seine  Gegner  in  milderem  Lichte,  ja  wieder  als  Freunde 
sehen  ließ.  Denn  die  durch  die  permanente  Vereinsamung  hervor- 
gerufene Steigerung  des  Gefühlslebens  ist  einem  so  feinen  Psycho- 
logen, der  Nietzsche  war,  nicht  entgangen:  in  einem  ergreifenden 
Briefe  an  Franz  Overbeck  vom  3.  Februar  1888  läßt  er  seinen 
Freund  in  dieses  seelische  Elend,  über  das  er  sich  klar  war,  hinein- 
blicken: „Von  allen  Seiten  aus  betrachtet,  ist  mein  Zustand  un- 
haltbar und  schmerzhaft  bis  zur  Tortur.  Meine  letzte  Schrift"  (sc.  der 


—     353     — 

„Wille  zur  Macht")  « verrät  etwas  davon:  in  einem  Zustande  eines 
bis  zum  Springen  gespannten  Bogens  tut  einem  jeder  Affekt  wohl, 
gesetzt,  daß  er  gewaltsam  ist.  Man  soll  jetzt  nicht  von  mir  , schöne 
Sachen'  verlangen ;  so  wenig  man  einem  leidenden  und  verhungernden 
Tiere  zumuten  soll,  daß  es  mit  Anmut  seine  Beute  zerreiße!" 

Daher  war  Nietzsche  nicht  im  entferntesten  der  Schauspieler, 
der  sich  nach  Stekel  eine  Überzeugung  vorspielen  mußte,  wo  es 
sich  doch  nur  um  eine  Rache  zurückgesetzter  Liebe  und  gekränkten 
Musikerstolzes  handelte,  sondern  weil  Nietzsches  Freunde,  auf  die 
er  mit  brennender  Sehnsucht  wartet,  noch  immer  nicht  sich  ein- 
finden wollten,  weil  der  Jüngerkreis,  den  Wagner  um  sich  ge- 
sammelt hatte,  ihm  noch  immer  vorschwebt,  erdichtete  sich  der 
Einsame  die  Liebe,  die  er  brauchte,  nach  der  er  einem  Verschmach- 
tenden gleich  lechzte:  maßlos  überschätzte  er  Peter  Gast  und 
dessen  Musik,  den  er  als  „eine  Art  David  betrachtet,  den  ihm  der 
Himmel  zum  Glücke  geschenkt  habe".  Er  dichtet  die  Musik,  die 
er  nicht  mehr  hören  wird,  und  er  dichtet  die  Schüler,  die  er  nicht 
mehr  sehen  wird.  Kurz  gesagt:  er  flüchtete  sich  in  die  Herrlich- 
keiten seines  Traumlebens,  das  ihn  tröstet  und  ihm  die  ganze 
WirkUchkeit  ersetzen  muß.  Tief  beherzigenswert  sind  daher  Paul 
Deussens  Worte:  „Niemand  kann  sagen,  inwieweit  in  Nietzsches 
hochbegabtem  Geiste  die  Keime  der  Zerrüttung  schon  als  Anlage 
vorhanden  waren.  Aber  hätte  Nietzsche  sich  nicht  geflissentlich 
von  der  menschlichen  Gesellschaft  abgesondert,  in  der  er  eine  so 
ehrenvolle  Stellung  einnahm;  hätte  er  sein  Amt  behalten,  eine 
Famihe  gegründet  und  die  Früchte  seines  Geistes  langsam  reifen 
lassen,  anstatt  in  der  Einsamkeit  mit  asketischer  Überspannung 
seiner  Kräfte  tagsüber  unter  ermüdenden  Wanderungen  seinen  Ge- 
danken nachzuhängen  und  nachts  den  fliehenden  Schlaf  durch 
immer  stärkere  Narkotika  zu  erzwingen  —  wer  weiß,  ob  er  nicht 
noch  jetzt  in  voller  Gesundheit  unter  uns  lebte  und  statt  des  hinter- 
lassenen  Torso  uns  das  vollendete  Götterbild  einer  exzentrischen, 
aber  im  höchsten  Grade  der  Beachtung  werten  Weltanschauung 
entgegenbringen  könnte."  Aber  nun  soll  Stekel  wieder  einmal  recht 
haben:  Nietzsche  dichtete  sich  jetzt  als  der  große  Erzieher,  der  er 
selbst  nicht  mehr  sein  konnte,  der  er  aber  während  seines  ganzen 
Lebens  werden  wollte,  zu  Ende:  er  schuf  den  „Zarathustra",  die 
mächtigste   pädagogische  Utopie  seit  Piaton.     Aber  auch  der  „Zara- 

Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  23 


—     354     — 

thustra"  ward  umsonst  geboren,  denn  so  schreibt  sein  Autor  1887 
an  Overbeck:  ^Nach  einem  solchen  Aufruf,  wie  mein  Zarathustra 
es  war,  aus  der  innersten  Seele  heraus,  nicht  einen  Laut  von 
Antwort  zu  hören,  nichts,  nichts,  immer  nur  die  lautlose,  nunmehr 
vertausendfachte  Einsamkeit  —  das  hat  etwas  über  alle  Begriffe 
Furchtbares,  daran  kann  der  Stärkste  zugrunde  gehen  —  ach!  und 
ich  bin  nicht  der  Stärkste!"  Khngen  nicht  diese  Worte  als  der 
letzte,  verzweiflungsvolle  Schrei  eines  Menschenherzens,  das  sein 
kostbarstes  Herzblut  für  die  Welt  verströmen  ließ,  für  eine  Welt, 
aus  welcher: 

„der  kam  zu  spät,  der  flehend  zu  dir  sagte: 
„dort  ist  kein  Weg  mehr  über  eisige  Felsen 
und  Horste  grauser  Vögel  —  nun  ist  not: 
sich  bannen  in  den  Kreis,  den  Liebe  schließt!"  .  .  . 

Ist  etwa  diese  erschütternde  Menschenklage  nur  eine  theatra- 
lische Schauspielerpose,  daß  man  bei  einer  psychoanalytischen  Unter- 
suchung Nietzsches  ohneweiters  über  sie  zur  Tagesordnung  hin- 
wegschreiten darf?  Aber  nicht  zum  mindesten  ist  Nietzsche  daran 
zugrunde  gegangen :  denn  gleich  Zarathustra  konnte  er  nur  schenken, 
weil  er  zu  stolz  war,  zu  empfangen;  er  hat  das  Glück  des  Neh- 
menden nie  kennen  gelernt!  „Sein  Glück  erstarb  im  Schenken!" 
Er  wartete  nur  auf  Liebe!  Stekels  und  Goetz'  Behauptung, 
Nietzsche  sei  mit  dem  „Zarathustra'',  den  bereits  Friedrich  als  einen 
aus  dem  tiefsten  Innern  krampfhaft  herausgewühlten  Doppelgänger, 
etwa  als  eine  Art  selbstfabrizierten  Wagner -Ersatzes  auffaßte,  der 
Sieg  über  Wagner,  den  er  auf  musikalischem  Gebiete  nicht  schlagen 
konnte,  gelungen,  ist  geradezu  absurd.  Nichts  ist  törichter,  als  aus 
der  schließlich  begreiflichen  Tatsache,  daß  sich  der  einsame  Nietzsche 
in  die  Gestalt  des  Zarathustra  verliebt  habe,  solche  Folgerungen 
ableiten  zu  wollen.  Was  müßte  man  da  erst  von  Goethe  sagen, 
der  sich  doch  auch  in  die  Gestalten  seiner  Dichtungen  verliebt 
hatte?  Daß  sich  aber  Nietzsche  tatsächlich  mit  dem  Zarathustra 
identifizierte,  hat  allerdings  seinen  guten  Grund,  freilich  einen 
anderen,  als  die  drei  genannten  Herren  glauben.  Bereits  im  Jahre 
1872  schrieb  Nietzsche  die  bedeutungsvollen  Worte  nieder:  „Ich 
lüge  mich  in  die  Vielheit  und  die  Liebe  hinein,  *denn  mein  Herz 
sträubt  sich,  zu  glauben,  daß  die  Liebe  tot  sei,  es  erträgt  den 
Schauder   der   einsamsten  Einsamkeit   nicht   und    zwingt   mich    zu 


—     355     — 

reden,  als  ob  ich  Zwei  wäre."  —  „Immer  einmal  eins  —  das  gibt 
auf  die  Dauer  zwei!"  —  »Um  Mittag  war's,  da  wurde  Eins  zu 
Zwei!"  Aus  dieser  Grundstimmung  heraus  ward  der  Zarathustra 
geboren,  denn,  um  an  ein  tiefsinniges  Wort  Dehmels  anzuspielen, 
ward  auch  dem  einsamen  Nietzsche  die  höchste  Einsamkeit  zur 
tiefsten  Zweisamkeit.  Aber  auch  nicht  aus  dem  ungeheuren  Sehnen, 
seiner  tiefbewegten  und  leidvollen  Innerlichkeit  jenen  Halt  zu 
geben,  den  der  Gläubige  in  seinem  Gott  besitzt,  entstand,  wie  Frau 
Andreas  Salome  glaubt,  der  Zarathustra,  sondern  sein  Entstehen 
war  —  Bertram  hat  m.  E.  als  erster  auf  diese  viel  zu  wenig  be- 
achtete Tatsache  hingewiesen  —  die  notwendige  Folge  „des  Ehr- 
geizes  seines  Intellekts,  nicht  mehr  individuell  zu  erscheinen",  wie 
es  im  Menschlichen  heißt.  Denn  Nietzsche  war  sich  dessen  wohl 
bewußt,  daß  das  Nur -Individuum  niemals  mysterienbildend  wirken 
könne.  Und  in  dieser  Erkenntnis,  die.  den  „Zarathustra*'  schuf  als 
das  persönUchste  Werk  seines  Schöpfers,  liegt  die  ungeheure  Tragik 
von  Nietzsches  Leben:  er,  der  alles  mit  seiner  individualistischen 
Erkenntnisgier  schonungslos  zersetzte,  dieser  selbe  Mensch  trug  in 
sich  den  prophetisch  bauenden,  gemeinschaftssüchtigen  Mysterien- 
willen. Denn  so  zerrüttet  war  sein  Geist  denn  doch  nicht,  als  daß 
nicht  auch  er  sich  hätte  gestehen  müssen,  daß  eine  solche  Freiheit 
und  Unabhängigkeit,  wie  er  sie  pries,  dem  Individuum  im  Universum 
niemals  beschieden  sein  kann.  Denn  das  Individuum  ist  nicht  nur 
der  Gegensatz  zum  Universum,  sondern  zugleich  ein  Teil  desselben, 
und  aus  dieser  Doppelstellung  ergibt  sich  sein  Recht,  aber  auch 
seine  Schranke.  „Ein  tiefer  Mensch  braucht  Freunde ;  es  wäre  denn, 
daß  er  seinen  Gott  noch  hat!''  Aber  „der  Sehnsucht  süßer  Schrei" 
nach  „neuen"  Freunden  „erstarb  im  Munde";  nur  um  seinem 
tiefen  Bedürfnis  nach  einem  Freunde  Genüge  zu  tun,  hat  sich 
dieser  Individualist  par  excellence  gleichsam  in  zwei  Teile  zerlegt: 
in  die  göttliche  Lichtgestalt  Zarathustras  als  die  verkörperte  Ver- 
klärung seines  eigenen  Wesens  und  den  Menschen,  der  er  war. 
Und  dieses  von  tausend  Zweifeln  und  Sehnsüchten,  jemals  sein 
höchstes  Ideal  verwirklicht  zu  sehen,  zermarterte  Herz,  dieses  Herz, 
das  seine  ganze  Kraft  bisher  nur  dazu  aufgewendet  hatte,  den  Kopf 
kühl  zu  erhalten,  dieses  Herz  lebte  nunmehr  nur  der  heißen  Sehn- 
sucht, bis  es  sie  schließlich  hypostasiert  hatte,  bis  Zweifel  und  Sehn- 
sucht in  eins  verschmolzen  und  die  treibende  Kraft  für  sein  ferneres 

23* 


—     356     — 

Leben  wurden.  Aber,  „wenn  Skepsis  und  Sehnsucht  sich  begatten,  ent- 
steht die  Mystik",  und  sie  weckt  jenes  Gefühl,  das  Pindar  mit  den 
Worten  pries:  „Gesegnet,  wer,  nachdem  er  das  geschaut,  unter  die 
Erde  geht:  er  kennt  den  Endsinn  des  Lebens  und  den  zeusgegebenen 
Anfang."  Als  solch  einen  Gesegneten  fühlte  sich  der  Nietzsche  des 
„Zarathustra''.  „Aus  dem  Jenseits",  sagt  Wilamowitz,  „kommt  Leben 
und  Erkennen.  Erst  wer  das  —  nicht  weiß,  denn  ein  Wissen 
vom  Jenseits  gibt  es  nicht,  aber  wer  es  erfahren  hat,  in  sich 
erlebt  hat,  der  ist  an  dem  Ziele,  das  dem  Sterblichen  zugänglich 
ist.  Wissenschaft  treiben,  nie  aufhören,  diesem  Streben  kein  ,bis 
hierher!'  zurufen,  und  doch  sich  bewußt  sein,  daß  es  der  Ergänzung 
bedarf,  die  jenes  Glauben,  jene  ,wahre'  Meinung  ist,  die  auf  der 
inneren  Erfahrung  beruht,  sei  sie  auch  ein  göttlicher  Wahnsinn", 
das  war  nicht  nur  Piatons,  das  war  auch  Nietzsches  letzte  und 
tiefste  Erkenntnis.  Piaton  lehrte  die  öfiolcoeig  d^sm.  Und  der  tiefste 
Grund  von  Nietzsches  Wesen  ist  —  hellenisch!  Wenn  er  daher 
nicht  eine  öfioCcaaig  /liovvccp  lehrte,  sondern  geradezu  die  Identifi- 
kation mit  diesem  Gotte,  so  tat  er  dies  beileibe  nicht  aus  den  von 
Stekel  mit  Hilfe  der  Psychoanalyse  erschlossenen  Gründen,  sondern 
—  um  an  ein  Wort  Goethes  zu  erinnern  —  in  höherer  Spirale  lief 
der  „letzte"  Nietzsche  den  Weg  zurück  zu  jenem  geheimnisvollen 
Mysterium,  das  er  in  der  „Geburt  der  Tragödie**  angedeutet  hatte. 
Kurz:  er  blieb  sich  bis  an  sein  Ende  treu!  Daß  aber  dieser  große, 
weltbewegende  Geist  zu  dieser  Erkenntnis  nicht  ohne  die  schwersten 
Seelenkämpfe  und  nur  unter  den  fürchterlichsten  Leiden  sich  durch- 
gerungen hat,  das  bedarf  keiner  näheren  Erörterung  mehr.  Bertram  hat 
daher  recht,  wenn  er  wohl  im  Hinblick  auf  diese  Seelenkämpfe  sagt: 
„Der  brennende  Schrei  nach  dem  Mysterium,  nach  dem  ,neuen 
Wozu?',  ohne  das  die  Menschheit  verdorrt,  und  das  Spottlachen  des 
Intellektualismus,  der  sich  im  unentreißbaren  Besitz  aller  Methoden 
der  Entschleierung  weiß  —  sie  klingen  im  ,Zarathustra'  zu  grauen- 
vollem Zerrklang  ineinander,  nirgends  schauriger  als  im  ,Ecce 
homo'.  Dieser  Zerrklang  schrillt  durch  alle  Erlebnisse  Nietzsches. 
Ein  furchtbarer  Schauder  rüttelt  ihn  bei  dem  Gedanken,  daß  alle 
Existenzen  in  einem  fruchtlosen  Kreislauf  sich  abmühen,  aber  der 
Stolz  und  die  Selbstachtung  des  Übermenschen  fordern  ein  un- 
bedingtes Ja  zu  der  Ewigkeit  all  seiner  Taten.  Auf  dem  Gipfel 
der  Philosophie  klafft  ein  trostloser  Schlund,  den  die  Menschheit  nur 


—     357     — 

dadurch  überbrücken  kann,  daß  sie  sich  hineinstürzt.  Das  ewige 
Leben  wandelt  sich  in  unergründlichen  Tod!  Die  letzte  Konsequenz 
der  Wahrheit  wird  zum  Wahnsinn.  Bei  dem  im  entscheidenden 
Augenblick  entstehenden  Feuerwirbel  dieser  seelischen  Antinomien 
mußte  ihr  Gefäß  zersplittern."  Das  ist  der  entsetzliche  Todeskampf 
"zwischen  Wunsch  und  Wissen.  Nun  ist  er  beendet!  Aber  auch 
hier  ist  der  Rest  Schweigen  und  sich  neigen  in  Ehrfurcht!  Drum 
wollen  wir  hier  der  herrlichen  Verse  R.  Wagners  gedenken,  die  er 
den  Manen  seines  allzufrüh  verstorbenen  jungen  Freundes  Karl 
Tausig  gewidmet  hat: 

„Reif  sein  zum  Sterben, 

des  Lebens  zögernd  sprießende  Frucht, 

früh  reif  sie   erwerben 

in  Lenzes  jäh  erblühender  Flucht  — 

war  es  dein  Los?    War  es  dein  Wagen? 

Wir  müssen  dein  Los  wie  dein  Wagen  beklagen  ..." 
Und  diesen  Nietzsche,  der  in  seinem  faustischen  Streben  seine 
welke  Brust  zu  den  Quellen  alles  Lebens  hindrängte,  an  denen 
Himmel  und  Erde  hängt,  diesen  Nietzsche  nennt  Stekel  verächtlich 
einen  Schauspieler!  Offenbar  deshalb,  weil  ihm  das  „Schauspiel" 
Nietzsche  begreiflicher  erscheint  als  die  „unendliche  Natur"  Nietzsche, 
die  er  trotz  der  Psychoanalyse  oder  vielleicht  wegen  der  Psycho- 
analyse nicht  fassen  kann!  Dieser  Nietzsche  soll  den  „Zarathustra" 
wirklich  nur  deshalb  geschaffen  haben,  um  seinen  versunkenen 
Freund  Wagner,  den  er  musikaUsch  nicht  besiegen  konnte,  doch 
irgendwie  zu  übertrumpfen?  Aber  vielleicht  liegt  in  dieser  un- 
geheuerlichen Behauptung  Stekels  denn  doch  ein  Körnchen  Wahr- 
heit! Dem  wäre  der  Fall,  wenn  Stekel  unter  der  Produktionslust 
Nietzsches  den  Drang  verstünde,  der  Wagner  beseelte,  als  er  dafür 
kämpfte,  seine  Ideale  zu  verwirklichen,  d.  h.  die  sichtbare  Wirkung 
seines  Schaffens  zu  genießen.  Also  ein  Schauspieler  war  Nietzsche 
durchaus  nicht.  Gegen  diese  Behauptung  Stekels  spricht  das  gewich- 
tige Zeugnis  Deussens:  „Nietzsche  war  von  Haus  aus  eine  tief- 
ernste Natur,  alles  Schauspielerhafte  in  tadelndem  wie  in  lobendem 
Sinne  lag  ihm  gänzlich  fern."  Seiner  ganzen  Natur  nach  ist  er 
unschauspielerisch,  untheatralisch,  mögen  auch  Züge  einer  gewissen 
geistigen  Koketterie  zu  allen  Zeiten,  namentUch  aber  in  der  Spät- 
zeit, bei  ihm  zu  beobachten  sein.  Umgekehrt  aber  mußten  ihn 
seine  ungeheure  Ehrlichkeit,  die  fast  pedantische  Ordnungsliebe  miß- 


—     358     — 

trauisch  machen  gegen  jede  Art  Kakozelie  und  jedes  Pathos. 
Th.  Lessing  (1.  c.  p.  239)  hat  dafür  die  schönen  Worte  gefunden: 
„Alles  Rhetorische,  Pastorale  und  Dithyrambische,  die  Exaggeration, 
der  übersteigende  Akzent,  der  große  Faltenwurf,  der  Brustton  der 
Überzeugung,  die  lapidare  Attitüde,  das  wurde  ihm  zu  einem  neuen 
Problem.  Er  entdeckt  das  Problem  der  Emphatik.  Er  ent- 
deckt, daß  genau  das  selbe  Wort,  was  bei  ihm  keusch  und  un- 
schuldig war,  an  geschickteren  Leuten  Maske  und  Mittel  sein  mußte, 
daß  genau  der  gleiche  Schrei,  an  dem  er  selbst  fast  starb,  von 
klügeren  Männern  nicht  ohne  Selbstgenuß  ausgestoßen  wird  und 
daß  man  wirklich  nicht  unterscheiden  kann,  ob  die  rote  Farbe 
des  Geschriebenen  von  Herzblut  oder  Tinte  herrührt.  Und  er  ent- 
deckt zugleich,  daß  das  stumme  Zucken  der  Lippe  mehr  offen- 
bart als  die  gewaltigsten  Gesten  des  Brustschiagens  und  Haaraus- 
raufens,  an  die  sein  naiver  Verehrungsdrang  so  gerne  geglaubt 
hatte  .  .  .  und  er  entdeckt  in  Wagner  den  Gestikulator  und  La- 
menteui'.  Den  ,Heautontimorumenos',  der  an  sich  leidet,  aber 
zugleich  das  Leiden  zum  Schauspiel  vor  sich  selber  macht.  An  dem 
nichts  wahr  ist  als  die  Tatsache,  daß  er  zerbricht,  nicht  aber  die 
Art,  wie  er  sich  an  seinem  Zerbrechen  eine  Folie  gibt  .  .  .  und 
das  tut  er  immer  etwas  zu  laut,  immer  etwas  zu  superlativisch, 
ein  wenig  unkeusch.  Damit  will  er  das  Menschentum  Wagners 
treffen."  Damit  wollen  wir  die  wundervolle  Selbstcharakteristik  ver- 
gleichen, die  Nietzsche  in  seinen  Lebenserinnerungen  1888  gibt: 
„Mein  Vorrecht  ist,  die  höchste  Feinheit  für  alle  Zeichen  gesunder 
Instinkte  zu  haben.  Es  fehlt  jeder  krankhafte  Zug  an  mir ;  ich  bin 
selbst  in  Zeiten  schwerer  Krankheit  nicht  krankhaft  geworden ; 
umsonst,  daß  man  in  meinem  Wesen  einen  Zug  von  Fanatismus 
sucht.  Man  wird  mir  aus  keinem  Augenblick  meines  Lebens  irgend- 
eine anmaßliche  oder  pathetische  Haltung  nachweisen  können.  Das 
Pathos  der  Attitüde  gehört  nicht  zur  Größe;  wer  Attitüden  über- 
haupt nötig  hat,  ist  falsch.  —  Vorsicht  vor  allen  pittoresken 
Menschen!  —  Das  Leben  ist  mir  leicht  geworden,  am 
leichtesten,  wenn  es  das  Schwerste  von  mir  ver- 
langte^) ..  .     ich     kenne    keine    andere    Art,    mit    großen     Auf- 


1)  Im  „Zarathustra"  findet  sich  die  Sentenz:  „Wir  lieben  das  Leben, 
nicht  weil  wir  ans  Leben,  sondern  weil  wir  ans  Lieben  gewöhnt  sind." 
Da  ist   aber  freilich  zu   entgegnen,   daß  Nietzsche,   der   unsäglich  Leidende, 


—     359     — 

gaben  zu  verkehren,  als  das  Spiel:  dies  ist,  als  ein  An- 
zeichen der  Größe,  eine  wesentliche  Voraussetzung.  Der  ge- 
ringste Zwang,  die  düstere  Miene,  irgendein  harter  Ton  im 
Halse  sind  alles  Einwände  gegen  einen  Menschen,  um  wieviel  mehr 
gegen  sein  Werk!  —  Man  darf  keine  Nerven  haben.  —  Auch  an 
der  Einsamkeit  leiden  ist  ein  Einwand  —  ich  habe  immer  nur 
an  der  „Vielsamkeit"  gelitten.  —  In  einer  absurd  frühen  Zeit,  mit 
7  Jahren,  wußte  ich  bereits,  daß  mich  nie  ein  menschliches  "Wort 
erreichen  würde:  hat  man  mich  je  darüber  betrübt  gesehen?  — 
Ich  habe  noch  die  gleiche  Leutseligkeit  gegen  jedermann,  ich  bin 
selbst  voller  Auszeichnung  für  die  Niedrigsten:  in  dem  allen  ist 
nicht  ein  Gran  von  Hochmut,  von  geheimer  Verachtung.  Wen  ich 
verachte,  der  errät,  daß  er  von  mir  verachtet  wird:  ich  empöre 
durch  mein  bloßes  Dasein  alles,  was  schlechtes  Blut  im  Leibe  hat. 
Meine  Formel  für  die  Größe  am  Menschen  ist  amor  fati;  daß  man 
nichts  anderes  haben  will,  vorwärts  nicht,  rückwärts  nicht,  in  alle 
Ewigkeit  nicht.  Das  Notwendige  nicht  bloß  ertragen,  noch  weniger 
verhehlen,  —  aller  Idealismus  ist  Verlogenheit  vor  dem  Notwendigen 
—  sondern  es  lieben!"  Ähnliches  können  wir  in  einem  Briefe 
Nietzsches  an  Strindberg,  wohl  aus  der  dritten  Novemberwoche  1888 


mit  allen  Koniplementärfarben  seines  Leidens  dieses  Lebensideal  uns  aus- 
gemalt hat;  denn,  so  sagt  sein  Zarathustra:  „Du  willst,  du  begehrst, 
du  liebst,  darum  allein  liebstdu  das  Leben!"  Gewiß  liegt  in 
diesem  Ausspruche  etwas  vom  schmerzvollen  Rufe  des  Kranken  nach  Ge- 
sundheit, aber  auch  etwas  von  dem  alten  Bibelwort:  „Der  Glaube  ist  eine 
Zuversicht  des,  das  man  nicht  siebet."  Nietzsche  hat  eben  das  Leben 
geliebt,  nicht  wie  es  war,  sondern  wie  er  es  wollte,  wie  er  es  schaffen 
wollte.  Und  darin,  in  diesem  Protest  gegen  die  Unvollkommenheit  der  Welt 
<cf.  p.  147/48)  erblicke  ich  etwas  Tiefreligiöses.  Solange  Menschen  auf  dieser 
Erde  leben  werden,  solange  wird  immer  wieder  dieser  Protest  erhoben 
werden  von  —  den  tiefer  Denkenden!  Nietzsche  zog  daher  ganz  folgerichtig 
die  Konsequenz  aus  dem  polaren  Gegensatz  der  Systeme  Hegels  und 
Schopenhauers  (alles  Wirkliche  ist  vernünftig  und  alles  Vernünftige  ist 
wirklich  —  der  Weltwille  ist  blind,  alles  Weltgeschehen  ist  unvernünftig). 
Auch  Wagner  hat  diesen  Protest  erhoben  (cf.  p.  148/49),  daher  mündet  sein 
Schaffen  im  Religiösen,  genau  so  wie  bei  Nietzsche,  der  allerdings  viel 
radikaler  war.  So  strahlt  daher  das  alte  Goethewort:  „Wer  Wissenschaft 
•und  Kunst  besitzt,  hat  auch  Religion",  im  Glänze  einer  neuen  Wahrheit 
auf.  Denn  niemand  anderer  wie  Nietzsche  gibt  uns  so  unzweideutige  Winke 
zu  einem  tieferen  Verständnis  der  Religion,  zu  einer  so  gewaltigen  Einsicht 
ihrer  Lebens notwendigkeit. 


—     360     — 

stammend,  lesen,  gleichfalls  eine  Art  Selbstschilderung:  „Ich  hatte 
mit  R.  Wagner  und  Frau  eine  Intimität,  wie  ich  sie  mir  wertvoller 
nicht  denken  konnte.  Im  Grunde  bin  ich  vielleicht  ein  alter  Musi- 
kant. Später  hat  mich  Krankheit  aus  diesen  letzten  Beziehungen 
herausgelöst  und  mich  in  einen  Zustand  tiefster  Selbstbesinnung 
gebracht,  wie  er  vielleicht  kaum  je  erreicht  worden  ist.  Und  da 
in  meiner  Natur  selbst  nichts  Krankhaftes  und  Willkürliches  ist,  so 
habe  ich  diese  Einsamkeit  kaum  als  Druck,  sondern  als  eine  un- 
schätzbare Auszeichnung,  gleichsam  als  Reinlichkeit  empfunden. 
Auch  hat  sich  noch  niemand  bei  mir  über  düstere  Mienen  beklagt, 
ich  selbst  nicht  einmal:  ich  habe  vielleicht  schlimmere  und  frag- 
würdigere Welten  des  Gedankens  kennen  gelernt  als  irgend  jemand, 
aber  nur,  weil  es  in  meiner  Natur  liegt,  das  Abseits  zu  lieben.  Ich 
rechne  die  Heiterkeit  zu  den  Beweisen  meiner  Philosophie."  Wenn 
aber  trotzdem  die  Gerechtigkeit  uns  zwingt,  zu  sagen,  daß  seine 
Angriffe  auf  Wagners  Menschentum  vielfach  auf  Grund  vorgefaßter 
Wertung,  ohne  Liebe  und  ohne  psychologische  Vollständigkeit  er- 
folgten, sind  sie  nicht  zum  großen  Teile  entschuldbar  auf  Grund 
der  seinerzeit  entwickelten  psychologischen  Tatsachen?  Gewiß, 
auch  hier  bleibt  ein  Erdenrest,  zu  tragen  peinlich^)!  Aber  noch 
immer  ist  dieser  Erdenrest  nicht  von  der  Schwere,  um  Nietzsche 
erbarmungslos  in  Grund  und  Boden  zu  verdammen.  Wie  lange 
noch  wird  auch  von  ihm  das  bittere  Wort  Goethes  Geltung  haben: 
„Da  man  an  mein  Talent  nicht  herankann,  verunglimpft  man 
meinen  Charakter!"? 

Das  tragischeste  jedoch  ist,  daß  Nietzsche  nicht  nur  als 
Mensch,  sondern  auch  als  ^ Wissenschaftler"  noch  immer  der  Ver- 
kennung ausgesetzt  ist.    Aber   angesichts    dieser  Verkennung  kann 


^)  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  an  Goethe  erinnert,  der  (am  2.  Jänner  1800) 
an  Fritz  Jacobi  schrieb:  „Man  lernt,  daß  wahre  Schätzung  nicht  ohne 
Schonung  sein  kann!"  Wir  bedürfen  eben  —  Wilamowitz  hat  einmal  über 
Goethe  sich  im  selben  Sinne  geäußert  —  des  ganzen  Menschen  mit  all  seinem 
Vollbringen  und  Liegenlassen,  Genießen  und  Entsagen.  Gerade  weil  die  Zeit 
und  die  wissenschaftliche  Forschung  auch  das  Bedingte  und  Unzulängliche 
in  den  Werken  und  in  den  Menschen  immer  deutlicher  hervortreten  läßt, 
gewinnt  der  ganze  Wagner,  gewinnt  der  ganze  Nietzsche  erst  die  volle  Macht 
eines  vorbildlichen  Menschen;  das  ist  mehr  als  Apotheose.  Erst  der  ganze 
Mensch,  so  recht  und  schlecht  er  ist,  lehrt  uns  leben  und  streben  und 
—  entsagen,  was  das  Notwendigste  ist! 


—     361     — 

seine  persönliche  Größe  in  seinem  Scliaffen  nie  genug  betont  werden. 
Und  dieses  stärkste  philosophische  Pathos,  das  mit  ihm  im  selben 
Maße  kein  Denker  teilt,  hat  sich  bei  Nietzsche  an  der  Antike  ent- 
zündet: aus  ihr  schöpft  er  Nahrung  und  Kraft  wie  vor  ihm  unsere 
Klassiker.  Aber  wie  die  Stürmer  und  Dränger  infolge  einer  gewissen 
Seelenverwandtschaft  sich  für  gewisse  Seiten  des  Hellenentums 
entflammten  und  begeisterten,  tat  dies  auch  Nietzsche,  indem  er 
sich  in  den  Vorsokratikern  erkennt.  Im  Phänomen  des  Dionysischen, 
wie  er  es  aus  dem  Mythos  und  den  Mysterienkulten  jener  Jahr- 
hunderte fruchtbarsten  Schaffens  und  Lebens  zu  ergreifen  suchte, 
fand  er  das  sprechendste  Symbol  seiner  Weltanschauung,  seiner 
Religion,  die  er  aus  jenem  Griechentum  herauslas  oder  in  es  hin- 
einlas. Offenbar  nur  im  engsten  Anschluß  an  jene  Erscheinungen 
kam  er  zu  den  Visionen  seiner  Wertphilosophie,  seines  Evangeliums. 
Nun  steht  es  gewiß  außer  allem  Zweifel,  daß  Nietzsche  in  der 
„Geburt  der  Tragödie"  mit  erbarmungsloser  Vergewaltigung  der 
historischen  Tatsachen  das  Symbol  des  Dionysischen  mit  der  ganzen 
noch  unverbrauchten  Glut  seiner  Jugend  ans  Licht  gehoben  hat. 
Und  am  Ende  seiner  Schaffenszeit,  nach  einem  unsäglich  opfer- 
reichen und  leid  vollen  Leben,  kurz  vor  seinem  Zusammenbruch, 
hat  er  in  der  „  Götzendämmerung "  auf  dieses  Problem  wieder  zu- 
rückgegriffen und  mit  ihm  den  Ring  seines  Lebens,  wie  begonnen,, 
so  auch  geschlossen.  Indes  schließt  die  Vorstellung  vom  Leben, 
die  er  aus  der  Erkenntnis  dieses  Problems  ableitet,  den  Gedanken 
der  Exuberanz,  der  ungeheuersten  Verschwendung,  des  Reichtums 
und  Überschusses  in  sich.  Nur  von  hier  aus  findet  er  die  Be- 
jahung und  den  Mut  zu  seiner  erbarmungslos  .tragischen')  Welt- 
anschauung: nicht  so,  daß  er  den  Pessimismus  Schopenhauers  ab. 
schwächte,  sondern  ihn  vertiefte  und  verstärkte  und  trotzdem  zu 
einer  positiven  Bewertung  unseres  Daseins  gelangt,  weil  bei  ihm 
bei  dem  Überschwang  der  Lebenskräfte  der  Schmerz  als  ein  Reiz 
mehr  wirkt.  Denn  „das  schnellste  Tier,  das  euch  zur  Vollkommen- 
heit emporträgt,  ist  das  Leiden!"  Symbol  für  diese  Lebensfülle  ist 
ihm  der  Gott  und  Kultus  des  Dionysos,  des  Todes-  und  Lebens- 
gottes,   dessen  Gläubige   mit   Lust   den  Schmerz   suchen.     Deshalb 


^)  Deshalb  hat  Wagner  in  einem  Briefe  an  Peter  Gast  Nietzsche  nicht, 
mit  Unrecht  einen  „verkappten  Tragödiendichter"  genannt. 


—     362     — 

sagt  er  in  der  „Götzendämmerung":  „Die  Psychologie  des  Orgiasmus 
als  eines  überströmenden  Lebens-  und  Kraftgefühls,  innerhalb  dessen 
selbst  der  Schmerz  noch  als  ein  Stimulans  wirkt,  gab  mir  den 
Schlüssel  zum  Begriff  des  tragischen  Gefühls,  das  sowohl  von 
Aristoteles  als  insonderheit  von  unseren  Pessimisten  mißverstanden 
worden  ist.  Die  Tragödie  ist  so  fern  davon,  etwas  für  den  Pessi- 
mismus der  Hellenen  im  Sinne  Schopenhauers  zu  beweisen,  daß  sie 
vielmehr  als  dessen  entscheidende  Ablehnung  und  Gegeninstanz 
zu  gelten  hat.  Das  Jasagen  zum  Leben  selbst  noch  in  seinen  frem- 
desten und  härtesten  Problemen;  der  Wille  zum  Leben  im  Opfer 
seiner  höchsten  Typen  der  eigenen  Unerschöpflichkeit  frohwerdend 
—  das  nannte  ich  dionysisch,  das  erriet  ich  als  die  Brücke  zur 
Psychologie  des  tragischen  Dichters." 

Unsere  Aufgabe  besteht  nun  darin,  dieses  Dionysosproblem 
Nietzsches  historisch  und  psychologisch  zu  beleuchten  und  den 
Versuch  zu  wagen,  es  auf  Grund  des  hiebei  gewonnenen  Materials 
zu  seinem  innersten  Denken  und  Fühlen  in  Beziehung  zu  setzen. 
Ganz  ungeahnte,  weltumspannende  Perspektiven  werden  sich  dabei 
unserem  erstaunten  Blicke  auftun  und  die  fast  mystisch  zu  nen- 
nende, tiefe  Wesensverwandschaft  entschleiern,  die  Nietzsche  nicht 
nur  mit  Richard  Wagner  verband,  sondern  auch  mit  den  Größten 
unserer  Nation:  mit  einem  Goethe,  mit  einem  Beethoven. 

Gegen  das  Ende  seines  Schaffens  hat  Nietzsche  die  tiefe 
Identität  des  zerrissenen  Dionysos  mit  dem  gekreuzigten  Christus 
beschäftigt  wie  kein  Thema.  „Diese  Tatsache",  sagt  Bertram,  „er- 
laubt uns  die  deutende  Vermutung,  daß  Nietzsche  vielleicht  irgend- 
wann einmal  noch  die  Erkenntnis  von  dieser  seiner  eigenen  christ- 
lichen Identität  großartig  fruchtbar  gemacht  hätte,  daß  er  das  Bild 
eines  gekreuzigten  Dionysos,  des  sieghaften  zerrissenen  Lebens,  mit 
einem  neuen,  noch  nicht  gehörten,  dennoch  uralten  Sinn  hätte  er- 
füllen können  —  daß  er  die  beiden  großen  kultischen  Gegenpole 
und  Enden  der  Menschheit,  den  hellenischen  Kult  des  Leibes  und 
den  christlichen  Kult  des  Leidens  miteinander  irgendwie  in  einem 
, neuen  Liede'  vereinigt  hätte  .  .  .  einem  Liede,  das  nun  noch 
schlafend  geblieben  ist  und  das  von  keiner  bloßen  ,Erkenntnis'  auf- 
geweckt werden  wird."  Mit  anderen  Worten:  diesen  Nietzsche 
kann  man  nur  unter  der  weitesten  Perspektive  betrachten,  wenn 
man    ihn    halbwegs    verstehen    will;    ihn    hineinzuzwängen    in    das 


—     363     — 

Prokrustesbett  moderner  psychiatrischei-  Forschung,  um  an  seinem 
Denken  die  Daseinsberechtigung  einer  im  Grunde  nichtssagenden 
Nomenklatur  zu  erweisen,  das  dünkt  mich  ärger  als  bloßes 
Nichtverstehen ;  d.  h.  den  Mann  und  seine  Werke  absichtlich  nicht 
verstehen  wollen.  Als  Nietzsche  in  Turin  die  ersten  Symptome 
geistiger  Erkrankung  zeigte,  schickte  er  Zettel  mit  der  Unterschrift 
—  „der  Gekreuzigte'*  oder  „Dionysos"  —  an  Cosima,  Rohde,  Brandes, 
Bülow  und  Peter  Gast.  An  letzteren  schrieb  er  z.  B.:  „Singe  mir 
ein  neues  Lied;  die  Welt  ist  verklärt  und  alle  Himmel 
freuen  sich.  Der  Gekreuzigte!"  Oder  an  Georg  Brandes,  der 
es  als  erster  gewagt  hatte,  Nietzsche  zum  Gegenstand  einer  Uni- 
versitätsvorlesung zu  machen:  „Dem  Freunde  Georg.  —  Nachdem 
Du  mich  entdeckt  hast,  war  es  kein  Kunststück,  mich  zu  finden: 
die  Schwierigkeit  ist  jetzt  die,  mich  zu  verlieren  .  .  .  der  Ge- 
kreuzigte." Auch  an  Strindberg  schrieb  er:  „Herrn  Strindberg! 
Eheu?  .  .  .  nicht  mehr  Divorgons?  .  .  .  Der  Gekreuzigte."  Es  ist 
nun  merkwürdig,  daß  so  viele,  die  Nietzsche  bekämpfen  und  be- 
klagen, ihn  gleichzeitig  ins  Zuchthaus  und  ins  Irrenhaus  weisen. 
Widerlegen  sie  sich  nicht  selbst?  Karl  Joel  findet  selbst  in  den 
letzten  privaten  schriftlichen  Äußerungen  Nietzsches,  soweit  er  sie 
kannte,  nichts  von  der  Katastrophe,  nichts,  das  den  Zusammenhang 
seiner  Geistesentwicklung  durchbricht  und  abreißt:  „Nennt  ihr's 
auch  Tollheit,  hat  es  doch  Methode  I"  Diese  Aufzeichnungen  nämlich 
sind  keineswegs  die  willkürlichen  Äußerungen  „eines  toll  gewor- 
denen Zuchthäuslers",  sondern  sie  lassen  sich  durch  weltgeschicht- 
liche Parallelen  psychologisch  rechtfertigen,  ja  sie  werden  geradezu 
lichtgebend  für  diese  Entwicklung  seines  Denkens,  deren  Konsequenz 
sie  offenbaren.  Im  Jahre  1888  schrieb  Nietzsche:  „Diese  Herren, 
die  keinen  Begriff  von  meinem  Zentrum,  von  der  großen  Leiden- 
schaft haben,  in  deren  Dienst  ich  lebe,  werden  schwerlich  einen 
Blick  dafür  haben,  wo  ich  bisher  außerhalb  meines  Zentrums  ge- 
wesen bin,  wo  ich  wirklich  exzentrisch  war!"  Dieses  Selbst- 
bekenntnis Nietzsches  ist  nicht  nur  zu  wahr,  es  ist  mehr:  es 
liefert  uns  erst  das  richtige  Kriterium  für  die  objektive  Beurteilung 
seines  Fühlens  und  Denkens.  Nietzsches  Zentrum  blieb  immer  die 
große  Leidenschaft :  Schwung  der  Begeisterung,  Enthusiasmus  ohne- 
gleichen, oft  geradezu  ein  Rauschtaumel  —  diese  Affekte  begleiten 
sein    Ringen    um    die  Wahrheit.    Dieser  Nietzsche    war   selbst   auf 


—     364     — 

jenem  Zettel  nicht  exzentrisch,  da  er  sich  Rohde  gegenüber  Dio- 
nysos nannte:  denn  diesen  Dionysos,  diesen  Seelengott,  diesen  Gott 
des  höchsten  Seelenaufschwungs,  fühlte  Nietzsche  in  sich  nach» 
Von  der  Zeit  der  „Geburt  der  Tragödie",  da  ihm  das  Dionysische 
erst  noch  wie  eine  Vision  erschien,  von  dieser  Zeit  an,  sage  ich, 
bis  zu  seinem  geistigen  Zusammenbruch  hat  er  ihn  gesucht  mit 
all  der  Inbrunst,  mit  der  ein  Mystiker  seinen  Gott  sucht,  meinte  er 
stets  seinen  Verwandlungen  auf  der  Spur  zu  sein.  Aber  als  echter 
Romantiker  mußte  er  immer  in  einem  anderen,  in  einem  Höheren 
als  er  selbst  war,  leben:  zuerst  war  die  klassische  Philologie  sein 
Ideal,  dann  Schopenhauer,  dann  Wagner  —  „an  allen  psychologisch 
entscheidenden  Stellen  von  Wagner  in  Bayreuth  ist  nur  von  mir 
die  Rede  —  man  darf  rückhaltslos  meinen  Namen  oder  das  Wort 
Zarathustra  hinstellen,  wo  der  Text  das  Wort  Wagner  gibt!"  — 
dann  Zarathustra  und  schheßlich  wieder  Dionysos.  Und  nachdem 
er  den  Orgiasmus  bis  zum  letzten,  höchsten  Aufschrei  der  Leiden- 
schaft durchlebt  hatte,  da  ihm  die  Seele  emporschwoll  bis  zum 
letzten  Ziele,  zur  Einheit  mit  dem  G-otte  —  da  war  er  am  Ende, 
da  barst  ihm  die  übervolle  Seele  im  müden,  kranken  Leib,  da  sank 
er  in  Nacht!  Wer  deswegen  Nietzsche  bekämpft  oder  ihn  verrückt 
schilt,  der  versteht  die  ganze  deutsche  Mystik  nicht,  deren  Ziel  es 
ist,  eins  zu  werden  mit  dem  Gotte,  der  versteht  die  Romantik 
nicht,  die  vom  Menschen  forderte  „Gott  zu  werden",  der  versteht 
auch  Piatons  diiolaöig  d^söo  nicht! 

Aber  ehe  der  Berauschte  entseelt  zu  den  Füßen  des  Gottes 
lag,  mit  dem  seine  Seele  eins  geworden  war,  nannte  er  sich  auch 
„der  Gekreuzigte"!  Vielleicht  ist  auch  dieser  letzte  Brief  und  auch 
diese  Unterschrift  nicht  ganz  so  wahnsinnig  als  man  gewöhnlich 
meint;  schließlich  sagte  er  doch  selbst:  „Es  ist  immer  auch  etwas 
Vernunft  im  Wahnsinn!"  Gedenkt  man  der  Christusparallelen,  die 
im  „Antichrist"  mehrfach  mit  besonderer  Sympathie  und  FeierUchkeit 
erklingen,  so  ergibt  sich,  daß  sie  ihm  tiefer  im  Sinne  lagen  als  er 
früher  verraten  hatte,  daß  sein  Verhältnis  zu  Christus,  das  man  nie 
gleichsetzen  darf  seinem  Verhältnis  zum  Christentume,  für  ihn  be- 
reits damals  ein  zwar  noch  fernes,  aber  doch  bereits  geahntes 
Mysterium  barg,  ein  Mysterium,  wo  Haß  und  Liebe,  Neid  und  Ehr- 
furcht, Widerspruch  und  Vorbild  verschmelzen  zu  einer  letzten  Ein- 
heit der  Gegensätze:    denn  Dionysos  war  in  einer  Person  der  Gott 


—     365     — 

des  tiefsten  Leidens  und  höchsten  Jauchzens,  Opferer  und  Opfer  in 
einer  Person,  der  ewig  Verwandelte  und  Wiedergeborene  — 
Nietzsches  Wesen  und  Lehre,  seine  eigene  Natur  und  sein  Ideal. 
So  sagte  er  selbst:  „Wer  an  sich  denkt,  denkt  im  Grunde  an  sein 
Ideal",  und  dieses  Ideal  sei  unser  Wesen,  ein  höheres  Wesen,  als 
wir  selbst  es  sind,  zu  schaffen.  Über  Parallelen  zwischen  Christus 
und  Dionysos,  wenn  nicht  gar  deren  Identifikation,  äußerte  sich 
Nietzsche  bereits  als  Philologe;  so  erschien  ihm  im  euripideischen 
Drama  Dionysos  eingeführt  als  „Gottessohn",  von  einer  irdischen 
Mutter  geboren  und  als  ein  in  den  Menschen  verwandelter  Gott, 
als  Gottmensch.  Und  der  dionysische  Mythos  zeigt  das  Martyrium 
des  Gottes,  sein  Sterben  und  seine  Auferstehung,  und  die  Orphik 
vertiefte  ihn  zu  einem  Tröster  der  Armen  und  Mühseligen  und  zu 
einem  Erlöser  der  sündigen  Menschheit.  Aus  diesem  Grunde 
nannte  er  das  Volk,  „das  die  Perserschlachten  schlug,  das  Volk 
der  tragischen  Mysterien".  Aber  da  dämmerte  im  Osten  die 
Lehre  des  Christentums  —  und  der  neue  Wein  ward  in  die  alten 
Schläuche  gegossen.  Wir  haben  schon  gehört,  mit  welcher  Anti. 
pathie  Nietzsche  dieser  neuen  Lehre,  deren  geistiges  Oberhaupt  ihm 
Paulus  ist,  gegenüberstand.  Und  so  wird  es  uns  begreiflich  er- 
scheinen, daß,  wenn  selbst  Hegel  nach  dem  Siege  des  Christentums 
als  des  tragischen  Mysteriums  über  die  antike  Welt  sagte,  daß  am 
Ende  der  alten  Welt  „Gott  gestorben  sei!",  Nietzsche  mit  derselben 
Herzensangst  wie  die  Alten  ihr  „der  große  Pan  sei  tot!"  sein  be- 
rühmtes „Gott  ist  tot!"  ausrief.  Es  war  das  damals,  als  der  Apostel 
Paulus  auf  dem  Areopag  zu  den  letzten  Ausläufern  griechischer 
Schulen  von  jenen  geheimen  Mächten  des  menschlichen  Herzens 
sprach,  die  unter  der  häßlichsten  Hülle  am  lebendigsten  glühen  und 
gegen  welche  alle  Schönheit  und  Pracht  leuchtender  Erden  doch 
nur  ein  Nichts  ist  —  da  beginnt  der  „Sklavenaufstand  der  Moral", 
den  Nietzsche  haßt,  weil  er  die  kaum  geborene  Welt  des  schönen 
Menschen  mit  alexandrinischem  Dunst  und  dogmatischen  Nebeln 
überzog.  Nun  konnte  Nietzsche  diesen  gestorbenen  und  wieder 
auferstehenden  Gott  wiederfinden  in  seinem  Dionysos,  der  die  Welt 
des  vorsokratischen  Griechentums  beherrschte.  Früh  schon  sprach 
er  davon,  wie  Dionysos  als  »der  zukünftige  Weltbeherrscher  als 
Kind  von  den  Titanen  zerstückelt  wird  und  wie  er  jetzt  in  diesem 
Zustand    als  Zagreus    zu  verehren  sei" ;    darauf  beruhe    der  Unter- 


-      366     — 

boden  des  ganzen  hellenischen  Kunstlebens.  Und  in  der  Tat  wurden 
im  tragischen  Mysterium  der  alten  Hellenen  die  Leiden  des  Gottes 
dargestellt:  die  Zerreißung  des  Gottes  gehörte  zum  Kultus  des 
Gottes;  denn  das  zerrissene  Opfertier,  womit  die  Zerreißung  ge- 
geben war,  stellte  die  Gottheit  dar,  und  seine  Verspeisung  galt  als 
mystische  Vereinigung  mit  der  Gottheit.  Vielleicht  darf  man  nun 
mit  Joel  Nietzsche,  den  Antichrist,  den  Mörder  Gottes  verstehen 
als  den  Orgiasten  in  jenem  Augenblick,  da  er  den  Gott,  mit  dem 
er  sich  eins  fühlt,  zerreißt.  Begründet  wäre  diese  Ansicht 
durch  die  religiöse  Erfahrung  der  Menschheit,  die  tiefe  Mystik 
aller  Zeiten  und  ganz  besonders  durch  Nietzsches  Lebens- 
bekenntnis zu  Dionysos:  „Ein  (das)  Kreuz  mit  Rosen 
umhüllt  (dicht  umschlungen),  wie  Goethe  in  den  Geheim- 
nissen", heißt  es  ahnungsschwer  in  einem  Nachlaßfragment 
zur  „Geburt  der  Tragödie".  Ganz  besonders  aber,  wenn  wir 
lesen:  „Die  Musik  als  Nachklang  von  Zuständen,  deren  begriff- 
licher Ausdruck  Mystik  war  ...  die  Versöhnung  der  inneren  Gegen- 
sätze zu  etwas  Neuem,  Geburt  des  Dritten!"  Dieser  Ausdruck 
aber  ist  nichts  anderes  als  die  eleusische  Formel  für  das  Erleben 
des  Dionysos,  der  rglrog  ^^6og  genannt  wurde^).  Und  aus  welch 
anderem  Grunde  hätte  dieser  selbe  Nietzsche  von  der  „Geburt  der 
Tragödie"  1886  geschrieben:  „Sie  war  ein  Zwiegespräch  mit  dem 
Künstler  R.Wagner",  aber  auch  mit  sich  selbst:  „Wer  bist  du? 
Wer  bin  ich?  An  welche  Aufgabe  wagte  ich  bereits  mit  diesem 
Buche  zu  rühren?  .  .  .  Dionysos  redete  zu  mir!"  wenn  nicht 
Dionysos  stets  sein  tiefstes  Erlebnis  gewesen  wäre? 


1)  Cf.  p.  160/6L 


XXIII.  DER  MYSTIKER  NIETZSCHE. 

Damit  aber  haben  wir  eine  Seite  in  Nietzsches  Wesen  berührt, 
die  m.  E.  bisher  noch  viel  zu  wenig  gewürdigt  worden  ist:  seinen 
ausgesprochenen  Hang  zum  Mystizismus;  der  gegen  das  Ende 
seines  Schaffens  von  seinem  Denken  und  Fühlen  immer  mehr  und 
mehr  Besitz  nimmt.  Die  Prädisposition  zu  dieser  seiner  Mystik  er- 
blicke ich  in  seiner  Abstammung  aus  einer  evangelischen  Theologen- 
familie und  in  seiner  sublimen  Vorliebe  für  das  Hellenentum, 
respektive  das  Instinktmäßige,  Dunkle  in  ihm'). 

Das  Wort  Mystik  wird  abgeleitet  von  dem  Verbum  hvslv^ 
das  heißt  die  Augen  schließen,  um  wachen  Geistes  zu  schauen 
und  sich  in  das  eigene  Wesen,  die  Innenwelt  zu  versenken.  Der 
Mystiker  glaubt  an  eine  innere  Erleuchtung  und  an  ein  über- 
irdisches Licht:  er  will  Gott  schauen  in  dem  hellen  Scheine, 
der  von  obenher  in  seine  Seele  fällt.  So  heißt  es  im  36.  Psalm: 
„In  deinem  Lichte  sehen  wir  das  Licht."  Von  allem  Äußeren  ab- 
gekehrt, ganz  sich  und  der  Kontemplation  hingegeben,  sehnt  sich 
die  Seele  nach  Erleuchtung  und  will  durch  intellektuelle  An- 
schauung das  Licht  ergreifen,  das  ihr  ein  Gott,  der  in  sie  eintritt, 
spendet.  Hat  sie  dies  gewonnen,  genießt  sie  „tiefsten  Kuhens 
Glück"  (PlotinEnn.  V,  3,  17).  Der  Mystiker  ist  überzeugt,  daß  seine 
Seele  ein  Wesen  für  sich,  eine  Hypostase  ist  und  nur  als  Gast 
im  irdischen  Leibe  wohnt;  daher  macht  „die  ekstatische  Erhebung 
der  Seele  zu  der  Empfindung  der  eigenen  GöttUchkeit  die  innerste 
Kegung  aus";  daher  der  Glaube  des  Mystikers,  daß  ihm  auf  Momente 
wirklich  und  ohne  Wahn  mit  dem  Leben  der  Gottheit  zu  leben 
nicht  versagt  ist.  Aber  um  zu  dem  ewigen  Leben,  zu  der  Gemein- 
schaft mit  dem  Göttlichen  und  Reinen  und  Einsgestaltigen  zu 
kommen,  ist  eine  Umwendung  der  Seele  erforderlich,  eine  Ab- 
wendung von  dieser  Welt:    da  wachsen  der  Seele  Flügel,    und  um 


J)  Cf.  p.  166/67. 


—     368     — 

Gott  von  Angesicht  zu  Angesicht  zu  schauen,  wird  der  Mystiker 
göttUch  und  versetzt  sich  in  Gott.  In  diesem  Sinne  hat  Rohde  in 
seiner  „Psyche"  «die  Verse  eines  nicht    genannten  Dichters  zitiert: 

„Darein  ich  mich  versenke, 
das  wird  rait  mir  zu  eins; 
ich  bin,  wenn  ich  ihn  denke, 
wie  Gott,  der  Quell  des  Seins." 

So  wie  daher  Plotin  die  Idee  des  höchsten  Guten  nicht  als 
ein  Gegenstand  des  größten  Wissens,  als  ein  (liycörov  ^ccd^rj(ia, 
erscheint,  sondern  als  ein  Gegenstand  des  intensivsten  Schauens, 
so  „ließ"  auch  Nietzsche,  um  Plotins  Worte  zu  gebrauchen,  „alles 
Wissen  fahren  und,  bis  hieher  geleitet,  denkt  er  bis  zu  dem  Punkte, 
auf  dem  er  sich  befindet;  plötzlich  schaut  er,  ohne  zu  wissen  wie, 
sondern  das  Schauen  füllt  die  Augen  mit  Licht  und  läßt  sie  nicht 
ein  anderes  sehen,  sondern  das  Licht  selbst  ist  das  Objekt  des 
Schauens"  (Enn.  VI,  7,  36).  Aber  dieses  Schauen  ist  noch  nicht 
das  Letzte  und  Höchste.  Soll  es  zur  Vereinigung  mit  Gott  kommen, 
muß  das  Schauen  über  das  Schauen  hinausgehen:  es  muß  eine 
Ekstase  werden,  eine  Hingabe  seines  Selbst,  ein  Suchen  und  Sinnen 
auf  Vereinigung  (ixeraöig  xal  inidoöig  avxov  xal  icpseig  ^Q^S  &(p^v 
xal  ötdöLs  xal  nsQivörjöig  Jtgbg  icpaQiioyriv;  Enn.  VI,  9,   11). 

Nun  sind  wir  leider  über  das  Wesen  der  griechischen 
Mysterien  viel  zu  wenig  unterrichtet;  auf  zerstreute  Andeutungen 
bei  verschiedenen  Autoren  —  die  Mysten  haben  im  strengsten 
Sinne  des  Wortes  Schweigepflicht  geübt!  —  sind  wir  angewiesen 
und  können  uns  daher  nur  einen  schwachen  Begriff  davon  machen. 
Karl  du  Prel  („Die  Mystik  der  Griechen")  berichtet:  „In  einem  dem 
Plutarch  zugeschriebenem  Fragment  bei  Stobäus  ist  davon  die  Rede, 
daß  die  mit  der  Einweihung  verknüpfte  Seligkeit  nicht  sofort  er- 
reicht werde;  zuerst  finde  langes  Umherirren  statt,  beschwer- 
liche Wege,  und  aus  einem  gewissen  Dunkel  verdächtige  und  zu 
keinem  Ausgang  führende  Wege;  dann,  vor  dem  Ende  selbst,  alles 
Furchtbare,  Schauer,  Zittern,  Angstschweiß  und  Entsetzen.  Sodann 
aber  kommt  eine  wundervolles  Licht  dem  Einzuweihenden  ent- 
gegen, glänzende  Auen  mit  Stimmen  und  Chortänzen,  ehrwürdige 
Laute  und  göttliche  Erscheinungen.  Dann  erst  begeht  der  Ein- 
geweihte, frei  geworden,  entlassen  umhergehend  und  gekrönt,  die 
eigentliche  Feier.  Er  geht  sodann  mit  heiligen  und  reinen  Menschen 


—     369     — 

um."  Das  Wesen  der  Seele  wird  also  in  diesen  Mysterien  als  gött- 
lich erlebt,  empfunden  und  geschaut;  sie  vereinigt  sich  mit  Gott. 
„Tiefere  Naturen",  sagt  Reitzenstein,  „suchen  von  früh  an  in  dem 
Mysterium  neue  Erkenntnis  und  Steigerung  der  Göttlichkeit  des 
eigenen  Ichs  .  .  .  der  Myste  schaut  nicht  bloß,  was  Osiris  er- 
lebt hat,  sondern  er  erlebt  es  selbst  und  wird  dadurch  Osiris." 
Ganz  merkwürdig  aber  ist  der  Bericht  des  Historikers  Zosimos :  Die 
alten  Hellenen  sollen  geglaubt  haben,  daß  dieser  Mysterienkult 
dazu  diene,  das  ganze  Menschengeschlecht  als  eine  Einheit  zu- 
sammenzuhalten. Was  bedeutet  diese  merkwürdige  Mitteilung? 
So  viel  ist  aber  klar,  daß  die  alten  Hellenen  den  Pessimismus, 
von  dem  wir  seinerzeit  sprachen,  durch  ihre  Flucht  ins  Transzen- 
dente, in  die  religiöse  Mystik,  zu  überwinden  verstanden  haben: 
das  ist  der  Kult  der  orphischen  Mysterien,  der  sich  hauptsächhch 
um  die  Person  des  Dionysos  konzentrierte.  Durch  Platoji  wurde  er 
sodann  ein  integrierender  Bestandteil  der  griechischen  Geisteswissen- 
schaft. Indes  besteht  der  Gegenstand  dieses  Denkens  gewiß  ver- 
möge der  Höherwertung  der  transzendenten,  immateriellen  Welt  in 
einer  Abkehr  von  dieser  materiellen,  daher  diese  ganze  Lebens- 
anschauung pessimistisch  ist,  insoweit  die  Wertung  des  irdischen 
Lebens  in  Betracht  gezogen  wird.  Erwägt  man  aber,  daß  dieses 
irdische  Leben  nichts  anderes  als  nur  ein  kleiner  Ausschnitt  aus 
dem  Gesamtdasein  der  menschlichen  Seele  ist,  die,  ewig  wie  sie  ist, 
aus  der  göttlichen  Sehgkeit  stammt  und  in  sie  zurückzukehren  hat, 
so  hegt  in  dem  Gedanken,  daß  die  Seele  alle  Kraft  zur  Erlösung 
aus  sich  selbst  schöpft,  einer  der  Hauptunterschiede  zwischen 
Hellenentum  und  Christentum,  bei  welchem  die  Erlösung  ein  Akt 
der  göttlichen  Gnade  ist.  Dieser  Gedanke  der  hellenischen  Selbst- 
erlösung ist  echt  sokratisches  Erbgut,  basiert  auf  die  Autarkie, 
mag  auch  der  Neuplatonismus  die  Betrachtung,  durch  die  man  sich 
zum  GöttUchen  erhebt,  ähnlich  wie  später  Schopenhauer  die 
Kontemplation,  als  Allheilmittel  gegen  die  Schwere  des  Lebens 
empfehlen.  Das  echte,  alte,  vom  orientahschen  Dualismus  noch  nicht 
angekränkelte  Hellenentum  hat  den  Pessimismus  wirklich  überwunden, 
es  fand  die  Kraft  in  sich,  sich  in  die  Wirklichkeit  des  Lebens  zu 
schicken,  „sterblich  gesinnt  zu  sein"  und  bei  aller  Schwere  „die 
Notwendigkeit  zu  lieben"  (cf.  Eurip.  Frgm.  1075 :  y,d'vrizbg  yicQ  dv  xal 
d^vrizic    Tislösö&ai    döxstl").    Damit    deckt    sich    die  Gesinnung,    die 

G  r  i  e  ß  e  r,  Wagner  und  Nietzsche,  24 


—     370     — 

Nietzsche  im  Anschluß  an  die  Antike  und  an  Spinozas  „amor 
intellectuaUs  dei"  „amor  fati"  genannt  hat:  „die  Bejahung  des 
ganzen,  nicht  verleugneten  und  halbierten  Lebens". 

Aus  unserer  bisherigen  Darstellung  läßt  sich  als  ziemlich  fest- 
stehend entnehmen:  1.  daß  die  Mysterien  der  den  Hellenen  an- 
geborenen lebenbejahenden;  den  Pessimismus  verneinenden  Welt- 
anschauung ihren  Ursprung  verdanken;  denn  weswegen  hätte  sich 
sonst  der  Kult  um  die  Person  des  Dionysos  als  des  Gottes  des  sieg- 
reichen Lebens  konzentriert?  2.  daß  die  Mysten  sich  feierlich  zu 
einer  heiligen  G-emeinschaft^)  zusammenschlössen,  demnach  also 
eine  in  desWortes  ursprünglichstem  Sinne  katholisierende  Tendenz 
vertraten.  Daraus  erhellt  aber  auch,  daß  sich  mit  Hilfe  der  Magie 
Theurgie,  Telestik,  des  Spiritismus  oder  gar  Okkultismus  das  Wesen 
der  Mystik  nicht  begreifen  läßt.  Aber  auch  als  eine  Art  dionysischen 
Rausches  dürfen  wir  sie  nicht  auffassen  und  rationalistisch  deuten. 
Auch  der  Materialist  oder  Monist  werden  einem  Mystiker  nie  und 
nimmer  gerecht  werden  können.  Beweis  dafür  ist,  daß  der  Mystiker 
Nietzsche  kurzerhand  als  Narr,  als  irrsinnig  erklärt  wird  und  dieses 
Märchen  von  Gebildeten  wie  von  Laien  mit  Überzeugung  nach- 
gebetet wird. 

Zu  dieser  Art  Mystik,  wie  sie  wissenschaftUch  durch  Plotin 
vertreten  wurde,  gesellte  sich  noch  die  christliche,  welche  die  unio 
mystica  durch  den  Gehorsam  gegen  Gott,  durch  den  Glauben  an 
Gott,  durch  die  Liebe  zu  Gott,  durch  Christus  lehrte.  Aber  noch 
viel  später,  jedenfalls  unter  dem  Einflüsse  indischer  Dogmatik, 
wurde  die  Identität  des  Mystikers  mit  Gott  als  eine  wechselseitige 
Beziehung  aufgefaßt:  die  mystische  Erfahrung  kann  entweder  die 
Erkenntnis  sein,  daß  Gott  ich  ist,  oder  die  Erkenntnis,  daß  ich  Gott 
bin.  Die  Wahrheit  dieser  beiden  Erkenntnismöglichkeiten  ist  jedoch 
die  eine,  daß  das  Absolute  weder  Gott  ist  noch  ich.  Und  wenn  es 
die  Voraussetzung  aller  Mystik  ist,  daß  die  Erkenntnis  der  Wahr- 
heit zugleich  auch  die  erlösende  Erkenntnis  ist,  so  folgt,  daß  in 
der  mystischen  Einigung  Gott  ebenso  von  seinem  Gottsein  erlöst 
wird,  wie  ich  von  meinem  Ichsein.  Gott  und  ich  sind  jetzt  Wechsel- 


^)  Cf.  die  Gralsbrüderschaft  im  „Parsifal"!  Und  ist  schließlich  nicht 
auch  die  „alleinseligmachende"  katholische  Kirche  mit  ihrer  Forderung 
nach  einer  Herde  mit  einem  Hirten  solch  ein  Verein  von  Mysten,  die 
sich  um   das  heilige  Wunder-Mysterium  der  Transsubstantiation  scharen? 


—     371     — 

begriffe;  ihrer  beider  absolute  Setzung  beruht  auf  der  gleichen  Ver- 
kennung ihrer  Identität;  aber  es  ist  ja  auch  wirkUch  dasselbe  Ich- 
gefühl, das  bald  in  einem  Menschenleibe  als  Individual-Ich,  bald  in 
der  Welt  der  andern  Dinge  als  Welt-Ich  ausgesagt  wird:  Gott  und 
das  Ich  haben  also  nur  eine  relative,  wechselseitig  durch  einander 
bedingte  Existenz :  sie  sind  nicht  an  sich,  sondern  nur  für  einander. 
Vielleicht  dürfen  wir  in  diesem  Sinne  Nietzsches  früher  zitierten 
Ausspruch:  „Wenn  es  Götter  gäbe,  wie  hielt  ich's  aus,  kein  Gott  zu 
sein!  ....  Also  gibt  es  keine  Götter!",  verstehen,  wenn  wir  mit 
Georg  Simmel  annehmen,  daß  Nietzsche  mit  diesen  Worten  nur  ein 
Gefühl  in  die  Form  des  höchsten  Personalismus  gebracht  hat,  das 
in  anderer  Form  auch  christlichen  Strömungen  des  Innenlebens 
durchaus  nicht  fern  geblieben  ist.  Denn  im  Christentum  lebt  neben 
allem  unendlichen  Abstand  aller  Niedrigkeit  gegen  Gott  doch  das 
Ideal,  ihm  gleich  zu  werden  —  ein  Derivat  aus  der  früher  er- 
wähnten platonischen  S^oCcjöig  &£&,  Verähnlichung  mit  Gott.  Und 
dieses  Ideal  mündet  in  die  Sehnsucht,  die  durch  die  Mystik  aller 
Zeiten  und  Religionen  geht:  mit  Gott  völlig  eins  zu  werden  oder, 
mit  dem  kühnsten  Ausdruck:  Gott  zu  werden.  Von  der  „deificatio" 
redet  die  Scholastik,  für  Meister  Eckhardt  kann  der  Mensch  seine 
Kreatürlichkeit  aufheben  und  wieder  zu  Gott  werden,  wie  er  es 
seinem  eigentUchen  und  ursprünglichen  Wesen  nach  ist,  oder  wie 
es  Angelus  Silesius  ausdrückt: 

„Soll  ich  mein  letztes  End'  und  ersten  Anfang  finden, 
so  muß  ich  mich  in  Gott  und  Gott  in  mir  ergründen 
und  werden  das,  was  er." 

Es  ist  das  diese  selbe  Leidenschaft,  die  auch  Spinoza  und 
Nietzsche  erfüllt:  sie  können  es  nicht  ertragen,  nicht  Gott  zu  sein. 
Beide  aber  hegen,  wie  auch  jene  frühe  deutsche  Mystik,  die  Voraus- 
setzung, daß  die  Individualität,  das  Für-sich-sein,  die  Besonderheit, 
sich  nicht  mit  der  Universalität,  dem  Allsein,  dem  Göttlichen  ver- 
tragen. Und  von  diesen  beiden  Motiven  aus  schUeßt  Spinoza  im 
Sinne  der  Mystik  und  völUg  konsequent:  also  gibt  es  keine  Be- 
sonderheit. Denn  in  der  Tat:  wenn  es  nur  Gott  gibt,  wenn  die 
Individualität  der  Wesen  eine  bloße  negatio  —  ein  Nichts  ist,  so 
ist  sie  nicht.  Und  damit  ist  erreicht,  daß  das  menschUche  Wesen 
Gott  ist.  Deshalb  heißt  es  bei  Angelus  Silesius  im  „Cherubinischer 
Wandersmann" : 

24* 


~     372     — 

„Gott  ist  wahrhaftig  nichts;  und  so  er  etwas  ist, 
so  ist  er  's  nur  in  mir,  wie  er  mich  Ihm  erkist  .  .  . 
ich  weiß,  daß  ohne  mich  Gott  nicht  ein  Nu  kann  leben, 
werd  ich  zu  nicht,  er  muß  vor  Not  den  Geist  aufgeben  .  .  . 
nichts  ist  als  Ich  und  Du:  und  wenn  wir  zwey  nicht  sein, 
so  ist  Gott  nicht  mehr  Gott,  und  fällt  der  Himmel  ein." 
Ich  meine  nun,  daß  der  obzitierte  Ausspruch  Nietzsches  dem- 
nach durchaus  keine  krankhafte  Ausgeburt  seines  Größenwahns  ist, 
sondern    die    einzig  mögliche  letzte    und   feinste    Konsequenz    des 
idealistischen,   ja    solipsistischen  Charakters    seiner  mystischen    Er- 
fahrung.   Den  ganzen  „Zarathustra"  denke  ich  mir  als  im  Zustande 
mystischer  Ekstase  geschaffen;  berichtet  doch  der  Autor  selbst   im 
„Ecce  Homo",    daß   man    „mit    dem    geringsten    Keste    von  Aber- 
glauben  in    sich    die    Vorstellung,  bloß   Inkarnation,    bloß  Medium 
übermächtiger  Gewalten    zu  sein,    kaum   abweisen  würde.    Deshalb 
sei  seine    Inspiration    ein    vollkommenes  Außer-sich-sein    mit   dem 
distinktesten  Bewußtsein    einer  Unzahl  feiner  Schauder   und  Über- 
rieselungen   bis  in    die  Fußzehen;    alles    geschehe    wie    in    einem 
Sturme  von  Göttlichkeit." 

Gerade  diese  TJmbiegung  des  christlichen  Mystizismus  in  einen 
hellenischen,  respektive  ihrer  beider  Verquickung  ist  es,  wie  wir 
im  folgenden  noch  genauer  zeigen  werden,  was  Nietzsche  mit 
Goethe  und  Wagner  als  wesensverwandt  erscheinen  läßt.  Allerdings 
vertrat  Wagner  nur  in  der  Frühzeit  seines  Schaffens,  ganz  besonders 
im  „Tristan",  einen  hellenisch,  also  optimistisch  gefärbten  Mystizis- 
mus; denn  der  „Parsifal",  sein  mystischestes  Drama,  ist  ganz  und 
gar  nur  von  christlicher  Mystik  und  Symbolik  erfüllt.  —  Ich  darf 
wohl  Goethes  „dunkles"  Gedicht  „Die  Geheimnisse'*  als  bekannt 
voraussetzen:  ein  Pilger  naht  nach  langer  Wanderung  einem  Tale, 
sieht  dort  das  Kreuz  der  Erlösung   und  schlägt  die  Augen   nieder: 

„Er  fühlet  neu,  was  dort  für  Heil  entsprungen, 

den  Glauben  fühlt  er  einer  halben  Welt; 

doch  von  ganz  neuem  Sinn  wird  er  durchdrungen, 

wie  sich  das  Bild  ihm  hier  vor  Augen  stellt: 

Es  steht  das  Kjreuz  mit  Rosen  dicht  umschlungen^). 

Wer  hat  dem  Kreuze  Rosen  zugesellt? 

Es  schwillt  der  Kranz,  um  recht  von  allen  Seiten 

das  schroffe  Holz  mit  Weichheit  zu  begleiten." 

1)  Dieses  mit  Rosen  umwachsene  Kreuz  deutet,  wie  der  ganze  Inhalt 
der  zur  Ausführung  gekommenen  Strophen  zeigt,  auf  Gottergebenheit  und 


—     373     — 

Ist  es  nun  nicht  mehr  als  ein  bloßer  Zufall,  daß  Wagner  sein 
Werk  „Die  Kunst  und  die  Revolution"  mit  den  bedeutsamen  Worten 
schließt:  „So  würde  uns  denn  Jesus  gezeigt  haben,  daß  wir 
Menschen  alle  gleich  und  Brüder  sind:  Apollon  aber  würde  diesem 
großen  Brüderbunde  das  Siegel  der  Stärke  und  Schönheit  auf- 
gedrückt, er  würde  den  Menschen  vom  Zweifel  an  seinem  Werte 
zum  Bewußtsein  seiner  höchsten  göttUchen  Macht  geführt  haben. 
So  laßt  uns  denn  den  Altar  der  Zukunft,  im  Leben  wie  in  der 
lebendigen  Kunst,  den  zwei  erhabensten  Lehrern  der  Menschheit 
errichten:  Jesus,  der  für  die  Menschheit  litt,  und  Apollon,  der  sie 
zu  ihrer  freudenvollen  Würde  erhob." 

Der  „letzte"  Nietzsche,  der  sich  mit  Dionysos,  der  sich  mit  dem 
Gekreuzigten  identifiziert,  geht  nun  dieselben  Gedankengänge  wie 
Goethe  und  Wagner.  Auch  er  wollte  die  Bekenner  des  Christentums, 
denen  Gott  in  ihrer  Schwäche  ihre  Stärke  gab,  zu  einer  Religion 
der  Zukunft  erziehen,  welche  die  bestehenden  inneren  Gegensätze 
zwischen  christlich-pessimistischer  Weltbetrachtung  und  griechisch- 
optimistischer Lebensbejahung  durch  etwas  Neues,  durch  „Die 
Geburt  des  Dritten"  ausgesöhnt  hätte.  Das  wollte,  wenn  wir  uns  an 
die  frühere  Darstellung  erinnern,  der  Ästhetiker  Nietzsche.  Denn 
bei  aller  Verhöhnung  des  Christentums  und  trotz  mancher  bitterer 
Ausfälle  gegen  den  Stifter  desselben  —  aber  „nie  sollteneinzelne 
schroffe  Äußerungen  dieses  vornehmen  und  feinfühlenden 
Mannes  das  Gesamtbild,  das  wir  uns  von  ihm  machen, 
beherrschen!"  (Eucken)  —  erblickte  Nietzsche  in  der  Gestalt  des 
Heilandes  immer  das  höchste  Symbol  edelsten  Menschentums.  So 
können  wir  bei  ihm  wörtlich  lesen:  „Im  Grunde  gab  es  nur  einen 
Christen,  und  der  starb  am  Kreuze.''  —  (Von  höchstem  Interesse 
ist  aber  eine  Tagebuchnotiz  aus  dem  Jahre  1881 :  „Gegen  die 
Vergangenheit  gerecht  sein,  sie  wissen  wollen,  in  aller  Liebe !  Hier 
wird  unsere  Vornehmheit  auf  die  höchste  Probe  gestellt!  Ich  merke 
es,  wer  mit  rachsüchtigem  Herzen  vom  Christentum  redet''  —  hier 
bricht  die  Notiz  ab;  was  hat  er  noch  sagen  wollen?  Auf  dem  Zettel 
findet  sich  nur  noch  das  Wort:    „das   ist  gemein".     Dann  heißt  es 


Selbstüberwindung,  wie  sie  im  vollen  Maße  erst  das  Christentum  in  die 
Welt  brachte,  aber  geeint  mit  dem  Sinn  für  die  Schönheit  und  Fülle  des 
Lebens,  an  dessen  Aufgaben  der  Mensch  jene  höchsten  Vorzüge  zu  be- 
währen hat. 


—     374     — 

wieder:  „Es  geschah  spät,  daß  ich  dahinter  kam,  was  mir  eigentlich 
noch  ganz  und  gar  fehle:  nämlich  die  Gerechtigkeit!")  Und 
wenn  er  an  Jesus  das  Lachen  vermißt,  wenn  er  nicht  müde  wird, 
seine  höheren  Menschen  das  Lachen  zu  lehren,  so  kann  das,  wenn 
ich  Nietzsche  richtig  verstehe,  nichts  anderes  heißen  als  die  Er- 
richtung eines  neuen  höchsten  Symbols  in  dem  der  Überschuß 
an  Bereitwilligkeit  zur  Lebensverneinung  ersetzt  werden  soll  durch 
Lebensbejahung.  So  bliebe  das  Kreuz  als  das  Zeichen  der  Erlösung 
gewahrt,  nur  wäre  es  mit  Kosen  umwunden,  d.  h.  das  „Dritte 
Testament"  würde  den  starken,  körperlich  und  seelisch  vollendet 
schönen,  heiteren,  reinen  Menschen,  den  „Menschen  mit  der  Rosen- 
krone",  verkünden,  der  an  Stelle  des  armen,  verspotteten  Hauptes 
mit  der  Dornenkrone  treten  sollte. 

M.  E.  nämlich  entsprachen  dem  ästhetischen  Gefühle  Goethes, 
Wagners  und  Nietzsches  nicht  die  Anschauungsmomente,  die 
sichtbar-sinnlichen  Schmerzensvorgänge,  mit  denen  das  Leiden  und 
Sterben  Jesu  Christi  von  einer  Richtung  des  Christentums  in  den 
Vordergrund  gestellt  worden  war  als  dessen  wesentlichstes  Moment. 
Daher  bezeichnete  Goethe  in  seinem  „berühmten"  Briefe  an  Zelter 
vom  9.  Juni  1831  das  Kreuz  als  „das  leidige  Marterholz,  das  Wider- 
wärtigste unter  der  Sonne".  Und  in  den  „Wanderjahren"  heißt  es: 
„Wir  halten  es  für  eine  verdammungswürdige  Frechheit,  jenes^ 
Martergerüst  und  den  daran  leidenden  Heiligen  dem  Anblick  der 
Sonne  auszusetzen,  die  ihr  Angesicht  verbarg,  als  eine  ruchlose 
Welt  ihr  dies  Schauspiel  aufdrang."  Es  ist  klar,  daß  die  Ablehnung 
nicht  dem  frommen  Menschen  Christus  gilt,  sondern  der  Gepflogen- 
heit, die  blutigen  Zeichen  der  körperlichen  Schmerzen  eines 
Heiligen  in  den  Vordergrund  zu  drängen,  ja  der  Welt  aufzudrängen. 
In  diesem  Sinne  enthält  daher  auch  der  Schluß  des  „Faust",  in 
dem  Goethe  zu  christhchen  Symbolisierungen  griff,  die  Zusammen- 
fassung künstlerischer,  religiöser  und  sozialer  Elemente:  sie  fließen 
in  der  Dichtung  in  eins  zusammen,  so  wie  sich  Kreuz  und  Rose, 
Griechentum  und  Christentum  ergänzend  ausgleichen  sollen.  Darum 
findet  der  schöpferische  Mensch  dieses  reinen  Zu  Standes  gleich 
Nietzsche  sein  Glück  in  seinem  Werk! 

Ich  betone  es  aber  ausdrücklich,  daß  die  im  vorigen  vor- 
gebrachten Anschauungen  meine  persönliche  Überzeugung  sind, 
für  die  ich   den    wissenschaftlichen  Wahrheitsbeweis    hier,    weil  es 


—     375     — 

den  gezogenen  Rahmen  dieses  Buches  weit  überschreiten  würde, 
nicht  erbringen  kann;  allein  ich  hoffe,  daß  dadurch  ein  anderer 
sich  angeregt  fühlen  wird,  das  hier  aufgerollte  Problem  einer 
wissenschaftlich  tiefgründigen  Untersuchung  zu  unterziehen,  von 
der  ich  mir  sehr  viel  verspreche.  Projizieren  wir  nämlich  das,  was 
von  den  griechischen  Mysterien  gesagt  worden  ist,  in  Goethes 
„Paust",  in  Wagners  „Parsifal"  und  in  Nietzsches  Schaffen  —  ich 
verstehe  darunter  sein  ganzes  Lebenswerk,  bis  zu  dem  berühmten: 
„Singe  mir  ein  neues  Lied;  die  Welt  ist  verklärt  und  alle  Himmel 
freuen  sich"  —  „dem  Lichte  zu  —  deine  letzte  Bewegung;  ein 
Jauchzen  der  Erkenntnis  —  dein  letzter  Laut ! "  —  so  offenbart  sich 
uns  ein  einziges  gewaltiges  Mysterium.  Faust,  Parsifal  und  der 
Übermensch:  alle  drei  wandeln  sie  des  Leidens  und  der  Irrnis 
Pfade;  von  allen  dreien  gilt  das  Wort:  „Nur  wer  strebend  sich  be- 
müht, den  können  wir  erlösen."  Freilich,  als  Ganzes  wird  man  die 
reifsten  Geisteswerke  Goethes,  Wagners  wie  Nietzsches  nicht  so 
sehr  durch  Kommentare  erfassen,  sondern  einzig  und  allein  durch 
eigenes  Nacherleben.  Da  können  wir  dann  in  uns  jene  „innere 
Bühne"  aufbauen,  die  an  traumtiefer  Schönheit  alles  hinter  sich 
läßt,  was  die  wirkliche  bieten  kann,  dann  versinken  wir  in  einen 
Zustand,  der  sich  am  besten  als  „Urzeitstimmung"  bezeichnen  ließe ; 
allerdings  ist  jede  Mitteilbarkeit  über  dieses  innere  Erleben  ganz 
ausgeschlossen.  Aber  freudig  wollen  wir  mit  dem  Dichter  ausrufen: 
^  Blüte  der  Menschheit  bist  du,  Heidentum,  wenn  du  ihr  den 
Himmel  aufschließest  aus  der  Welt.  Aber  auch  Blüte  der  Mensch- 
heit bist  du,  Jesus,  wenn  du  ihr  die  Welt  aufschließest  erst  aus 
dem  Himmel!" 


XXIV.  DAS  DIONYSOSIDEAL  —  ISOLDENS  „LIEBES- 
TOD^'  —  GOETHE  —  BEETHOVEN. 

Nachdem  wir  im  Verlaufe  unserer  Abhandlung  bis  zu  diesem 
Höhepunkte  der  Betrachtung  gelangt  sind,  ergibt  sich  für  uns  als 
wichtigste  Aufgabe,  alle  bisherigen  Ergebnisse  zu  Nietzsches  Lebens- 
ideal, das  er  Dionysos  nannte,  in  Beziehung  zu  setzen.  Denn  ob- 
gleich wir  es  bis  jetzt  noch  nicht  direkt  ausgesprochen  haben, 
bildet  die  Konzeption  dieses  Lebensideals  die  Krönung  des  Lebens- 
werkes dieses  einzigartigen  Denkers.  Gleichwohl  aber  wurde  wieder- 
holt schon  darauf  hingewiesen,  daß  das  ungeheure  Problem,  das  sich 
hinter  diesem  Namen  verbirgt,  für  Stekel  und  Konsorten  ein  Buch, 
verschlossen  mit  sieben  Siegeln,  ist  und  bleibt,  in  welcher  Behaup- 
tung wir  durch  die  Tatsache  bestärkt  wurden,  daß  die  Interpretation 
des  Dionysos  als  eines  Gottes  oder  Schutzpatrones  der  Hysterischen 
geradezu  unsinnig  ist.  Denn  Nietzsche  war  durchaus  nicht  jener 
Hysteriker  oder  Paranoiker,  als  der  er  uns  so  gerne  hingestellt 
wird;  es  müßte  denn  sein,  daß  man  auch  den  letzten  großen 
Griechen  des  deutschen  Volkes,  Goethe,  mit  demselben  ehrenden 
Epitheton  belegt.  Und  in  der  Tat:  die  Konzeption  dieses  Ideals, 
der  ekstatische  Glaube  an  seine  weltumspannende  und  weltumge- 
staltande  Macht  entsprang  einzig  und  allein  Nietzsches  tiefem 
Griechenheimweh :  er  war,  worauf  wir  schon  wiederholt  hinzuweisen 
die  Gelegenheit  hatten,  ein  echt  antik  empfindender  Mensch  mit 
jener  aristokratisch-vornehmen  Gesinnung,  von  der  die  edelsten 
Vertreter  des  klassischen  Hellenentums  beseelt  waren.  Das  erhellt 
am  deuthchsten  aus  seiner  Stellung  zur  klassischen  Philologie: 
Nietzsche  lehrte  sie  nicht  bloß,  er  lebte  sie!  Und  in  diesem  Sinne 
war  er  mehr  Grieche  als  Goethe,  der  die  ganze  Antike  im  Grunde 
genommen  doch  nur  mehr  oder  weniger  vom  Standpunkte  des 
Ästheten  betrachtete  und  mit  seiner  „Iphigenie"  alles  andere  eher 
schuf  als  ein  Griechenweib.     So    hatte  Lessing   durchaus   nicht  un- 


—     377     — 

recht,    als    er   gelegentlich    der  Wielandschen  Bearbeitung  der  Euri- 
pideischen  „Alkestis",    die  Goethe   in   seiner  Farce  „Götter,  Helden 
und  Wieland"    scharf    und    leidenschaftlich    angegriffen    hatte,    die 
Äußerung  tat,    Goethe  verstünde    von   der  Antike  noch  weniger  als 
Wielaud.     Aber   bezeichnend   für    Nietzsches    Stellung    zu    Goethe, 
diesem  Einzigen,    den  er   Zeit  seines  Lebens  aus    ganzer  Seele  ver- 
ehrte, um  dessentwillen    er  Deutschland    lieben  mußte,    den  er  nie- 
mals   angriff,    ist   es,    daß    er   unter    dem  Namen    oder  der  Person 
Goethes  die  Totalität  des  Seins,  das  spezifisch  Griechisch-Heidnische 
verehrte:    den  Geist,  der  sich  zur  Freiheit   durchgerungen  hat,    der 
mit  beiden  Füßen  fest   mitten    im  All  steht    und  von  dem  Glauben 
beseelt  ist,    daß    alles  einzelne    und  Ephemere   als    verwerflich   im 
Lichte  einer  solchen  Weltbetrachtung  spurlos  verdampft,  daß  im  Un- 
endUchen  dasselbe  wiederkehrend  ewig  fließt  und  das  tausendfältige 
Gewölbe  sich  kräftig  ineinander  schUeßt.    Fragen  wir  uns,    wo    auf 
aller  Welt  gibt   es   heute  Menschen,    die    sich    zu  jener   Höhe    der 
Weltbetrachtung   emporgeschwungen   haben,    die   zugleich,   um  mit 
Lukrez  zu  sprechen,  die  vollendetste  Form  wahrer  Frömmigkeit  ist: 
ruhig  im  Geiste  hinschauen  zu  können  auf  alles !,  so  kann  die  Ant- 
wort nur  so  lauten :  Dieses  Ideal  kann  nur  in  jenen  Seelen  lebendig 
sein,  die  in  ahnungsvollen  Stunden  den  Geist  des  Weltalls  empfinden^ 
der   niederflammt   in   ihr  Herz,    die  dann  in  die    dunklen  Risse  des 
Unerforschten  einen  Blick  tun  und  in  ihre  Finsternisse  ein  leuchtend 
Bild  dieser  Welt   zurücknehmen,   die  im  Unendhchen    vorschweben, 
weil   sie    es    in    sich   selbst   genießen^).     Um   nun  diese  Sehnsucht 
„nach   höherer   Begattung"    in    uns    auszulösen   —   das   lehrt  un& 
Goethe    wie    Nietzsche   in    nicht   mißzuverstehender  Weise    —   ist 
wiederum  nur  die  Erfassung  des  Altertums   in    seiner  Totalität  daa 
geeignetste  Mittel.     Während  jedoch    die   berufenen  Hüter   und  Be- 
wahrer   dieses   Ideals    im     engen    Kreise    ihrer   Wissenschaft   fest- 
gebannt stehen  bleiben    und   innerhalb    des  Menschlichen  Schranken 
um  Schranken   errichten,    trotz    des   berühmten  „Nil  humani  a  me 
alienum   puto!"  —  ja   heute    ist   diese  Wissenschaft   allerdings  so 
spezialisiert,  daß  Fälle  gar   nicht  zu  den   Seltenheiten  gehören,  wie 


^)  Man  lese  nur  das  jüngste  Werk  über  Nietzsche  von  Heinrich  Römer, 
einem  evangelischen  Theologen!  Der  freisinnige,  vorurteilslose,  durch  kein 
Dogma  gebundene  Theologe  wird  in  Zukunft  an  Nietzsche  nicht  mehr  vor- 
übergehen können  I 


—     378     — 

etwa  der,  daß  ein  Philologe  sein  ganzes  Leben  damit  hinbringt,  „die 
homerische  Frage  vom  Standpunkte  der  Präpositionen  zu  lösen  und 
glaubt  mit  ävh  und  Kazh  die  Wahrheit  aus  dem  Brunnen  zu 
ziehen  ...  die  Philologen  gehen  an  den  Griechen  zugrunde  —  das 
wäre  etwa  zu  verschmerzen!  —  aber  das  Altertum  zerbricht 
durch  die  Philologen  selbst  in  Stücke",  während  also  diese 
Kategorie  von  Forschern  wähnt,  sie  hätte  auf  diesem  Wege  auf  Grund 
ihrer  alles  genauestens  analysierenden,  katalogisierenden  etc.  Pedanterie 
das  Richtige  gefunden  und  das  geistige  Band,  das  alle  diese  Mosaik- 
bildchen zusammenhält,  klar  erkannt  und  —  wie  bescheiden!  — 
bei  diesem  Resultate  sich  beruhigt,  konnte  ein  Feuergeist  wie 
Nietzsche  nicht  eher  zur  Ruhe  gelangen,  als  bis  er  jede  auf  ana- 
lytisch-kritischem Wege  gefundene  Erkenntnis  mit  seinem  eigenen 
Leben  und  Erleben  so  innig  durchtränkte,  allem  und  jedem  so  sehr 
den  Stempel  des  eigenen,  echt  hellenisch  empfindenden  Wesens 
aufgedrückt  hatte,  daß  diese  Erkenntnisse  in  der  Folgezeit  tat- 
sächlich sein  ganzes  Denken,  Fühlen  und  Streben  beherrschten.  So 
wurde  das  Hellenentum,  oder  besser  gesagt:  die  Antike  überhaupt, 
für  ihn  zur  zweiten  Natur,  zur  lebendigen  Kraft  in  des  Wortes  ur- 
eigenstem Sinne.  Schon  diese  Tatsache  allein  ist  ein  gewichtiger 
Beweis  dafür,  wie  groß  der  Irrtum  Stekels  und  Konsorten  ist, 
wenn  sie  Nietzsches  Vorliebe  für  das  Hellenentum  als  eine  klug 
inszenierte,  selbstgefällige  Kopierung  durch  einen  Narren  inter- 
pretieren und  sich  dabei  auf  psychoanalytische  Fundamentalgesetze 
stützen !  Nietzsche  war  einer  der  wenigen  Auserwählten,  dem  jene 
elegische  Wehmut  der  meisten  Philologen  zeitlebens  etwas  Un- 
bekanntes war,  jener  Sorte  weichlicher  Ästheten,  die  im  bitteren 
Tone  der  Resignation  „das  Land  der  Griechen  mit  der  Seele 
suchend"  um  ein  entschwundenes,  unwiederbringliches  Ideal  klagen 
und  dem  wahrheitsuchenden  Jünger  Steine  statt  des  Brotes  reichen, 
sondern  —  und  da  zeigt  sich  so  recht  Nietzsches  angeborenes 
Griechenheimweh!  —  er  setzte  diesen  für  den  einzelnen  wie  für  die 
Gesamtheit  unfruchtbaren  Sentimentalitäten  den  klaren,  selbst- 
bewußten, zielstrebigen  Willen  entgegen,  die  gesamte  Menschheit 
aus  lediglich  durch  die  Tradition  ererbten,  heute  jedoch  müd  und 
matt  gewordenen  Lebensformen  zu  erlösen  und  dem  Leben  des 
einzelnen  wie  der  Gesamtheit  neue,  höhere,  bessere  Ziele  zu 
schaffen.     Deshalb  haßte  er  aus  ganzer  Seele  allen  Geist  und  Leben 


—     379     — 

tötenden  Formalismus  und  Intellektualismus,  der  gerade  in  unserer 
Wissenschaft  sich  breitmacht.  Nicht  für  ein  enges  Fachgebiet 
soll  der  Philologe  seine  Schüler  erziehen  und  ihnen  den  Kopf  mit 
einem  Ballaste  lebloser  Kenntnisse  vollstopfen,  sondern  Menschen- 
bildner im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  soll  er  aus  ihnen  heraus- 
erziehen, Menschen,  in  deren  Seele  das  heiUge  Feuer  des  platonischen 
Eros  geweckt  worden  ist  und  damit  die  Sehnsucht  nach  restloser 
Erfassung  dieses  ganzen,  vielgestaltigen,  bunten  Lebens,  das  ja 
doch  nur  wieder  eine  einzige  große  Einheit  ist.  Daß  wir  bis  heute 
dieses  ideale  Ziel  Goethes  wie  Nietzsches  noch  immer  nicht  erreicht 
haben,  daß  wir  von  ihm  heute  vielleicht  weiter  entfernt  sind  denn 
je,  von  jenem  Ziele,  um  dessentwillen  Nietzsche  noch  heute  als 
Verräter  an  seiner  Wissenschaft  bekämpft  und  verspottet  wird, 
daran  trägt  die  Schuld  unsere  ganz  und  gar  unhistorische,  durch 
nichts  zu  motivierende  Verquickung  des  Christentums  mit  der  An- 
tike: sie  fußt  auf  dem  einseitigen  und  daher  falschen  Vorurteile, 
daß  das  Christentum  die  Erfüllung  des  klassischen  Altertums  und 
dieses  lediglich  nur  eine  Vorstufe  und  Vorbereitung  auf  jenes 
nach  dem  Willen  des  a  priori  allem  Weltgeschehen  zugrunde  he- 
genden götthchen  Erziehungsplanes  sei.  „Griechenland  hat  die 
Welt  vorbereitet,  der  Predigt  eines  hl.  Paulus  zu  lauschen!"  Von 
diesem  Vorwurfe  ist  selbst  der  allverehrte  Altmeister  unserer 
Wissenschaft,  Wilamowitz,  nicht  ganz  freizusprechen,  trotz  seines 
von  aller  Welt  als  richtig  anerkannten  Standpunktes:  alles  Ge- 
wordene historisch  zu  begreifen.  Kurt  Hildebrandt  hat  den  strikten 
Nachweis  erbracht,  daß  gerade  Wilamowitz,  dessen  überragender 
Bedeutung  als  Erforscher  und  Verkünder  antiken  Lebens  dadurch 
nicht  der  geringste  Abbruch  getan  werden  soll,  mehr  unbewußt 
und  ohne  es  zu  wollen,  gerade  eine  der  wichtigsten  Epochen  an- 
tiken Geistes:  den  herben  Ernst  und  Heroismus  der  Tragödie  für 
das  deutsche  Volk  in  deutsch-protestantisch-christlichem  Sinne  um- 
gedeutet hat.  Der  hehrste  Grundsatz  dieses  größten  Altertums- 
kenners der  Gegenwart,  jedes  Kunstwerk  nur  aus  sich  selbst  und 
aus  der  Welt  heraus,  in  der  es  seinen  Ursprung  hat,  zu  erfassen 
und  zu  erklären,  bleibt  eben  in  den  meisten  Fällen  nur  ein  frommer 
Wunsch,  weil  es  unseren  Gelehrten  zu  sehr  an  der  Selbstlosigkeit 
und  Selbstentäußerung,  dann  wieder  an  der  Bescheidenheit  gebricht, 
um   ihm    zum   vollen,    sieghaften  Durchbruch    zu    verhelfen.    Denn 


—     380     — 

das  Christentum  ist  durchaus  nicht  die  Erfüllung  der  Antike;  sein. 
Verdienst  besteht,  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  lediglich 
darin,  daß  es  dem  Altertum  nur  zeitlich  folgte.  Das  Christentum 
ist  und  bleibt  Orient,  das  Hellenentum  ist  und  bleibt  ewig  Okzi- 
dent! Und  damit  ist  auch  schon  der  scharfe  Gegensatz  bezeichnet,, 
in  dem  diese  beiden  Geistesrichtungen  für  ewige  Zeiten  zueinander 
stehen  müssen:  das  Christentum  ist  und  war  der  Todfeind  des- 
Griechentums, es  ist  und  war  sein  Untergang.  Vom  christlich- 
sittlichen  Standpunkte  aus  kann  man  den  Geist,  von  dem  eine  alt- 
hellenische Tragödie  durchweht  ist,  nie  und  nimmer  begreifen* 
cf.  die  deshalb  gescheiterten  „Neubearbeitungen"  antiker  Stoffe: 
Hasenclevers  «Antigene",  Werf  eis  „Troerinnen",  Diese  durch  nichts 
aufzuhebende  Antinomie  zwischen  Hellenentum  und  Christentum 
hat  Nietzsche  klar  erkannt  und  dieser  Erkenntnis  in  seiner  „Geburt 
der  Tragödie"  Ausdruck  verliehen:  die  Gestalten  der  bocksfüßigen 
Satyrn  interpretiert  er  dort  als  einen  Fleisch  und  Blut  gewordenen 
Protest  gegen  den  durch  die  Kultur  Geschwächten;  sie  sind  ihm 
vielmehr  eine  Bejahung  jener  elementaren  Kräfte,  die  alles  Leben 
erst  schaffen.  Trotz  all  ihrer  Wildheit  und  Ungebundenheit  reprä- 
sentieren sie  ihm  etwas  Göttliches,  Heiliges.  Darin  allein  schon 
liege  „ein  göttliches  Jasagen  zu  sich  selbst  aus  animaler  Fülle 
und  Vollkommenheit  —  lauter  Zustände,  zu  denen  der  Christ  nicht 
ehrlich  ja  sagen  darf".  Denn  „vielleicht  gibt  es  nichts  Befrem- 
denderes für  den,  welcher  sich  die  griechische  Welt  ansieht,  als  zu 
entdecken,  daß  die  Griechen  allen  ihren  Leidenschaften  und  bösen 
Naturhängen  von  Zeit  zu  Zeit  gleichsam  Feste  gaben  und  sogar 
eine  Art  Festordnung  ihres  Allzumenschlichen  von  Staats  wegen  ein- 
richteten: es  ist  dies  das  eigentlich  Heidnische  ihrer  Welt,  vom 
Christentum  aus  nie  begriffen,  nie  zu  begreifen  und  stets  auf  das 
härteste  bekämpft  und  verachtet.  Sie  nahmen  jenes  Allzumensch- 
liche als  unvermeidlich  und  zogen  vor,  statt  es  zu  beschimpfen,, 
ihm  eine  Art  Recht  zweiten  Ranges  durch  Einordnung  in  die 
Bräuche  der  Gesellschaft  und  des  Kultus  zu  geben:  ja  alles,  was 
im  Menschen  Macht  hat,  nannten  sie  göttlich  und  schrieben  es  an 
die  Wände  ihres  Himmels.  Sie  leugnen  den  Naturtrieb,  der  in  den 
schlimmen  Eigenschaften  sich  ausdrückt,  nicht  ab,  sondern  ordnen 
ihn  ein  und  beschränken  ihn  auf  bestimmte  Kulte  und  Tage,  nach^ 
dem  sie  genug  Vorsichtsmaßregeln  erfunden  haben,  um  jenen  wilden 


—     381     — 

Gewässern  einen  möglichst  unschädlichen  Abfluß  geben  zu  können. 
Dies  ist  die  Wurzel  aller  moralischen  Freisinnigkeit  des  Altertums. 
Man  gönnte  dem  Bösen  und  Bedenklichen,  dem  Tierisch-Rückstän- 
digen ebenso  wie  dem  Barbaren,  Vor-Griechen  und  Asiaten,  welcher 
im  Grunde  des  griechischen  Wesens  noch  lebte,  eine  mäßige  Ent- 
ladung und  strebte  nicht  nach  seiner  völligen  Vernichtung.  Das 
ganze  System  solcher  Ordnungen  umfaßte  der  Staat,  der  nicht  auf 
einzelne  Individuen  oder  Kasten,  sondern  auf  die  gewöhnlichen 
menschlichen  Eigenschaften  hin  konstruiert  war.  In  seinem  Bau 
zeigen  die  Griechen  jenen  wunderbaren  Sinn  für  das  Typisch -Tat- 
sächliche, der  sie  später  befähigte,  Naturforscher,  Historiker,  Geo- 
graphen und  Philosophen  zu  werden.  Es  war  nicht  ein  beschränktes 
priesterliches  oder  kastenmäßiges  Sittengesetz,  welches  bei  der  Ver- 
fassung des  Staates  und  Staats-Kultes  zu  entscheiden  hatte:  sondern 
die  umfängliche  Rücksicht  auf  die  Wirklichkeit  alles  Mensch- 
lichen." Ja,  selbst  der  hohe  Idealismus  eines  Piaton,  den  wir 
Philologen  unseren  Schülern  so  gerne  aus  dem  in  usum  delphini 
zugestutzten  Meisterwerke  des  Philosophen,  dem  Symposion,  inter- 
pretieren, würde,  wie  Nietzsche  treffend  bemerkt,  geradezu  un- 
denkbar sein,  „wenn  es  in  Athen  nicht  schöne  Jünglinge  gegeben 
hätte,  daß  deren  Anblick  es  erst  war,  was  die  Seele  des  Philo- 
sophen in  einen  erotischen  Taumel  versetzte  und  ihr  keine  Ruhe 
ließ,  bis  sie  den  Samen  aller  hohen  Dinge  in  ein  so  schönes  Erd- 
reich hinabgesenkt  habe**.  Und  weil  Goethes  Verhältnis  zur  Antike 
die  Totalität  des  Seins  ist,  das  heißt  das  spezifisch  Griechisch- 
heidnische, jener  freigeborene  Geist,  der  mit  einem  freudigen  und 
vertrauenden  Fatalismus  mitten  im  All  steht,  von  dem  Glauben 
beseelt,  daß  nur  das  einzelne  verwerflich  ist,  daß  sich  aber  im 
ganzen  alles  erlöst  und  bejaht,  nur  deshalb  pries  Nietzsche 
diesen  Goethe  als  den  Heiden,  als  den  Hellenen,  als  den  Diony- 
sischen, als  den  „Antichrist".  Ja,  es  ist  und  bleibt  erschütterndste 
Wahrheit,  daß  eine  der  glänzendsten  Epochen  der  Menschheits- 
geschichte in  dem  welthistorischen  Augenblicke  starb,  als  das 
Christentum  als  herrschende  Staatsreligion  proklamiert  und  die 
letzten  griechischen  Philosophen  aus  ihrer  abendländischen  Heimat 
vertrieben  wurden. 

Daher  bestand  denn  auch  Nietzsches  Kampf   gegen  die  Philo- 
logie und  ihre  zunftmäßigen  Vertreter  in  dem  Bestreben,  mit  dem 


—     382     — 

es  ihm  blutiger  Ernst  war:  die  Altertumswissenschaft,  soll  sie 
wirklich  befruchtend  auf  die  Neugestaltung  unseres  Lebenswerkes 
wirken,  müsse  sich  von  jedweder  Beeinflussung  durch  die  herrschende 
Theologie,  respektive  das  Christentum  emanzipieren.  Nur  deshalb 
schrieb  dieser  „merkwürdige  Mann"  die  „Geburt  der  Tragödie",  nur 
deshalb  trat  er  seinerzeit  so  energisch  für  Richard  Wagner  ein, 
weil  er  in  dessen  Werken  die  Heraufkunft  eines  neuen  großen 
Lebensmittags  begrüßte.  Nur  deshalb  schrieb  er  einen  „Antichrist". 
So  schließt  sich  der  Ring  seines  Lebens:  eine  Unendlichkeit  vor 
sich,  eine  Unendlichkeit  hinter  sich,  so  weitete  sich  durch  syste- 
matische Forscherarbeit  sein  Blick,  bis  er  reif  ward  zur  großen 
Synthese,  mit  dem  Auge  des  Hellenen  dieses  ganze  Leben  zu  er- 
fassen,   ein  Ziel,    zu  dem  ihm  die  wenigsten    zu    folgen  vermögen. 

Wie  dieses  Streben  Nietzsches  verkannt  und  mißdeutet 
worden  ist,  dafür  bietet  das  Möbiussche  Buch  ein  klassisches  Bei- 
spiel ;  und  doch  ist  sein  Irrtum  verzeihlich,  weil  er  Nietzsche  ledig- 
lich durch  die  Brille  des  Nervenarztes  sieht.  Er  greift  aus  dem 
ganzen  „Antichrist"  jene  Stelle  heraus,  wo  Nietzsche  es  bedauert,  daß 
Cesare  Borgia  nicht  Papst  geworden  sei,  denn  „wohlan,  das  wäre 
der  Sieg  gewesen,  nach  dem  ich  heute  allein  verlange  — :  damit 
war  das  Christentum  abgeschafft!  —  Was  geschah?  Ein  deutscher 
Mönch,  Luther,  kam  nach  Rom.  Dieser  Mensch  .  .  .  empörte  sich 
in  Rom  gegen  die  Renaissance!"  Diese  Worte  und  vieles  andere  in 
diesem  systematischesten  Werke  Nietzsches  sind  für  Möbius  etc. 
lediglich  „ein  Stilfeuerwerk,  um  einige  Absurditäten  auszudrücken!" 
Habeant  sibi !  Über  das  Niederträchtige  sich  niemand  beklage ;  denn 
es  ist  das  Mächtige,  was  man  dir  auch  sage! 

Betrachten  wir  —  es  wird  sich  reichlichst  der  Mühe  lohnen !  — 
mit  wissenschaftlich  historischer  Akribie  diese  flammenden  Worte 
„dieses  Feindes  Gottes"-.  Es  ergibt  sich,  daß  Nietzsche  nichts 
anderes  im  Sinne  hatte  und  meinte  wie  Goethe:  beide  haben  sich 
von  der  Reformationstat  Luthers  mehr  erwartet.  Er  wäre  vermöge 
seiner  humanistischen  Studien  der  befähigteste  Mann  gewesen,  den 
Geist  der  Renaissance,  der  im  Italien  Petrarcas  bereits  so  herrliche 
Blüten  gezeitigt  hatte,  zu  einer  die  Gemüter  befreienden  Segenstat 
für  das  ganze  europäische  Abendland  zu  machen.  Was  tat  er  jedoch? 
Er  stellte  die  Renaissance  bloß  in  den  Dienst  der  Erneuerung  des 
Menschengeschlechtes  im  Glauben.  Und  wenn  Möbius  im  Hinblick 


~     383     —- 

auf  Cesare  Borgia  meint,  daß  dieser,  falls  er  nicht  umgebracht 
worden  wäre,  und  wirklich  Petri  Thron  bestiegen  hätte,  bloß  den 
Kirchenstaat  säkularisiert  hätte,  demnach  also  sein  Verdienst  um 
die  Kenaissance  gar  kein  sonderlich  großes  gewesen  wäre,  so  miß- 
versteht Möbius  den  Ästheten^)  Nietzsche  gründlichst;  denn  in 
jenem  erblickte  der  Ästhete  Nietzsche  trotz  all  seiner  Unnatur  die 
Verkörperung  seines  antik-aristokratischen  Ideals :  er  wäre  der  Mann 
gewesen,  der,  weil  ganz  im  Altertum  lebend,  die  vöUige  Emanzi- 
pation Koms  vom  Geiste  des  Christentums  durchgeführt  hätte,  die 
völlige  Rückkehr  zum  Geiste  des  Altertums,  um  das  ganze  Leben  in 
Staat,  Glauben  und  Kultus  neu  zu  befruchten.  Was  jedoch  tat  Luther? 
Er  benützte  seine  Altertumswissenschaft,  um  sich  in  gelehrtes  un- 
fruchtbares Theologengezänke  einzulassen  und  blieb  auf  halbem 
Wege  stehen.  Nun  ist  gewiß  zuzugeben,  daß  Nietzsche  hier  ein 
gewaltiger  historischer  Irrtum  unterlaufen  ist,  den  auch  Möbius 
trotz  seines  Hinweises  auf  ein  Werk  Burckhardts,  von  dem  sich 
Nietzsche  habe  beeinflussen  lassen,  nicht  richtig  gestellt  hat.  Cesare 
Borgia  war  nämlich  niemals  nahe  daran,  Papst  zu  werden,  ferner 
war  er  schon  vier  Jahre  tot,  als  Luther  nach  Rom  kam,  und  zehn 
Jahre,  als  Luther  vor  die  Welt  trat.  Auch  Rittelmeyer  hat  (1.  c.) 
diese  Stelle  mißverstanden;  ein  richtiges  Verständnis  derselben  kann 
man  meines  Erachtens  nur  aus  den  von  mir  p.  334/35  dargelegten 
Gründen  erhalten. 

Nietzsches  Schaffen,  unter  dieser  Perspektive  betrachtet,  ergibt 
die  Tatsache,  daß  es  der  Erreichung  eines  einzigen  Zieles  galt: 
Wiedererweckung  der  Antike.  Er  wollte  den  Pfad  bereiten  für  den 
Einzug  des  Griechengottes :  des  Dionysos.  Dieser  Dionysos  ist  aber  bei- 
leibe nicht  der  Schutzpatron  der  Hysterischen,  sondern  Nietzsche  ver- 
steht unter  ihm  den  Gott  „des  starken,  hochgebildeten,  in  allen  Leiblich- 
keiten geschickten,  sich  selbst  im  Zaume  habenden,  vor  sich  selbst  ehr- 
fürchtigen Menschen,  der  sich  den  Umfang  und  Reichtum  der 
Natürlichkeit  zu  gönnen  wagen  darf,  der  stark  genug  zu  dieser 
Freiheit  ist" ;  was  mit  anderen  Worten  heißen  kann,  daß  für 
Nietzsche  die  Philologie,  das  heißt  das  Studium  der  Altertums- 
wissenschaft niemals  Selbstzweck,  sondern  nur  Mittel  zum  Zweck 
war  .  .  . 


1)  Cf  p.  334/35. 


—     384     — 

Zitternd  vor  heiliger  Leidenschaft,  Leib  und  Seele  dieser 
höchsten  Erkenntnis  geweiht,  nannte  Nietzsche  dieses  Tiefste,  das 
er  da  geschaut:  Dionysos.  Will  man  nun  durchaus  von  einer 
Tragik  in  Nietzsches  Leben  sprechen,  so  möchte  ich  am  liebsten 
den  Umstand  als  die  tiefste  Tragik  seines  Menschenlebens  be- 
zeichnen, daß  er,  der  mit  schonungsloser  Gier  die  Bewußtseins- 
inhalte aller  Kulturen  aller  Zeiten  zerpflückt  hatte ;  dessen  Intellekt 
nie  rasten  noch  ruhen  konnte;  der  sich  bei  keinem  resignierten 
„ignorabimus"  begnügte;  der  von  glühendster  Skepsis  an  allem  und 
glühendster  Sehnsucht  nach  dem  Höchsten  geschüttelt  ward,  letzten 
Endes  Myste  wurde  und  stammelnd  vor  innerer  Freude  uns  das 
verkündete,  was  vor  ihm  Goethe,  Beethoven  und  Richard  Wagner 
auch  gesagt  hatten,  in  Worten  und  Tönen,  aber  schließlich  doch 
dasselbe!  .  .  . 

Nietzsche  sagt  einmal,  daß  es  heiHge  Erlebnisse  gäbe,  vor 
denen  die  Menge  die  Schuhe  auszuziehen  und  die  unsauberen  Hände 
fernzuhalten  habe.  Gelegentlich  deutet  er  auch  hin  auf  jenen  tief 
geheimnisvollen  Kult  der  eleusinischen  Mysterien.  Nach  dem  Zeug- 
nisse des  Historikers  Zosimos  sollen  die  alten  Hellenen  geglaubt 
haben,  daß  dieser  Mysterienkult  dazu  diene,  das  ganze  Menschen- 
geschlecht als  eine  Einheit  zusammenzuhalten,  mit  anderen  Worten : 
daß  er  die  heilige  Gemeinsamkeit  aller  derer  herbeiführen  wollte, 
die  sich  Menschen  nennen.  In  die  Hände  der  Mysten  hatte  die 
Natur  als  an  die  Berufensten  das  höchste  Geheimnis  alles  Werdens 
und  Vergehens  vertrauensvoll  gelegt:  die  in  tausend,  ewig 
einander  bekämpfende  Nationen  zersplitterte  Menscheit  zu  einer 
letzten,  großen  Einheit  zusammenzuschweißen,  in  der  alle  Gegen- 
sätze gelöst  sind.  Zarathustra  hat  dafür  die  schönen  Worte  ge- 
funden: „Tausend  Ziele  gab  es  bisher,  denn  tausend  Völker  gab  es. 
Nur  die  Fessel  der  tausend  Nacken  fehlt  noch,  es  fehlt  das 
eine  Ziel.  Noch  hat  die  Menschheit  kein  Ziel.  Aber  sagt 
mir  doch  meine  Brüder:  wenn  der  Menschheit  das  Ziel  noch  fehlt, 
fehlt  da  nicht  auch  —  sie  selber  noch?"  Heute  hat  mehr  denn  je  der 
Ruf  Geltung:  zurück  zu  jenem,  die  Einheit  schaffenden  Mysterium, 
ohne  das  die  Menschheit  auseinanderzufallen  droht.  Letzter  Künder 
dieses  Geheimnisses,  von  dem  hellenische  Zungen  beharrlich  ge- 
schwiegen haben,  ist  und  war  Nietzsche,  und  als  er  von  seinem 
inneren  Erlebnisse    stammelnd  aussagte,    da  traf  ihn  wie    im  alten 


—     385     — 

Hellas  die  Strafe:  der  Gott,  dem  er  diente,  zerbrach  seinen  Geist, 
vernichtete  ihn  und  zeichnete  aber  zugleich  ihn  als  seinen  Jünger 
aus.  Und  darin  liegt  ein  ungeheurer  Sieg  der  Menschennatur  über 
sich  selbst  und  allen  einseitigen  Intellektualismus:  indem  er  sich 
selbst  überwand  und  der  Menschheit  die  letzte,  die  tiefste  Weisheit 
kündete,  hat  er  sich  für  die  Menschheit  als  Opfer  dargebracht, 
geradeso  wie  im  alten  Hellas  Dionysos,  wie  später  Christus.  Kann 
nun  noch  derjenige,  der  die  tiefen  Zusammenhänge  zwischen  diesen 
beiden  Gestalten  wenn  auch  nicht  voll  begreift,  so  doch  wenigstens 
ahnt,  diesen  Nietzsche  einen  Narren  nennen? 

Der  größte  Deutsche,  Goethe,  hatte  offenbar  auch  ein  diony- 
sisches Erlebnis  solcher  Art,  als  er  sein  berühmtes  „schwierigstes" 
Gedicht  „Selige  Sehnsucht"  schrieb'): 

„Sagt  es  niemand,  nur  den  Weisen,  weil  die  Menge  gleich  verhöhnet: 
das  Lebend'ge  will  ich  preisen,  das  nach  Flammentod  sich  sehnet. 
In  der  Liebesnächte  Kühlung,  die  dich  zeugte,  wo  du  zeugtest, 
überfällt  dich  fremde  Fühlung,  wenn  die  stille  Kerze  leuchtet. 
Nicht  mehr  bleibst  du  umfangen  in  der  Finsternis  Beschattung, 
Und  dich  reißet  neu  Verlangen  auf  zu  höherer  Begattung. 
Keine  Ferne  macht  dich  schwierig,  kommst  geflogen  und  gebannt, 
und  zuletzt,  des  Lichts  begierig,  bist  du  Schmetterling  verbrannt. 
Und  solang  du  das  nicht  hast,  dieses:  Stirb  und  Werde! 
bist  du  nur  ein  trüber  Gast  auf  der  dunklen  Erde." 

Nun  ist  sicher  gerne  zuzugeben,  daß  dieses  Gedicht  „schwierig" 
sein  mag,  und  doch  ist  sein  Gedankengang  für  den  „Eingeweihten" 
leicht  verständlich:  auf  drei  Stufen  führt  es  den  Menschen  zur 
höchsten  ihm  erreichbaren  Vollendung.  Er  muß  1.  die  Fähigkeit 
besitzen,  das  principium  individuationis,  seine  Individualität  zu  zer- 
brechen, sein  Ich-bewußtsein  zeitweise  auszuschalten;  das  ist  die 
Sehnsucht  nach  dem  Flammentode*);  2.  er  muß  sich  zu  jener  Höhe 
der  Abstraktion  durchgerungen  haben,    daß  er  die  Zeugung,   diesen 


1)  Zu  den  folgenden  Ausführungen  vgl.  den  Aufsatz  Dr.  Friedrich 
Würzbachs  „Dionysos"  in  „Den  Manen  Fr.  Nietzsches",  p.  193—208,  der  teil- 
weise von  mir  benützt  wurde. 

2)  „Im  Grenzenlosen  sich  zu  finden, 
wird  gern  der  Einzelne  verschwinden, 
da  löst  sich  aller  Überdruß!  .  .  . 
sich  aufzugeben  ist  Genuß!" 
Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  25 


—     386     — 

in  der  ganzen  Natur  stärksten  Instinkt,  als  eine  Brücke  zu  höherer 
Begattung  auffaßt,  als  eine  mystische  Berührung,  als  eine  plötz- 
liche „fremde  Fühlung"  mit  dem  Ureigensten  der  Welt');  3.)  er 
muß  sich  abgekehrt  haben  von  jeglichem  asketischen  Ideal;  denn 
diese  Erde  ist  kein  Jammertal,  sondern  unsere  einzige  wahre 
Heimat^);  daher  jeder  Mensch,  insolange  ihm  das  dionysische  Er- 
lebnis versagt  bleibt,  von  dieser  Erde  sich  wegsehnen  wird  in  das 
Nirwanam  Schopenhauers  oder  den  christlichen  Himmel  .  .  . 

In  der  unzeitgemäßen  Betrachtung  „Schopenhauer  als  Er- 
zieher" sagt  Nietzsche:  „Es  gibt  Augenblicke  und  gleichsam 
Funken  des  hellsten  liebevollsten  Feuers,  in  deren  Lichte  wir  nicht 
mehr  das  Wort  „Ich"  verstehen,  es  liegt  jenseits  unseres  Wesens 
etwas,  das  in  jenen  Augenblicken  zu  einem  Diesseits  wird,  und 
deshalb  begehren  wir  aus  tiefstem  Herzen  nach  den  Brücken 
zwischen  hier  und  dort."  Eine  solche  Brücke  wäre  nun  nach 
Goethes  zitiertem  Gedichte  der  Geschlechtsakt;  denn,  sagt  derselbe 
Nietzsche,  „es  ist  typisch,  daß  der  Geschlechtsakt  Tiefe,  Geheimnis 
Ehrfurcht  erweckt",  und  „im  dionysischen  Rausch  ist  die  Geschlecht- 
hchkeit  und  die  Wollust". 

Auch  bei  der  Interpretation  dieses  anfänglich  äußerst  geheimnis- 
vollen Wortes  sei  der  Altmeister  Goethe  unser  Führer,  und  zwar 
sein  herrliches  Pandorafragment.  -  Als  Pandora  sieht,  wie  ihre 
Schwester  Mira,  im  Sinnestaumel  trunken,  einem  Manne  in  die 
Arme  sinkt,  fragt  sie,  zu  tiefst  erschrocken,  ihren  Vater  Prometheus : 
„Sag',  was  ist  das  alles,  was  sie  erschüttert  und  mich?",  worauf 
Prometheus  antwortet:  „Der  Tod"  und  folgende  nähere  Erklärung  gibt: 

.,Da  ist  ein  Augenblick,  der  alles  erfüllt, 
alles,  was  wir  gesehnt,  geträumt,  gehofft, 
gefürchtet,  Pandora  — 
das  ist  der  Tod!" 

Da  Pandora  noch  immer  dies  Phänomen  nicht  begreift,  gibt 
Prometheus  eine  mystische  Erklärung   der  Liebe,    dieses   unsäglich 


^)  „und  bald  verlischt  ein  unbegrenztes  Streben 
im  sel'gen  Wechselblick, 

Und  so  empfangt  mit  Dank  das^^schönste  Leben 
vom  All  ins  All  zurück." 

2)  „denn  aus  dieser  Erde  quill en  meine  Freuden 
und  diese  Sonne  scheint  meinen  Leiden!" 


—     387     — 

seligen,     schmerzlosen    Todes,     den    jede    Kreatur     in    unendlich 
brennender  Sehnsucht  sucht: 

„Wenn  aus  dem  innerst  tiefsten  Grunde 

du  ganz  erschüttert  alles  fühlst, 

was  Freud  und  Schmerzen  jemals  dir  ergossen, 

im  Sturm  dein  Herz  erschwillt, 

in  Tränen  sich  erleichtern  will 

und  seine  G-lut  vermehrt, 

und  alles  klingt  an  dir  und  bebt  und  zittert, 

und  all  die  Sinne  dir  vergehn, 

und  du  dir  zu  vergehen  scheinst 

und  sinkst, 

und  alles  um  dich  her  versinkt  in  Nacht, 

und  du,  in  inner  eigenem  G-efühl, 

umfassest  eine  Welt: 

dann  stirbt  der  Mensch'!" 
„0  Vater,  laß  uns  sterben!"  ruft  nun  Pandora  mit  instinktivem 
Verständnis  freudig  aus !  Leider  ist  die  „Pandora"  Fragment  geblieben ; 
daß  es  ein  Dionysosdrama  gev^^orden  wäre,  erhellt  aus  den  spär- 
lichen Aufzeichnungen  Goethes  zur  Fortsetzung,  v^o  sich  die  inhalts- 
schweren Worte  finden :  „dionysisch"  und  „völliges  Vergessen". 
Interpretiert  Goethe  mit  diesen  Worten  das  psychisch- 
physische Erlebnis  der  Liebe,  erklärt  Nietzsche  die  „höhere  Be- 
gattung" des  Weisen  mit  dem  Ureinen  der  Welt  rein  psychisch  auf 
dieselbe  Weise:  „Mit  dem  Worte  , dionysisch'  ist  ausgedrückt:  ein 
Drang  zur  Einheit,  ein  Hinausgreifen  über  Person,  Alltag,  Gesellschaft, 
Realität,  über  den  Abgrund  des  Vergehens:  das  leidenschaftlich 
schmerzliche  Überschwellen  in  dunklere,  vollere,  schwebendere  Zu- 
stände: ein  verzücktes  Jasagen  zum  Gesamtcharakter  des  Lebens, 
als  dem  in  allem  Wechsel  Gleichen,  Gleich-Mächtigen,  Gleich- 
Seligen;  die  große  pantheistische  Mitfreudigkeit  und  Mitleidigkeit, 
welche  auch  die  furchtbarsten  und  fragwürdigsten  Eigenschaften 
des  Lebens  gutheißt  und  heiligt;  der  ewige  Wille  zur  Zeugung, 
zur  Fruchtbarkeit,  zur  Wiederkehr;  das  Einheitsgefühl  der 
Notwendigkeit  des  Schaffens  und   Vernichtens." 

Begreifen    wir    es    nun,    warum    dieser   Nietzsche    Wagners 
Meisterwerk  „Tristan    und  Isolde"    über  alles  liebte    und    schätzte? 
„In  dem  wogenden  Schwall,  in  dem  tönenden  Schall, 
in  des  Weltatems  wehendem  All  — 
ertrinken,  versinken  —  unbewußt  — 
höchste   Lust!" 

25* 


—     388     — 

Auch  in  diesen  Versen,  besonders  aber  in  der  sie  erst 
illustrierenden  Musik,  ist  die  conditio  sine  qua  non  für  das  diony. 
sische  Erlebnis  des  „Flammentodes",  die  Durchbrechung  des 
Individuationsprinzips  enthalten,  respektive  dargestellt:  das  Hinaus- 
greifen über  die  eigene  Individualität,  schlieMich  über  die  Realität 
überhaupt,  das  „neue  Verlangen  zu  höherer  Begattung"  mit  dem 
Ureigensten  der  Welt,  wobei  das  Ichbewußtsein  versinkt  —  „bist 
du  Schmetterling  verbrannt"  — ,  sozusagen  aufgelöst  im  Feuer 
nicht  erdachter,  sondern  erlebter  Erkenntnis,  ein  Phänomen,  das 
genau  so  wie  beim  physischen  Liebesakt  „höchste  Lust"  auslöst, 
und,  wie  der  Goethesche  Prometheus    erläuternd   auseinandersetzt: 

„Wenn  alles  —  Begier  und  Freud'  und  Schmerz  — 

im  stürmenden  Genuß  sich  aufgelöst, 

dann  sich  erquickt  in  Wonneschlaf  — 

dann  lebst  du  auf,  aufs  Jüngste  wieder  auf, 

von  Neuem  zu  fürchten,  zu  hoffen,  zu  begehren." 

So  wollen  auch  Tristan  und  Isolde  „endlos  ewig  ein-bewußt" 
in  „heißerglühter  Brust  höchste  Liebeslust"  genießen;  denn  „so 
starben  sie,  um  ungetrennt,  ewig  einig,  ohne  End,  ohn'  Erwachen, 
ohn'  Erbangen,  namenlos  in  Liebe  umfangen,  ganz  sich  selbst  ge- 
geben der  Liebe  nur  zu  leben";  warum?  Die  Antwort  gibt  Nietzsches 
Zarathustra,  wohl  auch  im  Anschlüsse  an  Prometheus  Worte :  „denn 
alle  Lust  Will  Ewigkeit,  will  tiefe,  tiefe  Ewigkeit!" 

„Ohne  Wähnen  sanftes  Sehnen;  ohne  Bangen  süß  Verlangen; 

ohne  Wehen  hehr  Vergehen;  ohne  Schmachten  hold  Umnachten; 

ohne  Meiden,  ohne  Scheiden,  traut  allein,  ewig  heim, 

in  ungemessenen  Räumen  übersel'ges  Träumen." 

Mit  Recht  konnte  Wilhelm  Bölsche  die  Frage  aufwerfen,  ob 
denn  am  Ende  nicht  auch  der  Tod  des  Individuums  trotz  seiner 
bangen  Form  nichts  anderes  sei,  als  „ein  verkannter  Liebesakt, 
über  den  nach  allem  bitteren  Sträuben  zuletzt  doch  auch  die  voll- 
kommene Seligkeit  des  lebendigen  Aufgehens  in  eine  höhere 
Gemeinschaft  käme,  wie  sie  nur  die  Liebe  gibt?"  Sagen  wir  daher, 
daß  der  eigentliche  Bereich  des  Menschen,  seine  Macht,  seine 
Essenz  das  Gefühl  ist,  so  ist  eben  die  Liebe  das  höchste  dieser 
Gefühle.  Denn  in  'ihr  können  wir  den  Zusammenhang  zwischen 
Irdischem  und  Ewigem  ahnen.  Daher  das  Urmysterium  des  Christen- 
tums, daß  Gott  seinen  Sohn  der  Welt  aus  Liebe  hingegeben  habe; 
dies  will  besagen,  daß  er  der  Welt  nicht  anders  nahen  konnte   als 


—     389     — 

im  Verhältnis  der  Liebe:  er  opfert  sich  selbst  den  Menschen  zu 
Liebe.  Es  erhellt  aber  auch  sowohl  aus  dem  „Tristan''  als  auch  aus 
der  „Pandora",  daß  die  Liebe  und  der  Tod  uns  Menschen  als  Er- 
löser, als  unsere  treuesten  Freunde  zur  Seite  stehen:  der  Tod,  das 
Sichaufgeben  ist  identisch  mit  der  ekstatischen  Wonne  des  Liebes- 
genusses. In  demselben  Sinne  schrieb  daher  Otto  Julius  Bierbaum 
in  seinem  Gedichte  „Brautführer  Tod";  der  Tod  spricht  nämlich  zu 
dem  Liebespaare:  „Wohin  ich  führe,  braucht  ihr  nicht  zu  fragen. 
Fühlt  euch  —  so  fühlt  ihr  mich!  .  .  .  Ich  segne  euch!"  Wahrlich: 
selig  sind  jene,  die  zum  Nichts  geworden  sind,  denn  ihrer  ist  aller 
Herrlichkeit  Fülle!  Wer  auserkoren  ist,  so  zu  empfinden,  dessen 
Seelenblüte  kehrt  zu  ihrem  Ursprung  zurück,  vor  dem  steht  die 
Zeit  stille:  denn  nicht  mehr  faßt  er  die  Einheit  aller  Dinge  in  sein 
Selbst  zusammen,  weil  er  selbst  in  diese  leuchtende  Einheit  hinein- 
gewachsen ist,  mit  ihr  verwoben  ist;  er  ist  das  Nichts  —  er  ist 
das  All!  Es  ist  und  bleibt  Wagners  welthistorische  Tat,  in  seinem 
Tristandrama  den  Gefühlskomplex  von  Liebe  und  Tod  zum  ersten 
und  vorläufig  letzten  Male  in  der  großartigsten  Weise  ^)  durchlebt 
und  verkörpert  zu  haben.  Gerade  in  der  Schlußszene  hat  der 
Meister,  nachdem  er  mit  Tristans  letzten  Worten:  „Wie,  hör  ich 
das  Licht?"  die  Unzulänghchkeit  unserer  Sinne  hat  ausdrücken 
wollen,  es  versucht,  den  metaphysischen  Zustand  der  Liebeseinheit 
selbst  zu  schildern,  der  für  unser  Bewußtsein  naturgemäß  nur  die 
negativen  Merkmale  des  Undenkbaren  und  Unfühlbaren,  kurz  des 
„Unbewußten"  haben  kann.  Weil  aber  der  Künstler  das  alles  mit 
positiver  Anschauung  erfüllen  wollte,  rief  er  alle  Sinne  zu  Hilfe 
—  Ton,  Licht,  Duft  — ,  um  dieses  Untertauchen  in  des  „Weltatems 
wehendem  All"  uns  ahnen  zu  lassen.  Solch  ein  Sterben  heißt  aber 
nicht  „tot  sein",  „vernichtet  sein",  sondern  anders  sein,  voll- 
kommener sein  in  der  Liebe!  Es  ist,  als  sei  dem  Gefühle  der 
Liebenden  göttliche  Schöpferkraft  zuteil  geworden!  Deshalb  hat 
auch  Wagner  in  seiner  Tristanmusik  für  das,  was  bisher  noch  kein 
Mensch  so  intensiv  gefühlt  hat,  einen  Ausdruck  gefunden,  der  bis- 
her noch  nie  gehört  worden  war  und  wohl  schwerlich  ein  zweites 
Mal  zu  hören  sein  wird.  Emil  Lucka  hat  m.  E.  als  erster  unter 
dieser    grandiosen   Perspektive    die  Tristanmusik   in    großen  Zügen 


1)  Cf.  p.  258. 


—     390     — 

zu  analysieren  versucht.  Seine  Ausführungen  gipfeln  in  Folgendem: 
Die  Musik  des  Dramas  bestehe  aus  der  kommensurablen  des  Tags- 
bewußtseins und  der  des  inkommensurablen,  metaphysischen,  eigent- 
Uchen  Inhaltes.  Deshalb  hat  auch  die  Harmonie,  auf  der  das  Werk 
ruht,  und  die  weder  Dur  noch  Moll  ist,  den  Charakter  des  Sich- 
über-die-Welt-hinaus-Sehnenden;  und  nur  unserem,  gewöhnlichen, 
harmonischen  Bewußtsein  —  weil  wir  eben  an  diese  Welt  ge- 
bunden sind!  —  erscheine  sie  als  gebrochen  und  ruhelos.  Mit 
einem  Worte:  diese  Harmonie  ist  Transharmonie.  Was  daher 
die  tiefe  Wirkung,  die  gerade  dieses  Wunderwerk  Wagners  auslöst, 
betrifft,  hat  bereits  Nietzsche  die  Frage  aufgeworfen,  ob  man  sich 
einen  Menschen  denken  könne,  der  den  III.  Akt  des  Tristan  ohne 
alle  Beihilfe  von  Wort  und  Bild,  rein  als  ungeheuren  symphonischen 
Satz  zu  perzipieren  imstande  wäre,  ohne  unter  einem  krampfartigen 
Ausspannnen  aller  Seelenflügel  zu  veratmen!  „Ein  Mensch,  der  wie 
hier  das  Ohr  gleichsam  an  die  Herzkammern  des  Weltwillens  ge- 
legt hat,  der  das  rasende  Begehren  zum  Dasein  als  donnernden 
Strom  oder  als  zartesten,  zerstäubten  Bach  von  hier  aus  in  alle 
Adern  der  Welt  sich  ergießen  fühlt,  er  sollte  nicht  jählings  zer- 
brechen? Er  sollte  es  ertragen,  in  der  elenden  gläsernen  Hülle  des 
menschlichen  Individuums,  den  Wiederklang  zahlloser  Lust-  und 
Weherufe  aus  dem  „weiten  Raum  der  Weltennacht"  zu  vernehmen, 
ohne  bei  diesem  Hirtenreigen  der  Metaphysik  sich  seiner  Urheimat 
unaufhaltsam  zuzuflüchten?"  Als  Charakteristikum  für  Wagners 
Fühlen  sei  es  erwähnt,  daß  er  in  einem  Briefe  an  Liszt  eine  direkte 
„Tristanische"  Wendung  gebraucht:  „Gib  mir  ein  Herz,  einen 
Geist,  ein  weibliches  Gemüt,  in  das  ich  mich  ganz  unter- 
tauchen könnte,  das  mich  ganz  faßte  —  wie  wenig  würde  ich 
dann  nötig  haben  von  dieser  Welt!"  Derjenige  Leser  dieses 
Buches,  der  sich  für  die  Behandlung  des  hier  besprochenen  Problems 
durch  einen  unserer  modernsten  Dichter  interessiert,  sei  vor  allem 
an  Dehmels  pantheistisches  Epos  „Zwei  Menschen"  erinnert.  Die 
folgenden  zwei  Stellen  mögen  genügen,  um  ein  annäherndes  Bild 
seiner  Auffassung  zu  geben'): 


1)  Nebenbei  möchte  ich  daran  erinnern,  daß  sich  diese  Identifikation 
von  Tod  und  Liebesgenuß  bereits  bei  den  Romantikern  findet.  Ich  zitiere 
nur  die  mir  bekannten  Stellen.  So  heißt  es  bei  E.  T.  A.  Hoffmann  „Elixiere 
des  Teufels":   „Auch   du  glaubst,   daß   der  Liebe  höchste  Seligkeit,   die  Er- 


—     391     — 

„Nun  schau  und  lausche,  ganz  wie  wir  sind  —  ganz  Geist  in  Leib, 

nicht  trunken  bhnd, 
klar  aufgetan  bis  ins  Unendliche  —  Unüberwindliche,  Unabwendliche, 
bis  wir  im   Schoß   alles  Daseins  sind:   und  du  wirst  sehn,   Herz, 

daß  die  Erde 
noch  immer  mitten  im  Himmel  liegt  —  und  daß  ein  Blick  von 

Stern  zu  Stern  genügt, 
damit  dein  Geist   zum  Weltgeist  werde  ...  in  diesem  Anschaun 

bin  ich  ewig  dein 
und  kann  dir  treuer  als  je  mir  selber  sein. 
Wir  sind  so  innig  eins  mit  aller  Welt, 
daß  wir  im  Tod  nur  neues  Leben  finden!" 

Jetzt  bleibt  noch  Beethoven.  In  welchem  seiner  Werke  pre- 
digte er  uns  das  Evangelium  seines  dionysischen  Erlebnisses?  Ehe 
wir  diese  Frage  beantworten,  sei  einer  den  ganzen  Mann  scharf 
charakterisierenden  Tatsache  aus  seinem  Leben  gedacht:  er,  der 
ausgesprochene  Pantheist,  hatte  über  seinem  Pulte,  der  Stätte,  wo 
er  seine  gewaltigen  Werke  schmiedete,  nichts  anderes  hängen  als 
die  drei  Sprüche  aus  dem  damals  aufgedeckten  Tempel  der  ägyp- 
tischen Göttin  zu  Sais,  die  er  eigenhändig  auf  ein  Blatt  Papier  ge. 
schrieben  hatte:  „Ich  bin,  was  da  ist.  Ich  bin  alles,  was  ist,  was 
war,  was  sein  wird,  kein  sterblicher  Mensch  hat  meinen  Schleier 
aufgehoben.  Er  ist  einzig  von  ihm  selbst  und  diesem  Einzigen 
sind  alle  Dinge  ihr  Dasein  schuldig!"  Dieser  Beethoven  also  legte 
seinem  gewaltigsten  dionysischen  Werke,  der  „IX.  Symphonie",  den 
Text  von  Schillers  Hymnus  „An  die  Freude"  zugrunde.  Nicht  etwa 
wegen  der  immerhin  problematischen  Schönheit  der  Schillerschen 
Verse,  wohl  aber  in  Anlehnung  an  Hafis' Worte:  „Die  Freude  nur 
verschwistert  dich  der  Erde!"  Auch  er  wollte,  wie  Zosimos  von 
den  eleusischen  Mysterien  berichtete,  das  Menschengeschlecht  zu- 
sammenhalten: „Seid  umschlungen,  Millionen,  diesen  Kuß  der 
ganzen  Welt  .  .  .  alle  Menschen  werden  Brüder!"  Denn  Dionysos  ist 
der  einzige,  der  verbinden  kann,  „was  die  Mode  streng  geteilt".  (Feiert 
nicht  die  katholische  Kirche  in  ihrem  Pfingstfeste  ein  Fest  ganz 
derselben    Art?      Denn     wie    nach     der    heiligen     Legende     einst 


füllung  des  Geheimnisses,  im  Tode  aufgeht?"  Und  bei  Novalis:  ,,Im  Tode 
ist  die  Liebe  am  süßesten;  für  den  Liebenden  ist  der  Tod  eine  Brautnacht, 
ein  Geheimnis  süßer  Mysterien."  Ferner  spricht  er  von  einer  „mystischen 
Hochzeit  von  Wollust  und  Tod". 


—     392     — 

durch  die  Sprachverwirrung  anläßlich  des  Turmbaues  zu  Ba- 
bylon die  Menschheit  zerspalten  worden  ist  und  seither  die 
Völker  sich  nicht  mehr  verstehen,  so  sollte  durch  den  „Geist" 
eine  neue  Epoche  anheben,  in  der  sie  wieder  zu  einer  Einheit 
gebracht  wird.  Die  ganze  Welt  sollte  eine  große  Einheit  bilden: 
ein  Hirte,  eine  Herde;  daher  katholisch:  Tcad^'  öXovl)  Dionysos 
zieht  an  uns  vorüber  in  jener  unerhörten,  wie  aus  dem  Herzen  der 
Welt  selbst  herausgeborenen  Melodie,  die  das  Orchester  nach  dem 
zweiten  Chorsatze  anstimmt,  Dionysos  zieht  vorüber  mit  Flöte, 
Triangel,  Pauke  und  Trommel.  Denn  besser  als  durch  alle  Worte 
spricht  dieser  Dionysos  zu  uns  durch  die  Musik,  und  wenn  je,  so 
gilt  auch  hier  wie  beim  „Tristan"  Nietzsches  Wort:  „Erst  aus  dem 
Geiste  der  Musik  heraus  verstehen  wir  eine  Freude  an  der  Ver- 
nichtung des  Individuums."  Kein  Wunder,  daß  der  Nietzsche,  der 
seinem  Zarathustra  die  Worte  in  den  Mund  legt:  „Seit  es  Menschen 
gibt,  hat  der  Mensch  sich  zu  wenig  gefreut:  das  allein,  meine 
Brüder,  ist  unsere  Erbsünde",  daß  dieser^Nietzsche  sich  von  Wagner 
abwenden  mußte,  als  er  mit  seinem  „Parsifal"  uns  die  Pforten 
eines  Kelches  erschloß,  von  dem  weder  Goethe,  noch  Beethoven, 
noch  Nietzsche  je  etwas  wissen  wollten!  Nicht  Verneinung  der 
Lust,  sondern  Bejahung  der  Lust  in  alle  Ewigheit!  Denn,  so  lehrt 
er  uns:  „Meine  Brüder,  bleibt  der  Erde  treu!"  .  .  .  „warten  und 
sich  vorbereiten;  das  Aufspringen  neuer  Quellen  abwarten;  in  der 
Einsamkeit  sich  auf  fremde  Gesichte  und  Stimmen  vorbereiten; 
vom  Jahrmarktsstaube  und  -lärm  dieser  Zeit  seine  Seele  immer 
reiner  waschen;  alles  Christliche  durch  ein  Überchristliches  über- 
winden und  nicht  nur  von  sich  abtun  —  denn  die  christliche  Lehre 
war  die  Gegenlehre  gegen  die  dionysische;  —  den  Süden  in  sich 
wieder  entdecken  und  einen  hellen,  glänzenden  geheimnisvollen 
Himmel  des  Südens  über  sich  ausspannen;  die  südliche  Gesundheit 
und  verborgene  Mächtigkeit  der  Seele  sich  wieder  erobern;  Schritt 
vor  Schritt  umfänglicher  werden,  übernationaler,  europäischer,  über- 
europäischer, morgenländischer,  endlich  griechischer  —  denn 
das  Griechische  war  die  erste  große  Bindung  und  Synthesis  alles 
Morgenländischen  und  eben  damit  der  Anfang  der  europäischen 
Seele,  die  Entdeckung  unserer  „neuen  Welt";  —  wer  unter 
solchen  Imperativen  lebt,  wer  weiß,  was  dem  eines  Tages  begegnen 
kann?    Vielleicht  eben  —  ein    neuer  Tag!" 


—     393     — 

Aber  ist  es  nicht  tiefste  Tragik,  daß  gerade  der  Manri;  dem 
die  Musik  des  „Tristan"  die  tiefsten  Geheimnisse  des  Lebens  restlos 
geoffenbart  hatte,  daß  dieser  Mann  am  Ende  selbst  diese  Musik 
opferte  und  ihr  hinabfolgte?  Und  schon  grüßte  er  mit  trunkenem 
Bück  die  Morgenröte  des  neuen,  von  ihm  ersehnten  Kelches,  als  er 
im  letzten  Augenblick  des  Hinabgehens  das  Glück  des  Anblicks 
stolz  verschmäht:  wie  der  sterbende  Tristan  hört  auch  er  das 
Licht,  denn:  „Singe  mir  ein  neues  Lied:  die  Welt  ist  verklärt  .  .  . 
daß  ich-  dich  singen  hieß,  meine  Seele,  siehe,  das  war  mein 
Letztes!"     In  der  Tat: 

„Und  wenn  die  strenge  und  gequälte  Stimme 
Dann  wie  ein  Loblied  tönt  in  blaue  Nacht 
Und  helle  Flut  —  so  klagt:  sie  hätte  singen, 
Nicht  reden  sollen,  diese  neue  Seele^)!" 

Warum  es  aber  anders  kam,  darüber  können  wir  nur  Ver- 
mutungen anstellen,  geradeso  wie  über  den  im  Kerker  einen  Di- 
thyrambos  auf  Apollon  dichtenden  Sokrates.  War  es  die  Erfahrung, 
daß  nicht  nur  vielen  die  Begabung  gebricht,  so  weit  im  Denken 
vorwärts  zu  kommen,  sondern  daß  vielmehr  andere  trotz  reichster 
Begabung  für  dieses  Höchste  keine  Empfänglichkeit  haben,  daß  er 
es  uns  verschwieg,  woher  ihm  jene  plötzliche  Erleuchtung  kam, 
jenes  plötzliche  Aufleuchten  der  Lösung?  Vielleicht  dachte  er 
gleich  Piaton:  „Also  wird  ein  ernsthafter  Mann  sich  hüten,  das 
auszusprechen,  mit  dem  es  ihm  eigentUch  ernst  ist,  weil  er  es  da- 
mit nur  dem  Spott  und  Hohn  der  Menschen  preisgibt.  Alles,  was 
wir  schreiben,  ist  immer  nicht  das,  was  uns  recht  eigentlich  am 
Herzen  hegt;  nur  die  Eitelkeit  wird  sich  verleiten  lassen,  dies 
Teuerste  ans  Licht  zu  ziehen."  Jedenfalls  kommt  Bertram  der 
Wahrheit  näher  als  Stekel,  wenn  er  behauptet,  daß  die  Idee,  das 
Erlebnis  der  „entzückten  dionysischen  Weisheit",  ihrer  stummen 
Schönheit  und  ihres  totenstillen  Lärms,  dies  eleusisch  angeschaute 
Erlebnis  großer  Dinge,    von  denen  man  schweigt    oder    groß   redet, 


^)  So  heißt  es  in  der  Vorrede  zur  „Geburt  der  Tragödie"  vom  Jahre 
1886:  „Hier  redete  eine  fremde  Stimme  .  .  .  hier  sprach  eine  mystische  und 
beinahe  mänadische  Seele  .  .  .  fast  unschlüssig  darüber,  ob  sie  sich  mitteilen 
oder  verbergen  wolle.  Sie  hätte  singen  sollen,  diese  neue  Seele  —  und 
nicht  reden!  Wie  schade,  daß  ich,  was  ich  damals  zu  sagen  hatte,  es  nicht 
als  Dichter  zu  sagen  wagte:   ich  hätte  es  vielleicht  gekonnt!" 


—     394     — 

in  Nietzsche  erst  im  Verwandlungsaugenblicke  seiner  geistigen 
Auflösung,  seiner  inneren  Sprengung  und  Entindividualisierung 
triumphiere.  Aber  dieses  eleusische  Schweigen,  diese  eleusische 
Scheu  —  sie  sind  das  echteste  Zeugnis  für  Nietzsches  eingeborenes 
Griechenheimweh:  „Halten  wir  ein,"  sagt  Pindar  (Nem.  V,  v.  30, 
ed.  Schroeder),  „denn  es  frommt  nicht  immer,  wenn  die  lautere 
Wahrheit  ihr  Antlitz  offen  zeigt!  Öfter  ist  auch  Schweigen  das 
weiseste,  was  sich  der  Geist  des  Menschen  aussinnt.  **  Und  so 
mußte  sich  denn  mit  eiserner  Notwendigkeit  an  dem  '„letzten" 
Nietzsche  das  erfüllen,  was  er  bereits  als  Achtundzwanzigjähriger, 
prophetischen  Geistes  voll,  gesagt  hatte:  „Die  Menschheit  hat 
an  der  Erkenntnis  ein  schönes  Mittel  zum  Untergang^)." 
So  sagte  er  auch  in  einer  Baseler  Uni versitäts Vorlesung :  „Das  ist 
althellenisch:  das  siegreiche  Individuum  gilt  als  Inkarnation  des 
Gottes,  tritt  in  den  Gott  zurück!"  So  wurde  sein  „Begreifen 
ein  Ende!"     Und  mit  Schiller  sagen  wir: 

„Frommt's,  den  Schleier  aufzuheben, 
wo  das  ewige  Schrecknis  droht? 
Nur  der  Irrtum  ist  das  Leben, 
Und  das  Wissen  ist  der  Tod!" 

Und  ein  Wort,  das  in  Buddhas  Reden  unzählige  Male  wiederkehrt, 
lautet:  „Der  Gedanke  ist  der  Schlächter  des  Lebens!" 
Der  Schüler  soll  den  Schlächter  töten :  dann  erst  wird  er  die  Region 
von  Asat,  dem  Falschen,  verlassen  und  in  das  Reich  von  Sat,  dem 
Wahren,  eingehen. 

Wir  sind  am  Ende !  Aber  im  Blicke  auf  die  letzten  ver- 
hüllten Jahre  von  Nietzsches  Geist  wollen  wir  ein  Wort  Henriette 
Feuerbachs  hersetzen :  „Vielleicht,  daß  der  Mensch  das  Höchste  in 
sich  selbst  nicht  ungeblendet  schauen  darf  —  wie  Moses  auf  dem 
Sinai  sein  Antlitz  verhüllen  mußte!"  —  „Kein  Denkmal  verkündet 
noch  in  deutschen  Landen  mit  steinernem  Munde  seinen  Ruhm  .  .  . 
aber  Könige  werden  sterben  und  Reiche  werden  dahinsinken,  doch 
sein  Name  wird  noch  über  ferne  Jahrtausende  glänzen!" 

„Glücklicher  Meister,   du  starbst,   bevor  jedes  Maul   dich 

beschwatzte, 
Gleich  dem  Läufer,  der  stolz  seinen  Staub  überholt!" 


1)  Cf.  p.  147. 


—     395     — 

Doch  eines  wissen  wir  und  dieses  eine  wollen  wir  hoch  und 
heilig  halten,  dieses  eine  wollen  wir  unserer  Jugend  ins  Herz 
hämmern:  daß  auch  Nietzsche  einer  der  Größten  im  Geiste  war, 
und  daß  Gott  fortwährend  in  den  höheren  Naturen  wirksam  bleiben 
wird,  um  die  geringeren  zu  sich  heranzuziehen!  Und  so  ist  seine 
Philosophie,  „diese  lebenbejahendste,  lebenverherrlichendste  Philo- 
sophie des  christUchen  Europa  im  Kernsinne  eine  überaus  christ- 
liche Philosophie  mit  kühnster  Willenswendung  ins  Hellenische". 
Was  Nietzsche  von  Goethe  sagte,  daß  sein  Denken  „zwischen 
Pietismus  und  Griechentum  schwebe",  das  gilt  daher  von  ihm 
selbst  .  .  .  das  stolze  Hinübergleiten  dieses  Mannes,  die  tödliche 
Selbstentzündung,  Selbstentrückung  in  den  auflösenden  Wahn  —  es 
war  wohl  auch  wie  das  Ende  aller  großen,  das  ist  stellvertretenden, 
vorbildKch  sich  vollendenden  Menschen  eine  Maske  des  Gottes. 
Eine  Opfermaske  des  großen  Allebendigen,  „das  nach  Flammentod 
sich  sehnt",  weil  es  aus  der  Flamme  stammt,  das  im  Flammen- 
rausche siegreich  „in   den  Gott  zurücktritt",  aus  dem  es  kam: 

„Ja!   ich  weiß,  woher  ich  stamme; 
ungesättigt  gleich  der  Flamme 
glühe  und  verzelir'  ich  mich  .  .  . 
Flamme  bin   ich  sicherlich!" 


XXV.  NACHWORT. 

Lange  war  der  Weg,  beschwerlich  mitunter  die  Keise,  die  wir 
zurücklegen  mußten,  um  die  ungeheure  Odyssee  des  Geistes,  die 
Nietzsche  erleben  mußte,  an  unserem  geistigen  Auge  und  mit- 
empfindenden Herzen  vorüberziehen  zu  lassen.  Aber  gleich  der 
Phaiakeninsel  ragt  aus  diesem  Meere  des  Elends,  das  er  kühnen  Mutes 
durchsteuerte,  die  „Insel  der  Seligen",  Tribschen:  dort  Hegt  der 
Auf-  und  Niedergang  seiner  Sternenfreundschaft  mit  Wagner  be- 
schlossen. 

In  vollster  Objektivität,  das  heißt:  weder  geblendet  durch  den 
Ruhm,  der  Wagner  bereits  zu  jener  Zeit  umstrahlte,  da  er  Nietzsche 
fand,  noch  durch  den  heute  heller  den  je  strahlenden  Stern  seiner 
Kunst  und  durch  die  „wissenschaftliche  Feststellung"  beeinflußt, 
daß  mit  dem  „Zarathustra"  Nietzsches  Wahn  beginnt  —  ^aber  welch 
ein  Wahnsinn  und  welches  Feuer  wirft  er  im  Flammenschein  über 
die  Welt",  wie  Rohde  sich  äußerte;  beides  Momente,  die  den  Blick 
des  Forschers  nur  trüben  können  — ,  deckte  ich  die  Genesis  dieser 
Freundschaft  auf  und  schilderte  ihre  weitere  Entwicklung  bis  zur 
endgültigen  Trennung.  Und  da  lassen  sich  drei  Hauptpunkte  fest- 
stellen, weshalb  Nietzsche,  einstens  der  „Treueste  der  Treuen", 
seinen  Freund  „verriet",    will  sagen,  von  ihm  sich  trennen  mußte: 

1.  Die  divergierenden  geistigen  Entwicklungslinien 
der  beiden  Männer:  Nietzsche,  der  bereits  während  seiner  Bonner 
Universitätszeit  sich  mit  Langes  „Geschichte  des  Materialismus" 
bekannt  gemacht  hatte,  war,  durch  Lange  beeinflußt,  bereits  in,  ja 
sogar  vor  der  Tribschener  Zeit!  —  Nachlaßfragmente  beweisen 
dies!  —  ein  ausgesprochener  Gegner  aller  Metaphysik,  wie  sie 
theoretisch  durch  Schopenhauer,  praktisch  durch  Wagner  in  seinen 
Kunstwerken  vertreten  wurde.  Aber  dennoch  versuchte  er  auf  der 
ursprünglich  eingeschlagenen  idealistischen  Denkrichtung  fortzu- 
schreiten, weil  er  glaubte,  Schopenhauers  und  Wagners  ästhetische 
Ideen  stünden  zur  griechischen  Kunst  in  gewisser  Beziehung.  Daher 


—     397     — 

das  zentaurenartige  Buch  die  „Geburt  der  Tragödie".  Diese  idealistische 
Denkrichtung  gab  er  vollends  auf,  als  er,  angeregt  durch  Paul  Ree, 
sich  dem  Positivismus  zuwandte  und  damit  jene  Kunst-  und  Welt- 
anschauung inaugurierte,  die  in  seiner  Lehre  von  der  Umwertung 
aller  Werte  ihren  Höhepunkt  erreichte. 

2.  Die  große  Enttäuschung,  die  ihm  Wagner  bereitet  hatte, 
der  Wagner,  mit  dem  er  eine  Reformierung  unserer  Kunst  und 
Kultur  herbeiführen  wollte:  durch  Schopenhauer,  der  im  Genie 
—  dieses  Genie  war  für  den  damaligen  Nietzsche  der  erst  später 
so  benannte  „Übermensch"  —  die  einzige  Entschuldigung  für  die 
Zerteilung  des  einen  Willens  in  die  zahllosen  Wesen  erblickte,  auf 
Wagner  als  das  Genie  der  Zeit  vorbereitet,  verehrte  Nietzsche  Wagner 
als  die  Emanation  des  Ewigen.  Denn  wie  fast  alle  Romantiker  ging 
auch  Nietzsche  vom  Goethekultus  aus  und  steigerte  diesen  Genie- 
begriff, den  er  in  der  Person  Wagners  feierte,  fast  ins  Mythische. 
Solange  daher  die  Schaffenswege  beider  Männer  sich  berührten,  weil 
Nietzsche,  wie  er  das  bei  seinen  Freundschaften  allgemein  tat,  eigene 
Empfindungen,  Absichten  und  Anschauungen  bei  anderen  voraussetzte, 
fühlte  sich  der  Romantiker  Nietzsche  in  Wagners  Gesellschaft  als 
eines  auserwählten  Gleichgesinnten  wohl.  Die  Abschwenkung  von 
Wagner  mußte  unausbleiblich  erfolgen,  sobald  sich  in  Nietzsche  die 
kritische  Seele  regte  und  er  als  Aufklärer  seine  ureigenen  Gedanken 
zu  verkünden  begann.  Der  „Ring"  und  vollends  der  „Parsifal"  ent- 
sprachen eben  gar  nicht  jenem  „dionysischen"  Idealdrama,  das 
Wagner  schaffen  wollte  und  als  dessen  Verkörperung  Nietzsche  der 
„Tristan"  erschienen  war.  Diese  Verfratzung  des  geliebten  Bildes 
einer  dionysischen  Natur  in  eine  komödiantische,  einer  orphischen 
Urmusik  für  dionysisch  Verwandelte  zur  großen  Zauberoper  für 
Bourgeois  des  neuen  Deutschen  Reiches  wurde  Nietzsche  zu  einer 
beinahe  tödlichen  Selbstentschleierung :  so  hatte  er  im  WesentUchsten, 
Wesenhaftesten  seiner  Natur  sich  täuschen  lassen,  vielmehr  sich 
selbst  getäuscht. 

3.  Rein  persönliche  Gründe,  die  in  ihrer  Spezifizierung 
sich  auf  die  Gebiete  der  Kunst,  Musik  und  des  Psychischen  erstrecken. 
Dazu  wären  noch  die  Differenzen  rein  persönlicher  Natur  zu  zählen : 
Wagners  Hang  zum  Demagogentum,  womit  er  aber  gleichwohl  eine 
rücksichtslose  Tyrannei  zu  verbinden  wußte,  wie  zum  Beispiel  die 
Forderung   nach  vollständiger  Unterwerfung  unter  seine  Ansichten, 


—     398     — 

und  die  Wagner  fehlende  Eigenschaft,  auch  fremde  Größe  anzuerkennen. 
SchUeßlich  wäre  da  auch  jener  Briefe  zu  gedenken,  in  denen  sich 
Wagner  mit  Nietzsches  psychischem  Leiden  beschäftigt,  wobei  es 
freilich  dahingestellt  bleiben  mag,  ob  sie  in  der  uns  vorliegenden 
Fassung  mit  Bezug  auf  die  „Ariadnefrage"  geschrieben  worden  sind. 
Klarheit  könnte  nur  der  der  Veröffentlichung  bisher  entzogene  Brief 
Dr.  Eisers  an  Wagner  bringen. 

Daraus  ergibt  sich  mit  zwingender  Notwendigkeit  der  Schluß, 
daß  es  „der  geniale  Verräter"  Nietzsche  durchaus  nicht  notwendig 
hatte,  nach  Motiven  seines  Verrates  zu  suchen,  bezw.  diesen  selbst 
zu  rationalisieren !  Aber  trotzdem :  die  logische,  denkerische  Ent- 
wicklung Nietzsches  allein  dürfte  wohl  nicht  ausreichend  sein,  seinen 
Bruch  mit  Wagner  eindeutig  zu  erklären.  Denn  mit  der  von  mir 
gegebenen  Darstellung  ist  ja  nicht  gesagt,  was  wohl  in  den  vierzehn 
Jahren,  die  zwischen  dem  Nietzsche  der  „Geburt  d^r  Tragödie"  und 
dem  völlig  entgegengesetzten  Nietzsche  des  ^Falles  Wagner"  liegen, 
in  seiner  Seele  vorgegangen  sein  mag!  Woher  kommt,  fragen  wir 
mit  Th.  Lessing,  der  Gärungsstoff,  der  eine  so  ungeheure  seehsche 
Umwälzung  zuwege  brachte?  Das  aber  scheint  nicht  zweifelhaft, 
daß  gerade  Nietzsche  seine  geheimsten  Wunden  mit  maßlosem  Stolz 
und  lauterer  Scham  verborgen  hält,  an  die  auch  nur  zu  rühren  das 
zarteste  Wort  zu  unzart  wäre. 

Und  doch :  mit  einer  fast  erschreckenden  Deutlichkeit  hat  sich 
gezeigt,  eine  wie  tiefe  Wesensverwandtschaft  —  fast  möchte  man 
von  einer  Schicksalsgemeinschaft  sprechen !  —  Nietzsche  mit  Wagner 
verband;  denn  „das,  worin  wir  einander  verwandt  sind,  daß 
wir  tiefer  gelitten  haben,  auch  aneinander,  als  Menschen 
dieses  Jahrhunderts  zu  leiden  vermöchten,  wird  unsere 
Namen  ewig  wieder  zusammenbringen"  heißt  es  im  „Ecce 
homo".  Und:  „Mein  Glaube  an  eine  gemeinsame  und  zu- 
sammengehörige Bestimmung  gereicht  weder  Wagner 
noch  mir  zur  Unehre!"  Ist  nicht  auch  hier  der  Rest  Schweigen 
und  sich  neigen  in  Ehrfurcht  vor  der  göttlichen  Unbegreifbarkeit  des 
Genius?  Denn  das  Allerletzte,  das  Allertiefste  in  Wagners  wie  in 
Nietzsches  Wesen  werden  weder  die  dö^a  noch  die  iTtiön^iirj  jemals 
enthüllen:  was  der  Genius,  geheimnisvoll  am  lichten  Tag,  uns  nicht 
freiwilhg  offenbaren  mag,  das  zwingen  wir  ihm  nicht  ab  mit  Hebeln 
und  Schrauben!  Lebt  er  doch  in  jener  ehernen  Welt  idealer  Axiome, 


—     399     — 

unabhängig  von  Zeit,  Ort,  Person  und  Erkenntnis:  Das  ist  Piatons 
TOTiog  vTtsQovQdvLog^  der  überhimmlische  Ort,  die  allgütige  und  all- 
verknüpfende Welt  seiner  Ideen,  deren  Mittler  und  Träger  dennoch 
alle  Milliarden  Leiber  waren,  die  heute  im  Boden  modern ;  das  ist  jene 
ewig  fließende  und  in  jedem  von  uns  ganz  seiende  objektive  Welt 
des  Zeit- und  Weltgeistes :  sie  hängt  über  uns  allen,  immer  und  nie, 
überall  und  nirgends  als  jene  unbegreifliche  Atmosphäre,  in  der  wir 
weben,  leben  und  sind.  Wir  alle  glauben  zu  schaffen  und  zu  ge- 
stalten. Und  doch  sind  wir  nur  Saitenspiel  letzter  Gesamtheiten  und 
sind  Geschöpfe  jener  Welt,  die  wir  schaffen.  Was  Ihr  dazu  sagt 
und  lehrt,  was  ich  dazu  sage  und  lehre,  kommt  es  darauf  an? 
Unser  eigenstes  ist  Zufall  und  Tag.  Schon  das  Bewußtsein  „ich  bin!" 
ist  etwas  Neues  gegenüber  meinem  Sein.  Unser  ist  nicht  Wahrheit. 
Unser  ist  nur  Erkenntnis.  Wir  leben.  Die  Ideale  aber  sind! 

Aber  an  die  eine  Wahrheit  glaube  ich,  daß  die  ungeheuren 
Wirkungen,  die  von  Wagner  wie  von  Nietzsche  ausgehen,  auch  heute 
noch  nicht  abgeschlossen  sind,  ja  daß  die  Zeit  erst  kommen  wird, 
da  durch  eine  glückhche  Synthese  ihrer  scheinbar  unvereinbaren,  im 
tiefsten  Grunde  jedoch  konvergierenden  Weltanschauungen  ein  neues, 
fruchtbares,  religiöses  Ideal  erschlossen  werden  wird,  eine  neue 
Renaissance  auf  hellenisch-germanisch-christlicher  Basis.  Denn  sie 
beide  durften  früh  des  ewigen  Lichtes  genießen,  das  später  sich  zu  uns 
hernieder  wendet.  Das  leuchtende  Ideal,  um  dessen  VerwirkUchung 
Nietzsche  gekämpft  und  gelitten,  für  das  er  sich  selbst  geopfert  hatte, 
die  Zeit,  da  die  Liebe  kommen  wird,  die  den  Menschen  das  Leben  und 
die  Erde  wirklich  zurückgibt,  da  wir  Menschen  werden  in  Freiheit  und 
Schönheit,  in  Freude  und  Kraft  —  ich  glaube,  dieses  Ideal  zur 
Genüge  aufgezeigt  zu  haben.  Und  das  Ideal,  das  dem  Meister  von 
Bayreuth  vorschwebte?  Er  selbst  hat  ihm  das  Wort  geredet!  Ist  es 
aber  nicht  wieder  tiefste  Schicksalsgemeinschaft,  daß  Nietzsche 
gerade  dieser  Sehnsucht  von  der  Südlandssonnenfahrt  das  Wort 
gesprochen  hat,  jener  Sehnsucht  und  Hoffnung,  der  Wagner  in  einem 
offenen  Briefe  an  den  Bürgermeister  von  Bologna  in  folgenden  Worten 
Ausdruck  verlieh:  „Es  hat  sich  gezeigt,  daß  der  Schoß  deutscher 
Mütter  die  erhabensten  Genies  der  Welt  empfangen  konnte;  ob  die 
Empfängnisorgane  des  deutschen  Volkes  der  edlen  Geburten  dieser 
auserwählten  Mütter  sich  wert  zu  erzeigen  vermögen,  steht  erst 
noch  zu  erwarten.    Vielleicht  bedarf  es  hier    einer  neuen  Begattung 


—     400     — 

des  Genies  der  Völker.  Uns  Deutschen  leuchtet  hierfür  keine  schönere 
Liebeswahl  entgegen  als  diejenige,  welche  den  Genius  Italiens  mit 
dem  Deutschlands  vermählen  würde." 

„Zum  Nord  drängt  unseres  Geistes  Art, 
Wo  Blut  und  Sitte  uns  entsprang. 
Doch  von  der  Südlandssonnenfahrt 
Träumt  unsere  Sehnsucht  lebenslang!" 

Nietzsche  und  Wagner  —  ihnen  beiden  gehört  die  Zukunft 
unseres  Volkes.  Verehren  wir  diese  Meister!  WahrUch,  wir  bannen 
gute  Geister! 

Drum  mögen  auch  von  dieser  Arbeit  die  schHchten,  aber 
inhaltsschweren  Worte  des  platonischen  Sokrates  gelten*,  „toüto  dk 
ccTtXcog  xal  ärixvag  Kai  tacog  svrj&cjg  ^%g}  nao'  i^avtcjl''  Aber  selbst 
wenn  auch  ich  dann,  eben  weil  ich  mich  vom  Glauben  an  jene 
Ideale  leiten  ließ,  in  trüber  Dämmerung  schwer  den  lichten  Tag 
gesucht  und  am  Ende  gleichfalls  jämmerlich  geirrt  haben  sollte, 
möchte  ich  mit  Cicero  ausrufen:  „Errare  mehercule  malo  cum  PJatone, 
quem  tu  quanti  facias  scio,  quam  cum  istis  vera  sentire!"  Was 
aber  ist  die  Wahrheit,  die  „dh^d-sia"?  Eine  r<cc?.ri   d-sla^l 

Sollte  es  sich  aber  hier  und  da  ereignet  haben,  daß  Worte 
oder  Gedanken  neuer  und  noch  lebender  Autoren  in  mein  Buch 
ohne  äußere  Kennzeichen  übergegangen  sind,  so  glaube  ich  trotzdem, 
eben  weil  es  mir  zum  Teile  auch  auf  die  Reproduktion  und  richtige 
Gruppierung  überlieferter  Tatsachen,  Worte  und  Gedanken  ankam, 
vor  der  Beschuldigung  des  Plagiats  sicher  zu  sein  und  Anspruch 
auf  Selbständigkeit  erheben  zu  dürfen. 

„Du  großes  Gestirn!  Was  wäre  dein  Glück,  wenn  du  nicht 
Die  hättest,  denen  du  leuchtest.  0  Himmel  über  mir,  wann  trinkst 
du  diesen  Tropfen  Taus,  wann  trinkst  du  meine  Seele  in  dich  zurück?" 

Wien,    am  Tage    des  78.  Geburtsfestes    Friedrich  Nietzsches. 

DER  VERFASSER. 


LITERATURNACHWEIS. 

Alafberg  Friedrich:  „Aufstieg," 

Bölart  Hans:  „Friedrich  Nietzsches  Leben."  —  „Friedrich  Nietzsches  Freund- 
schaftstragödie mit  R.  Wagner  und  Cosima  Wagner- Liszt." 

Bertram  Ernst:  „Nietzsche,  Versuch  einer  Mythologie." 

Chamberlain  H.  St.:  „Richard  Wagner."  —  „Die  Grundlagen  des  XIX.  Jahr- 
hunderts." 

Crusius  Otto:  „Erwin  Rohde,  ein  biographischer  Versuch." 

Deussen  Paul:  „Erinnerungen  an  Fr.  Nietzsche." 

Decsey  Ernst:  „Anton  Brückner." 

Ernest  Gustav:  „R.  Wagner,  sein  Leben  und  sein  Schaffen." 

Eucken  Rudolf:  „Lebensanschauungen  der  großen  Denker." 

Friedrich  Paul:  „Essays",  2  Bände. 

Grießer  Luitpold:  „R.  Wagners  Tristan  und  Isolde." 

Grützmacher  Richard:  „Nietzsche,  ein  akademisches  Pubhkum." 

Höfler  Alois:  „Zur  Wandlung  des  ersten  in  den  zweiten  Nietzsche."  (Beilage 
zur  „Allgemeinen  Zeitung",  Jahrgang  1901,  Nr.  176,  177.) 

HoUitscher  Jakob:  „Fr.  Nietzsche,  Darstellung  und  Kritik." 

Howald  Ernst:  „Fr.  Nietzsche  und  die  klassische  Philologie." 

Istel  Edgar:  „Das  Kunstwerk  R.  Wagners." 

Jodl  Friedrich:  „Vom  Lebenswege",  2  Bände. 

Jodl  Margarethe:  „Fr.  Jodl,  sein  Leben  und  Wirken." 

Joel  Karl:  „Nietzsche  und  die  Romantik." 

Kapp  Julius:  „R.  Wagner." 

Kießhng  Arthur:  „R.  Wagner  und  die  Romantik." 

Lessing  Theodor:   „Schopenhauer,  Wagner,  Nietzsche."   (Ein  Werk,  dem  ich 
besonders  viel  verdanke.) 

Lichtenberger  Henri:  „Fr.  Nietzsche,  Abriß  seines  Lebens."  —  „Die  Philosophie 
Fr.  Nietzsches." 

Lucka  Emil:  „Die  drei  Stufen  der  Erotik." 

Louis  Richard:  „R.  Wagners  Weltanschauung." 

Meyer  R.  M.:  „Die  deutsche  Literatur  des  XIX.  Jahi'hunderts." 
—  „Fr.  Nietzsche." 

Moos  Paul:  „R.  Wagner  als  Ästhetiker." 

Möbius  P.:  „Nietzsche." 

Nietzsche,  Ehsabeth  Förster:    „Biographie  Fr.  Nietzsches."  —  „Wagner  und 
Nietzsche  zur  Zeit  ihrer  Freundschaft." 
Grießer,  Wagner  und  Nietzsche.  26 


—     402     — 

Oehler  Richard:  „Den  Manen  Fr.  Nietzsches."  (Festgabe  für  Frau  Förster 
zum  75.  Geburtstage.) 

Puschmann  Th.:  „R.  Wagner,  eine  psychiatrische  Studie." 

Placzek,  Dr.:  „Freundschaft  und  Sexualität." 

Reininger  Robert:  „Nietzsches  Kampf  um  den  Sinn  des  Lebens." 

Richter  Raoul:  „Fr.  Nietzsche."  —  „Essays." 

Riehl  Alois:  „Fr.  Nietzsche  der  Künstler  und  der  Denker."  —  „Philosophie 
der  Gegenwart." 

Römer  Heinrich:  „Nietzsche",  2  Bände. 

Salome  Lou- Andreas:  „Fr.  Nietzsche  in  seinen  Werken." 

Seiling  Max:  „R.  Wagner,  der  Künstler  und  Mensch." 

Simmel  Georg:  „Schopenhauer  und  Nietzsche." 

Stekel,  Dr.  W.:  „Nietzsche  und  Wagner."  (Zeitschrift  für  Sexualwissenschaft, 
Jahrgang  1917,  IV.  Band,  Heft  1,  2,  3.) 

Saaler  Bruno:  „Über  die  Krankheit  Nietzsches."  (Zeitschrift  für  Sexual- 
wissenschaft, 1918,  Jännerheft.) 

Strecker  Karl:  „Nietzsche  und  Strindberg  in  ihrem  Briefwechsel." 

Weichelt  Hans:  „Kommentar  zum  Zarathustra." 

Werner  Alfred:  „Die  Philosophie  Fr.  Nietzsches." 

Zeitler  Julius:  „Nietzsches  Ästhetik." 

Feuilletons  aus   der   „Neuen  Freien  Presse"   und  dem  „Pester  Lloyd"   von 

R.  N.  Coudenhove-Kalergi  und  Hans  Liebstöckl. 

Selbstredend  Wagners  und  Nietzsches  Briefwechsel. 

Sonstige  Literatur  siehe  im  Texte. 


CORRIGENDA. 

Seite  58,  Zeile  3  von  unten,  lese  „dafür  sagt  er  ihm  Dinge,  an  .  .  ."  statt 
„und  ihm  Dinge  zu  sagen,  an  .  .  .". 

Seite  59,  in  der  Fußnote,  lese  „cf.  p.  6"  statt  „p.  10". 

Seite  166,  Zeile  16  von  oben,  lese  „Tragiker,  Sokrates  .  .  .". 

Seite  206,  Zeile  11  von  oben,  lese  „je"  statt  „e". 

Seite  240,  Zeile  1  von  oben,  lese  „hohle"  statt  „holde". 

Seite  242,  Zeile  16  von  oben,  lese  „Übermenschenideal  sich"  statt  „Über- 
menschenideals ich". 

Seite  888,  Fußnote,  Zeile  6  von  unten,  lese  „von"  statt  „zu". 


NAMENVERZEICHNIS. 


Abraham  a  Santa  Clara  250. 
Achilleus  122. 
Agathon  140. 
Agoult  d',  Gräfin  294. 
Aischylos    6,    8,    52  f.,    116,    135,    140, 
150  f.,  167. 
Aisopos  141. 

Alexander  der  Große  51,  280. 
Anaxagoras  137. 
Andler  Charles  298. 
Angelus  Silesius  371  f. 
Apis  160*. 

Apollon  118  f.,  134,  150,  373,  393. 
Archilochos  123. 
Aristophanes  138,  320. 
Aristoteles  13,  186*,  202,  286,  320,  362. 
Athene  Pallas  132. 
Ariadne  292  f.,  295  f.,  298  f.,  399. 
Augusta,  Kaiserin  220. 

Bach  J.  S.  55,  88,  229. 
Bachofen  J.  J.  165. 
Becker  E.  322. 

Beethoven  13,  52,  55,  74,  88,  168,  169*, 

217,  229,  232  f.,  235  f.,  254,  256,  273, 

277,  340*,  384,  391  f. 

Beiart  Hans  220,  292,  295,  298  f.,  300  f., 

Berlioz  Hektor  224. 

BernouUiC.F.  64*,  87*,  270,  293, 295,  299. 
Bertram  Ernst  249  f.,  322,  341*  355  f.,  393. 
Bie  Oskar  231. 
Bierbaum  0.  J.  389. 
Binswanger,  Prof.  267,  269  f. 
Bismarck  55,  100. 

Biz6t  Georges  87*,  224  f.,  226,  228,  230. 
Bjerre  Paul  289. 
Boeckh  August  164. 
Boethius  86. 
Bonfantini  11. 
Bonus  Arthur  338*. 
Böcklin  Arnold  201,  301. 
Bölsche  Wilhelm  316,  388. 
Börne  Jakob  243*. 

Brahms  Johannes  86  f.,  219,  226*,  237. 
Brandes  Georg  363. 


Brentano  Franz  272. 
Brockhaus,  Frau  2,  5,  208. 
Brutus  259. 
Buddha  394. 

Burckhardt   Jakob    71,    152,    163,    292, 

348,  383. 
Busoni  Ferrucio  236  f. 
Bülow  Hans  v.   1,    90  f.,    94,    103,  111, 
152,  206,  219,  222,  226,  295,  363. 

Carafa  230  f. 

Caesar  C.  Julms  243,  259,  280,  321,  329. 

Cesare  Borgia  334,  382  f. 

Chamberlain  H.  St.  38,  53,  177,  228, 
239  f.,  241,  244,  296,  326*. 

Christus  Jesus  241,  243,  249,  264,  303, 
309,  313  f..  318,  320  f.,  322  f.,  325, 
329,  340,  344,  346,  362,  364  f.,  370, 
373  f.,  375,  385. 

Cicero  286,  400. 

Conradi  Hermann  330*. 

Dante  258,  309. 

Darwin  321  f. 

Daumer  149. 

Dehmel  Richard  330*,  355,  390. 

Demosthenes  53. 

Descartes  279. 

Deussen  Paul  89,  114,  145,  242,  252, 
268*,  348,  353,  357. 

Diels  Hermann  339. 

Dilthey  Wilhelm  155. 

Dinger  Hugo  195. 

Dionysos  107,  118  f.,  131  f.,  134,  150, 
160,  264,  267,  292  f.,  295  f.,  298, 
313,  324,  328,  337,  356,  361,  364  f., 
366,    370,  373,  376,    383  f.,    385,  391. 

Dostojewski  278. 

Dove  Alfred  171. 

Dühring  Eugen  149. 

Eckhardt,  Meister  371. 
Eiser,  Dr.  292,  399. 
Emerson  R.  W.  314. 
Engelmann  15. 


26" 


404 


Epikuros  347. 

Einest  Gustav  179,  182,  215. 

Eucken  Rudolf  373. 

Euripides  7, 134f.,  315,  324,  365,  369,  377. 

Falckenberg  106. 
Fötis  232. 

Feuerbach  Henriette  394. 
Feuerbach  Ludwig  149,    189,   303,  306. 
Fechner  272. 
Feustel  21. 
Forster  Georg  343. 
Frazer  158. 

Freud  Sigmund  280*,  287. 
Friedrich    Paul    116,    200,    205  f.,    208, 

248,  354. 
Fritzsch  E.  W.  15. 
Fuchs  226. 

Gallwitz  338*. 

Gast  Peter  63,    78,  89,    101,  182,  210*, 

224,  253  f.,  270,  308,  322,  332,  336,  347, 

349,  353,  361*,  363. 

Geyer,  Wagners  Stiefvater  7. 

Glasenapp  G.  Fr.  87,  197  f.,  201,  213  f., 
239    292    296, 

Goethe  6,  13,  55,  93,  96,  98,  108  f.',  117J 
148,  153,  165,  187,  190,  203  f.,  205, 
207,  210*,  213,  216,  221  f.,  238,  258, 
273,  280  f.,  283,  285  f.,  287  f.,  306, 
317,  321,  338,  341,  343,  350,  354,  356, 
359*,  360*,  361,  366,  372  f.,  374  f., 
376  f.,  379,  381  f ,  384  f.,  392,  395,  398. 

Gersdorir  Frh.  v.  11,  19  f.,  20,  22  f., 
27  f.,  30,  32.  46,  49,  88,  99,  114,  153, 
162,  170,  18Ö,  213  f.,  262,  266,  315,  347. 

Grützmacher  K.  H.  352. 

Goetz  Bruno  244  f.,  354. 

Golther  Wolfgang  219,  239. 

Grätz  243. 

Grillparzer  238. 

Hafis  391. 
Hamlet  259. 
Hanslick  Eduard  94*. 
Harnack  Adolf  325*. 
Haydn  88,  237. 
Hasenclevcr  380. 
Hanck  Minnie  87*. 
Hauff  Walter  v.  244. 
Händel  87,  254 

Hebbel  Friedrich  176,    188,    210*,    220, 
222    251    351 
Heckel  Emil  19,  21,  33,  88*.' 
Heckel  Karl  88*. 

Hegel  75,  149,  195,  306,  359*,  365. 
Heine  Heinrich  243. 


Helene  325. 

Helmholtz  Hermann  144. 

Hemmes  S.  J.  308*. 

Hera  132,  159. 

Herakles  315,  336. 

Herakleitos  339. 

Heyse  Paul  250. 

Hillebrand  99.  298. 

Hildebrandt  Kurt  60,  379. 

Hirschfeld  Magnus  281,  349. 

Hobbes  106. 

Hoffmann  E.  T.  A.  390*. 

Hoffmannsthal  Hugo  v.  288. 

Hollitscher  Jakob  274. 

Holzer  Ernst  143,  212. 

Homer  6,  116,  122,  131,  273,  324. 

Horatius  Flaccus  98,  276*. 

Howald  Ernst  153,  102. 

Hoefer  Edmund  94. 

Höfler  Alois  192*  199,  201*    223,  270  f. 

Hölderlin  276.  345. 

Hugo  Viktor  215. 

Ibsen  Henrik  243. 

Jakobi  Friedrich  360*. 

Jahn  180. 

Jatho  Karl  329*. 

Jerusalem  Wilhelm  336. 

Jodl  Friedrich  106,   272,  276,  306,  308. 

Joel  Karl  328,  363,  366. 

Johannes  346. 

Jordan  Wilhelm  149. 

Joukowsky  Paul  201. 

Judas  249  f.,  258  f. 

Kadmos  135. 

Kaftan  Julius  276. 

Kalthoff  Albert  329*. 

Kant  47,  106,  144,  277,  306,  317  f. 

Kapp  Julius  Vi,  199,  292. 

Kierkegaard  314. 

Klages  Ludwig  166. 

Kleist  Heinric 

Klindworth  9. 

Klopstock  250. 

Kluger,  Prälat  308*. 

Konfuzius  195. 

Kopernikus  321. 

Kögel  Fritz  104. 

Körner  Chr.  G.  204. 

Krug  Gustav  235,  347. 

Kratrt-Ebing  v.  282. 

Kraus  Karl  287  f. 

Kraßna,  Dr.  Hermann  261,  291*. 

Kronenberg  M.  318. 

Kundry  63*. 


—     405     — 


Lange  Fr.  A.  143  f.,  146,  194,  397. 
Laotse  195. 
Lehmann  Rudolf  305. 
Lenau  164,  276. 
Lenbach  17.  152. 
Lessing  G.  E.  202,  376. 
Lessing  Theodor  185*,  221  f.,  273,  284, 
301,  314,  335^  342,  358,  399. 
Lichtenberger  Henri  62,  8  J,  86,  173,  196. 
Liebstöckl  Hans  256. 
Lionardo  da  Vinci  181. 
Liszt  Franz  42,   94,  152,  215,  219,  263, 
296  f.,  390. 
Lombroso  Cesare  273. 
Lorm  Hieronymus  105*. 
Lucifer  258.  ^ 

Lucka  Emil  278,  280,  389. 
Lucretius  Garus  877. 
Ludwig  H.  6  f.,  18,  22,  40,  55,  180,  214. 
Luther  52,    169*,    195,    241,  277,  382  f. 
Lykurgos  137. 

Magdalena  63*. 
Mahler  Gustav  102. 
Malvida  V.  Meysenbug  12,  1&,  62,  78  f., 
82  f.,  89,  101,  111,  201,  253,  266,  294, 
300,  348. 
Marduk  160*. 
Mayreder  Rosa  283. 
Mazzini  145. 
Meister  Richard  278. 
Mendelssohn,  Komponist  87  f.,  219,  225. 
Mendelssohn,  Prof.  211 
Melanchthon  195. 
Messer  August  280*. 
MeyerR.M.  225,  280,322  f.,  336, 841*,  346. 
Michelangelo  340*. 
Midas  121. 
Minos  293. 
Mira  386. 
Mithras  160*,  324. 
Mohammed  278. 
Montaigne  86. 
Montesquieu  165. 
Moses  394. 

Mozart  74,    88,    185*,  231  f,,    235,   237. 
Möbius  P.  J.  241,   264*,  268,   270,  274, 
289,  291*,  328,  382  f. 
Muncker  21. 

Nabonassar  161*. 

Napoleon  280,  834,  337. 

Nettke  199. 

Newton  268*. 

Nietzsche-Elisabeth  1,  8,  11  f.,  15  f.,  25, 
30,  40.  44,  46,  48  f.,  57,  62  f.,  65,  72, 
76,  38  f.,  90,  96,  HO*,  170,  173,  179, 


192,  203,    211  f.,    213,  215,    226,  253, 
260,  268,  293,  295  f.,  302  f.,  307,  326*. 

Nohl  111. 

NordauMax  244,  273,275,  277  f.,  280,289. 

Novalis  344,  390*. 

Oehler  Richard  240. 
Osiris  160,  324,  369. 
Ostwald  Wilhelm  268*. 


Pan  365. 

Pandora  386  f. 

Paris  325. 

Pascal  314. 

Paulus  322,  324  f.,  365,  379. 

Paulsen  Friedrich  177. 

Pentheus  135. 

Persephone  132. 

Petrarca  382. 

Petrus  382. 

Petzoldt  Josef  169*. 

Philoktetes  66. 

Pindar  108,  356,  394. 

Pinder  Wilhelm  347. 

Placzek,  Dr.  260  f.,  263, 267  f.,269, 274, 289. 

Piaton  8,  59  f.,  105  f.,  116,  136,  139, 
163  f.,  166,  170,  268*,  281,  286,  314, 
317,  321,  324,  333,  337,  345  f.,  347, 
353,  356,  364,  369,  871,  381,  393,  399  f. 

Plutarch  368. 

Pohl  111. 

Porges  Heinrich  111. 

Prel  Karl  du  368. 

Prometheus  386  f. 

Puschmann,  Dr.  171,  273. 

R^e,  Dr.  Paul  62,  64  f.,  194,  205,  348.  389. 

Reininger  Robert  242,  277. 

Renan  Ernest  250,  289. 

Reitzenstein  369. 

Reuter  Gabriele  326*. 

Ribbeck  108,  155. 

Richter  Hans  12,  14,  16,  199. 

Richter  Raoul  112,  174,  180,   183,  195, 

339,  347. 

Riedel,  Prof.  90  f. 

Riehl  Alois  226,  338*,  343. 

Ritschi,  Frau  2. 

Ritschi  Friedr.,  Prof.  107,  152,  212. 

Rittelmeiyer,  Pfarrer  329*,  383. 

Rohde  Erwin  1,  6,  11,  15  f.,  20,  22  f., 
26  f.,  33  f.,  40,  46,  54,  57,  60,  66,  70, 
93,  108,  111,  116,  152*,  153  f.,  165, 
171,  179  f.,  222,  254,  266,  273,  275, 
302,  311,  338*,  347  f.,  363  f.,  367.  397. 

Rossini  229  f.,  234. 


—     406     — 


,A/y 


Römer  Heinrich  377*. 
Rousseau  263,  318. 
Runze,  Prof.  264. 
Rühl  Franz  71. 

Saaler,  Dr.  Bruno  263,  265* 
Sallust  97. 

Salome  Lou-Andreas  65,    66*,   81,  83, 
90  f.,  113,  175, 191,  337,  338*,  339,  355. 
Scharlitt  Bernard  103. 
Schelling  164,  306. 

Schiller  11,   55,  122,  125  f.,  128,  145  f., 
165,  184,    203  f.,    205,  232,    391,  394. 
Schlegel  A.  W.  125,  128. 
Schleiermacher  195,  306. 
Schmeitzner  77. 

Schopenhauer  5,  11,  31,  47,  54*  56  f., 
66,  75  f.,  80,  86,  109,  112,  114  f.,  117, 
119,  122,  143  f.,  149  f.,  156,  162,  171  f., 
174,  176,  189  f.,  195,  199,  201,  209, 
219  f.,  221,  225,  242,  265*  274,  282, 
301  f.,  305  f.,  308,  317,  329,  337,  341*, 
346,  348,  359*,  361  f.,  364,  369,  386,  397. 
Schreker  Franz  256. 
Schubert  88,  235. 

Schumann  Robert  86  f.,    90,    225,    276. 
Seidler  Luise  108. 
Seiling  Max  241  f.,  244,  296,  326*. 
Seydlitz  Frh.  v.  73,  77,^213,    309,  349. 
Shakespeare  55,  202,  258  f.,  270. 
Silen  121. 

Simmel  Georg  149,  322,  340*   371. 
Spinoza  106,  279,  306,  370  f. 
Sokrates  7  f.,  59  f.,  115,  135  f.,  148,  166, 
321,  369,  400. 
Sophokles  8,  115,  138,  140,  288. 
Soret  Friedrich  280. 
Spitteler  Carl  87*. 
Stein,  Frau  v.  283. 

Stein  Heinrich  v.  80,  82,  151,  206,  348. 
Stemhart  268*. 

Stekel,  Dr.  W.  89  f.,    205  f.,   249,  260  f., 
278,  282,   290  f.,  299  f.,    310  f.,  313  f., 
320,  322,  328,  334,  339  f.,  347,  349  f., 
353  f.,  357,  376,  378,  393. 
Stern  Daniel  =  Gräfin  d'Agoult  294. 
Stern,  Dr.  34,  38  f. 
Stirner  Max  274. 
Strindberg  321,  340*    359,  363. 
Stobaeus  368. 
Strauß  D.  Fr.  29,  60. 
Strauß,  Dr.  R.  102. 
Sulzer  Jakob  97. 

Taine  252. 
Tausig  Karl  357. 
Teiresias  135. 


Theseus  293,  295  f. 
Thomas  v.  Aquino  320. 
Tode  Henry  228. 
Tolstoi  321. 
Treitschke  H.  v.  327. 
Turgenjew  211. 
Türck  Hermann  175,  289. 

Ueberweg  106. 
Usener  Hermann  155. 

Verdi  234,  236. 
Volkelt  Johannes  282, 
Voltaire  243. 

Wagner   Cosima    7  f.,    11  f.,    17,    21  f 

25  f.,    34,  47  f.,    64,  69  f.,  89  f.,    97  f., 

101,    104,    152,    199,    214,    219,    222, 

228*    261,  263,  270,  293.  295  f.,  297  f., 

299,  301,  360,  363. 

Wagner  Blandine  9. 

Wagner  Daniella  9. 

Wagner  Eva  9. 

Wagner  Isolde  9. 

Wagner  Minna  206,  219,  221 

Wagner  Siegfried  6,  9,  12,  24,  193,  209, 

263,  300. 

Wallenstein  280. 

Weber  G.  M.  74. 

Weingartner   Felix  v.    186,    226*    227. 

Weininger  Otto  262. 

Werfel  Fr.  380. 

Wesendonk  Mathilde  63*  219  f.,  229,  300. 

Wesendonk  Otto  214,  219,  222. 

Wieland  Chr.  M.  97.  270*    283,  377. 

Wilamowitz  139,  153  f.,    163,  171,  280, 
311,  315,  324,  356,  360*    379. 

Winckelmann  117,  153. 

Winckler  Hugo  160*. 

Windelband  W.  106. 

Windisch  2  f. 

Wittgenstein  Fürstin  v.  63*    188,  228*. 

Wittkop  Ph.  191*. 

Wolzogen  H.  v.  235. 

WolflF  Hugo  276. 

Wundt  W.  285. 

Würzbach,  Dr.  385*. 

Zagreus  132,  159,  365. 
Zeitler  Julius  69,  169. 
Zelter  374. 
Zigesar,  Baron  188. 
Ziegler  Leopold  169*. 
Ziegler  Th.  338*. 
Ziehen,  Prof.  267. 
Zosimos  369,  384,  391. 


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ML 

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Griesser,  Luitpold 

Nietzsche  und  Wagner