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NIETZSCHE UND WAGNEU
NEUE BEITRAGE ZUR GESCHICHTE UND
PSYCHOLOGIE IHRER FREUNDSCHAFT
VON
PEOF. DR. LUITPOLD GEIESSER
19 2 3
HOLDER - PICHLER - TEMPSKY A. G.
WIEN / G. FREYTAG G.M.B.H. / LEIPZIG
ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES
ÜBERSETZUNGSRECHTES VORBEHALTEN
VERLAGSNUMMER 10.214
NL
BUCHDRUCKEREI CARL GEROLD'S SOHN IN WIEN
MEINEM HOCHVEREHRTEN FREUNDE
LEHRER UND MEISTER
HERRN REQIERUNGSRAT
DE: J. KUKUTSCH
Motto : „Betrachtet ich den Fleiß, den ich verwendet,
Sah ich die Züge meiner Feder an,
So könnt' ich sagen, dieses Buch ist mein!
Doch überdenk' ich's recht, da es vollendet.
Woher mir alles kam, wohin es zielt,
Erkenn' ich wohl : ich hab' es nur von Euch!"
„Die Ehre und der Nachruhm eines vortrefflichen Schriftstellers
ist, meiner Meinung nach, auch alsdann, wenn ihm selbst nichts
mehr daran gelegen ist, der Menschheit keine gleichgültige Sache.
Sie ist , sozusagen eine unverletzbare Hinterlage, deren Bewahrung
der Redlichkeit und Sorgfalt der Nachwelt anvertraut ist; und wenn
es von jeher bei allen Völkern für ein Verbrechen gegen die Humanität
angesehen worden ist, die Gebeine eines Verstorbenen zu mißhandeln
oder seine Asche zu beunruhigen, wieviel mehr ist es unedel und
grausam, den Nachruhm eines Mannes, dessen Verdienste um die
Welt noch immer fortdauern, durch Schändung seines sittlichen
Charakters, den er selbst nicht mehr verteidigen kann, zu besudeln?"
Chr. M. Wieland.
„Ich habe Wagner geliebt und niemand sonst! Er war ein
Mensch nach meinem Herzen. ... Es versteht sich von selber, daß
ich niemandem so leicht das Recht zugestehe, diese meine Schätzung
Wagners zur seinigen zu machen, und allem unehrerbietigen Gesindel,
wie es am Leibe der heutigen Gesellschaft gleich Läusen wimmelt,
soll es gar nicht, erlaubt sein, einen solchen großen Namen, wie der
Richard Wagners ist, überhaupt in das Maul zu nehmen, weder im
Lobe noch im Widerspruche!" Fr. Nietzsche.
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
I. Im Banne der Freundschaft 1
II. Bayreuth 21
III. Erste Mißverständnisse .... 25
IV. Nietzsches „Mahnruf an die Deutschen" - . 33
V. Nietzsches Kritik an Wagner 40
VI. „Richard Wagner in Bayreuth" , 50
VII. Die Festspiele des Jahres 1876. „Menschhches, Allzu-
menschUches" 61
VIII. Das Ende der Freundschaft 77
IX. Der „Musiker und Komponist Nietzsche" 88
X. RdckbUck 104
XI. „Die Geburt der Tragödie" 115
XII. Der Streit um den Wert dieses Werkes 143
XIII. Psychologische und künstlerische Gründe für Nietzsches
Abfall 172
XIV. Wagners Mißtrauen und Egoismus; sein „Schauspieler-
tum" 208
XV. Nietzsche — Bizet — Wagner 224
XVI. Chamberlain, Seiling, Bruno Goetz über Nietzsche . . 239
XVII. Nietzsches und Wagners „Schicksalsgemeinschaft" . . 249
XVIII. Nietzsche und die „Psychoanalytiker". 260
XIX. Nietzsche und Frau Cosima Wagner 290
XX. Das „Parsifalproblem" 300
XXI. Nietzsche als religiöser und ethischer Reformator . . 313
XXII. „Der einsame Nietzsche" 345
XXIII. Der Mystiker Nietzsche 367
XXIV. Das Dionysosideal — Isoldens „Liebestod" — Goethe —
Beethoven 376
XXV. Nachwort 396
Literaturnachweis 401
Namenverzeichnis 403
I. IM BANNE DER FREUNDSCHAFT. TRIBSCHEN.
Wiewohl Nietzsche selbst im „Ecce homo" schreibt: „von dem
Augenblicke an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab, . . . war
ich Wagnerianer!", ist diesem Selbstbekenntnisse gegenüber
auf die Tatsache zu verweisen, daß seine Verehrung für Wagner
bereits mit dem Jahre 1860 eingesetzt hat. Denn in diesem Jahre
begründete der erst Sechzehnjährige mit zwei gleichalterigen Freunden
die „Germania", eine literarische Vereinigung, deren Zweck es war,
die Ausbildung ihrer Mitglieder in den Künsten und Wissenschaften
zu fördern. Von höchstem Interesse ist es, daß unter den Zeit-
schriften die „Zeitschrift für Musik" gehalten wurde, das einzige
deutsche Blatt, das damals für Wagner und seine Werke einzutreten
wagte. Im Jahre 1862 wurde dann der von Hans v. Bülow arran-
gierte Klavierauszug zum Tristan angeschafft, wobei anläßlich der
über dieses Werk abgehaltenen Diskussionen die Frage erörtert
wurde, ob das Wagnersche Kunstwerk der Zukunft ein realisierbares
Ideal sei, eine Frage, die von dem jungen Nietzsche aufs eifrigste
verteidigt wurde. Nietzsches Schwester erzählt uns, daß im Hause
ihrer Mutter der Klavierauszug einstudiert wurde, daß die Musik
jedoch mehr einem furchtbaren Getöse glich, bis es endhch Nietzsche
gelang, vorzüglich den II. Aufzug in künstlerisch formvollendeter
Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. Die allerwich tigste Tat-
sache aber ist die, daß Nietzsche bereits damals an Wagners Kunst
Kritik zu üben begann, und daß auf Zeiten der höchsten Begeisterung
Zeiten der kühlsten Reflexion folgten. Besonders über die Walküre
waren seine „Empfindungen sehr gemischt". Da vollzog sich im
Jahre 1868 ein bedeutsames Ereignis : Nietzsche wurde mit Wagner
persönlich bekannt. Über dieses für sein ganzes ferneres Leben
wichtige Ereignis schrieb er seinem Freunde Erwin Rohde am
9. November 1868 folgenden Brief: „Als ich nach Hause kam, fand
ich einen Zettel, an mich adressiert, mit der kurzen Notiz: , Willst
Grießer, Wagner und Nietzsche. 1
— 2 —
Du Richard Wagner kennen lernen, so komme um dreiviertel vier
in das Cafe Theätre/ Diese Neuigkeit verwirrte mir etwas den
Kopf, verzeih mir!, so daß ich in einen ziemlichen Wirbel geriet.
Ich Uef natürlich hin, fand unsern Biederfreund, der mir neue Auf-
schlüsse gab. Wagner war im strengsten Inkognito in Leipzig bei
seinen Verwandten: die Presse hatte keinen Wind, und alle Dienst-
boten Brockhausens waren stumm gemacht, wie Gräber in Livree.
Nun hatte die Schwester Wagners, die Professor Brockhaus, jene
bewußte gescheute Frau, auch ihre gute Freundin, die Ritschelin,
ihrem Bruder vorgeführt: wobei sie den Stolz hatte, vor dem Bruder
mit der Freundin und vor der Freundin mit dem Bruder zu renom-
mieren, das glückliche Wesen I Wagner spielt in Gegenwart der
Frau Ritschi das Meisterlied, das ja auch Dir bekannt ist: und die
gute Frau sagt ihm, daß ihr das Lied schon wohlbekannt sei, mea
Opera. Freude und Verwunderung Wagners : gibt allerhöchsten Willen
kund, mich inkognito kennen zu lernen. Ich sollte für Freitag abend
eingeladen werden. Windisch aber setzt auseinander, daß ich ver-
hindert sei durch Amt, Pflicht, Versprechen: also schlägt man
Sonnabend nachmittag vor. Windisch und ich liefen also hin, fanden
die Familie des Professors, aber Richard nicht, der mit einem un-
geheuren Hute auf dem großen Schädel ausgegangen war. Hier
lernte ich also besagte vortreffhche Familie kennen und bekam eine
liebenswürdige Einladung für Sonntag abend. Meine Stimmung war
wirklich an diesen Tagen etwas romanhaft; gib mir zu, daß die
Einleitung dieser Bekanntschaft, bei der großen Unnahbarkeit des
Sonderlings, etwas an das Märchen streifte. In der Meinung, daß
eine groöe Gesellschaft geladen sei, beschloß ich, große
Toilette zu machen und war froh, daß gerade für den
Sonntag mein Schneider mir einen fertigen Ballanzug ver-
sprochen hatte. Es war ein schreckUcher Regen- und Schnee-
tag, man schauderte, ins Freie zu gehen ... Es dämmerte,
der Schneider kam nicht, ich suchte den Schneider persönlich auf
und fand seine Sklaven heftig mit meinem Anzüge beschäftigt: man
versprach, in dreiviertel Stunden ihn zu schicken. Ich ging ver-
gnügter Dinge weg, streifte Kintschy, las den Kladderadatsch und
fand mit Behagen die Zeitungsnotiz, daß Wagner in der Schweiz
sei, daß man aber in München ein schönes Haus für ihn baue:
während ich wußte, daß ich ihn heute abend sehen würde und daß
— 3 —
gestern ein Brief vom kleinen König an ihn angekommen
sei, mit der Adresse: ,An den großen deutschen Tondichter
Richard Wagner.' Zu Hause fand ich zwar keinen Schneider,
las in aller Gemächlichkeit noch die Dissertation über die Eudokia
und wurde nur von Zeit zu Zeit durch gellendes, aber aus der
Ferne kommendes Läuten beunruhigt. Endlich wurde mir zur Gewiß-
heit, daß an dem altväterlichen eisernen Gittertor jemand warte:
es war verschlossen, ebenso wie die Haustür. Ich schrie über den
Garten weg dem Manne zu, er solle in das Naundörfchen kommen:
unmöglich, sich bei dem Geplätscher des Regens verständlich zu
machen. Das Haus geriet in Aufregung, endhch wurde aufgeschlossen,
und ein altes Männchen mit einem Paket kam zu mir. Es war halb
sieben Uhr; es w^ar Zeit, meine Sachen anzuziehen und Toilette zu
machen, da ich sehr weit abwohne. Richtig, der Mann hat meine
Sachen, ich probiere sie an, sie passen. Verdächtige Wendung! Er
präsentiert die Rechnung. Ich akzeptiere höflich ; er will bezahlt sein,
gleich, bei Empfang der Sachen. Ich bin erstaunt, setze ihm aus-
einander, daß ich gar nichts mit ihm als einem Arbeiter für meinen
Schneider zu tun habe, sondern nur mit dem Schneider selbst, dem
ich den Auftrag gegeben habe. Der Mann wird dringender, die Zeit
wird dringender; ich ergreife die Sachen und beginne sie anzuziehen,
der Mann ergreift die Sachen und hindert mich, sie anzuziehen:
Gewalt meiner Seite, Gewalt seiner Seite! Szene. Ich kämpfe im
Hemde: denn ich will die neuen Hosen anziehen. Endhch Aufwand
von Würde, feierhche Drohung, Verwünschung meines Schneiders
und seines Helfershelfers, Racheschwur: währenddem entfernt sich
das Männchen mit meinen Sachen. Ende des zweiten Aktes: ich
brüte im Hemde auf dem Sofa und betrachte einen schwarzen Rock,
ob er für Richard gut genug ist. — Draußen gießt der Regen. —
Ein Viertel auf acht: um halb acht habe ich mit Windisch verabredet
wollen wir uns im Theatercafö treffen. Ich stürme in die finstere,
regnerische Nacht hinaus, auch ein schwarzes Männchen, ohne Frack,
doch in gesteigerter Romanstimmung: das Glück ist günstig, selbst
die Schneiderszene hat etwas Ungeheuerlich-Unalltägliches. Wir
kommen in dem sehr behaglichen Salon Brockhaus an: es ist
niemand weiter vorhanden als die engste Familie, Richard und wir
beide. Ich werde Richard vorgestellt und rede zu ihm einige Worte
der Verehrung: er erkundigt sich sehr genau, wie ich mit seiner
1*
Musik vertraut geworden sei, schimpft entsetzlich auf alle Auf-
fühiungen seiner Opern, mit Ausnahme der berühmten Münchener,
und macht sich über die Kapellmeister lustig, welche ihrem Orchester
im gemütlichen Tone zurufen: ,Meine Herren, jetzt wird's leiden-
schaftlich!' — , Meine Gutsten, noch ein bißchen leidenschafthcher!'
W. imitiert sehr gern den Leipziger Dialekt. Nun will ich Dir in
in Kürze erzählen, was uns dieser Abend anbot, wahrlich Genüsse
so eigentlich pikanter Art, daß ich auch heute noch nicht im alten
Gleise bin, sondern eben nichts Besseres tun kann, als mit Dir,
mein teurer Freund, zu reden und , wundersame Mär' zu künden.
Vor und nach Tisch spielte Wagner, und zwar alle wichtigen Stellen
der Meistersinger, indem er alle Stimmen imitierte und dabei sehr
ausgelassen war. Es ist nämlich ein fabelhaft lebhafter und feuriger
Mann, der sehr schnell spricht, sehr witzig ist und eine Gesellschaft
dieser privatesten Art ganz heiter macht. Inzwischen hatte ich ein
längeres Gespräch mit ihm über Schopenhauer: Ach, und Du begreifst
es, welcher Genuß es für mich war, ihn mit ganz unbeschreiblicher
Wärme von ihm reden zu hören, was er ihm verdanke, wie er der
einzige Philosoph sei, der das Wesen der Musik erkannt habe. Dann
erkundigte er sich, wie sich jetzt die Professoren zu ihm verhalten,
lachte sehr über den Philosophenkongreß in Prag und sprach von
den , philosophischen Dienstmännern'. Nachher las er ein Stück aus
seiner Biographie vor, die er jetzt schreibt, eine überaus ergötzliche
Szene aus seinem Leipziger Studienleben, an die ich jetzt noch nicht
ohne Gelächter denken kann; er schreibt übrigens außerordentlich
gewandt und geistreich. — Am Schluß, als wir beide uns zum Fort-
gehen anschickten, drückte er mir sehr warm die Hand und lud
mich sehr freundlich ein, ihn zu besuchen, um Musik und Philo-
sophie zu treiben, auch übertrug er mir, seine Schwester und seine
Anverwandten mit seiner Musik bekannt zu machen: was ich denn
feierlich übernommen habe. — Mehr sollst Du hören, wenn ich
diesem Abende etwas objektiver und ferner gegenüberstehe."
Wenige Monate nach dieser denkwürdigen Begegnung, im
Februar 1869, erhielt Nietzsche eine Berufung als a. o. Professor
der klassischen Philologie an die Universität Basel. Von dort fuhr
er am Pfingstsamstag, 15. Mai, zum erstenmal nach dem Vier-
waldstättersee. In Luzern überlegte er, ob er es wagen dürfe, auf
Grund der im November ergangenen Einladung Wagner in seinem
Landhause „Tribschen*; im „Fideikommißhause", aufzusuchen. Lange
stand er vor dem Landhause still und hörte einen immer wieder-
holten schmerzlichen Akkord. Endlich kam ein Diener aus dem
Garten und sagte ihm, Herr Wagner arbeite stets bis 2 Uhr und
dürfe nicht gestört werden. Nietzsche jedoch entschloß sich, wenigstens
seine Karte abzugeben. Wagner ließ schnell herausfragen, ob der
Herr Professor derselbe Herr Nietzsche sei, den er bei seiner
Schwester, Frau Professor Brockhaus, in Leipzig kennen gelernt
habe. Auf die bejahende Antwort erhielt Nietzsche eine Einladung
zum Mittagessen. Leider mußte Nietzsche absagen, da er bereits
anderwärts vergeben war. Wagner schlug nun den Pfingstmontag
vor, und dieser Tag war der erste jener wunderbaren Tage, die
Nietzsche im Wagnerschen Kreise verleben durfte. Die für den 22. Mai,
Wagners Geburtstag, anberaumte Einladung mußte Nietzsche gleich-
falls absagen, dafür sandte er nach Tribschen einen Brief, in dem
der denkwürdige Passus steht: „Wenn es das Los des Genius ist,
eine Zeitlang nur paucorum honimum zu sein, so dürfen doch wohl
diese pauci sich in einem besonderen Grade beglückt und ausgezeichnet
fühlen, weil es ihnen vergönnt ist, das Licht zu sehen und sich an
ihm zu wärmen, wenn die Masse noch im kalten Nebel steht und
friert . . . Nun habe ich es gewagt, mich unter die Zahl dieser pauci
zu rechnen, nachdem ich wahrnahm, wie unfähig fast alle Welt,
mit der man verkehrt, sich zeigt, wenn es gilt, Ihre Persönlichkeit
als Ganzheit zu fassen, den einheitlichen, tiefethischen Strom zu
fühlen, der durch Leben, Schrift und Musik geht, kurz, die Atmo-
sphäre einer ernsteren und seelenvolleren Weltanschauung zu spüren,
wie sie uns armen Deutschen durch alle politischen Miseren, durch
philosophischen Unfug und vordrin ghches Judentum über Nacht ab-
handen gekommen war. Ihnen und Schopenhauer danke ich es, wenn
ich bis jetzt festgehalten habe an dem germanischen Lebensernst,
an einer vertieften Betrachtung dieses so rätselvollen und bedenk-
lichen Daseins." Und Anfang Juni 1869 teilt er voll Freude Rohde
mit, daß Wagner wirklich alles sei, was die Welt von ihm gehofft
habe: „ein verschwenderisch reicher und großer Geist, ein energischer
Charakter und ein bezaubernd Hebenswürdiger" Mensch, von dem
stärksten Wissenstriebe etc. etc.
Den tiefen Eindruck, den der junge Baseler Professor auf Wagner
ausübte, schildert dieser selbst in einem Briefe vom 3. Juli 1869;
— 6 —
es heißt darin: «Nun lassen Sie sehen, wie Sie sind. Viel wonnige
Erfahrungen habe ich noch nicht an deutschen Landsleuten gemacht.
Retten Sie meinen nicht ganz unschwankenden Glauben an das,
was ich — mit Goethe und einigen anderen — deutsche Freiheit
nenne." Als ein glückliches Omen für ihre Freundschaft be-
trachteten es beide Männer, daß während eines Logierbesuches
Nietzsches in Tribschen Wagner sein Sohn Siegfried geboren wurde.
Inzwischen hatte Rohde, wohl unter dem Einfluße von Nietzsches
Wagnerbegeisterung stehend, seinem Freunde einen schwungvollen
Brief gesandt, den Nietzsche in Tribschen vorlas. Wagner erbat
sich eine Abschrift desselben, „er war sehr gerührt", und Nietzsche
forderte seinen Freund auf, dem Meister in einem recht ausführ-
lichen Briefe seine Verehrung zu bekunden: die Welt kenne ja
gar nicht die menschhche Größe und Singularität seiner Natur. Er
könne in seiner Nähe nur sehr viel lernen: es sei dies sein prak-
tischer Kurs der Schopenhauerschen Philosophie. Wagners Nähe sei
sein Trost. Fast jeder Brief an Rohde aus dieser Zeit preist
das Genie Wagners, dieses „Juppiters", der festgewurzelt dasteht
durch eigene Kraft und unzeitgemäß im schönsten Sinne sei.
Wagners theoretische Schrift') „Über Staat und ReHgion" sei von
einer Höhe und Zeitentrücktheit, von einem Edelsinn und Schopen-
hauerschen Ernst, daß er selbst König sein möchte, um solche Er-
mahnungen zu bekommen. Wagner wünschte, daß Nietzsche die
Sommerferien dieses Jahres in Tribschen verbringen solle, was
Nietzsche jedoch ablehnte, worauf der Meister teils ärgerlich, teils
scherzhaft bemerkte, der Professor mache sich rar ! Im Herbste des-
selben Jahres sehen wir den jungen Professor wiederholt als allseits
gerne begrüßten Gast in des Meisters Hause, dessen Bewohner er
mit seiner Ideenwelt bekannt machte. Es ist nun für die im Hause
Wagners herrschende Auffassung charakteristisch, daß, als Nietzsche
seine Baseler Antrittsrede „Über die Persönlichkeit Homers" in
Tribschen vorlas, Wagner ihm durch seine Gattin antworten ließ,
Nietzsche dürfe nicht nur den großen Aischylos, sondern auch seinen
Homeros auf Tribschen suchen. Er werde ihn dort lebend und nach-
haltig wirkend finden. Der Meister stimme mit ihm in allen Punkten
betreffs ästhetischer Fragen vollständig überein.
^) Gewidmet dem König Ludwig als „Memoire".
__ 7 —
Indes gab es bei Wagner trotz dieser äußerlich scheinbar
friedlichen Verhältnisse Zeiten schwerster seelischer Aufregungen:
denn gegen Wagners Willen ließ König Ludwig in München das
Rheingold" aufführen, wobei es ihm „ganz gleich war, wie es auf-
geführt werde". Geschäftige Intrigantenhände bemühten sich, die
Lage noch kritischer und peinlicher zu gestalten. In dieser schweren
Zeit sagte Wagner wiederholt, daß Nietzsche „immer wie ein Bote
aus einer besseren und reineren Welt zu ihm gekommen sei". An
all diesen Kämpfen und tiefen Beunruhigungen nahm Nietzsche den
innigsten Anteil, wurde er doch von Wagners in jeder Hinsicht ins
Vertrauen gezogen. Kein Wunder also, daß sich durch dieses Mit-
einandertragen schwerster Erlebnisse eine tiefe, innige Freundschaft
zwischen Wagner, Frau Cosima und Nietzsche entwickelte; Frau
Cosima fand damals für dieses Verhältnis das schöne Wort: „Sie
sind uns ein Tribschner, und bei der materiellen und morahschen
Abgeschiedenheit unseres Hofes will das viel sagen." Wohl den
größten Beweis seines „ausschweifendsten Vertrauens" schenkte
Wagner Nietzsche, als er diesen mit der Drucklegung seiner Selbst-
biographie betraute. Von Interesse ist es auch, daß gelegentlich des
Entwurfes für ein Wagnersches Familienwappen, das einen Geier in
der Mitte zeigt, Wagner selbst seinen Stiefvater Geyer als seinen
wirklichen Vater bezeichnete, ein Faktum, worauf Nietzsche im
„Fall Wagner" anspielt.
Inzwischen war aber Nietzsche auch in seinem Berufe nicht
untätig gebUeben. So hatte er seine beiden Vorträge „Das griechische
Musikdrama" und „Sokrates und die Tragödie" im Manuskript nach
Tribschen gesandt. Für Nietzsches geistige Entwicklung sind diese
beiden Werkchen insofern von Wichtigkeit, als er in ihnen zum
erstenmal den zerstörenden Einfluß des Sokrates und Euripides auf
auf die griechische Tragödie bespricht. Wagner antwortete daher
seinem „teuersten Herrn Friedrich", daß dieser mit den ungeheuren
Namen der großen Athener in überraschender Weise modern um-
gegangen sei. Er selbst habe keinen gelinden Schreck empfunden
über die Kühnheit, mit der so kurz und kategorisch einem ver-
mutlich nicht eigentlich zur Bildung aufgelegten Publikum eine so neue
Idee mitgeteilt werde. Indessen fühle der Meister vollkommen mit
ihm mit, denn er habe das Rechte getroffen und den eigentlichen
Punkt auf das schärfste genau bezeichnet, so daß er nicht anders
— 8 —
als verwunderungsvoll seiner ferneren Entwicklung, zur Überzeugung
des gemeinen dogmatischen Vorurteils, entgegensehe. Doch habe er
Sorge um ihn und wünsche vom ganzen Herzen, Nietzsche solle sich
nicht den Hals brechen. Deshalb möchte er ihm raten, diese sehr
unglaublichen Ansichten nicht mehr in kurzen durch fatale Rück-
sichten auf leichten Effekt es absehenden Abhandlungen zu be-
rühren, sondern sich zu einer größeren, umfassenderen Arbeit
darüber sammeln. Dann werde er gewiß auch das richtige Wort für
die göttlichen Irrtümer des Sokrates und Piaton finden, welche so
überwältigend schöpferischer Natur waren, daß man, obwohl sich
von ihnen bekehrend, sie doch anbeten müsse. Auch Frau Cosima
griff zur Feder und teilte dem jungen Forscher mit, daß, wenn auch
Nietzsches Grundanschauung sie von vornherein sympathisch, ja
geradezu heimisch berührte, die Kühnheit und Schlichtheit der Ge-
danken ihr zunächst ganz überraschend gekommen sei. Was den Passus
betreffe, daß der Verfall der griechischen Tragödie mit Sophokles, ja
bereits mit Aischylos beginne, habe ihr der Meister beweisen müssen,
wie recht Nietzsche mit seinen Behauptungen habe. Tief bedauerlich ist
es, daß „der herrliche Brief", mit dem Nietzsche auf diese beiden
Schreiben antwortete, in Wahnfried vernichtet worden sein soll.
Aus beiden Briefen erhellt, daß sowohl Wagner wie Frau
Cosima ihrem Freunde den wohlgemeinten Rat gaben, aus dem
Vortrage über Sokrates und die griechische Tragödie ein größeres
Buch zu machen, welchen Rat Nietzsche ein wenig belächelte, zu-
mal schon seit „Jahren in ihm eine Fülle von ästhetischen Pro-
blemen und Antworten gärten", und er die Gelegenheit öffentlicher
Reden nur dazu benutzt hatte, um kleine Teile des großen Stoffes
auszuarbeiten, der in einem umfangreichen Buche über die Griechen
dargestellt werden sollte. Frau Förster nennt es als sehr bezeichnend
für Wagner, daß er trotz des innigen Verkehrs mit ihrem Bruder
sich dem Irrtum hingeben konnte, als ob diese kleinen Vorträge
gewissermaßen nur erste Apercus wären, daß er es nicht begriff,
wie sie nur das kleine Stück eines Gesamtergebnisses sein konnten,
das durch jahrelange Studien und viele verborgene Gedankenarbeit
vorbereitet sein mußte. Ob sich jedoch Nietzsche auf Wagners Vor-
schlag hin, seine neuen Ideen zu einem Buche zu vereinigen, über
seine innersten Pläne ausgesprochen hat, oder ob er es noch zu früh
fand, das läßt sich heute nicht mehr konstatieren, da ja auch
9
hiefür seine Briefe an Wagner fehlen. Doch soll es rückhaltslos
anerkannt werden, daß zwei Menschen von solch hoher
Intelligenz wie Wagner und Frau Cosima es sogleich
fühlten, daß sich hier etwas Neues und Überwältigendes
ankündigte.
Für den Meister war aber inzwischen wiederum eine Leidens-
zeit hereingebrochen. Von drückenden Geldsorgen gequält, war
er genötigt, die Aufführung der „Walküre" in München zuzulassen,
wiewohl die Theaterintendantur sich in keiner Weise nach Wagners
Wünschen richtete. Allein nur um den Preis dieses Opfers erkaufte
er sich seine materielle Unabhängigkeit: „dieses wäre denn der
Preis, um welchen ich mir so viel bürgerliche Ruhe erkaufe, um
wenigstens die Komposition meiner Werke ausführen zu können",
schrieb der Meister an Klindworth. Über diese Zwangsaufführung
der „Walküre" empfand Wagner bitteren Schmerz, dem er auch in
den kräftigsten Worten Luft machte, wie er es denn auch allen
seinen Freunden und Bekannten — darunter auch Franz Liszt —
sehr übelnahm, daß sie zur Aufführung nach München fuhren. Aber
auch die gleichzeitig erfolgenden r Meistersinger "-Aufführungen in
Wien und Berlin bereiteten dem Meister keine Freude. Daneben gab
es noch viele andere große und kleine Unannehmlichkeiten : Wagner
stand eben wie Zeit seines Lebens, so besonders damals nicht nur
im Mittelpunkte des allgemeinsten Interesses, sondern leider auch
des Klatsches. In all diesen Fährnissen stand Nietzsche unentwegt
und treu seinem großen Freunde zur Seite, nahm sich alle diese
Dinge sehr zu Herzen, und wo immer er eingreifen und Unan-
genehmes verhüten konnte, tat er es und konnte sich in seiner
Fürsorge für Wagner gar nicht genug tun.
Um so eifriger war man im engsten Familienkreise Wagners
bestrebt, vom Meister alles Unangenehme fernzuhalten und ihm
jene freudige Stimmung zu verschaffen, deren er bedurfte, um sich
zum Schaffen an seinem gewaltigen Nibelungenwerke angeregt zu
fühlen. Die fünf Kinder Daniella, Blandine, Isolde, Eva und Siegfried
halfen ihrer Mutter „unbewußt" mit, im Hause eine frohe Stimmung
zu verbreiten. Nietzsche erfreute sich bei den Kindern größter
Behebtheit: er war der „gute Herr Nützsche" oder der „gute
Herr Fressor", wiewohl er nach Isoldens Erklärung „niemand
freßt!"
— 10 —
Im April 1870 wurde Nietzsche zum Ordinarius seines Faches
ernannt, was ihn aber keineswegs mit den rosigsten Empfindungen
erfüllte. Überangestrengt durch berufliche Arbeit, und da er sich die
winterlichen Unannehmlichkeiten, die Wagner zuteil geworden
waren, allzusehr zu Herzen genommen hatte, hatte er Wagner
gegenüber wiederholt schon Andeutungen gemacht, ob er nicht seine
Professur aufgeben müsse, um sich ganz der Verteidigung des ge-
liebten Meisters zu widmen. Dagegen hatte sich der Meister auf das
ernstlichste ausgesprochen; denn wenn er auch wünschte, daß sich
Nietzsche ihm und seiner Verteidigung widmete, so sollte er dies
doch gerade als Universitätsprofessor tun, weil Wagner auf dieses
Amt und diesen Titel besonders hohen Wert legte. Als daher
Nietzsche nach einer kurzen Erholungsreise nach dem Genfer See
nach Basel zurückgekehrt war, mit seinen Amtspflichten sich völlig
ausgesöhnt hatte und sich eifrigst neuen philologischen Arbeiten
widmete, war niemand anderer damit mehr zufrieden als Wagner.
So schrieb er ihm: „Ich freue mich, daß der Ausflug an den Genfer
See Sie erheitern konnte. Jetzt, wo — wie ich ersehe — die Philo-
logie ,grau und leibhaftig' sich Ihrer Lebensregel bemächtigt hat,
und selbst belustigende Exkursionen in das Reich der , Style' Ihnen
beschwerlich fallen dürften, lassen Sie auch mich von Allotrien
schweigen: vielleicht trage ich auch so etwas dazu bei, Sie von
manchen verirrenden Eindrücken wieder abzuleiten, die Ihnen aus
einer Sphäre sich zudrängten, in welcher mit ganzem Willen die
Welt zu ersehen wiederum ein anderer sich für berufen
erachten kann oder — muß. Jede Ihrer Mitteilungen aber zeigt uns,
wie sehr Sie in Anspruch genommen sind, und mir muß der Selbst-
vorwurf, Ihnen — wenn auch im allerfreundlichsten Sinne — lästig
zu werden, nahe treten."
Leider war es Nietzsche auch in diesem Jahre nicht möglich
gewesen, bei Wagners Geburtstagsfeier anwesend zu sein, dafür
sandte er seinem „pater seraphicus" einen rührenden Brief, der in
dem Wunsche gipfelt, Wagner möge ihm auch im kommenden Jahre
das bleiben, was er ihm letzten Jahre gewesen: „der Mystagoge in
den Geheimlehren der Kunst und des Lebens". Unterschrieben hatte
er sich als „einer der seligen Knaben".
In seinem Antwortschreiben bedauerte es der Meister auf das
lebhafteste, daß der Professor in Tribschen nicht anwesend sein
— 11 —
konnte, betonte jedoch die Unannehmlichkeiten, die ihm sein Ver-
leger Bonfantini mit der Drucklegung der Autobiographie bereitete.
„Daß ich Ihnen, Wertester, nie die Einsicht in diese Blätter vor-
enthalten werde, bezweifeln Sie wohl um so weniger, als Sie wissen,
daß Sie von mir vorzüglich mit dazu bestimmt sind, über meinen Tod
hinaus ein Wächter über diese Andenken an mich zu sein."
Nietzsche gab sich inzwischen alle erdenkliche Mühe, seine
nächsten Freunde mit Wagner in nähere Beziehung zu bringen, und
war außerordentlich glücklich, als ihm dies gelang. Einem Briefe
an Baron Gersdorff entnehme ich folgende Stellen: „Daß wir nun
auch über Richard Wagner einig sind, ist mir ein überaus schätzens-
werter Beweis unseres Zusammengehörens. Denn es ist nicht leicht
und erfordert einen tüchtigen Mannesmut, um hier nicht bei dem
fürchterlichen Geschrei irre zu werden. Schopenhauer muß uns über
diesen Konflikt theoretisch hinwegheben: wie es Wagner praktisch,
als Künstler, tut. Unseren Juden ist vornehmlich verhaßt die ide-
alistische Art Wagners, in der er mit Schiller am stärksten ver-
wandt ist. Für mich knüpft sich alles Beste und Schönste an die
Namen Schopenhauer und Wagner, und bin ich stolz und glücklich,
hierin mit meinen nächsten Freunden gleichgestimmt zu sein." Und
so wurden denn Rohde und Baron Gersdorff von Wagner eingeladen,
wobei der schöne und ernste Rohde auf den Meister den angenehmsten
Eindruck machte. Frau Förster-Nietzsche gegenüber betonte der
Meister wiederholt, daß ihr Bruder und seine Freunde eine neue
wundervolle Art Mensch sei, die er bisher nicht für möglich hielt.
Über den besonderen Wunsch der Frau Cosima mußte Nietzsche
seine beiden Vorträge „Das griechische Musikdrama" und „Sokrates
und die Tragödie" noch einmal sorgfältig abschreiben und sie ihr
schenken. Hocherfreut drückte sie ihm ihren lebhaftesten Dank
hiefür aus. So heißt es bezeichnenderweise in dem Dankschreiben,
daß Nietzsches neue, aber durchaus treffende Bezeichnung des Chors
als Einzelwesen ihr wiederum gezeigt habe, wie tief musikalisch
Nietzsche sei, und vielleicht habe ihm sein großer musikalischer
Instinkt den Schlüssel zu dem Kern der griechischen Tragödie ge-
geben. Den krönenden Abschluß aller seiner Ideen werde er in
des Meisters Werken, in Bayreuth, erblicken können.
Ende Juni 1870 erhielt Nietzsche von Wagner ein scherzhaft
abgefaßtes Telegramm mit der dringenden Aufforderung, ihn in
— 12 —
Tribschen, wo bereits Hans Richter sich „dauernd installiert" hatte,
zu besuchen. Nietzsche leistete dieser Einladung am 15. Juli Folge,
während seine Schwester bei einer ihr bekannten Familie logierte.
Eines Tages ward nun auch Frau Förster in den Wagnerschen Kreis
eingeführt, was ihr anfänglich nicht besonders zu böhagen schien, da
das illegitime Zusammenleben des Meisters mit der Baronin v. Bülow
nicht ohne üble Nachrede besprochen wurde. Da indes eine alte,
vornehme Basler Dame mit den Worten: „Wo Ihr Bruder Sie hinführt,
können Sie überall hingehen", alle Bedenken in Nietzsches Schwester
zerstört hatte, begab sie sich zu Wagners, wurde freundhchst auf-
genommen und lernte es allmählich begreifen, daß Frau Cosimas
Entschluß, ihren bisherigen Gatten zu verlassen, wohl das höchste
Opfer war, das sie dem Genius Wagners und seinem Lebenswerke
brachte. So entspann sich auch zwischen den beiden Frauen ein
inniges Freundschaftsverhältnis. Inzwischen war aber der deutsch-
französische Krieg ausgebrochen, und Nietzsche wollte unbedingt
seiner patriotischen und soldatischen Pflicht nachkommen. Seine
Teilnahme am Kriege ist ja bekannt, ebenso, daß er sich dort die
ersten Keime zu seinem späteren schweren Leiden geholt hat.
Während er als freiwilliger Krankenpfleger auf den Schlachtfeldern
weilte, vollzog sich in Tribschen ein bedeutendes Ereignis: am
25. August 1870 wurden Wagner und Frau Cfosima v. Bülow ge-
traut, was nach Malwida v. Meysenbugs Versicherung Wagner un-
endUch freute, da nun endlich einmal seine bürgerlichen Verhältnisse
in Ordnung kämen. So bedauerte es denn der Meister aufs tiefste,
daß sein Freund diesem Trauungsakte nicht hatte beiwohnen können ;
denn gerade er, der aus einer Familie stammte, die mehrere der
tugendhaftesten Generationen hinter sich hätte, habe nach Wagners
eigenem Geständnisse, unter dessen illegalen häuslichen Verhältnissen
„schrecklich gelitten".
Als Schwerkranker vom Kriegsschauplatz heimgekehrt, beeilte
sich Nietzsche, Wagner seine am Schlachtfelde gemachten Erfahrungen,
die den Grundstein zu seiner späteren heroischen Philosophie bilden
sollten, in einem ausführlichen Briefe mitzuteilen und Wagners Sohn
anläßlich dessen Taufe, die gleichfalls in seiner Abwesenheit erfolgt
war, „ein fröhliches Glückauf" zu entbieten. Als Rekonvaleszent
begab sich Nietzsche nach Basel, um seine Lehrtätigkeit wieder auf-
zunehmen. In der Zwischenzeit hatte Wagner seine Schrift „Beethoven"
— 13 —
vollendet und schickte sie nun nach Basel als „liebevolle Begrüßung",
worauf ihm Nietzsche antwortete: „In dem ersten Anstürme des
neuen Semesters konnte mir nichts Erquicklicheres geschehen als
die Übersendung Ihres , Beethoven'. Wieviel mir daran liegen mußte,
Ihre Philosophie der Musik — und das heißt doch wohl: die Philo-
sophie der Musik kennen zu lernen, könnte ich Ihnen besonders an
einem Aufsatze deutlich machen, den ich für mich in diesem Sommer
schrieb, betitelt ,Die dionysische Weltanschauung'. In der Tat habe
ich durch dies Vorstudium erreicht, daß ich die Notwendigkeit Ihrer
Beweisführung vollständig und mit tiefsten Genüsse einsehe, so ent-
legen der Gedankenkreis, so überraschend und in Staunen versetzend
alles und namentlich die Ausführung über Beethovens eigentliche
Tat ist. Doch fürchte ich, daß Sie den Ästhetikern dieser Tage als
ein Nachtwandler erscheinen werden, dem zu folgen nicht räthch,
ja gefährlich, vor allem unmöghch gelten muß. Selbst die Kenner
Schopenhauerischer Philosophie werden der größten Zahl nach außer-
stande sein, den tiefen Einklang zwischen Ihren Gedanken und
denen Ihres Meisters sich in Begriffe und Gefühle zu übersetzen.
Und so ist Ihre Schrift, wie es Aristoteles von seinen esoterischen
Schriften sagt, zugleich herausgegeben und nicht herausgegeben. Ich
möchte glauben, daß Ihnen dem Denker zu folgen in diesem Falle
nur für den möglich ist, dem der , Tristan' vornehmlich sich ent-
siegelt hat." Der Schluß des Briefbogens ist im Original von un-
bekannter Hand abgerissen.
Nun, dieser Brief ist wohl eines der rührendsten Zeugnisse für
Nietzsches angeborene Höflichkeit und seinen Zartsinn. Anstatt
nämlich Wagner daran zu erinnern, daß er ihm den Vortrag „Über
die dionysische Weltanschauung" bereits Anfang August in Tribschen
vorgelesen hatte, tut er so, als ob er dies vergessen hätte, damit
Wagner nicht darauf aufmerksam gemacht werde, daß er einige
Ideen Nietzsches, ehe dieser sie selbst veröffentlichte, in seinem
„Beethoven" vorweggenommen hatte. Er drückt ihm nur für die
Gleichheit seiner Ansichten seine innigste Freude aus. Nicht im
mindesten zürnte er deshalb dem Meister, sondern feierte dieses Jahr
das Weihnachtsfest in Tribschen, in Wagners engstem Familienkreise,
bei welcher Gelegenheit er Zeuge der Uraufführung des „Tribschenei-
Idylls", später „Siegfried Idyll" genannt , wurde, das der Meistej
seiner Gattin zu Ehren als sinnigen Geburtstagsgruß komponiert hatte.
— 14 —
Zu Beginn des Jahres 1871 sehen wir Nietzsche auf das eifrigste
mit der Arbeit an seinem großen Griechenbuche beschäftigt, immer
neue Gedanken strömten ihm zu, aber nur einen Teil derselben
begann er zusammenzufassen; jedoch war diese Zusammenfassung
noch ohne jede Beziehung zu Wagner und seiner Kunst. Mitten in
diesen Arbeiten mußte Nietzsche plötzlich abbrechen. Denn sein Zu-
stand, der nach seiner Rückkehr nach Basel sehr schwankend ge-
worden war, hatte sich infolge der angestrengten Tätigkeit zusehends
verschlechtert. Wagner war über diese Erkrankung sehr erschrocken :
hatte er doch gehofft, nunmehr jeden Sonnabend und Sonntag seinen
Freund bei sich beherbergen zu können, wo unter Hans Richters
Leitung Beethoven-Quartett-Abende arrangiert worden waren. Über
ärztliches Anraten begab sich Nietzsche zur Erholung nach Lugano,
während Wagner, ungemein patriotisch gesinnt, an seinem Kaiser-
marsch komponierte; denn mit dem Siege der Deutschen erwartete
er auch den Sieg seiner Kunst. Als Nietzsche Anfang April von
seinem Urlaube zurückkehrte, mußte er über Wagners ausdrücklichen
Wunsch nach Tribschen kommen und dem Meister aus seiner neuen
Griechenschrift vorlesen. Dieser Aufenthalt muß nun für Nietzsche
mit einer sehr großen Enttäuschung verbunden gewesen sein. Denn
gerade infolge seiner Feinfühligkeit war es ihm nicht entgangen,
daß Wagner sich der bestimmten Hoffnung hingegeben habe, diese
neue Schrift Nietzsches werde irgendwie zur Verherrlichung seiner
Kunst dienen. So begeistert indes Nietzsche für Wagner und dessen
Kunst war, so sträubte sich zunächst doch die Gewissenhaftigkeit
des Gelehrten, in dieser Schrift, die damals den Titel „Griechische
Heiterkeit" hatte, so Verschiedenartiges miteinander zu verknüpfen,
wie Hellenentum und Wagnertum. Aber die Rücksicht auf den
Freund siegte und zerstreute alle Bedenken des Gelehrten; denn
sobald er nach Basel zurückgekehrt war, ergab er sich mit größtem
Eifer einer gründlichen Umarbeitung des Werkes, schied einige
Kapitel aus und beschränkte sich nunmehr auf das Problem der
griechischen Tragödie, um sie mit dem Hinweis auf Wagners Kunst
verbinden zu können.
Mittlerweile hatten Wagners eine Rundreise durch deutsche
Städte gemacht, bei welcher Gelegenheit in Bayreuth der damals
noch kühne Gedanke gefaßt wurde, hier für Wagners Werke ein
eigenes Festspielhaus zu erbauen, da das alte markgräfliche
-> 15 —
Rokokotheater hiefür als ungeeignet befunden wurde. Nach ihrer
Rückkehr nach Tribschen verlebte Nietzsche mit seiner Schwester
die Pfingstferien in Wagners Hause. Gerne schenken wir Frau Förster
unseren Glauben, wenn sie diese Tage zu den schönsten Erinnerungen
ihres Lebens zählt. „Niemals, weder vorher noch nachher, habe ich
in der Unterhaltung drei so verschiedener Menschen einen gleichen
wundervollen Zusammenklang wiedergefunden; jeder hatte seine
eigene Note, sein eigenes Thema und betonte es mit aller Kraft, und
doch, welch prachtvolle Harmonie! Jede dieser eigenartigen Naturen
war auf ihrer Höhe, leuchtete in ihrem eigenen Glänze, und doch
verdunkelte keiner den anderen!" Während Nietzsche den Sommer
in Grimmelwald bei Lauterbrunn verlebte, gab es in Tribschen sehr
viel Besuch. Denn jetzt, wo die häuslichen Verhältnisse Wagners
in bester Ordnung waren, strömten von allen Seiten die alten
Freunde und Bekannten herbei, so daß Nietzsche sich nicht ver-
pflichtet fühlte, Wagners so wie früher in ihrer Einsamkeit auf-
zusuchen. Trotz seiner großen Liebe für Wagner empfand er bei
dem starken Einfluß, den Wagner auf ihn ausübte, daß dies eine
Erleichterung sei, was von Wagner im stillen wohl bemerkt und im
mündlichen und schriftlichen Verkehr angedeutet wurde.
Die folgenden Tage und Monate waren für Nietzsche mit
schweren Sorgen erfüllt wegen der Verlagsübernahme seines Griechen-
buches durch einen Verleger. Da der Leipziger Verleger Engelmann
schon seit langem das Manuskript besaß, aber nichts von sich hören
ließ, beschloß Nietzsche auf den Rat seiner beiden Freunde Rohde
und Gersdorff, das Manuskript von Engelmann zurückzuverlangen
und an Wagners Verleger E. W. Fritzsch einzusenden, der die
Schrift nach einigem Zögern akzeptierte. Sobald Nietzsche diese
Angelegenheit geordnet sah, glaubte er in der Tat, noch etwas mehr
in Hinsicht auf Einmischung von Gedanken, die Wagner und seme
Kunst betrafen, wagen zu können und fügte dem Manuskript noch
ziemlich viel hinzu. Er schrieb darüber an Rohde: „Der ganze letzte
Dir noch unbekannte Teil wird Dich gewiß in Erstaunen setzen, ich
habe viel gewagt und darf mir aber in einem ganz enormen Sinne
zurufen: animam salvavi; weshalb ich mit großer Befriedigung der
Schrift gedenke und mich nicht beunruhige, ob sie gleich so an-
stößig wie möglich ausgefallen ist und von einigen Seiten geradezu
ein Schrei der Entrüstung bei ihrer Publikation laut werden wird."
— 16 —
Aber trotz alledem muß es hier offen ausgesprochen werden, daß
Nietzsche schon zu jener Zeit wiederholt Andeutungen machte, wie-
viel eigene, aber andere Ansichten er Wagner zuliebe unterdrückt
habe. „Von der Art," schreibt er an Rohde, „wie so ein Buch entsteht,
von der Mühe und Qual, gegen die von allen Seiten andringenden
anderen Vorstellungen sich bis zu dem Grade rein zu halten, von
dem Mut der Konzeption und der Ehrlichkeit der Ausführung hat ja
niemand einen Begriff: am allerwenigsten vielleicht von der enormen
Aufgabe, die ich Wagner gegenüber hatte, und die wahrlich in
meinem Innern viele und schwere Kontristationen verursacht hat.'''
Wagner selbst hatte keine Ahnung davon, wie sehr die Schrift
Nietzsches mit ihm, resp. der durch ihn vertretenen Kunstrichtung
zusammenhing. Er wollte darüber vorher nichts verraten und hatte
selbst die Schwester dringend ermahnt, davon auch nicht das Ge-
ringste verlauten zu lassen.
An dem Konzert, das Wagner unter seiner persönlichen Leitung,
um dem Bayreuther Unternehmen hilfreiche Freunde zu gewinnen,
in Mannheim gab, nahm auch Nietzsche teil. Das Programm enthielt
unter anderem Wagners Kaisermarsch, das Lohengrin-Vorspiel, das
Vorspiel zu den Meistersingern, Vorspiel und Schlußsatz aus Tristan
und Isolde. Dieses Konzert war für Nietzsche einer der tiefsten
Eindrücke seines Lebens. Er schreibt an Rohde: „Ach, mein Freund!
Daß Du nicht dabei sein konntest! Was sind alle sonstigen künst-
lerischen Erinnerungen und Erfahrungen, gemessen an diesen aller:
letzten! Mir ging es wie Einem, dem eine Ahnung sich endlich
erfüllt. Denn genau das ist Musik und nichts sonst! Und genau
das meine ich mit dem Wort , Musik', wenn ich das Dionysische
schildere und nichts sonst! Wenn ich mir aber denke, daß nur einige
hundert Menschen aus der nächsten Generation das von der Musik
haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig neue Kultur!
Alles was übrig bleibt und sich gar nicht mit Musikrelationen er-
fassen lassen will, erzeugt bei mir freiUch mitunter geradezu Ekel
und Abscheu. Und wie ich vom Mannheimer Konzert zurückkam,
hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übermächtige Grauen
vor der Tageswirkhchkeit : weil sie mir gar nicht mehr wirklich
erschien, sondern gespenstig." Die Weihnachtsferien 1871 verlebte
Nietzsche einsam in Basel, da er Zeit and Einsamkeit nötig hatte
um seine sechs Vorträge „Über die Zukunft der Bildungsanstalten"
— 17 —
auszuarbeiten. Sein neues Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik" war schon mehrere Wochen im Druck vollendet
und er wartete jeden Tag darauf, daß die fertigen Exemplare an-
kämen, um sie nach Tribschen zu schicken und Wagner, da sie
keine Weihnachtsgabe mehr sein konnte, wenigstens eine Neujahrs-
freude damit zu bereiten.
Am 2. Jänner 1872 sandte Nietzsche das Buch nach Tribschen.
„Endlich kommt mein Neujahrswunsch und meine Weihnachtsgabe.
Möge meine Schrift wenigstens in irgendeinem Grade der Teilnahme
entsprechen, die Sie ihrer Genesis bis jetzt, wirklich zu meiner Be-
schämung, zugewandt haben. Und wenn ich selbst meine, in der
Hauptsache recht zu haben, so heißt das nur so viel, daß Sie mit
Ihrer Kunst in Ewigkeit recht haben müssen. Auf jeder Seite
werden Sie finden, daß ich Ihnen nur zu danken suche für alles das,
was Sie mir gegeben haben: und nur der Zweifel beschleicht mich,
ob ich immer recht empfangen habe, was Sie mir gaben. Vielleicht
werde ich später einmal manches besser machen können: und
jSpäter' nenne ich hier die Zeit der ,Erfüllung', die Bayreuther Kultur-
periode. Inzwischen fühle ich mit Stolz, daß ich jetzt gekennzeichnet
bin und daß man mich jetzt immer in einer Beziehung zu Ihnen
nennen wird. Meiöen Philologen gnade Gott, wenn sie jetzt nichts
lernen wollen. Ich werde beglückt sein, verehrtester Meister, wenn
Sie diese Schrift, am Beginn des neuen Jahres, als ein gutes und
freundhches Wahrzeichen entgegennehmen wollen. Unter Segens-
wünschen für Sie und Ihr Haus und mit heißem Dank lür Ihre
Liebe bin ich, der ich war und sein werde, Ihr getreuer Friedrich
Nietzsche." Darauf antwortete Wagner: „Schöneres als Ihr Buch
habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrUch! Nun schreibe ich
Ihnen schnell, weil die Lektüre mich übermäßig aufregte und ich
erst Vernunft abwarten muß, um es ordentlich zu lesen. — Zu
Gosima sagte ich, nach ihr kämen gleich Sie: dann lange kein
anderer, bis zu Lenbach, der ein ergreifend richtiges Bild von mir
gemalt hat! — Beachten Sie, was ich Ihnen schrieb — übrigens
im Betracht der Sache, Gleichgültiges. — Adieu! Kommen Sie bald
auf einen Husch herüber, dann soll es dionysisch hergehen! Ihr R. W."
Cosima schrieb zunächst nur eine Empfangsbestätigung, dann aber
in tiefer Ergriöenheit, daß das Einzige, was sie und ihren
Gatten beschäftige und bekümmere, nur Nietzsche sei; es dünke
Grießer, Wagner und Nietzsche. 2
— 18 —
sie, daß es nur einen Wagner- All wissenden gebe, und dieser sei —
Nietzsche.
Die Freundesbriefe, die von höchster Bewunderung für den
Autor und sein Werk erfüllt waren, sodann das erschrockene Er-
staunen derer, die Nietzsche zwar wohlgesinnt waren, aber beim
Lesen seines Werkes „gehnden Schauder" empfanden — alles das
erschütterte ihn aufs tiefste. Er wurde krank und befürchtete, zum
Glück grundlos, daß der Zustand des vorigen Jahres sich wieder-
holen könnte. Wohl aber wurde er dadurch verhindert, der dringenden
Einladung nach Tribschen Folge zu leisten, zumal ihn die Nieder-
schrift seiner Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten"
sehr in Anspruch nahm. Wagner konnte sich das Fernbleiben seines
Freundes nicht erklären: denn soeben hatte ihm dieser in so stür-
mischen Worten seine Bewunderung ausgedrückt und nun schwieg
er beharrlich. Wagners angebornes Mißtrauen begann sich zu regen
und in einem Briefe machte er auch kein Hehl daraus ; der Meister
argwöhnte, Nietzsche habe die Veröffentlichung seines Buches bereits
bereut! Dem war aber gewiß nicht der Fall; denn Nietzsche hatte
sich vielmehr bemüht, an alle Freunde und Bekannte des Wagnerschen
Kreises Exemplare seines Buches zu schicken. Ja, sogar an den
König Ludwig mußte der Autor, von Wagner gedrängt, ein Exemplar
absenden.
Das Jahr, das so freudig und zukunftsfroh für beide Männer be-
gonnen hatte, sollte aber gar bald zu schweren Krisen führen. Denn
Ende Jänner traf Wagner auf der Durchreise nach Berlin in Basel
ein und schüttete Nietzsche sein Herz aus. Man hatte ihn nämhch
nach Berlin berufen durch die Mitteilung, daß dort jemand 200.000 Taler
zusammenbringen wolle, so daß auch vor der Zeichnung der Patronats-
scheine mit vollem Vertrauen mit dem Baue des eigenen wie des
Festspielhauses in Bayreuth begonnen werden konnte. Wagner aber
leistete dieser Aufforderung nur ungern Folge, denn diese Reise riß
ihn mitten aus der Komposition am HL Akte der „Götterdämmerung"
heraus, und außerdem hatte er nicht das rechte Vertrauen zu dieser
Sache. Da erging er sich denn in leidenschafthchen Klagen über die
drückenden Sorgen und gab auch seinem Unmut darüber Ausdruck,
„daß alles auf ihm läge, daß ihm niemand in solchen Dingen zur
Seite stünde" usw. usw. Nietzsche war tief erschüttert, den geliebten
Meister so leiden zu sehen; er tröstete ihn, soviel er konnte, da er
— 19 —
im Gegensatz zu Wagner an die damals phantastische Möglichkeit
einer solchen plötzlichen Hilfe glaubte, zumal auch eine günstige
Nachricht gerade in Basel eintraf. Am liebsten wäre er mit ihm
nach Berlin gereist; da sein Amt ihn daran hinderte, schrieb er an
Baron Gersdorff, seine Stelle bei Wagner einzunehmen: „Du wirst
verwundert sein, Wagner so plötzlich bei Dir zu sehen. Ich beschwöre
Dich, alles zu tun, zu sehen, zu empfinden, was ihm in einem so
wichtigen Moment von Wert sein kann. Ich übertrage auf Dich für
diese Tage alles das, was ich für ihn empfinde, und bitte Dich, so
zu handeln, als ob Du ich wärst." Gersdorff entsprach vollständig
dem in ihn gesetzten Vertrauen. Daher schrieb Nietzsche dankbar
dem hilfsbereiten Freunde: „Was Du auch tun magst — denke
daran, daß wir beide mit berufen sind, an einer Kulturbewegung
unter den ersten zu kämpfen und zu arbeiten, welche vielleicht in
der nächsten Generation, vielleicht noch später, der größeren Masse
sich mitteilt. Dies sei unser Stolz, dies ermutige uns: im übrigen
habe ich den Glauben, daß wir nicht geboren sind, glücklich zu
sein, sondern unsere Pflicht zu tun; und wir wollen uns segnen,
wenn wir wissen, wo unsere Pflicht ist." Dieses Pflichtgefühl bewog
Nietzsche nochmals, den Meister seiner BereitwiUigkeit zu versichern,
auf Amt und Würden zu verzichten, um sich ganz dem Meister zu
widmen: „Es scheint jetzt der Moment zu sein, in dem der Bogen
endlich gespannt wird — nachdem er lange mit schlaffen Sehnen
dahing. Daß Sie es aber auch sein müssen, der dies tut! Daß doch
alles zuletzt auf Sie zurückgeht! Ich empfinde meine jetzige Existenz
als einen Vorwurf und frage Sie aufrichtig an, ob Sie mich brauchen
können. "
Wir wissen bereits, daß Wagner in wahrhaft väterUcher Be-
sorgnis seinem jungen Freunde ernstlich davon abgeraten hatte, auf
seine schöne Stellung ihm zuliebe zu verzichten. Jetzt aber lagen
die Dinge ganz anders: der Bayreuther Gedanke reifte tatsächhch
der Verwirklichung entgegen. Zudem hatte der Mannheimer Emil
Heckel Wagner den Rat gegeben, einen Freund in den deutschen
Städten herumzuschicken, damit er über das Bayreuther Unternehmen
aufklärende Vorträge halte. Niemand eignete sich nach Wagners
Überzeugung hiefür mehr als Nietzsche: denn er, der durch die
Herausgabe seines ersten Werkes im Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses stand, werde mit spielender Leichtigkeit die breite Öffent-
2*
— 20 —
lichkeit zum Verständnis und zur Erfüllung seiner Pläne hinreißen.
Und in der Tat: Nietzsche war bereit, mit Verzicht auf sein Amt,
sich dieser Aufgabe zu unterziehen. Allerdings kam ihm dieser Ent-
schluß keineswegs aus leichtem Herzen; aber die Überzeugung, er
stehe dem Meister am nächsten, legte ihm diese höchste Verpflichtung
auf, sich rest- und selbstlos jenem zu widmen. Von solchen Emp-
findungen ist ein Brief an Rohde getragen, dem er sich gerne an-
vertraut hätte: „Warum leben wir nicht beieinander! Denn was ich
jetzt alles auf dem Herzen trage und für die Zukunft vorbereitet,
ist in Briefen auch nicht einmal zu berühren. Ich habe mit Wagner
eine Alliance geschlossen. Du kannst Dir gar nicht denken, wie nahe
wir uns jetzt stehen und wie unsere Pläne sich berühren . . . Ein
ungeheurer Ernst erfaßt mich bei allem, was ich über mein Buch
vernehme, weil ich in solchen Stimmen die Zukunft dessen, was
ich vorhabe, errate. Das Leben wird noch sehr schwer."
„Sehr glücklich" kehrte Wagner aus Berlin nach Tribschen
zurück, von wo er sofort an Nietzsche schrieb; aus diesem Briefe
erhellt, daß die Andeutungen, die er Nietzsche seinerzeit in Basel
gemacht hatte, seinen innersten Wunsch verraten hatten, daß er
aber in seiner väterlichen Liebe zu dem jungen Freunde noch immer
zögerte, das Opfer, zu dem jener sich erbot, anzunehmen. „Fast
war ich in Berlin erschrocken, in Basel so deutlich von Ihnen ver-
standen worden zu sein ! Gersdorff wird Ihnen viel berichtet haben ;
vor ihm ging alles offen her. Nur Bayreuth kennt er noch nicht:
dort habe ich tief erfreuen de Wohltaten empfangen. Sie boten sich
mir nach Berhn an? Einen kleinen Gebrauch mache ich sogleich
davon. Ich habe mehrere Tage der kompliziertesten Korrespondenz
vor mir. Helfen Sie mir!" Wagners Zögern, Nietzsches Opfer an-
zunehmen, hätte Nietzsche vielleicht veranlaßt, seinen Plan, in
verschiedenen Städten Vorlesungen zugunsten Bayreuths zu halten,
auf längere Zeit hinauszuschieben. Aber nun war ihm der Gedanke
gekommen, seinen Freund Rohde mit diesem selben Plane von dem
Privatdozenttume zu erlösen. Rohde sollte seine Stelle an der Baseler
Universität bekommen, und zwar schon fürs nächste Wintersemester,
während er selbst dann seine Vortragsreise antreten wollte. Zwei
Freunden zu gleicher Zeit zu helfen, schien ihm entzückend.
II. BAYREUTH. DIE GRUNDSTEINLEGUNG DES
FESTSPIELHAUSES.
Die Berliner Angelegenheit, die sich so vielsprechend angelassen
hatte, sollte sich leider als eine große Enttäuschung erweisen, so
daß die Fixierung der Grundsteinlegungsfeier in Bayreuth mit dem
22, Mai 1872 etwas verfrüht erschien. Aber mit staunenswerter Energie
überwand Wagner auch diesen harten Schlag: er blieb unermüdlich
tätig, stark im Glauben an seine gerechte Sache, ungebeugt, tapfer
und aufrecht, lauter Eigenschaften, die Nietzsche im höchsten Grade
entzückten. Und in der Tat : für jeden, der ein hehres Ziel vor sich
hat, muß Wagners Verhalten ein leuchtendes Beispiel sein. Daher
kann und muß es höchst gleichgültig sein, ob alle die Wege, die
er beschritt, um zu seinem Ziele zu gelangen, erfreulich sind. Nur
weil Wagner von so starkem Glauben an das Gelingen seines
Werkes getragen wurde, weil er von seinem hehren Künstlertum
so felsenfest überzeugt war, ist es zu erklären, daß so real und
nüchtern denkende Männer wie Heckel, Feustel und Muncker sich
trotz aller anstürmenden Schwierigkeiten mannhaft für Wagners
Pläne einsetzten. Mit aufrichtigster Teilnahme und neidloser Be-
wunderung verfolgte Nietzsche mit seinen Freunden jede Phase in
der Entwicklung dieses Kulturproblemes.
Da demnach das Bayreuther Unternehmen gesichert erschien,
mußte Wagner daran denken, seine Tribschener Einsamkeit aufzu-
geben und in die Welt zurückzukehren. So kam denn auch für
Nietzsche die schwere Stunde des Abschieds von der „seligen Insel".
Als er Ende April bei Wagner eintraf, war Frau Cosima mit dem
Einpacken beschäftigt. Nietzsche setzte sich an den Flügel und
begann zu phantasieren. All sein Schmerz, unaussprechliche Hoff-
nungen und Befürchtungen, holde Erinnerungen und das Gefühl,
daß hier etwas Unwiederbringliches verloren ging, klang in seinen
wunderbaren Melodien jubelnd und wehklagend durch die verödeten
— 22 -
Räume. Noch in späten Jahren, als sich alle Empfindungen der
Freundschaft geändert hatten, erinnerte sich Frau Cosima jener
seltsam faszinierenden, tief zu Herzen gehenden Phantasie. Er
schreibt an Baron Gersdorff : „Vorigen Sonnabend war trauriger und
tiefbewegter Abschied von Tribschen. Tribschen hat nun aufgehört:
wie unter lauter Trümmern gingen wir herum, die Rührung lag
überall, in der Luft, in den Wolken, der Hund fraß nicht, die
Dienerfamilie war, wenn man mit ihr redete, in beständigem
Schluchzen. Wir packten die Manuskripte, Briefe und Bücher zu-
sammen— ach, es war so trostlos! Diese drei Jahre, die ich in
der Nähe von Tribschen verbrachte, in denen ich 23 Besuche dort
gemacht habe — was bedeuten sie für mich! Fehlten sie mir, was
wäre ich ! Ich bin glücklich, in meinem Buche mir selbst jene
Triebschener Welt petrifiziert zu haben."
War es Schicksalsfügung? Als Wagner und Nietzsche Tribschen
verließen und der Meister im Strome des in Bayreuth sich auf-
tuenden Lebens unterging, begannen am Horizonte dieser Freund-
schaft die Wolken der ersten Mißverständnisse langsam aufzuziehen.
Eine neue Welt hatte sich aufgetan, von der bisherigen durch eine
abgrundtiefe Kluft getrennt. Selbst Frau Cosima gedachte noch
später dieser mühevollen Unruhe der Festspiele, die bei weitem
nicht das gewesen waren, was man sich in seinen Träumen vorher
so schön vorgestellt hatte, und so schrieb sie denn am Neujahrstage
1877: „Am Sylvestermorgen gedachten wir Ihrer Besuche und es
war, als ob die Festspiele selbst den Zauber dieser Einsamkeit nicht
aufwiegen konnten, zu welcher wir nun blicken, wie zu einem ver-
lorenen Paradies."
Wie bereits erwähnt, fand am 22. Mai 1872 die feierliche
Grundsteinlegung des Festspielhauses statt. Der Andrang der Fest-
gäste war enorm, und Freund Nietzsche wurde, nach Rohdes scherz-
hafter Bemerkung, vom Meister „wie ein seltenes Schaugericht"
herumgezeigt. Was Wagner selbst an jenem denkwürdigen Tage
empfunden haben mag, das hat Nietzsche wundervoll nachgefühlt
und in seiner „IV. Unzeitgemäßen" in unsterbliche Worte zu kleiden
versucht: „Als an jenem Maitage des Jahres 1872 der Grundstein
auf der Anhöhe von Bayreuth gelegt worden war, bei strömendem
Regen und verfinstertem Himmel, fuhr Wagner mit einigen von
uns zur Stadt zurück; er schwieg und sah dabei mit einem BUck
— 23 —
lange in sich hinein, der mit einem Worte nicht zu bezeichnen wäre.
Er begann an diesem Tage sein sechzigstes Lebensjahr: alles Bis-
herige war die Vorbereitung auf diesen Moment. Man weiß, daß
Menschen im Augenblick einer außerordentUchen Gefahr oder über-
haupt in einer wichtigen Entscheidung ihres Lebens durch ein un-
endhch beschleunigtes Schauen alles Erlebte zusammendrängen und
mit seltener Schärfe das Nächste wie das Fernste wieder erkennen.
Was Wagner an jenem Tage innerUch schaute — wie er wurde,
was er ist, was er sein wird — das können wir, seine Nächsten,
bis zu einem Grade nachschauen : und erst von diesem Wagnerischen
Blick aus werden wir seine große Tat selber verstehen können —
um mit diesem Verständnis ihre Fruchtbarkeit zu ver-
bürgen."
Und mit heiligen Entschlüssen verließen Nietzsche, Kohde und
Gersdorfif Bayreuth. An letzteren schrieb nachher Nietzsche: „Ach,
mein Freund, wir wissen, was wir erlebt haben. Diese heilig ernsten
Erinnerungen wird uns niemand rauben können. Durch sie gefeit
und für sie kämpfend, müssen wir nun durchs Leben gehen und
vor allem bestrebt sein, in allen unseren Hauptschritten so ernst
und kräftig als möglich zu sein, um uns jener großen Erlebnisse
und Auszeichnungen würdig zu erweisen."
Der literarische Streit, der nun um den wissenschaftlichen Wert
oder Unwert der „Geburt der Tragödie" entbrannte und leidenschaft-
lich geführt wurde, soll später ausführlicher besprochen werden.
Hier sei nur so viel mitgeteilt, daß Wagner mannhaft für seinen
Freund eintrat, was diesen tief rührte. Leider ist der Brief, mit dem
Nietzsche Wagner seinen Dank abstattete, vernichtet. Nietzsche
vermutete nämlich, daß der Meister in seiner Liebe für ihn einiges
achreiben könnte, was ihm seine Stellung in der Gelehrtenwelt noch
mehr erschweren würde. Wagners „Sendschreiben" war indes besser
und schöner ausgefallen, als er zwar geahnt hatte. Wagner ver-
hehlte sich jedoch nicht, welchen Schaden sich Nietzsche durch
seine Parteinahme für ihn zugefügt hatte, und daß seine Veröffent-
lichung dies nicht gebessert, sondern eher noch verschlimmert haben
könnte. So heißt es in einem Briefe Wagners: „0 Freund! Nun
machen Sie mir eigentlich nur noch Sorge, und zwar, weil ich auf
Sie so viel gebe I Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau,
der einzige Gewinn, den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar
— 24 —
glücklicherweise noch Fidi dazu ; aber zwischen dem und mir bedarf
es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn
zum Enkel. Für Fidi habe ich keine Angst, aber für Sie und inso-
fern auch für Fidi. Und diese Sorge ist recht gemeinbürgerlich. Daß
ich Ihnen die Wege bräche, habe ich aus meinem ,Briefe'
gerade nicht ersehen und muß vermeinen, Ihnen weiter nichts als
eine schöne Last auf dem Halse gelassen zu haben; auch meinte
ich nicht, daß Sie für Ihre Aufgabe ,reifen' sollten, sondern eben
nur, daß Sie Ihr Leben lang vollauf damit zu tun haben würden."
Ich glaube, schon jetzt die Behauptung aufstellen zu können,
daß es, wie aus dieser und anderen, bereits zitierten, Äußerungen
unzweideutig erhellt, "Wagner hauptsächlich darauf ankam, Nietzsches
geniale Begabung für sich und seine ehrgeizigen Pläne voll zu ver-
werten, ihn zu einem willenlosen Instrument für die Verwirklichung
der eigenen Ansichten, der eigenen Schöpfungen zu erziehen.
III. ERSTE MISSVERSTÄNDNISSE.
Es wurde bereits betont, daß das Jahr 1873 die ersten Miß-
verständnisse zwischen beiden Männern bringen sollte. Nun wissen
wir, daß mit Wagners Übersiedlung nach Bayreuth Nietzsches Be-
suchen beim Meister in Tribschen ein jähes Ende gesetzt worden
war. Niemand empfand dies schmerzlicher als Nietzsche; aber auch
Wagner litt unter dieser Trennung. Wiederholt gab er der Befürch-
tung Ausdruck, daß durch die Entfernung doch Mißverständnisse in
ihrem Verhältnisse zueinander eintreten könnten, eine Befürchtung,
der Nietzsche vielleicht nicht so energisch widersprochen hatte als
es Frau Wagner wünschte. So schrieb sie Anfang Dezember:
„Glauben Sie mir, es kann hier keine Entfremdung mehr statt-
finden wie auch kein Mißverständnis; ich, die sonst sehr Bange,
bin davon überzeugt." Es sollte indes ganz anders kommen.
Nietzsche verbrachte seine diesjährigen Weihnachtsferien bei seiner
Mutter in Naumburg. Plötzlich schickte Wagner eine Einladung,
Nietzsche möge schleunigst nach Bayreuth kommen und solle dazu
seine Rückreise benutzen. Nietzsche lehnte ab, aus zwiefachem
Grunde: erstens wollte er seine Mutter nicht kränken, zweitens
wollte er die kurze Zeit der Erholung sich durch einen Aufenthalt
in Bayreuth nicht verkürzen. Hätte er indes geahnt, bemerkt Frau
Förster-Nietzsche, wie peinlich Wagner die Ablehnung einer Ein-
ladung auslegte, so würde er vielleicht weniger Rücksicht auf die
Mutter und seine persönliche Ruhe genommen haben. Aber Wagner
hatte keine Vorstellung davon, wie sehr er seine treuesten Ver-
ehrer beeinflußte, so daß sie oft in ihren eigenen Produktionen
gehindert wurden. Und Nietzsche schrieb gerade damals an fünf
kleineren Abhandlungen, die er Frau Cosima dedizierte: ,Frau
Gosima Wagner in herzlicher Verehrung und als Antwort auf münd-
liche und briefliche Fragen, vergnügten Sinnes niedergeschrieben in
den Weihnachtstagen 1872." Auf diese Sendung erhielt Nietzsche
- 26 -
weder ein Dankeswort noch den gewohnten Neujahrsgruß, und er
würde sich wohl darüber gewundert haben, wenn er nicht gewußt
hätte, daß Wagners im Jänner 1873 eine große Konzertrundreise
durch Deutschland unternommen hätten. Inzwischen schrieb er einen
polemischen Artikel gegen einen Feind Wagners, woraus seine große
Verehrung für diesen erhellt, zumal ihm eigentlich eine derartige
Polemik höchst unangenehm war und er nur aus Liebe zu Wagner
seine Abneigung überwand und sich Wagner selbst im Stile anzu-
passen suchte. Seit Anfang Dezember 1872 hatte Nietzsche keinen
Brief von Bayreuth erhalten und allmähUch hätte er sich über das
Schweigen der Bayreuther Freunde doch zu wundern angefangen,
wenn ihm nicht Rohde Ende Jänner 1873 eine ausführhche Be-
schreibung von Wagners Aufenthalt in Hamburg und der damit
verbundenen Konzerte gegeben hätte: „Von Dir war in den wenigen
ruhigen Momenten viel die Rede. Frau Wagner läßt Dich vor allem
herzlich grüßen. Dich dann um Verzeihung bitten wegen ihres
Schweigens auf Deine Sendung." Endlich schrieb Frau Wagner am
12. Februar von Bayreuth aus: „Warum ich die Ankunft der Sen-
dung und das Eintreten des neuen Jahres vorüber gehen Heß, ohne
selbst durch eine Depesche Ihnen zu melden, wie ich Ihrer gedacht?
Dies ist der Punkt, den ich freimütig mit Ihnen berühren will, weil
dieser Freimut mir einzig der Freude wert zu sein scheint, die Sie
mir bereitet haben, und an welcher ich mich noch labe. Der Meister
war durch Ihr Nichtkommen, und durch die Art, wie Sie uns dieses
Nichtkommen meldeten, gekränkt; es widerstrebte mir, Ihnen dies
sogleich zu sagen, und es Ihnen nicht zu sagen, und ich übergab
es der langmütigen Zeit, die unbedeutenden Verstimmungen zu
tilgen, und die Reinheit der wahren Gefühle emporblühen zu lassen
— heute ist dies geschehen, und wenn wir von Ihnen sprechen, so
höre ich nicht den leisesten Ton der gekränkten Freundschaft,
sondern nur die Freude über das, was Sie uns wiederum gegeben."
Wagner klärte persönlich das Mißverständnis nicht auf und sein
nächster Brief erhielt nur am Schlüsse Worte der alten vertrauens-
vollen Freundschaft. Später erfuhr Nietzsche durch Gersdorff, der
Neujahr in Bayreuth verlebte, daß Wagner geradezu getobt hätte
und nicht aufgehört hätte zu erklären, wie sehr er Nietzsche liebe ;
daß aber dieser sich ihm gegenüber immer zurückhalte und seine
eigenen Wege gehe! So war denn wieder alles aufgehellt, aber
— 27 —
Nietzsche schrieb an Gersdorff: »Von dem Meister und Frau Wagner
habe ich herrliche Briefe : es kam zutage, was ich gar nicht wußte,
daß Wagner über mein Nichtkommen zu Neujahr sehr gekränkt
gewesen ist — das hast Du gewußt, liebster Freund, aber mir ver-
schwiegen. Aber alle Wolken sind verscheucht und es ist ganz gut,
daß ich nichts wußte: denn mancherlei kann man nicht besser,
sondern höchstens noch schlechter machen. Gott weiß übrigens, wie
oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedesmal vom
neuen und kann gar nicht dahinterkommen, woran es eigentlich
liegt. Um so glückUcher bin ich, daß jetzt wieder Frieden geschlossen
ist. Sage mir doch Deine Ansicht über das wiederholte Anstoßgeben.
Ich kann mir gar nicht denken, wie man Wagner in allen Haupt.
Sachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben sein könne, als
ich es bin : wenn ich es mir denken könnte, würde ich's noch mehr
sein. Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer
gewissen, für mich notwendigen, beinahe ,sanitarisch' zu nennenden
Enthaltung von häufigerem persönlichem Zusammenleben muß ich mir
meine Freiheit wahren, wirklich nur, um jene Treue in einem
höheren Sinne halten zu können. Darüber ist natürlich kein Wort
zu sagen, aber es fühlt sich doch — und es ist dann verzweifelt,
wenn es gar Verdrießlichkeiten, Mißtrauen und Schweigen nach
sich zieht. Ich hatte diesmal keinen Augenblick daran gedacht,
solchen heftigen Anstoß gegeben zu haben; und ich fürchte immer,
durch solche Erlebnisse noch ängstUcher zu werden, als ich es
schon bin. Bitte, liebster Freund, Deine offene Ansicht!" Aber der
Freund tröstete mit guten, verständigen Worten, so daß ihm dadurch
die „dummen fliegenden Mücken" verscheucht wurden. Und da zu-
dem Rohde schon immer gewünscht hatte, mit Nietzsche einmal
allein in Bayreuth zu sein, so fragte Nietzsche in Bayreuth an, ob
er in den Osterferien mit dem Freunde kommen dürfe; Wagner
antwortete telegraphisch: „Vernünftige Vorschläge erfreuen immer,
zumal in Form von herzlich akzeptierten Besuchsanmeldungen, also
Sonntag. K. Wagner." Voller Freude und Entzücken schrieb auf
das hin Nietzsche an Gersdorff: „Denke Dir, morgen reise ich auf
acht Tage fort, treffe übermorgen mit Rohde zusammen — und
wo? natürlich in Bayreuth. Ich begreife selbst noch nicht, wie
schnell und plötzlich sich alles dies gemacht hat. Vor acht Tagen
dachte keiner von uns an so etwas. Meine Freude ist heute eine
— 28 —
ganz unsinnige, denn es scheint mir, daß alles wieder so schön
zustande kommt, wie ein Gott es sich nicht besser wünschen
könnte. Ich hoffe, daß mein Besuch wieder gut macht, was mein
weihnachtliches Nichtkommen schlecht gemacht hat, und danke Dir
recht von Herzen für Deinen einfachen und kräftigen Zuspruch/
Aber trotz der freudigen Zuversicht, in der dieser Besuch an-
getreten wurde, blieben sowohl Nietzsches wie Wagners an ihn
geknüpften Hoffnungen unerfüllt. Knapp vorher hatte Nietzsche an
Gersdorff geschrieben, daß er nach Bayreuth ein neues Manuskript
„Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" zum Vor-
lesen mitbringen werde. Er habe sich wieder einmal auf das herr-
lichste überzeugt, was die Griechen sind und waren. Es läßt sich
heute nicht mehr feststellen, ob das Manuskript wirklich vorgelesen
worden ist oder, was wahrscheinlicher zu sein scheint, ob Wagner
sich überhaupt gegen eine Vorlesung schon vorher ausgesprochen
hat. Tatsache ist, daß mit dieser Schrift für Nietzsche eine sehr
bittere Enttäuschung verbunden war; aber auch Wagner ließ sich
wie schon früher einmal, nur viel auffälliger, eine sehr
deutliche Enttäuschung anmerken; denn da ihm Nietzsche vorher
geschrieben hatte, er hoffe, durch die Vorlesung eines neuen Manu-
skriptes Freude zu bereiten, hatte er nichts ihm so fern Liegendes
wie die Philosophie der Griechen erwartet, sondern etwas Aktuelles,
das mit der Gegenwart, das mit seinen Freunden und Feinden, mit
seiner Kunst und Bayreuth irgendwie zusammenhängen sollte.
Gerechtfertigt wäre diese Erwartung Wagners dadurch, daß sich
damals sein ganzes Sinnen und Trachten nur um das Bayreuther
Unternehmen konzentrierte, das ihn mit schweren Sorgen erfüllte:
denn von den tausend emittierten Patronatsscheinen waren trotz
aller Anstrengungen kaum zweihundert gezeichnet. Aber in dieser
ernsten Situation zeigte sich wiederum einmal Nietzsches vornehme
und zartfühlende Denkungsart im schönsten Lichte: sobald er sich
nämhch über den Ernst der Lage klar geworden war, fühlte er sich
ganz beschämt, daß er inzwischen sich mit griechischer Philosophie
beschäftigte, ganz abseits von den Kämpfen und Enttäuschungen
seiner Bayreuther Freunde, so daß ihm deren Besorgnisse ganz
entgangen waren. Aber trotzdem empfand er es auf das schmerz-
lichste, daß er jetzt in Bayreuth für seine eigene Geisteswelt nicht
mehr den Widerklang fand wie ehemals in Tribschen. Große Bangig-
— 29 —
keit befiel ihn, daß er, um Wagners Freund zu bleiben, vielleicht
auf seinen eigenen Weg der Weiterbildung verzichten müßte. Kein
Wunder, daß er auf diesen Besuch mit sehr melancholischen Emp-
findungen zurückblickte. Nach Basel zurückgekehrt, legte er die
begonnenen philologischen Arbeiten beiseite und beschloß über
Wagners Wunsch sich mehr an den Kämpfen der Gegenwart zu
beteihgen und zu prüfen, inwiefern ihm dies gerade in treuer Pflicht-
erfüllung gegen den Meister möglich sei. Vor allem beschäftigte er
sich mit der Frage, woran es nur liege, daß ein so großer Gedanke
wie der von Bayreuth von den Deutschen nicht begriffen werde,
und die Antwort schien ihm, daß der deutsche „Bildungsphilister"
sich im erbärmlichen Behagen an dem Kleinen seiner Zeit genug
tue und dabei den Blick für alles wahrhaft Große verloren habe.
Aus diesem Geiste entstand Nietzsches „Erste unzeitgemäße Be-
trachtung". Mit der Arbeit an diesem Werke beschäftigt, sandte er
folgenden wahrhaft rührenden Brief nach Bayreuth: „Wenn Sie
nicht zufrieden mit mir bei meiner Anwesenheit schienen, so
begreife ich es nur zu gut, ohne etwas daran ändern zu können,
denn ich lerne und perzipiere sehr langsam und erlebe dann in
jedem Moment bei Ihnen etwas, woran ich nie gedacht habe und
was mir einzuprägen, mein Wunsch ist. Ich weiß es recht wohl,
teuerster Meister, daß Ihnen ein solcher Besuch keine Erholung
sein kann, ja mitunter unerträgHch sein muß. Ich wünschte mir so
oft wenigstens den Anschein einer größeren Freiheit und Selbständig-
keit, aber vergebens. Genug, ich bitte Sie, nehmen Sie mich nur
als Schüler, womöglich mit der Feder in der Hand und dem Hefte
vor sich, dazu als Schüler mit einem sehr langsamen und gar nicht
versatilen Ingenium. Es ist wahr, ich werde täglich melanchoUscher,
wenn ich so recht fühle, wie gern ich Ihnen irgendwie helfen,
nutzen möchte und wie ganz und gar unfähig ich dazu bin, so daß
ich nicht einmal etwas zu Ihrer Zerstreuung und Erheiterung bei-
tragen kann. Oder vielleicht doch einmal, wenn ich das ausgeführt
habe, was ich jetzt unter den Händen habe, nämhch ein Schrift-
stück gegen den berühmten Schriftsteller David Strauß. Ich habe
dessen ,alten und neuen Glauben' jetzt durchgelesen und mich
ebenso über die Stumpfheit und Gemeinheit des Autors wie des
Denkers verwundert." Zum allgemeinen Verständnis sei bemerkt,
daß auch Wagner über dieses Buch Strauß' sich mit viel Hohn und
— 30 —
Abneigung ausgesprochen hatte. Mit Recht konstatiert Frau Förster-
Nietzsche, daß man diesen Brief ihres Bruders nicht ohne Rührung
lesen könne, da er sich in der Erinnerung an offenbar bedenkUche
Momente des Zusammenseins bemüht, sich selbst die Schuld für
diese leisen Mißklänge zuzuschreiben. Wagner antwortete: „Sie
müssen selbst wissen, wie sehr mich Ihr Brief gerührt hat, und
weiteres ist dann nicht darüber zu sagen, außer etwa, daß Sie
sich durch peinliche Vorstellungen über sich selbst nicht etwa
abschrecken lassen sollen, und getrost fortfahren, im gleichen Sinne
mir recht oft wieder ,lästig' zu werden. In betreff Ihrer Straußiana
empfinde ich nur die Pein, daß ich sie gar nicht erwarten kann.
Also: Heraus damit!"
Leider ging die Arbeit an der „Antistruthiade" nicht so eifrig
fort, wie sie begonnen war. Denn Nietzsche wurde von einer äußerst
heftigen Augenentzündung befallen, die eine sehr starke Kurzsichtig-
keit nach sich zog, so daß Freund Gersdorff die ganze Korrespondenz
mit Bayreuth übernehmen mußte. Endlich konnte es der Patient
wagen, wiederum einmal selbst zur Feder greifen: der erste Brief
— heute nicht mehr vorhanden ! — ging an Wagner ab. Wagner
antwortete : „Beim Anblick Ihrer Handschrift empfand ich zumeist
nur Sorge, wie Sie mir denn überhaupt jetzt mehr Sorge als Freude
verursachen — und das will viel sagen, denn niemand kann sich
wiederum über Sie so freuen als ich. Ich wiederhole Ihnen den
Einfall, den ich kürzlich einmal gegen die Meinigen äußerte; näm-
lich, daß ich die Zeit voraussehe, in welcher ich Ihr Buch
gegen Sie zu verteidigen haben würde. Ich habe wieder
darin gelesen, und schwöre Ihnen zu Gott zu, daß ich
Sie für den einzigen halte, der weiß, was ich will!"
Unwillkürlich drängt sich uns angesichts dieser Tatsachen die
Frage auf: ahnte es Wagner bereits, daß sein Freund sich von ihm
langsam loszulösen begann, oder wußte er es schon, daß sein Freund
bereits andere Wege ging? Wer Nietzsches Beziehungen zu Wagner
nur oberflächlich kennt, wer von ihm nichts anderes weiß, als daß
er einst Wagner über alles liebte und den Meister dann schonungs-
los bekämpfte, der muß sich sehr verwundern bei der Lektüre
dieser gegenseitigen Lobeshymnen, dieser gegenseitigen Freund-
schaftsversicherungen, in die zwar noch leise, aber für den geübten
Seelenkenner doch schon deuthch vernehmbar etwas anderes hinein-
— 31 —
tönt: die intellektuelle Loslösung Nietzsches von dem Manne
Wagner, an dem er nur noch mit dem Herzen hängt und ihn daher
zu vergöttern sucht. Warum, fragen wir erschüttert? Auf diese
Frage kann die Antwort nur so lauten: Nietzsche wird sich langsam,
aber immer deutlicher, der eigenen Geisteskraft bewußt, die in ihm
so lange einen Dornröschenschlaf schlummerte und sich nun zu
entfalten beginnt; vorderhand ist es noch ein unsicheres Zagen und
Tasten. Vor Sonnenaufgang wallen ' die Nebel, ziehen die Dünste,
hie und da zuckt ein Lichtstrahl; wo er herkommt, werden wir
erst erkennen, wenn die Sonne erschienen ist. Noch ist sie unter
dem Horizonte; aber sie ist im Aufstiege, und die Strahlen kommen
von ihr. Wir werden sehen, wie dieser Nietzsche mit unbarm-
herziger Konsequenz, Schritt für Schritt, sich von den Idealen seiner
Jugend trennen wird; alle die Altäre und Götterbilder, die er in
seinem verehrenden Herzen erbaut, wird er niederreißen und zer-
trümmern, um aus ihren Trümmern mit aller Macht der Ideal-
bildung neue Altäre, neue Götterbilder zu errichten. Das Flammen-
meer einer ungeheuren Sehnsucht, die aus alten Welten neue baut,
wogt um ihn, umloht ihn, bis er in ihm unbewußt höchste Lust
atmend versinkt. Von Schopenhauer hatte er sich bereits losgesagt
— Aufzeichnungen aus dem frühesten Nachlaßt) beweisen dies
unzweideutig! — und da mußte denn der nächste Schritt mit
apodiktischer Notwendigkeit die Lossagung von Wagner sein, in
dem er seinerzeit den künstlerischen Vollender der Schopenhauer-
schen Philosophie verehrt hatte. Darum äußert er sich jetzt so oft
über die schweren Bedenken, die ihm Wagners Kunst einflößt, und
über die Opfer, welche diese Freundschaft von seiner intellektuellen
Rechtschaffenheit fordert, denn, sagt er, „Wagner hat es nicht
gelernt, sich durch Historie und Philosophie zur Ruhe zu bringen
und gerade das zauberhaft Sänftigende und der Tat Widerratende
ihrer Wirkungen für sich herauszunehmen".
Gab es aber nicht auch noch andere Gründe für diese all-
mählich erfolgende Abkehr Nietzsches von Wagner? Menschlichere,
allzu menschUche Gründe? Denn daß Nietzsche in seiner geistigen
Entwicklung unter schweren inneren Kämpfen den Weg zu sich
') Abgedruckt als ^Fragment einer Kritik der Schopenhauerischen
Philosophie", wahrscheinlich aus dem Herbst 1867 stammend, im I. Bande
der Nietzsche-Biographie; p. 343-350.
— 32 —
selbst findet, zu der Schöpfung, die wir als seine Philosophie
bezeichnen, so müssen wir dazu sagen, daß ein solcher Weg wohl
keinem tiefer angelegten Menschen erspart bleibt; aber der einzig
wahre Grund für die eintretende Entfremdung kann dies nicht sein. Aus
einem Briefe Nietzsches an seinen „Herzensfreund" Baron Gersdorff
erfahren wir nun zu unserem höchsten Erstaunen, daß der Philosoph
schmerzlich konstatiert, Wagner sei gegen ihn — mißtrauisch
geworden: „Wir wissen ja beide, daß Wagners Natur sehr zu Miß-
trauen neigt; aber ich dachte nicht, dieses Mißtrauen noch zu
schüren." Meiner Darstellung vorgreifend, möchte ich hier nur fol-
gendes bemerken: Nietzsche, der unter diesem Mißtrauen Wagners
bitter gelitten hat, hätte nicht jener rücksichtslose Wahrheitssucher
sein müssen, der er war, um nicht aus dieser einmal konstatierten
Tatsache die einzig mögliche Konsequenz zu ziehen, sich zurück-
zuziehen, damit er den Meister nicht verwunde und kränke, den
Mann, der alles, alles in reichstem Maße besaß, nur nicht jenes
ruhige Auge, das ohne Neid auch ein allzu großes Glück hätte sehen
können: daß der Freund sich selbst gefunden, daß sein Geist zur
Selbständigkeit erwacht war. Anstatt dieses flammende Herz, das
vor Wonne überfließen wollte, zu segnen, beschwor Wagner den
Untergang dieser unter den herrlichsten Auspizien geschlossenen
Freundschaft herauf.
TV. NIETZSCHES MAHNRUF AN DIE DEUTSCHEN.
Doch wir wollen in der chronologischen Darstellung der Er-
eignisse fortsetzen. Die Besorgnisse, die beim Osterbesuche Nietzsches
in Wahnfried in Hinsicht auf das Festspielhaus und das ganze
ßayreuther Unternehmen geäußert worden waren, verminderten sich
im Sommer 1873 nur teilweise. An manchen Orten schien man
sogar des völligen Scheiterns schon sicher zu sein. Um diesen un-
sicheren und auf die Dauer unhaltbaren Zuständen ein Ende zu
bereiten, wurde für den 31. Oktober eine Versammlung der Delegierten
aller Wagnervereine nach Bayreuth berufen. Gleichzeitig wandte sich
Wagner an Heckel in Mannheim, dieser solle Nietzsche auffordern,
einen Aufruf an die deutsche Nation zugunsten Bayreuths auszu-
arbeiten. Das tat auch Heckel, und Nietzsche schreibt darüber an
Rohde, dessen Mitarbeit er dringend erbat: „Neu ist z. B. die Auf-
forderung, die mir heute zukommt, zugunsten des Bayreuther Werkes
und im Auftrage eines Patronenausschusses einen Aufruf an das
deutsche Volk (mit Züchten zu reden) zu machen. Fürchterhch ist
diese Aufforderung auch: denn ich habe selbst einmal aus freien
Stücken etwas ÄhnUches versucht, ohne damit fertig zu werden.
Deshalb geht meine dringende und herzhche Bitte an Dich, lieber
Freund, mir dabei zu helfen, um zu sehen, ob wir vielleicht ge-
meinsam das Untier bewältigen. Der Sinn der Proklamation, um
deren Entwurf ich Dich bitte, läuft darauf hinaus, daß Groß und
Klein, soweit die deutsche Zunge klingt, bei seinen Musikalien-
händlern Geld bezahlt; zu welcher Handlung man etwa durch
folgende Motivierung anreizen könnte: 1. Bedeutung des Unter-
nehmers. 2. Schande für die Nation, in welcher eine solche Unter-
nehmung, bei welcher jeder Teilnehmer uneigennützig und persönlich
aufopfernd ist, als das Unternehmen eines Charlatans kann dar-
gestellt und angegriffen werden. 3. Vergleich mit anderen Nationen:
wenn in Frankreich, England und Italien ein Mann, nachdem er
Grießer. Wagner und Nietzsche. 3
- 34 —
gegen alle Mächte der Öffentliclikeit fünf Werke den Theatern ge-
geben hätte, die von Norden bis Süden gegeben und bejubelt werden,
wenn ein solcher ausriefe : die bestehenden Theater entsprechen
nicht dem Geiste der Nation, sie sind als öffentliche Kunst eine
Schande, helft mir eine Stätte dem nationalen Geiste bereiten, würde
ihm nicht alles zu Hilfe kommen, wenn auch nur aus Ehrgefühl? usw.
usw. Am Schlüsse wäre darauf hinzuweisen, daß bei sämtlichen
3964 deutschen Buch-, Kunst- und Musikalienhändlern, welche jede
gewünschte Auskunft geben können, Listen aufliegen zur Einzeichnung.
Laß Dich's nicht verdrießen, hebster Freund, und gehe daran!"
Rohde vermochte jedoch die Wünsche seines Freundes nicht zu er-
füllen: es „stocke ihm alle populäre Kraftsprache. Es ist abscheulich
schwer, namentlich da keine Hoffnung irgendeines Erfolges einem
begeistert vorschweben könnte, sondern nur die volle Sicherheit der
Erfolglosigkeit eben höchstens ein Gefühl der zu erfüllenden Pflicht
als Antrieb übrig läßt". Rohde behielt mit seiner pessimistischen
Auffassung des Aufrufes recht; Nietzsche schrieb ihm später: „Der
Mahnruf ist verworfen worden, Du hast die richtige Empfindung
gehabt. Hab' rechten Dank für Dein Freundschaftswort nach Bayreuth.
Dort war's herzlich und warm, recht stärkend; der von Professor
Stern verfaßte Aufruf läuft jetzt durch alle Zeitungen. Die Sammel-
stätten bei den deutschen Buchhändlern allerorts mögen Schatz-
kammern werden — diesen Wunsch wünsche ich Tag und Nacht. —
Offen gestanden, Wagner, Frau Wagner und ich sind mehr von der
Wirkung meines Mahnrufs überzeugt: es scheint uns nur eine Sache
derzeit zu sein, wann er absolut allein übrig und nötig sein wird."
Frau Förster-Nietzsche berichtet, Wagner sei ganz außer sich gewesen,
als man ihm sagte, daß Nietzsches Mahnruf von den Delegierten
als zu ernst und pessimistisch verworfen worden sei; er wäre in
volle Wut geraten und hätte mit den Füßen gestampft. Doch habe
ihm ihr Bruder nachher liebevoll zugeredet, daß gewiß ein Aufruf
von Professor Stern einen besseren Erfolg haben würde, und schließlich
bliebe ja noch immer der seine für den Fall eines Mißerfolges. Das
habe Wagner beruhigt. Um aber Nietzsche etwas Liebes zu erweisen,
schenkte ihm Wagner die neun hübsch gebundenen Bände seiner
Werke mit folgender Widmung:
»Was ich, mit Not gesammelt,
neun Bänden eingerammelt,
— So-
was darin spricht und stammelt,
was geht, steht oder bammelt, —
Schwert, Stock und Pritzsche,
kurz, was im Verlag von Fritzsche
schrei, lärm oder quietsche,
das schenk' ich meinem Nietzsche, —
wär*3 ihm zu was nütze!«
Ich lasse nun den vollständigen Wortlaut dieses „zu ernsten
und pessimistischen" Aufrufes folgen, da er ziemlich unbekannt ist,
weil in der Gesamtausgabe der Nietzsche- Werke nicht veröffentlicht.
„Mahnruf an die Deutschen.
Wir wollen gehört werden, denn wir reden als Warner und
immer ist die Stimme des Warners, wer er auch sei und wo sie
auch immer erkhnge, in ihrem Rechte; dafür habt ihr, die ihr an-
geredet werdet, das Recht euch zu entscheiden, ob ihr eure Warner
als ehrliche und einsichtige Warner nehmen wollt, die nur laut
werden, weil ihr in Gefahr seid und die erschrecken, euch so stumm,
gleichgültig und ahnungslos zu finden. Dies aber dürfen wir von uns
selbst bezeugen, daß wir aus reinem Herzen reden und nur soweit
dabei das Unsere wollen und suchen, als es auch das Eure ist
— nämhch die Wohlfahrt und Ehre des deutschen Geistes und des
deutschen Namens.
Es ist euch gemeldet worden, welches Fest im Mai des vorigen
Jahres zu Bayreuth gefeiert wurde: einen gewaltigen Grundstein
galt es dort zu legen, unter dem wir viele Befürchtungen auf immer
begraben, durch den wir unsere edelsten Hoffnungen endgültig be-
siegelt glaubten — oder vielmehr, wie wir heute sagen müssen, be-
siegelt wähnten. Denn ach! es war viel Wahn dabei: jetzt noch
leben jene Befürchtungen; und wenn wir auch keineswegs verlernt
haben zu hoffen, so gibt doch unser heutiger Hilf- und Mahnruf zu
verstehen, daß wir mehr fürchten als hoffen. Unsere Furcht richtet
sich gegen euch: ihr möchtet gar nicht wissen, was geschieht und
vielleicht gar aus Unwissenheit verhindern, daß etwas geschieht.
Zwar geziemt es sich längst nicht mehr, so unwissend zu sein; ja
fast scheint es unmögUch, daß jemand es jetzt noch ist, nachdem
der große, tapfere, unbeugsame und unaufhaltsame Kämpfer Richard
Wagner schon jahrzehntelang unter dem gespannten Aufmerken
fast aller Nationen für jene Gedanken einsteht, denen er in seinem
3*
— 36 —
Bayreuther Kunstwerk die letzte und höchste Form und seine
wahrhaft siegreiche Vollendung gegeben hat. Wenn ihr ihn jetzt
noch hindern würdet, den Schatz auch nur zu heben, den er Willens
ist, euch zu schenken: was meint ihr wohl, damit für euch erreicht
zu haben? Eben dies muß euch noch einmal und immer wieder
öffentlich und eindringlich vorgehalten werden, damit ihr wisset,
was an der Zeit sei und damit auch nicht einmal das mehr in eurem
Beheben steht, die Unwissenden zu spielen. Denn von jetzt ab wird
das Ausland Zeuge und Richter im Schauspiele sein, das ihr gebt;
und in seinem Spiegel werdet ihr ungefähr euer eigenes Bild wieder-
finden können, so wie es die gerechte Nachwelt einmal von euch
malen wird.
Gesetzt, es gelänge euch, durch Unwissenheit, Mißtrauen,
Sekretieren, Bespötteln, Verleumden, den Bau auf dem Hügel von
Bayreuth zur zwecklosen Ruine zu machen ; gesetzt, ihr ließet es in
unduldsamem Mißwollen nicht einmal zu, daß das vollendete Werk
Wirklichkeit werde, Wirkung tue und für sich selber zeuge, so
habt ihr euch vor dem Urteile jener Nachwelt ebenso zu fürchten,
als vor den Augen der außerordentUchen Mitwelt zu schämen.
Wenn ein Mann in Frankreich oder in England oder in Italien den
Theatern fünf Werke eines eigentümlich großen und mächtigen Stiles
geschenkt hätte, die vom Norden bis zum Süden unablässig verlangt
und bejubelt werden — wenn ein solcher Mann ausriefe: ,die be-
stehenden Theater entsprechen nicht dem Geiste der Nation, sie
sind als öffentUche Kunst eine Schande! Helft mir, dem nationalen
Geiste eine Stätte bereiten!' würde ihm nicht alles zu Hilfe kommen
und sei es auch nur — aus Ehrgefühl? Und wahrHch! Hier täte
nicht nur Ehrgefühl, nicht nur die blinde Furcht vor schlechter
Nachrede not; hier könntet ihr mitfühlen, mitlernen, mitwissen, hier
könntet ihr euch aus tiefstem Herzen mitfreuen, indem ihr euch
entschlösset, mitzuhelfen. Alle eure Wissenschaften werden von euch
freigebig mit kostspieUgen Versuchs Werkstätten ausgerüstet: und
ihr wollt untätig beiseitestehen, wenn dem wagenden und ver-
suchenden Geiste der deutschen Kunst eine solche Werkstatt auf-
gebaut werden soll? Könnt ihr irgendeinen Moment aus der Ge-
schichte unserer Kunst nennen, in dem wichtigere Probleme zur
Lösung hingestellt und reicherer Anlaß zu fruchtbaren Erfahrungen
geboten wurde als jetzt, wo der von Richard Wagner mit dem Namen
— 37 —
, Kunstwerk der Zukunft^ bezeichnete Gedanke leibhafte und sichtbare
Gegenwart werden soll? Was für eine Bewegung der Gedanken,
Handlungen, Hoffnungen und Begabungen damit eingeleitet wird, daß
vor den Augen unwissender Vertreter des deutschen Volkes der
viergetürmte Nibelungen-Riesenbau nach dem allein von seinem
Schöpfer zu erlernenden Rhythmus sich aus dem Boden hebt, welche
Bewegung in die fernste fruchtbringendste, hoffnungsreichste Weite
hinaus — wer möchte kühn genug sein, hier auch nur ahnen zu
wollen! Und jedenfalls würde es nicht an dem Urheber der Be-
wegung liegen, wenn die Welle bald wieder zurücksinken und die
Fläche wieder glatt werden sollte, als ob nichts geschehen sei. Denn
wenn es unsere erste Sorge sein muß, daß das Werk überhaupt
getan werde, so drückt uns doch als zweite Sorge nicht minder
schwer der Zweifel, wir möchten nicht reif, vorbereitet und emp-
fänglich genug befunden werden, um die jedenfalls ungeheure aller-
nächste Wirkung in die Tiefe und in die Weite zu leiten.
Wir glauben bemerkt zu haben, daß überall, wo man an
Richard Wagner Anstoß genommen hat und zu nehmen pflegt, ein
großes und fruchtbares Problem unserer Kultur verborgen liegt ;
aber wenn man daraus immer nur einen Anstoß zum dünkel-
haften Bekritteln und Bespötteln genommen hat und nur so
selten einen Anstoß zum Nachdenken, so gibt dies uns bisweilen
den beschämenden Argwohn ein, ob vielleicht das berühmte
jVolk der Denker' bereits zu Ende gedacht und etwa den Dünkel
gegen den Gedanken eingetauscht habe. Welchen mißverständlichen
Einreden hat man zu begegnen, nur um zu verhüten, daß das
Bayreuther Ereignis vom Mai 1872 nicht mit der Gründung eines
neuen Theaters verwechselt wird, um anderseits zu erklären, warum
dem Sinne jener Unternehmung kein bestehendes Theater entsprechen
kann: welche Mühe kostet es, die absichtlich oder unabsichtlich
Bhnden darüber hellsehend zu machen, daß bei dem Worte ,Bayreuth'
nicht nur eine Anzahl Menschen, etwa eine Partei mit spezifischen
Musikgelüsten, sondern die Nation in Betracht komme, ja daß selbst
über die Grenzen der deutschen Nation alle diejenigen zu ernster
und tätiger Beteiligung angerufen sind, denen die Veredlung und
Reinigung der dramatischen Kunst am Herzen liegt und die Schillers
wunderbare Ahnung verstanden haben, daß vielleicht einmal aus
der Oper sich das Trauerspiel in einer edleren Gestalt entwickeln
— 38 —
werde. Wer nur immer noch nicht verlernt hat nachzudenken
— und sei es wiederum nur aus Ehrgefühl — , der muß eine
künstlerische Unternehmung als sittlich denkwürdiges Phänomen
empfinden und begünstigen, die in diesem Grade von dem opfer-
bereiten und uneigennützigen Willen aller Beteiligten getragen wird
und mit dem ernst ausgesprochenen Bekenntnis derselben geweiht
ist, daß sie von der Kunst hoch und würdig denken und zumal von
der deutschen Musik und ihrer verklärenden Einwirkung auf das
volkstümUche Drama die wichtigste Förderung eines originalen
deutsch ausgeprägten Lebens erhoffen. Glauben wir doch sogar noch
ein Höheres und Allgemeineres: ehrwürdig und heilbringend wird
der Deutsche erst dann den anderen Nationen erscheinen, wenn er
gezeigt hat, daß er furchtbar ist und es doch durch Anspannung
seiner höchsten und edelsten Kunst- und Kulturkräfte
vergessen machen will, daß er furchtbar war.
An diese unsere deutsche Aufgabe in diesem Augenblick zu
mahnen, hielten wir für unsere Pflicht, gerade jetzt, wo wir auf-
fordern müssen, mit allen Kräften eine große Kunsttat des deutschen
Genius zu unterstützen. Wo nur immer Herde ernsten Nachsinnens
sich in unserer aufgeregten Zeit erhalten haben, erwarten wir einen
freudigen und sympathischen Zuruf zu hören; insbesondere werden
die deutschen Universitäten, Akademien und Kunstschulen nicht
umsonst angerufen sein, sich der geforderten Unterstützung gemäß,
einzeln oder zusammen zu erklären: wie ebenfalls die politischen
Vertreter deutscher Wohlfahrt in Reichs- und Landtagen einen
wichtigen Anlaß haben zu bedenken, daß das Volk jetzt mehr wie
je der Reinigung und Weihung durch die erhabenen Zauber und
Schrecken echter deutscher Kunst bedürfe, wenn nicht die gewaltig
erregten Triebe politischer und nationaler Leidenschaft und die der
Physiognomie unseres Lebens aufgeschriebenen Züge der Jagd nach
Glück und Genuß unsere Nachkommen zu dem Geständnisse nötigen
sollen, daß wir Deutsche uns selbst zu verlieren anfingen, als wir
uns endhch wieder gefunden hatten."
Es wäre noch zu bemerken, daß dieser Entwurf eines Mahn-
rufes tatsächlich verworfen wurde und nie wieder von ihm die Rede
war. Aber auch der Aufruf des Professors Stern, der an Stelle des
von Nietzsche eingereichten von den Delegierten angenommen worden
war, hatte keinen glorreichen Erfolg. Chamberlain erzählt darüber
— 39 —
in seiner großen Wagner-Biographie: „Um die intensive Nicht-
beachtung zu kennzeichnen, welcher Wagners großes und jetzt
dem deutschen Geist zum ewigen Ruhme gereichendes Werk im
weiten deutschen Reich begegnete, will ich hier eine einzige kleine
Tatsache zur Illustration einschalten: ein von Dr. A. Stern im
Auftrage der Wagnervereine verfaßter ,Bericht und Aufruf wurde
Ende 1878 an viertausend deutsche Buch- und MusikaUenhändler
mit Subskriptionsliste versandt ; nicht ein einziger dieser Viertausend
nahm die geringste Notiz von der Sendung! und einzig und allein
in Gießen haben einige Studenten ein paar Taler gezeichnet!"
V. NIETZSCHES KRITIK AN WAGNER.
Während Nietzsche Ende des Jahres 1873 an seiner „IL Un-
zeitgemäßen" arbeitete, stiegen in Wahnfried die Besorgnisse um
das Gelingen des Bayreuther Werkes aufs höchste, bis endUch König
Ludwig Wagner aus der königlichen Kasse 100.000 Taler anweisen
ließ. Nietzsche ging an diesen Ereignissen nicht gleichgültig vorüber.
Rohde teilte er mit, wie er sich über diese quälenden Tage und
Monate hinweggeholfen habe: „Es war ein trostloser Zustand seit
Neujahr, von dem ich mich endlich nur auf die wunderhchste Weise
retten konnte: ich begann mit der größten Kälte der Betrachtung
zu untersuchen, weshalb das Unternehmen mißlungen sei: dabei
habe ich viel gelernt und glaube jetzt Wagner viel besser zu ver-
stehen als früher." Als ihn seine Schwester einst ganz erschrocken
fragte, wann er über Wagner so kühl gedacht habe, daß er solche
Aufzeichnungen niederschreiben konnte — ich zitiere sie weiter
unten! — gab er wehmütig lächelnd zur Antwort: „Nicht immer! Nur
zuweilen zwang ich mich dazu, die Wahrheit zu sehen." Aus
derselben Zeit stammt folgende Niederschrift: „Ich sagte als Student:
Wagner ist Romantik, nicht Kunst der Mitte und Fülle, sondern
des letzten Viertels: bald wird es Nacht sein. Mit dieser Einsicht
war ich Wagnerianer, ich konnte nicht anders, aber ich kannte
es ' besser. " Nietzsches Schwester gibt als Grund hiefür an, daß
Nietzsche stets durchaus etwas Höheres über sich sehen wollte, und
entzückt von Wagners prachtvoller Willensenergie und dem „Tristan"
und den „Meistersingern", alles andere unbeachtet gelassen habe,
das sich in ihm gegen Wagners Kunst auflehnte. Aber alle diese
Zweifel und inneren Widerstände wurden zuweilen wach gerufen
durch Wagners — Mißtrauen. So höflich er Wagner gegenüber war,
so wird er doch, ohne es zu ahnen, manchmal verraten haben, daß
sein eigenster Geschmack vieles in Wagners Kunst ablehnte. Und
dann erschreckte ihn Wagner plötzlich durch mißtrauische Bemer-
— 41 —
kungen, die die oben erwähnten Zweifel wachriefen. Diese Zweifel
vertraute er aber niemand an, und erst in jenem Jänner 1874 scheint
er sich selbst diesen Gegensatz zu Wagners Geschmack vöUig klar
gemacht und in unerbitterlicher Wahrheitsliebe aufgezeichnet
zu haben. Und da ist es für Nietzsche charakteristisch, daß er sich nicht
in endlosem Jammern und Klagen ergeht, sondern die Untergründe
jener Tatsachen prüft, um derentwillen er leidet. Er zwingt sich
dazu, die Augen, die so gern in Liebe und Verehrung über alles
Kleinliche und Häßliche hinwegsehen, ja sich zur rechten Zeit ganz
zu schließen wissen, scharf auf diese Tatsachen zu richten, sie
nüchtern und kühl zu betrachten und sich einzugestehen und genau
zu prüfen, ob nicht manches von dem, was er aus Verehrung für
den Meister selbst empfunden, aber unterdrückt hatte, gerade die
Ursache des Mißlingens war und sein mußte. Dieser Fall ist eines
der stärksten Zeugnisse, wie die strenge Wahrhaftigkeit seines
Geistes keinen Kampf scheute, selbst nicht den härtesten mit sich
selbst, mit dem eigenen liebenden und verehrenden Herzen.
Die Aufzeichnungen nun, die sich Nietzsche machte, schienen,
wie die Niederschriften zeigen, für ein Büchlein bestimmt zu sein.
Aber es ist nicht recht gut denkbar, daß er damals wirklich daran
gedacht hätte, diese Ansichten zu veröffentlichen, obgleich die Kapitel-
überschriften und einige weitere Aphorismen die ungefähre Vor-
stellung eines Buches geben, auch tragen sie schon den Titel der
„IV. unzeitgemäßen Betrachtung": „Richard Wagner in Bayreuth".
„1. Ursachen des Mißlingens. Darunter vor allem das Befrem-
dende. Mangel an Sympathie für Wagner. Schwierig, kompliziert.
2. Doppelnatur Wagners.
3. Affekt, Ekstase. Gefahren.
4. Musik und Drama. Das Nebeneinander.
5. Das Präsumptuöse.
6. Späte Männlichkeit — langsame Entwicklung.
7. Wagner als Schriftsteller.
8. Freunde (erregen neue Bedenken).
9. Feinde (erwecken keine Achtung, kein Interesse für das
Befehdete).
10. Das Befremden erklärt: vielleicht gehoben?
Wagner versuchte die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch
vorhandenen Basis aus, vom Theater aus : hier wird doch wirkUch noch
— 42 —
eine Masse aufgeregt und macht sich nichts vor wie in Museen und
Konzerten. FreiUch ist es eine sehr rohe Masse, und die Theatrokratic
wieder zu beherrschen hat sich bis jetzt noch als unmögUch erwiesen.
Problem: Soll die Kunst' ewig sektiererisch und isoUert fortleben?
Ist es möglich, sie zur Herrschaft zu bringen? Hier liegt Wagners
Bedeutung, er versucht die Tyrannis mit Hilfe der Theatermassen.
Es ist wohl kein Zweifel, daß Wagner als Italiener sein Ziel er-
reicht haben würde. Der Deutsche hat keine Ahnung von der Oper
und betrachtet sie immer als importiert und als undeutsch. Ja, das
ganze Theaterwesen nimmt er nicht ernst.
Es liegt etwas Komisches darin: Wagner kann die Deutschen
nicht überreden, das Theater ernst zu nehmen. Sie bleiben kalt und
ungemütlich — er ereifert sich, als ob das Heil der Deutschen
davon abhinge. Jetzt zumal glauben die Deutschen ernsthafter be-
schäftigt zu sein und es kommt ihnen wie eine lustige Schwärmerei
vor, daß jemand der Kunst so feierlich sich zuwendet.
Reformator ist Wagner nicht, denn bis jetzt ist alles beim
alten geblieben. In Deutschland nimmt jeder seine Sache ernst, da
lacht man über den, der für sich allein das Ernstnehmen prätendiert.
Einwirkung der Geldkrisen.
Allgemeine Unsicherheit der politischen Lage.
Zweifel an der besonnenen Leitung der deutschen Geschicke.
Zeit der Kunstaufregungen (Liszt usw.) vorüber.
Eine ernste Nation will sich einige Leichtfertigkeit nicht ver-
kümmern lassen, die Deutschen nicht in den theatralischen Künsten.
Hauptsache: Die Bedeutung der Kunst, wie sie Wagner hat,
paßt nicht in unsere gesellschaftlichen und arbeitenden Verhältnisse.
Daher instinktive Abneigung gegen das Ungeeignete.
Das erste Problem Wagners : ,Warum bleibt die Wirkung aus,
da ich sie empfange?' Dies treibt ihn zu einer Kritik des Publikums,
des Staates, der Gesellschaft. Er setzt zwischen Künstler und
Publikum das Verhältnis von Subjekt und Objekt — ganz naiv.
Die eine Eigenschaft Wagners: Unbändigkeit, Maßlosigkeit
ergeht bis auf die letzte Sprosse seiner Kraft, seiner Erfindung.
Die andere Eigenschaft ist eine große schauspielerische Be-
gabung, die versetzt ist, die sich in anderen Wegen Bahn bricht
als auf dem ersten nächsten: dazu nämhch fehlt ihm Gestalt,
Stimme und die nötige Bescheidung.
— 43 —
Wagner ist ein geborener Schauspieler, aber gleichsam wie Goethe
ein Maler ohne Malerhände. Seine Begabung sucht und findet Auswege.
Nun denke man sich diese versagten Triebe zusammen wirkend.
Wagner schätzt das Einfache der dramatischen Anlage, weil
es am stärksten wirkt. Er sammelt alle wirksamen Elemente, in
einer Zeit, die sehr rohe und starke Mittel wegen ihrer Stumpfheit
braucht. Das Prächtige, Berauschende, Verwirrende, das Grandiose,
das Schreckliche, Lärmende, Häßliche, Verzückte, Nervöse — alles
ist im Recht. Ungeheure Dimensionen, ungeheure Mittel.
Das Unregelmäßige, der überladene Glanz und Schmuck macht
den Eindruck des Reichtums und der Üppigkeit. Er weiß, was auf
unsere Menschen noch wirkt: dabei hat er sich , unsere Menschen'
noch idealisiert und sehr hoch gedacht.
Als Schauspieler wollte er den Menschen nur als den wirk-
samsten und wirklichsten nachahmen: im höchsten Affekt. Denn
seine extreme Natur sah in allen anderen Zuständen Schwäche und
Unwahrheit. Die Gefahr der Affektmalerei ist für den Künstler
außerordenthch. Das Berauschende, das Sinnliche, Ekstatische, das
Plötzliche, das Bewegtsein um jeden Preis — schreckliche Tendenzen.
Wagners Kunst sammelt alles zusammen, was sie noch für
Reize hat, bei den modernen Deutschen — Charakter, Wissen, alles
kommt zusammen. Ein ungeheurer Versuch sich zu behaupten und
zu dominieren — in einer kunstwidrigen Zeit. Gift gegen Gift: alle
Überspannungen richten sich polemisch gegen große kunstwidrige
Kräfte. Religiöse, philosophische Elemente mit hineingezogen, Sehn-
sucht nach dem Idyllischen, alles, alles.
Nicht zu vergessen: es ist eine theatrahsche Sprache, die
Wagners Kunst redet: sie gehört nicht ins Zimmer, in die camera.
Es ist eine Volksrede, und die läßt sich ohne eine starke Vergröberung
selbst des Edelsten nicht denken. Sie soll in die Ferne wirken und
das Volkschaos zusammenkitten. Zum Beispiel der Kaisermarsch.
Wagner ist eine gesetzgeberische Natur: er übersieht viele
Verhältnisse und ist nicht im kleinen befangen, er ordnet alles im
großen und ist nicht nach der isolierten Einzelheit zu beurteilen
— Musik, Drama, Poesie, Staat, Kunst usw.
Die Musik ist nicht viel wert, die Poesie auch nicht, das Drama
auch nicht, die Schauspielkunst ist oft nur Rhetorik — aber alle&
ist im großen eins und auf einer Höhe.
— 44 —
Er hat das Gefühl der Einheit im Verschiedenen —
deshalb halte ich ihn für einen Kulturträger."
Frau Förster bemerkt, daß ihr Bruder, als er diese kritischen
Bemerkungen niederschrieb, sehr gelitten habe, denn er hatte keine
Hoffnung mehr, daß Wagner seine Pläne durchsetzen könnte. Als
doch die Nachricht des Gelingens zu ihm drang, empfand er es als
ein „Wunder", und er schrieb an Kohde: „Ist das , Wunder' wahr,
so wirft es das Resultat meiner Betrachtungen nicht um. Aber
glücklich wollen wir sein und ein Fest feiern, wenn es wahr ist.
Wagner ist mutig und glaubt, dafs jetzt das Unternehmen im Reinen
ist. Nun, das walte Gott! Dies Warten und Bangen ist schwer zu
verwinden, ich hatte wirklich zeitweilig die Hoffnung ganz auf-
gegeben." Aber eine tiefe Melancholie blieb von diesen kritischen
Untersuchungen zurück. Er hat einmal gesagt, daß es zur Selbst-
erziehung gehöre, daß man zur rechten Zeit die Schleier aufhebe
und die Schleier zuziehe, und wenn man sich hinterher wohl fühle,
so wäre es die richtige Zeit gewesen. Jetzt war es aber noch nicht
die rechte Zeit für ihn gewesen, von seinen Meinungen über Wagner
den Schleier wegzuziehen, er war sehr traurig, und jedenfalls ver-
suchte er ihn wieder zuzuziehen.
Die bisherige Darstellung der Ereignisse läßt mit nicht mißzu-
verstehender Deutlichkeit erkennen, wie haltlos und jeder positiven
Grundlagen entbehrend die Behauptungen jener sind, die annehmen,
Nietzsche habe sich von Wagner erst durch die Herausgabe des
„Menschlichen, Allzumenschlichen" entfernt; er sei eben schon damals
und nicht erst im Jahre 1889 irrsinnig geworden! Es ist unglaublich,
daß von den extremen Wagnerianern diese aus den Jahren 1873/74
stammenden kritischen Bemerkungen, die doch den Grundstock für
die „IV. Unzeitgemäße" und den „Fall Wagner" bilden, so ohne
weiteres ignoriert werden. Mich jedoch will es bedünken, daß nur
unkritische Leser der „IV. Unzeitgemäßen" sich zwischen dieser
„besten Schrift" Nietzsches und einerseits diesen kritischen Be-
merkungen, anderseits dem „Falle Wagner" ein psychologisches
Rätsel konstruieren, das nur durch Annahme eines früh ausgebrochenen
Wahnsinnes zu lösen sei.
Inzwischen vollendete Nietzsche seine „II. Unzeitgemäße";
allein Wagner äußerte sich über dieses Werk sehr kühl und ab-
lehnend. Vertrat er doch die Ansicht, daß in der Zeit der schwersten
__ 45 —
Kämpfe um das Gelingen seiner Pläne alle seine Freunde ihre
eigenen Angelegenheiten ganz beiseite und sich ausschließlich seiner
Sache widmen sollten! Das tat ja gewiß auch Nietzsche, wie wir
gesehen haben. Sein Fehler bestand jedoch darin, daß er daneben
Bücher schrieb, die mit Bayreuth nichts zu tun hatten. Deshalb
konnte er nicht die richtige, von Wagner geforderte Leidenschaft
und Parteirührigkeit für Bayreuth entwickeln. Die konkreten Belege
über die Aufnahme dieser Schrift durch Wagner werde ich bei
anderer Gelegenheit zitieren.
Wiederholt ergangene Einladungen nach Bayreuth hatte Nietzsche
abgelehnt, so in diesem Jahre damit, daß er die diesjährigen Ferien
in den Schweizer Bergen vollbringen wolle. Wagner antwortete:
„Klingt das nicht wie sorgsame Abwehr einer etwaigen Einladung
unsererseits? Wir können Ihnen etwas sein; warum ver-
schmähen Sie dies angelegentlich?" Das ist das Vorspiel der sich
nun entwickelnden Tragödie, und schon dieses Vorspiel hat etwas
Tragisches: wie Wagner immer wieder und wieder seinen jungen
Freund mit den herzlichsten Worten einlädt, dieser jedoch stets
ausweicht. So schrieb ihm der Meister am 9. Juni 1874:
„Oh, Freund!
Warum kommen Sie nicht zu uns?
Ich finde für alles einen Ausweg — oder: wie Sie's nennen
wollen.
Nur nicht so abgesondert! Ich kann Ihnen dann nichts sein.
Ihr Zimmer ist bereit.
Doch — oder vielmehr:
Jedoch! —
oder auch:
jWenn schon!' —
Im Augenblick nach dem Empfang Ihrer letzten Zeilen. Ein
andres Mal mehr.
Von Herzen Ihr R. W."
Vielleicht hätte, wenn schon nicht die Lösung, so doch wenig-
stens der Konflikt noch vermieden werden können, wenn Wagner
die Lage des geliebten jungen Freundes klar erkannt und sich ent-
schlossen hätte, ihn ganz freizugeben. Daß aber beides unterblieb,
war nur natürlich : der Meister konnte von seinem Standpunkte aus
dem Jünger keine höhere Zukunft wünschen als die, im Dienste der
- 46 —
Bayreuther Sache zwischen ihm und der Jugend Deutschlands zu
vermitteln. Und dann hatte er ihn — freilich nach seiner Art! —
viel zu lieb, um ihn einfach loszulassen. Doch Nietzsche lehnt
immer wieder ab zu kommen, weil er sich selbst gehören möchte —
„ von einem wirküchen Produzieren kann aber wirklich nicht geredet
werden, solange ich noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem
Leiden und Lastgefühl des Befangenseins heraus bin" — , weil er
zu fest in Wagners Netze zu geraten fürchtet, weil er einen Zu-
sammenprall für möglich hielt. Vom August 1874, wo durch Gers-
dorffs Vermittlung ein Besuch Nietzsches in Wahnfried sozusagen
„erzwungen" wurde und über den später noch zu reden sein wird,
bis Juli 1876 haben sich die beiden Freunde nicht gesehen. Die
Ursache dafür war ein damals bei Nietzsche ausgebrochenes schweres
Magenleiden, weshalb sein behandelnder Arzt dringendst größte
Ruhe und Schonung empfahl. Gersdorff wurde also ersucht, „in
Bayreuth darauf vorzubereiten, daß Nietzsche nicht kommen werde.
Wagner werde recht böse sein, er selbst sei es auch". Einem
Briefe an Rohde vom 1. August 1875 läßt sich entnehmen, daß es
in diesem Jahre mit Nietzsches Gesundheitszustand tatsächlich sehr
schlecht bestellt war. Daneben verrät aber dieser Brief deutlich, daß
Nietzsches Abwesenheit von Bayreuth fast wie eine Art Flucht
vor irgendeinem dort drohenden Ereignis erscheint: „Überall
Desperation! Und ich habe sie nicht! Und bin doch nicht in
Bayreuth. Wie sich das reimt, begreifst Du's? Ich begreife es fast
nicht. Und doch bin ich mehr als drei Viertel des Tages im Geiste
dort!" Offenbar hat sich Nietzsche in diesem Sommer recht gut
erholt; denn im Herbste finden wir ihn gesund und sehr glücklich
wieder in Basel im Kreise seiner Freunde Rohde und Gersdorff,
eine Fahrt nach Bayreuth wurde geplant, aber wiederum nicht aus-
geführt. Als ihm selbst seine Schwester sein Fernbleiben von Wahn-
fried vorhielt und durchblicken ließ, daß Nietzsches Gegenwart
durch die seiner Freunde bei Wagner unmögUch ersetzt werden
könne, da antwortete er leise: „Auch Wagner kann mir durch
nichts und niemand ersetzt werden."
Neben Arbeiten an der „III. Unzeitgemäßen" laufen wieder
kritische Bemerkungen über Wagners Kunst. „So liege darin etwas
Schauspielerartiges, daß Wagner die Musik als Mittel des Ausdruckes
benutzt. So ward die Musik wirklich ein Mittel des Ausdruckes und
— 4:1 —
steht auf einer niederen Stufe, da sie nicht mehr organisch in sich
ist. Die künstlerische Kraft engt Wagners unbändige Triebe ein,
veredelt seine ganze Natur. Diese selbst hat etwas wie Flucht
aus dieser Welt, sie negiert dieselbe, sie verklärt sie
nicht. Das aber scheint das Los der Kunst zu sein: sie nimmt der
absterbenden Religion einen Teil ihrer Kraft ab, daher das Bündnis
Schopenhauers und Wagners ; der Schopenhauersche Wille zum Leben
bekommt hier seinen Kunstausdruck." Mit anderen Worten : Wagners
Kunst ist für Nietzsche jetzt nur mehr noch ein idealisiertes Christentum
katholischer Art. Von einem Parallelismus zwischen der griechischen
und deutschen Kultur zu sprechen, erscheint ihm jetzt lächerlich
und durch Wagners Werke gründhch widerlegt: die sokratische
Vernunft, die er bislang im Tempel der Kunst nicht geduldet hatte,
feiert nunmehr wieder ihren Einzug, und in ihrem ruhigen, leiden-
schaftslosen Lichte erscheint ihm Wagners orgiastische, dämonische
Kunst mehr als zweifelhaft. Diese Zweifel in Nietzsches Seele
charakterisiert am besten folgendes Selbstbekenntnis: „Wer seine
Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen,
wenn nicht sich? So kann man in anderen auch nur sich verherr-
lichen. Selbstvernichtung, Selbstvergötterung, Selbstverachtung —
das ist unser Richten, Lieben, Hassen ! " Sind daher nicht alle gegen
Wagner erhobenen Bedenken und Einsprüche eine Korrektur an
Nietzsches eigenen Erfahrungen und Urteilen über Wagner?
Doch wohlgemerkt: Nietzsche tastet sich jetzt noch immer
vorsichtig zurecht, denn er fühlt diesen dunklen Zwiespalt in seiner
eigenen Seele: „Wie wird mir zumute sein, wenn ich erst alles
Negative und Empörte, was in uns steckt, aus mir herausgestellt
habe, und doch darf ich hoffen, in fünf Jahren ungefähr diesem
herrlichen Ziele nahe zu sein."...
Inzwischen wurde die „III. Unzeitgemäße" vollendet und nach
Bayreuth gesandt. Wagner quittierte die Sendung mit folgendem
Schreiben: „Telegrammatisch. Tief und groß. Am kühnsten und
neuesten die Darstellung Kants. Wahrhaft verständlich nur für die
Besessenen ! Ich sehe die drei Gerechten ! Mögen sie lange und tiefe
Schatten werfen in das Sonnenland dieser vortreftlichen Jetztzeit!
Ihr R. W." Auch Frau Cosima sandte einen ausführlichen „wunder-
vollen" Brief mit einer glänzenden Besprechung des neuesten Werkes
Nietzsches. Allerdings sind die darin enthaltenen Ansichten Wagners
— 48 —
Ansichten: denn während Frau Cosima vorlas, notierte sie stets,
was Wagner dabei bemerkte. Deshalb sind ihre Briefe mit den
Urteilen über Nietzsches Werke so bedeutungsvoll, da sie Wagners
Stimmung in jener Zeit so vollständig und aufrichtig wiedergeben.
Dagegen aber ist zu sagen, daß sich Nietzsche in seinen
Briefen nach Bayreuth nicht mit solcher Aufrichtigkeit ausgesprochen
hat. Denn in seiner Freundschaft für Wagner wollte er stets alles
vermeiden, was diesem hätte weh tun können. Außerdem darf man
nicht vergessen, wie sehr Nietzsche in allen Freundschaftsverhältnissen
von der Höflichkeit beherrscht wurde. Das ging oft so weit, daß er
aus Rücksicht für den Adressaten Urteile über andere aussprach,
die nur dem Adressaten wohl tun konnten, aber durchaus nicht
seine wirkliche Meinung spiegelten. Deshalb nannte er seine Höf-
lichkeit ein Laster und war oft ärgerlich darüber. Daß er sich aber
Wagner gegenüber nicht mehr unumwunden wie in den Tribschener
Tagen aussprechen konnte, machte ihn sehr traurig und zwang ihm
einst folgende Äußerung ab: „Ach, wir Einsamen und Freien im
Geiste — wir sehen, daß wir fortwährend irgendworin anders
scheinen als wir denken: während wir nichts als Wahrheit und
Ehrlichkeit wollen, ist rings um uns ein Netz von Mißverständnissen ;
und unser heftiges Begehren kann es nicht hindern, daß doch auf
unserem Tun ein Dunst von falschen Meinungen, von Anpassung,
von halben Zugeständnissen, von schonendem Verschweigen, von
irrtümlicher Andeutung liegen bleibt. Das sammelt eine Wolke von
Melancholie auf unserer Stirne: denn daß das Scheinen Notwendig-
keit ist, hassen wir mehr als den Tod."
Weihnachten 1874/75 verbrachte Nietzsche bei seiner Mutter
in Naumburg. Reisepläne wurden geschmiedet, als von Frau Wagner
ein Schreiben eintraf, worin Nietzsche ersucht wurde, seine Schwester
zu bereden, sie möge bei Wagners Kindern Mutterstelle vertreten,
da beide verreisen müßten. Frau Förster entsprach dieser Bitte und
traf Anfang Februar in Bayreuth ein, worüber niemand glücklicher
war als Nietzsche: „Liebe Lisbeth, ich habe mich sehr gefreut, daß
Du Dich kurz und gut entschlossen hast; ich legte großen Wert
darauf, daß Du es tatest, zuletzt bleibt es eine Art von hoher
Schule für Dich; ich weiß keinen anderen Weg, wie Du so recht
gründlich in alle meine Beziehungen eingeweiht werden könntest.
Und so wird es für unsere Zukunft gut sein, daß es so gekommen
— 49 —
ist. Ich freue mich, wenn ich daran denke." Die Abende, die Frau
Förster nach Wagners Rückkehr mit diesem und seiner Frau ver-
lebte, zählt sie gleichfalls zu den schönsten Erinnerungen ihres
Lebens. War es ihr doch gelungen, Wagners Mißtrauen in die An-
hänglichkeit ihres Bruders ganz zu vernichten. Während ihres Auf-
enthaltes in Bayreuth entstand zwischen Nietzsches Schwester und
Frau Cosima eine so herzliche Vertrauhchkeit, daß sich beide von
da an Du und Freundinnen nannten.
Auch Baron Gersdorff genoß damals Wagners vollstes Ver-
trauen, ja der Meister betrachtete ihn als den einzigen, dem er
aufrichtig seine Gedanken über Nietzsche mitteilte. So schrieb er
ihm einmal: „Sie gewähren mir eine große Freude, mich in betreff
Ihrer Lebensentschlüsse für so wichtig anzuschlagen. Sollte ich wirk-
lich einen so großen Einfluß auf Sie gehabt haben, so müßte ich
mit mir selbst besonders zufrieden sein, da Sie mit so männlich
freundlicher Ausdauer Ihre Entschlüsse ausführen, so daß ich mir
wirkhch sagen dürfte, in einem recht tüchtigen Sinne einem Freunde
einmal nützUch gewesen zu sein; wie oft ist dagegen die nähere
Begegnung mit einem anderen nur von verwirrendem, ja störendem
Einfluß gewesen! Dies soll gewiß von unserem geliebten Nietzsche
nicht gelten, von dem ich mir allerdings doch nicht vorstellen
könnte, daß er ohne seine Bekanntschaft mit mir glücklicher
gewesen wäre. Doch aber begegnete er mir auf dem Felde des
Lebens, das uns gar leicht zum Sumpfe wird, wenn wir nicht zu-
zeiten fliegen können. Sie sind ,mein lieber Freund, an dem ich
Wohlgefallen habe' — ganz wie der liebe Gott. In sechs Tagen
feiern wir das sechsjährige Gedenkfest des ersten Aufenthaltes
Nietzsches auf Tribschen !!!"...
Grießer, Wagner und Nietzsche.
VI. „RICHARD WAGNER IN BAYREUTH."
So konnte Nietzsche aus all den mündlichen und schriftlichen
Mitteilungen seiner Schwester und seiner Freunde erkennen, wie
der Meister sich der begründeten Hoffnung hingab, sein junger
Freund werde im Bunde mit ihm die angestrebte große Kultur-
reformation durchsetzen — aber alle diese Mitteilungen und Briefe
schnitten ihm bitter ins Herz und erschütterten ihn immer wieder
auf seiner eigenen Bahn. Da rafft er sich, innerlich schon ein
Schwankender, noch einmal auf, faßt alles Große, was er einst an
Wagner gesehen, in verklärtem Lichte zusammen, entwirft das
Ideal eines Künstlers in dithyrambischen Tönen, zeichnet ein
strahlendes, zitterndes, glühendes Bild vor unser Auge und nennt
es seine „IV. Unzeitgemäße: Richard Wagner in Bayreuth", keine
eigentliche Werbeschrift mehr, wie der Meister wohl erwartet haben
mochte ; oder denn : eine Werbeschrift, die er an sich selbst richtete.
Es war der Versuch, das alte Bild wiederherzustellen, das ihm
entschwunden war, die Idee gegenüber der Realität zur Geltung zu
bringen. Aber eben dies brachte etwas Gezwungenes, Übertriebenes
in die Schrift. Es mußte selbst für Wagner etwas Peinliches haben.
Der Inhalt dieser Schrift, die im Grunde nur eine erweiterte
Ausführung der im IL Teile der Geburt der Tragödie aufgestellten
Probleme ist, ist folgender: das Bayreuther Unternehmen ist die
erste Weltumseglung im Reiche der Kunst, wobei, wie es scheint,
nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt
wurde. In dem großen BHcke, mit dem wir auf das Ereignis von
Bayreuth hinzusehen haben, hegt die große Zukunft jenes Ereig-
nisses. Das Dramatische im Werden Wagners ist nicht zu ver-
kennen von dem Augenblicke an, wo die in ihm herrschende Leiden-
schaft ihrer selbst bewußt wird und seine ganze Natur zusammen-
faßt. Das wunderbar strenge Urbild des Jünglings, den Siegfried im
Ring des Nibelungen, konnte nur ein Mann erzeugen, der seine
Jugend erst spät gefunden hat; spät kam auch sein Mannesalter,
so daß er wenigstens hierin der Gegensatz einer vorwegnehmenden
Natur ist: sobald seine geistige und sittliche Mannbarkeit eintreten.
— 51 ~
beginnt auch das Drama seines Lebens. Durch Wagners Gestalten
geht ein verbindender unterirdischer Strom von sitthcher Veredlung
und Vergrößerung durch alle hindurch, der immer feiner und
geläuterter flutet, und hier stehen wir vor einem innersten Werden
in Wagners eigener Seele. Alles nimmt an dieser Läuterung teil
und drückt sie aus, der Mythus nicht nur, sondern auch die Musik.
Im Ringe des Nibelungen finde ich die sittlichste Musik, die ich kenne,
dort, wo Brunhilde von Siegfried erweckt wird. Hier reicht er hinauf
bis zu einer Höhe und Heihgkeit der Stimmung, daß wir an das
Glühen der Eis- und Schneegipfel in den Alpen denken müssen, so
rein, einsam, schwer zugänglich, trieblos, vom Leuchten der Liebe
umflossen, erhebt sich hier die Natur; Wolken und Gewitter, ja
selbst das Erhabene sind unter ihr. In jedem, was er dachte und
dichtete, hat Wagner das Problem der Treue ausgeprägt; es ist die
eigenste Urerfahrung, welche Wagner in sich selbst erlebt hat, und
wie ein religiöses Geheimnis verehrt. Niemand wird ihm den Ruhm
mehr streitig machen, das höchste Vorbild für alle Kunst des großen
Vortrages gegeben zu haben; aber er wurde noch viel mehr, und
es war ihm so wenig als jemandem erspart, sich lernend die höchste
Kultur anzueignen. Auf die Verbesserung der als veränderlich
erkannten Seite der Welt loszugehen, lehren die wahren Philosophen
durch die Tat dadurch, daß sie an der Verbesserung der Einsicht
der Menschen arbeiten. Und Wagner ist dort am meisten Philosoph,
wo er am tatkräftigsten und heldenhaftesten ist. Die Erde sehnt
sich wieder nach der Hellenisierung : nicht den gordischen Knoten
der griechischen Kultur zu lösen, wie es Alexander tat, sondern
ihn zu binden, nachdem er gelöst war, das ist jetzt die Auf-
gabe. In Wagner er kenn eich einen solchen Gegen-Alexander,
insofern gehört er zu den ganz großen Kulturgewalten. Für
uns bedeutet Bayreuth die Morgenweihe am Tage des Kampfes. Wir
sehen in jenem Bilde des tragischen Kunstwerkes von Bayreuth den
Kampf der einzelnen mit allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche
Notwendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen, Ver-
trag und ganzen Ordnungen der Dinge. Darin liegt die Größe und
Unentbehrhchkeit der Kunst, daß sie den Schein einer einfachen
Welt, einer kurzen Lösung der Lebensrätsel erregt. Der einzelne
soll zu etwas Überpersönlichem geweiht sein : das will die Tragödie.
Es gibt nur eine Hoffnung und eine Gewähr für die Zukunft des
4*
— 52 —
Menschlichen: daß die tragische Gesinnung nicht absterbe. Wagner
fand ein Verhältnis zwischen zwei Dingen, die fremd und kalt wie
in getrennten Sphären zu leben schienen, zwischen Musik und
Leben, und zwischen Musik und Drama. Über dem Werden des
wirkUchen Wagner liegt eine verklärende und rechtfertigende Not-
wendigkeit. Seine Kunst, im Entstehen betrachtet, ist das herr-
lichste Schauspiel: denn Vernunft, Gesetz, Zweck zeigt sich überall.
Die gewaltigste Lebensäußerung Wagners ist jene dämonische Über-
tragbarkeit und Selbstentäußerung ; welche sich anderen ebenso mit-
teilen kann, als sie andere Wesen sich selber mitteilt und im Hin-
geben und Annehmen ihre Größe hat. Indem der Betrachtende
scheinbar der aus- und überströmenden Natur Wagners unterliegt,
hat er an ihrer Kraft selber Anteil genommen und ist so gleichsam
durch ihn gegen ihn mächtig geworden. Und jeder, der sich genau
prüft, weiß, daß selbst zum Betrachten eine geheimnisvolle Gegner-
schaft, die des Entgegenschauens, gehört. In Wagner ist das Wesen
des dithyrambischen Dramatikers, diesen Begriff so voll genommen,
daß er zugleich den Schauspieler, Dichter und Musiker umfaßt, so
wie dieser Begriff aus der einzig vollkommenen Erscheinung des
dithyrambischen Dramatikers vor Wagner, aus Aischylos, und seinen
griechischen Kunstgenossen entnommen werden muß. Durch die
Tragödie wird dem Leben seine herrlichste Weisheit, die des tragi-
schen Gedankens geschenkt, und es erwächst der große Zauberer
und Beglücker unter den Sterblichen, der dithyrambische Dramatiker.
In Wagner stieg der herrschende Gedanke seines Lebens auf, daß
vom Theater aus eine unvergleichliche Wirkung, die größte Wirkung
aller Kunst ausgeübt werden könne. Wer sich über die Nachbar-
schaft des „Tristan" und der „Meistersinger" befremdet
fühlen kann, hat das Leben und Wesen aller wahrhaft großen
Deutschen in einem wichtigen Punkte nicht verstanden. Er weiß
nicht, auf welchem Grunde allein jene eigentlich und einzig deutsche
Heiterkeit Luthers, "Beethovens und Wagners erwachen kann, jene
goldhelle, durchgegorene Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe,
betrachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit, wie sie Wagner als den
köstlichsten Trank allen denen eingeschenkt hat, welche tief am
Leben gehtten haben, und sich ihm gleichsam mit dem Lächeln
des Genesenden wieder zukehren. Um sein größtes Werk in seinem
eigensten Rhythmus zum Beispiel für alle Zeiten hinzustellen, erfand
— 53 ~
er den Gedanken von Bayreuth. Die Größe Wagners, des Künstlers,
besteht in jener dämonischen Mitteilbarkeit seiner Natur,
welche in allen Sprachen von sich redet und das innere
eigenste Erlebnis mit der höchsten Deutlichkeit er-
kennen läßt. Sein Auftreten in der Geschichte der Künste gleicht
einem vulkanischen Ausbruche des gesamten mitgeteilten Kunst-
vermögens der Natur selber, nachdem die Menschheit sich an dem
Anblicke der Vereinzelung der Künste wie an eine Regel gewöhnt
hatte. Das Dichterische in Wagner zeigt sich darin, daß er in sicht-
baren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begriffen denkt; daß er
mythisch denkt, so wie immer das Volk gedacht hat. Und dies ist
das Mächtigste an der Wagnerschen Begabung, für jedes Werk seine
eigene Sprache auszuprägen und der neuen Innerlichkeit auch einen
neuen Leib, einen neuen Klang zu geben. Wagner erscheint als
Bildner höchster Art, welcher wie Aischylos der kommenden Kunst
den Weg zeigt. Niemand wird ihm den Ruhm mehr streitig machen,
das höchste Vorbild für alle Kunst des großen Vortrages gegeben
zu haben. Wagners Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, so
wie diese von dem großen ephesischen Philosophen verstanden
wurde als eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt als die
Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft. Als Künstler im ganzen
betrachtet, hat Wagner von Demosthenes etwas an sich, den furcht-
baren Ernst um die Sache und die Gewalt des Griffes, so daß er
jedesmal die Sache faßt. Das tiefste Bedürfnis treibt ihn, für seine
Kunst die Tradition eines Stiles zu begründen. Keine ästhetischen
Schriften bringen so viel Licht wie die Wagners, seine Gedanken
sind überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu
Völkern, sondern zu Menschen der Zukunft. Und nun fragt euch
selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen, ward dies für euch
gedichtet? Habt ihr den Mut, mit eurer Hand auf die Sterne dieses
ganzen Himmelsgewölbes von Schönheit und Güte zu zeigen
und zu sagen: es ist unser Leben, das Wagner unter die Sterne
versetzt hat?
H. St. Chamberlain, Wagners Schwiegersohn, nannte diese
Schrift Nietzsches das Beste, was dieser merkwürdige Mann je ge-
schrieben hat. Das ist ein einseitiges Werturteil, aufgebaut einzig
und allein auf der Tatsache, daß dieses Werk Nietzsches doch nur
ein Panegyrikus auf den Meister war, ein letzter Liebesblick des
— 54 ~
Scheidenden auf die entzückende Zeit der Gemeinschaft mit Wagner^).
Nietzsche sandte diese Schrift als „eine Art Bayreuther Festpredigt"
nach Bayreuth, wo sie tiefste Freude erregte, wobei der durch tausend
Sorgen in Anspruch genommene Meister unter dem unmittelbaren
Eindrucke der Lektüre das, was Nietzsche bereits von ihm trennte,
übersehen haben mochte. Denn er schrieb ihm: „Freund, Ihr Buch ist
ungeheuer. Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her?! Kommen
Sie nur bald und gewöhnen Sie sich durch die Proben an die Ein-
drücke. Ihr R. W." Es sollten diese Zeilen die letzten sein, die der
Meister seinem Jünger sandte. Und doch war bereits schon so viel
des Trennenden in dieser Schrift unzweideutig ausgedrückt: weil
Wagner zu der Urhalluzination der Gebärden erst die Tonsemiotik
suchte und erfand, weil er das Motiv zum Leitmotiv ausdeutete
und umschuf, verdankt sein Musikdrama als Gattung und Typus
seine Existenz nur Wagners gebieterischem Willen, nicht der eigenen
Lebensfülle. Figaro, Don Juan, Fidelio sind, die Nibelungen aber, aus
gewaltigstem Ehrgeiz geboren, sollen sein! Und indem sich Nietzsche
gegen jede ästhetizistische Auslegung des Wagnerschen Musikkultus
wehrt, meint er: „Man könnte uns nicht mehr Unrecht tun, als wenn
man annehme, es sei uns um die Kunst allein zu tun; als ob sie
wie ein Heil- und Betäubungsmittel zu gelten hätte, mit dem man
alle übrigen elenden Zustände von sich abtun könnte." In diesen
Worten liegt aber gleichzeitig auch ein Ausfall gegen Schopenhauer,
bei dem die Kunst bekanntlich eine Form der Erlösung ist, der
höchste Aufschwung der Seele. Nietzsche dagegen bejaht nur
die verwandelnde Kraft der Musik. So schrieb er 1871 an Rohde:
1) In einer seiner Vorreden erzählt Nietzsche, daß die Mehi'zahl seiner
Schriften durchaus nicht seine Gefühle zur Zeit der Niederschrift wider-
spiegeln, sondern Überlebtes darstellen, also von Gedanken reden, die bereits
neuen Ideen Platz gemacht haben. So war auch die „IV. Unzeitgemäße" „eine
Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit von mir, gegen
die schönste und gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt . . und tatsächlich
eine Loslösung, ein Abschiednehmen". Da wir heute in der glückhchen Lage
sind, die Entwicklung von Nietzsches Denken an Hand der veröffentlichten
Dokumente bis in die kleinsten Einzelheiten zu verfolgen, dürfen wir sa^en,
daß Nietzsche zu derselben Zeit, da er in seinen zur Veröffentlichung be-
stimpaten Schriften jedes Wort, das kein Lob Wagners oder Schopenhauers
enthielt, sorgfältig vermied, in seinen Gedanken weit davon entfernt war,
sich der Autorität dieser beiden Männer bedingungslos zu unterwerfen, viel-
mehr kräftig daran arbeitete, sich von ihrer Herrschaft loszumachen.
— 55 —
„Wenn ich mir denke, daß nur einige hundert Menschen aus der
nächsten Generation das von der Musik haben, was ich von ihr
habe, so erwarte ich eine völKg neue Kultur." Das auf Wagner
übertragen, heißt, daß Nietzsche von der Musik und Persönhchkeit
Wagners damals noch glaubte, daß ihr diese verwandelnde, kultur-
erneuernde Kraft innewohne. Nietzsches Vorstudien zu Eichard
Wagner in Bayreuth lassen das, was ihn von Wagner bereits trennte,
noch deutlicher und schärfer hervortreten. Auffällig ist allerdings,
daß der Mann, der lehrte, man müsse die alten Tafeln zerbrechen
und nur das Kinderland lieben, in diesen Vorstudien Ehrfurcht
predigt vor dem Vergangenen. Wiewohl ihm also die Wagnersche
Kunst die Ankündigung einer völlig neuen Kultur war, bekennt er:
„Ich könnte mir auch eine vorwärts blickende Kunst denken, die
ihre Bilder in der Zukunft sucht. Warum gibt es solche nicht? Die
Kunst knüpft an die Pietät an" . . . „eine besondere Form des
Ehrgeizes Wagners war es, sich mit den Größen der Vergangenheit
in ein Verhältnis zu setzen: mit Schiller, Goethe, Beethoven, Luther,
der griechischen Tragödie, Shakespeare, Bismarck. Nur zur Re-
naissance fand er kein Verhältnis; aber er erfand den deutschen
Geist gegen den romanischen. Interessante Charakteristik des deut-
schen Geistes nach seinem Vorbilde." Noch schärfer präzisiert und
als eine direkte Invektive gegen Wagner kehrt dieser Gedanke
wieder im „Menschlichen" : „Es gibt so anmaßende Menschen, daß
sie eine Größe, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu
loben wissen, als daß sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die
zu ihnen führt, darstellen." Wagner hat also, um die Zukunft seines
Werkes zu sichern, nach Tyrannenart für eine Vergangenheit ge-
sorgt, dabei jedoch der Geschichte Gewalt angetan, damit sie als
Vorbereitung und Stufenleiter zu ihm hin erscheine. So sind denn
in der Tat zahlreiche Ideen aus diesen Vorstudien später im „Fall
Wagner" entwickelt worden. Er spricht von der Maßlosigkeit in
Wagners Charakter und Begabung; aus Bach und Beethoven leuchte
„eine reinere Natur"; er urteilt strenge über das politische Leben
Wagners, über seine Beziehungen zur Revolution oder zum Könige
von Bayern; über seinen Antisemitismus; äußert starke Zweifel
über Wagners Wert nicht allein als Gesamtkünstler, sondern auch
als SpeziaUst; er deutet hin auf gewisse „reaktionäre Elemente" in
ihm: Sympathie für das mittelalterlich Christliche, buddhaistische
— 56 —
Neigungen, Liebe zum Wunderhaften ; deutschen Patriotismus. Dieses
Verhalten Nietzsches hat man ihm als Doppelzüngigkeit zum Vor-
wurfe gemacht. Aber ganz, mit Unrecht. Denn, so schreibt er: „Erst
glauben wir einem Philosophen, dann sagen wir: mag er in der Art,
wie er seine Sätze beweist, Unrecht haben, die Sätze sind wahr.
Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten, die Natur
des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag
er hundertmal Unrecht haben : aber sein Wesen ist im Recht, daran
wollen wir uns halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie
an einer Philosophie sein kann : nämlich die Ursache zu vielen Philo-
sophien, der große Mensch." Dieser scheinbar paradoxe Aphorismus
erklärt nun die Entwicklung von Nietzsches Gefühlen nicht nur gegen
Schopenhauer, sondern auch gegen Wagner: er hat damit angefangen,
sich für ihre Werke zu begeistern; dann hat er seine Liebe und
Ehrfurcht auf die Persönlichkeit dieser Meister selbst übertragen, er
hat sie als Menschen und Genies gehebt, unabhängig von ihren
Werken; er hat in der Folge jede Handlung sorgfältig vermieden,
die geeignet war, die leidenschaftliche Freundschaft, die er ihnen
geschworen hatte, zu stören; er hat sich insonderheit der öffent-
Uchen Kritik dessen enthalten, was ihn in ihren Werken nicht be-
friedigte. Schließlich ist aber doch ein Augenblick gekommen, wo
er erkennen mußte, daß die Unterschiede zwischen ihm und seinen
Meistern zu bedeutend waren, um sie verschweigen zu können,
ohne der Aufrichtigkeit gegen sich selbst Abbruch zu tun; und er
hat mit zerrissenem Herzen den gebieterischen Forderungen seines
Denkergewissens gehorcht und seine Kritik gegen seine Erzieher
gekehrt. Er hat dann den Irrtum eingesehen, in dem er sich ihnen
gegenüber befand. Er hatte in der Berührung mit ihnen nicht sie
zu begreifen gesucht, wie sie wirklich waren, sondern sich selbst.
Und diese Art vorzugehen, hatte ein scheinbar paradoxes, aber in
Wirklichkeit völlig logisches Resultat ergeben ; anstatt sich Schopen-
hauer und Wagner anzuähneln, hatte er sie im Gegenteil nach
seinem Bilde umgeformt. So zeigt das Bild, das er von Schopen-
hauer entwirft, eine nur ziemlich unbestimmte Ähnlichkeit mit dem
wirklichen Schopenhauer, wogegen Nietzsche mit großer Genauigkeit
das Ideal des „tragischen Philosophen" beschreibt, so wie er es be-
griff. Ebenso weit entfernte er sich von der objektiven Wirklichkeit
in seinem Bilde von Wagner und seiner Verteidigung des „Bay-
reuther Gedankens", als er die Idealfigur des dionysischen Künstlers
— • eine Art präexistenten Zarathustra — skizzierte und jenen
„großen Mittag" vorherbeschrieb, wo die versammelten Auserwählten
sich der höchsten Aufgabe weihen; anstatt seine Muster abzuzeichnen,
hatte Nietzsche seine inneren Traumgebilde beschrieben.
Was war also diese Schrift in Wirklichkeit? Hören wir, was
Nietzsche über ihre Entstehung sagte und wie er selbst über sie
urteilte: ^Was sich damals bei mir entschied, war nicht etwa ein
Bruch mit Wagner — ich empfand eine Gesamtabirrung meines
Instinktes, an dem der einzelne Fehlgriff, heiße er nun Wagner
oder Baseler Professur, bloß ein Zeichen war. Eine Ungeduld mit
mir selbst überfiel mich; ich sah ein, daß es die höchste Zeit war,
mich auf mich zurückzubesinnen. Mit einem Male war mir auf eine
schreckliche Weise klar, wieviel Zeit bereits verschwendet sei . . .
im Grunde kommt wenig darauf an, wovon ich mich loszumachen
hatte: meine Lieblingsform der Losmachung aber war die künstle-
rische: das heißt, ich entwarf ein Bild dessen, was mich bis dahin
gefesselt hatte: so von Schopenhauer und Wagner — zugleich ein
Tribut der Dankbarkeit." Nietzsche arbeitete an dieser Schrift
vom August bis Oktober 1875. Mitten in der Arbeit, etwa im Oktober,
schreibt er plötzlich an Rohde: „Meine Betrachtung unter dem Titel
,R. Wagner in Bayreuth' wird nicht gedruckt; sie ist fast fertig, ich
bin aber weit hinter dem zurückgeblieben, was ich von mir fordere :
und so hat sie nur für mich den Wert einer neuen Orientierung
über den schwersten Punkt unserer bisherigen Erlebnisse. Ich
stehe nicht darüber und sehe ein, daß mir selber die Orientierung
nicht völlig gelungen ist — geschweige denn, daß ich anderen
helfen könnte." Frau Förster zitiert Nietzsches Entwurf zu einer Vor-
rede, die sich noch erhalten hat und die ich vollinhaltlich wieder-
gebe: „Es gibt vielmehr ein paar ganz unaufmerksame Leute, die
jetzt noch gar nichts von Bayreuth und den Dingen, welche sich
jetzt an diesen Namen knüpfen, wissen: und dann zahllose, die viel
Falsches davon wissen und erzählen. Aber auch das Wahre und
Herrliche, was davon zu berichten bliebe, wie matt lebt es in den
Empfindungen und Worten derer, die ehrlich genug sind, es an-
zuerkennen ; und wiederum, wie unaussprechbar muß es den anderen
erscheinen, welche ganz von dem Feuer jenes Geistes durchglüht
sind, der hier zum erstenmal zu der Menschheit reden will.
— 58 —
Zwischen den Schwachempfindenden und den Sprach-
losen stehe ich selber in der Mitte: dies zu bekennen ist
weder vermessen noch allzu bescheiden, sondern nur schmerzlich:
weshalb gerade das, braucht niemand zu wissen. Wohl aber ent-
nehme ich aus meiner Mittenstellung ein Gefühl von Pflicht, zu
reden und einiges deutlicher zu sagen, als es bis jetzt in bezug auf
diese Ereignisse geschehen ist. Ich verzichte aus Not darauf, die
sehr verschiedenen Erwägungen, zu denen ich mich gedrängt fühle,
in Form und Zusammenhang zu bringen; man könnte wohl den
Eindruck eines Ganzen und Geschlossenen mit einiger Kunst der
Täuschung hervorbringen: ich will ehrhch bleiben und sagen, daß
ich es jetzt nicht besser machen kann, als ich es hier mache, ob
ich es freilich schlecht genug mache." Das Werk blieb unvollendet,
bis Nietzsche, der im Winter wieder eine gefährhche Krankheit
überstanden hatte, im Frühjahre 1876 die Arbeit wieder vornahm,
um Wagner seine Dankbarkeit für unzähhge glückliche Stunden
und für alles, was Wagner in ihm entzündet hatte, auszudrücken.
Daher hieß es im Geburtstagsbriefe an den Meister, 21. Mai 1876:
„Seit den ersten Besuchen in Tribschen leben Sie in mir und wirken
unaufhörlich als ein ganz neuer Tropfen Blutes, den ich früher gewiß
nicht in mir hatte! Dieses Element ... treibt, beschämt, ermutigt,
stachelt mich und hat mir keine Ruhe mehr gelassen, so daß ich
beinahe Lust haben könnte, Ihnen wegen dieser ewigen Beunruhigung
zu züinen, wenn ich nicht ganz bestimmt fühlte, daß diese Unruhe
mich zum Freier- und Besser werden unaufhörlich antreibt. So
muß ich dem, welcher sie erregte, mit dem allertiefsten Gefühle
des Dankes dankbar sein; und meine schönsten Hoffnungen, die ich
auf die Ereignisse dieses Sommers setze, sind die, daß viele in
einer ähnlichen Weise durch Sie und ihre Werke in jene Unruhe
versetzt werden und dadurch an der Größe Ihres Wesens und Lebens-
ganges einen Anteil bekommen." Wir sehen: im persönlichen oder
briefhchen Verkehre werden alle Formen des Anstandes und der
Höflichkeit peinlich gewahrt, und doch drängt sich dem scharf be-
urteilenden Beobachter die Wahrnehmung auf, als fände dieser
Nietzsche nicht mehr den Mut, dem Meister offen vor die Augen zu
treten und ihm Dinge zu sagen, an deren Wahrheit er selbst schon
längst nicht mehr glaubt. Daher die um so größere Rücksichtnahme
in den Briefen. Und auch unsere Schrift selbst zeugt von Nietzsches
— 59 —
widerstreitenden Empfindungen. Aus erhaltenen Briefentwürfen an
Wagner und dessen Frau erhellt deutlich seine Beunruhigung: „Es
ist, als ob ich wieder einmal mich selber aufs Spiel gesetzt hätte.
Ich bitte Sie auf das herzlichste: lassen Sie geschehen sein, was
geschehen ist, und gewähren Sie einem, der sich nicht geschont
hat, Ihr Mitleid und Ihr Schweigen. Lesen Sie diese Schrift, als ob
sie nicht von Ihnen handelte und als ob sie nicht von mir wäre.
Eigenthch ist über meine Schrift unter Lebenden nicht gut zu reden,
es ist etwas für die Unterwelt" ; . . . abgesandt wurde folgendes :
„meine Schriftstellerei bringt für mich die unangenehme Folge mit
sich, daß jedesmal, wenn ich eine Schrift veröffentlicht habe, irgend
etwas in meinen persönlichen Verhältnissen in Frage gestellt wird
und erst wieder mit einem Aufwand von Humor eingerenkt werden
muß ... Sie haben mir einmal, in Ihrem allerersten Briefe an
mich, etwas vom Glauben an die deutsche Freiheit^) gesagt: an
diesen Glauben wende ich mich heute: wie ich auch nur
aus ihm den Mut finden konnte, das zu tun, was ich getan
habe." Wahrlich, so spricht nie und nimmer ein Mensch, der an
seinem Freunde zum Verräter werden will.
Man hat vielmehr das Gefühl, als ob Nietzsche, noch an Wagner
hängend, aber an ihm bereits zweifelnd, mit seiner Romantiker-
sehnsucht einen neuen Heros suchte. Und dieser neue Heros, dessen
noch schattenhaft vor Nietzsches Seele aufsteigender Genius seinen
Ausblick auf Wagner zu verdunkeln begann, ist niemand anderer
als Pia ton. Aus derselben Zeit nämlich, wie die „IV. Unzeitgemäße",
stammt ein Fragment, das auf eine Neubearbeitung des Philosophen-
buches Bezug nimmt und wo die interessante Frage aufgerollt wird,
wie sich wohl Piaton ohne Einwirkung des Sokrates entwickelt
haben würde. „Tragödie, tiefe Auffassung der Liebe, reine Natur,
keine fanatische Abkehr, offenbar waren die Griechen im Begriffe,
einen noch höheren Typus des Menschen zu finden als die früheren
waren; da schnitt die Schere dazwischen. Es bleibt beim tragischen
Zeitalter der Griechen." Wir können nur der Vermutung Ausdruck
geben, daß Nietzsche, hätte er dieses Fragment weiter ausgeführt, in
Piaton die Gestalt seines Übermenschen antizipierend realisiert hätte.
Diese Ideengänge mußten naturgemäß gleichfalls auf die Darstellung
der „IV. Unzeitgemäßen" Einflußnehmen: einerseits wird Piaton gegen
1) Cf. p. 10.
— 60 —
Wagner ausgespielt, wiewohl Nietzsche anderseits sich nicht scheut,
im Gegensatz zur platonischen Forderung, die Tragödie aus seinem
Staate zu bannen, mit einer gewissen Künstelei die Forderung nach
einem „Zauberer und Alldramatiker" erhebt, damit wir wenigstens
für die Dauer einiger Stunden erlöst und befreit werden von den
Spannungen, die der sehende Mensch jetzt zwischen sich und den
ihm aufgebürdeten Aufgaben empfindet. Da aber die heutige Mensch-
heit noch gar keine Hoffnung auf Piatons Staat habe, habe sie
„selbst zu dieser Blindheit kein Recht, während Piaton gegen alles
wirklich Hellenische mit Recht blind sein durfte, nach jenem einzigen
Blick seines Auges, den er in das Idealhellenische getan hatte".
Und wenn Nietzsche gleichzeitig an Rohde schreibt: „Nur dadurch
können wir zu wirklichen Lehrern werden, daß wir uns selbst mit
allen Hebeln aus dieser Zeitluft herausheben und daß wir nicht nur
weisere, sondern vor allem bessere Menschen sind. Also, wir werfen
einmal dieses Joch ab, das steht für mich ganz fest! Und dann
bilden wir eine neue griechische Akademie", so ergibt sich aus
alledem, daß nicht mit einer großen populären Theaterwirkung wie
in Bayreuth, sondern nur durch die Sorge um die eigene Seele und
die echten geistigen Bedürfnisse, nur im engen Kreise wirklich
Gleichgesinnter für Nietzsche das vorbereitet werden kann, wovon
die Zukunft ihren Ausgang nehmen soll. Bei dieser Gelegenheit ver-
weise ich den Leser auf das wertvolle Buch: Kurt Hildebrandt:
„Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Piaton".
Etwas ganz anderes ging in dieser Seele vor sich und rang
sich unter Kämpfen, von deren Schwere wir wohl kaum eine Ahnung
haben können, ans Licht. Nietzsche war Wagners begeisterter
Apostel: aber in demselben Verhältnisse, wie seine Mission für ihn
immer mehr in den Vordergrund trat, verschob sich für ihn sein
Verhältnis zu Wagner. Dessen Person hatte ihn beherrscht : Wagner,
das Genie, der Reformator der Kunst, der Reorganisator der Kultur.
Aber schließlich doch eben dieser lebende Mensch mit all seiner
unbeschreiblichen Eigenart. Um seinetwillen war er in den Dienst
der Bayreuther Sache getreten. Jugend meint immer Personen, wenn
sie die Sache zu meinen glaubt. Aber nun war Nietzsche reif; nun
hatte er es selbst gefühlt bei der Fehde wider Dr. Fr. Strauß, daß
er nur die Sache meinte, wo es der Person zu gelten schien. Bay-
reuth wurde für Nietzsche die Hauptsache, Wagner Mittel zum Zweck.
VII. DIE FESTSPIELE DES JAHRES 1876.
„MENSCHLICHES, ALLZUMENSCHLICHES."
Und so begab sich Nietzsche mit hochgespannten Erwartungen
zu den Festspielen, die Mitte Juli 1876 begannen, nach Bayreuth,
wo er Verständnis für das, was ihn beschäftigte, erhoffte: „Künstler
bringen ihre Kunst heran, Schriftsteller ihre Werke zum Vortrage,
Reformatoren ihre neuen Ideen. Ein allgemeines Bad der Seelen soll
es sein : dort erwacht der neue Genius, dort entfaltet sich ein Reich
der Güte. Ich wünschte mir den Grad von rhythmischer Augen-
Begabung, um über das ganze Nibelungenwerk in gleicher Weise
hinschauen zu können, wie es mir in einzelnen Werken mitunter
gelingt: aber ich ahne da noch eine besondere Gattung rhythmi-
scher Freuden des höchsten Grades. Die Rheintöchterszene mit
Siegfried im vorletzten Akt des letzten Dramas, und die Rhein-
töchterszene mit Alberich im ersten Akt des ersten Dramas; der
Liebesjubel der sich Findenden, Siegfrieds und Brünhildens, im letzten
Akt des Siegfried und der Abschiedsjubel der sich Trennenden im
ersten Akt der Götterdämmerung usw. Dann wieder die Nornen-
szene im Anfange der ersten Aktes (Vorspiel) der Götterdämmerung."
Doch sehr widersprechend klingen seine Nachrichten über die ersten
Bayreuther Eindrücke: er hat sich die Götterdämmerung angesehen
und findet es gut, sich daran zu gewöhnen; jetzt sei er in seinem
Elemente. Doch Wagner, der alle seine Kräfte seinem Werke widmete,
konnte aus leicht begreiflichen Gründen für die geistigen Wandlungen
seines Freundes kein tieferes Interesse, geschweige denn ein Ver-
stehen zeigen. Daher weist Nietzsche alle Einladungen Wagners
zurück, er will allein sein, mit sich selbst. Und dann auf einmal
beginnt er sich wegzusehnen: an einem Montag wohnte er einer
Probe bei, aber es gefiel ihm gar nicht und er mußte hinaus; es
graut ihm vor jedem dieser langen Kunstabende. Auch zur ersten
Vorstellung will er nicht da sein, sondern irgendwo; nur nicht hier,
— 62 —
wo es ihm nichts als Qual ist. „Ich weiß ganz genau, daß ich es
dort nicht aushalten kann, ja eigentlich hätten wir es vorher
wissen sollen. Mein Fehler war der, daß ich nach Bayreuth mit
einem Ideal kam; so mußte ich denn die bitterste Enttäuschung
erleben. Die Überfülle des Häßlichen, Verzerrten, Überwürzten stieß
mich heftig zurück." Und Nietzsche floh aus Bayreuth, wohin er ge-
kommen war, „die deutsche Kaaba zu sehen. Und er sah die
eleganten Damen und Laffen": nach Klingenbrunn begab er sich,
wo er, erschöpft durch den kurzen Aufenthalt in Bayreuth, gar nicht
recht wieder zu sich kommen konnte. Aber noch einmal rafft er
sich auf und kehrt nach Bayreuth zurück, um seiner Schwester zu-
liebe dem ersten Zyklus der Festspielaufführungen beizuwohnen,
in Wahrheit aber wohl, um nochmals zu prüfen, ob der Eindruck,
den er durch die Proben gewonnen hatte, ein endgültiger war, ob
er Wagner nicht unrecht getan habe! Aber auch diesmal hielt er
es nicht bis zum Schlüsse der Ferien in Bayreuth aus, sondern
schied eines Tages: „Ach, Lisbeth, das war nun Bayreuth!" sprach
er kummervoll, und seine Augen waren mit Tränen gefüllt. Alle
Fassung muß':e er zusammennehmen, um die grenzenlose Ent-
täuschung dieses Sommers zu ertragen.
Im Herbste desselben Jahres reiste Nietzsche nach Italien und
lebte in Gesellschaft mit Dr. Paul Ree bei Malwida v. Meysenburg
in Sorrent, wohin sich später auch Wagner begab. Doch vorher
noch schrieb ihm Nietzsche, daß dieser Herbst für ihn, und wohl
nicht für ihn allein, mehr Herbst sei als ein früherer. Hinter dem
großen Ereignis liege ein Streifen schwärzester Melancholie, aus dem
man sich gewiß nicht schnell genug nach Italien oder ins Schaffen
oder in beides retten kann.
Was war mit Nietzsche geschehen? War Nietzsche vielleicht
schon erkrankt? War es das tieferschöpfte Nervensystem des
Neurasthenikers, das die furchtbaren Zerrungen und Nervensensationen
der Wagnerschen Musik nicht mehr ertrug? Daß man nach einer
Tristan- oder Parsivalaufführung wohl schwerlich ohne wirkliche
Nervenerschütterung aus dem Theater gehen werde, das gibt selbst
Lichtenberger zu; aber wer will entscheiden, ob diese Nerven-
erschütterung tatsächlich etwas Ungesundes ist? Allerdings sind
nervöse Menschen vor dem Genüsse der emotionellen Wagnerschen
Musik zu warnen. Tatsache ist, daß von nun ab R. Wagner sinkt
— 63 —
und Peter Gast steigt, daß die Hoffnung auf das Gesamtkunstwerk
sinkt und die Vorliebe für das Melos der Italiener steigt.
Ich erwähnte bereits, daß die Familie Wagner gleichfalls nach
Sorrent reiste. Zwischen dem Meister und Nietzsche entspann sich
wieder ein reger Verkehr, der jedoch, wie Nietzsche selbst sich
äußerte, etwas schwierig gewesen sei: er und Wagner hätten sich
gebärdet, als ob sie beide sehr glücklich wären, zusammen zu sein,
um Wichtiges miteinander auszutauschen. Im Grunde aber habe
man sich nichts mehr zu sagen gehabt. Frau Förster-Nietzsche
erzählt über die Art und Weise dieses Verkehrs folgendes: „Von
einer Art der intimsten Unterhaltung in Sorrent behielt mein
Bruder die peinlichste Erinnerung zurück. Wagner, mit dem Parsifal
beschäftigt, fühlte recht wohl, daß ein Bühnenweihfestspiel, erdacht
und komponiert von einem so schroffen Atheisten, wie er sich in
Tribschen immer gezeigt hatte, kaum als ein christlich-religiöser
Akt empfunden werden könnte, wie er doch sollte. So gestand er
meinem Bruder allerhand christhche Empfindungen und Erfahrungen,
allerhand Hinneigungen zu christUchen Dogmen; er erzählte ihm
vom Genuß, den er der Feier des heiligen Abendmahls verdanke.
Mein Bruder hielt es für unmöglich, daß jemand, der sich so wie
Wagner bis zu den äußersten Konsequenzen als Atheist') aus-
^) So betont Nietzsche in einer seiner Vorarbeiten zui' „IV. Unzeit-
gemäßen" ausdrückiieh den Atheismus Wagners, weil das Wunderhafte
beim Künstler künstlerisch und nicht dogmatisch ist und Wagner über der
religiösen Deutung der Mythen frei steht; fromm ist ein Dichter niemals,
OS gibt keinen Kultus vor den Göttern, man glaubt nicht an siel Und doch
schrieb dieser Wagner einen Parsifal, wiewohl er Mathilde Wesendonk einst
mitgetoilt hatte, daß er „sich so recht angeekelt fühle durch die detaillierte
Beschreibung des endlich festgestellten Kultus mit seinen Reliquien und
abgeschmackten bildlichen Darstellungen". Über ein in Luzern begangenes
„Fronleichnamsfest, angeführt von den Pfaffen, die sich dazu sogar goldene
Schlafröcke angezogen hatten", findet er ironische Worte und nennt es „ein
Glück, daß ich sie nicht zu nah sah." Deshalb konnte die Fürstin v. Wittgen-
stein, „une grande chrötienne", über den Parsifal sich äußern: „Ich zweifle
nicht, daß Wagners Genie die religiöse Stimmung in der Musik mit einer
noch nie dagewesenen Intensität wiederzugeben gewußt hat. Ob aber die
gläubigen Christen es gut heißen werden, solch hohe Kunst zur Parodie
ihrer heiligsten Sakramente angewandt zu sehen, ist noch eine Frage . . .
Kundry, diese Karikatur der heiligen Magdalena! Dieser Unsinn im ganzen
Buch, der die mittelalterliche Dichtung auf solchen absurden Boden stellt!
— 64 —
gesprochen hatte, jemals wieder zu einem frommen, naiven Glauben
zurückkehren könnte. Er nahm deshalb Wagners Wandlung nur als
Mittel, um sich mit den fromm gewordenen herrschenden Mächten
in Deutschland zu arrangieren. So hörte er schweigend Wagners
Reden an, das Herz zum Zerspringen voll Kummer über diese
Schauspielerei Wagners gegen sich selbst; er schrieb folgende harte
Worte nieder: ich bin nicht imstande, irgendeine Größe anzuerkennen,
welche nicht mit Redlichkeit gegen sich verbunden ist; die
Schauspielerei gegen sich flößt mir Ekel ein. Entdecke ich so etwas,
so gelten mir alle Leistungen nichts; ich weiß, sie haben überall
und im tiefsten Grunde diese Schauspielerei."
Erregte also einerseits Wagner durch seine Frommtuerei
Nietzsches Mißfallen, so ärgerte sich anderseits der Meister, weil
sein Freund in eifrigem Verkehre stand mit Dr. Paul Ree, einem
Juden, der in seinen philosophischen Schriften besonders jedes
System einer metaphysischen Ethik bekämpfte. Ohne Frage hat
Nietzsche Rees nüchterne, mehr aufs Reale gerichtete Anschauungs-
weise nach der Enttäuschung in Bayreuth wohl getan. Wagner, der
große Antisemit, konnte an Ree, den Nietzsche einen „überaus
klaren Kopf" und einen „Moralisten vom schärfsten Blick" genannt
hatte, absolut keinen Gefallen finden, welchen Umstand Frau Cosima
Nietzsches Schwester keineswegs verschwieg. Wagner nannte ihn
einen „heimtückischen Gesellen, an dem Nietzsche nichts Gutes
erleben werde ... es gibt Wanzen, es gibt Läuse ; gut, sie sind da ;
aber die brennt man aus; die Leute, die das nicht tun, sind Schweine" ^).
Nietzsche jedoch ging abermals seine eigenen Wege und „trug
Es wäre aber auch zu lang, auseinanderzusetzen, wie dem Heiligsten unseres
christlichen Glaubens hier ins Gesicht geschlagen wird! Einmal wird die
Reaktion schon kommen!" Frau Förster sagt nicht mit Unrecht, daß der
Geschmack an einer bestimmten Art Musik sich zuweilen schnell ver-
ändere — sakrale Musik, die mit den Religionskulten zusammenhänge, aus-
genommen. Wagner, der mit heißem Bemühen nach dem goldenen Lorbeer-
kranze ewigen Ruhmes griff, wußte das wohl; es ist möglich, daß sein Ver-
such, eine neue Religion zu stiften, diesen Hintergrund hatte. Ein neues
Christentum sollte in Bayreuth im Parsifal erblühen, und dessen heilige
Kultusmusik sollte für ewige Zeiten die Parsifalmusik ein. Aber welch
seltsame Vorstellung, ein neues Christentum in einem Opernhause begründen
zu wollen!
') Cf C. A. Bernoulli „Franz Overbeck und Fr. Nietzsche"; I, p. 212.
— 65 —
diese Wanze volle sechs Jahre herum", bis er durch sie zu einem
offenen Gegner Schopenhauers und damit natürlich auch "Wagners
geworden sei. Das sei die Frucht seines „sehr lebendigen Appetites
nach Reealismus gewesen"!
Über den Einfluß, den Räe auf Nietzsches geistige Entwicklung
genommen haben soll, stehen einander die widersprechendsten
Ansichten gegenüber. Frau Förster-Nietzsche erwähnt die heute
noch gerne kolportierte und kritiklos geglaubte Fabel, daß der Ver-
kehr mit R6e auf Nietzsche so nachhaltig tief gewirkt habe, daß
man ihm das Buch „Menschliches, Allzumenschliches" ver-
danken müsse. Energisch weist sie diese Behauptung zurück, indem
sie meint, wäre dem wirklich der Fall, so sei dies geradeso, als
ob man von einem kleinen Vogel sagen wollte, er habe den Adler
in die Höhe getragen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß Frau
Förster-Nietzsche aus leicht begreiflichen Gründen den Einfluß
Dr. R^es, ja dessen Bedeutung überhaupt, einseitig unterschätzt.
Die gegenteilige Ansicht, eine maßlose Überschätzung Räes, vertritt
Frau Lou Andreas Salome. Für sie ist Ree „der schärfere Kopf",
und behauptet sie geradezu, daß Nietzsche aus Rees Theorien einfach
nur die praktischen Konsequenzen gezogen habe. Daß Nietzsche
sich an Ree so schnell angeschlossen habe, erklärt sie damit, daß
bei Nietzsche die psychische Reaktion auf seine seinerzeitige Ver-
herrlichung des Affektlebens, der Wagnerschen Kunst und Meta-
physik sich nun in einer Art „vorurteilsloser Kälte und Ruhe des
Erkennenden" entladen habe, was insoferne richtig ist, als Nietzsche
den Verkehr mit Ree als einen „wohltuenden Eisumschlag" emp-
fand. Und dasselbe Bedürfnis, das Nietzsche früher gezwungen habe,
seine Kunstideale in Wagners Werken realisiert zu sehen, habe sich
nun dahin geäußert, daß er seine positivistischen Gedanken gleich-
falls in jemandem verwirkhcht sehen mußte. Und dieser jemand
war Röe, wiewohl dessen Persönlichkeit der seinen durchaus ent-
gegengesetzt war. Deshalb habe Nietzsche genau so wie früher an
Wagner, jetzt an Ree sein Selbst verloren!
Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß Frau Andreas
R6es Einfluß auf Nietzsche wohl aus persönlicher Vorliebe für jenen
stark überschätzt hat. Die Wahrheit über diesen Einfluß wird nun
wohl in der Mitte zwischen den beiden bereits vorgetragenen An-
sichten liegen. Wenn Nietzsche R6e seinen „Heben Freund und
Grieß er, Wagner und Nietzsche. 5
— 66 —
Vollender'' nannte, so erblicke ich hierin nur einen Ausdruck der
überschwänglichen Freude Nietzsches, einen Menschen gefunden zu
haben, der ähnlich wie er dachte. Was tatsächlich Röe für Nietzsche
bedeutete, darüber unterrichtet uns am besten ein Brief Nietzsches
an Rohde (Juni 1878), dem wir bei der bekannten Wahrheitsliebe
des Philosophen unbedingten Glauben schenken müssen: „Suche nur
immer mich in meinem Buch und nicht Freund Ree. Ich bin stolz
darauf, dessen herrliche Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben,
aber auf die Konzeption meiner „philosophia in unce" hat er nicht
den allergeringsten Einfluß gehabt: diese war fertig und zu
einem guten Teile dem Papier anvertraut, als ich im Herbste 1876
seine nähere Bekanntschaft machte. Wir fanden einander auf gleicher
Stufe vor: der Genuß unserer Gespräche war grenzenlos, der Vor-
teil gewiß sehr groß, auf beiden Seiten"^).
In der Einsamkeit, mit blutender Wunde im Herzen, wie einst
Philoktetes seine bitteren Pfeile schärfend, schrieb Nietzsche sein
Buch: „Menschliches, Allzumenschliches" : „Neue Wege gehe
ich, eine neue Rede kommt mir; müde wurde ich gleich allen
Schaffenden der alten Zungen. Nicht will mein Geist mehr auf ab-
gelaufenen Sohlen wandeln." Aber abgesehen davon, daß dieses
Werk nur allzu deutlich Nietzsches endgültige Absage an Schopen-
^) In „Jenseits von Gut und Böse" sagt Nietzsche: „Es gibt zwei Arten
von Genies: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein anderes,
welches sich gern befruchten läßt und gebiert." Ohne Zweifel gehörte
Nietzsche zur zweiten Art: er hat sich anregen lassen. Wenn den von
Natur äußerst Sensiblen ein Gedanke packte, so erlebte er ihn: das ist
das durchaus Selbständige in seinem Schaffen. Sehr richtig sagt daher Frau
Leu Andreas : „Für Nietzsche bedeutete Beschäftigung mit einem Problem,
bedeutete Erkennen vor allen Dingen sich erschüttern lassen; und von der Wahr-
heit sich überzeugen, bedeutete ihm: von dem Erlebnis überwältigt werden,
über den Haufen geworfen werden, wie er es nannte. Er nahm einen Ge-
danken auf, wie man ein Schicksal auf sich nimmt, das den ganzen Menschen
ergreift und in Bann schlägt: er lebte den Gedanken noch viel melu' als
er ihn dachte, aber er tat es mit einer so leidenschaftlichen Inbrunst, einer
so maßlosen Hingebung, daß er sich an ihm erschöpfte." In diesen Worten
liegt sehr viel Wahrheit, die bestätigt wird durch sein Erlebnis mit Wagner.
Aber in noch viel höherem Grade hat Nietzsche einen Gedanken zum ilm
voll und ganz beherrschenden Erlebnisse in der letzten Periode seines
Schaffens gemacht ; freilich ein Gedanke, der, wie sich zeigen wird, ihn dann
tatsächlich „über den Haufen geworfen" hat.
hauer, mithin auch an Wagner bewies, griff er darin Wagner und
dessen Frau ganz offen an. Im „Eccehomo" äußerte er sich
darüber: „Ich habe mich in diesem Buche von dem Ungehörigen
in meiner Natur freigemacht, unzugehörig ist mir der Idealismus.
Der Titel sagt: wo ihr Ideale seht, sehe ich Menschliches, ach, nur
allzu Menschliches. Ein Irrtum nach dem anderen wird gelassen aufs
Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt, es erfriert; hier erfriert
das Genie, eine Ecke weiter der Heilige, am Schluß erfriert der
Glaube, die sogenannte Überzeugung, auch das Mitleiden kühlt sich
bedeutend ab."
Nietzsche hatte dieses Buch mit folgender Widmung nach
Bayreuth gesandt, die uns einen deutlichen Beweis gibt, mit welcher
Innigkeit er noch immer an der Person des Meisters und seinei
Gattin hing:
„Dem Meister und der Meisterin
entbietet Gruß mit frohem Sinn,
beglückt ob seinem neuen Kind
von Basel Friedrich Freigesinnt.
Er wünscht, daß sie mit Herzbewegen
aufs Kind die Hände prüfend legen
und schauen, ob es Vaters Art,
wer weiß? selbst mit 'nem Schnurrenbart.
Was ihm auf seinem Erdenwallen
beschieden sei: es will gefallen,
nicht vielen: fünfzehn an der Zahl,
den andern werd' es Spott und Qual.
Doch eh' wir in die Welt es schicken,
mög' Meisters Treuaug' segnend blicken;
und daß ihm folge fürderhin
die kluge Gunst der Meisterin!"
Dem Buche lag auch ein Brief bei, der im Entwurf lautet:
„Indem ich Ihnen das beifolgende Buch übersende, lege ich mein
Geheimnis vertrauensvoll in Ihre und Ihrer edlen Gemahlin Hände
und nehme an, daß es nunmehr auch Ihr Geheimnis sei. Dies
Buch ist von mir: ich habe meine innersten Empfindungen über
Menschen und Dinge darin ans Licht gebracht und zum erstenmal die
Peripherie meines eigenen Denkens umlaufen. In Zeiten, welche voller
Paroxysmen und Qualen waren, war dieses Buch ein Trostmittel,
welches nicht versagt, wo alle anderen Trostmittel versagten.
Vielleicht lebe ich noch, weil ich seiner fähig war ... ich weiß
5*
— 68 —
keinen, ... der die Ansichten dieses Buches hätte, bin aber sehr
begierig in bezug auf die Gegengründe, welche in diesem Falle vor-
zubringen sind. Mir ist zu Mute wie einem Offizier, der eine Schanze
gestürmt hat. Zwar verwundet — aber er ist oben und entrollt
nun seine Fahne. Mehr Glück, viel mehr Glück als Leid, so furchtbar
das Schauspiel ringsherum ist. Obschon ich ... niemanden kenne,
der jetzt noch mein Gesinnungsgenosse ist, habe ich doch die Ein-
bildung, nicht als Individuum, sondern als Kollektivum gedacht zu
haben. Das sonderbare Gefühl von Einsamkeit und Vielsamkeit. Ein
vorausgeeilter Herold, der nicht genau weiß, ob die Ritterschaft ihm
nachkommt oder ob sie noch existiert."
Wie wir dem „Ecce homo" entnehmen, „kam durch ein Wunder
von Sinn im Zufall gleichzeitig ein schönes Exemplar des Parsifal-
textes an mit Wagners Widmung: ,Herzlichen Gruß und Wunsch
seinem teuren Freunde Friedrich Nietzsche von Richard Wagner,
Oberkirchenrat'. Diese Kreuzung der zwei Bücher, mir war es, als
ob ich einen ominösen Ton dabei hörte ; klang es nicht, als ob sich
Degen kreuzten? Jedenfalls empfanden wir es beide so, denn wir
schwiegen beide. Um diese Zeit erschienen die ersten , Bayreuther
Blätter'; ich begriff, wozu es höchste Zeit gewesen war; unglaublich,
Wagner war fromm geworden." — Eisiges Schweigen war die einzige
Antwort aus Bayreuth: der Meister, der einen Menschen oder eine
Sache nur so lange gelten heß, als seiner Kunst durch sie ein höherer
Rang verliehen wurde, mußte sich tief verletzt und getrofien fühlen,
sein Treuauge blickte nichts weniger als segnend, und mit der
Meisterin kluger Gunst war es für immer vorbei. Hatte Nietzsche
eine solche Wirkung seines Buches erwartet? Als man ihn fragte,
wie er sich die Aufnahme dieses seines Buches durch Wagner vor-
gestellt habe, gab er zur Antwort: „Humanität der Freund- und
Meisterschaft. ,Gehe du gen Morgen: so werde ich gen Abend
ziehen' — so zu empfinden ist das hohe Merkmal von Humanität
im engeren Verkehr; ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft,
jede Jünger- und Meisterschaft irgendwann einmal zur Heuchelei. . .
Freund — nichts verbindet uns jetzt, aber wir haben Freude an-
einander bis zu dem Grade, daß der eine des anderen Richtung fördert,
selbst wenn sie schnurstracks der seinen entgegenläuft."
Weil Nietzsche in diesem Buche Wagner ofi"en angriff, wollte
er es ursprünglich anonym erscheinen lassen. Darauf wollte
— 69 —
jedoch sein Verleger nicht eingehen, und so mußte sich Nietzsche
schließlich bequemen, die persönUch gehaltenen Aphorismen um-
zuändern und statt des Namens „Wagner" das Wort „Künstler"
einzusetzen. In dieser Tatsache erblickt Julius Zeitler einen deutlichen
Beweis dafür, daß Nietzsche damals trotz der bereits erfolgten
Trennung von Wagner noch weit davon entfernt gewesen sei, diesen
„überwunden" zu haben. Aber auch trotz dieser veränderten Form
mußte Wagner bei einigen Aphorismen sehr deutlich erkannt haben,
daß ihre Spitze gegen ihn gerichtet sei. Wie mußte dem Meister zu
Mute gewesen sein, wenn er nun las, daß die übermäßige Ver-
herrhchung der künstlerischen Genialität der fortschreitenden Ver-
männlichung der Menschheit entgegenstehe. Es sei sehr fraglich, ob
der Aberglaube vom Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm
sich entwurzle. Jeder großen Erscheinung folge die Entartung nach,
namentlich im Bereiche der Kunst. Der glücklichste Fall in der
Entwicklung einer Kunst sei der, daß mehrere Genies sich gegen-
seitig in Schranken halten. Unsere Eitelkeit und Selbsthebe sei dem
Kultus des Genies nur förderlich; nur wenn dieses ganz fern von
uns gedacht ist als ein miraculum, verletze es niemanden. „Unsere
Musiker haben nicht den leisesten Geruch davon, daß sie ihre Ge-
schichte, die Geschichte der Verhäßhchung ihrer Seele, in Musik
setzen . . . das Kunstwerk gehört nicht zur Notdurft, die reine Luft
im Kopf und Charakter gehört zur Notdurft des Lebens. Wir sollen
uns von einer Kunst losmachen, die ihre Früchte zu teuer verkauft.
Hält es ein Künstler nicht in der hellen, guten Luft aus, muß er,
um seine Phantasie zu schwängern, in die Nebelhöhlen und Vor-
höllen hinein, gut : wir folgen nicht ... ein Künstler ist nicht Führer
des Lebens, wie ich früher sagte . . . namentlich ist das Verhalten
der Genies zueinander eines der dunkelsten Blätter der Geschichte.
Die Genie Verehrung ist oft eine unbewußte Teufelsanbetung gewesen.
Man sollte überrechnen, wie viele Menschen in der Umgebung eines
Genies sich ihren Charakter und ihren Geschmack verdorben haben."
Es ist klar, daß alle diese Ausfälle gegen das seinerzeit verherrUchte
Genie, wiewohl sie keinen Namen tragen, sich auf niemand anderen
beziehen als auf — Richard Wagner. Aber, wie schon erwähnt,
auch Frau Cosima wurde nicht geschont. So lautet ein Aphorismus
unter dem Titel „FreiwilUges Opfertier": „Durch nichts erleichtern
bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt und groß
— 70 —
sind, das Leben so sehr als dadurch, daß sie gleichsam das
Gefäß der allgemeinen Ungunst und gelegentlichen Verstimmungen
der übrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren großen
Männern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Un-
gerechtigkeiten nachzuahmen, wenn sie nur jemanden finden, den
sie als eigentliches Opfertier zur Erleichterung ihres Gemütes miß-
handeln und schlachten dürfen. Nicht selten findet eine Frau den
Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann
freilich der Mann sehr zufrieden sein, um sich einen solchen frei-
willigen Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu
lassen." Daneben findet sich aber gar mancher Aphorismus, der sich
fast bittend an den Meister wendet, wie z. B. : „Verhängnis der
Größe. — Jeder großen Erscheinung folgt die Entartung nach" usw.;
von mir bereits früher zitiert.
Wagner verhielt sich vorderhand passiv; dafür erbhckte die
Meisterin in dem Buche nur Oberflächlichkeit und Sophistik. In
Briefen, die sie an Nietzsches Schwester sandte, heißt es: „Ich weiß,
Nietzsche war krank, als er diese geistig so sehr unbedeutenden,
moralisch so sehr bedauernswerten Sätze niederschrieb, als er, der
Tiefsinnige, mit allem Ernsten oberflächlich umging und über Dinge
sprach, die er nicht kennt; wollte der Himmel, er hätte nur so viel
Gesundheit gehabt, um dieses traurige Zeugnis seiner Krankheit
nicht herauszugeben . . . daß der Verräter nicht die Kraft des
Schweigens hatte und das Bedürfnis fühlte, durch geistig Nichts-
sagendes, moralisch Bedenkliches seinen inneren Zustand zu doku-
mentieren, darauf ist ihm nur ,oh, du Armseliger!' mit tiefstem
Mitleid zuzurufen . . . daß der Autor selbst nicht recht an das glaubt,
was er niederschreibt, sondern nur sich selbst die Einwendungen
dagegen nicht vorhalten kann, das leider empfindet man . . . dürftig
sein und unwahr, frevelhaft und armselig, das ist traurig. . . möchte
der Verrat dem Autor gute Früchte bringen!"
Erwin Rohde, auf den die Lektüre des „Menschlichen, Allzu-
menschhchen" wirkte, „wie wenn man direkt aus dem caldarium
in ein eiskaltes frigidarium gejagt wird", war zuerst der Meinung,
daß das Hohnlachen, das Nietzsche nun für seine eigenen einstigen
Ideale habe, „krank und schneidend klinge". Doch hofft er, daß
man hier ein „Ergebnis eines in^Nietzsches Innerem notwendigen
Prozesses vor sich habe, den er selbst nicht hemmen konnte, aber
dessen letztes Stadium dies nicht sein könne"... das „stärkere
Hervorkehren des rein intellektuellen Elements" in diesem
Buche erscheint ihm als ein „gewisses Korrektiv jenes
enthusiastischen Denkens", das den Verfasser der „Geburt der
Tragödie" beseelte. In einem Briefe an Franz Rühl rühmt er Nietzsches
„Tiefe, Feinheit, Klarheit und Besonnenheit... sein Verstand ist
nicht nur reicher, sondern auch fester als der von tausend kritischen
Holzköpfen".
Endlich hat Wagner auf dieses Buch, das Jakob Burkhardt
„souverain" nannte, mit dem Artikel „Publikum und Popularität"
in den „Bayreuther Blättern" geantwortet: „Philologen wie
Philosophen erhalten, namentlich wo sie sich auf dem Felde der
Ästhetik begegnen, durch die Physik im allgemeinen noch ganz be-
sondere Ermunterungen, ja Verpflichtungen zu einem noch gar nicht
zu begrenzenden Fortschreiten auf dem Gebiete der Kritik alles
Menschlichen und Unmenschlichen. Es scheint nämlich, daß sie den
Experimenten jener Wissenschaft die tiefe Berechtigung zu einer
ganz besonderen Skepsis entnehmen, welche es ihnen ermöglicht,
sich von den bisher übhchen Ansichten abwendend, dann in einer
gewissen Verwirrung wieder zu ihnen zurückkehrend, in einem
steten Umsichherumdrehen sich zu erhalten, welches ihnen dann
ihren gebührenden Anteil am ewigen Fortschritte im allgemeinen
zu versichern scheint. Je ungeachteter die hier bezeichneten Satur-
nalien der Wissenschaft vor sich gehen, desto kühner und umbarm-
herziger werden dabei die edelsten Opfer abgeschlachtet und auf
dem Altar der Skepsis dargebracht. Jeder deutsche Professor muß
einmal ein Buch geschrieben haben, welches ihn zum berühmten
Manne macht. Nun ist ein naturgemäß Neues aufzufinden nicht
jedem beschieden. Somit hilft man sich, um das nötige Aufsehen
zu machen, gern damit, die Ansichten eines Vorgängers als grund-
falsch darzustellen, was dann um so mehr Wirkung hervorbringt,
je bedeutender und größtenteils unverstandener der jetzt Verhöhnte
war. Die wichtigeren Vorgänge sind die, wo überhaupt jede Größe,
namentlich das so sehr beschwerhche Genie als verderblich, ja der
ganze Begriff Genie als grundirrtümlich über Bord geworfen werden."
Unter dem Eindrucke dieses Artikels muß Nietzsche furchtbar
gelitten haben: unter unsäglichen Mühen und Opfern hatte er sich
endhch zur Wahrheit durchgerungen — „sie verspotteten mich, als
— 72 —
ich meinen eigenen Weg fand und ging; und in Wahrheit zitterten
damals meine Füße" — und nun wurde ihm vorgeworfen, er tappe
planlos im Kreise herum — „und so sprachen sie zu mir: du ver-
lerntest den Weg, nun verlernst du auch das Gehen!" — und wolle
sich wie irgendein beliebiger Professor durch ein paradoxes Buch
berühmt machen ! Deshalb ist der einzige Vorwurf, den Frau Förster-
Nietzsche gegen Wagner erhebt, daß er ihren Bruder zu leichten
Herzens verlor, gerechtfertigt: Nietzsche sei für ihn nur ein Werk-
zeug gewesen, sicherlich ein kostbares, geliebtes, mit zarter Schonung
behandeltes, aber eben doch — ein Werkzeug, das man missen
konnte. Wagner ahnte nicht, was es für ihn zu bedeuten hatte,
einen Nietzsche zu verlieren ! So sagt auch Lichtenberger ö. c. p. 84) :
„Wenn Wagner seinen jungen Freund auch sehr aufrichtig liebte,
so betrachtete er ihn doch nur als Werkzeug seiner Hand und fand
es ganz in der Ordnung, daß Nietzsche seinen Ehrgeiz darauf be-
schränkte, der erste Apostel des Wagnertums zu werden. Sein Ab-
fall verursachte ihm in der Folge fast ebensoviel Groll und Grimm
wie Schmerz: er sah in ihm einen Streber, der sich unter seiner
Fahne einen Namen gemacht und ihn dann nur deshalb verlassen
hatte, um die Aufmerksamkeit auf seine Person zu lenken : er hielt
ihn für einen Undankbaren, der einem krankhaften Reklamebedürfnis
eine alte Freundschaft opferte. Nietzsche seinerseits, der an dem
Bruche seiner Beziehungen zu Wagner furchtbar litt, sah in dem
Hasse seines Meisters ein Zeichen von kleinlichem Charakter und
engem Geiste."
„Nun lag," schreibt Frau Förster-Nietzsche, „sein Ideal, das er
aus Wagners Gestalt geschaffen hatte, in Trümmern, und jede
Handlung Wagners aus jener Zeit half diese Zerstörung beschleunigen.
. . . Zwei leidenschafthch hochgehaltene Ideale standen sich plötzUch
schroff gegenüber: ein das Leben verneinender, katholisch romanti-
scher Parsifal, der das Leben bejahenden, das Leben vergöttlichenden,
verklärenden kraftvollen Reckengestalt des Siegfried! Und dieses
letzte Ideal hatte mein Bruder für das Wagnerische gehalten!
Welche Täuschung ! . . . Traurig schreibt er 1 878 : ,Ich will es nur
gestehen, ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen
das abgestandene Christentum vöUig verleidet werden —
deutsche Mythologie als abschwächend, gewöhnend an Polytheismus.
Welcher Schrecken über die Restaurationsströmungen!!'"
rö
Das Erscheinen des Parsifal und des „Menschlichen, Allzumensch-
lichen" gab nur den äußeren Anlaß, daß Nietzsche und Wagner sich
trennten; innerlich hatte Nietzsche schon längst die völlige Ent-
fremdung gefühlt und durchgelitten. Aber trotz alledem wäre, wie
auch Juhus Kapp zugibt, ein Bruch mit Wagner noch immer nicht
notwendig gewesen, wenn man in Bayreuth hätte verstehen können,
daß der Schüler nun plötzlich eigene Pfade wandeln wollte; denn
jetzt hatte es Nietzsche ernsthch „gewagt, der Weisheit selber nach-
zugehen und selbst Philosoph zu sein; früher verehrte ich die
Philosophen. Manches Schwärmerische und Beglückende schwand;
aber viel Besseres habe ich eingetauscht. Mit der metaphysischen
Verdrehung ging es mir zuletzt so, daß ich einen Druck um den
Hals fühlte, als ob ich ersticken müßte". Seinem Freunde Peter Gast
teilte Nietzsche mit, sein Buch sei von Bayreuth aus in eine Art von
Bann getan und über seinen Autor die große Exkommunikation ver-
hängt worden. Dem Freiherrn v. Seydlitz gegenüber konstatiert er
trotz des gegen ihn von Wagner gerichteten Pamphlets mit sicht-
licher Befriedigung, daß er nun über Wagner ganz frei empfinde.
Dieser ganze Vorgang habe so kommen müssen: „Er ist wohltätig,
und ich verwende meine Emanzipation von ihm reichlich zu geistiger
Förderung. — Jemand sagte mir: der Karikaturenzeichner von
Bayreuth ist ein Undankbarer und ein Narr! — Ich antwortete:
Menschen von so hoher Bestimmung muß man in bezug
auf die bürgerliche Tugend der Dankbarkeit nach dem
Maße ihrer Bestimmung messen. Übrigens bin ich vielleicht
nicht ,dankbarer^ als Wagner — und was die Narrheit betrifft —
aber vielleicht habe ich schon zu viel gesagt, der , Wagnerianer'
regt sich in Ihnen und sucht nach Steinen . . . nein, lieber Freund,
Sie werfen nicht nach mir, das weiß ich. — Aber tun Sie mir
auch die Ehre an, mich nie zu verteidigen. Meine Position ist
dafür zu stolz, Verzeihung ! — Ich denke, meine Freunde sollen mit
mir zusammen auch stolz sein!"
Diesem mit so verschiedenen Gefühlen aufgenommenem Buche
folgte bald der zweite Band nach. Er unterscheidet sich vom ersten
insofern, als Nietzsche in der 1886 geschriebenen Vorrede Wagner
nunmehr öffentlich beim Namen nennt: „Richard Wagner, scheinbar
der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder
Romantiker, sank plötzUch hilflos und zerbrochen vor dem Christ-
— 14: —
liehen Kreuze nieder. Gegen die romantische Musik wendete sich
damals mein erster Argwohn; und wenn ich von der Musik noch
etwas erhoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker
kommen, kühn, boshaft, um an jener Musik auf eine unsterbliche
Weise Rache zu nehmen. — Hat denn kein Deutscher für dies
schauerhche Schauspiel damals Augen im Kopf, Mitgefühl in seinem
Gewissen gehabt? War ich der einzige, der an ihm — litt? Als ich
allein weiterging, zitterte ich ; nicht lange darauf war ich krank,
nämlich müde — müde aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über
alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb,
über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend,
Liebe, müde aus Ekel vor der ganzen idealistischen Lügnerei und
Gewissens Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über
einen der Tapfersten davon getragen hatte, müde endUch, und nicht
am wenigsten aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns — daß
ich nunmehr verurteilt sei, tiefer zu mißtrauen, tiefer zu verachten,
tiefer allein zu sein als je vorher. Denn ich hatte niemanden
gehabt als Richard Wagner." Aus der Abfassungszeit des
zweiten Bandes stammen gleichzeitig mitlaufende Aufzeichnungen
Nietzsches über Wagner: „Es ist schwer, im einzelnen Wagner an-
zugreifen und nicht Recht zu behalten: seine Kunstart, Leben,
Charakter, seine Meinungen, seine Neigungen und Abneigungen — -
alles hat wunde Stellen. Aber als Ganzes ist die Erscheinung
jedem Angriff gewachsen... Bei Wagner ehrgeizigste
Kombination aller Mittel zu stärkster Wirkung; das Er-
habene als das Unbegreifliche, Unerschöpfliche in bezug auf Größe.
Alle Ideen Wagners werden sofort zur Manier; er wird
durch sie tyrannisiert. Das Undeutsche an Wagner: es fehlt die
deutsche Anmut und Grazie eines Beethoven, Mozart, Weber, das
flüssige, heitere Feuer Beethovens, Webers, Wagner hat in seinen
Schriften nicht Größe, Ruhe, sondern Anmaßung. Das physiologische
Gesetz der Entwicklung d'er Leidenschaft (Handlung, Rede, Gebärde)
und der musikalischen Symphonie decken sich nicht; die Wagnersche
Behauptung kann als widerlegt gelten durch seine Kunst. Diese
Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung
aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik. Ich sah in
Wagner den Gegner der Zeit auch in dem, wo diese Zeit Größe
hat, und wo ich selber in mir Kraft fühlte. Ich habe den Mann
— 75 —
geliebt, wie er wie auf einer Insel lebte, sich vor der Welt ohne
Haß verschloß, so verstand ich es; wie fern ist er mir jetzt ge-
worden, so wie er jetzt in der Strömung nationaler Gier und
nationaler Gehässigkeit schwimmend dem Bedürfnis dieser
jetzigen durch Politik und Geldgier verdummten Völker
nachKeligion entgegenkommen möchte; ich meinte ehemals,
er habe nichts mit den jetzigen zu tun; ich war wohl ein Narr."
Im II. Bande des „Menschlichen, Allzumenschhchen'' heißt es: „Wagner
hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen
lassen; er tat dasselbe noch einmal, als er später Schopenhauers
Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit Wille, Genie und
Mitleid sich selber zu formulieren begann. Nichts geht gerade so
wider den Geist Schopenhauers, als das eigentlich Wagnerische an
den Helden Wagners; immer mehr will seine ganze Kunst sich
als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie
geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den
höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschUchen Er-
kenntnis und Wissenschaft zu werden . . . Wagner warf die physio-
logische Voraussetzung der bisherigen Musik um, die unendliche
Melodie will alle Zeit- und Kraftebenmäßigkeit brechen ... ich be-
wundere Wagner in allem, worin er sich in Musik setzt. Wenn es
Wagners Theorie gewesen ist: das Drama ist der Zweck, die Musik
ist immer nur ihr Mittel — seine Praxis war dagegen von Anfang
bis zu Ende : die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik
ist immer nur ihr Mittel." Zu diesem Urteil ist jedoch zu bemerken,
daß Nietzsche bereits im Jahre 1871 dasselbe konstatierte: es sei
ein Charakteristiken des Schauspielers, die Musik müsse als Mittel
des Ausdruckes gelten. Denn für ihn ist die Musik das allgemeine,
das Drama hingegen nur ein Einzelfall, ein Beispiel. Wenn er also
die Behauptung aufstellte, das allgemeine dürfe vom Beispiele nicht
abhängig gemacht werden, so heißt das mit anderen Worten, daß
nur die absolute Musik daseinsberechtigt sei und demzufolge müsse
auch die Musik des Dramas absolute Musik sein. Am aller-
auffallendsten jedoch ist es, daß sich Nietzsche zu jener Zeit noch
scheut, Wagner weder für einen Musiker, noch für einen Dichter zu
erklären; dieses Geständnis macht er erst 1875. Um das Jahr 1878
bildet er diesen Gedanken fort: „Die Musik als Mittel zur Verdeut-
lichung, Verinnerlichung, Verstärkung der dramatischen Gebärde
— 76 —
lind Schauspiel ersinnenfälligkeit, und das Wagnersche Drama nur
Gelegenheit zu vielen interessanten Attitüden. Wagner hatte neben
allen anderen Instinkten die kommandierenden Instinkte eines großen
Schauspielers in allem und jedem, und auch als Musiker."
Frau Förster-Nietzsche bedauert es, daß ihr Bruder die im
Juni, Juli 1878 begonnenen Entwürfe zu einem Buche über Wagner
und Schopenhauer mit dem Titel: „Der neue Um blick" unvoll-
endet gelassen habe, jedenfalls aus Verstimmung über den Artikel,
den Wagner im Augusthefte der „Bayreuther Blätter" gegen
ihn veröffentlicht hatte. Denn die herrschende Grundstimmung dieser -
Entwürfe zeichne sich aus durch milde und gerechte Beurteilung
Wagners und Schopenhauers als der Lehrer seiner Jugend, wodurch
-er allen seinen Freunden seinen scharfen Frontwechsel habe ver-
ständhch machen wollen. So heißt es in der Vorrede: „Ich habe da-
durch, daß ich alle ästhetischen Phänomene zu ,Wundern' machte,
Schaden gestiftet unter den Anhängern Wagners und vielleicht bei
Wagner selbst, der alles gelten läßt, was seiner Kunst höheren
Kang verleiht, wie begründet und wie unbegründet es auch sein
mag. Vielleicht habe ich ihn durch meine Zustimmung zu seiner
Schrift über die ,Bestimmung der Oper' zu größerer Be-
stimmtheit verleitet und in seine Schriften und Werke Unhaltbares
hineingebracht. Das bedauere ich sehr. . . man wird es Wagner nie
vergessen dürfen, daß er in der zweiten Hälfte des XIX. Jahr-
hunderts in seiner Weise (die freilich nicht gerade die Weise guter
und einsichtiger Menschen ist) die Kunst als eine wichtige und groß-
.artige Sache ins Gedächtnis brachte... über Wagner wie über
Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei
ihren Lebzeiten — ihre Größe wird, was man auch ge-
zwungen ist, in eine andere Wagschale zu legen, immer
siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefähr-
lichkeit in der Wirkung zu warnen."'
Allen diesen Argumenten, die Nietzsche gegen Wagners Kunst
vorbringt, ist gemeinsam, daß ihnen jene böswillige Gehässigkeit
und Kritik fehlt, die seine späteren Schriften gegen Wagner be-
herrscht. Daß aber diese Ausführungen Nietzsches so manches
Wahre enthalten, auch wo sie sich in direkten Gegensatz zu Wagner
istellen, ist unleugbar und soll später genauer behandelt werden.
VIII. DAS ENDE DER FREUNDSCHAFT.
In der Erörterung des Verhältnisses zwischen den beiden
Freunden erwähnten wir zuletzt Wagners gehässigen Artikel gegen
Nietzsche in den „Bayreuther Blättern". Da Nietzsche auf dieses
Pamphlet mit einer Entgegnung nicht reagierte, sondern sich tief
darüber kränkte, liegt die Vermutung nahe, daß die Anbahnung
eines persönlichen Verkehres zwischen beiden noch immer im Be-
reiche der Möglichkeit gelegen war. Aber gut für Nietzsches Be-
ziehungen zu Wagner war jedenfalls der Umstand nicht, daß der
Verleger von „Menschliches, Allzumenschliches", Schmeitzner in
Chemnitz, 1878 die „Bayreuther Blätter" verlegte. Dieser Mann, der
auch mit Nietzsche geschäftlich verkehrte, erzählte getreuUch alles
nach, was man ihm m Bayreuth zum Zwecke des Weitererzählens
über Nietzsche mitgeteilt hatte. So soll sich Wagner geäußert haben :
„Ach, wissen Sie, Nietzsche hest man doch nur, insofern er sich zu
unserer Sache hält." Darüber war der Philosoph tief betrübt, weil
er anderes erwartet und erhofft hatte: er wollte von Wagner um
seiner selbst willen geliebt werden, nicht wegen seiner „Wagnerei".
Nietzsches Schwester hat daher Recht mit ihrer Behauptung, daß
ihr Bruder Wagner niemals stärker geliebt habe als in den Jahren,
da er sich von ihm trennen mußte. Wie er selbst Wagnern nicht
böse wollte, wünschte er auch nicht., daß sich seine Freunde etwa
ihm zuliebe von Wagner abwenden sollten. Rührend ist ein Brief,
den er am 11. Juni an den Freiherrn v. Seydlitz richtete: „Mir
ist es sehr lieb und erwünscht, daß einer meiner Freunde Wagnern
Gutes und FreundUches erweist; denn ich bin immer weniger im-
stande, ihm, so wie er nun einmal ist — ein alter, unveränderlicher
Mann — Freude zu machen. Seine und meine Bestrebungen laufen
ganz auseinander. Dies tut mir wehe genug, aber im Dienste der
— 78 —
Wahrheit muß man zu jedem Opfer bereit sein'). Wüßte
er übrigens, was ich alles gegen seine Kunst und seine Ziele auf
dem Herzen habe, er hielte mich für einen seiner ärgsten
Feinde — was ich bekanntlich nicht bin." Noch 1880 schreibt
er an Peter Gast: „Durch nichts kann es mir ausgeglichen werden,
daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig ge-
gangen bin. Wie oft träume ich von ihm und immer im Stile
unseres damaligen vertraulichen Zusammenseins. Es ist nie zwischen
uns ein böses Wort gesprochen worden, aber sehr viele ermutigende
und heitere, und mit niemandem habe ich vielleicht so viel zusammen
gelacht. Das ist nun vorbei, und was nützt es, vielleicht in manchen
Stücken gegen ihn recht zu haben; als ob damit diese verlorene
Sympathie aus dem Gedächtnisse gewischt werden könnte." Und
im „Ecce homo" findet sich die schöne Stelle: „Was mich in meinem
Leben bei weitem am tiefsten und am herzlichsten erholt hat, ist
ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner ge-
wesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig.
Ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen weggeben,
Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Einfälle, der
tief en Augenblicke. Ich weiß nicht, was andere mit Wagner erlebt
haben: über unseren Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.''
Über seine Trennung von Wagner schrieb Nietzsche Anfang Februar
1882 an Fräulein v. Meysenbug, mit der er freundschaftliche Be-
ziehungen wieder angeknüpft hatte, unter anderem: „Daß jetzt alle
Welt mich allein läßt, darüber beklage ich mich nicht — ich finde
es vielmehr erstens nützlich und zweitens natürlich. So ist es und
war es immer die Regel. Auch Wagners Verhalten zu mir gehört
unter diese Trivialität der Regel. Überdies ist er der Mann seiner
Partei; und der Zufall seines Lebens hat ihm eine so zufällige und
unvollständige Bildung gegeben, daß er weder die Schwere noch die
Notwendigkeit meiner Art von Leidenschaft begreifen kann."
Wir dürfen, um diese Briefstelle zu verstehen, nicht vergessen, daß
Nietzsche im Jahre 1879 nach zehnjährigem Wirken um seinen Ab-
schied aus dem Lehramte bittlich geworden war. Er wurde ihm be-
^) Er trat von seiner Professur zurück und brach mit seinen Freunden;
akademische Ehre, Ehrgeiz, Familieninteresse, Sorge um Weib und Kind
und Haus, und alles, was sonst das Gedankenleben des Durchschnittsgelehrten
bindet, beeinflußt und — fälscht, für ihn kam es nicht in Betracht.
— 79 —
willigt und Nietzsche zog sich nunmehr noch tiefer in die Ein-
samkeit zurück, lebte teils im Engadin, teils in Italien und je mehr
des Meisters Ruhm wuchs, desto vereinsamter fühlte sich der
Philosoph. Denn der Bruch mit Wagner riß mit einem Ruck auch
die Hälfte seiner Beziehungen ab. Wer ihn durch Wagner gekannt,
verUeß ihn um Wagners willen; die noch übrig blieben, behandelten
ihn mit Vorsicht und mit einer gewissen Eingeschränktheit des Ver-
trauens. Es ist daher menschlich begreiflich und nachfühlbar, wenn
er sich 1881 über seine Beziehungen zu Wagner äußert: „Wagner
hat viele Wohltaten von seinen Zeitgenossen empfangen: aber er
meinte, die grundsätzliche Ungerechtigkeit gegen Wohltäter gehöre
zum , großen Stile^ : er lebte immer als Schauspieler und im Wahne
der Bildung, wie sie Schauspieler zu haben pflegen. Ich selber bin
vielleicht sein größter Wohltäter gewesen." Und an Malwida
V. Meysenbug: „Als man sich einst mit der Fürsprache für Wagner
kompromittierte, habe ich auch dazu den Mut gehabt. Sie wissen
vielleicht nicht, was mich die Wagnerei gekostet hat!" Wie bereits
erwähnt, Wagner hat zweifellos Nietzsches Bedeutung für sich
stark unterschätzt; immerhin hätte er sich, wenn er ganz auf-
richtig gewesen wäre, sagen müssen, daß er Nietzsche einigen Dank
schuldig sei. Wagner hatte es ganz vergessen, daß sein begeistertster
Apostel wegen der „Geburt der Tragödie" von den Philologen in
Acht und Bann getan wurde, daß seine Kollegien in Basel boykottiert
und Berufungen an deutsche Universitäten zurückgezogen wurden!
Kein Wunder daher, wenn der Mann, der sein Höchstes, seine wissen-
schaftliche Bedeutung, bedingungslos für Wagner eingesetzt hatte,
jetzt in seiner Einsamkeit mit einer gewissen Bitterkeit sich der von
Wagner nicht verstandenen Opfer erinnert ! Niemand hat tiefer und
anhaltender über das Problem Wagner nachgedacht als Nietzsche;
seine große Freundschaft, die er für Wagner empfand, hat ihn dazu
verführt. Es werden Zeiten kommen, wo man es nicht mehr be-
greift, daß er gewissermaßen alle künstlerischen Fragen der Gegen-
wart daran gemessen hat, und es nicht versteht, wie ein Nietzsche,
der Ewigkeitsprobleme aufgerollt hat, die ein Jahrtausend kaum zu
lösen vermag, so viel Nachdenken an dies eine Problem hat ver-
schwenden können.
Man muß sich in den Geist der damaligen Zeiten zurück-
denken, um sofort zu erkennen, daß bis 1872 über Wagner eigentlich
— 80 —
erst sehr wenig Günstiges gesagt und geschrieben worden war.
Man erblickte in ihm lediglich nur den Revolutionär auf musikalischem
Grebiete. Nun war es Nietzsches Verdienst oder Schuld, je nachdem
man sich zur Sache stellt, daß Wagner mit dem Begriff einer neuen
höheren deutschen Kultur und mit dem Griechentum verknüpft
wurde. Seine Schuld hat nun Nietzsche bald erkannt, zumal er sehen
mußte, wie er durch seine Schriften für Wagner aus diesem einen
irreführenden Götzen gemacht hatte — „das Mißverständnis über
Richard Wagner ist heute in Deutschland ungeheuer: und da ich
dazu beigetragen habe, es zu vermehren, so will ich meine Schuld
abtragen und versuchen, es zu verringern" — , womit er jedoch
keineswegs die Absicht verband, dem jungen Deutschland das Objekt
seiner Verehrung wieder zu rauben. Er schrieb an den Freiherrn
V. Stein: „Man hat mir erzählt, daß Sie mehr als jemand sonst
vielleicht sich Schopenhauer und Wagner mit Herz und Geist zu-
gewendet haben. Dies ist etwas Unschätzbares, vorausgesetzt,
daß es seine Zeit hat. '^ Nietzsche fühlte, daß der Wagnerkultus seine
Zeit gehabt habe, wo er günstig wirke, und daß es gut wäre, wenn
der Deutsche seinen düsteren Leidenschaftsrausch, der ihn gewiß
während der Zeit des öden und flachen Materialismus manches Tiefe
und Ernste gelehrt hatte, überwände und nun auch Sinn und Geist
für neue Ideale, das heißt für alles das öffnete, was Nietzsche an
Wagner so schmerzlich vermißte. Er wollte den deutschen Jüngling
freudig und lebensbejahend sehen, er wollte Menschen, die vom Leben
noch tausend entzückende Möglichkeiten erhoffen. Mit welch bitterem
Schmerze mußte es daher dieser Nietzsche empfinden, daß Wagners
Musik ihren weltverklärenden Charakter verlor und immer mehr
„pessimistisch-triste" wurde! Dazu ist noch zu zählen, was man
aus Wagner selbst in Bayreuth gemacht hatte: etwas so Ver-
schwommenes, der Wahrheit durchaus Widersprechendes, wie denn
überhaupt die Wagnerianer und nicht Wagner selbst den tiefsten
Abgrund zwischen ihn und Nietzsche gelegt haben. Er äußerte sich
darüber: „Ich habe Richard Wagner mehr geliebt und verehrt als
irgend sonst jemand; und hätte er zuletzt nicht den schlechten Ge-
schmack — oder die traurige Nötigung — gehabt, mit einer mir
unmöglichen Qualität von „Geistern" gemeinsame Sache zu machen,
mit seinen Anhängern, den Wagnerianern, so hätte ich keinen
Grund gehabt, ihm schon bei Lebzeiten Lebewohl zu sagen, ihm^
~ 81 —
dem Tiefsten und Kühnsten, auch Verkanntesten aller Schwer-
zuerkennenden von heute, dem begegnet zu sein meiner Erkenntnis
mehr als irgendeine andere Begegnung förderlich gewesen ist —
Yorausgestellt, was voraussteht: daß seine Sache und meine Sache
nicht verwechselt werden wollte, und daß es ein gutes Stück Selbst-
überwindung bedurfte, ehe ich dergestalt ,Sein' und ,Mein' mit
gebührendem Schnitte zu trennen lernte." An einer anderen Stelle
soll über diese Wagnerianer ausführUcher gehandelt werden.
Aber trotz alledem nennt Nietzsche in einem Briefe an seine
Schwester die Tage des Beisammenseins mit Wagner, vorzüglich
die Tribschener Tage, die schönsten seines Lebens. Nur die all-
mächtige Gewalt ihrer Aufgaben habe sie auseinander getrieben,
jetzt könnten sie nie mehr wieder zueinander: denn sie seien sich
schon zu fremd geworden. Doch damals, als Nietzsche nach langem
Suchen in Wagner den Menschen gefunden zu haben glaubte, der
der „vollste Mensch" war, den er je gekannt, der höher war als er
selbst, der der einzige war, der mit genialem Scharfblick in dem
vierundzwanzigjährigen Professor das außerordentlichste Phänomen
seiner Zeit witterte, damals fühlte er sich unbeschreiblich glücklich.
Im übrigen aber habe er seine Wagnerschwärmerei teuer genug be-
zahlen müssen; seine nervenzerrüttende Musik habe ihm die Ge-
sundheit verdorben. Daher zürnte er durchaus nicht, daß Wagner
keine Anknüpfung wieder gesucht hat. Im Herzen war er ihm dafür
sogar dankbar. Scherzend pflegte er oft zu sagen: „Sechs Jahre habe
ich gebraucht, um meine Gesundheit durch meine leidenschaftliche
Wagnerei gründlich zu ruinieren; sechs Jahre habe ich wiederum
nötig gehabt, um mich davon zu befreien und wieder gesund zu
werden." Die Enttäuschung über Wagner und der Abschied von ihm
kamen ihm geradezu lebensgefährlich vor.
Im Jahre 1882 besuchte Nietzsche in Gesellschaft von Frau
Lou Andreas Salomö Tribschen, die Stätte seines tiefsten Glückes.
Sie berichtet darüber: „Lange saß er dort schweigend am Seeufer,
in schwere Erinnerungen versunken; dann, mit dem Stocke im
feuchten Sande zeichnend, sprach er mit leiser Stimme von jenen
vergangenen Zeiten. Und als er aufblickte, da weinte er." Von ihm
selbst stammt aus der gleichen Zeit folgende Äußerung: „Ich
empfand deutlich, daß ich nie wieder eine so unvergleichliche Zeit
erleben würde und fragte mich, welches Opfer mein hartes Schicksal
G r i e ß e r, Wagner und Nietzsche. q
— 82 —
noch von mir fordern würde, nachdem ich auf Wagner und Cosima
verzichtet hatte, verzichten mußte/
Es fragt sich nun, ob Wagner nach der Trennung von Nietzsche
nicht auch ähnlich gelitten habe. Diese Frage ist schvsrer zu be-
antworten, weder negativ, noch positiv. Allerdings schrieb Wagner
nach dem Erscheinen des „Menschlichen, Allzumenschlichen *•' an
Prof. Overbeck: „Aus Ihren kurzen Andeutungen entnehme ich, daß
unser alter Freund Nietzsche sich auch von Ihnen zurückgezogen
erhält. Gewiß sind sehr auffäUige Veränderungen mit ihm vor-
gegangen: wer ihn jedoch schon vor Jahren in seinen psychischen
Krämpfen beobachtete, durfte sich fast nur sagen, daß eine längst
befürchtete Katastrophe nicht ganz unerwartet bei ihm eingetreten
ist, daß mit einem so gewaltsamen physischen Vorgänge nach sitt-
lichen Annahmen gar nicht zu rechten ist und erschütterndes
Schweigen einzig übrig bleibt. Ich habe für ihn die Freundschaft
bewahrt, sein Buch — nachdem ich es beim Aufschneiden durch-
blättert — nicht zu lesen und möchte weiter nichts wünschen und
hoffen, als daß er mir dies dereinst noch danke." Aber immerhin
hatte Wagner vor Nietzsche den einen Vorteil voraus, daß er an
den vortrefflichen jungen Leuten seines Kreises für Nietzsche Ersatz
finden konnte, während dieser zur Einsamkeit verurteilt war.
Heinrich v. Stein versichert, er habe bei Wagner stets das Gefühl
gehabt, daß der Meister nach einem Ersätze für Nietzsches Freund-
schaft gesucht habe: „und dann war er immer enttäuscht''. Von
Interesse ist ferner die folgende Mitteilung Overbecks: Stein, der
von Nietzsches unheilbarer Entfremdung von Wagner noch keine
Ahnung hatte, hatte Nietzsche den Vorschlag gemacht, er möge
sich mit ihm und Gleichgesinnten an Erörterungen über das Wagner-
lexikon beteiligen. Später hatte man erfahren, daß Stein nach Sils-
Maria geschickt worden war, um Nietzsche für die „Wagnerei'"
wieder zurückzugewinnen; er habe dann über diese persönliche Be-
gegnung voll Begeisterung nach Bayreuth geschrieben, sei aber von
dort ernstlich ermahnt worden, Wagner und der Bayreuther Sache
treu zu bleiben. Nietzsches dithyrambischer Lockruf öffnete ihm die
Augen für das Entweder — Oder, und er hielt zu Wagner. Humorvoll
schrieb Nietzsche über diese Verkennung seiner nunmehrigen
Stellung zu Wagner an Malwida: „Es ist der Humor der Lage, daß
ich verwechselt werde mit dem ehemaligen Baseler Professor
— 83 —
Dr. Fr. Nietzsche ; zum Teufel auch, was geht mich dieser Nietzsche
an!" Was die erwähnte Bereitwilligkeit Nietzsches, Wagner wieder
aufzusuchen, betrifft, schrieb er am 30. Jänner 1882 an seine
Schwester, sie solle nach Bayreuth reisen; „ich aber komme gewiß
nicht hin, es sei denn, daß Wagner mich persönlich einladet und
als den geehrtesten seiner Festgäste behandelt!" Frau Förster-
Nietzsche berichtet nur von einem einzigen Ausspruche Wagners, der
seine innerste Empfindung widerspiegelt. Gelegentlich einer Parsifal-
aufführung im Jahre 1882 bat Wagner Frau Förster um eine be-
sondere Unterredung. Bei der Verabschiedung sagte Wagner ganz
leise zu ihr: „Sagen Sie es Ihrem Bruder, seit er von mir ge-
gangen ist, bin ich allein." Es ist zu bemerken, daß Wagner dies
sagte ein halbes Jahr vor seinem Tode, in jener Zeit des höchsten
Ruhmes, den er erlebt hat, umgeben von einer Welt der ehr-
erbietigsten Bewunderung. Vielleicht hat, ermutigt durch diesen
Ausspruch, Malwida v. Meysenbug bei Wagner den Versuch unter-
nommen, ihn mit Nietzsche auszusöhnen, zumal sich dieser bereit
erklärt hatte, im Falle des Gelingens nach Bayreuth zu kommen. Wie
Frau Lou Andreas in ihrem Buche erzählt, ist jedoch dieser Versuch
mißlungen : Wagner habe in großer Erregung das Zimmer verlassen
und verboten, den Namen Nietzsche jemals wieder vor ihm aus-
zusprechen.
Als Frau Förster ihrem Bruder die zitierte Äußerung Wagners
hinterbrachte, widmete er dem Meister folgenden wunderschönen
Aphorismus, in dem er eine Art Rückschau über seine Beziehungen
zu Wagner hält: „Sternen fr eundschaft. Wir waren Freunde,
und sind uns fremd geworden; wir sind zwei Schiffe, deren jedes
sein Ziel und seine Bahn hat; die allmächtige Gewalt unserer Auf-
gabe trieb uns auseinander in verschiedene Meere und Sonnenstriche,
und vielleicht sehen wir uns nie wieder; vielleicht auch sehen wir
uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder, die verschiedenen Meere
und Sonnen haben uns verändert. Daß wir uns fremd werden
mußten, ist das Gesetz über uns, eben dadurch sollen wir uns
auch ehrwürdiger werden, soll der Gedanke an unsere ehemalige
Freundschaft heiliger werden. Es gibt wahrscheinUch eine ungeheure
unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen
Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen;
erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu
6*
— 84 —
kurz und unsere Sehkraft zu gering, als daß wir mehr als Freunde
im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein möchten. Und so wollen
wir an unsere Sternenfreundschaft glauben, selbst wenn wir ein-
ander Erdenfeinde sein müßten I'^
Diese Freundschaftstragödie ihres Bruders mit Wagner über-
blickend, resümiert Frau Förster, daß es der Durchschnittsmensch
mit seinem kümmerlichen geistigen Frühling natürlich nie begreifen
werde, daß eine so polyphone Natur wie Nietzsche mehrere Blüte-
zeiten erleben mußte, in denen der Gelehrte oder der Philosoph
oder der Künstler sein eigenes Fest feierte. Vielleicht begreife er
schon eher, daß unsere Verhältnisse zu anderen Menschen, unsere
Leidenschaften ihre Zeit des Wachsens, Blühens und Vergehens
haben, nur pflege er diesen Prozeß meistens nur auf Liebes-
angelegenheiten anzuwenden, während er gerade der Freundschaft
die gleichmäßige Dauer zuspreche. In unserer Zeit, die nur Freund-
schaften als etwas Opportunes, Leidenschaftsloses, besser gesagt
laue Empfindungen zeitigen könne, sei eine Freundschaft wie zwischen
Nietzsche und seinen Freunden einfach undenkbar. Denn allen jetzigen
Freundschaften fehle die Innigkeit und Zartheit des Verkehres, das
hohe gemeinsame Streben, die Leidenschaft in der Verteidigung und
Bewunderung des Freundes, der Glaube an seine höchsten Eigen-
schaften. So schrieb Nietzsche, sich über den Unverstand seiner
Zeit beklagend, mit wehmütiger Trauer an 0 verbeck, daß „ihm
niemand mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen-
gekommen sei, um ihn mit Wagner zu verstehen ! " Es ist aber klar,
daß eine so hohe Auffassung vom Wesen der Freundschaft natur-
gemäß auch um so größere Konflikte hat zeitigen müssen. Gelegent-
lich eines Gespräches über moderne Literatur, in der bekanntUch
die Erotik eine große Rolle spielt, äußerte sich Nietzsche: „Warum nur
immer dasselbe allmähhch doch allzu langweilig gewordene Thema
der Liebe zwischen den beiden Geschlechtern als Hauptgegenstand?
Die Freundschaft hat ganz ähnliche Konflikte, nur auf einer viel
höheren Stufe: erst die gegenseitige Anziehung auf der Basis einer
gemeinsamen Weltanschauung, dann das Glück der Zusammen-
gehörigkeit und der gemeinsamen Zukunftspläne, dann die gegen-
seitige Bewunderung und Verherrlichung; plötzUch Mißtrauen auf
einer Seite, zuletzt die Gewißheit, sich trennen zu müssen und sich
doch schwer entbehren zu können — sind das nicht alles unzähUge
— 85 —
Konflikte mit unsäglichen Leiden?" Aber noch einer charakteristischen
Tatsache im Leben Nietzsche wäre hier zu gedenken. Nietzsche,
der aus einem tiefinnerhchen Bedürfnisse heraus Freunde um sich
brauchte, die er leidenschaftlich liebte, besaß die gefährhche Ge-
wohnheit, diejenigen, die ihm lieb waren, zu idealisieren. Jedes
Neides bar und von vornherein für alles, was an seinen Freunden
bemerkenswert sein konnte, lebhaft eingenommen, gefiel er sich
darin, ihr Bild in seiner Phantasie zu verändern oder, richtiger
gesagt, zu verbessern; er gab ihnen mehr Schönheit, Größe und
Stil als sie in Wirklichkeit hatten. Im Feuer seiner enthusiastischen
Liebe schloß er die Augen vor ihren Mängeln und menschlichen
Schwächen, um nur noch ihre Vollkommenheiten zu sehen; und
schließlich machte er sich von seinen Freunden ein zwar scharf ge-
troffenes und ähnliches, aber idealisiertes Bild, wie ein Porträt von
Meisterhand. Derart täuschte er sich in Schopenhauer und Wagner,
die in seiner hoch auflodernden Einbildungskraft zum Ideal des
Philosophen und des Künstlers wurden. Diese Eigenschaft, seine
Freunde zu verschönern, ließ ihn gewiß an ihrer Seite reinere und
vollkommenere Freuden kosten als den realistischen Menschen-
kenner, sie ward für ihn aber auch zur Quelle grausamer Täuschungen.
Da sein Sinn für die Realität ihn nie verheß und seine unerbittliche
intellektuelle Redlichkeit ihm nie erlaubte, sich einer Illusion blind
hinzugeben, so mußte er eines schönen Tages den Abstand zwischen
der wirklichen Persönlichkeit, die er liebte, und dem Idealbilde, das
•er im Herzen trug, mit Notwendigkeit erkennen. Daher die unver-
meidUchen Enttäuschungen, Erkaltungen oder gar ein völhger Bruch.
Diese anscheinende Unbeständigkeit in der Freundschaft, die für alle,
welche ihre Wirkungen zu erfahren hatten, so schmerzlich war und
von Seiten der Kritik oft strenge und ungerecht beurteilt worden
ist, hatte ihren Ursprung tatsächlich in einem edelmütigen Gefühle
nämlich in dem Bedürfnis zu bewundern und zu verehren. Nietzsche
war das Gegenteil von jenen scheeläugigen oder kritischen Naturen,
die an einem großen Manne nur die Verkehrtheiten sehen und in-
stinktiv alles verkleinern, was sie betrachten. In seiner angeborenen
Liebe zu Schönheit und Größe wehrte er sich so lange wie mögüch
dagegen, die Un Vollkommenheiten seiner Freunde zu sehen; er
machte aus ihnen Idole, er übertrieb ihren Wert, um dann eines
Tages wieder sein Urteil walten zu lassen. Gewiß ist dies ein Fehler,
— 86 —
aber es ist der Fehler einer edlen Seele. (Cf. Lichtenberger, 1. c. p.
8 — 10.) Wahrlich, wahre Freundschaft zwischen gleich Großen ist
sehr selten; wir brauchen uns nur an Goethe zu erinnern und sein
Verhältnis zu Kleist und Schopenhauer oder an Hebbel, der Hirn
und Herz seiner Freunde aufzehrte. Und drückte Wagner nicht in
der Tat wie ein Alp auf seine Umgebung? Für das Wesen solcher
Freundschaften hat niemand anderer wie Montaigne im Hinbhck
auf sein Verhältnis zu Boethius das richtigste Wort gefunden, wenn
er sagt: „Um die Freundschaft aufzubauen, muß so vielerlei zu-
sammentreffen, daß es schon viel ist, wenn glückliche Fügung ein-
mal in drei Jahrhunderten dazu gelangt."
Auf diesem Höhepunkte unserer Betrachtung angelangt, wollen
wir die Frage aufwerfen, ob zwischen Wagner und Nietzsche nicht
auch Differenzen persönUcher Natur vorgekommen sind. Denn aus
einzelnen Briefstellen Nietzsches, worin er seiner Ungewißheit Aus-
druck gibt, ob er Wagner durch sein Verhalten Anlaß zur Un-
zufriedenheit gegeben habe, daß er unter Wagners Mißtrauen
seelisch leide, daß er seine Besuche immer seltener machte, aus
all diesen Umständen könnte man mit Recht die Folgerung ziehen,
daß es zwischen beiden Männern ab und zu auch persönliche;
Differenzen gegeben haben muß.
So spielte sich im Jahre 1874 in Tribschen eine Episode aby
die ein klassisches Beispiel für den zwischen Wagner und Nietzsche
herrschenden individuellen Gegensatz ist. Im Interesse des besseren
Verständnisses sei vorausgeschickt, daß es Nietzsche als ein un-
umgänglich notwendiges Merkmal geistiger Größe betrachtete, das-
Große rückhaltslos anzuerkennen, gleichgültig, in welcher Gestalt es
sich zeige. Das erwartete er natürlich auch von Wagner. Nietzsche-
also, der damals noch ein großer Verehrer Schumanns und Brahms'
war, hatte das Brahmssche Triumphlied, das er gelegentlich einer
Konzertaufiführung mit größter Freude gehört hatte, Wagner mit-
gebracht und, ohne etwas zu sagen, den Klavierauszug auf dessen
Klavierpult gelegt. „Ihr Bruder," so erzählte Wagner den Vorfall
Nietzsches Schwester, „legte das rote Buch auf den Flügel. Immer,
wenn ich in den Saal hinunterkam, starrte mich das rote Dings an^
gerade wie den Stier das rote Tuch. Ich merkte wohl, Nietzsche
wollte mir damit sagen: sieh mal, das ist auch einer, der was Gutes
machen kann — na, und eines Abends bin ich losgebrochen, und
— 87 —
wie losgebrochen.'*' Warum der Meister gar so losgebrochen sei,
berichtet uns „gewissenhaft" Herr Glasenapp: Die Dürftigkeit des
Brahmsschen Triumphliedes, von dem Wagner gesagt habe, es sei
^Händel, Mendelssohn und Schumann, in Leder eingewickelt", habe
alle Anwesenden erschreckt! Als Frau Förster darauf fragte: „Was
sagte denn mein Bruder?", antwortete Wagner: „Der sagte gar nichts;
der errötete und sah mich erstaunt und mit bescheidener Würde
an. Ich gäbe gleich hunderttausend Mark, wenn ich solch ein
schönes Benehmen wie dieser Nietzsche hätte, immer vornehm,
immer würdig, so etwas nutzt einem viel in der Welt." Der Meister
ärgerte sich jedoch über diese melancholische Würde des Jüngeren.
Seiner Schwester gegenüber bemerkte Nietzsche: „Lisbeth, da war
Wagner nicht groß!" In seinen Notizen aus jener Zeit finden sich
folgende Aufzeichnungen, die sich unzweideutig auf den geschilderten
Vorfall beziehen: „Der Tyrann läßt keine andere Individualität gelten
als die seinige und die seiner Vertrauten. Die Gefahr für Wagner
ist groß, wenn er Brahms usw. nicht gelten läßt oder die Juden . . .
Wagner hat nicht die Kraft, die Menschen im Umgange frei und
groß zu machen : Wagner ist nicht sicher, sondern argwöhnisch und
anmaßend^)."
1) So ließ Wagner auch Bizet nicht gelten; Nietzsche schreibt September
1888 an Peter Gast: „Gersdorff ist Zeuge eines rasenden Wutausbruches
Wagners gegen Bizöt gewesen, als Minnie Hanck" (eine Opernsängerin, die
in den 70er und 80er Jahren in Deutschland am besten die Carmen ver-
körperte, die einzige Bühnenkünstlerin, die Nietzsche je gewürdigt hat) „in
Neapel war und Carmen sang. Auf dieser Grundlage, daß Wagner auch hier
Partei genommen hat, wird meine Bosheit an einer gewissen Hauptstelle"
(sc. des „Falles Wagner") „noch schärfer empfunden werden." Daß nun
Nietzsche gerade „Carmen" über Wagners Werke stellte, hat seine triftigen
Gründe; in einem Briefe schreibt er: „Das, was ich über Biz6t sage, dürfen
Sie nicht ernst nehmen, Bizet kommt für mich tausendmal nicht in Betracht,
aber als ironische Antithese gegen Wagner wirkt es sehr stark!" Auch
Carl Spitteler erklärt, Nietzsche habe ihm gestanden, die Oper „Carmen"
nur aus Bosheit so unbändig gelobt zu haben, weil er damit Wagner grün und
gelb zu ärgern hoffte (cf. Bernoulli, 1. c. II., p. 483). Ausführlicheres dar-
über weiter unten.
IX. NIETZSCHE ALS MUSIKER.
Allgemein bekannt dürfte es sein, daß Nietzsche sich hie
und da in der Komposition kleinerer Musikstücke versuchte. Diese
Tatsache hat man nun in ganz gewissenloser Art und Weise gegen
Nietzsche bis zum Überdruß ausgebeutet, so daß es am Platze ist.
hier vom „Musiker" Nietzsche ausführhch zu sprechen^). Nietzsche
zeigte schon in frühester Jugend ein ganz außerordentliches Interesse
für Musik: noch als Knabe komponierte er bereits kleinere Musik-
stücke. In seiner kindlichen Selbstbiographie schreibt er, daß er
„einen unauslöschbaren Haß gegen alle moderne Musik und alles, was
nicht klassisch war", empfand. „Mozart und Haydn, Schubert und
Mendelssohn, Beethoven und Bach, das sind die Säulen, auf die sich
deutsche Musik und ich gründen." Als eine „recht traurige Er-
scheinung" registriert er die Tatsache, „daß viele neuere Kom-
ponisten sich bemühen, dunkel zu schreiben. Aber gerade solche
künstliche Perioden, die vielleicht den Kenner entzücken, lassen das
gesunde Menschenohr kalt". Charakteristisch ist ein Wunschzettel
des dreizehnjährigen Knaben zu seinem Geburtstage: „Symphonie
in C-Dur mit der Fuge von Mozart in Partitur. Ouvertüre zu
Fingalshöhle von Mendelssohn in Partitur. Ouvertüre zu Egmont von
Beethoven in Partitur. Symphonie in Es-Dur mit dem Paukenschlag
von Haydn in Partitur." Dieser Wunschzettel zeugt von einem
ebenso reifen wie guten Geschmack! Von seinem Vater hatte
Nietzsche die wundervolle Gabe des freien Phantasierens geerbt.
Freiherr von Gersdorff schreibt in seinen Erinnerungen, daß ihm
Nietzsches Improvisationen am Klaviere unvergeßlich seien: „Ich
möchte glauben, selbst Beethoven habe nicht ergreifender phanta-
*) Zu diesem Kapitel cf. die feinsinnigen Ausführungen Karl Heckeis,
des Sohnes Emil Heckeis, in seiner ausgezeichneten Nietzschebiographie
(Leipzig, Reclam), p. 204—213, die erst während der Drucklegung dieses
Buches erschienen ist.
— 89 —
sieren können als Nietzsche, namentlich wenn ein Gewitter am
Himmel stand." Ebenso erwähnt der kürzlich verstorbene Professor
Deussen Nietzsches „wundervolles Phantasieren" am Klaviere. Und
Peter Gast, selbst ein Musiker, preist sich glücklich, in Basel
Nietzsche Klavier spielen gehört zu haben. Ja heute noch erzählt man
sich in Basel ein lustiges Geschichtchen, dessen Hauptheld der am
Klavier phantasierende Nietzsche war, der dadurch bis zur Vergessen-
heit seiner selbst und der Umgebung angeregt wurde. Auch Wagner
und Cosima haben diese Gabe Nietzsches rückhaltslos anerkannt,
und von ersterem existiert das schöne Scherzwort, daß Nietzsche
für einen Philosophen viel zu gut phantasiert habe. So berichtet
auch Malwida unter dem 20. Jänner 1877: „Gestern gingen wir
nach dem Spaziergang in das Hotel Viktoria (in Sorrent), wo Wagner
wohnte, und baten um die Erlaubnis, auf dem Piano dort zu spielen,
Nietzsche phantasierte uns eine Stunde lang wundervoll vor. Er
spielte wirklich herrlich, es war ein lange nicht gehabtes Labsal."
Daß auch auf Frau Wagner sein Spiel einen bezaubernden Eindruck
machte, wurde bereits erwähnt. Daraus erhellt, daß Nietzsche ein
durch und durch musikalisch veranlagter Mensch war. Als aber
Nietzsche in Schulpforta 1860 mit zwei gleichgesinnten Freunden
die „Germania" gründete, und der Verein die „Zeitschrift für Musik"
hielt, das einzige deutsche Blatt, das sich damals für Wagner und
seine Kunst einzusetzen wagte, trat bei ihm ein großer Umschwung
€in: neben der klassischen begann er nun auf einmal die moderne
Musik zu schätzen; und den Siedepunkt seiner Begeisterung bildete
das Erscheinen des Klavierauszuges zum „Tristan", den er später
in wahrhaft entzückender Weise auf dem Klavier zum Ausdruck
bringen konnte.
Wilhelm Stekel, der bekannte Wiener Nervenarzt, berichtet in
seinem Aufsatze „Nietzsche und Wagner", daß es des Philosophen
unerfüllte Sehnsucht gewesen sei, ein großer Musiker zu werden.
Freihch sei er durch „andere Neigung und die Pflicht in eine
andere Richtung abgedrängt worden, habe aber dennoch nie die
Hoffnung aufgegeben, ein großer Musiker zu werden". Das ist in-
soferne richtig, als Nietzsche in seinem „Lebenslaufe" aus dem Jahre
1865 schreibt: „Hätte es nicht an einigen äußeren Zufälligkeiten
gefehlt, hätte ich es gewagt, Musiker zu werden. Zur Musik näm-
lich fühlte ich schon seit meinem neunten Jahre den allerstärksten
— 90 —
Zug." Stekel fährt nun fort, daß daher Nietzsche, der doch von
seinen musikaUschen Fähigkeiten überzeugt war, furchtbar enttäuscht
gewesen sein muß, als er eine selbst komponierte Ouvertüre an
Hans von Bülow, der über die Geburt der Tragödie im höchsten
Grade entzückt war, sandte, dieser jedoch die Komposition ablehnte.
Im „Ecce homo" erzählt Nietzsche : „Ich habe eigens, aus Ingrimm
gegen den süßhchen Sachsen Schumann, eine Gegenouverture zum
Manfred komponiert, von der Hans von Bülow sagte, dergleichen
habe er nie auf Notenpapier gesehen: das sei Notzucht an der
Euterpe!" Hat sich nun der Philosoph über dieses abfälHge Urteil
geärgert oder nicht? Aus der zitierten „Ecce homo "-Stelle spricht,
unverkennbar ein leiser Humor; und glauben wir den Berichten der
Frau Förster, so konnte ihr Bruder in „einer so kindlich harmlosen
Weise über ungünstige Urteile" über seine Kompositionen „ lachen ^
daß eine solche Kritik immer mit der allgemeinsten Zufriedenheit
und Heiterkeit endete." Nachgetragen hat er diese freimütige Offen-
heit dem großen Musiker nicht. So äußerte sich Nietzsche Professor
Riedel gegenüber, als es sich darum handelte, einen Preisrichter für
für eine vom deutschen Musikverein ausgeschriebene Schrift über
Wagners Nibelungendichtung zu finden, man möge Bülow dafür in
Aussicht nehmen, „von dessen unbedingt gültigem Urteil, von
dessen kritischer Strenge ich die allergünstigste Meinung und
Erfahrung habe. Es kommt sehr darauf an, daß wir einen recht klin-
genden, ebenso anspornenden als abschreckenden Namen finden — und
das ist der Name Bülows." Stekel jedoch scheint es tief zu bedauern,
daß Nietzsche trotz Bülows Absage das Komponieren nicht auf-
gegeben habe, denn er stand mit ihm auch weiterhin in regem
Briefwechsel und suchte ihm zu beweisen, daß er denn doch ein
großer Musiker sei. So komponierte Nietzsche Lou Andreas Salomes
Gedicht „Hymnus an das Leben", eine Tat, auf die er nicht wenig stolz
gewesen sei. Darauf ist zu entgegnen, daß, was die Nietzschesche
„Manfred-Meditation" betrifft, es feststeht, daß diese Komposition in
Bayreuth sehr freundlich aufgenommen, aber nicht in entscheidender
Weise beurteilt worden ist, wiewohl Nietzsche an einem entschiedenen
Urteile sehr viel gelegen war. Leider läßt es sich heute nicht mehr
feststellen, ob Nietzsche durch Wagner und dessen Frau an Bülow
verwiesen wurde oder aus eigener Initiative diesen Schritt tat. Tat-
sache ist, daß Bülow bei seiner bekannten rückhaltslosen Offenheit
- 91 —
Nietzsches Komposition in einem Briefe an ihn als „das Extremste
an phantastischer Extravaganz" bezeichnete, „als unerquicklich und
antimusikalisch; als ein musikalisches Fieberprodukt, in dem zwar
ein ungewöhnlicher, bei aller Verirrung distinguierter
Geist zu spüren sei, der ihn jedoch mehr an ein Lendemain eines
Bacchanals als an dieses selbst denken mache." Nietzsche erschrak
darüber sehr und beschloß, das Komponieren aufzugeben; „Sie haben
mir sehr geholfen," schrieb er an Bülow, „es ist ein Geständnis,
das ich immer noch mit einigem Schmerz mache." Und in der Tat:
diesem Vorsatze ist er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, treu
geblieben. Denn als das Lied mit seiner „heroischen Musik" in
Leipzig öffentlich aufgeführt wurde, schrieb Nietzsche seiner
Freundin: „Inzwischen hat Prof. Riedel hier (sc. in Tautenburg,
Thüringen) für meine heroische Musik, Ihr Lebensgebet Feuer ge-
fangen, und es ist nicht unmöglich, daß er es für seinen herrlichen
Chor zurecht macht. Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir
beide zusammen zur Nachwelt gelangten, andere Wege vorbehalten."
Hat nun Nietzsche auch von Richard Wagner, von dem er
wußte, daß er seine Klavierphantasien schätzte, eine Begutachtung
seiner Kompositionen erwartet? Nach Stekel ja! Denn aus erhaltenen
Briefen Wagners lasse sich deutUch entnehmen, wie der Meister
über den musikahschen Philosophen geurteilt habe. So schrieb Wagner
aus Tribschen als Antwort auf die beiden Vorträge „Das griechische
Musikdrama" und „Sokrates und die Tragödie", die ihm Nietzsche
als Manuskript gesandt hatte, denen nach Frau Förster ein „herr-
licher" Brief beigegeben war, der jedoch „in Wahnfried" später
„vernichtet worden sein soll": „Lieber Freund! Es ist doch gut,
wenn man sich solche Briefe schreiben kann! Ich habe jetzt
niemand, [mit dem ich es so ernst nehmen könnte als mit Ihnen
— die Einzige ausgenommen ... Sie könnten mir nun viel, ja ein
ganzes Halbteil meiner Bestimmung abnehmen. Und dabei gingen
Sie vielleicht ganz Ihrer Bestimmung nach. Sehen Sie, wie
elend ich mich mit der Philologie abgefunden habe, und
wie gut es dagegen ist, daß Sie sich ungefähr ebenso
mit der Musik abgefunden haben. Wären Sie Musiker
geworden, so würden Sie ungefähr das sein, was ich ge-
worden wäre, wenn ich mich auf die Philologie obsti-
niert hätte. Nun liegt mir aber die Philologie — als bedeutungs-
— 92 —
volle Anlage — immer in den Gliedern, ja sie dirigiert mich als
Musiker. Nun bleiben Sie Philolog, um als solcher sich von der
Musik dirigieren zu lassen. Was ich hier sage, ist ernstlich ge-
meint... nun zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und
helfen Sie mir, die große ,Renaissance' zustande zu bringen!" In
diesem Briefe Wagners erblickt nun Stekel eine nichts weniger als
deuthche Absage des Meisters auf Nietzsches Ersuchen um ein
Urteil über seine Kompositionen; das heißt mit anderen Worten:
sutor ne supra crepidam! Nietzsche jedoch habe nun auf den
Passus, er möge sich von der Musik so dirigieren lassen wie
Wagner sich von der Philologie dirigieren lasse, geantwortet: „Wenn
■es wahr ist, was Sie einmal — zu meinem Stolze — geschrieben
haben, daß die Musik mich dirigiert, so sind Sie jedenfalls der
Dirigent dieser meiner Musik; und Sie haben es mir selbst gesagt,
daß auch etwas Mittelmäßiges, gut dirigiert, einen befriedigenden
Eindruck machen könne. In diesem Sinne bringe ich den seltensten
aller Wünsche: es mag so bleiben, der Augenblick verharre, er ist
so schön!" i.us dieser Briefstelle folgert nun Stekel, daß Nietzsche
•aus Wagners Brief die deutliche Absage an sein musikalisches
Können nicht herausgelesen habe, daß er sich vielmehr gegen jedes
-Gefühl der Bitterkeit gewehrt habe — noch dazu nicht ohne Erfolg.
Die Rücksicht auf die Wahrheit erheischt gebieterisch ein
:genaues Eingehen auf diese Argumentation Stekels. Lesen wir
Wagners Brief an Nietzsche in dem Umfange, den ihm Stekel in wohl
berechneter Absicht gibt — Stekel zitiert lediglich nur das, was
ich in gesperrtem Drucke zitiere! — und nehmen wir mit
Stekel als feststehende Tatsache an, daß der Philosoph den Kom-
ponisten um ein Urteil über seine musikalischen Leistungen ersucht
habe, dann hat Stekel seinen Zweck völlig erreicht, und mit ihm
müssen wir Wagner wie Nietzsche diese ganz unglaubliche Erbärm-
lichkeit eines solchen Vorgehens zutrauen. In der Tat und in Wahrheit
liegt jedoch die Sache so, daß Nietzsche sich zur kritischen Zeit mit
den Vorstudien zur Geburt der Tragödie beschäftigte, als deren
erste Ergebnisse er dem Meister die genannten beiden Vorträge
übersandte. Daher ist nichts bedauerlicher, als daß der Begleitbrief
uns heute nicht mehr erhalten ist. Sicherlich hätte er uns
interessante Aufschlüsse über Nietzsches musikästhetische Ansichten
gehefert, interessantere Aufschlüsse als die Stekels. Wagners Brief,
— 93 —
in der von mir zitierten Form gelesen — ich habe ledighch das
Unwesentlichste gestrichen! — enthält vielmehr die ganz klar
präzisierte Aufforderung an Nietzsche, der Freund, dessen hohe Be-
deutung der Meister für seine Pläne klar erschaut hatte, möge seine
Philologie dazu benutzen, um von ihr aus helles Licht auf
Wagners philosophisch-musikalische Kunstwerke fallen zu lassen.
Die Analyse der Geburt der Tragödie wird die hier aufgestellte Be-
hauptung vollinhalthch bestätigen. Wie ich bereits erwähnt habe,
wurde Nietzsche von Wagner befreundeter Seite vielfach ersucht,
sich im Interesse Wagners literarisch zu betätigen, durch Heraus-
gabe von Aufrufen etc. etc. Wie jedoch Nietzsche über solche Art
literarischer Propaganda dachte, lehrt uns ein Brief an Eohde aus
dem Februar 1869: „Die Anhänger der Zukunftsmusik wünschen,
daß ich mich literarisch in ihrem Interesse betätige: ich aber für
mein Teil habe nicht die geringste Lust, wie eine Henne gleich
öffentiich zu gackern, und es kommt hinzu, daß meine Herren
Brüder in Wagnero meistens doch gar zu dumm sind und ekelhaft
schreiben. Das macht, sie sind im Grunde mit jenem Genius
schlechterdings nicht verwandt und haben keinen Blick für die
Tiefe, sondern nur für die Oberfläche. Daher die Schmach, daß die
Schule sich einbildet, der Fortschritt in der Musik bestünde gerade
in den Dingen, die Wagners höchst eigenartige Natur wie
Blasen hier und da aufwirft. Für das Buch ,Oper und Drama^ ist
keiner der Kerle reif." Hätte Stekel diesen und in ähnlichem Stile
gehaltene Briefe Nietzsches gelesen oder nicht absichtlich ignoriert, so
hätte auch er erkennen müssen, daß das Problem Nietzsche— Wagner
nicht so einfach zu lösen ist, wie er glauben machen will. Goethe
sagt einmal: „Wie irgend jemand über einen gewissen Fall denke,
wird man erst nur recht einsehen, wenn man weiß, wie er über-
haupt gesinnt ist." Kehrt man diesen Satz um, so daß er also
lautet: „Wie jemand überhaupt gesinnt sei, wird man erst nur
recht gewahr, wenn man weiß, wie er über einen gewissen Fall
denkt", so ist damit Stekels Stellungnahme zu diesem Problem
präzisiert.
Stekel behauptet nun im weiteren Verlaufe seiner Ausführungen,
daß Nietzsche trotz Wagners nicht mißzuverstehender Abmahnung
lustig weiter drauf loskomponiert und, wohl durch den Eindruck
des Siegfriedidylls des Meisters herausgefordert, auch eine Idylle
— 94 —
geschaffen habe: „Die verklärte Erinnerung an das Glücksgefühl
meiner Herbstferien. *" Dieses "Werk habe er dann an Wagner ge-
sandt in der stillen Hoffnung auf ein Wort der Anerkennung. Doch
diese sei ausgeblieben. Dadurch sei nun Nietzsche offenbar stark
verstimmt worden, so daß er mehrfache von Wagner ergangene
Einladungen ablehnte, bis endlich Wagner sich aufraffte und dem
nach musikalischen Lorbeeren hungernden Freunde einen ausführ-
lichen Brief sandte, in dem er der Komposition zwar Erwähnung
tut, „einer Kritik aber mit großer Geschicklichkeit ausweicht" :
„Sie sind tief, und gewiß ersehen Sie in meinem Verkehre mit
Ihnen keine Oberflächlichkeit. Ich verstehe |Sie auch mit dem Sinne
der musikalischen Komposition, mit welcher Sie uns so sinnig
überraschten. Nur fällt es mir schwer, mein Verständnis Ihnen mit-
zuteilen. Und daß ich diese Schwierigkeit empfinde, beklemmt mich
eben." Stekel bemerkt hiezu, daß man fühle, „wie sich Wagner
um ein Urteil winde. Wer feine Ohren habe, könne aus einem
anderen Briefe den gleichen vorsichtigen Ton heraushören". Wagner
teilte Nietzsche mit, daß gelegentlich eines Besuches Franz Liszts
bei ihm demselben Nietzsches Komposition, über die sich einst
Bülow vernichtend geäußert habe, vorgeführt worden sei: „Das
Urteil Bülows über Sie fand er nach Kenntnisnahme ihrer Sylvester-
klänge sehr desperat: ohne daß Sie ihm das Stück vorgetragen
hatten (was bei uns entscheidend war), glaubte er sein Urteil
anders und günstiger über Ihre ,Musik' stellen zu müssen. Also
lassen wir das B.sche Intermezzo jetzt auf sich beruhen: mir
ist's, als ob hier zwei Absonderlichkeiten der allerextremsten Art
aufeinander gestoßen seien. Auch dieses sage ich Ihnen nur so neben-
bei : denn im ganzen und in der Hauptsache muß jeder durch sich und
nicht durch andere über sich ins reine kommen. Was sollte aus mir
werden, wenn ich auf Herrn Edmund Hoefer^) zu viel gäbe?" Bülow
hätte demnach vernichtend geurteilt, Liszt etwas günstiger.
Zu dieser Argumentation Stekels muß ich bemerken, daß der
von ihm zitierte Brief Wagners, datiert vom 10. Jänner 1872, sich
tatsächlich um ein ganz anderes Problem dreht, als uns Stekel in
seiner psychoanalytischen xoXvTCQayfioövvrj zu erweisen sich Mühe
gibt: am 2. Jänner dieses Jahres hatte Nietzsche ein Exemplar der
soeben erschienenen „Geburt der Tragödie ** an Wagner übersandt.
^) Im Original „E. H.". Andere lesen: „Eduard Hanslick".
— 95 —
Wagner hatte auf das hin Nietzsche zu sich eingeladen, welcher
Einladung dieser jedoch nicht nachkommen konnte, da er durch
die gemischte Aufnahme, die sein Werk fand, aufs tiefste erschüttert
war. Er wurde krank, gönnte sich aber gleichwohl keine Ruhe, da er
an den Vorträgen „Über unsere Bildungsanstalten" arbeitete. Wagner
wußte nicht, was er davon denken sollte, daß Nietzsche, nachdem
er ihm seine Bewunderung so stürmisch ausdrückte, sich nicht so-
fort nach Tribschen aufmachte. Mißtrauisch wie er war, argwöhnte
er, daß Nietzsche es bereits bereue, diese Schrift geschrieben, und
besonders: sie veröffentlicht zu haben. Ich zitiere aus dem Briefe
jene Stellen, die Stekel unterschlug, um seine Beweisführung un-
gehindert durchführen zu können: „Daß Sie krank sind, hat mich
recht übel betroffen. Sie müssen es uns verzeihen, wenn wir den
Peripetien — nicht Ihrer Entwicklungs-, aber sozusagen der Fest-
stellungsphasen Ihres Berufes, soweit diese sich auf Ihr inneres Ge-
mütsleben beziehen, oft mit großer Beklemmung zusehen . . . Nun
blicken wir auf Sie, und — es bangte uns. Während uns die
wunderhchsten Mutmaßungen überschlichen und wir fast zu der
Annahme gelangten, die VeröffentUchung Ihres Buches, ja die ganze
Abfassung desselben könnte Sie — wenigstens für eine Zeitlang —
in eine fast wie reumütig aussehende Stimmung versetzen, melden
Sie uns, nach längerem Schweigen, Ihre Erkrankung. Und diese
Erkrankungen haben uns schon oft erschreckt, nicht weil Sie uns
ernsthche Befürchtungen für Ihren physischen, sondern für Ihren
Seelenzustand erweckten. Möchten Sie uns bald durch ein frohes
Wort, am besten durch einen — wenn auch kurzen — Besuch be-
ruhigen können! Freund! Was ich sage, ist nicht derart, daß es
durch eine lachende Versicherung verscheucht werden könnte. Sie
sind tief, und gewiß ersehen Sie in meinem Verkehre mit Ihnen
keine Oberflächlichkeit. Ich verstehe Sie auch mit dem Sinne der
musikalischen Komposition, mit welcher Sie uns so sinnig über-
raschten. Nun fällt es mir schwer, mein Verständnis Ihnen mitzu-
teilen. Und daß ich diese Schwierigkeit empfinde, beklemmt mich
eben. Und hinwiederum, mein Freund, was hätte ich Ihnen zu
sagen, das Sie nicht wüßten und aus Ihrem Innersten sich selbst
sagen könnten? Sie sehen und erkennen ja alles, so daß mit Ihren
Augen zu sehen und zu erkennen für mich eben eine so neue,
ganz ungeahnte Lust war. Ich verstehe Sie jetzt auch in so vielem
— 96 —
anderen, was Sie, als zu Ihrem Berufe gehörig, immer wieder
ernstlich beschäftigt, wie Ihre mir gemachten Andeutungen in be.
treff des pädagogischen Wesens. Tief und weit blicke ich mit
Ihnen, und unabsehbar weite Gebiete hoffnungsvollster Tätigkeit er-
öffnen sich vor mir — vor mir — mit Ihnen zur Seite. Aber Sie
sind krank. Sind Sie auch mißmutig, oh! so wünsche ich Ihren
Mißmut zerstreuen zu können. Wie soll ich das anfangen? Genügt
Ihnen mein grenzenloses Lob? Dies bezweifeln zu müssen, betrübt
mich ebensosehr. Dennoch kann ich nicht anders als es Ihnen
zu spenden." Frau Förster bemerkt, daß auf dieses warmherzige,
aber trotzdem etwas argwöhnische Schreiben Wagner von Nietzsche
einen „wahrhaft ergreifenden" Brief erhalten habe, der, wie Wagner
später erzählte, alle seine Beunruhigungen zerstreute. Dieser Brief
indes läßt erkennen, wie Wagner nicht „mit großer GeschickUchkeit
einer Kritik ausweicht", sondern vielmehr seine ganze Beredsamkeit
aufbietet, den Freund, den er abtrünnig wähnt, an sich zu ketten.
Meines Erachtens wäre Wagner in diesem Falle ein dankbareres
Objekt für Sfcekels psychoanalytische Forschungen gewesen!
Nun, das sind verächtliche Klatschereien, die am Wesen und
Niveau Wagners wie Nietzsches ohnmächtig zerschellen. Vielleicht
gab es niemals ein Menschenleben, dessen Versuchungen, Abenteuer,
Leidenschaften und Gefahren sich so ausschließhch ins Intellektuelle
übersetzt und in Erlebnissen sublimer Geistigkeit erschöpft haben,
wie es bei Nietzsche der Fall war. All sein Denken wurde in der
Tat von sehr subjektiver Leidenschaft und wild bewegten Gefühlen
getragen, aber es verlief von früh an unheimlich unpersönlich.
Goethes Rat, die Sache der Menschheit als die eigene zu betrachten,
ward an ihm unveräußerhche Natur.
Aus Nietzsches konsequenten Kompositionsversuchen, aus
seinen „wiederholt an den Meister gerichteten Bitten", ein Urteil über
seine musikalischen Leistungen abzugeben (sie !), folgert Stekel, daß
Nietzsche Wagner um sein fruchtbares musikahsches Schaffen be-
neiden mußte, daß er dabei aber zunächst Goethes Rat befolgt
habe: vor dem Neide rettet man sich am besten durch Liebe!
Allerdings findet sich nun im Zarathustra die Sentenz: „Und oft
will man mit der Liebe nur den Neid überspringen." Ob jedoch
Nietzsche diese Sentenz unter Goethes Einfluß und im Hinblick auf sein
Verhältnis zu Wagner geprägt habe, das bleibe dahingestellt. Stekel,
— 97 —
der diesen Ausspruch Zarathustras nicht zitiert, dafür aber Nietzsche
nach der Goetheschen Maxime handeln läßt, behauptet, daß der
Philosoph den Musiker so lange nicht beneidete, als er ihn heben
konnte. Als jedoch seine Liebe zu Wagner gestorben war oder als
unbefriedigt sich zurückgezogen hatte, sei jener Neid dann — zu-
nächst allerdings in versteckter Form — wieder zum Vorschein ge-
kommen, bis schließlich Wagner wahrnehmen mußte, daß ihm
Nietzsche Konkurrenz machen wollte! Um diese Behauptung zu
beweisen, beruft sich Stekel auf folgenden Brief Wagners: „Unter
anderem fand ich, daß ich einen solchen männlichen Umgang, wie
Sie ihn in Basel für die Abendstunden') haben, in meinem Leben
nicht hatte: seid Ihr alle Hypochonder, dann ist's allerdings nicht
viel wert. Nur scheinen aber den jungen Herren Frauen zu fehlen;
da heißt es allerdings, wie mein alter Freund Sulzer einst meinte:
wo hernehmen und nicht stehlen? Indes, man könnte auch einmal
in der Not stehlen. Ich meine, Sie müßten heiraten oder eine Oper
komponieren; eines würde Ihnen so gut und schlimm wie das
andere helfen. Das Heiraten halte ich aber für besser. '^ Stekel
glaubt nun, aus dieser „feinen Ironie" Wagners, mit der er seiner
Verwunderung Ausdruck gibt, daß Nietzsche immer nur Freunde
und nie eine Freundin um sich habe, ferner, daß er Ehe und Oper
in einem Atem nennt, schließen zu können, der Meister habe mit
Sicherheit erkannt, warum er von seinem jüngeren Freunde be-
neidet werde: um Cosima und um sein Werk!
Es ist wirkhch staunenswert, welche ganz unglaublichen Fol-
gerungen Stekel zog, Folgerungen, vor denen Wagner wie Nietzsche
sicherlich zu Tode erschrocken wären, weil sie selbst bei Lebzeiten
ihres innersten Denkens und Fühlens wohl kaum mit dieser Deut-
lichkeit und Selbstverständlichkeit sich bewußt gewesen wären, mit
der der moderne Psychoanalytiker dieses innere Fühlen als real
zeichnet. Möge es mir gestattet sein, mich der unsterblichen Worte
des wackeren C. M. Wieland zu bedienen, mit denen er die Manen
des Geschichtsschreibers Sallust gegen die Verdächtigungen über-
eifriger und böswilliger Kommentatoren der 2. Satyre des I. Buches
^) Aus dieser Äußerung Wagners leitet Stekel später Nietzsches Homo-
sexualität ab ! Ausführlicheres dai'über weiter unten. Ich frage nur: wie kann
der zum Homosexuellen gestempelte Nietzsche auf einmal heterosexuell
empfinden ?
Grießer, Wagner und Nietzsche. 7
— 98 —
des Horatius in Schutz nimmt: „Die Ehre und der Nachruhm eines
vortreffhchen Schriftstellers ist, meiner Meinung nach, auch alsdann,
wenn ihm selbst nichts mehr daran gelegen ist, der Menschheit
keine gleichgültige Sache. Sie ist sozusagen eine unverletzbare
Hinterlage, deren Bewahrung der Redlichkeit und Sorgfalt der Nach-
welt anvertraut ist; und wenn es von jeher bei allen Völkern für
ein Verbrechen gegen die Humanität angesehen worden ist, die Ge-
beine eines Verstorbenen zu mißhandeln oder seine Asche zu be-
unruhigen, wieviel mehr ist es unedel und grausam, den Nachruhm
eines Mannes, dessen Verdienste um die Welt noch immer fort-
dauern, durch Schändung seines sittlichen Charakters, den er selbst
nicht mehr verteidigen kann, zu besudeln?'' Kommentatoren und
Interpreten dieses Schlages sollte man daran erinnern, daß Goethe
im „Faust" gesagt hat:
„Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen!",
nicht jedoch: „verdirb es!"
Nun, mit diesem von Stekel aus einem Briefe Wagners vom
26. Dezember 1874 ganz willkürlich herausgerissenem und noch
willkürlicher interpretiertem Zitate hat es in Wahrheit folgende
Bewandtnis: als Nietzsche zu der Erkenntnis kam, daß das Ideal
Wagners und seine Kunst nicht mehr so „weit" über sich selbst
erhaben sei und er selbst es nicht mehr als das Hauptziel seines
Lebens empfand, für die „Wagnerei" ausschließlich zu wirken, fing er
an, sich selbst und sein bisheriges Streben als zwecklos zu empfinden,
als ob er sich bisher in einem zu engen Kreise von Ansichten bewegt
und ihm der Blick und das Schaffen ins Weite und Große gefehlt
hätte. Ein Brief an Gersdorff, aus dieser Zeit der schwersten inneren
Kämpfe stammend, läßt uns die tiefe Melancholie, unter der Nietzsche
litt, getreulich nachempfinden. Auch nach Bayreuth hat Nietzsche
solch melancholische Briefe geschrieben. Wagner selbst hätte sich,
wie Cosima schrieb, am liebsten gleich aufgemacht, um ihn in
rührender Freundschaft nach Bayreuth zu holen. Frau Wagner
glaubte nämlich, daß diese Stimmung hauptsächlich mit der Baseler
Atmosphäre zusammenhänge, gegen die sie selbst eine große Ab-
neigung empfand. Indes hatte sich auch bei Nietzsche die Arbeit
als die edle Panazee bewährt: während er schon längst alle
drückende Melanchohe überwunden hatte, saßen in Bayreuth Frau
— 99 —
Cosima, Wagner und Gersdorff, über das Schicksal Nietzsches
brütend; zusammen und berieten, wie man ihm helfen könne. Frau
Cosima bestand darauf, er müsse Basel verlassen. Da aber keine
andere Universität vor ihnen Gnade fand, kamen alle drei zu dem
amüsanten Schluß, Nietzsche müsse eine Frau heiraten, der es das
größte Glück wäre, ihm das Leben ganz nach seinen persönlichen
Wünschen zu gestalten und mit ihm überall dorthin zu gehen, wo
er am liebsten sein möchte. Das machte niemandem mehr Spaß als
Nietzsche; so schrieb er an Gersdorff: „WirkUch himmhsch ist der
Gedanke, Dich und die Bayreuther in einer Heiratsüberlegungs-
kommission zusammensitzend zu denken." Ärgerlich war ihm nur
der eine Umstand, daß immer von einer bedrückten Stimmung bei
ihm die Rede war, die er doch schon längst überwunden hatte.
Nun scheint aber Nietzsche anläßUch Frau Cosimas Geburtstag
wiederum einen recht melancholischen Brief nach Bayreuth ge-
schrieben zu haben, den Wagner sofort, und zwar etwas ärgerlich
beantwortete und in dem er alles berührte, was in diesem letzten
Jahre zu Bedenken oder zum Mißtrauen Anlaß gegeben hatte.
Daher heißt es ganz folgerichtig nach der von Stekel zitierten
Stelle: „einstweilen könnte ich Ihnen ein Palhativ empfehlen:
aber Sie richten immer Ihre Apotheke im voraus so ein, daß man
sein Mittel nicht anbringen kann. Zum Beispiel wir hier richten
unser Haus usw. so ein, daß wir gerade auch für Sie ein Unter-
kommen darin bereiten, wie mir in meinen höchsten Lebensnöten
nie es angeboten worden ist ; da sollten Sie nun die vollen Sommer-
ferien mit uns verbringen. Aber — höchst vorsichtig melden Sie
uns bereits im Anfange des Winters, daß Sie beschlossen haben,
die Sommerferien auf einem recht hohen und einsamen Schweizer-
berge zu verbringen ! Klingt das nicht wie sorgfältige Abwehr einer
etwaigen Einladung unsererseits? Wir könnten ihnen etwas sein:
warum verschmähen Sie das angelegentlichst? — Gersdorff und
das ganze Basilikum könnten sich die Zeit hier gefallen lassen . . .
aber man kennt das und anderes Sonderbare an Freund Nietzsche !
Auch will ich gar nicht mehr von Ihnen reden, denn es hilft doch
nichts! Ach Gott! heiraten Sie eine reiche Frau! Warum muß nur
Gersdorff gerade eine Mannsperson sein! Dann reisen Sie und be-
reichern sich an all den herrlichen Erfahrungen, welche Hillebrand
so vielseitig und (in Ihren Augen) beneidenswert machen und —
— 100 —
komponieren Ihre Oper, die aber gewiß schändlich schwer auf-
zuführen werden wird. — Welcher Satan hat Sie nur zum
Pädagogen gemacht! Sie sehen, wie radikal mich wieder Ihre Mit-
teilungen gestimmt haben; aber — weiß Gott! — ich kann so
etwas nicht mitansehen! Ich bade jetzt täglich. Baden Sie auch!
Essen Sie auch Fleisch!" Ich glaube: wenn Wagner selbst wirklich
in demselben Grade wie Stekel davon überzeugt gewesen wäre, daß
Nietzsche ihn um sein Weib beneide, hätte er ihm wohl kaum
solch ein erlesenes „Unterkommen" in seinem, eigenen Hause
bereitet!
Da ich auf eine eingehende Erörterung der Stellungnahme
Stekels zum Problem Wagner— Nietzsche später ausführlicher zurück-
kommen werde, sei hier nur folgendes festgestellt: der Wagner, der
vor Nietzsche als seinem Konkurrenten etwa Furcht gehabt haben
sollte, dürfte wahrlich nicht jener Wagner gewesen sein, der einer
der selbstbewußtesten Menschen war, welche die deutsche Musik-
geschichte kennt^). Eine solche kleinUche Erbärmlichkeit ihm zu-
trauen, heißü nichts anderes als Wagner zu einem ganz un-
bedeutenden Stümper herabdrücken, der mit bebender Angst jede
Konkurrenz gefürchtet hätte. Gewiß, kein Mensch wird es je be-
streiten wollen, daß Nietzsche ein äußerst musikalischer Mensch war.
Aber diese Tatsache allein genügt doch noch nicht, um den Schwer-
punkt seines geistigen Schaffens dorthin zu verlegen, wo er nach
der ganzen geistigen Eigenart des Denkers niemals hat liegen
können. Denn, wäre dem so, so hätte sich Stekel als Psychologe —
und das will er ja sein! — sofort sagen müssen, daß mit der von
ihm aufgestellten Forderung folgende Tatsache unvereinbar ist:
wären Neid und Eifersucht für Nietzsche wirklich die Motive seiner
Trennung von Wagner gewesen, so würde er über diese Trennung
sicherlich nicht jenen tiefen Schmerz empfunden haben, unter dem
er tatsächUch gelitten hat, würde Nietzsche trotz seiner grimmigen
Ausfälle gegen Wagner von diesem nicht so manchen Ausspruch
geprägt haben, durch den Wagners Bedeutung als Künstler rück-
haltslos anerkannt wird. All das müßte uns dann völlig unver-
ständlich erscheinen. Nietzsches Vorstoß gegen Wagner nach dem
Jahre 1888 ist nur als Operation am eigenen Fleische verständlich :
1) Cf. eine darauf Bezug nehmende Äußerung Bismarcks, zitiert in
meinem Buche „Tristan und Isolde", p. 259.
— 101 —
er hoffte durch ätzende Kritik und VerächtUchmachung dessen, was
er einst angebetet hatte, die Wunde, die in ihm zurückgebheben war,
auszubrennen. Und was endhch Stekels Behauptung, Nietzsche habe
den Meister um sein Weib beneidet, betrifft, sei vorderhand nur so
viel gesagt: was sagt Stekel zur Mitteilung Malwidas von Meysen-
bug, daß es Wagner sehr bedauert habe, daß Nietzsche bei der am
25. August 1870 stattfindenden' kirchlichen Trauung Wagners mit
Cosima von Bülow nicht als Trauzeuge beiwohnen konnte, daß der
Meister sich äußerte: „Niemand würde sich so sehr darüber freuen
als gerade er?" Wir müssen wiederholen, daß zu jener Zeit Nietzsche
ein häufiger und stets gerne gesehener Gast in Tribschen war,
daß er auch damals bei Wagner weilte, als dessen Sohn Siegfried
geboren wurde! Kann so ein Mann sprechen, der angebhch weiß,
daß der Gastfreund ihm sein Weib neidet? Nun ist es freilich Tat-
sache, daß Nietzsche unter den illegalen häuslichen Verhältnissen
des Meisters „schrecklich gelitten" hat, was Wagner keineswegs
unbekannt war, aber ebenso ist es Tatsache, daß Nietzsche trotz
Wagners illegaler Beziehungen zu Cosima nur deswegen mit ihm
verkehrte, weil er „ihn und Cosima für etwas Außerordenthches
hielt, w^eit über alle anderen Menschen erhaben und deshalb auch
erhaben über alle bürgerlich geordneten Verhältnisse".
Es wäre jedoch geradezu töricht, behaupten zu wollen, Nietzsche
habe etwa nur deshalb komponiert, imi zu komponieren, das heißt
er hätte seinen Kompositionen keinen Wert beigemessen. Auf keine
seiner Kompositionen war Nietzsche mehr stolz wie auf den
, Hymnus an das Leben". So schrieb er an Peter Gast: „Gestern
überfiel mich der Dämon Musik, mein gegenwärtiger Zustand in
media vita will auch noch in Tönen sich aussprechen: ich werde
nicht loskommen . . . diesmal kommt „Musik" zu Ihnen. Ich möchte
gern ein Lied gemacht haben, welches auch öffentlich vorgetragen
werden könnte — um die Menschen zu meiner Philosophie zu ver-
führen." Nun war dies jene Zeit, da der Zarathustra entstand,
eine Zeit, in der Nietzsche „mehr als je Musiker sein möchte".
Wenn wir nun diese ungeheure Produktionslust Nietzsches am
Zarathustra, diesen Höhepunkt seines geistigen Schaffens, diese
Arbeit an der Quintessenz der Nietzscheschen Philosophie mit Stekel
einzig und allein darauf zurückführen, daß Nietzsche sich durch die
Schaffung der Zarathustragestalt für den versunkenen Freund
— 102 —
Wagner habe Ersatz schaffen wollen, dann liegt allerdings der
Schluß sehr nahe, Nietzsche habe durch seine Musik die des Meisters
übertrumpfen wollen. Denn auch vom Zarathustra gilt es, was
Cosima Wagner einst über den Vortrag „Sokrates und die Tragödie **
schrieb, daß er zeigt, „wie tief musikalisch Nietzsche sei und welch
großen musikalischen Instinkt er besitze". In diesem Sinne konnte
daher Nietzsche im „Ecce homo" schreiben: „Man darf vielleicht
den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen; sicherlich war
eine Wiedergeburt in der Kunst zu hören eine Vorbedingung
dazu." Gerade für Nietzsche ist es charakteristisch, „daß die Musik
seinen Geist frei gemacht, seinem Gedanken Flügel gegeben
hat, daß er um so mehr Philosoph ward, je mehr er Musiker ward ! **
Aus diesen Worten Nietzsches erhellt wohl mit unzweifelhafter
Deutlichkeit, daß die Musik den Kernpunkt seines Wesens bildete,
daß aber dieser musikahsche Trieb sicji „zufällig nicht mit Noten,
sondern mit Worten niederschreiben ließ". Um so bedauerlicher ist
es daher, wenn Unverstand und Mißgunst sich bemühen, den
Denker, der uns die dionysischeste Philosophie schenkte, zum Spiel-
ball törichtester und kleinlichster menschhcher Leidenschaften zu
machen. Und dieses dionysischeste Element m Nietzsches Wesen ist
Herrn Stekel wohl bis heute noch ein Buch, mit sieben Siegeln
verschlossen. Es ist aber unerläßlich, an anderer Stelle darzulegen,
daß eben dieses Dionysische das höchste Glück und die furchtbarste
Tragik des Menschen wie des Denkers Nietzsche bildete, der einst
seiner Schwester schrieb: „Wenn ich minutenlang denken darf, was
ich will, da suche ich Worte zu einer Melodie, die ich habe, und
eine Melodie zu Worten, die ich habe; und beides zusammen, was
ich habe, stimmt nicht, ob es gleich aus einer Seele kam. Aber
das ist mein Los." Dieser Überdrang musikahschen Lebensgefühles
mußte sich entladen, wenn sein Träger nicht zerbrechen sollte. Und
falls der „nicht zustande gekommene Komponist", wie ihn Gustav
Mahler nannte, den „Gesamtklang der Welt" nicht in Noten heraus-
stellen konnte, so mochte er „einen philologischen Stoff musikahsch
behandeln", so mochte er „stammeln wie ein Säugling und Bilder
häufen". So, nur so entstand die Geburt der Tragödie. Interessant
ist das Urteil, das Gustav Mahler, also ein Berufener „in rebus
musicis", über Nietzsches Kompositionen gefällt hat: „Aus dem
Zarathustra haben Strauß und ich die ,latente Musik' herausgefühlt.
— 103 —
Nicht mit Unrecht haben Sie Nietzsche einen ^nicht zustande ge-
kommenen Komponisten' genannt. Denn der war er in der Tat!
Sein Zarathustra ist ganz aus dem Geiste der Musik geboren, ja
geradezu ,symphonisch' aufgebaut. Übrigens war Nietzsches
kompositorische Begabung eine viel größere als allgemein an-
genommen wird. Bülow hat ihm bitteres Unrecht getan, als er in
der ihm eigenen Art seine kompositorischen Versuche eine ,Not-
zucht an Euterpe' genannt hat. Die mir von Ihnen gezeigten Kompo-
sitionen Nietzsches haben mich vom Gegenteil überzeugt. Wohl sind
sie dilettantisch. Wer aber Nietzsche kennt, muß finden, daß auch
sie Geist von seinem Geiste sind." (Mitgeteilt von Bernard Scharlitt:
„Anbruch«, Jhg. 1920; p. 310.)
Verführt durch die schamlosen Machinationen übereifriger
Wagnerapostel der schlimmsten Sorte hat man die absurde Be-
hauptung aufgestellt, daß Nietzsche in seinen die Kunst betreffenden
reformatorischen Hauptgedanken von Wagner beeinflußt worden sei.
Mit anderen Worten : Nietzsche habe sich Gedanken des Meisters
angeeignet und als die seinen vertreten. So sei Nietzsches Formu-
lierung der apollinischen und dionysischen Kunsttheorie Wagners
Werk „Über die Bestimmung der Oper* entnommen. Hier ist aber
das gerade Gegenteil wahr: bei Abfassung dieser seiner Programm-
schrift schöpfte Wagner die Grundgedanken von dem Kompromiß
zwischen apollinischer und dionysischer Kunst in der Tragödie aus
einem Vortrag Nietzsches „Über die dionysische Weltanschauung",
den ihm der Philosoph einmal vorgelesen hatte. Daher konnte
Rohde am 28. Mai 1871 seinem Freunde schreiben: „Wagners Auf-
satz ,Über die Bestimmung der Oper' habe ich mit Aufmerksamkeit
gelesen. Oft meinte ich Dich, Hebster Freund, soufflieren zu hören,
da, wo vom griechischen Drama die Rede ist." Also diese angeb-
lichen geistigen Diebstähle Nietzsches an Wagner und dessen Zorn
darüber bedürfen keiner weiteren Aufklärung mehr. Wahr ist viel-
mehr, daß Nietzsche bei der Anwendung dieser Nomenklaturen sich
sehr stark an seinen Lehrer Friedrich Ritschi anlehnt; denn dieser
unterscheidet bereits zwischen „besänftigend erhebender Kitharistik
und enthusiastisch erregender Aulodik", ja sogar zwischen „apolli-
nischen Kitharistik und dionysischer Auletik". (Cf. „opusc. phil." V,
p. 160; „Vorlesung über Geschichte der griechischen Poesie"
Ribbeck I, p. 303.)
X. RÜCKBLICK.
Das wären so ziemlich die wichtigsten authentischen Daten,
aus denen wir nun zusammenfassend die Genesis und das Ende
dieser Freundschaft zweier Genies erklären müssen. Es ist klar,
daß viele Dokumente, speziell Briefe, die uns wichtige Aufschlüsse
über die verschiedenen Phasen dieser Freundschaftstragödie geben
könnten, der Forschung teils fehlen, weil sie schon früher ver-
nichtet wurden, teils aber noch immer unzugänglich sind, angeblich
deshalb, weil sich ihr zu intimer Inhalt der Veröffentlichung ent-
ziehe. So beklagt sich Frau Förster in der Vorrede ihres Buches
„Wagner und Nietzsche zur Zeit der Freundschaft", daß das Haus
Wahnfried ihr viele Briefe Wagners und Nietzsches nicht zur Ver-
fügung gestellt oder dieselben bereits im Jahre 1909 „aus ihr ganz
unerklärlichen Gründen" vernichtet habe. „Sie waren sämtlich voll
zartester Rücksicht und Verehrung für Wagner und Frau Cosima,
und da ich mehrere davon, ehe sie abgesandt wurden, gelesen habe,
so darf ich wohl sagen, es waren Kulturdokumente ersten Ranges
darunter. Aber gerade diese sollen vernichtet sein und nur wenige
Briefe, in welchen sich mein Bruder in seiner rührendsten Be-
scheidenheit und Höflichkeit zeigt, sind mir ausgehefert worden."
Dr. Fritz Kögel erzählt, daß Frau Cosima ihm gegenüber versichert
habe, Nietzsches Briefe an Wagner seien „vielleicht (eile cherchait
le mot) bei einem Umzüge verloren gegangen ! " Sonderbarer Zufall !
In der Tat ist über das Verhältnis Nietzsches zu Wagner seit dem
Jahre 1878 von Bayreuth aus tiefstes Schweigen gebreitet worden.
Die Mitteilungen aus dem Nietzschekreise selbst sind wieder zu
ungenügend, um psychologische Schlüsse über diese Dinge zu
gestatten. Aber trotzdem ist von vielen Seiten, von Berufenen wie
von Unberufenen, der Versuch unternommen worden, dieses
Freundschaftsverhältnis zum Gegenstande langatmiger Darstellungen
zu machen. An all diesen Versuchen läge an und für sich nichts
— 105 —
Tadelnswertes, wenn nicht die Verfasser dieser Darstellungen
Immer eine bestimmte Tendenz vertreten wollten: beiden Teilen
läßt keiner Gerechtigkeit widerfahren, sondern jedes solche Buch
dient Parteizwecken, je nachdem sein Verfasser ein Anhänger und
Verehrer Wagners oder Nietzsches ist. Darüber vergaß man natürlich,
die Wahrheit zu ergründen. Die Quelle aller Forschung soll aber
nicht der Haß, sondern die Liebe sein; denn nur sie führt uns tat-
sächhch zur Wahrheit. Ist er ein eingefleischter Wagnerianer, der
nur in verba magistri sui geschworen hat, so kommt Nietzsche
natürlich sehr schlecht weg. Das sind jene Literaten, die bereits als
grüne Jungen sich einbildeten, mit dem dritten Nietzsche längst
schon fertig zu sein, die Nietzscheüberwinder par excellence, oder
gar jene Sorte von Kulturheilkundigen, die uns zunächst ein ent-
setzliches Schreck- und Zerrbild des Philosophen an die Wand malen
und sich nachher um die Wette bemühen, es mit Knütteln tot zu
schlagen. Zuerst wird Nietzsche mit allem möglichen geistigen
Unflat beladen, um zum Schlüsse geprügelt zu werden, oder es geht
glimpflicher ab: man weist ihm früh beginnende Verrücktheit nach
und enthebt sich so billig der Mühe, ein Verständnis seiner Werke
überhaupt nur anzubahnen, und findet es staunenswert, daß es ein
Genie wie Wagner so lange an der Seite dieses Narren^), der sich
für einen erstklassigen Komponisten und Dichter hielt, ausgehalten
habe. Hoffentlich wird ihnen bei ihrer Gottähnlichkeit nie bange!
Die blinden und einseitigen Nietzscheverehrer dagegen, diese „Affen
seines Ideals", erblicken in Wagner nur das Prototyp des Dekadenten,
den klassischen Vertreter der deutschen Hochdekadenz, den sie aber
trotz der Nietzscheschen Rezepte doch nicht so schnell und gründ-
lich überwinden können, als es ihnen vielleicht angenehm wäre.
Sie sind es, die es am lautesten beklagen, daß uns der Denker
Nietzsche kein einheitliches System seiner Gedanken hinterlassen
hat. Das ist allerdings Tatsache. Und niemandem gleicht in dieser
Beziehung Nietzsche mehr als dem Dichterphilosophen Piaton, mit
dem er mehr Berührungspunkte hat, als jene Sorte von Nietzscheanern
^) So scheut sich Hieronymus Lorm (.,üer grundlose Optimismus")
nicht, Nietzsche „eine vorübergehende Erscheinung im Fastnachtsspuk
menschlicher Verirrungen" zu nennen und meint, „die Intelligenz sinke
in manchen Epochen so tief, daß sie Kränze des Ruhmes auch dem Hans-
wurst flicht."
— 106 —
auch nur ahnt. Gewiß, ein Lehrer des Piatonismus ist Nietzsche
nicht. Piaton ist ihm viel zu nahe, als daß er betrachtend und
gerecht über ihn lehren kann: er ringt mit seinem Schatten sein
lebelang. Aber auch bei den heftigsten Angriffen — oder gerade
bei ihnen — soll man sich erinnern, daß' er mit Stolz so offen
über Piaton seine Meinung sagt, denn er fühlt nach seinen eigenen
Worten Piatons Blut in seinen Adern rollen. Jedenfalls teilt er mit
Piaton die Mystik als dichterische Inspiration und als eine über
dem Denken stehende Erleuchtung des Geistes. Beide Denker
werden die eigene und die menschliche Unzulänglichkeit zur Ge-
nüge gekannt haben, als daß sie bei einem System oder einem
resignierten „ignorabimus!" Beruhigung gefunden hätten. Damit ist
aber noch immer nicht bewiesen, daß Nietzsche, was noch heute
Glaubensartikel der Philosophiegeschichte ist, ein launischer, schnell
begeisterter, schnell vergessender Denker gewesen sei, der alle Jahre
hinter einem anderen Ideale herlief, „wie launische Fürstentöchter
jedes Jahr mit einem neuen Geliebten durchgehen." So hören wir
bei Falckenberg, Windelband, Überweg. Solche tendenziös gefärbte
Behauptungen sind geradezu lächerlich! Nietzsche war gewiß kein
Systematiker im gewöhnlichsten Sinne des Wortes, ein — Fr. Jodl
hat einst dafür das sehr gute Wort geprägt — philosophischer
Käfersammler, der gewissenhaft rubriziert und klassifiziert und
katalogisiert und dann prompt jedes Jahr aus 99 Büchern ein
hundertstes Buch braut, sondern er war ein durch und durch
systematischer Denker, der es sich niemals leicht gemacht hat, der
im Verfolgen eines Gedankens unendlich zähe und so logisch
fanatisch ist wie etwa Hobbes, der von Launen und Wünschen
mindestens so unabhängig bleibt wie Spinoza oder Kant und in
dessen geistiger Entwicklung ein systematischer, kontinuierlicher
Zusammenhang unschwer zu erkennen ist. Beide Denker haben dort,
wo dem menschhchen Erkennen eine Grenze gezogen ist, die Poesie
zu Hilfe gerufen, weil sie wußten, daß wir das Höchste nur im
„göttlichen Wahnsinne", nicht mit dem Verstände, sondern durch
inneres Erleben, intuitiv erfassen. Denn der Urgrund von Sein und
Leben liegt jenseits, jenseits von allem, was die menschliche Ver-
nunft erreichen kann. Und doch gelangen wir hinüber: ahnend,
glaubend, schauend. Und erst dann haben wir Frieden. Auch
Nietzsche hatte diesen Frieden, und vielleicht nie in höherem Grade
— 107 —
als zu jener Zeit, da er seine berühmten Zetteln mit der Unter-
schrift „der Gekreuzigte!" an seine wenigen ihm treu gebliebenen
Freunde sandte. Wer daher dem Ewigen noch nie Aug* in Auge
geschaut hat, wer es noch nie in seinem Leben empfunden hat, daß
ihm erst dann der Frieden mit dem Dämon im eigenen Herzen
unverlierbar ist, der kennt sie nicht, die ungeheuren Hoffnungen,
die flammende, mühsam unterdrückte Glut in der Seele des jungen
Nietzsche; der versteht die Krisis in seinem Leben so wenig als
die Rache, die er später an sich selber genommen hat, der hat als
Nietzsches Thyrsosträger leider keine Ahnung, wo dieser sein neuer
Dionysos seine wahre Heimat hatte, der vergißt in seiner maßlosen
Begeisterung nur allzu leicht, daß Nietzsche wie Wagner unsere
Kultur bereichert haben, daß Nietzsche wie .,ein Stern unterging
und verschwand — aber sein Licht ist noch unterwegs, und wann
wird es aufhören, unterwegs zu sein?" Und da auch Wagners
Genius der Welt so unendlich viel Schönes und Herrliches gegeben,
woraus nur wieder blinde Schwärmerei und einseitigste Partei-
richtung die Tatsache gemacht hat, daß wir heute nach einem
Zeiträume von mehr als dreißig Jahren nach seinem Tode von
einer objektiven Beurteilung seines Lebenswerkes weiter entfernt
sind denn je, ist es ein geradezu unverzeihlicher Fehler, eine Sünde
wider den heihgen Geist, daß man bei der Beurteilung der persön-
lichen Beziehungen dieser zwei Genies nur das Ephemere sieht und
sehen will, also gerade das, worin sie ihre Zugehörigkeit zum
Menschentum am unzweideutigsten bewiesen, während man das,
worauf sie den Stempel der Ewigkeit drückten, nur allzu gerne
übersieht.
Wenn aber trotzdem in den folgenden Blättern hier und da
des „MenschUchen, Allzumenschlichen" Erwähnung getan werden
wird, das auch zwei solchen Geistesheroen als ein Erdenrest, zu
tragen peinlich, anhaftet, so geschieht das nicht in der Absicht,
um die Neugierde sensationslüsterner Leser zu befriedigen, sondern
nur zu dem Zwecke, um für ihre Fehler und Schwächen ein Ver-
ständnis zu gewinnen, um beide Männer uns menschlich näher zu
bringen, treu dem altbewährten Grundsatz: „Nil humani a me
alienum puto." Denn m. E. bedeutet es für die Erschließung von
Wagners Menschentum durchaus keinen Gewinn, wenn man aus
seinem Bilde gewisse Züge wegretuschiert, ja sogar sich nicht
— 108 —
scheut, Stellen aus seinen Briefen, die ihn so recht als ringenden
und fehlenden Menschen zeigen, kurzerhand zu streichen. Der
Künstler Wagner wird durch die Aufdeckung seiner Fehler, die
ihm als Menschen genau so anhaften wie uns allen, wahrhch nicht
kleiner, im Gegenteil! Überraschende Aufschlüsse, erstaunliche Auf-
klärungen wird stets nur der Forscher erhalten, der bei seiner
Arbeit „sine ira et studio" vorgeht. Ihm wird es glücken, nicht
bloß die hellen Flammen vulkanischen Ausbruches menschlichen
Hasses hoch auflodern zu sehen, sondern auch die im Innern des
Menschen waltenden und zündenden machtvollen Elementarkräfte
an der Arbeit zu beobachten. Und die Erkenntnis aus dem eigenen
Erleben, aus dem wissenschaftlichen Ergründen, wie aus der
historischen Betrachtung wird auch in unserem speziellen Falle der
Wahrspruch sein: „tout comprendre c'est tout pardonner!" Aber
ewig wahr werden Pindars und Goethes Wort bleiben: „oivÖQav
öixaCcov XQÖvög öarriQ «^törog" — „dem guten Manne rettet die
Ehre die Ärztin Zeit", und was der Altmeister am 4. Juni 1809 an
Luise Seidler schrieb: „Die Menschen sollten nur bewundern, daß
ein Mensch noch Tugenden hat. Die Fehler verstehen sich von
selbst. '^ Allerdings: dieses „Allzumenschhche'*', das sind die Wunden
des Genius, an denen man ehrfürchtig vorübergehen soll. Denn wir
schämen uns, allzu genau hinzusehen, daß ein großer Geist, ein
starker Charakter solche Wunden hat. Aber der breite Pöbel auf
den Märkten hat gar nicht das Recht, mit seinen scheelen, lieb-
losen Augen die Narben eines Genies zu besichtigen oder gar mit
unlauteren Fingern seine Wunden neugierig zu betasten. Wie sagt
doch Nietzsche im „Jenseits"? „Wer das Hohe eines Menschen nicht
sehen will, bhckt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vorder-
grund an ihm ist — und verrät sich selbst damit!"
Menschliche Denkfaulheit und die kleinen Geister haben daher
den Geisteserzeugnissen dieser beiden Männer einerseits unbedingte
Wahrheit zugeschrieben, einen auf Grund seiner Leistungen gegen
den anderen ausgespielt, anderseits aber hinter denselben
puren Schwindel oder lediglich das Produkt eines Geisteskranken
gewittert. Hier sei nur so viel gesagt: in der wirklich schöpferischen
Produktion eines großen Mannes liegt ein Geheimnis, sowohl für
uns als auch den Schaffenden selbst: wenn auch unbewußt, so lag
es doch in seiner Seele. Daher muß der Schöpfer immer größer sein
— 109 —
als seine Werke, denn „das Wirkende", sagt Goethe, „muß treff-
licher sein als das Gewirkte", und unsere heiligste und erste Pflicht
ist es, den Schöpfer ganz und voll verstehen. Das ist allerdings
viel schwerer — aber auch viel schöner — weil wir das Wesen
des Schaffenden aus dem innersten Leben und Erleben seiner Seele
erfassen müssen. Den drmiovQyög in Wagners und Nietzsches Seele
suchen und finden — wer das zuwege bringt, der hat beide ver-
standen. Aber dem wird es auch klar sein, warum beide sich
trennten: weil sie nicht anders konnten, weil in ihnen etwas lebte
und wirksam war, das mächtiger war als sie beide.
Nietzsche und Wagner waren in der Tat zwei ganz außer-
gewöhnlich gottbegnadete Menschen, die aber trotz einer ziemlich
stark ausgeprägten ähnlichen Veranlagung dennoch einen tief-
gehenden, fundamentalen Unterschied aufweisen: Wagner, der ge-
borene Künstler, der nur in Tönen denken, fühlen und handeln
konnte, wirft sich immer wieder der Philosophie in die Arme, um
mit ihrer Hilfe den dunklen Sinn des Lebensrätsels zu lösen, um
mit ihrer Hilfe das langsam und umständlich zu begreifen, was er
durch seine Intuition im Kunstwerke, sobald es vollendet war,
praktisch — ihm selbst völlig unbewußt — als seine herrlichste
Tat vollbracht hatte. Aus diesem Gegensatze von Wille und Geist,
Leben und Erkenntnis sogen Wagners Werke ihre Kraft, lange
vor seiner Bekanntschaft mit Schopenhauer, während Schopenhauers
System ihm nur bewußt machen und in erlösende Formeln bannen
konnte, was in seiner Produktion von den Feen bis zum Parsifal
immer lebendig war. Nietzsche dagegen stürzt sich in seinem
gigantenhaften Streben, die bestehende Welt umzuschaffen, sie aus
ihren alten Bahnen in ganz neue herüberzulenken, auf die
schwierigsten und heißest umstrittenen Probleme, auf Probleme, um
deren Lösung die Menschheit seit ihrem Bestehen ringt, und er
trägt das sieghafte Licht der Erkenntnis in die dunkelsten Tiefen
menschlichen Wesens und menschlicher Kulturepochen und schafft
Kunstwerke, deren äußere Pracht uns mitunter größere und ge-
rechtere Bewunderung entlockt als das System der in ihnen ent-
wickelten Gedanken. Am auffallendsten ist jedoch folgender tief-
ergreifender Unterschied, der bei beiden Naturen ganz merkwürdige
Konsequenzen gezeitigt hat: Wagner fühlte sich als Künstler und
Philosoph in einer Person; stand er zum Beispiel in diesem
— 110 —
Augenblicke ganz unter der Gewalt seines metaphysischen Künstler-
instinkteS; so kann ihn uns der nächste Augenblick als den kühl
erwägenden, scharfsinnigen Denker zeigen, der den schwersten Pro-
blemen nachgrübelt, als wäre er nie etwas anderes gewesen denn
ein Gelehrter. Nietzsche dagegen war ein Künstlerphilosoph, bei
dem sich ein künstlerischer Impuls spontan in philosophischem
Denken entlud. Man wird daher mit der Annahme nicht fehlgehen,
daß er 'den philosophischen Trieb in sich als eine Art Metastase
des künstlerischen Triebes empfand. Dieser theoretische Gegensatz
mußte sich bei diesen großen Kraftnaturen natürlich auch im
praktischen Leben mit unverkennbarer Deutlichkeit zeigen: so
kämpfte Wagner heute begeistert für eine Idee, weil er sich von
ihrer Durchsetzung etwas Großes erwartete; morgen aber konnte
er oft ganz rücksichtslos für seine Idee kämpfen, ohne die von
gestern oder irgendeine andere als gleichberechtigt anzuerkennen.
Nietzsche, dessen innerstes Wesen von Haus aus allem lauten
Hervorkehren des Persönlichen abhold war, lebte nur der Er-
reichung seines Zieles, während Wagner den Weg, sein Ziel
irgendwie zu erreichen, mit demselben Eifer, ja Fanatismus ver-
teidigen konnte wie dieses selbst. Aber so grundverschieden beide
Naturen waren, so näherten sie sich dennoch, weil sie voneinander
gegenseitig die Verwirklichung ihres Strebens erhofften').
Es ist nun eine merkwürdige Fügung des Schicksals, daß
Nietzsche, ohne noch Wagner persönlich kennen gelernt zu haben,
^) Daraus ergibt sich aber mit zwingender Notwendigkeit folgendes:
die tatsächlichen Motive für den Abfall Nietzsches von Wagner, für die
Wandlung Nietzsches aus einem „ersten in einen zweiten Nietzsche" liegen
in der Verschiedenheit, oder wenn man auch will, in der Gleichheit der
beiden Charaktere und in ihren auseinanderstrebenden Weltanschauungen.
Beide wollten eine neue Kunst und eine neue Weltanschauung selbständig
und allein schaffen. Jeder von ihnen wollte Herr seiner Zeit und Herold der
Zukunft sein, beide die beherrschende Parole ausgeben und den lösenden
Zauber spenden. Beide waren Herrennaturen, die nur Jünger, aber keine
Meister neben sich dulden konnten. Wenn Frau Förster von Wagner sagt,
daß er keine Götter neben sich zu dulden vermochte, so gilt genau das
gleiche von Nietzsche. Und zwar begann das Bewußtsein Nietzsches um
seine Selbständigkeit gerade mit den Jahren 1874—1876 zu einem bestimmten
Abschluß zu kommen: es begann seine eigene Meisterschaft, und damit war
der Zusammenstoß mit dem Meister Richard Wagner mit Naturnotwendig-
keit gegeben.
— 111 —
sich für den verbannten, heimatslosen Meister begeisterte: „Von
dem Augenblicke an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab
(mein Kompliment, Herr von Bülow!), war ich Wagnerianer!", daß
er, ehe er noch die Universität in der rechtmäßigen Weise absol-
viert hatte, trotz des enormen Altersunterschiedes sich vom ersten
Augenbhcke des persönlichen Zusammentreffens mit Wagner zu
dem bereits ausgereiften Manne, der auf der Höhe seines künst-
lerischen Schaffens stand, so hingezogen fühlte, daß ihn nebst der
dem Meister gezollten Verehrung auch tiefe Freundschaft zu dem
Manne hinzog. Bei Konstatierung dieser Tatsache darf man jedoch
eines nicht vergessen: Nietzsche war zu dieser Zeit noch ein
Werdender, ja auch ei glich damals sozusagen noch einem un-
beschriebenen Blatte, auf dem sich zunächst, vom Meister bewirkt,
Züge ausprägten, die einen ganz anderen Geist atmeten als er in
dem jungen Baseler Professor lebte. Dieser kam frisch von der
Philologie, war aber trotz seiner Jugend einer jener wenigen
Philologen, die Philologie nicht betreiben, sondern leben. Nur hatte
er selbst damals wohl noch kaum eine Ahnung von der ungeheuren
Geisteskraft, die in ihm schlummerte, die ihn einst von Wagner
weg hoch über die Ziele der Menschheit seiner Zeit hinausheben
sollte. So saß er denn in Tribschen in Wagners gasthchem Hause,
mit ihm und seiner geistvollen Frau bis in die späte Nacht musi-
zierend und philosophierend. Malwida von Meysenbug hat uns von
dem disputierenden Nietzsche eine packende Schilderung aufbewahrt :
„Was uns alle noch mehr anzog als die Gelehrsamkeit des gründ-
lich mit dem Altertum Vertrauten war die Geistesfülle und Poesie
in der Auffassung, das erratende Auge des dichterischen Menschen,
welches die innere Wahrheit der Dinge mit seherischem Blick be-
greift, da wo der pedantische Buchstabengelehrte nur die äußere
Schale faßt und für das Wesentliche hält." Daher ist es kein
Wunder, wenn Wagner unter dem befruchtenden Eindrucke dieses
Verkehres mit einem so herrlichen Geiste voll Freude an Erwin
Rohde schrieb : „Ich finde, daß ich mit und durch Nietzsche in recht
gute Gesellschaft gekommen bin. Das können Sie nicht wissen,
was das heißt, sein langes Leben über in schlechter oder wenigstens
alberner Gesellschaft verbracht zu haben. . . . Aber diese Wendung
beginnt auch wirklich erst mit Nietzsche: vorher schwang sich
meine Sphäre nicht höher als bis zu Pohl, Nohl und Porges." Des
— 112 —
Meisters Worte fielen in des Jünglings Herzen auf gar fruchtbaren
Boden, und er erging sich in den sublimsten Einfällen, sah sich für
immer Seite an Seite mit diesem einzigen hoch über der Alltäg-
lichkeit des Lebens stehen — gleichsam wie ein neues Dioskurenpaar.
Wie ist dies möglich, fragen wir erstaunt, daß der sechzigjährige
Wagner an dem vierundzwanzigjährigen Professor solchen Gefallen
finden und dieser zu jenem sich so hingezogen fühlen konnte, daß
Wagners Gedanken buchstäblich die seinen waren ? Dieses Verhalten
Nietzsches läfat sich einzig und allein nur aus seinem philosophi-
schen Triebe erklären. Raoul Richter, der leider viel zu früh ver-
storbene Professor für Philosophie an der Leipziger Universität, hat das
schöne Wort geprägt: „Der philosophische Trieb ist das rücksichts-
lose Forschen und Kämpfen um und für die Wahrheit, aber nicht
um die wissenschaftUchen Winkel Wahrheiten, sondern um die
wahre Welt- und Lobensanschauung." Dieser philosophische Trieb
nun bestimmte alle inneren Erlebnisse Nietzsches, und nur von ihm
aus kann man sie voll verstehen. Daher sind unter dieser Voraus-
setzung auch Nietzsches Freundschaften zu verstehen, indem er die
bestehenden philosophisch durchtränkte und neue nur auf philo-
sophischer Basis schloß. Denn er will die philosophische Wahrheit
nicht nur für sich allein, sondern auch für andere erobern. Dieser
philosophische Trieb leitete Nietzsche bereits in Schulpforta, als er
mit zwei Gesinnungsgenossen den literarischen Verein „Germania"
begründete. Diese Tatsache, die von den Nietzsche a priori feindlich
gesinnten Darstellern seines Freundschaftsverhältnisses mit Wagner
so gerne als nicht existierend in Abrede gestellt wird, wird am
stärksten bewiesen durch jenen Brief Nietzsches an seinen Freund
Rohde, in dem er voll Freude bei diesem seinem Freundschafts-
verhältnisse als dem einzigen einen „ethisch-philosophischen
Hintergrund" konstatierte. Dieser philosophische Trieb beherrschte,
sobald Nietzsche Schopenhauers Philosophie schätzen gelernt hatte,
ganz folgerichtig auch sein Verhältnis zur Kunst. Schwärmte er
früher für die mehr sinnenfreudige Musik, so wurde er nun diesem
seinem philosophischen Triebe zufolge reif für das Verständnis einer
Erscheinung wie Richard Wagner, welcher der Musik ganz im
Sinne Schopenhauers die Rolle einer zeitweiligen Erlöserin von dem
bösen Lebenswillen zuschrieb. Die ganze Kunstübung Wagners, der
fast ausschließlich tiefernste Stoffe, in seinem Hauptwerke^ die
— 113 —
Tragödie der Menschheit selbst, dargestellt hafc, ja der durch seine
Schöpfungen reformierend auf das ganze Geistesleben der Nation
einzuwirken unternahm, konnte von Nietzsche als ein indirekter
Beweis für die neue Ansicht von der metaphysischen Würde der
Musik geltend gemacht werden. So erklärt es sich daher, daß
Nietzsche, weil er unter der Perspektive der Schopenhauerschen
Philosophie alles beurteilte, sich zum Genius Wagners hingezogen
und durch seine Freundschaft sich tief beglückt fühlte: denn in
Wagners Werken fand er die Kunst im Dienste des philosophischen
Geistes als dessen anschauliche VersinnUchung, hier fand er den
Plan, durch diese Kunst die ganze Kultur der Gegenwart umzu-
gestalten. Hier fand er selbst die hehrste Aufgabe, mit Einsatz aller
Mittel der Philologie, mit Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit für
die nunmehr als wahr erkannte Welt- und Lebensanschauung zu
wirken. Sehr richtig ist daher die Bemerkung Frau Andreas
Salomes, daß Nietzsche nur deshalb Wagners Anhänger geworden
sei, weil Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal
einer Kunstkultur habe verwirkUchen wollen, das dem jungen
Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als Ideal aufgegangen
war. Mit Schopenhauers Metaphysik kam eine Steigerung dieses
Ideals ins Mystische hinzu, ins unergründlich Bedeutungsvolle —
gewissermaßen ein Akzent, den es durch die metaphysische Inter-
pretation alles Kunsterlebens und Kunsterkennens erhielt. Kurz:
Wagner war jetzt für Nietzsche der Gesamtkünstler der schopen-
hauerschen Philosophie. Das ist nun für den Bildungs-, respektive
geistigen Entwicklungsgang Nietzsches, der doch von Haus aus
klassischer Philologe war, charakteristisch, daß er, der als kaum
zwanzigjähriger Jüngling den „energischen und düsteren Genius"
Schopenhauers auf sich hatte wirken lassen und gleich Wagner in
seinen Bann geriet — „mir behagte an Wagner, was mir an
Schopenhauer behagt: die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz,
Tod und Gruft" — daß dieser Jüngling schon im Jahre darauf,
1867, ihn als den Philosophen eines wiedererweckten germanischen
Hellenentums verherrUcht. Also schon damals trug Nietzsche in
das Hellenentum einen fremden, modernen Geist hinein, und er-
blicke ich in dieser Tatsache den ersten, allerdings mehr dilletantischen
Schritt zur verhängnisvollen Tat mit der Geburt der Tragödie. Aber
umgekehrt lehrt uns dieses Faktum, daß Nietzsche all sein Ge-
Grießer, Wagner und Nietzsche. Q
— 114 —
liebtestes stets in das hinüber verwandelte, was er als das Voll-
kommene liebte und verehrte: ins Griechische; und so hat er
Wagner mit großartiger Auslegung und stilisierender Willkür ins
Griechisch- Tragische umgedeutet, hat er das Erlebnis Schopenhauers
zu einer dichterischen Verklärung der vorplatonischen Philosophen
gestaltet, hat er später seine protestantisch-christlichen Grund-
antriebe ins Dionysische hinübergezwungen und schließlich seiner
Krankheit die Formel einer griechischen Lebensbejahung abgerungen,
in welcher er die Griechen mit seinem eigenen Ausdrucke noch
„übergriechte". All dies ist nur so erklärlich, daß der philosophische
Trieb, der alle seine Freundschaften beherrschte, nun auch Gewalt
über den Philologen Nietzsche gewann: und daher stellte er die
exakte Arbeitsweise des Philologen in den Dienst der Probleme, mit
denen er sich jetzt zu beschäftigen begonnen hatte: die Philologie,
ihre Arbeitsweise ward ihm das Mittel zum Zweck, sie sollte ihm
große kulturgeschichtliche Zusammenhänge erhellen, geistige Werte
entschwundener Zeiten erwecken. So schrieb er an Deussen:
„Übrigens habe ich auch den wahren HeiHgen der Philologie ent-
deckt, einen echten und wirklichen Philologen, schließUch Märtyrer
(jeder dumme Literator glaubt ein Recht zu haben, auf ihn zu pissen :
dies das Martyrium). Weißt Du, wie er heißt? Wagner, Wagner,
Wagner!" Und wenn er an Freiherrn von Gersdorff vor seiner Ab-
reise nach Basel auf seinen neuen Posten glückstrahlend schreibt,
daß der philosophische Ernst zu tief schon in ihm wurzle, um je-
mals einen schmählichen Abfall von der „Idee" befürchten zu
müssen, so enthält dieser Ausspruch das Fundament seines ganzen
Lebens, liegt in diesen Worten noch in nuce alles Glück und alles
Leid der folgenden Jahre: alle Lebensverhältnisse durchdringt er
mit dem philosophischen Geiste ; denn Denken und Handeln müssen
einander stets entsprechen.
XI. „DIE GEBUET DEE TEAGÖDIE."
Wir wissen bereits, daß Wagner den Deutschen ein neues
Kulturideal, eine neue Kunst schaffen wollte, und daß Nietzsche
Freunden, die ihn aufforderten, mit einer Schrift Wagners Be-
strebungen zu fördern, auf diese Bitte mit einer Absage antwortete.
Der Mann, dem Schopenhauers Erlösungslehre eine „festgewurzelte
Grundlehre war: man kann mit ihr sterben; das ist mehr, als wenn
man von ihr sagen wollte: man kann mit ihr leben!", der seine
Antrittsvorlesung in Basel mit den bedeutsamen Worten geschlossen
hatte: „Philosophia facta est, quae philologia fuit. Damit soll aus-
gesprochen sein, daß alle und jede philologische Tätigkeit um-
schlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Welt-
anschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Ver-
werfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen
bleibt!" — dieser Mann war offenbar mit sich noch nicht im reinen,
er schwankte noch zwischen dem Hellenentum und dem schopen-
hauerisierten Wagnertume. Und doch konnte er sich des Einflusses
durch Wagner nicht mehr zur Gänze entschlagen, wie eine ganze
Reihe kleinerer Abhandlungen über das Griechentum beweist. So
fallen in das Jahr 1871 zahlreiche Ausfälle Nietzsches gegen das
einfache Wortdrama, natürlich zugunsten des Wagnerschen Wort-
tondramas. Wie später in der „Geburt der Tragödie" zieht Nietzsche
sein Beweismaterial aus der völhg unberechtigten Auslegung des
Sokratismus und einer totalen Verkennung der euripideischen Kunst
heran. Ja, er geht noch weiter und nennt Shakespeare als einen
musiktreibenden Sokrates den Vollender des Sophokles. Das Wort-
drama ist für ihn „gelehrt, unoriginal, erlogen oder Drastik". Selbst
mitzuarbeiten an der Verwirklichung eines neuen Kulturideals, das
erschien ihm am Ende verlockender und lohnender als die tief-
gründigste Leistung „auf dem Stoppelfelde der klassischen Philologie".
Dieses freimütige Bekenntnis Nietzsches ist nur allzu wahr! Denn
8*
— 116 —
ein Geist wie Nietzsche, der gleichzeitig für antike Kunst, schöne
Literatur, Musik und Philosophie begeistert war, mußte sich natur-
gemäß mehr zu großen synthetischen Werken veranlagt fühlen als
zu jenen minutiösen Einzelforschungen, in die sich die Philologen so
gerne vergraben. So war er bereits fest entschlossen, seine Professur
an der Baseler Universität aufzugeben, um sich ganz seiner gehebten
„Wagnerei" widmen zu können. Zum Glücke hat ihn die Besonnen-
heit Wagners vor diesem unüberlegten Schritte bewahrt, indem er
der Ansicht war, ein für ihn eintretender Universitätsprofessor sei
wertvoller als ein Apostel ohne Amt. Indem Nietzsche die Blütezeit
der griechischen Kultur mit dem verglich, was Wagner mit seinen
Werken bereits geschaffen hatte, glaubte er zu erkennen, daß in
ihnen jene höchste Blütezeit menschUcher Kultur wieder aufzublühen
beginne. Und hat jene Kultur als wertvollste und herrhchste BKite
die Kunst gezeitigt, die für ewige Zeiten an den Namen des Aischylos
geknüpft ist, könnte da nicht jetzt der umgekehrte Fall möglich
sein, daß die Kunst Wagners, diese deutscheste Kunst, der Beginn
einer neuen deutschen Kultur sein könnte? Wagner, dem Nietzsche
seine kleinen Abhandlungen zur Lektüre gesandt hatte, schrieb ihm:
„Zeigen Sie denn, zu was die Philologie da ist, und helfen Sie mir,
die große , Renaissance' zustande zu bringen, in welcher Piaton den
Homer umarmt und Homer, von Piatons Ideen erfüllt, nun erst
recht der allergrößte Homer wird." Nun war in Nietzsche der Kampf
zwischen Griechentum und einem schopenhauerisierten Wagnertum
zugunsten des letzteren entschieden: es erschien „Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik".
Paul Friedrich wirft in einem seiner Essays die Schicksalsfrage
auf, ob Wagner damals in Nietzsche wirkhch nur den Freund oder
nicht doch seiner herrschgewaltigen Imperatorennatur gemäß schon
das Instrument erblickte, das ihm in seinem Kampfe sich ungerufen,
wie von selbst darbot. Diese Frage ist wahrUch nicht leicht zu be-
antworten; es läßt sich nur so viel sagen, daß der Meister, ohne
Nietzsches mitunter krankhaft-ekstatische Überspanntheit zu ver-
kennen, wie der zitierte Brief an Rohde beweist, sich in Nietzsches
Umgang durchaus wohl fühlte : er ließ sich gerne Weihrauch spenden
und liebte das ganz erstaunhche Verständnis, das der junge Mann
füX die dionysische Seite seines Wesens bekundete. Ob er jedoch schon
damals die Absicht trug, diesen begeisterten Adepten ausschheßhch
~ 117 —
nur für seine Zwecke auszunutzen, das bleibe dahingestellt^).
Daß Wagner, durch Nietzsches Arbeiten ermutigt, die sublimsten
Hoffnungen für sich und sein Werk hegte, ist aber doch wieder nur
menschlich begreifbar und nachfühlbar: denn aus Nietzsche redete
der Gelehrte und nicht einer jener Vielwisser und Vielschreiber,
die nicht aus Liebe zur Sache, sondern aus purer Sensationslust
sich für das Neue begeistern, welche Sorte von Anhängern dem
Meister vielfach ihre Dienste angeboten, jedoch keineswegs zu seinem
Besten gearbeitet hatte. Und in diesem Sinne müssen wir auch „Die
Geburt der Tragödie" verstehen; man kann von diesem Werke sagen,
daß es einerseits der fast dichterische Versuch ist, das Rätsel von
der Entstehung des schauspielerischen Phänomens zu deuten, ander-
seits Nietzsches Bestreben, um das Maßlos-Schöne der Wagnerschen
Kunst neben der maßvollen, klassischen, ruhigen Schönheit des
Hellenentums gelten lassen zu können, diese im Hellenentume zu
suchen und dort auch zu finden. Denn an die „schlichte Einfalt und
'edle Stille" des Griechentums, wie sie für Winckelmahn und Goethe
als unübertreffliches Ideal feststand, mochte Nietzsche wohl schon
längst nicht mehr recht geglaubt haben: ebenso wie bisher Goethe
für Nietzsche als Idealgenie galt, Goethes Kunstschöpfungen für ihn
die höchsten Offenbarungen des menschhchen Geistes waren, erhob
sich jetzt für Nietzsche unter dem Einflüsse der Schopenhauerschen
Genielehre am deutschen Kulturhimmel in den Werken Wagners,
wenn schon nicht das Ideal der absoluten Schönheit, so doch ein
Ideal der Schönheit nach seinen Begriffen. Demgemäß geht sein
Hauptstreben dahin, beide Schönheitsideale als gleichberechtigt zu
erweisen. Man mag wegen dieser Tatsache immerhin Nietzsche eine
gewisse Inkonsequenz vorwerfen oder sie lediglich als eine falsche
Prämisse bewerten, aus der sich mit logischer Notwendigkeit ein
falscher Schluß ableiten lassen mußte, so wird dadurch das Faktum
denn doch nicht aus der Welt geschafft, daß „Die Geburt der Tragödie"
ein großes sacriflcio del intellecto war: nur ein Blick in die aus
Nietzsches Nachlaß veröffentlichten Vorstudien zeigt uns seine Ver-
legenheit, die immer größer wurde, je tiefer er sich in das einmal
gestellte Problem versenkte. Dort, wo er Übereinstimmung vorzu-
finden glaubte, stieß er auf Gegensatz über Gegensatz. Und wahrlich,
1) Cf. p. 24.
— 118 —
großer Mut und größte Selbstverleugnung, die nur in seiner Liebe
zu Wagner wurzelten, gehörten dazu, trotz all dieser offenkundigen
Unstimmigkeiten auf der einmal eingeschlagenen Bahn unbeirrt
weiter zu gehen und das eine große Ziel nicht aus den Augen zu
verHeren. In späteren Jahren bekannte Nietzsche freimütig, „daß
er sich das grandiose griechische Problem, wie es ihm aufgegangen
war, durch die Einmischung der modernsten Dinge verdorben habe . . .
jetzt tagte mir das Altertum und Goethes Einsicht der großen
Kunst: und jetzt erst konnte ich den schlichten Blick für das
wirkliche Menschenleben gewinnen: ich hatte die Gegenmittel
dazu, daß kein vergifteter Pessimismus daraus wurde".
Der Widmungsbrief, mit dem Nietzsche das vollendete Werk
dem Meister übersandte, lautet; „Möge meine Schrift wenigstens in
irgendeinem Grade der Teilnahme entsprechen, die Sie Ihrer Genesis
bis jetzt, wirklich zu meiner Beschämung, zugewandt haben. Und
wenn ich selbst meine, in der Hauptsache recht zu haben, so heißt
das nur so viel, daß Sie mit Ihrer Kunst in Ewigkeit recht haben
müssen. Auf jeder Seite werden Sie finden, daß ich Ihnen nur zu
danken habe für alles das, was Sie mir gegeben haben. Vielleicht
werde ich manches später einmal besser machen können
Inzwischen fühle ich mit Stolz, daß ich jetzt gekennzeichnet bin
und daß man mich jetzt immer in einer Beziehung zu Ihnen nennen
wird "
Wegen der in ihr ausgedrückten Ideen sei der Inhalt dieser
herrlichen Schrift hier ausführlich wiedergegeben. Ohne jedwede
Einleitung stürzt sich Nietzsche in medias res und beginnt mit der
Entwicklung des Doppelprinzips vom Apollinischen und Dio-
nysischen als jener Grundtatsachen, an welche alle Weiterent-
wicklung der Kunst gebunden ist. Nach Apollon und Dionysos^
welche die beiden Kunstgottheiten der griechischen Welt sind, be-
nennt er seine als fundamental erkannten ästhetischen Prinzipien;
und zwar versteht er unter der apollinischen Kunst die Kunst des
bildenden Künstlers, also die des Malers, des Plastikers, des Epikers,
während unter den Begriff dionysisch die Künste des Musikers und
Dramatikers subsumiert werden. Vom psychologischen Standpunkte
aus gehört die apollinische Kunst in den Bereich des Traumes,
dessen Bilderwelt mit ihrer Vollkommenheit in gar keinem Zu-
sammenhange mit der intellektuellen Höhe oder künstlerischen
— 119 —
Bildung des Individuums steht. Apollon ist demnach zu denken als
das herrUche Götterbild des Individuationsprinzipg^), aus dessen Ge-
bärden die ganze Lust und Weisheit des „Scheines" samt seiner
Schönheit zu uns spricht ; all sein Tun und Treiben findet in weis-
heitsvoller Kühe seinen vollendeten Ausdruck, er bleibt allen wilden
Regungen unzugänglich und realisiert mithin den Begriff maßvoller
Begrenzung, die awcppoauvy], in sich. Anders äußert sich Dionysos.
Dieser ist der Gott des so tiefstem Grausen wie höchster Verzückung
innewohnenden Bruches des Individuationsprinzips, des Einswerdens
des Menschen mit der Natur. Daher offenbart er sein Walten im
Rausche, sei es nun im Rausche der Trunkenheit oder im Rausche
des Geschlechtstriebes, der heute noch genau so wie in gewissen
orgiastischen Kulten des Altertums beim Wiedererwachen alles
Lebens in der Natur die Menschen befällt. Da in dieser dionysisch-
orgiastischen Verzückung oder Verzauberung der Mensch in und an
sich die im Traume erschauten Götter realisiert, „ist er nicht mehr
Künstler", sondern bereits „ein Kunstwerk geworden": denn
diese künstlerisgjien Mächte entspringen beide dem Schöße der Natur,
und diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist
jeder Künstler nur „Nachahmer". Indem nun Nietzsche diesen
Begriff des nachahmenden Künstlers näher präzisiert, unterscheidet
er drei Arten von Künstlern: den apollinischen Traum-
künstler, den dionysischen Rauschkünstler und den
Künstler, der diese beiden Kunstprinzipien in sich ver-
einigt. Letzteres gilt hauptsächUch für die Erzeugung der griechischen
Tragödie, in welcher sich dem dionysisch Trunkenen sein Zusam-
menhang mit dem innersten „Wesen der Welt" in einem
gleichnismäßigen Bilde offenbart. Nietzsche wirft nun die Frage auf,
in welcher Weise sich diese Kunsttriebe bei den Hellenen zunächst
äußerten, welche Weiterentwicklung sie in der Folgezeit bei diesem
„Genie unter den Völkern" fanden. Aus der Beantwortung dieser
Frage wird sich das Verhältnis des griechischen Künstlers zu seinen
1) Darum soll von Apollon das gelten, was Schopenhauer von dem im
Schleier der Maja befangenen Menschen sagt: „Wie auf dem tobenden Meere,
das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt,
auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend, so
sitzt mitten in einer Welt voll Qualen ruhig der einzelne Mensch, gestützt
und vertrauend auf das principium individuationis." (Cf. Schop. W. W. I, 416.)
— • 120 —
Urbildern ergeben; das heißt wir werden, um mit Aristoteles zu
reden, die „Nachalwnung der Natur" tiefer verstehen und würdigen
lernen.
Der ursprüngliche Zustand der hellenischen Welt war die
apollinische Kultur: aus der Tatsache, daß das hellenische Auge
mit einer unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung
jene herrlichen Götterbildnisse zu schaffen verstand, die die Giebel
der Tempel zieren, glaubt Nietzsche folgern zu können, daß in seinen
Traumbildern eine ähnliche, wenn nicht gar dieselbe logische Kau-
salität der Linien und Umrisse vorgewaltet habe. Die dionysische
Kraft dagegen bedarf überhaupt keines Beweises: lassen sich doch
im ganzen Altertum dionysische Feste nachweisen, bei denen das
Zentrum in einer überschwenglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit
liegt. Aber gegen die fieberhaften Regungen solcher Feste waren
die Griechen eine Zeitlang völlig geschützt durch die Gestalt
Apollons: sie verhielten sich ihnen gegenüber ablehnend. Diese Ab-
lehnung ist verkörpert und verewigt durch die dorische Kunst. Als
aber aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen depa Dionysischen
ähnliche Triebe spontan hervorbrachen, wurde Apollons Widerstand
allmählich gebrochen; sein Einfluß und seine Macht jedoch nicht zur
Gänze eliminiert, da gleichsam eine Aussöhnung zwischen Apollon
und Dionysos erfolgte. Wenn man aber bedenkt, daß trotz dieses
Kompromisses die dionysische Macht sich immer schrankenloser zu
offenbaren begann, so müssen wir in den dionysischen Orgien der
Hellenen eine Art von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen
erblicken ; denn erst bei ihnen erreichte die Natur ihren künstlerischen
Jubel, erst bei ihnen wird die gewaltsame Zerreißung des principii
individuationis ein künstlerisches Phänomen. Diese wunderbare
Mischung und Doppelheit in den Affekten der dionysischen Schwärmer
verheb allen diesen Festen einen gewissen, ins Sentimentale gehenden
Zug: der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach gestimmter
Schwärmer — man denke nur an die Erscheinung, daß Schmerzen Lust
wecken und daß der Jubel mitunter auch die qualvollsten Töne der
Menschenbrust entreißt — waren der homerisch-griechischen Welt
etwas Fremdes, vor allem die dionysische Musik. War die Musik
scheinbar als apollinische Kunst bekannt, so war sie dennoch dorische
Architektonik in nur angedeuteten Tönen. Denn mit Absicht ist der
Grundzug der dionysischen wie überhaupt aller Musik ferngehalten:
— 121 —
die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des
Melos, die unvergleichliche Welt der Harmonie. Aber gerade weil
im dionysischen Dithyrambos der Mensch zur höchsten Steigerung
seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt wurde, war die volle, alle
Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde als neue Symbolik not-
wendig. Denn erst durch das Zusammenwirken der anderen sym-
bolischen Kräfte mit dieser kann der Mensch zu jener Höhe der
Selbstentäußerung gelangen, die in der einheitlichen Äußerung aller
dieser Kräfte ihren symbolischen Charakter findet : der dithyrambische
Dionysosdiener kann nur von seinesgleichen verstanden werden. Dem
apollinischen Griechen konnte nun diese Tatsache nicht ganz fremd
sein oder unbekannt bleiben: langsam mußte ihm die Erkenntnis
aufdämmern, daß die dionysische Welt durch sein apollinisches Be-
wußtsein gleichsam wie durch einen Schleier verdeckt werde.
Um dies zu verstehen, müssen wir die Fundamente der apol-
linischen Kultur ergründen. Die ganze olympische Welt ist nichts
anderes als eine Versinnlichung desselben Triebes, der eine Gestalt
wie Apollon schuf. Deshalb darf man Apollon den Vater der
olympischen Welt nennen. In dieser Welt aber verkörpert sich keine
unleibliche Vergeistigung, sondern dem triumphierenden Daseins-
überschwange entsprungen, „erinnert hier nichts an Askese, Geistig-
keit und Pflicht. Hier redet nur ein üppiges, ja triumphierendes
Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel
ob es gut oder böse ist". Aber diese Welt ist nur Schein weit, wie
uns die Sage vom König Midas erzählt, dem der weise Silen, der
Begleiter des Dionysos, auf die Frage, was für den Menschen das
Allerbeste sei, antwortete: „Das Allerbeste ist für Dich unerreichbar:
nicht geboren zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für
Dich, bald zu sterben." Nur das menschliche Leiden, in dem der
Grieche die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins empfand,
ließ ihn vor die irdische Welt die glänzende Traumgeburt der
Olympischen stellen, um überhaupt leben zu können. Denn „derselbe
Trieb, der die Kunst ins Leben ruft als die zum Weiterleben ver-
führende Ergänzung und Vollendung des Daseins, heß auch die
olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische Wille einen ver-
klärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschen-
leben, indem sie es selbst leben — die allein genügende Theodizee".
Unter dem Sonnenscheine solcher Götter muß das Erdendasein als
— 122 —
das Erstrebenswerteste empfunden werden, und nur darum sehnt
sich Achilleus, selbst als Tagelöhner weiterleben zu dürfen ; das aber
ist nur die Folge des Willens zum Leben, mit dem sich der Mensch
der homerischen Zeit so innig eins fühlt, daß selbst die Klage im
Munde des Achill zu einem Preislied auf das Leben wird.
Diese von den modernen Menschen so sehnsüchtig herbei-
gesehnte Harmonie mit der Natur, von Schiller mit einem glücklichen
Ausdrucke „Naivität" genannt, ist jedoch kein etwa aus sich selbst sich
ergebender Zustand, den wir an der Schwelle einer jeden Kultur als
paradiesischen Urzustand antreffen müssen: „Dies konnte nur eine
Zeit glauben, die den Emile Rousseaus sich als Künstler zu denken
suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen
Künstler Emile gefunden zu haben wähnte." Darum ist die Naivität
Homers, des größten Traumkünstlers, als der vollkommene Sieg der
apollinischen Illusion zu definieren, als einer Illusion von der Art,
wie sie die Natur mitunter zur Erreichung ihrer Absichten ver-
wendet. Mit anderen Worten : in den Griechen wollte der Wille sich
selbst anschauen; darum mußten sich die Geschöpfe dieses Willens
in einer höheren Sphäre wiedersehen: in der Sphäre der Schönheit.
In dieser aber sahen sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen. Mithin
verhält sich Homer als einzelner zu dieser apollinischen Volkskultur
wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volkes
und der Natur überhaupt. Dieses naive Künstlertum beweist Nietzsche
aus der Traumanalogie: wenn wir nämlich unser empirisches Dasein
und das der Welt als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung
des Ureinen auffassen, so erscheint uns der Traum als Schein des
Scheines, als eine potenzierte Befriedigung unserer Urbegierde zum
Erlöstwerden durch den Schein. Denn je mehr sich der Mensch jener
gewaltigen Kunsttriebe in der Natur bewußt wird, desto mehr fühlt er
sich zu der metaphysischen (Schopenhauerschen) Annahme gedrängt, daß
das Wahrhaft-Seiende als das Ewig-Leidende den lustvollen Schein zu
seiner Erlösung benötigt. Dieser Schein wird, da wir von ihm völlig
beherrscht sind, als eine empirische Realität empfunden. Daher ist das
naive Kunstwerk wie der Traum Schein des Scheines: Apollon re-
präsentiert in dieser Welt die Vergöttlichung des Individuations-
prinzips, er zeigt uns, wie diese ganze Welt der Qual als die conditio
sine qua non erforderlich ist, damit durch sie der einzelne Mensch
zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde. Aber diese
— 123 —
Vergöttlichung der Individuation ist an ein Gesetz gebunden, das in
der Einhaltung der dem Individuum gezogenen Grenzen besteht:
es ist also das Gesetz des Maßes und die Hand in Hand mit ihm
gehende Selbsterkenntnis; denn „titanenhaft" und „barbarisch" mußte
dem apollinischen Griechen die Wirkung dünken, die das Dionysische
erregte; seine Zucht jedoch zur Mäßigung und der Trieb nach Selbst-
erkenntnis verraten, wieviel Dionysisches von allem Anfang an im
Hellenen verborgen war, das aber hervorbrechen mußte, als in diese
auf den Schein und die Mäßigung gebaute, künstUch eingedämmte
Welt der ekstatische Ton der Dionysosfeier hineinklang. Das Indi-
viduum mußte in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände
untergehen und die apollinischen Satzungen vergessen. Daher wurde mit
dem Überhandnehmen des Dionysischen das apolhnische Element, das
bisher vorherrschend gewesen war, aufgehoben; denn der Hellene
fühlte und empfand, daß seine auf den schönen Schein, auf das
Maß aufgebaute Welt auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens
und der Erkenntnis ruhte, der ihm wieder durch das Dionysische,
das Übermaß, aufgedeckt wurde, und konnte nicht widerstehen.
„Die Musen der Künste des Scheines verblaßten vor einer Kunst,
die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen
rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier", deren apol-
linische Strenge unter der Gewalt dieses hereinbrechenden dionysischen
Stromes allmählich gemildert wurde, bis durch die endgültige Ver-
söhnung dieser beiden Prinzipien als einander ebenbürtiger Gottheiten
das erhabene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischen
Dithyrambos erzeugt worden ist.
Um in die vielumstrittene Frage nach der Entstehung der
attischen Tragödie Licht zu bringen, stellt Nietzsche Homer als
das Prototyp des apollinischen, naiven Künstlers dem leidenschaft-
lichen und dionysischen Lyriker Archilochos gegenüber, von dem
wir wissen, daß er das Volkslied in die Literatur eingeführt habe,
und versucht den Nachweis zu erbringen, inwiefern letzterer als
Künstler möglich ist; denn mit der Interpretation der neueren
Ästhetik, die Homer einen objektiven, Archilochos den ersten sub-
jektiven Künstler nennt, sei wenig gedient. Um also das Künstler-
tum des Lyrikers zu definieren, geht Nietzsche von einer psycho-
logischen Beobachtung Schillers aus, nämlich, daß der vorbereitende
Zustand des dichterischen Aktus stets eine musikalische Stimmung
— 124 —
sei. Faßt man nun die antike Lyrik auf als die Vereinigung^ ja
Identität des Lyrikers mit dem Musiker, so ist das Volkslied nichts
anderes als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apol-
linischen mit dem Dionysischen, so ergibt sich als Folge der früher
entwickelten metaphysischen Ästhetik: der Lyriker ist zuerst, als
dionysischer Künstler, gänzlich niit dem Ureinen — und das ist sein
Schmerz und Widerspruch! — eins geworden und produziert das
Abbild dieses Ureinen als Musik. Bei dem Volksliede ist also die
Melodie das Erste und Allgemeine. Die Musik, die als reiner
Wille sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-
einen symboUsch bezieht, somit eine Sphäre symbolisiert, die über
aller Erscheinung und vor aller Erscheinung ist, braucht das Bild
und den Begriff nicht, sie erträgt ihn nur neben sich, sie hat
ausschließlich dionysischen Charakter: sie ist also eine Wiederholung
der Welt, gewissermaßen ein zweiter Abguß derselben. In diesem
Zustande seines Produzierens wird nun dem Lyriker die Musik wie
in einem gleichnisartigen Traumbilde sichtbar. Dieser begrifflose
Widerschein des Urschmerzes in der Musik mit seiner Erlösung im
Scheine erzeugt eine zweite Spiegelung als einzelnes Gleichnis oder
Exempel: die Subjektivität des Künstlers ist in diesem dionysischen
Prozesse aufgegangen, und jenes Bild, das ihm seine Einheit mit
dem innersten „Wesen der Welt" zeigt, ist eine Traumszene, die
jenen Urwiderspruch und Urschmerz samt der Urlust des Scheines
versinnlicht. Erst wenn die Musik, die dionysische Urstimmung, dem
Lyriker wieder, wie in einem gleichnisartigen Traumbilde, unter der
apollinischen Traumwirkung sichtbar wird, entsteht das lyrische
Gedicht. Das „Ich" des antiken Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde
seines Seins und seine angebliche Subjektivität erweist sich als eine
Einbildung der neueren Ästhetiker. In dieser dionysisch-musikalischen
Verzauberung entstehen die lyrischen Gedichte, die in ihrer höchsten
Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heißen. Daraus
erhellt, daß der subjektive Mensch nie Dichter sein kann, daß der
dionysische Lyriker dagegen Weltgenius ist, der von seinem per-
sönlichen Menschen nur in verschiedenen Objektivationen seines
„Ichs" spricht. Im Gegensatze zu Schopenhauer kann demnach nach
^Nietzsches ästhetischer Theorie das Subjekt, das wollende Individuum,
das seine egoistischen Zwecke fördert, nur als Gegner, aber nie als
Ursprung der Kunst gedacht werden. Wird aber das Subjekt Künstler,
— 125 —
so ist es von seinem individuellen Wollen befreit. Hier nimmt nun
Nietzsche einen „Urkünstler" der Welt an, vor dem die ganze
Kunstkomödie abläuft und für den der Mensch nur in der Bedeutung
eines Kunstwerkes seine höchste Würde hat: „denn nur als
ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt gerechtfertigt".
Nur soweit der Genius im Akte der künstlerischen Zeugung mit
jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiß er etwas über das
ewige Wesen der Kunst. Was ist also die Lyrik? „Die lyrische
Dichtung ist die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern
und Begriffen"; denn das Wort, das Bild, der Begriff suchen einen
der Musik analogen Ausdruck und erleiden die Gewalt der Musik an
sich. Wie verhält es sich aber mit der Musik im Spiegel der Bild-
hchkeit und Begriffe? Die Musik erscheint als der Wille, das heißt,
wenn wir das Wort im Sinne Schopenhauers interpretieren, als
Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen, willenlosen Stimmung.
Da nach Nietzsche die Lyrik von der Musik abhängig ist, die Musik
jedoch keiner apollinischen Gleichnisse bedarf, sondern dieselben
neben sich nur duldet, so kann demzufolge die Dichtung des Lyrikers
nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und
Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nötigte.
Die Musik ist also Weltsymbolik, mit der sich die Sprache nur
äußeriich berührt. Daher kann uns der tiefste Sinn der Musik durch
alle lyrische Beredsamkeit keinen Schritt näher gebracht werden.
Jetzt erst geht Nietzsche daran, den Ursprung der griechischen
Tragödie zu finden. Denn nach ihm ist das Problem des Ursprungs
noch nicht einmal richtig gestellt, geschweige denn gelöst worden.
Die Überlieferung berichtet, daß die Tragödie aus dem tragischen
Chore entstanden ist. Im folgenden weist er die Erklärung des
Chors als einer Art konstitutioneller Volksvertretung, welche das
umwandelbare Sittengesetz repräsentieren soll, als nicht stichhältig
zurück, ebenso A. W. Schlegels Gedanken, der den Chor sozusagen
als den Inbegriff und Extrakt der Zuschauermenge, als den idealischen
Zuschauer zu betrachten empfahl. Eine wertvollere Einsicht in die
Bedeutung des tragischen Chors findet Nietzsche bei Schiller in
seiner berühmten Vorrede zur „Braut von Messina". Er betrachtete
den Chor als eine lebendige Mauer, welche die Tragödie um sich
herumzieht, um sich von der wirklichen Welt abzuschheßen und
sich ihren idealen Standpunkt und die poetische Freiheit zu wahren.
— 126 —
Natürlich erklärt Schiller auf diese Weise iedem Naturalismus den
Krieg und tritt in seiner Abhandlung für die Wiedereinführung des
Chors in die Tragödie ein. Nun ist der Boden, auf dem der Chor
der ursprünglichen Tragödie wandelt, gewiß ein idealer Boden: denn
ein Naturzustand mit fingierten Naturwesen bildet den Bestandteil
des Chors. Obwohl nun die Tragödie weit davon entfernt war, die
Wirklichkeit getreulich nachzubilden, so ist ihre Welt gleichwohl
keine zwischen Himmel und Erde hineinphantasierte, sondern eine
Welt von gleicher Reahtät und Glaubwürdigkeit, wie sie der
Olympos für den gläubigen Hellenen besaß : diese reale Welt ist die
des Satyrchors, aus dem sich die griechische Tragödie entwickelt hat.
Der Satyr selbst ist die Ausgeburt der auf das Natürliche gerichteten
Sehnsucht des Menschen und lebt als dionysischer Choreute in einer
rehgiös zugestandenen Wirklichkeit unter der Sanktion des Mythos
und des Kultus. Mit ihm beginnt die Tragödie, aus ihm spricht die
dionysische Weisheit der Tragödie. Das mag uns zunächst etwas
befremden; wenn aber behauptet wird, daß sich der Satyr als
fingiertes Naturwesen zum Kulturmenschen genau so verhalte wie
die dionysische Musik zur Zivilisation, von welch letzterer Wagner
behauptete, daß sie von der Musik aufgehoben werde, so folgert
Nietzsche, daß sich der griechische Kulturmensch im Angesichte
des Satyrchors aufgehoben fühlen mußte. Mit anderen Worten: die
unmittelbarste Wirkung der Tragödie besteht zunächst darin, daß
sie den Unterschied zwischen Mensch und Mensch einfach aufhebt.
Bei dieser psychologischen Erläuterung des Tragischen erblickt
Nietzsche das Prinzip der Tragödie in dem metaphysischen Tröste,
mit dem sie uns entläßt, daß das Leben trotz alles Wechsels der
Erscheinungen unzerstörbar ist. Diesen Trost versinnbildet der Satyr-
chor. Was ist also der Satyr? „Die Natur, an der noch keine Er-
kenntnis gearbeitet, in der die Riegel der Kultur noch unerbrochen
sind, das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch
nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegenteil; es war das Ur-
bild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten
Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe Gottes entzückt,
als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wieder-
holt, als Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur
heraus, als Sinnbild der geschlechthchen Allgewalt der Natur, die
der Grieche gewöhnt ist, mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten."
— 127 —
Mit anderen "Worten: der Satyrchor ist ein Chor von Naturwesen,
die gewissermaßen hinter aller Zivihsation unzerstörbar leben und
trotz aller Phasen der geschichtlichen Entwicklung ewig dieselben
bleiben. In diesem Chore findet der tiefsinnige und zum zartesten
und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, an dem sich die
pessimistischen Anwandlungen des älteren Hellenentums erschöpften,
seinen Trost: „Ihn rettet die Kunst und durch die Kunst rettet
ihn sich — das Leben." Indem der Mensch in der Verzückung
seines dionysischen Zustandes die gewöhnlichen Schranken seines
Daseins — Raum und Zeit — siegreich durchbricht, gesellt sich zu
diesem Zustande ein lethargisches Moment, wodurch sich die all-
täghche Wirklichkeit von der dionysischen scharf scheidet. Sobald
aber dem Menschen die alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewußt-
sein tritt, ist eine asketische, willenverneinende Stimmung die
Folge solcher Zustände. Auf dieser Stufe der höchsten Gefahr für
den Willen zum Leben erweist sich nun die Kunst als Retterin:
nur sie vermag alle Ekelgedanken über das Absurde dieses Daseins
ins Erhabene oder Lächerliche umzuwandeln; das heißt das „Er-
habene ist die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen, das
Komische die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden".
Daher spricht Nietzsche vom Satyrchor des Dithyrambus als der
rettenden Tat der griechischen Kunst. Wie schon gesagt wurde, ist
dieser Satyr nichts anderes als ein Produkt der auf das Ursprüng-
liche und Natürliche gerichteten Sehnsucht der Menschen. Während
in der neueren Zeit die Hypostasierung dieser Sehnsucht durch
den zärtlich flötenden, weichgearteten Schäfer stattfand, gab der
unerschrockene Grieche seiner Sehnsucht in dem robusten Wald-
menschen Gestalt und Form, in dem die ungebrochene, von keiner
Kultur beleckte Natur des Menschen sich manifestiert. Daher ist
dieser Satyr das Urbild des Menschen, ein Sinnbild des die ganze
Natur so mächtig beherrschenden Geschlechtstriebes, deshalb liegt
in der Gestalt des Satyrs etwas Erhabenes, etwas Göttliches für
den dionysischen Menschen, dessen Auge mit schmerzlich ge-
brochenem Blick auf solch unverhüllten Schriftzügen der Natur mit
gewisser Befriedigung ruhen mußte. Denn da bei dieser Vorstellung des
Satyrs als dem Urbilde des Menschen jedwede Illussion einer
modernen Kultur a priori weggewischt war, ist diesem Satyr gegen-
über als dem wahren Menschen der moderne Kulturmensch nur
— 128 —
eine lügenhafte Karikatur. Daher gibt Nietzsche Schiller voll-
kommen recht, wenn er der Ansicht ist, daß der Chor eine Art
lebendiger Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit bilde, weil
eben der Satyrchor das Dasein vollständiger und wirklicher zur
Geltung bringt als der Kulturmensch, der seine eigene Realität für
die angeblich einzige hält. Es wäre 'aber eine ganz falsche Be-
hauptung, daß die Sphäre der Poesie als einer phantastischen Un-
möglichkeit außerhalb der Welt liege. Im Gegenteil! Eben weil die
Poesie die Wahrheit ungeschminkt zum Ausdruck bringen will,
streift sie den lügenhaften Aufputz jener vermein thchen Realität,
mit welcher sich der Kulturmensch umgibt, ab. Es verhält sich
also der Satyr als die ungeschminkte Natur Wahrheit zu der als
einzige Realität sich aufspielenden Kulturlüge ähnlich wie das Ding
an sich als der Inbegriff des ewigen Wesenskernes aller Dinge zur
gesamten Erscheinungswelt; oder wie die Tragödie mit ihrem meta-
physischen Tröste bei dem steten Untergange der Erscheinungen
auf das ewige Leben jenes Daseinskernes hinweist, spricht die
Symbolik jenes Satyrchors in einem Gleichnis dieses Urverhältnis
zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Um es kurz zu sagen,
ist der idyUische Schäfer nur der Abklatsch einer gewissen Summe
von Bildungsillusionen, die dem Kulturmenschen als Natur gelten,
der Satyr dagegen ist Wahrheit und Natur in ihrer höchsten Kraft.
Wenn nun, solche Stimmungen und Erkenntnisse vorausgesetzt, der
Satyrchor umherschwärmte, mußte die Macht dieser Erkenntnisse
so stark sein, daß sich die Satyrn, die Diener des Gottes, vor ihren
eigenen Augen als in die ursprünglichen Naturgenien, als in wirk-
liche Satyrn verwandelt sehen mußten. Daher ist die Gestaltung
des Chors in der weiteren Entwicklung der Tragödie nichts anderes
als eine künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens;
nur muß man bei dieser Konstitution wohl scheiden zwischen dem
dionysischen Zuschauer und dem dionysisch Verzauberten. Wir
dürfen nämhch nie vergessen, daß es im antiken Drama keinen
Gegensatz zwischen Publikum und Chor gab, da ersteres sich im
Chor der Orchestra selbst wiederfand. Demgemäß erfährt jetzt
Schlegels Definition vom Chor als dem idealischen Zuschauer eine
tiefere Bedeutung, wenn man bedenkt, daß der Chor der einzige
Schauer ist, nämlich der Schauer der Visionswelt der Szene. War
doch dem Griechen das, was wir unter Theaterpublikum verstehen,
— 129 —
völlig unbekannt : denn da die Sitzreihen zu einem konzentrisch an-
gelegten Terrassenbau sich auftürmten —
„von Menschen wimmelnd wächst der Bau
in weiter stets geschweiftem Bogen
hinauf bis in des Himmels Blau" — ,
war dem Zuschauer die Möglichkeit gegeben, die gesamte um ihn
liegende Szenenwelt zu übersehen, im wahrsten Sinne des Wortes,
und so im gesättigten Hinschauen sich selbst für einen Choreuten
zu halten. Es ergibt sich also als Definition des Chors auf seiner
primitiven Stufe in der Urtragödie: „Der Chor ist die Selbst-
bespiegelung des dionysischen Menschen." Um sich dieses Phänomen
vorstellen zu können, braucht man sich nur des Schauspielers zu
erinnern, dem bei wirklicher Begabung das von ihm darzustellende
Rollenbild mit plastischer Greifbarkeit vor der Seele steht. Der
Satyrchor ist daher zu allererst eine Vision der dionysischen Masse,
wie wiederum die Bühnenwelt eine Vision dieses Satyrchors ist.
Aber die Vision ist von einer so elementaren Gewalt, daß sie den
Chor gegen den Eindruck der Realität — diese wird repräsentiert
durch die auf den Sitzreihen lagernden Kulturmenschen — völlig
unempfindhch macht. Die dionysische Erregung kann nun so stark
sein, daß die künstlerische Begabung, von der wir eben sprachen,
sich der ganzen Masse mitteilen kann, so daß sie sich von einer
Geisterschar umringt wähnt, mit der sie sich eins fühlt. Diese
Fähigkeit aber, sich selbst als verwandelt zu sehen und
so zu handeln, als ob man wirklich aus einem anderen
Leibe heraus handle, ist das dramatische Urphänomen,
mit welchem Prozesse die Entwicklung des Dramas
beginnt; diese Verzauberung ist die Voraussetzung aller
dramatischen Kunst. Weil dieses Phänomen nicht vereinzelt,
sondern geradezu epidemisch auftritt, ist der Dithyrambus von
jedem anderen Chorgesange a priori verschieden: die dithyrambischen
Choreuten sind die zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphären
lebenden Diener ihres Gottes geworden. In dieser Verzauberung
sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr und „als Satyr
wiederum schaut er den Gott", das heißt, er sieht in seiner
Verwandlung eine neue Vision außer sich, als apollinische
Vollendung seines Zustandes. Mit dieser Vision ist nun der
Begriff des Dramas vollständig. Demnach ist die griechische
Grießer, Wagner und Nietzsche. 9
— 180 —
Tragödie der dionysische Chor, der sich immer wieder
in einer apollinischen Bilderwelt entladet. Daher sind
auch die Chorpartien der Tragödie anzusehen als der Mutterschoß
des ganzen Dialogs, mithin des Dramas überhaupt. Da dieser Ur-
grund der Tragödie in einer Reihe von psychischen Entladungen
jene Vision des Dramas zustande bringt, ist diese Vision einerseits
Traumerscheinung, daher mehr epischer Natur, anderseits aber
ist sie nicht apollinische Erlösung im Scheine, sondern vielmehr
erzeugt sie den Untergang des Individuums und sein Aufgehen
in die Ureinheit des Seins. Das Drama ist also aufzufassen als
die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkennt-
nisse.
Auf Grund dieser Auffassung vom Wesen des Dramas erklärt
sich der Chor der griechischen Tragödie als der höchste, nämlich
dionysische Ausdruck der Natur, und daraus folgt die Tatsache,
daß er in seiner Begeisterung Weisheitssprüche verkündet. Denn
da er mit dem Gotte mitleidet, ist er zugleich auch weise, denn er
spricht die Wahrheit aus dem Herzen der Natur heraus. Die Ge-
stalt des Dionysos als des eigentlichen Mittelpunktes der gesamten
Vision ist nun, wie aus obigen Erläuterungen erhellt, auch gemäß
der Überlieferung in der ältesten Tragödie nicht wirklich vorhanden,
sondern wird als vorhanden vorgestellt; das heißt: die Tragödie war
zu allererst nicht Drama, sondern Chor. Erst später, als man daran-
ging, die Visionsgestalt sichtbar darzustellen, den Gott real, in
Objektivation zu zeigen, begann das Drama im engsten Sinne des
Wortes. Denn jetzt hatte der dithyrambische Chor die Aufgabe, die
Stimmung der Zuschauer so stark zu erregen, daß sie den Gott
auch tatsächlich nahmen und nicht etwa bloß den vermummten
Schauspieler sahen : sie erblickten in der tragischen Person eine aus
ihrer eigenen Verzückung heraus geborene leibhaftige Visionsgestalt.
Psychologisch läßt sich dieser Vorgang etwa so erklären, daß der
Zuschauer das vor seiner Seele schwebende Bild des Gottes auf jene
maskierte Gestalt übertrug. Dies konnte er aber nur infolge jenes
apollinischen Traum zustandes tun, in welchem sich die Welt des
Tages verschleiert und eine neue Welt, zwar deuthcher, aber
schattengleicher in stetem Wechsel vor unserem Auge sich entrollt.
Daraus ergibt sich der Stilgegensatz zwischen der dionysischen
Lyrik des Chors und der apollinischen Traumwelt der Szene. In
— 131 —
diesen apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysos objekti-
viert, fließt nämlich nicht mehr wie in der Musik des Chors
„ein ewiges Meer,
ein wechselnd Weben,
ein glühend Leben",
sondern die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung.
Nur darum also ist der Dialog der griechischen Tragödie von so
einfacher und doch so schöner Struktur. Denn er ist das Abbild
des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze ofienbart. Im Tanze
nämlich ist die größte Kraft nur potentiell, während sie erst durch
die Geschmeidigkeit der Bewegung aktuahsiert wird. Und darum
staunen wir, mit welch einfachen Mitteln Sophokles imstande war,
seine tragischen Helden so bestimmt und so durchsichtig zu
zeichnen, daß wir wähnen, bis auf den innersten Grund ihres
Wesens blicken zu können. Wenn wir vom Charakter des Helden
jedoch absehen und in den Mythos eindringen, so erleben wir ein
ganz merkwürdiges Phänomen, das sich am besten durch ein um-
gekehrtes optisches erklären läßt: es ist eine bekannte Tatsache,
daß wir, wenn wir in die Sonne schauen und uns dann plötzlich
abwenden, vor den Augen dunkle Flecken sehen, gewissermaßen
als ein Heilmittel gegen die Blendung. Nun sind mutatis mutandis
die apollinischen Erscheinungen der tragischen Helden nichts anderes
als notwendige Erzeugnisse unseres Blickes in das Innere der
Natur oder, wenn wir im Bilde bleiben, leuchtende Flecken zur
Heilung unseres von einer grausigen Nacht verletzten Blickes;
diese apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysos objekti-
viert, sind nicht mehr, wie die Musik des Chors, die nur empfundenen,
noch nicht Bilder gewordenen Kräfte des Dionysosdieners: jetzt
redet Dionysos als „epischer Held, fast mit der Sprache Homers".
Mit demselben Rechte also, mit dem wir, gestützt auf die Über-
lieferung, wissen, daß die älteste griechische Tragödie nur die
Leiden des Dionysos zum Gegenstande hatte, können wir die Be-
hauptung aufstellen, daß alle berühmten Gestalten der griechischen
Bühne bis auf Euripides nur Masken jenes Dionysos sind. Dadurch
erklärt sich jene mit Recht so sehr bewunderte typische IdeaUtät
der tragischen Gestalten. Man hat sogar behauptet, daß alle
Individuen als Individuen komisch und daher untragisch wären.
Wäre dem in der Tat so, so müßten wir daraus folgern, daß die
9*
— 132 —
Hellenen für wirkliche Individualitäten auf der Bühne eine Ab-
neigung empfunden hätten. Da aber im hellenischen Wesen die
platonische Unterscheidung und Wertabschätzung der Idee gegen-
über dem Idol tief begründet ist, wäre jene Behauptung nicht falsch.
Denn in der platonischen Terminologie ließe sich obige Behauptung
etwa so formulieren: der eine wirkliche, reale Dionysos, die
platonische Idee, Idia, sldog, nagdösiy^Kx, erscheint in einer Vielheit
der Gestalten, Abbilder der Idee, dÖGila, fii^i^^ata, also in der je-
weihg erforderhchen Maske eines Helden in das Netz des Einzel-
willens verstrickt. Daß aber der Gott auf dieser Stufe mit epischer
Bestimmtheit und DeutUchkeit erscheint, ist nur eine Folge jener
apollinischen Verzückung, durch welche der Chor seinen dionysischen
Zustand in gleichnisartigen Erscheinungen erfaßt. Die tragische
Person aber ist nichts anderes als der leidende Dionysos, der die
Leiden der Individuation an sich erfährt. Und zwar ist sie jener
Dionysos, von dem der Mythos erzählt, er sei von den Titanen zer-
stückelt und später aus diesem Grunde als Zagreus^) verehrt
worden. Dieser Mythos läßt die Deutung zu, daß wir den Zustand
der Individuation als Quell alles Leidens uns zu denken haben:
1) Der unter dem Einflüsse des Orphismus entstandene Mythos er-
zählt: Zagreus ward von Zeus mit seiner Tochter ,Persephone gezeugt und
gelangte schon als Kind zu Ruhm und Ehre, da er ausersehen war, des
Vaters Thron und Donnerkeil zu erben. Hera jedoch, die auf die Liebeskinder
ihres Gemahls stets ein wachsames Auge hielt, verursachte Aufruhr bei den
Titanen gegen Zagreus. Diese stürmen seinen Thron: vergeblich sucht er
durch allerlei Verwandlungen ihnen zu entrinnen. Als Stier wird er schließ-
lich doch von ihnen bezwungen, sie reißen ihn in Stücke und hätten ihn
bis zum letzten Fetzen aufgefressen, wenn nicht Athene das Herz des ge-
töteten Gottes gerettet hätte. Diese brachte es dem Zeus, der es sodann
verschlang. Aber aus diesem Herzen entsteht der neue Dionysos, Zeus'
und Semeies Sohn, in dem Zagreus wieder auflebt. Die Titanen vernichtete
der zornige Zeus mit seinem Donnerkeil: und nachdem sie zu Asch^e ver-
brannt und zu Erde geknetet waren, bildete Zeus aus ihnen die Menschen.
Da die Titanen Dionysos in sich aufgenommen hatten, so sind im Menschen
dionysische und titanische, das heißt, gute und böse Elemente gemischt.
Titanisch ist der Körper, dionysisch die Seele. Der Mensch muß also
trachten, seine Seele von den Banden des Körpers zu befreien. Diese Be-
freiung fand statt während der Dionysosfeier. Solch eine Feier bestand nun
darin, daß des Gottes Dienerinnen beim Scheine von Fackeln, unter dem
Getöse von ehernen Becken und großen Pauken, unter Flötenspiel auf-
geregte Tänze aufführten. Unter gellendem Jauchzen rasten sie bis zur
— 133 —
aus dem Lächeln dieses Gottes entstanden die olj'-mpischen Götter,
aus seinen Tränen die Menschen. Nun ging aber das ganze Sehnen
der Mysten nach einer Wiedergeburt des Dionysos, welche als das
Ende der Individuation zu verstehen ist. Ist jedoch das Menschen-
herz von diesem Sehnen und solchem Hoffen erfüllt, so liegt ein
Freudenstrahl auf der in Individuen zertrümmerten Welt.
In diesen Ausführungen sind bereits alle Bestandteile einer pes-
simistischen Weltbetrachtung und zugleich die Mysterienlehre (1er
Tragödie enthalten : die fundamentale Erkenntnis von der Einheit
alles Seienden, Betrachtung der Individuation als des Urgrundes
aller Übel, der Kunst als der einzigen Hoffnung, daß man den
starren Bann der Individuation werde lösen können.
Wie bereits erwähnt, gehört das homerische Epos der olym-
pischen Kultur an. Jetzt aber sehen wir, wie die das Epos bildenden
Mythen durch die Tragödie gleichsam umgeboren werden, .wie auf
die sogenannte olympische Kultur eine noch tiefere Weltbetrachtung
folgte. Diese jetzt einsetzende liebevolle Betrachtung der Natur brachte
das Titanengeschlecht, von dessen Niederwerfung die Mythen uns
erzählen, sozusagen aus dem Tartaros wieder ans Licht und schaute
völligen Erschöpfung durch die Flur und im „heiligen Wahnsinn" stürzten
sich die Mänaden auf die Tiere, die sie zum Opfer erkoren; sie zerreißen sie,
mit den Zähnen reißen sie blutiges Fleisch ab, um es zu verschlingen.
Berauschende Getränke trugen dazu bei, die Verzückung bis zur Empfindungs-
losigkeit zu steigern. Die Teilnehmer selbst versetzen sich in Raserei, sie
geraten in Ekstase. Die Seele tritt aus dem Leibe heraus: dem Körper ent-
flohen, vereinigt sie sich in geheimnisvoller Weise mit dem Gotte, den die
Mänaden in ihrer Verzückung sich nahe glauben, den sie durch das Getöse
der nächtlichen Feier herbeirufen. In der Wut der Begeisterung fühlen sie
sich als Geister aus dem Gefolge des Dionysos, ja sogar als eins mit dem
Gotte selbst. Als Stier war Dionysos dargestellt worden, und so erinnern
die Hörner der Mänaden daran, daß sie eins mit dem Gotte geworden sind,
und auch das Verschlingen von Stücken eines Tieres scheint als ein Eins-
werden mit dem Gotte zu gelten; Dionysos ist in dem Tiere verkörpert;
indem sie es verzehren, nehmen die Mänaden den Gott in sich auf. Je öfter
die Mänade diese bacchantische Speise zu sich nimmt, desto sicherer ist sie,
daß der Gott durch den Stoffwechsel in ihr siegen werde. — Die mittel-
alterlichen Tänzer von St. Johannes und St. Veit, die mit zuckenden
Leibern, mit fliegendem Haare und stierem, nach innen gerichtetem Blick die
Städte und Dörfer durchrasten, sind Zeugen für die Unverwüstlichkeit der
dionysischen Macht.
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sie einzig und allein mit dem un verhüllten Auge der Wahrheit. Vor
dem Auge dieser Göttin erbleicht das trotzige Titanengeschlecht;
bis es schließlich durch die Faust des dionysischen Künstlers in den
Dienst des neuen Gottes, des Dionysos, gezwungen wird: die neue
dionysische Wahrheit hat sämtUche Mythen als Symbole ihrer Er-
kenntnisse übernommen und denselben teils durch die Tragödie, teils
durch die dramatischen Mysterienfeiern Ausdruck verliehen. Es fragt
sich nun, welcher Macht es bedurfte, um aus den Mythen Vehikel
dionysischer Weisheit zu machen. Diese Macht lag in der
Musik, welche in der Tragödie zur vollendetsten Erscheinung ge-
langte und den Mythos mit einer ganz neuen, tiefsinnigen Deutung
interpretierte. Nun werden von einer aufgeklärten Zeit alle Mythen
auf eine ihnen angeblich zugrunde liegende historische Tatsache re-
duziert; und um die Zeit, als die griechische Tragödie blühte, war
das Volk der Hellenen bereits auf dem Wege, seinen gesamten
mythischen Jugendtraum in teils willkürlicher, teils scharfsinniger
Weise zu einer historisch-pragmatischen Jugendgeschichte umzubilden.
Nur so konnte es geschehen, daß die mythischen Voraussetzungen
einer Religion durch einen rechtgläubigen Dogmatismus systematisiert
wurden. Da man sich aber trotzdem bemühte, die Glaubwürdigkeit
dieser Mythen aufrecht zu erhalten, bei diesem Bestreben jedoch
jedes Weiterwuchern derselben perhorreszierte, riß jetzt der neue
Genius dionysischer Musik den ganzen, schon absterbenden Mythos
der rein apollinischen, homerischen Welt an sich und hauchte ihm
neues Leben ein, das die sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen
Welt erregte. Und eben die Tragödie war es, die den Mythen tiefsten
Inhalt und ausdrucksvollste Form verlieh: „Noch einmal erhebt sich
der Mythos, wie ein verwundeter Held, und der ganze Überschuß
von Kraft, samt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in
seinem Auge mit letztem, mächtigem Leuchten."
Dieser Mythos, der bereits mit der Blüte der Tragödie von
seiner ursprünglichen Lebenskraft vieles verloren hatte, starb ganz
durch die Hände des Euripides, welcher den natürlichen Mythos durch
einen nachgeahmten ersetzte. Und wie diesem Dichter der Mythos
starb, starb ihm auch der Genius der Musik: weil Euripides den
Dionysos verlassen hatte, verließ ihn auch Apollon. Mochte daher
Euripides alle möglichen Leidenschaften in seinen Kreis bannen,
mochte er sich immerhin eine sophistische Dialektik für seine Helden
— 135 —
zurechtfeilen — das eine konnte er nicht verhindern: seine Helden
haben nur erkünstelte Leidenschaften und ergehen sich in maskierten
Eeden. Warum starb denn unter Euripides die Tragödie? Nur aus
dem Grunde, weil er das bisher allmächtige dionysische Element aus
der Tragödie eliminierte und sie auf undionysischer Kunst, Sitte und
Weltbetrachtung neu aufbauen wollte. Mit dem allbekannten, all-
täglichen Leben, das Euripides darstellt, hatte der Grieche so den
Dichter wie die Tragödie verloren, mit ihnen aber auch den Glauben
an eine ideale Vergangenheit, an eine ideale Zukunft. Der Sklavenstand
kommt jetzt, wenigstens der Gesinnung nach, zur Herrschaft, und die
„griechische Heiterkeit" ist nur mehr die Heiterkeit des Sklaven, der
nichts Schweres verantworten, nichts Großes erstreben, nichts Ver-
gangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen weiß als das Gegen-
wärtige. Allerdings hat Euripides als Greis die Frage nach dem
Werte des Dionysischen seinem Volke in den BdcKxca vorgelegt.
Wohl wäre eine Ausrottung des Dionysischen möglich, wenn nur
nicht der Gott zu mächtig wäre. Selbst ein Pentheus, des Gottes
mächtigster Gegner, wird vom Gotte in seinen Bann gezogen und
läuft blind in sein Verderben. Wir werden nicht fehlgehen, wenn
wir in den Reden des Kadmos und des greisen Sehers Teiresias
des Dichters eigene Meinung zu hören glauben: man möge noch so
viel nachdenken und grübeln, die Macht des Verstandes reicht nicht
hin, diese alten Volkstraditionen auszurotten; es bleibt daher nichts
anderes übrig, als solch wundersamen Kräften gegenüber sich diplo-
matisch vorsichtig zu verhalten. Gleichwohl aber sei es nicht un-
möghch, daß der Gott wegen zu lauer Teilnahme zürnen könne und
den Diplomaten — im Drama den Kadmos — in einen Drachen
verwandle. Das sind die Anschauungen eines Dichters, der während
seines langjährigen Wirkens mit zäher Kraft dem Dionysos wider-
standen hatte, um am Ende seines arbeitsreichen Lebens gegen die
Ausführbarkeit seiner Tendenz feierlichen Protest zu erheben. Doch
umsonst: „Das Unzulänghche, hier wird's Ereignis I" Denn als er
widerrief, hatte seine Tendenz bereits gesiegt : Dionysos war bereits
von der Bühne verbannt worden durch einen aus Euripides redenden
und handelnden Dämon, dessen Maske er sozusagen war. Dieser
Dämon war Sokrates, die „fragwürdigste Gestalt" des Altertums,
mit dessen Tendenzen Euripides die Tragödie des Aischylos besiegt
hatte. Denn bei ihm ist die Tragödie nicht mehr aus dem Schöße
— 136 —
der Musik geboren, sie ist aber auch nicht dramatisiertes Epos ganz
apollinischen Charakters, welche dramatische Form nunmehr als
die einzig mögliche übrigbUeb. Das Ideal dieses dramatisierten
Epos besteht darin, daß es die entsetzlichsten Dinge mit jener Lust
am Scheine und der Erlösung durch den Schein uns vorzuzaubern
vermag. Fragen wir nun nach dem Verhältnis der euripideischen
Kunst zu diesem Ideal eines apollinischen Dramas! Die beste Ant-
wort gibt uns Piaton in seinem Dialoge „Ion", wo ein jüngerer
Rhapsode dem feierlichen Rhapsoden älterer Zeit erklärt: „iya ydg,
örccv iXssivov xi liyco, daxQvcjv ifinliiTcXavtal ^ol ol ö(pd^aX(ioC' örav
XL (poßsQbv ^ östvöv, ÖQ^al al xqIx^S iQxavxav {fjtb gjößov xai ^
Kagdla jr^jd^" (535 b). In dieser Äußerung liegt nichts mehr von
jenem epischen Aufgehen im Scheine, von der aflfektlosen Kühle
des wahren Schauspielers, der ganz Schein und Lust am Scheine
ist. Dagegen ist Euripides der Schauspieler mit dem „klopfenden
Herzen", mit „den zu Berge stehenden Haaren". Denn als des
Sokrates Gefolgsmann entwirft er den Plan, den er als leidenschaft-
licher Schauspieler ausführt. Um aber doch eine Wirkung auf seine Zu-
hörer auszuüben, gebraucht er ganz neue Erregungsmittel: anstelle
apollinischer Anschauung kühle, paradoxe Gedanken, an Stelle
dionysischer Entzückungen feurige Schauspieler-Affekte, welche
aber beide höchst realistisch sind und mit der Sphäre echter Kunst
gar keinen Zusammenhang mehr haben. Der Chor wird zu etwas
ZufälUgem, zu einer auch wohl zu missenden Reminiszenz an den
Ursprung der Tragödie. Euripides ist es daher nicht gelungen, das
Drama auf das apolhnische Element allein zu gründen, er hat sich
vielmehr durch seine undionysischen Tendenzen in naturalistische
und unkünstlerische verirrt. So gelangen wir zum Wesen des
ästhetischen Sokratismus, der sich in dem Gesetze verkörpert:
„Alles muß verständig sein, um schön zu sein." Von
diesem Gesetze ausgehend, hat Euripides die Sprache, die Charaktere,
den dramatischen Aufbau und die Chormusik gemessen und rekti-
fiziert. Ein klassisches Beispiel für diese rationalistische Methode ist
der euripideische Prolog. Wozu, fragen wir, erzählt uns im Prolog
eine einzeln auftretende Person, wer sie sei, was der Handlung
vorausgehe, was bis jetzt geschehen sei usw.? Die Wirkung der
Tragödie lag ja doch niemals in der epischen Spannung, in jener
Ungewißheit, was geschieht und geschehen werde, sondern nur in
— 137 —
jenen großen rhetorisch-lyrischen Szenen, in denen Leidenschaft und
Dialektik des Haupthelden zu einem mächtigen Strome anschwollen.
Zum Pathos bereitete alles vor, nie aber zur Handlung. So arbeiteten
Aischylos und Sophokles mit den geistreichsten Mitteln ihrer Kunst,
um den Zuhörern alle zum Verständnis dienenden Fäden in den
Szenen zufällig an die Hand zugeben, während Euripides schließ-
lich immerhin die Wahrnehmung zu machen sich einbilden konnte,
daß durch die Inanspruchnahme der Zuschauer, das Rechenexempel
der Vorgeschichte aufzulösen, die dichterische Schönheit und das
Pathos der Exposition Einbuße erleiden könnten. Um nun diesen
Nachteil ja sicher zu vermeiden, verlegte Euripides den Prolog vor
.die Exposition und ließ ihn durch eine Gottheit sprechen, welche
dem Publikum für den Verlauf der Tragödie geradezu garantieren
und jeden Zweifel am Mythos benehmen mußte. Dieselbe „göttliche
Wahrhaftigkeit" gebraucht Euripides am Schlüsse seines Dramas,
um die Zukunft seiner Helden sicherzustellen: den berüchtigten
„deus ex machina". Fast könnte man von Euripides, dessen Dramen
der Resonanzboden seiner Erkenntnisse sind, sagen, er habe den
Satz des Anaxagoras verwirklicht: „Daß im Anfange alles beisammen
gewesen sei; da sei aber der vovg gekommen und habe erst
Ordnung geschaffen." Auf Grund solcher Überzeugungen mußten
dem Euripides die früheren Dichter wie trunken vorkommen,
während er der einzig nüchterne war; das heißt, schufen jene mehr
unbewußt, so schuf Euripides mit Bewußtsein, dem ästhetischen
Gründsatze huldigend : „Alles muß bewußt sein, um schön zu
sein." Dieser Satz aber hat seine Parallele in dem sokratischen :
„Alles muß bewußt sein, um gut zu sein." So erscheint uns
also Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus : im
Bunde mit Sokrates bekämpft er das Dionysische in der älteren
Kunst. Und wie Dionysos der Sage nach vor König Lykurgos floh,
um in den Tiefen des Meeres Zuflucht zu finden, floh jetzt Dionysos
vor Euripides und rettete sich in den Fluten eines Mystizismus, der
allmählich die ganze Welt überzog. Daß Sokrates mit Euripides in
gewissem Zusammenhange stand, legt die in Athen zirkulierende
Sage nahe: Sokrates habe dem Euripides beim Dichten geholfen.
Wui den doch beide Männer in einem Atem genannt, wenn es galt,
die Volksverderber zu brandmarken, wenn man der Tüchtigkeit der
einstigen Marathonkämpfer die Aufklärungsapostel gegenüberstellte.
— 138 —
In diesem Sinne äußert sich bekanntlich Aristophanes, dem Sokrates
als Inbegriff und Spiegel aller sophistischen Bestrebungen erscheint.
Aber abgesehen davon läßt sich nach Nietzsche ein gewisser
Zusammenhang zwischen diesen beiden Männern aus der antiken
Volksempfindung erweisen. Sokrates, der ein Feind der tragischen
Muse war, besuchte das Theater nur dann, wenn Euripides eines
seiner Stücke aufführte. Ferner stehen diese beiden Männer enge
beieinander in dem berühmten Ausspruche des delphischen Orakels:
„Zo(f>bg 2o(poxX'^Sf aoq}aiT6Qog d' EvQinidr}g'
^Av8q&v 8s TtavToav ZcaxQUTijg aotpöatarog.'^
In diesem Ausspruche hat Sokrates als der Weiseste den
ersten Preis, den zweiten erhält Euripides, den dritten Sophokles,
der sich gegen Aischylos rühmte, er tue das Rechte, und zwar,
weil er wisse, daß es das Rechte sei; „ZbgpoxXiJg yovv G)vsidit,sv
avxm sc AhxvXoj, ort al xal tä diovta Ttoist dXX' ovx £iö6g ys"
(Athen., 22 a). Jedenfalls bildete der Grad der HeUigkeit dieses
Wissens das Kriterium für die Beurteilung der drei Männer.
Aber am schärfsten betonte Sokrates den Wert des Wissens und
der Einsicht in dem bekannten Ausspruche, er wisse, daß er
nichts wisse, während alle anderen Berühmtheiten des damaligen
Athens nur „aus Instinkt* ihrem Berufe oblägen: „ovtog iihv otstaC
XL sldsvai ovx sldcbs, iyc) df, ägnsQ o^ ovx olda, ov dk otoficci-'
ioLxa yovv xovxov ys 6^ixq& xivi aijxm xovxco 6o(p(bxsQog slvai,
oxt, a fi^ olöttj ovdb otofiai sldivat" (Piaton, Apol. 21 d). Von
diesem Ausspruche aus, mit dem wir das Herz des Sokratismus be-
rühren, verurteilte er die bestehende Kunst und die bestehende
Ethik — überall sah er nur den Mangel an Einsicht und die Verkehrt-
heit des Vorhandenen. Einen Schlüssel zum Verständnisse des Wesens
des Sokrates bildet das sogenannte öaifiöviov: in besonderen Lagen,
in denen sein ungeheurer Verstand versagte, mahnte ihn eine
innere Stimme stets ab. Mithin zeigt sich die instinktive Weisheit
bei dieser ganz abnormalen Natur nur dann, wenn es galt, dem
bewußten Erkennen hie und da hindernd entgegenzutreten.
Während sonst bei produktiven Naturen der Instinkt schöpferisch-
affirmative Kraft ist und das Bewußtsein sich kritisch und ab-
mahnend gebärdet, wird umgekehrt bei Sokrates der Instinkt zum
Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer. In Sokrates ist also die
logische Natur durch eine Superfötation ebenso exzessiv entwickelt
— 139 —
wie in einem Mystiker jene instinktive Weisheit. Daneben aber war
es dem logischen Triebe des Sokrates versagt^ sich gegen sich selbst
zu kehren. In der Tragödie mußte er demnach etwas recht Un-
philosophisches erblicken, von dem er seine Schüler möglichst fern,
zuhalten suchte. Mit welchem Erfolge ihm das gelang, ersehen wir
an Piaton, der seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des
Sokrates zu werden und gleich diesem in der tragischen Kunst nur
etwas Angenehmes, aber nichts Nützliches zu erblicken. Aber
gleichwohl hat Piaton, der bei Verurteilung der Kunst dem
Zynismus seines Meisters folgte, eine Kunstform geschaffen, die
der vorhandenen und von ihm verworfenen innerlich verwandt ist.
Den Vorwurf, den Piaton der älteren Kunst machte, sie sei nur
Nachahmung eines Scheinbildes (das wahrhaft Seiende sind die
iddai ; die ganze empirische Welt ist aber nichts anderes als sldaXa,
(iLfiT^^axa der lösai; da nun die Kunst Nachahmung, fAL^rieigy der
Natur ist, so sind die Künste ^i^rj^arcc der fitftiiftara, sekundäre Ab-
bilder oder tQltav ditb rfjg dXrj&slag), durfte er gegen das neue Kunst-
werk nicht erheben. Es ergibt sich also, daß Piaton in seinem Be-
streben, über die Wirklichkeit hinauszugehen und die jener Pseudo-
wirklichkeit zugrundeliegende Idee darzustellen, auf einem Umwege
dorthin gelangte, wo er als Dichter sich völlig heimisch fühlen
mußte. Hat die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich stil-
voll vereinigt, darf das nämliche von den platonischen Dialogen
gelten, die, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen
erzeugt, „usta^v Ttoirifiatog xal Trstov Xoyov" liegen. Es war also der
platonische Dialog gleichsam der Kahn, auf den sich die schiff-
brüchige ältere Tragödienpoesie rettete. (Cf. Wilamowitz: „Aus der
athenischen Tragödie, die mehr ist, denn ein Schauspiel, stammt
als echtes Kind der Dialog, der ihr Erbe antritt, als sie verstummt.")
Von Sokrates als Steuermann wird nun dieser Kahn in eine ganz
neue Welt gerudert, die diesen merkwürdigen Aufzug nicht genug-
anstaunen kann. Und so gab Piaton der Nachwelt das Vorbild des
Romanos, welcher als die unendlich gesteigerte äsopische Fabel zu
bezeichnen ist, in welcher die Poesie als die ancilla der dialektischen
Philosophie lebte. Infolge des Überwucherns der philosophischen
Gedanken wurde die Kunst an den Stamm der Dialektik förmlich
gebunden. Sokrates, der dialektische Held der platonischen Dramen,
kommt den euripideischen Helden ziemlich nahe: gleich jenen ver-
— 140 —
teidigt er durch Grund und Gegengrund seine Handlungen. Und das
optimistische Element, das in jedem Dialog am Schlüsse sein Jubel-
fest begeht, war in die Tragödie eingedrungen und hatte diese
förmlich zur Selbstvernichtung gezwungen. Denn gemäß den drei
Sätzen des Sokrates: „Tugend ist Wissen"; „Nur aus Un-
wissenheit wird gesündigt"; „Der .Tugendhafte allein
ist glücklich", als den Grundformen des Optimismus, mußte der
tugendhafte Held der Tragödie Dialektiker sein ; es mußte zwischen
Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein sichtbarer Zusammen-
hang bestehen, die transzendentale Gerechtigkeitslösung des
Aischylos mußte dem flachen Prinzip der poetischen Gerechtigkeit
mit dem deus ex machina Platz machen. Dieser sokratisch-
optimistischen Bühnenwelt mußte der Chor, überhaupt der ganze
musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie als etwas Zu-
fälhges, das man ganz gut missen kann, erscheinen, während sich
doch früher ergeben hat, daß nur der Chor Ursache der Tragödie,
des Tragischen überhaupt war. Bereits bei Sophokles beginnt der
dionysische Boden der Tragödie zu wanken. Hatte noch bei
Aischylos der Chor den Hauptanteil an der Aktion, so hatte ihn
Sophokles den Schauspielern fast koordiniert, womit sein ursprüng-
liches Wesen natürlich schon zerstört war. Diese Koordinierung des
Chors, die Sophokles auf Grund seiner Erfahrung und, wie berichtet
wird, auch in einer Schrift empfohlen hatte, ist der erste Schritt
:zur Vernichtung des tragischen ^Chores gewesen, deren weitere
Phasen'sich bei Euripides, Agathen und der neueren Komödie ver-
folgen lassen. Die optimistische Dialektik vertreibt mit ihren
Syllogismen die Musik aus der Tragödie, die sich doch nur als
sichtbare SymboUsierung der Musik verstehen läßt.
Bestand nun dieser Gegensatz zwischen dem Sokratismus
und der Kunst mit Notwendigkeit? Wenn wir den Schilderungen
des Sokrates bei Piaton Glauben schenken dürfen, so hatte Sokrates
der Kunst gegenüber gegen das Ende seines Lebens das Gefühl
einer vielleicht versäumten Pflicht. Am besten ist es, wir lassen
Piaton selbst erzählen: „TtoXXdxig ^ol (poitciv xb avxb ivvnvvov iv
tm nagsld'ovti ßltp äXXoz' iv äXXrj örpsi cpatvö^svov ttc avxh dh XiyoV
„d) Z^xgatsgj'* ifprj, „iiOveixTiv noisi xal iQyd^ovl'* Er beruhigt sich
aber bei dem Bewußtsein, sein ganzes Leben hindurch Musik ge-
macht zu haben; denn die Philosophie sei ja die vortrefflichste
— Ul — .
Musik, „c>g (pikoeotpiag oi)67}g ^syCötrig ^ovöwilg". Jetzt nun, wenn
ihm der Traum befehle, mit der gemeinen populären Musik, „tavtriv
%^v dri^G)drj fiov6LKi^v"y sich zu^beschäftigen, dürfe er diesem Gebote
nicht ungehorsam sein. Im Gefängnisse betrieb er dann auch diese
Art Musik, dichtete „tb elg xbv ^AitdXlca jcgooCiiLov" und brachte
Fabeln des Aisopos, die ihm gerade einfielen, in Verse „Aio6nov
^'ö&ovg, olg jtQ^xoig ivhvxov, iTCoCrjGa'^ Etwas dem dai^Loviov Ähn-
liches muß ihn zu diesem Entschlüsse bewogen haben: seine
apollinische Einsicht, daß er ein edles Götterbild nicht verstehe und
Gefahr laufe, durch sein Nichtverstehen sich an einer Gottheit zu
versündigen. Er mußte sich schheßlich doch gestehen, daß das ihm
nicht sofort Verständliche nichts Unverständiges überhaupt sei, daß
die Kunst vielleicht doch ein notwendiges Korrelat und Supplement
der Wissenschaft sei.
Aber wie ist es gekommen, daß der Einfluß des Sokrates sich
nicht nur auf die ganze Mit-, sondern auch auf die ganze Nachwelt
verbreitet hat, daß er zu einer Neuschaffung der Kunst immer
wieder vom neuen nötigt, daß er bei seiner Unendhchkeit auch
die Unendlichkeit der Kunst verbürgt? Diese Frage findet ihre
Beantwortung in der Tatsache, daß Sokrates den Typus des
theoretischen Menschen darstellt, jenes Menschen also, indem
der unerschütterliche Glaube lebendig ist, daß das Denken an dem
Leitfaden der Kausalität bis in die tiefsten Abgründe des Seins
reiche und daß eben dieses Denken das Sein nicht nur zu er-
kennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei. Dieser
metaphysische Wahn, als Instinkt der Wissenschaft beigegeben,
führt sie stets zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst um-
schlagen muß. So betrachtet, erscheint uns Sokrates als eine bis
dahin unerhörte Daseinsform: als der erste Mensch, der an Hand
jenes Instinktes der Wissenschaft nicht bloß leben, sondern auch
sterben konnte: er ist der Typus des theoretischen Menschen;
deshalb wurde der sterbende Sokrates das neue, nie geschaute
Ideal der griechischen Jugend, aber auch das Wappenbild über dem
Eingangstore der Wissenschaft, das einen jeden an deren Be-
stimmung erinnert, daß sie das Dasein begreiflich, mithin ge-
rechtfertigt erscheinen macht. Es ist nicht zu leugnen, daß am
Grunde der Wissenschaftlichkeit, im Wesen der Logik ein Optimis-
mus ruht, der in jedem Schlüsse sein Jubelfest feiert und allein in
— 142 —
kühler Helle und Bewußtheit atmen kann, jedoch dazu verführt,
das Leben selbst in jeglicher Gestaltung als der Güter höchstes
und als etwas allein Erstrebenswertes anzusehen und es so zu
jener verderbten, niederen Lebensauffassung bringt, die den nach-
sokratischen Griechen den verachtenden Namen der „graeculi"
eintrug. Allein bei dieser Erforschung des Daseins, bei der, wenn
die Gründe der Logik nicht reichen, der Mythos erforderlich ist,
langt auch der schärfste und konsequenteste Logiker an der
Peripherie seines Wissenskreises an und sieht sich dem Un aufhell-
baren ratlos gegenüber. In diesem Momente aber bricht in ihm eine
neue Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur
ertragen zu werden, als Schutz- und Heilmittel der Kunst bedarf.
Die Schilderungen, die Piaton vom Sokrates im Gefängnisse gibt,
zeigen uns also nichts anderes als die Tatsache, wie auch bei
Sokrates die Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntnis in
tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umschlägt, obgleich
die nämliche Gier auf ihren niedersten Stufen sich als kunstfeindlich
erwiesen hatte.
Deutsche Philosophie war es, welche in ihren größten
Vertretern, Kant und Schopenhauer, die dem Erkennen selbst die
natürlichen Grenzen zogen, jener Erkenntnis zum siegreichen Durch-
bruch verhalf und die erste Hoffnung auf die Wiedergeburt der
Tragödie, die Vernichtung unserer durchaus sokratischen, flach-
optimistischen Kultur erweckte. Die zweite Macht aber ist die
deutsche Musik, die uns ein Wiedererwachen des dionysischen
Geistes verbürgt und in der musikalischen Tragödie Richard
Wagners die Form geschaffen hat, aus welcher der deutsche
Mythos sich in siegreicher Kraft erheben und im untrennbaren
Verein mit der Musik der dionysischen Befähigung des deutschen
Volkes — durch Leiden schön zu werden — ein unvergängliches
Denkmal setzen wird. „Wenn der Deutsche zagend sich nach einem
Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorene
Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum noch kennt
— so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen
Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin
deuten will." Dieser „dionysische Vogel" ist natürlich Wagner!
XII. DER STREIT UM DEN WERT DIESES WERKES.
Drei ganz verschiedene Mächte — Philologie, Kunst und
Philosophie — standen an der Wiege dieses Buches und ebenso
verschieden ist ihr Einfluß. Und doch schuf Nietzsches Genius
daraus eine der kunstvollsten Synthesen und läßt die hinreißende
Schönheit der Darstellung, die sich durch keine Inhaltsangabe
wiedergeben läßt, uns nachempfinden, mit welcher Souveränität der
junge Philologe den Stoff beherrschte. Bereits in seiner Universitäts-
vorlesung „Einleitung in den Oedipus rex des Sophokles", 1870,
hat Nietzsche seine in „der Geburt der Tragödie" ausgesprochenen
Anschauungen in mehr allgemeiner und populärer Weise seinen
Hörern zugänglich gemacht. Mit Recht bemerkt daher der Heraus-
geber von Nietzsches philologischen Schriften, Prof. Ernst Holzer:
„Es ist an sich nicht ohne Interesse, zu sehen, wieviel Nietzsche
vom Katheder herab von seiner Vision des Apollinisch-Dionysischen
vortrug." Was zunächst den Gesamtaufbau des Werkes betrifft, so
zeichnet es sich durch eine wundersame Harmonie und geradezu
meisterhafte Komposition aus; vielleicht bei keinem anderen Werke
Nietzsches hat man so sehr das zwingende Gefühl des Organischen,
wie gerade in „der Geburt der Tragödie". Dieses Werk, das der ernst-
haft unternommene Versuch ist, auf Grund einer merkwürdigen
Verknüpfung Schopenhauer- Wagnerscher Anschauungen mit Lehren
F. A. Langes das Hellenentum zu neuem Leben zu erwecken, zeigt
uns den jungen Nietzsche als einen bereits gewandten und erfolg-
reichen Forscher auf dem Gebiete der historischen Psychologie, sein
feines Verständnis für alles Rätselhafte und mehr Instinktive in
der Entwicklung der Menschheit und sein feines Ahnungs- und
Nachempfindungsvermögen für den Einfluß dunkler Triebe.
Ganz unter F. A. Langes Einfluß stehend, dessen „Geschichte
des Materialismus" ihm ein Buch war, „das unendlich mehr gibt
als der Titel verspricht, das man als einen wahren Schatz wieder
— 144 —
und wieder durchlesen mag", fußt Nietzsche auf der Grundanschauung,
daß die menschliche Phantasie, um besser begreifen zu können und
ästhetische Befriedigung zu finden, der Welt des „schwankenden
Werdens" eine Welt des „Seins" gegenüberstellt, in welcher
alles „vollendet" und „gerundet" erscheint, und daß der so ent-
standene „Kampf von Erkenntnis und Kunst" nur dann gelöst
werden könne, wenn wir jene „erdichtete" Welt als „unentbehrlichen"
Mythos anerkennen. Kunst ist demnach bewußtes Schaffen des
ästhetischen Scheines und beruht auf der „Urbegierde nach dem
Scheine". Besonders das „dramatische Urphänomen" will nichts
anderes als „sich selbst vor sich verwandelt sehen und jetzt handeln,
als ob man wirklich in einen anderen Leib, in einen anderen Cha-
rakter eingegangen wäre". Das Drama operiert also mit „fingierten
Wesen". Schon hierin zeigt sich Nietzsche als Vertreter Langescher
Lehren und bekundet eine starke Abweichung von den Grundlehren
Schopenhauers. Kein Wunder daher, daß er auch die Kantische
Aprioritätslehre ganz im Sinne Langes mehr psychophysisch auffaßte
analog wie Helmholtz : kein Begriff kann a priori, das heißt vor aller
Erfahrung gegeben sein, er wird vielmehr und kann nur durch In-
duktion gefunden werden. Daher sind die Anschauungs- und Denk'
formen Kants durch die „psychophysische Organisation"
bedingt, welche, da wir durch sie „genötigt sind, die Dinge nach
Raum und Zeit anzuschauen, jedenfalls vor aller Erfahrung gegeben
ist". Da uns aber alle Dinge nur in ihrer Projektion in die Idealität
unserer Bewußtseinsformen Raum, Zeit, Kategorien (nach Schopen-
hauer Kausalität) erscheinen und demzufolge wir außerstande sind,
zum wahren Wesen der Dinge an sich zu gelangen, müßte schließlich
jeder Erkenntniswert, mag er nun durch Kunst, Philosophie oder
Religion uns zugeführt werden, illusorisch sein. Nun besteht aber
nach Lange das Wesen der menschlichen Erkenntnis darin, daß sie
eine Einheit, eine vollkommene Harmonie herbeizuführen bestrebt
ist. Dementsprechend erblickt er in der Wirklichkeit den „Inbegriff
der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Er-
scheinungen"; denn das synthetische Element, das schon unseren
ersten Sinneseindrücken zugrunde liegt, ist charakteristisch für alle
Erkenntnis, durch die wir aber trotzdem nie zur Erfassung der ab-
soluten Wirklichkeit geführt werden. Das Ding an sich ist nach
Lange nur ein negativer „Grenzbegriff* und absolut unerkennbar.
— 145 —
Daher kann jedes Objekt nur mit Beziehung auf ein Subjekt gedacht
werden, oder kürzer ausgedrückt: die Welt ist meine Vor-
stellung. Und daraus resultiert Langes ablehnende Stellungnahme
zur Metaphysik als Wissenschaft, da sie nur als Begriffsdichtung
einen gewissen Wert haben kann. Sie ist „ohne jedweden Zwang der
Erfahrungstatsachen zur Schaffung eines einheitlichen Weltbildes
erforderUch". So bedarf sowohl nach Lange wie nach Schiller der
Mensch „der Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst
geschaffene Idealwelt '*. Auch für Nietzsche ist daher in diesem Sinne
der Mensch eine lebendige Dissonanz ; aber diese Dissonanz braucht,
„um leben zu können, eine herrliche Illusion, die ihr einen Schön-
heitsschleier über ihr eigenes Wesen decke**. „Die Fundamente
alles Großen und Lebendigen ruhen auf der Illusion. Das
Wahrheitspathos führt zum Untergang". Wie weit jedoch schon
damals Nietzsche Schopenhauer „überwunden'' hatte, ist daraus er-
sichtlich, daß er erklärt, auch Schopenhauer habe trotz seiner mehr
psychophysischen Auffassung der Aprioritätslehre das Wesen des
Dinges an sich ebenso wenig erkannt, wie seine Vorgänger: denn
sie alle hätten nur die Subjektivität unserer Vorstellungs-
formen im Dinge an sich realisiert. Daher bezeichnet Nietzsche
die Schopenhauersche Metaphysik und das auf ihr beruhende System
als eine „poetische Intuition". So zieht er aus dem Kant —
Schopenhauerschen Idealismus die Konsequenz, daß unsere ganze
Erkenntnis Lüge ist, da wir nie die Dinge an sich, sondern immer
nur deren Erscheinungen zu erkennen vermögen, daß es eigentlich
zu den größten Unbegreiflichkeiten gehöre, wie der Drang nach
Wahrheit in den zur Lüge prädestinierten Menschen gekommen sei.
Und doch äußerte er zu Mazzini (cf. Frau Förster in der „Neuen
Freien Presse" vam 10. Februar 1921): „Wir wollen ruhig im Lande
der Fiktionen bleiben, denn die Fiktionen sind es, die das Leben
bezaubernd und lebenswert machen, nicht die Wahrheit und die
Wirklichkeit.** Sehr interessant für Nietzsches damaUge Stellung zur
Metaphysik ist ein Brief an seinen Jugendfreund Paul Deussen,
Ostern 1868, worin er folgendes ausführt: „Das Reich der Meta-
physik, somit die Provinz der absoluten Wahrheit ist un-
weigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. . .
Metaphysik gehört... ins Reich der Gemütsbedürfnisse, ist
wesentlich Erbauung; anderseits ist sie Kunst, nämhch die der
Grießer, Wagner und Nietzsche. \q
— 146 —
Begriff sdichtung; festzuhalten aber ist, daß Metaphysik weder
als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten an sich
Wahren oder Seienden zu tun hat." Es ist mithin klar, daß
Lange wie auch Nietzsche, indem sie eine solche Grundanschauung
vertreten, der Kunst jeden positiven Wert absprechen. Aber dennoch
baut sich auf dieser Grundanschauung die ganze „Geburt der Tragödie"
auf: indem nämlich Nietzsche Langes Anschauungen bis in ihre
letzten Konsequenzen ausdenkt, gehngt es ihm, den Mangel an po-
sitiver Wahrheit, den er in Kunst, Religion und Philosophie, vor-
nehmlich jedoch im Weltbilde Schopenhauers und Wagners gefunden
hat, dadurch zu ersetzen, daß er der Kunst ethische Bedeutung
beimißt. Ausgangspunkt für diese Theorie Nietzsches ist nämhch
die Erkenntnis, daß der absolute Pessimismus, der philosophische
Nihilismus, eine praktische Unmöglichkeit sei. Wenn nach Schopen-
hauer die Welt vom Standpunkte der Vernunft schlecht ist und der
AnbUck der Wahrheit den Menschen zur Selbstvernichtung treibt,
so zog Nietzsche aus dieser These]; die umgekehrte Schlußfolgerung:
wenn die Wahrheit schlecht ist, so soll man die Illusion vorziehen
und so schöne und verführerische Illusionen schaffen, daß uns das
Leben trotz seiner unausbleiblichen Schmerzen wieder lebenswert
wird ; und man soll seine ganze Weisheit und Energie in den Dienst
dieser lebenfördernden Illusionen stellen. Wie wir bereits gesehen
haben, waren für den Jünger Schopenhauers und Wagners Kunst,
Rehgion und Philosophie die drei höchsten Betätigungen des mensch-
lichen Geistes : sollte sich doch in ihnen, wenn auch nur in Symbolen
und intuitiv, das wahre Wesen der Welt, die Welt jenseits der
Kategorien der Erfahrung, entschleiern. Aber sie sollten auch Mächte
sein, in denen der Intellekt sich vom Dienste des Wollens befreit
und eine Überwindung und Abkehr vom Leben, eine Negation des
Willens zuwege bringt. Nun argumentierte Nietzsche unter Langes
Einfluß so : Wie aber, wenn diese Lebensmächte nichts mit Intellekt
und Wahrheit zu tun hätten, wenn sie am Ende geflissentlich die
Hüterinnen des ausgesprochen Unwahren und Erlogenen, des
lebenerhaltenden Irrtums, der schönen Lüge, des wohltuenden
Scheines wären? Daß sie das sind und bleiben müssen, wäre dann
daraus zu erklären, daß sie eben nicht, wie Schopenhauer will, die
Abkehr des Intellekts vom Willen und die Überwindung des Lebens
bezeichnen, sondern gerade aus dem Leben steigen als dessen höchste
— 147 —
Bejahung, ja vielleicht als letzte Zuflucht des geschwächten
Lebenswillens. Es wäre demnach 1. die Religion eine Einrichtung,
die das Leben erträglicher und behaglich macht, die den schwäch-
lichsten, bangen, lebensfeigen, dem Leben noch nicht gewachsenen
oder schon wieder entfliehenden Antrieben der Menschenseelen eine
Zufluchtsstätte oifen hält; 2. die Kunst wäre ein Reizmittel, das
keinen anderen Zweck hat, als den Menschen zur Lebensbejahung
anzuspornen oder aber ihm für die Mängel und UnvoUkommenheiten
seiner sozialen Existenz einen tröstenden Ersatz zu schaffen; 3. die
Philosophie, vor allem die Metaphysik, wäre nur eine Begriffsdichtung,
aus den un vertilgbaren metaphysischen Schwächebedürfnissen des
Menschen entspringend und im Grunde keinen anderen Sinn habend
als den, im Wachstum der Wissenschaft einen vorläufigen Horizont
und dem Geiste einen Halt und beruhigende Abfindung zu geben.
Das ist die Frucht der Erkenntnis von dem fundamentalen Gegensatz,
der zwischen unserem Erkennen und unserem Erleben besteht. Wir
wissen dann, daß das berühmte „yvcb^i eavrovl" uns den Weg
zum — Tode weist ! Wir verstehen jetzt die in unserem Blute ver-
erbte Tragödie unserer frühesten Ahnen : die „Erkenntnis des Guten
und Bösen" war an das Wissen geknüpft. Mit ihm ist das Paradies
verloren! Und doch sagte Nietzsche das tröstende Wort: „Die
Menschheit hat an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum
Untergang!" Meines Er achtens war sich seit Kant wohl kf^in Mensch
in dem Grade des Gegensatzes zwischen unserem Gefühl und unserem
Verstände bewußt wie Nietzsche. Während nämlich der Verstand ohne
die Kategorie der ursächhchen Bestimmtheit in allem, auch dem seeli-
schen Geschehen nicht auskommt, sprengt unser Gefühl und unsere
deutende Betrachtung immer wieder alle Fesseln. Bisweilen fühlte
Nietzsche aber doch, daß der Wille zur Macht kein freier, sondern ein
durch unerklärliches Schicksal bestimmter Wille ist. Das Sein ist, an
sich betrachtet,, zweck-, ziel- und sinnlos. Es ist zeitlich Aufstieg und
Vervollkommnung, Niedergang und Verelendung, zeitlos ein in sich
ruhender Ring, in den auch der Mensch als ein kleines Glied ein-
gefügt ist. MenschHcher Stolz und menschhcher Schöpferwille ver-
leihen dem an sich Zweck- und Sinnlosen Zweck, Ziel und Sinn.
Der Mensch ist handelnd und betrachtend viel mehr Künstler als
Wissenschaftler. Er arbeitet an großem, gewaltigem Werk mit dem-
selben leidenschaftlichen Ernst, mit dem das am Meeresstrande
10*
— 148 —
spielende Kind Sandburgen baut, die allzubald von Wind und Wellen
fortgespült werden. Was Nietzsche im Grunde seines Herzens vom
Zvp-eck des Weltgeschehens hielt, hat er meisterhaft parodierend in
seinem Gedichte „An Goethe" ausgesprochen:
„Das Unvergängliche ist nur dein Gleichnis!
Gott, der Vergängliche, ist Dichter-Erschleichnis . . .
Welt-Rad, das rollende, streift Ziel auf Ziel:
Not — nennt's der Grollende, der Narr nennt's Spiel . . •
Welt-Spiel, das herrische, mischt Sein und Schein: —
Das Ewig-Närrische mischt uns hinein I"
Aber mit feinem Gefühl hat Nietzsche erkannt, daß alle Kunst
nicht nur für das Leben des einzelnen Individuums, sondern haupt-
sächlich für die Bewertung der Kultur eines ganzen Volkes von
ausschlaggebender Bedeutung ist. Wenn er daher unter Kultur die
Einheit des Stiles in allen Lebensäußerungen eines
Volkes versteht, verlegte er auf diese Weise den Kulturmaßstab
in eine ästhetische Kategorie : er verwirft die Kultur seiner Zeit als
eine nicht einheitliche, intellektualistische Pseudokultur und fordert
die Menschheit auf zu einer neuen Kultur der Zukunft, welche, der
Wissenschaft mehr abgewandt, nur der Erzeugung des Genius dienen
soll, der Erzeugung des philosophischen, religiösen und künstlerischen
Genies, wie es in der Person Richard Wagners seine vollkommenste
Synthese erreicht hat. Weil aber diese ideale Kultur, die Nietzsche
herbeiführen will, ganz unter der Herrschaft des philosophischen,
künstlerischen und rehgiösen Genius steht, gipfelt sie in einem ari*
stokratischen Individualismus; sie war auf Erden bereits
einmal vorhanden. Ihre erste Verkörperung erblickt Nietzsche im
vorsokratischen Hellenentum, dessen Wiedererweckung er
ungestüm herbeisehnt, um das Anwachsen der demokratisch-kom-
munistischen Kultur seiner Zeit, die wie der Optimismus mit dem
Auftreten des „mächtigen Querkopfes" Sokrates begann, erfolgreich
eindämmen zu können. Nun ist aber bekannthch nach Schopenhauer
jede Kulturentwicklung eine bloße Illusion, da der ewig sich gleich-
bleibende Wille, das Ding an sich als das Wesen der Welt, jeder
Entwicklung entbehrt. Das war nun jener Punkt, an dem angelangt,
Wagner wie auch Nietzsche Schopenhauers Grundlehre umbildeten:
Wagner schrieb einfach dem Weltwillen die Tendenz nach moralischer
Besserung zu und glaubte an sie'). Dadurch bekundet er am stärksten
^) Daher gibt es bei Wagner nicht nur „Erlöste", sondern auch „Erlöser".
— 149 —
seine Abhängigkeit von Hegel und Feuerbach. Nietzsche wiederum
betonte: „Der Pessimismus ist nur im Reiche des Begriffes
möglich. Es ist nur erträglich zu existieren mit dem Glauben an
die Notwendigkeit des Weltprozesses. Dies ist die große
Illusion: der Wille hält uns am Dasein fest und wendet jede Über-
zeugung hin zu einer Ansicht, die das Dasein ermöglicht." Deshalb
urteilte er im „Ecce homo" über „Die Geburt der Tragödie": „Sie
riecht anstößig Hegehsch, sie ist nur in einigen Formeln mit dem
Leichenbitter-Parfüm Schopenhauers behaftet." Niemand anderer als
Georg Simmel hat in einem ausgezeichneten Buche über Schopen-
hauer— Nietzsche diese Tatsache im Hinblick auf Nietzsches Stellung
zu Schopenhauer klarer präzisiert als mit den Worten, daß Schopen-
hauer „der metaphysische Trieb bewegt, Nietzsche dagegen der
moralische... es verkündet von vornherein den tiefsten Gegensatz
Nietzsches zu Schopenhauer, daß geschichtliche Vorstellungen sein
ganzes Denken formen; die Wertbegriffe, deren Steigen und Sinken
ihm den Sinn des Weltprozesses, soweit der Mensch ihn trägt, aus-
macht, sind spezifisch historischer Natur. " Nietzsche, der der Kultur
gewiß auch metaphysische Bedeutung zuschreibt, denn „das Ziel
der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur
in ihren höchsten Exemplaren", hat durch diese These jenen
Widerspruch zwischen Schopenhauer und Wagner, der ihn in seinen
Dramen nur intuitiv, ohne jede nähere Begründung tatsächlich über-
brückt hatte, beseitigt: Wagner war Künstler und Philosoph in
einer Person, seine Werke atmeten Schopenhauerschen Geist,
sein Leben stand ganz im Dienste der Kulturreformation:
„Ich will Schopenhauer, Wagner und das ältere Griechentum
zusammenrechnen: es ergibt einen Bhck auf eine herrliche Kultur."
Wenn daher der Apostel Wagners begeistert ausruft: Wagners
„Gedanken sind, wie die jedes guten und großen Deutschen,
überdeutsch, und die Sprache seiner Kunst redet nicht zu
Völkern, sondern zu Menschen. Aber zu Menschen der
Zukunft. Das ist der ihm eigentümliche Glaube, seine Qual und
seine Auszeichnung", so ist klar, daß die Wurzel dieser Begeisterung
Nietzsches für Wagners Ideen darin liegt, daß in Nietzsches Seele
ähnliche, wenn nicht dieselben Ideen lagen. Es ist das das alte
Romantikerideal, für das schon Daumer, Jordan und Dühring ein-
getreten sind. Aber freiUch: bereits hier trennen sich die Wege beider
— 150 —
Genies; Nietzsches Forderung nach dem „Üb er deutsch tum" ruht
auf einer ganz anderen Basis als Wagners streng nationahstische
Kulturtendenzen.
^Die Geburt der Tragödie'' will aber auch eine so seltene Er-
scheinung wie die Richard Wagners erklären. Deshalb projizierte
Nietzsche den Rationalismus und die Romantik, die beiden Prinzipien,
welche das Wesen der Wagnerschen Kunst ausmachen, einfach in
die griechische Kultur hinein und nannte sie im Anschluß an Jakob
Burckhardt „Apollon" und „Dionysos". Im Sinne Schopenhauer-
Wagners gedeutet, versinnbildet ApoUon jene Vorstellungswelt, die
im Gegensatz zu den Begriffen nur in der Anschauung gegeben ist,
also jenen Zustand meines Seelenlebens bezeichnet, wo im Traume,
also im Scheine, das Leben bei schlummerndem Willen sozusagen
in gedämpften Bildern an meinem Auge vorüberzieht. Apollon er-
scheint als der verklärende Genius des Individuationsprinzips, weil
er die Erlösung im Scheine vollbringt. Dionysos dagegen repräsentiert
die Welt als Wille; er offenbart sich am deutlichsten im Rausche,
also in jenem Zustande meines Seelenlebens, wo der Intellekt sozu-
sagen schlummert und nur der Wille an sich waltet; er durchbricht
den Bann der Individuation und schließt dem Menschen den Weg
zum Wesen der Dinge auf. Es ist also ein Kampf der Elemente und
Triebe untereinander, schmerzvoller Krieg, schmerzvolle Veränderung,
das Orchester des dunkel gärenden Chaos. Dieser Schmerz, der im
Kampfe liegt, schreit nach Erlösung. Die Erlösung hegt im Schaffen
und Formen. Der Weltgeist selbst, der in den zeugenden Kräften
sein Symbol findet, sehnt sich darnach, ein Abbild seiner selbst zu
schaffen, sich selbst zu betrachten. So wird aus dem Willen der
angeschaute Wille, die Vorstellung; so wird aus der wilden Kraft
leidenschaftlicher Triebe die geformte Gestalt der sich bekämpfenden
Elemente, so entsteht aus dem Rausche das Bild des Rausches, so
entsteht das dionysische Kunstwerk. Diese an sich unvereinbaren
Prinzipien hätten sich in wahrhaft künstlerischer Form zum ersten
Male in den Tragödien des Aischylos versöhnt, die demnach die
apollinische Versinnlichung dionysischer Kräfte sind. Nur dem vor-
sokratischen Hellenen sei es eigen gewesen, den dionysischen Über-
schwang zu regeln und zu ordnen, daß er sich im Drama mit Hilfe
der Musik zu sinnvoll deutbaren Bildern verdichten ließ. Dem Schüler
Schopenhauers erscheint „das Denken der Griechen im tragischen
— 151 —
Zeitalter pessimistisch oder künstlerisch optimistisch". Als
Pessimist im Sinne Schopenhauers konnte er die „griechische
Heiterkeit" nur als Maske oder Verfall, als ein Dekadenzsymptom
bewerten. Indem er aber dieses Postulat einfach verwarf, so blieb
nur mehr die Definition der griechischen Heiterkeit als ein Attribut
des Hellenen im „tragischen Zeitalter" übrig. Und nun stellen wir
uns folgendes vor : Der Schopenhauerianer Nietzsche wird mit Wagners
Tondramen bekannt und der Verkehr mit dem Meister erscheint ihm
als „ein praktischer Kursus der Schopenhauerschen Philosophie":
diesem JüngUnge, dessen Seele im Hellenentume aufging, taten sich
vor seinem Blicke jetzt mit einem Male zwei Ideale auf, die, wiewohl
sie unvereinbar sind, gleichwohl aber wahres Leben atmen. Um
über diese Aporie hinwegzukommen, folgerte der kühne Stürmer
und Dränger ganz einfach: wenn diese beiden Ideale wahr sind, so
müssen sie auch zusammenstimmen. Aber als deutscher Patriot, als
der er sich damals fühlte, zog Nietzsche aus dieser Behauptung die
für ihn einzig richtige Konsequenz: Aufgabe des Deutschen sei es,
gleichfalls ein solches Kunstgebilde zu schaffen und eine solche
Kultur, in der das Apolhnische und Dionysische walten. Wagners
Kunst weise uns den Weg, den wir einzuschlagen hätten. So ward
ihm Wagner zu einem zweiten Aischylos; denn da die Kunst das
Verm'ögen ist, an andere die Erlebnisse der eigenen Seele mitzuteilen,
ist Wagner der wahrhaft dithyrambische Dramatiker, diesen Begriff
so voll genommen, daß er zugleich den Schauspieler, Dichter und
Musiker umfaßt. „Wagner, wie ich ihn kenne, aus seiner Musik,
seinen Dichtungen, seiner Ästhetik, zum nicht geringen Teil aus
jenem glückhchen Zusammensein mit ihm, ist die leibhaftige Illu-
stration dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt", er ist ein zweiter
„Aischylos, die einzig vollkommene Erscheinung des dithyrambischen
Dramatikers vor Wagner". Deshalb war es Nietzsches Aufgabe,
Wagners Wesen und Werk am leidenschaftlichsten und gewaltigsten
zu erfahren, zu durchdringen und zu durchdeuten, um so am
frühesten und notwendigsten seiner Grenzen bewußt zu werden, um
hinweg über sie zu neuen Wegen und Weiten den Bhck zu wenden.
„Ich sage Ihnen aufrichtig," schreibt er 1882 an Heinrich v. Stein,
„daß ich selber zu viel von dieser , tragischen' Komplexion im Leibe
habe, um sie nicht oft zu verwünschen. Da verlangt es mich nach
einer Höhe, von wo aus gesehen das tragische Problem unter mir
— 152 —
ist. Ich möchte dem menschlichen Dasein etwas von seinem herz-
brecherischen und grausamen Charakter nehmen." Und so hat er
dann die romantische, tragische, dionysisch-mystische Weltanschauung
aus ihrem eigenen Wesen heraus überwunden, der Tragiker in ihm
hat die Tragik überwunden, das Leben hat er bejaht aus tragischer
Erkenntnis, trotz tragischer Erkenntnis, eben um der tragischen Er-
kenntnis willen.
Wir finden es daher begreiflich, wenn Wagner nach Erhalt
dieses Werkes an Nietzsche schrieb: „Lieber Freund! Schöneres als
Ihr Buch habe ich noch nichts gelesen! Alles ist herrlich! Nun
schreibe ich Ihnen schnell, weil die Lektüre mich übermäßig aufregt
und ich erst Vernunft abwarten muß, um es ordentlich zu lesen.
— Zu Cosima sagte ich, nach ihr kämen gleich Sie: dann lange
kein anderer bis zu Lenbach, der ein ergreifend richtiges Bild von
mir gemalt hat ! . . . Adieu ! " In ähnlichem, lobendem, enthusiastischem
Sinne äußerten sich Liszt, Bülow, Burckhardt und Cosima Wagner^).
Aber mit weiser Mäßigung, man könnte fast an leise Ironie denken,
äußerte sich Geheimrat Professor Ritschi von der Leipziger Uni-
versität, Nietzsches einstiger Lehrer, dem er seine Berufung nach
Basel zu danken hatte: „Sie können dem , Alexandriner' und Ge-
lehrten unmöglich zumuten, daß er die Erkenntnis verurteile und
nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende und be-
freiende Kraft erblicke ... ob sich Ihre Anschauungen als neue
Erziehungsfundamente verwerten lassen — ob nicht die große
Masse unserer Jugend auf solchem Wege nur zu einer unreifen
Mißachtung der Wissenschaft gelangen würde, ohne dafür eine ge-
steigerte Empfindung für die Kunst einzutauschen — ob wir nicht
dadurch, anstatt Poesie zu verbreiten, Gefahr liefen, einem allseitigen
Dilettantismus Tür und Tor zu öffnen: — das sind Bedenken, die
dem alten Pädagogen vergönnt sein müssen. Daß mir so gut wie
1) In seiner Besprechung der „Geburt der Tragödie" in der „Nordd.
Allg. Zeitung", 1872, Nr. 24 (Kl. Sehr. II, p. 350), schrieb Rohde: „An Wagners
Kunstwerken empfindet Nietzsche die wunderbare Gewalt jenes harmonischen
Zwiegesangs dionysisch-apollinisch höchster Kunst, in ihm sieht er den
Beginn einer neuen, aus den Tiefen künstlerischen Weltverständnisses auf-
steigenden deutschen Kultur, zu ihm und seinen Werken zu stehen, will er
alle diejenigen aufi-ufen, die für die größte Kulturbewegung der Zeit ein
Verständnis haben."
— 153 —
Ihnen das Griechentum der ewig fließende Born der Weltkultur ist,
zu dem wir immer wieder mit lebendiger Empfänglichkeit zurück-
kehren müssen, das bedarf wohl keiner Versicherung. Ob wir deshalb
zu denselben Formen zurückgreifen müssen, ist eine Frage, deren
Lösung wahrscheinhch das ganze Menschengeschlecht übernimmt/''
Diese vornehme Zurückhaltung des großen Gelehrten, die uns allen
wohl verständlich erscheint, teilte jedoch nicht ein jüngerer Be-
kannter Nietzsches, gleich ihm ein ehemaliger „Pförtner", Ulrich
V. Wilamowitz-Moellendorf, gegenwärtig Professor an der Universität
zu Berlin, ein Mann, in dem wir nicht nur unseren größten Philo-
logen, sondern auch einen der größten und glänzendsten Stilisten
der Gegenwart zu bewundern und zu verehren alle Ursache haben,
auch einer jener wenigen Philologen, die ihre Philologie leben.
Wilamowitz also, der damals noch an ein Hellenentum im Sinne
Winckelmanns und Goethes glaubte, sah natürlich durch diese Schrift
Nietzsches die heihgsten Güter der Menschheit gefährdet, und mit
aller Leidenschaft, wie sie wohl selten einem Verehrer griechischen
Wesens eigen ist, schrieb er eine Entgegnung: „Zukunftsphilologie,
eine Erwiderung auf Fr. Nietzsches , Geburt der Tragödie'." Er warf
ihm in dieser Broschüre „erträumte Genialität und Frechheit in der
Aufstellung von Behauptungen" vor, die „genau im Verhältnis stehe
zur Unwissenheit und Mangel an Wahrheitsliebe". Es lag nun nicht
in Nietzsches zartem Wesen, auf dieses Pamphlet zu reagieren;
seine Briefe an Freiherrn v. Gersdorff und Erwin Kohde lassen jedoch
die schmerzliche Enttäuschung erkennen, die ihm „gerade Wila-
mowitz" bereitete, der ihn doch „in Form der Verehrung"
besucht hatte, dann aber „offenbar stimuliert und aufgehetzt
worden sei". So muß auch Howald, 1. c. p. 24, zugeben, daß diese
Broschüre Wilamowitz' „oftmals die Grenzen einer erlaubten Polemik
zu überschreiten scheint ''. Allein „die ungeheure Bedeutung, die
dieser geniale Mann später für seine Wissenschaft gewonnen hat,
soll ihm in den Augen der Nachwelt das Recht geben, diese Streit-
schrift geschrieben zu haben, ein Recht, das er damals noch nicht
besaß". Da griff zur tiefen Freude Nietzsches Wagner ein und ver-
öffentlichte in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung"
vom 23. Juni 1872 einen offenen Brief „an Fr. Nietzsche,
ordentl. Professor der klassischen Philologie an der
Universität Basel". Mit feinem Gefühl setzt hier Wagner aus-
— 154 —
einander, wie er anfänglich dem klassischen Altertume, speziell dem
Griechentume, tiefste Verehrung zollte, wie aber dann später unter
dem Einflüsse seiner Lehrer die ursprüngliche Liebe zum Hellenentume
systematisch ertötet wurde, weil die Denkmäler des klassischen
Altertums nicht mehr als „Quellen menschlicher Erkenntnis"
bewertet wurden, sondern durch die staubige Bücherweisheit eines
hohlen Gelehrtendünkels ihrer ewigen Lebenskraft absichtlich be-
raubt worden waren. Indes war dieser Aufsatz des Meisters keines-
wegs die richtige Antwort: denn durch das Eingreifen eines Laien
auf dem Gebiete der Philologie war dem Philologen nichts bewiesen
worden und dann wurde durch diese Schrift Wagners das bereits
vorhandene Mißtrauen vor dem Dilettantismus nur noch bestärkt,
dies um so mehr, als Wagner „das dumpfe Gefühl" in sich zu
tragen versichert, „daß der Geist der Antike am Ende ebenso wenig in
der Sphäre unserer griechischen Sprachlehrer liege, als zum Beispiel
das Verständnis der französischen Kultur und Geschichte bei unseren
französischen Sprachlehrern als nötige Beigabe vorausgesetzt sein
kann". Bald darauf veröffentlichte auch Erwin Kohde eine Broschüre:
„Afterphilologie. Zur Beleuchtung des . . . Pamphlets Zukunfts-
philologie, Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner." Er
versuchte darin den Nachweis zu erbringen, daß Nietzsches an-
gebliche Verstöße gegen die Philologie nur auf irrtümUche Auffassung
von Seiten Wilamowitz' zurückzuführen seien; dann spricht er von
der rühmenden Aufrichtigkeit seines Freundes, mit der er sich zu
einer philosophischen Interpretation bekannte, wodurch er sich
von den übrigen Philologen scharf unterscheide, deren jeder, nur
ohne deutliches Bewußtsein, seine Lieblingsvorstellungen auf das
Altertum übertrage. Nietzsche dankte Rohde mit den Worten: „Ich
sehe, • was Du mit Deiner Freundestat für mich, für Wagner
getan hast!" Wilamowitz hat* auf das hin nochmals geantwortet
mit der „Zukunftsphilologie, IL Stück", die er mit den pathetischen
Worten schloß: „Hier (sc. in der „Geburt der Tragödie") sah ich
die Entwicklung der Jahrtausende geleugnet, hier löschte man die
Offenbarungen der Philosophie und ReUgion aus, damit ein ver-
waschener Pessimismus in der Öde seine sauersüße Fratze schneide,
hier schlug man die Götterbilder in Trümmer, mit denen Poesie
und bildende Kunst unseren Himmel bevölkert, um das Götzenbild
Richard Wagner in ihrem Staube anzubeten ; hier riß man den Bau
— 155 —
tausendfa^en Fleißes, glänzenden Genies um, damit ein trunkener
Träumer einen befremdlich tiefen Blick in die dionysischen Ab-
gründe tue: das ertrug ich nicht!. . . mein verletztes Gemüt reagierte
religiös!" Hermann Usener, der ausgezeichnete Bonner Philologe,
soll, wie Nietzsche in einem Briefe an Rohde schreibt, die „Geburt
der Tragödie" „einen baren Unsinn, mit dem gar nichts anzufangen
sei", genannt haben und „der so etwas geschrieben habe, sei wissen-
schaftlich tot". Beachtenswert und erfreulicher ist das Urteil, das
der große Philologe Otto Ribbek über die „Geburt der Tragödie"
fällte, enthalten in einem Briefe an Wilhelm Dilthey: „Aber kennen
Sie denn schon des Baseler Nietzsche , Geburt der Tragödie' und
was sagen Sie dazu? Ein kunstphilosophischer Dithyrambus im
Schopenhauer- Wagnerschen Geist. Etwas holder Wahnsinn und
gärender Most, aber doch in der Hauptsache (die freilich im Grunde
nicht eben neu ist) treffend und durchaus interessant. Wir können
diese Art Ingenium in unserer verknöcherten Philologie
recht wohl zur Erfrischung gebrauchen, zumal die solidesten
Studien zugrunde liegen!" Kurz: von den zünftigen Philologen wurde
Nietzsche in Acht und Bann getan, den Studenten wurde der Besuch
der Baseler Universität abgeraten — so hatte er in einem Semester
nur drei Hörer ! Bereits ergangene Berufungen an die Greifswalder und
Dorpater Universität wurden wieder rückgängig gemacht. Denn so ein
Werk konnte kein Mann der Wissenschaft, sondern, wie die „National-
zeitung" schrieb, nur ein „literarischer Lakai Wagners"
schreiben; und daher war auch die „Geburt der Tragödie" nach der
Bemerkung eines evangelischen Anzeigers „der ins Musikalische
übersetzte Darwinismus", der „Developpismus des Ur-
schleims".
Es läßt sich leicht begreifen, daß Nietzsche, der bekannt hatte :
„Was das Griechentum betrifft, so halte ich mich an die Erfahrungen,
die ich Richard Wagner verdanke. Die sogenannte historisch-kritische
Wissenschaft hat gar kein Mittel, so fremden Dingen näher zu
kommen: wir brauchen Brücken, Erfahrungen, Erlebnisse. Dann
wiederum brauchen wir Menschen, die sie uns deuten, die sie aus-
sprechen", der diesen Menschen in Wagner erblickte, weshalb ihm
dieser voll Begeisterung geschrieben haben mag: „Genau genommen
sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn, den mir das Leben
zugeführt", mit seinem Werke in der Philologen weit den schärfsten
— 156 —
Widerspruch erregen mußte. Denn das^) hatte noch niemaad gewagt,
die wissenschaftUchen Methoden der Philologie in den Dienst Schopen-
hauer-Wagnerscher Lehren zu stellen und die Philologie als Wissen-
schaft zu einer „ancilla'' des zur damaUgen Zeit als Künstler mit
sehr skeptischen Blicken betrachteten Richard Wagner zu erniedrigen ;
und das alles zu einer Zeit, da die Wissenschaft allverehrt auf dem
Throne saß, vollends aber die Verhöhnung des „theoretischen
Menschen" als des Vertreters aller wissenschaftlichen Forschung!
Aber auch diese abfälligen Urteile über Nietzsches Erstlings-
werk dürfen uns nicht wundernehmen, geschweige denn in der Be-
urteilung des Werkes irre machen. Denn damals war die klassische
Philologie noch ganz beherrscht von dem Dogma des Winckelmann-
Goetheschen Philhellenentums : gleich einer uneinnehmbaren Burg
der einseitigsten Werturteile, umgeben von einer chinesischen, das
heißt philhellenischen Mauer, mußte das Hellenentum trotz seiner
unleugbaren Schönheit ein toter Besitz bleiben, ein Buch mit sieben
Siegeln verschlossen, weil man sich absolut nicht der Mühe unterzog,
die Denkmäler griechischen Geistes als lebendige Zeugen menschlichen
Strebens zu interpretieren : dieses Hellenentum bestand aus lauter Phan-
tasmen. Kein Wunder daher, daß eine solche Zeit noch ganz in dem
Wahne lebte, die Lösung der Frage nach den primitiven Anfängen und
Versuchen der Lyrik und Dramatik sei einzig und allein nur dem Lite-
raturhistoriker vorbehalten. Der Ethnologe vielmehr wird durch ein-
gehende, vergleichende Studien der Künste, wie sie heute noch unsere
Naturvölker pflegen, wohl besser in der Lage sein, den Ursprung der
dramatischen Kunstübung zu erschließen als der Berufsphilologe,
dessen Objektivität, mag sie noch so achtunggebietend sein, in der
Ergründung des geheimsten Wesens der antiken Kunst sich nur auf
wenige ^Zeugnisse" stützen kann und daher doch wohl mehr illu-
sorisch ist. Denn es ist ja klar, daß zwischen der Literatur und
Dichtung eines jeden Volkes ein gewaltiger Unterschied besteht:
1) Sehr schön sagt er in seinem „Versuch einer Selbstkritik" aus dem
Jahre 1886 über dieses Werk: „Ich will nicht gänzlich unterdrücken, wie
unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren
vor mir steht -- vor einem älteren, hundertmal verwöhnteren, aber keineswegs
kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde,
an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat,
— die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen,
die Kunst aber unter der des Lebens..."
— 157 —
jede Dichtungsart muß erst eine bestimmte Entwicklung hinter sich
haben, ehe sie in der Literatur eines Volkes Erwähnung findet. So
wird ja niemand behaupten wollen, daß etwa Ilias und Odyssee, die
an der Schwelle der griechischen Literatur stehen, die ersten epischen
Erzeugnisse des Hellenenvolkes wären. Im Gegenteil! Gerade die
Großartigkeit dieser beiden Epen, ihre technische Vollkommenheit
und viele andere Umstände zwingen uns zu dem Schlüsse, daß sie
nur die Ergebnisse einer langen Dichtungsperiode sind, deren Fäden
bis in die graue Urzeit zurückreichen. Aber indem wir die Ilias
sprach- und religionsgeschichthch usw. usw. analysieren und diese
Forschungsergebnissse mit literarischen Erzeugnissen der Naturvölker
vergleichen, gewinnen wir wertvolle Aufschlüsse über den Kultur-
zustand von Zeitperioden, die der Abfassungszeit der Ilias und
Odyssee weit voraus liegen. Der Literaturhistoriker tritt erst dann
in seine Rechte, wenn er den Ursprung einer bereits kunstgemäß
gewordenen Dichtungsart zu erschließen hat, er hat sich also aus-
schließlich mit literaturhistorischen Problemen zu befassen. So hatte
man, der Tradition der alexandrinischen Philologen folgend, in der
Literatur eines Volkes zuerst das Epos angesetzt, dann die Lyrik
und schließlich das Drama und die Blüte dieser drei Gattungen
chronologisch abzugrenzen versucht. Aber durch die Ethnologie sind
wir mit Tatsachen bekannt geworden, die uns einen tiefen Einblick nicht
nur in die prähistorische Zeit zum Beispiel des Griechenvolkes, sondern,
was noch wichtiger ist, in das Wesen der Urkunst gestatten. So
kommt es, daß das Epos nicht mehr an erster Stelle rangiert : denn
seine Voraussetzung ist in erster Linie lebendiges Interesse an der
Geschichte einer Nation, und dieses Interesse setzt wiederum eine
hohe Kulturstufe voraus. Die Lyrik, welche durcli die Subjektivität
des dichtenden Individuums gekennzeichnet ist, muß noch später
entstanden sein als das Epos. Dagegen lassen sich dramatische
Versuche bei allen Völkern auf noch so primitiver Kulturstufe nach-
weisen. Allerdings handeln diese Urdramen nicht von Menschen,
sondern von Wesen, die „die Seele der primitiven Menschheit zwai-
nicht mit Mitleid, wohl aber mit banger Furcht erfüllten*'. Damit
soll aber keineswegs gesagt sein, daß die dramatische Form die
älteste Dichtungsart sei: neben dem Drama entwickeln sich gleich-
zeitig Epik und Lyrik, wie denn tatsächlich in einer jeden dieser
drei Dichtungsgattungen Elemente der beiden anderen sich finden. Das
— 158 —
Wort Drama, zb ÖQäfia, hängt etymologisch mit dem dorischen
Worte ÖQccv zusammen und bedeutet so viel wie Geschehnis, Er-
eignis. Da aber das Wort dgäu ein integrierender Bestandteil des
dorischen Kultgebrauches war, werden wir demzufolge den Ursprung
des griechischen Dramas in rehgiösen Kultfeiern und Aufführungen
zu suchen haben. Dazu waren natürlich bestimmte Kostüme er
forderlich, und vor allem waren es die mimischen Gebärden, die
später von Tanz, Musik und Chorgesang begleitet, uns eine Vor
Stellung vom Urdrama gestatten, das mithin einer getanzten Panto
mime gleichkommt. Das wichtigste Moment spielt dabei der Tanz
dem der Naturmensch die Bedeutung eines besonderen Zaubers zu
schreibt. Ganz von animistischen Vorstellungen erfüllt, läßt der
Naturmensch in diesen getanzten Pantomimen verschiedene Tier-
gestalten, Dämonen und Seelentiere auftreten, unter welchen gerade
jene Dämonen bevorzugt werden, welche das Keimen der Saat, ihr
Reifen und Gedeihen behüten. Denn alljährlich schwinden die Kräfte
der Natur dahin, um erst nach geraumer Zeit wieder zu neuem
Leben zu erwachen. Bei allen Völkern pflegte dieser Vorgang, das
Sterben der Natur und ihr Wiedererwachen, eine tiefe Erschütterung
des Gemütes auszulösen. Man erblickte darin das Schicksal eines
schönen, jungen Gottes, dessen Tod man mit lebhaften Klagen,
dessen Wiedergeburt oder Auferstehung man mit ausgelassenem
Jubel begrüßte. Dabei pflegte mit der Feier jenes Gottes seit grauer
Vorzeit ein Analogiezauber in Form einer kultischen Darstellung
seines Sterbens und Wiederauflebens verknüpft zu sein. Auf primi-
tiver Kulturstufe, wo die Grenzen zwischen Geist und Natur noch
fast unterschiedslos durcheinanderliefen und der Mensch sich noch
in einem innerlich sympathischen Zusammenhang mit seiner natür-
lichen Umgebung fühlte, glaubte er, selbst einen Einfluß auf die
Natur auszuüben, ihr bei ihrem Wechsel zwischen Tod und Leben
zu Hilfe zu kommen und den Verlauf der Geschehnisse im eigenen
Interesse beeinflussen zu können. Dazu mußte er diese nachahmen.
„Ein Mensch," sagt daher Frazer in seinem wundervollen „the golden
bough", II, p. 196, „den die ungezügelte Phantasie seiner Verehrer
mit Gewändern und Attributen des Gottes ausstattete, gab sein
Leben dahin für das Leben der Welt. Nachdem er aus seinem
eigenen Körper einen frischen Strom von Lebensenergie in die
stagnierenden Adern der Natur ergossen hatte, wurde er selbst dem
— 159 —
Tode überliefert, bevor seine eigene dahinschwindende Kraft einen
allgemeinen Verfall der Natur eingeleitet haben würde, und sein
Platz wurde durch einen anderen eingenommen, der wie alle seine
Vorgänger das ewig wiederkehrende Drama der göttlichen Auf-
erstehung und des göttlichen Todes spielte." So wurden tatsächlich
noch in historischer Zeit lebende Menschen, allerdings Verbrecher,
geopfert, während sonst das Opfer der zum Gotte erhöhten Menschen
nur scheinbar stattfand : ein Bild des Gottes, eine Puppe usw. vertrat
die Stelle des Gottes. Mit der Vorstellung, die ersterbende Natur
durch das Opfer eines Menschen neu zu beleben, war die des
„Sündenbockes" verknüpft. Der Geopferte repräsentierte nicht bloß
den Gott für sein Volk, sondern vertrat auch zugleich das Volk
gegenüber Gott und hatte durch seinen Tod die von jenem während
des Jahres begangenen Missetaten zu sühnen. Auch im prähistorischen
Hellas muß das Urdrama mit solchen „Vegetationsdämonen" operiert
haben. Denn woher käme der Name tQaymöia, wenn nicht die bocks-
füßigen Satyrn, die tQdyoL, welche ursprünglich als Vegetations-
dämonen zu denken sind, in der Gestalt des Chors fortlebten? Mit
der fortschreitenden Entwicklung zur Vorstellung persönlicher Götter
geht Hand in Hand die Entwicklung des Urdramas : jene Vegetations-
dämonen werden den neuen Göttern unterstellt. Nun wissen wir.
daß das alte Thrakien den Dionysoskult herausgebildet hatte, der
auch in Hellas eingeführt wurde. Was Wunder also, daß die alten
xQdyoi, die Satyrn, jetzt die Diener und untrennbaren Begleiter des
Dionysos wurden? Diese Einführung des neuen Gottes hatte aber
auch eine tiefgreifende Veränderung des Inhaltes des Urdramas zur
Folge: die Pantomime wurde abgelöst durch die Darstellung der
Erlebnisse des Gottes. Der Dionysoskult beschäftigte sich mit der
Ermordung des Gottes durch die Titanen, seiner Zerstückelung durch
dieselben und seiner Wiedergeburt: als Zagreus, das ist als Sohn
des Zeus und der Persephone, verwandelte er sich, um den Titanen,
welche die Eifersucht der Hera gegen ihn erregt hatte, zu ent-
gehen, in einen Stier ; jedoch die Titanen, die Anbeter des göttlichen
Stieres, töteten und verzehrten ihn. So wird im Zagreusmythos
Dionysos als der „gute Stier" angerufen, der dann durch die Gnade
des Zeus als Dionysos zu neuem, glorreichem Leben wiedergeboren
wird; daher sein Beiname dtO-vpaft/Sog, der zweimal Ge-
borene =ö ölg %^vQttt,e ßaivcov. Und zur Erinnerung an seine
— 160 —
ursprüngliche tierische Natur trug der wiedergeborene Gott Hörner.
Deshalb trugen,, wie uns berichtet wird, auch die Bacchantinnen^
seine Dienerinnen, „Katä ^i^rioiv ydiovvöov" gleichfalls Hörner, und
auf der Insel Tenedos wurde zum Beispiel der Priester, der dem
Dionysos dessen Totemtier, einen jungen Stier, geopfert hatte, zur
Strafe für diese Tötung des Gottes nach dem Opfer mit Steinwürfen
verfolgt. Diese Mythen, die wir heute als alte, halb rationalistische
Ausdeutungen des Kommunionopfers interpretieren können, lassen
sich auch bei den alten Ägyptern nachweisen, bei denen Dionysos
in der Gestalt des Osiris mit seinem heihgen Stier, dem Apis, wieder-
kehrt ; auch der Orpheusmythus gehört in diese Kategorie. In Argolis,
dem Mutterlande der griechischen Tragödie, wurde dem Dionysos als
Totemtier ein Widder, tgayögy geopfert'). Durch die griechische
Orphik, deren Kulte sich mit den bisher bestehenden Dionysoskulten
vereinigten, wurde das Dionysosmysterium vertieft zu einem Mysterium,
in dem alle Gegensätze zu einer letzten Einheit verschmolzen: der
Gott, der Opferer und Opfer, durch das Totemtier angedeutet, in
einer Person war, wurde zu einem Tröster derer, die da mühselig
und beladen sind, zu einem Erlöser der sündigen Menschheit. Durch
^) Gewiß wird man nun fragen, warum an die Stelle des Stieres als
Totemtier auf einmal der Widder getreten ist? Weil infolge des sukzessiven
Vorrückens der Tag- und Nachtgleiche, die Sonne, die bis dahin bei Frühlings-
anfang im Sternbilde des Stieres gestanden war, um das Jahr 800 a. Ch. n.
in das Sternbild des Widders eingetreten war. Damit war sie nach astro-
logischer Denkweise selbst zum Widder geworden. Wenn sie vorher als
Stier den Frühling eröffnete und die Welt von der Herrschaft des Winters
erlöst hatte — eine Vorstellung,ldie sich im Mithraskulto erhalten hatte —
so gingen diese Funktionen nunmehr auf den Widder über und dieser wurde
zum Symbol, zum Totem des Gottes und Sündenopfertier. Bei den alten Juden
kehrt dieser Widder wieder als das Lamm, das bei Jahresanfang im Frühlinge
als Passahlamm geopfert und verzehrt wurde. Zum Verständnis diene
folgendes: die Aufzählung der Reihenfolge der Tierkreiszeichen, wie sie heute
noch üblich ist: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Wage,
Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische geht auf die alten
Babylonier zurück und beruht auf der Tagesgleicbenordnung. Der Tages-
gleichenpunkt, das heißt der Schnittpunkt von Äquator und Ekliptik, liegt
aber heute nicht mehr im Zeichen des Widders, sondern in dem der Fische.
Er wandert nämlich — und das beruht auf der wechselnden Neigung der
Erdachse — allmählich um die ganze Ekliptik herum und vollzieht diesen
ganzen Kreislauf in 26.000 Jahren, bleibt also im einzelnen Tierkreiszeichen
etwa 2200 oder in einem Grade 72 Jahre. Dieses Vorrücken nennt man die
— 161 —
die Verspeisung des zerrissenen Opfertieres deutete jetzt der Myste
seine Vereinigung mit der Gottheit an, die unio mystica: die inneren
Gegensätze waren ausgesöhnt und geboren ward der tgCtog [i^aog,
wie Dionysos in den eleusinischen Mysterien genannt wurde.
Was hatte also der Philologe Wilamowitz an der „Geburt der
Tragödie" auszusetzen? Und warum bekämpfte er dieses Werk?
In einem Briefe an Rohde gibt uns Nietzsche selbst die beste Antwort,
wenn er meint, Wilamowitz habe „mich schlecht gelesen, denn er
versteht mich weder im ganzen noch im einzelnen. Er muß noch
sehr unreif sein!" In der Tat; hätte Wilamowitz die Tendenzen der
„Geburt der Tragödie" richtig erfaßt, hätte er sich sofort sagen
müssen, daß es sich in dieser Schrift um die Aufrollung eines
kulturästhetischen Problemes handelte, bei dem die Philo-
logie mehr oder weniger nur eine Art Fachgerüste bildete. Und
gegen dieses Fachgerüste richtete Wilamowitz seine Geschosse, und
sein ganzer Kampf war nur eine Korrektur der von Nietzsche ver-
tretenen philologischen Anschauungen, aber keine Widerlegung. „Die
Kritik war gut gemeint, aber sie war ein Mißverständnis. Nietzsche
wollte keine Facharbeit liefern. Auf den ästhetisch-psychologischen
Präzession der Tagesgleiche; sie verläuft umgekehrt als der scheinbai-e
Sonnenlauf, also in der umgekehrten Reihenfolge des Tierkreiszeichens, so
wie der Tageslauf der Sonne von Osten nach Westen. Solche Änderungen
werden in der Regel erst vorgenommen, wenn der Mißstand schon sehr
schreiend geworden ist. Der griechisch-katholische Kalender, der um 13 Tage
falsch ist, beweist das. So hat auch das Altertum wohl die betreffenden Re-
lormen erst vorgenommen, nachdem der T^esgleichenpunkt längst über
den Anfangspunkt des betreffenden Zeichens vorgerückt war. Wir wissen,
wann das einmal erfolgt ist, und zwar war dieses die Einführung der Widder-
rechnung, die eben seitdem maßgebend geblieben ist. Das geschah unter der
Regierung des Königs Nabonassar von Babylonien (747—735). Über 2000 Jahre
vorher oder noch viel länger muß man nach dem Stiere gerechnet haben.
Das aber ist das heilige TierMarduks, des Gottes von Babylon; cf. dazu den
ägyptischen Apis und den Stier des Dionysos. Diese Verschiebung in das
Zeichen des Stieres hat natürlich bereits lange vor 3000 a. Ch. n. statt-
gefunden. Nun ist klar, daß die Kulturanfänge und die ganze in sich ge-
schlossene Formulierung als System der astralen Weltanschauung am
Anfang unserer Geschichtskenntnis als etwas bereits Überkommenes dasteht.
Es muß also bereits in dem voraufgegangenen Zeitalter bestanden haben, wo
die Tagesgleiche in den Zwillingen lag. Das würde aber mindestens bis ins
5. und 6. Jahrtausend hinaufführen. (Cf. Winckler, „Die babylonische Geistes-
kultur"; p. 10, 78 sq.)
Grießer, Wagner und Nietzsche. ^-^
— 162 —
Kern kam es ihm an." Darum muß auch der modernste Beurteiler
Nietzsches als Philologe Ernst Howald, 1. c. p. 25, zugeben, daß
Nietzsche und Wilamowitz als „die Vertreter zweier Welten im
Grunde aneinander vorüberreden". Kein Mensch wird es jedoch in
Abrede stellen wollen, daß Nietzsche durch diese Schrift klar er-
wiesen hat, daß der Mythos für die Beurteilung der antiken Kultur
eine ungleich höhere Bedeutung habe, als die Philologen damals
gelten lassen wollten. So schrieb Nietzsche bereits im Frühjahr 1867
an Gersdorff : „Wir wollen es nicht leugnen, eine erhebende Gesamt-
anschauung des Altertums fehlt den meisten Philologen, weil sie
sich zu nahe vor das Bild stellen und einen Ölfleck untersuchen,
anstatt die großen und kühnen Züge des ganzen Gemäldes zu be-
wundern und — was mehr ist! — zu genießen." Daher bedeutet
„Die Geburt der Tragödie" nicht nur einen Wendepunkt für die
Völkerpsychologie, sondern auch für die Auffassung der antiken
Kunst: Nietzsche war der Entdecker der griechischen Romantik,
nur beging er den einen Fehler, daß er sie über die hellenische Klassik
hat hinwegrauschen lassen. Schon seine Baseler Antrittsrede be-
wegte sich ganz im Fahrwasser Wagnerscher Gedanken: so hob
Nietzsche unter anderem den Gegensatz von Volksdichtung und
Individual- oder Kunstdichtung auf, weil er der „folgenreichsten
Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft, der Ent-
deckung und Würdigung der Volksseele" geradezu widerstreite: der
einzelne Dichter ist nichts anderes als der Vermittler des
dichterischen Empfindens der Volksseele. Da nun nach
Schopenhauer die Musik %as getreue Abbild des Weltwillens ist,
wird aus dem Dionysischen die Musik herausgeholt. Die dionysische
Lyrik, die ohne Musik für Nietzsche einfach undenkbar ist, wird
Wagner zuliebe zugunsten des Volksliedes verworfen: aus diesem
erst entsteht der dionysische Dithyrambus, der dann eine Ver-
zauberung, Erhöhung des verzückten Sängers bewirkt. Und weil die
Musik nach Schopenhauer die höchste Kunst ist, die antike Tragödie
für den Ästhetiker Nietzsche gleichfalls höchste Kunst ist, ist für
ihn die Tragödie aus jener geboren, ja selbst Musik. Daher bestand
Nietzsches größter Fehler darin, daß er bei der Untersuchung der
psychischen Konstitution des Hellenenvolkes dessen plastischen Sinn
falsch deutete. Der griechische Genius ist vorzüglich bildnerisch
veranlagt und selbst ein so streng philosophisches Gebilde wie die
— 163 —
Ideenwelt Piatons ist ohne Zugrundelegung des plastischen Sinnes
ihres Schöpfers nahezu undenkbar. Deshalb sind auch die griechischen
Tragödien gleichsam aus dem Mythos gemeißelte Mamorwerke: weil
der Hellene gewohnt war, alles plastisch zu sehen, waren bei ihm
die räumlichen Vorstellungen stets das primäre -Element, aus dem
als etwas Sekundäres die mannigfaltigsten Apperzeptionskomplexe
sich ergaben. Daher ist die Musik nicht das Primäre, sondern nur
das. Mittel, um den Wortinhalt der Tragödie sinnvoll zu interpretieren.
Diese ursprünglich rein objektive Auffassung der Welt durch die
Hellenen hat sich Nietzsche durch die gewaltsame Fixierung der
Schopenhauerschen Musiktheorie getrübt und daher an die Stelle
der Realität ganz folgerichtig die metaphysische Mysterienlehre des
Dionysischen und Apollinischen gesetzt. Wenn daher Wilamowitz
Nietzsches Theorie „eine Präsumption über das Endresultat" nannte,
hatte er nicht unrecht. Denn wir haben nicht die geringste Berechti-
gung, in der homerischen Welt einen Pessimismus zu statuieren.
Nicht nur in der „Zukunftsphilologie I. Stück" verwahrte sich Wila-
mowitz energisch gegen diesen Gedanken, sondern auch später
noch sagt er in bezug auf diese Projizierung des Schopenhauerschen
Pessimismus in die homerische Zeit, wobei er eine allgemein ge-
schichthche Theorie über Optimismus und Pessimismus als typische
Erscheinungen aufstellt: Schopenhauer habe „in der Tragödie die
Predigt des Pessimismus gehört, unfähig zu würdigen, daß die
Poesie, und zumal ihre älteste und prachtvollste Erscheinungsform,
die Sage, ein Vollbild der in einer bestimmten Zeit und Kultur vor-
-handenen Stimmungen und Weltanschauungen gibt, also jederzeit
optimistisch und pessimistisch zugleich ist". Denn wenn wir Burk-
hardts und Nietzsches Raisonnement auch auf andere Völker über-
tragen, so dürfte es wohl kein einziges geben, das wir glücklich
nennen könnten, und ist also die sogenannte apollinische Kultur der
Hellenen kein Erzeugnis abstruser metaphysischer Reflexionen,
sondern eine mehr „halb unbewußt gezeugte" Welt, und die Götter-
gestalten dieser Epoche sind keine Traumgeburten, sondern sogar
sehr real gedachte Wesen.
Und doch wird es sich niemals ganz in Abrede stellen lassen,
daß Nietzsche mit feinem Instinkt in dieser Schrift an eines der
tiefsten Probleme des Hellenentums gerührt hat, die Frage nämhch,
ob die Hellenen glücklich waren. — Die Geschichte lehrt uns, daß
II*
— 164 —
die Bat- und Hilfelosigkeit der alten Welt gerade in den vitalsten
Problemen in dumpfer Resignation endigte. Diese erklärt, wie Schelling
(Phil. d. Offenb., W. W. II. Abt. IV, 512) bemerkt, die ganze Eigen-
tümlichkeit des hellenischen Charakters, den tieftragischen Zug, der
durch die ReUgion und Philosophie der Alten hindurchgeht; läßt es
verstehen, daß selbst in bacchantische Lebensfreude ein düsterer
Schatten fällt; enthüllt uns jene Schwermut, die wie ein süßes Gift
den trefflichsten Werken selbst der bildenden Kunst ihren eigen-
artigen Stempel aufdrückt. Aus der Antike tönt das Klagelied
hoffnungslosen Lebensschmerzes und dennoch ringt sich in ihr wieder
der sehnsuchtsvolle Ruf nach göttlicher Hilfe hervor. (Cf. Plat. Phaedo,
p. 85: „Soll bei dem jetzigen Weltzustande etwas gebessert werden,
so kann dies nur durch Vermittlung eines Gottes geschehen, der
uns das Urbild der wahren Gerechtigkeit — ^QX^i''^ ^* ^^^ zvnov tfjg
dixaioövvrig — zeigt.") Er bezeichnet dieses höhere Wesen als an
sich offenbarendes „göttliches Wort" — Xoyog tig &stog — , auf dem,
als auf einem festen Schiff, man sicher und gefahrlos durch die
Fluten des Lebens sich wagen könne. Deshalb konnte Lenau in
seinem „Savonarola" sagen:
„daß sie am Schmerz, den sie zu trösten
nicht wußte, mild vorüberführt,
erkenn' ich als der Zauber größten,
womit uns die Antike rührt."
Von dieser Erkenntnis war bereits der große Altmeister der
Philologie August Boeckh erfüllt, als er in seiner berühmten „Staats-
haushaltung der Athener" den Satz aussprach: „Rechnet man die
großen Geister ab, die, in der Tiefe ihres Gemütes eine Welt ein-
schließend, sich selbst genug waren, so erkennt man, daß die Menge
der Liebe und des Trostes entbehrte, die eine reinere Religion in
die Herzen der Menschen gegossen hat. Die Hellenen waren im
Glänze der Kunst und in der Blüte der Freiheit unglück-
lieber als die meisten glauben." Und in der Tat: das Rätsel
des irdischen Lebens konnte die antike Philosophie nicht lösen. Daß
dies zur Befriedigung des Menschenherzens geschehen ist, ist der
Sieg der christlichen Philosophie: sie gab der Tragödie des Erden-
daseins eine versöhnende Bedeutung in wunderbarem Ausgleich
ewiger Gerechtigkeit und erbarmender Liebe. Zwar ist auch nach
dieser Weltanschauung der Schmerz des Lebens nicht hinweg-
— 165 —
genommen und die Not des Daseins nicht übertüncht; aber beide
sind tiefer erfaßt und wahrer empfunden. Schmerz, Not und Tod
sind verklärt, die Dissonanzen zu schöner Harmonie verschmolzen.
Das Herbe und Unversöhnte der Antike ist überwunden in der
wundersamen Erlösungsidee und in der Hoffnung sehger Unsterb-
lichkeit. In diesem Sinne konnte Schiller in einem Briefe an Goethe
(17. August 1797) „das Christentum als eine Menschwerdung des
Heiligen, als die einzige ästhetische Religion" bezeichnen, konnte
Montesquieu sagen, daß „die christliche Religion, die nur das Glück
des künftigen Lebens zum Gegenstande zu haben scheint, auch das
Glück des gegenwärtigen Lebens begründe." Aber in der homerischen
Zeit, also in der Kindheit des Volkstums, wo Freud und Leid gleich-
mäßig als etwas Selbstverständliches hingenommen wurden, einen
Pessimismus zu konstatieren, dazu haben wir keine Ursache. Daß
jedoch die später lebenden Hellenen es mit aller Macht versuchten,
den Pessimismus zu überwinden und welche Konsequenzen der „letzte"
Nietzsche aus dieser Tatsache zog, darüber will ich weiter unten
handeln. Nietzsches „Geburt der Tragödie" bedeutet den Anfang einer
neuen Auslegung der seehschen Grundlagen des Altertums, somit
der gesamten Vorgeschichte überhaupt und muß in Zukunft von
jedem gekannt und verarbeitet sein, der sich irgend an die Er-
forschung symbolischen Denkens und mythischen Träumens heran-
wagen will. Unwesentliche Mängel des hochbedeutenden Werkes
sind zu erblicken in der Übernahme Schopenhauerscher Kunstwörter
und in der Hereinziehung von Musikproblemen, ein wesentlicher
dagegen in der ganz unscharf begrenzten Fassung des Apollinismus,
die den Entdecker dessen Bedeutungsgleichheit mit dem ihm so
gründlich vertrauten „Sokratismus" zu bemerken verhindert hat.
In Rohdes genialer „Psyche", ^speziell in^der prächtigen, von reichen Be-
legen getragenen Schilderung des dionysischen Orgiasmus hat Nietzsche
in archäologischer Beziehung bisher am stärksten gewirkt. Nun hat
bereits vor Nietzsche ein Forscher, und zwar kein Geringerer als
J. J. Bachofen, durch divinatorische Ausdeutung historischer Befunde
in jene unterste Schichte menschlicher Bildungsantriebe hinab-
geleuchtet, in der — unabhängig von Zeit und Völkerschranken —
sich aus Sagen und Sinnbildern eine Urreligion wob, deren kultur-
iichen und mythischen Niederschlägen gegenüber ausnahmslos alle
Glaubenslehren der geschichtlichen Menschheit eine Verdünnung oder
— 166 —
Verfallserscheinungen darstellen. Es ist daher nur auf das freudigste
zu begrüßen, daß Ludwig Klages in seinem mit dem Nietzschepreise
gekrönten Buche „Vom kosmogonischen Eros", auf Bachofens
und Nietzsches Spuren wandelnd, dadurch, daß er an Hand des so
vielfach mißdeuteten erotischen Erlebnisses in die elementarste
Schichte der Menschheitsentwicklung hinabgelangt, gleichsam in die
Tiefe der menschUchen Seele überhaupt und bis heute unbekannte
seelische Grundlagen des Altertums freilegt und einen noch groß-
artigeren Tiefblick in die Metaphysik eröffnet wie Nietzsche. Auch
Klages gelangt wie Nietzsche zu dem noch zu besprechenden Resultate,
daß die Problematik und unbefriedigte Enge, ja Flachheit des klas-
sischen Weltbildes, dieser bisher innigsten Verschmelzung ger-
manischen und antiken Wesens, hauptsächlich darin ihren Grund
hat, daß von der Antike ledighch jene der christlich8n Epoche zu-
gewandte Hälfte bekannt und verständhch war, als deren ver-
meintliche Höhepunkte die Tragiker Sokrates und Piaton gelten.
Dem Leser sei daher dieses Buch von Klages, das mir erst während
der Drucklegung vorliegender Arbeit zugänglich wurde, aufs wärmste
empfohlen.
Aber uns hat hier noch eine äußerst wichtige Frage zu be-
schäftigen. Nämlich: was für eine Art von Kultur preist der Ver-
fasser der „Geburt der Tragödie"? Wir sagten bereits, daß der
Nietzsche, der sozusagen spontan, aus Instinkt Wagners Anhänger
geworden war, noch keine Ahnung hatte von den ungeheuren
Geisteskräften, die in ihm latent waren. Zu dieser Zeit fühlte und
gebärdete er sich noch ganz als der echte Romantiker, der nichts
mehr haßte als jene Art von Kunstschaffen, die sich in klare Kunst-
formen ergoß. Und nun beruht alle Romantikerkunst auf zügelloser
undisziplinierter Einbildungskraft, es fehlt jede logische Zucht. Nur
zu leicht fällt sie leidenschaftlicher Überspanntheit anheim. Sobald
aber der Verstand logische Richtlinien in das Vorstellungschaos
hineinbringt, läutert und veredelt sich ihre lose Ungebundenheit zu
formeller Gestaltung. Der Phantasie verlauf wird nicht mehr von
dumpfen Gefühlen beherrscht, sondern von einer gefühlsbetonten
Vorstellung, die im Walten der Phantasietätigkeit Disziplin schafft.
So beginnt denn auch alle Kultur erst mit der Beherrschung der
Affekte, der Instinkte. Damals aber glaubte Nietzsche noch so felsen-
fest an die Vorherrschaft der Instinkte und Triebe, daß er sie auch
— 167 —
in den Künsten suchte und nur jene mit mehr Lebensfülle begabt
sein ließ, in denen ihm mehr Trieb, mehr Leidenschaft ausgeprägt
schien. Wenn wir also eine primitive und eine Hochkultur oder eine
Instinktkultur und Willenskultur unterscheiden, so verherrlichte
Nietzsche die zv^eite in seiner reiferen Periode, in seiner klassischen
Zeit, in der ihn vom Geiste Goethes ein Hauch umwitterte. Die
Abkehr von Wagner bedeutete den Sieg des Apollinismus.
Nun ist gewiß zuzugeben, daß Wagner mit seinen Worttondramen
eine ganz neue Kunstgattung geschaffen hat. Aber sein und Nietzsches
Grundirrtum bestand darin, daß beide das Musikdrama als das Kunst-
werk an sich hinstellten, neben dem jede andere Gattung keine Be-
rechtigung mehr habe. Die Genesis dieses Grundirrtums Wagners
führt uns bis ins Jahr 1849 zurück, da er zum ersten Male den
Versuch unternahm, sein „Gesamtkunstwerk" zur griechischen
Tragödie in direkte Beziehung zu bringen. Er begann sich als der
unmittelbare Fortsetzer der griechischen Tragödie zu fühlen. Es ist
ein bis heute noch nicht erforschtes Problem, wie weit Wagner das
Verständnis für das Wesen der griechischen Tragödie aufgegangen
war. Das eine ist indes klar : objektiv hat er ihre Entwicklung nicht
erforscht, sondern er hat sie im Sinne einer Verquickung von Drama
und Musik interpretiert; denn das Drama, das Wagner begriff, lag
weit hinter Aischylos zurück, ja es reicht noch in den Dionysoskult
hinein. Nun sind im Keiche der Künste sehr viele Synthesen möglich
und alle echten Künstler finden darin ihren Platz, ohne die Fittiche
ihres Geistes von den Normen der Ästhetik allzusehr beengen lassen
zu müssen. In diesem Reiche klaffte bis auf Wagner eine Lücke.
Wagner hat sie geschlossen. Daß aber mit Aufrichtung dieses Ge-
bäudes alle anderen Künste entthront, Mägde des Musikdramas sein
sollen, das kann nicht gutgeheißen werden. Vom Drama führen je
nach der Beteiligung der dramatischen Dichtung und je nach dem
Vorwiegen der Musik die feinsten Übergänge zur Musik selbst. Aber
trotzdem muß dem Wortdrama gegenüber dem Tondrama sein volles
Recht gewahrt bleiben. Nicht einmal die klassischen Dramen werden
von Wagner als echte Dramen anerkannt. Er nennt sie abfälhg
„Sentenzdramen", aus dem schiefen Begriff der Tragödie heraus, an
dem er als Musiker und Komponist festhing. Dem „Tondichter"
besaß ein Drama ohne Musik freilich keinen Wert! Der entwickelte
Dialog des Wortdramas schließt jedoch die Musik aus. Dagegen ver-
— 168 —
langen schon die Chöre in der „Braut von Messina" Musik.
Als gesungene Chöre würden sie tiefer wirken denn als ge-
sprochene.
Im Musikdrama nun begleitet die Musik den Text, illustriert sie die
Handlung, der sie adäquat ist. Die gleiche Betonung und Heraus-
arbeitung von Musik und Drama erfordert aber auch einen Kentauren
von Künstler. Und im besten Falle ist er ein halber Musiker und ein
halber Dramatiker. Die Gefahr, daß dabei nichts Ganzes herauskommt :
keine gute, keine ganze Musik, und kein gutes, kein ganzes Drama,
hängt dabei von vornherein über dem Künstler. Denn was die Kunst
geschieden hat, das soll Wagner nicht wieder zusammenleimen
wollen. Mit der geringsten stärkeren Betonung der Musik nähert
sich schon die Oper. Der Komponist gewinnt die Oberhand über den
Dichter. Natürlich unterstreicht er jetzt nicht mehr die Handlung,
sondern er unterstreicht seine Musik. Arien und Kezitative tauchen
wieder auf. Noch einen Schritt weiter, und die Musik befreit sich im
Oratorium und in der Messe aus den dramatischen Schranken. Noch
einen — und sie hat sich in der Symphonie völlig emanzipiert.
Während bisher Gefühle und Leidenschaften in ihr vorherrschten,
gewinnt sie jetzt einen absoluten, exakten Charakter, nach mathe-
matischen Verhältnissen und Beziehungen baut sich jetzt ihr Gebäude
auf. In dieser Region verschmelzen Rhythmus, Melodie und Harmonie
zur Polyphonie zusammen. Hier beginnen erst die wahren Freuden
und Genüsse des Musikkenners. Aber gerade dem dramatischen
Elemente machte Wagner so viele Konzessionen, daß er fast die
Musik darüber verlor. Er verschob ihre Grenzen bis tief ins Dramatische
und Tragische hinein. Aber um so größer ist der Sturm der Gefühle,
den Wagners Musik — und das ist charakteristisch! — im Herzen
des Laien auslöst. Daher unsere Jugend sich vornehmlich nur für
und an Wagner begeistert, welche Begeisterung allerdings mit
reiferen Jahren einer um so wärmeren Verehrung Beethovens in den
meisten Fällen Platz macht.
Das alles beweist, daß Wagner im Reiche des Apollinischen
nicht sehr heimisch war, wenn er es auch verstanden hat, so viel
für sich in Beschlag zu nehmen, als er für seine Zwecke brauchen
konnte; und das war herzlich wenig! So wird zum Beispiel für
Wagner der Plastiker zum Ressigeur, der ihm die schönen Menschen
auszusuchen hätte; der Maler zum Kulissendekorateur und Garde-
— 169 —
robier, der nur schöne Veduten und Landschaften für die szenische
Wirkung zu entwerfen hätte.
Diese Irrtümer Wagners beruhen aber auf einer schiefen Auf-
fassung des ästhetischen Genusses. Er war so göttlich einseitig, daß
er sich einen anderen künstlerischen Genuß als den seiner Musik-
dramen gar nicht denken konnte. Er hypostasierte sein Werk zum
ästhetischen Allheilmittel überhaupt, das heißt er verkannte das
Wesen des ästhetischen Genusses in einer unheilvollen Weise. Dieser,
in der bedeutsamen Zusammenschmelzung'l mit dem angeschauten
oder überhaupt empfundenen Kunstwerk, läßt stets das Gefühl einer
Gesamtkunst entstehen, in deren Genuß der Mensch mit der
schönheitbesonnten Welt eins ist. Jedes echte Kunstwerk hat diese
Wirkung. Wagner beschränkte sie auf sein Musikdrama, eine Ein-
seitigkeit, in der er noch von der Schopenhauerschen Metaphysik
bestärkt wurde. Wo aber ästhetisches Gefühl ist, da ist Kunst; wo
wir uns künstlerisch in ein Objekt einfühlen, da ist Gesamtkunst-
werk. Das ästhetische Gefühl braucht keinen großen Apparat dazu.
Ist es vorhanden, so sind auch künstlerische Eindrücke da. Wer in
seiner ästhetischen Gefühlswelt Einfachheit bevorzugt, könnte das
„Gesamtkunstwerk" Wagners gegenüber seinen Genüssen einen
barbarischen Luxus nennen. (Cf. Zeitler, „Nietzsches Ästhetik'',
p. 112—116').
1) Es dürfte nicht uninteressant sein, in diesem Zusammenhange zu
erwähnen, daß der empiriokri tische Positivist Josef Petzoldt in seiner „Ein-
führung in die Philosophie der reinen Erfahrung" in seiner Ästhetik von
Wagner sagt, dieser sei als Reformator der alten Oper gleich Luther auf
halben Wege stehen geblieben. Deshalb werde einst vieles oder das meiste
an seinen Musikdramen für ebenso lächerlich und abgeschmackt gelten wie
uns heute vieles oder das meiste an den alten Opern. Eine Beethovensche
Symphonie dagegen könne nie erheblich an Natürlichkeit einbüßen, wenn
auch die Kunst ihre Mittel noch so hoch über die von Beethoven verwendeten
hinaus entwickeln sollte. Wagner sei wie Luther eine Möglichkeit, keine
Notwendigkeit: hätte sich in ihnen mit der gleichen Tatkraft und
Überzeugungstreue größeres Genie verbunden^ so hätten sie beide
ganze Arbeit machen können. Da alles Dramatische schon durch Reim
und Rhythmus, geschweige deim durch Musik beeinträchtigt werde, sei ein
musikalisches Drama eine ästhetische Unmöglichkeit; es gibt keines, manche
Werke nennen sich nur sol Vgl. auch den sehr lesenswerten Aufsatz von
Leopold Ziegler, „Wagner, Die Tyrannis des Gesamtkunstwerkes* in der
Zeitschrift „Logos", Jhg. 1910/11, Bd. I, p. 371-404.
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Nietzsche, der die qualitativen Kulturinhalte aller Zeiten er-
forschte und ein seiner Meinung nach positives Kulturideal auf-
richten v^ollte, erblickte es zunächst im hellenischen Ideal, das
ihm durch seine Beschäftigung mit der Antike und durch Schopen-
hauer und Wagner nahegebracht worden war. Gleich Piaton wollte
er daher auf Grund dieser ästhetisierenden Philosophie „xh noXlaxfi
disönaQuiva, öwögavta Big ^Iccv Idsav äysiv". Er forderte aber noch
mehr, denn da er sich für das Kunstgenie Wagner als der wissen-
schaftliche Vermittler der neuen Kunstkultur fühlte, war er der
Meinung, Wagners Kunst, die eben dieser neuen Kultur den Weg
bereite, dürfe nicht nur genossen werden, ja sie müsse sogar zur
Religion proklamiert werden. Daher müsse man gleich den alten
Hellenen zuerst das Leben bis zur Neige auskosten, die dionysischen
Triebe sich austoben lassen, um desto sicherer das apollinische Ideal
zu erreichen. Grundbedingung dafür ist jedoch: den Willen zum
Tragischen, den Willen zum Leiden in sich aufzunehmen, denn
,.,in unserer Macht steht die Zurechtlegung des Leidens zu einem
Segen, des Giftes zu einer Nahrung". Indessen dürfte aber wohl
nur ein sehr oberflächhcher Kenner der Nietzscheschen Philosophie'
übersehen, daß in dieser Formulierung seines Kulturideals bereits
jenes Ideal in nuce vorgebildet ist, das er später als seinen „Über-
menschen" proklamierte.
Wenn Frau Förster behauptet, Nietzsche habe durch die
„Geburt der Tragödie" „die Philologen und Historiker vor allem für
seine neue Richtung der Erfassung des Griechentums gewinnen
wollen", so erscheint mir diese Behauptung widerlegt durch die
Tatsache, daß diese Schrift eine ästhetisch-psychologische Studie ist,
übei deren Empfängnis weniger das Licht der Studierlampe als
vielmehr Schopenhauers Musiktheorie und die Sonne des Tribschener
Lichtes geleuchtet hatte. Und schließlich war Nietzsche viel zu
schöpferisch und zukunftsträchtig, um in der Betrachtung und Re-
konstruktion der Vergangenheit Genüge finden zu können. Daher
schrieb er auch im Mai 1872 an den Freiherrn v. Gersdorff: „Ich
bin glückhch, in meinem Buche mir selbst jene Tribschener
Welt petrifiziert zu haben" ; keine philologische Fach arbeit wollte er
liefern, sondern eine Werbeschrift für Richard Wagner, der ihm
immer noch „sein Mystagoge in den Geheimlehren der Kunst und
des Lebens war".
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Diese Zeit, in der sich Genies von der Bedeutung eines Wagner,-
Nietzsche, Bohde und Wilamowitz gegenseitig bekämpften, war
überhaupt reich an ganz merkwürdigen Erzeugnissen des Bücher-
marktes. Neu gebildete Worte, wie „Zukunftsmusik", „Zukunfts-
philologie", „Afterphilologie", durchschwirrten die Luft: durch das
künstlerische Auftreten des Meisters und die jüngste Schrift seines
jungen Freundes erschien die bestehende Welt wie auf den Kopf
gestellt: hatte Nietzsches heihge Begeisterung für Wagner so
manches Wort geprägt, das seinen Gegnern willkommene Waffen
gegen ihn in die Hand lieferte, so hatte umgekehrt das selbst-
bewußte Auftreten Wagners, der unbeirrt durch das Geschrei und
Gezeter der kleinen Geister rücksichtslos alle Mittel in den Dienst seiner
Aufgabe stellte, einen Münchener Irrenarzt, Dr. Puschmann, ver-
anlaßt, Wagner in einer Schrift als geisteskrank zu erklären. Erscheint
uns diese Tatsache allein schon unfaßbar, so erscheint es uns noch
unfaßbarer, daß ein Gelehrter, wie der Bonner Historiker Alfred Dove^
diesem Versuche Buschmanns bedingungslos beipflichtete. In gerechtem
Zorne schreibt daher Nietzsche an Rohde: „daß ein Irrenarzt in
, edler Sprache' nachgewiesen hat, daß Wagner irrsinnig sei, daß
dasselbe durch einen anderen Irrenarzt für Schopenhauer geleistet
worden ist, weißt Du wohl schon? Du siehst, wie sich die , Gesunden'
helfen: sie dekretieren für die unbequemen ingenia zwar kein
Schafott; aber jene schleichende, böswilhgste Verdächtigung nützt
ihnen noch mehr als eine plötzliche Beseitigung; sie untergräbt das
Vertrauen der kommenden Geschlechter! Diesen Kunstgriff hat
Schopenhauer vergessen! Er ist der Gemeinheit des gemeinsten
Zeitalters wunderbar gemäß!" Aus dieser Empörung heraus griff
Nietzsche in einem Artikel, den er am 17. Jänner 1873 im „Musi-
kalischen Wochenblatt" in Leipzig veröffentlichte, den Professor
Dove an und vergalt so Wagner den Liebesdienst, den ihm dieser
in der Affäre mit Wilamowitz erwiesen hatte.
XIII. PSYCHOLOGISCHE UND KÜNSTLERISCHE
GRÜNDE FÜR NIETZSCHES ABFALL.
Jedermann wird nun glauben, daß die Beziehungen Nietszches
zu Wagner jetzt die denkbar innigsten gewesen sein müssen. Und
doch waren sie dies nur mehr äußerlich. Wie schon erwähnt, schien
sich Nietzsche wegen der schlechten Aufnahme, die sein jüngstes
Werk in Gelehrtenkreisen gefunden hatte, Selbstvorwürfe gemacht
zu haben. Aber vollends die Tatsache, daß er 1872 plötzlich er-
krankte und einer dringenden. Einladung Wagners nach Tribschen
deswegen nicht Folge leisten konnte — daneben arbeitete er eifrig
an seinem Vortrage „über die Zukunft unserer Bildungsanstalten"
— hat Wagner mißtrauisch gemacht, zumal Nietzsche seiner Ver-
ehrung dem Meister gegenüber in so überschwenghchen Ausdrücken
das Wort geredet hatte und nun mit einem Male nichts von sich
hören ließ. Wagner, der überhaupt sehr mißtrauisch war, vermutete
sofort, daß sich Nietzsche seines mannhaften Eintretens für ihn nicht
nur schäme, sondern es sogar bereue. Nietzsche hatte mit einem
„wahrhaft ergreifenden" Briefe alle seine Bedenken zerstreut. Es ist
kein Zweifel, daß sich schon damals bei Nietzsche der Beginn seiner
nachmaligen Krankheit bemerkbar machte: die furchtbaren Kopf-
schmerzen und das Augenleiden. Schon jetzt zeigte es sich, daß
sein schwacher Körper, der noch unter den Nachwirkungen seines
im Kriege zugezogenen Leidens litt, den Anforderungen, die er an
sich selbst stellte, nicht gewachsen war. Was aber das Ausschlag-
gebendste ist, zu diesem physischen Leiden gesellten sich schwere seeli-
sche Krisen, hervorgerufen in erster Linie durch die immer zahlreicher
werdenden Enttäuschungen, die ihm Wagners Benehmen bereitete,
und dann Verstimmungen wegen des wissenschaftlichen Mißerfolges
seines Buches. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich
Nietzsche in seinem Denken vielfach von Schopenhauer entfernt
hatte und damit ganz folgerichtig auch von Wagner. Denn wiewohl
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er zu jener Zeit sich noch ganz im Fahrwasser des Pessimismus
treiben heß, so folgerte er aus ihm, wie Lichtenberger geistvoll
ausführt, nicht die Notwendigkeit der Entsagung, sondern das Gegen-
teil derselben: die Notwendigkeit des Heroismus; er verneinte also
nicht den Willen zum Leben, sondern verehrte diesen Willen, der
das ewige Leben will, wie der dionysische Grieche und suchte ihn
zu rechtfertigen. Aber trotzdem hielt er noch immer zu Wagner.
Frau Förster berichtet, daß sie unter Nietzsches Manuskripten ver-
schiedene Skizzen gefunden habe, die sich zwar schwer datieren
lassen, aber uns merkwürdige Aufschlüsse darüber geben, wie der
Autor selbst über sein Werk gedacht hat: „Ich fing an mit einer
metaphysischen Hypothese über den Sinn der Musik : aber zugrunde
lag eine psychologische Erfahrung, welcher ich noch keine
genügende historische Erklärung unterzuschieben wußte. Die Über-
tragung der Musik ins Metaphysische war ein Akt der Verehrung
und Dankbarkeit ... in meiner Jugend habe ich einmal ein Bild
von R. Wagner gemalt unter dem Titel R. Wagner in Bayreuth.
Einige Jahre später sagte ich mir: , Teufel! es ist gar nicht ähn-
lich!' ... In gewissen Jahren hat man ein Recht, Dinge und Men-
schen falsch zu sehen — Vergrößerungsgläser, welche die Hoffnung
uns gibt . . . mein Glaube an eine gemeinsame und zusammen-
gehörige Bestimmung gereicht weder ihm noch mir zur Unehre und
hat damals uns beiden als zwei auf sehr verschiedene Weise Ver-
einsamten keine kleine Erquickung und Wohltat verschafft ... ich bin
hundertmal radikaler als Wagner . . . deshalb bleibt er doch mein
Verehrtester Lehrer: ob ich schon jetzt zu meiner Erholung und
Erquickung ganz andere Musik nötig habe als die Wagners." Einige
der hier ausgesprochenen Gedanken werfen so helles Licht auf die
Zeit vor den ersten Bayreuther Festspielen, daß sie ganz gut damals
schon hätten geschrieben sein können. Aber für diese im Denken und
Fühlen bereits eingetretene Abschwenkung Nietzsches von Schopen-
hauer und Wagner spricht noch folgender Umstand: die zweite un-
zeitgemäße Betrachtung „vom Nutzen und Nachteil der Historie"
stellt sich ihrer Tendenz nach in bewußten Gegensatz zur „Geburt
der Tragödie" und der „I. Unzeitgemäßen". Ist das Ziel jener beiden
Schriften die Forderung, die in Bayreuth bereits als vorhanden
angenommene Kultur als eine universelle zu proklamieren, verwirft
Nietzsche jetzt auf einmal diese früher für ihn als heilig geltende
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Kultur und fordert eine neue Kultur, wenn sie auch auf jener
ersteren noch basiert. Diese Lossage von Schopenhauer und Wagner
war zu deutlich, als daß sie dem Meister hätte entgehen können;
er soll mißmutig ausgerufen haben: „Dieser Nietzsche geht immer
seine eigenen Wege!" Dies mochte Nietzsche wohl auch selbst
fühlen, brachte aber den Mut nicht auf, sein Abschwenken sich
einzugestehen, sondern versuchte durch auffälUges Betonen rein
persönlicher Momente in der „III." und „IV. Unzeitgemäßen" eine
poetische Rechtfertigung. Er selbst mochte es vielleicht am schmerz-
lichsten fühlen, daß er sich von Wagner entfernt hatte; deshalb
strich er im Texte seine radikale Abkehr von der einst über alles
geschätzten Bedeutung des Volksliedes: „Wenn wir vom deutschen
Oeiste reden, so meinen wir Luther, Goethe, Schiller und einige
andere. Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu
reden." Denn in der „Geburt der Tragödie" galt im Sinne Wagners
der geniale Dichter als der Interpret der Volksseele. Jetzt dagegen
erklärt sich Nietzsche die Existenz des Genius freilich auch als eine
Forderung des nationalen Lebens, aber nicht weil die Volksseele
ihn braucht, sondern nur weil durch seine Existenz die des Volkes
gerechtfertigt wird. So wird das Ideal des Übermenschen immer
mehr vorbereitet, das Ideal, das weder zu Schopenhauer noch zu
Wagner, paßte. Ungemein tief ist es zu bedauern, daß die Briefe
Nietzsches an Wagner aus dieser Zeit, wie schon erwähnt, bei
einem Umzug vernichtet worden sein sollen! So bleiben uns die
inneren Vorgänge in Nietzsche immerhin ein psychologisches Rätsel,
aber ein Rätsel, das mit der Konstatierung einer schon damals be-
ginnenden Geisteskrankheit nicht im geringsten zu lösen ist. Denn
wie konnte dieser Nietzsche schon damals über Wagner so herbe,
-skeptische, hellsichtige Worte finden, daß schon alle Keime der
Wagner-Schriften von 1888 darin zu entdecken sind! Wie tief, fragt
man unwillkürlich, muß da doch zuweilen das Verhältnis Nietzsches
zu Wagner erschüttert gewesen sein, daß er es sogar fast wissen-
schafthch zu analysieren vermochte!
Was ging in Nietzsche vor? Professor Richter bezeichnet diese
Zeit als den zweiten Akt in dem dreiaktigen Freundschaftsdrama
Wagner-Nietzsche: der Versucher tritt bei Nietzsche auf als die
Treue zum philosophischen Geiste. Wagner war jetzt für Nietzsche
nicht mehr die Inkarnation des Schopenhauerschen Geistes. Und
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da Nietzsche nur dem philosophischen Geiste in Wagner die Treue
gehalten hatte, solange ihm dieser als dessen herrlichste Objektivation
erschien, hätte er Wagner im tiefsten Sinne die Treue gebrochen,
wenn er sie ihm gehalten hätte. Denn er hätte sie nicht dem
Freunde Wagner, sondern einer entgeistigten Hülle gehalten. Auf
eine andere Weise läßt sich dieses Abschwenken Nietzsches von
Wagner kaum erklären, am allerwenigsten durch die Argumente,
die Frau Andreas Salome vorbringt. Von der Tatsache ausgehend,
daß Nietzsche geneigt war, seine eigenen Empfindungen, Absichten
und Anschauungen bei anderen vorauszusetzen, behauptet sie:
„Gerade der Umstand, daß Nietzsche volles Genügen, Seelenfrieden
und eine Geistesheimat gefunden hatte, daß ihm Wagners Welt-
anschauung so weich und glatt anlag wie eine , gesunde Haut',
kitzelte ihn, sie sich abzustreifen, ließ ihm sein , Überglück als Un-
gemach' erscheinen, ließ ihn , verwundet werden von seinem Glück'. "
Allein mit solchen Sentimentalitäten wird man das innerste Wesen
dieses rastlos strebenden Geistes durchaus nicht erklären können!
Und selbst wenn man je eine Sentenz aus „der fröhlichen Wissen-
schaft" und aus dem „Jenseits" kombiniert — „wer sein Ideal erreicht,
kommt eben damit über dasselbe hinaus", denn „sein Überglück
ward ihm zum Ungemach" — und den auf diese Weise erhaltenen
Gedanken als ein Selbstbekenntnis Nietzsches interpretiert, ist die
Tatsache des Abfalles von Wagner nicht erklärt. Sie ist, wie schon
gesagt, nur durch Nietzsches philosophischen Trieb zu erklären,
das heißt, sobald sich in ihm das eigene Denken zu regen begann,
mußte er, dem philosophischen Triebe gleich einem kategorischen
Imperativ gehorchend, sich von Wagner entfernen. Das wollen wir
gerne zugeben, daß ihm diese Art der Selbstbefreiung schwer fiel,
daß sie einen Akt der Entsagung darstellte — denn innerlich konnte
dieser Mann von Wagner nicht loskommen, mochte er ihn auch
überwunden haben. Und daß Nietzsche in seinem Denken bereits
seinen eigenen Weg betreten hatte, lehrte uns die „11. Unzeitgemäße",
worüber uns die „III." und „IV. Unzeitgemäße" wohl kaum hinweg-
täuschen können: Schopenhauer ward nur mehr eine Maske, die
Nietzsches „Liebenthusiasmus" für Wagner seiner Dankbarkeit und
schwärmerischen Hingabe gewissermaßen schamhaft vorhält. An
dieser Tatsache ändert auch der Umstand nichts, daß Hermann
Türck die „III.* Unzeitgemäße" das] Werk eines tobsüchtig
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gewordenen Tollhäuslers nennt, jene Schrift, von der der Ver-
fasser selbst gestand: „Ich bin ferne davon, zu glauben, daß ich
Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber
habe ich durch Schopenhauer ein Weniges besser verstehen gelernt;
das ist es, weshalb ich ihm die größte Dankbarkeit schuldig bin."
Doch trotz alledem hielt Nietzsche noch zu Wagner und begab
sich nach Bayreuth, um die Grundsteinlegung des Festspielhauses
mitzumachen. Die Gefühle, mit denen er nach Bayreuth kam, müssen
sehr gemischt gewesen sein; denn als es zu Beginn des Jahres 1874
hieß, die Bayreuther Sache werde scheitern, schrieb Nietzsche in
sein Notizbuch : „Ich sagte als Student: Wagner ist Romantik, nicht
Kunst der Mitte und Fülle, sondern des letzten Viertels. Bald wird
es Nacht sein. Mit dieser Einsicht war ich Wagnerianer, ich konnte
nicht anders, aber ich kannte es besser." Mit anderen Worten:
er glaubte nicht mehr an den Reformator Wagner und hielt daher
ein Mißlingen der Wagner-Sache für möglich. Ich glaube gerne, daß
dieser Gesinnungswandel Nietzsches den meisten Menschen etwas
Unbegreifliches ist und sein wird; denn die Psychologie des Genies
und gar das Verhältnis zweier Genies zueinander wird dem
„Bildungsphilister" wohl immer verschlossen bleiben, und sie werden
fortfahren, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den
Staub zu ziehen! Der zwanzigjährige Friedrich Hebbel schreibt in
seinen Tagebüchern: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß jeder
tüchtige Mensch in einem großen Mann untergehen muß, wenn er
jemals zur Selbsterkenntnis und zum sicheren Gebrauch seiner Kräfte
gelangen will; ein Prophet tauft den zweiten, und wem diese
Feuertaufe das Haar sengt, der war nicht berufen!" Diese Erfahrung
machte Nietzsche: von dem Glücke, in dem großen Manne Wagner
unterzugehen und sein eigentliches Selbst aus diesem Feuerbade
tiefer und tüchtiger zurückzuerhalten, zeugen seine Briefe an Gers-
dorff, Deussen und Rohde aus der Zeit der ersten persönlichen Be-
kanntschaft mit Wagner. Und die erste Frucht dieses beseligenden
Glücksgefühls, sich selbst in Wagner gefunden zu haben, ist „die
Geburt der Tragödie" ; Nietzsche fühlt sich als Prophet einer neuen
Kultur. Doch dann kommt eine Zeit, wo Nietzsche langsam aus
dem erträumten Zukunftsreiche auf diese Erde zurückkehrt, und
verwundert ruft er aus: „Wo bin ich doch — ach weit, ach weit!"
Es folgen die unzeitgemäßen Betrachtungen: Nietzsche fühlt immer
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deutlicher, daß seine Zeit kein Boden ist für seine genialen In-
tuitionen. Und dabei schleicht sich in seine Briefe aus dieser Zeit
wie ein Symptom des langsam unterminierten G-laubens an Wagner
ein recht melanchohscher, entmutigter Ton. Das klassischeste Bei-
spiel ist jene Stelle aus der „Morgenröte", wo er ausruft: „Wer
wagt es, einen Blick in die Wildnis bitterster... Seelennöte zu tun,
in welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller
Zeiten . . . geschmachtet haben! Jene Seufzer des Einsamen und
Verstörten zu hören : ,Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen !
Wahnsinn, daß ich endlich an mich selber glaube! Der
Zweifel frißt mich auf, ich habe das Gesetz getötet . . . wenn ich
nicht mehr bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von
allen' . . . und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut!"
Doch langsam gewinnt er wieder den Glauben an sich und, wie
von einem bösen Alpdruck befreit, ruft er dankbar aus: „So lebe ich
mich allmählich in mein Philosophentum hinein und glaube bereits
an mich; ja, wenn ich noch zum Dichter werden sollte, so bin ich
selbst hierauf gefaßt. " Nietzsche hatte sich selbst gefunden : er Wieb
dem philosophischen Triebe treu; und was jetzt geschah, das mußte
geschehen: die völlige Entfremdung von Wagner.
Wir wissen bereits, daß die Anwesenheit bei den Proben
Nietzsche sichtliches Unbehagen bereitete, aber dennoch harrte er
aus, bis er einfach nicht mehr konnte. Weder das Spiel noch das
Publikum hielten das, was er sich von ihnen versprochen hatte : er
war namenlos enttäuscht, besonders über den oft allzu lauten
Fanatismus und die theatralischen Posen, mit denen viele
Wagnerianer ihre geistige Gefolgschaft dem Meister bekundeten,
ohne ihn im Grunde zu verstehen: sie erschienen ihm als eine
traurige Parodie auf sich selbst. Über diese Wagnerianer, „diese
Imperativische Behörde der Kultur", die, um an ein Wort Friedrich
Paulsens zu erinnern, Wagners Kunstideal zum Verordnungspara-
graphen der Zukunft gemacht hatte, hat sich niemand anderer als
H. St. Chamberlain noch 1896 folgendermaßen geäußert : „Öfters las
ich von jUnbedingten Anhängern von Bayreuth' : diese Spezies Wieb
mir jedoch unauffindbar; kein Mensch raisoniert so viel, so kleinlich
und so verständnislos über alles,, was in Bayreuth geleistet wird,
wie diese angeblichen , Anhänger'; der Fremde und der Feind
empfinden fast immer mit mehr oder weniger Klarheit die Größe
Grießer, Wagner und Nietzsche. j^2
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des Vorhabens, wenn auch weiter nichts; wer aber für den jähr-
lichen Preis von vier Mark MitgUed des Allgemeinen Wagner- Vereines
geworden ist, scheint sich in Bayreuth so zu Hause zu fühlen wie
der Fisch im Teiche; für das bißchen Geld hat er zugleich mit
seiner Mitghedschaft sich ein lückenloses Verständnis eines der ge-
waltigsten Kunstvorhaben, von denen die Geschichte erzählt, er-
worben — und bekanntlich dokumentiert sich echte Kennerschaft
zunächst darin, daß man an allem und jedem herumtadelt." Das
waren jedoch schon wieder paradiesische Zustände gegen das
Jahr 1876, wo man sich durch seinen Beitrag das Recht erkaufte,
gegen jedermann wie ein Wilder zu toben, Bierseidel drohend in die
Höhe erhob und überhaupt zu jeder Art „schlagender" Gründe bereit
schien, gegen jedermann, der nicht jede Note, jedes Wort des
Meisters als ein Evangelium betrachtete. Ich glaube, diese Spezies
ist auch heute noch nicht ausgestorben und ihretwegen ist jeder
Versuch, eine objektive Würdigung Wagners oder gar des „Ringes*
aussichtslos mehr denn je. Wie mußte angesichts solcher Zuschauer
Nietzsche zumute'sein, der erwartet hatte, daß in Bayreuth „auch
der Zuschauer anschauenswert sein werde", zumal „hier ihr die
Ergriffenheit von Menschen findet, welche sich auf dem Höhepunkte
ihres Glückes befinden und gerade in ihm ihr ganzes Wesen zu-
sammengerafft fühlen, um sich zu weiterem und höherem Wollen
bestärken zu lassen". Und was sah er in der Tat? Er berichtet:
„Sehen Sie doch diese Jünglinge, erstarrt, blaß, atemlos! Das sind
Wagnerianer; das versteht nichts von Musik — und trotzdem wird
Wagner über sie Herr!" Das war nicht jene „Vereinigung aller
wirklich lebendigen Menschen", wie er sie erwartet hatte, kein
„Reich der Güte hatte sich entfaltet, kein neuer Genius war er-
wacht", das war die „gewöhnliche gesellschafthche Trivialität", der
er „im liebenswürdigen Famihenkreise" zu Tribschen ganz entrückt
war, das waren jene „Kerle, die für Wagner gar nicht reif waren".
Das war in der Tat jene Welt, die Wagner einst hinter sich ge-
worfen und der er mit zwanglosester Unumwundenheit zugerufen
hatte, daß er, der Künstler, sie, „diese so scheinheilig um Kunst
und Kultur besorgte Welt aus tiefstem Grunde verachte, daß in
ihren ganzen Lebensadern nicht ein Tropfen künstlerischen Blutes
fließe, daß sie nicht einen Atemzug menschlicher Gesittung, nicht
einen Hauch menschlicher Schönheit aus sich zu ergießen ver-
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möge!" Wie anders' war's zur Zeit der Grundsteinlegung! „Die un-
vergleichlichen Tage der Grundsteinlegung, die kleine zugehörige
Gesellschaft; die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte
Dinge zu wünschen hatte: kein Schatten von Ähnlichkeit!" sagt
Nietzsche. Noch mehr jedoch enttäuschte und befremdete ihn Wagner
selbst. Frau Förster teilt darüber mit: „Man darf nicht vergessen,
Wagner war bei aller Herzlichkeit und Wärme der Freundschaft
im Verkehr oft schwer zu ertragen, vorzüglich seit er ,in die Welt'
zurückgekehrt war und, um seine Pläne in Bayreuth zu verwirk-
lichen, unzählige Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden
hatte. In Tribschen, in dieser fernen abgeschlossenen Insel der
Seligen, hatte Glück und künstlerisches Schaffen sein ganzes Wesen
verklärt, und in dieser Verklärung hatte mein Bruder Wagner haupt-
sächUch kennen gelernt. In Bayreuth dagegen war seine Art und
Weise recht verändert : die Gereiztheit, der Mangel an Vornehmheit
gegen Kivalen, die maßlose Heftigkeit, das kleinliche Mißtrauen
wirkte auf meinen Bruder geradezu niederdrückend : er litt darunter,
das Ideal, das er von Wagner in sich trug, in so verzogenen Linien
zu sehen." Seine aristokratische Gesinnung, sein vornehmes, zurück-
haltendes Wesen stand in direktem Widerspruch zu dem Demagogen-
tum und der regen Agitationstätigkeit, die der Meister in dem
Kampfe um die Erreichung seines Zieles mit Benützung der irdische-
sten Mittel entfaltete. Er begann leise zu zweifeln an der un-
bedingten Anerkennung Wagners als des typischen Genies, als des
himmelstürmenden Künstlers, als des tiefen Denkers. Das war
durchaus nicht mehr jener Wagner, an dem er noch im Jahre 1870
in einem Briefe an Rohde die „idealistische Art" gepriesen hatte,
„in der er mit Schiller am stärksten verwandt ist". Ernest entwirft
von dem Bayreuther Wagner eine sehr anschauhche Schilderung:
„Wenn ihn das Theater freigab, dann hatte er tausend Pflichten
als Weltmann und Diplomat zu erfüllen, da hieß es Besuche machen,
Audienzen erteilen, einflußreiche Freunde empfangen. Bedenken be-
seitigen, Gegensätze ausgleichen. Nietzsche erkannte den Freund
kaum noch wieder — war das der Wagner seiner Träume?" Ein
Nachbericht Nietzsches aus dem Jahre 1878 enthält über diesen
Wagner folgende charakteristische Stelle: „Ich erkannte kaum
Wagner wieder: umsonst blätterte ich in meinen Erinnerungen:
Tribschen, eine ferne Insel der Glückseligen, kein Schatten von
12*
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Ähnlichkeit . . . der Wagnerianer war Herr über Wagner geworden/
VölUg zutreffend resümiert daher Richter, wenn er sagt: „Nietzsches
kritischem Verstaride konnte das Unedle, Kleinliche, Unlautere, vor
allem die Unangemessenheit zu seinen eigenen hochgespannten
Idealen nicht entgehen ; und unfähig, unter falschen Voraussetzungen
mit den Menschen und dem Leben zu verkehren, sprengte er diese
Hülle." Dazu kam noch ein anderer wichtiger Umstand: Nietzsche
mißfiel jetzt der „Ring des Nibelungen". Aber schon im Oktober 1866
schrieb er über die Musik zur „Walküre", daß seine Empfindungen
über sie „sehr gemischt seien; die großen Schönheiten und virtutes
des Werkes würden durch ebenso große Häßlichkeiten und Mängel
aufgehoben". Und an Freiherrn v. Gersdorff schrieb er anschließend:
„4- ^ 4- ( — ö) gibt aber nach Riese und Buchbinder 0. Jetzt
arbeitet derselbe Komponist, den Zeitungen nach, an einer Hohen-
staufen-Oper und läßt sich ab und zu vom König, ,dem holden
Schirmherrn seines Lebens . . /, besuchen. Es schadete übrigens
nichts, wenn ,der König mit dem Wagner ginge (gehen in des
Wortes verwegenster Bedeutung), natürlich aber mit anständiger
Leibrente^" Ja, seine Aversion gegen die Wagnersche Musik ging
so weit, daß er 1868 mit Jahn Wagner für den Repräsentanten
eines modernen, alle Kunstinteressen in sich aufsaugenden und ver-
dammenden Dilettantismus hält. Aber dies war nur vorübergehend:
seine ursprüngliche Begeisterung für Wagner sollte um so stärker
hervorbrechen ; bereits im Oktober desselben Jahres schreibt er nach
einer Konzertaufführung der Vorspiele zu „Tristan und Isolde" und
den „Meistersingern"^) an Erwin Rohde: „Ich bringe es nicht übers
Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten ; jede
Faser, jeder Nerv zuckt mir, und ich habe lange nicht ein solches
andauerndes Gefühl der Entzücktheit gehabt als bei der letzt-
genannten Ouvertüre." Aus dem Jahre 1872 stammt folgender Brief
an Rohde: „Ich möchte, Du hörest den , Tristan' — es ist das Un-
geheuerste, Reinste und Unerwartetste, was ich kenne. Man schwimmt
in Erhabenheit und Glück." Rohde, ein reiner Dilettant in musikali-
') Nach der ersten „Meistersinger"- Auffülu'ung in Dresden sclireibt er an
Rohde: „Weiß Gott, ich muß doch ein tüchtiges Stück von Musiker im Leibe
haben ; denn in jener ganzen Zeit hatte ich die stärkste Empfindung, plötzlich
zu Hause und heimisch zu sein, und mein sonstiges Treiben erschien wie
ein ferner Nebel, aus dem ich erlöst war."
~ 181 —
sehen Dingen; bekannte sodann dankbar über den „Tristan": „Gewiß
gibt es in der Welt keine andere Musik von solcher Notwendigkeit :
meine Seele sang unmittelbar mit in diesem tönenden Meeres-
rauschen der stürmenden Empfindung. Da ist nichts von künstlich-
künstlerischer Willkür." Für die Stellung, die Nietzsche gerade
diesem Werke des Meisters gegenüber, das er bereits in der „Geburt
der Tragödie" so enthusiastisch gepriesen hatte, einnahm, ist es nun
bezeichnend, daß er noch 1888 im „Ecce homo" bekennt: „Ich suche
heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination,
von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit wie der
jTristan' ist, ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten
Lionardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan.
Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners ; er erholte sich
von ihm mit den , Meistersingern' und dem ,Ring'. Gesünder
werden — das ist ein Rückschritt bei einer Natur wie Wagner.
Ich nehme es als Glück ersten Ranges, zur rechten Zeit gelebt und
gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für dieses Werk
zu sein." Oder: „Der Tristan ist ein kapitales Werk und zweitens
von einer Faszination, die nicht nur Musik, sondern in allen
Künsten ohnegleichen ist." Warum, fragen wir erstaunt, verhielt
sich Nietzsche, der bekannt hatte: ^ Alles erwogen, hätte ich meine
Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik!", dem „Ring"
gegenüber so ablehnend? Nietzsche hatte jede Note des Riesen-
werkes gekannt, in dessen geheimnisvollen Bau ihn der Meister in den
Stunden der Andacht selbst eingeführt hatte. Allein schon damals,
soll Nietzsche gar manches teils zu lang, teils zu schwach empfunden
haben — aber dennoch glaubte er, daß der Gesamteindruck einer
Bühnenaufführung alle diese Inkonsequenzen kaum merklich machen
werde. Und zudem hoffte er, der die Tragödie aus dem Geiste der
Musik geboren werden ließ, mit diesem Werke seine Behauptungen
genau so wie im „Tristan" durch die Tat bewiesen zu sehen. Daher
hatte er sich in späteren Jahren über sein Werk und dessen Wir-
kung auf Wagner geäußert: «Die , Geburt der Tragödie' hat vielleicht
im Leben Richard Wagners den größten Glücksklang hervorgebracht;
er war außer sich und es gibt wunderschöne Dinge in der , Götter-
dämmerung', welche er in diesem Zustande einer unerwarteten
äußersten Hoffnung hervorgebracht hat." Damit deckt sich eine
Mitteilung, die Wagner dem Freunde machte: „Seit der Lektüre
— 182 —
(sc. der , Geburt der Tragödie') komponiere ich wieder an meinem
letzten Akte (sc. der ,GötterdämmerungO. Ich für meinen Teil be-
greife nicht, wie ich so etwas erleben durfte!" Damals gab sich
Nietzsche der, wie er glaubte, begründeten Hoffnung hin, Wagner
zu seinen Ansichten zu bekehren, aber er vergaß „über dem Bilde
dieses Lebens — dieses mächtigen, im eigenen Strome und gleichsam
den Berg hinanstrebenden Lebens — zu sagen, was er von Wagner
in Ansehung der Wahrheit hielt". Und der Einfluß, den der junge
Nietzsche auf den Meister ausübte, erhellt am deutlichsten aus dem
dritten Akte des „Siegfried". An diese Zeiten sich zurückerinnernd,
konnte daher Nietzsche noch am 27. April 1883 an Peter Gast
schreiben: „Wenn ich an jene Zeiten denke, wo der letzte Teil des
, Siegfried' entstand! Damals liebten wir uns und hofften alles für-
einander— es war wirklich eine tiefe L i e b e, ohne Nebengedanken ! "
Doch was lehrten ihn die Proben? Nietzsche mußte nur zu bald er-
kennen, „daß hier das Drama durch die Musik oft nur aufgehalten,
daß die Musik wiederum durch die Erfordernisse des Dramas
oft ihrer eigensten Aufgabe, die Wagner selbst in die Wirkung
auf das Gemüt gesetzt hatte, entfremdet werde. Er fühlte,
daß, wenn das Drama als solches zu vollster Geltung kommen
sollte, die Musik viel bescheidener zurücktreten müsse, und er er-
kannte doch wieder, daß, wo das hier geschah, das Drama erst
recht nicht wirkte, weil man nach musikalischen Wundertaten, wie
dem ersten Akte der , Walküre', auch weiter auf gleiche Wirkungen
rechnete, und wo diese ausblieben, die Gründe dafür nicht im Drama,
sondern im Künstler suchte, das, was dramatische Notwendigkeit
war, nur als künstlerische Schwäche empfand. Mit einem Wort : die
Wirkung des Werkes beruhte auf dem, was darin opernmäßig war^
und wo es nicht opernmäßig war, da wirkte es nicht! Für ihn
konnte es nur zweierlei geben : entweder ein Drama, das durch sich
selbst so gewaltig ergriffe, daß die Musik nur als mithelfendes Aus-
drucksmittel erscheine, oder eine Musik, die in jedem Augenblick
durch ihre Schönheit auch die Schwächen des Dramas verhüllte.
Hier aber glaubte er keines von beiden rein und ganz zu finden
und vor allem — was Wagner gewollt — die Vormachtstellung der
Musik auf der Bühne den anderen Künsten gegenüber zu brechen,
das war ihm nicht gelungen." Diese feinsinnigen Ausführungen
Gustav Ernests sollten auch heute noch jenen Wagnerianern, die den
— 183 —
„Ring** überschätzen, zu denken geben ! Mit Recht bemerkt er, daß
das, was Nietzsche damals empfand, nur das sei, was bis heute
viele Vorurteilslose gegenüber Sem Ringe wirklich empfinden. Da
Nietzsche mit einer bestimmten, überaus hochgespannten Erwartung
dem „Ring" gegenüber getreten war, war die Enttäuschung unaus-
bleiblich. Damit sie nicht eine noch größere, ganz unaustilgbare
werde, floh er. Sehr treffend bemerkte R. Richter, daß wir alle es
nie werden begreifen und nachfühlen können, was Nietzsche in all
diesen Wochen ausgestanden habe; nur der könne dies völhg er-
fassen, dessen persönlichste Leiden und Freuden aus seinem
Verhältnisse zu unpersönlichen Idealen entspringen.
Seine Kritik am „Ring" hat Nietzsche folgendermaßen for-
muliert :
„An unkünstlerische Menschen sich wendend, mit allen Hilfs-
mitteln soll gewirkt werden, nicht auf Kunst Wirkung, sondern
auf Nervenwirkung ganz allgemein ist es abgesehen . . .
Wagner hat kein rechtes Vertrauen zur Musik: er zieht verwandte
Empfindungen heran, um ihr den Charakter des Großen zu geben.
Er stimmt sich selber an andern, er läßt seinen Zuhörern erst
berauschende Getränke geben, um sie glauben zu machen, die
Musik habe sie berauscht . . . seine Seele singt nicht, sie
spricht, aber so wie die höchste Leidenschaft spricht. Natürlich
ist bei ihm der Ton, Rhythmus, Gebärdenfall der Rede; die Musik
ist dagegen nie ganz natürhch, eine Art erlernter Sprache mit
mäßigem Vorrat von Worten und einer anderen Syntax . . . man
höre den zweiten Akt der „Götterdämmerung" ohne Drama: es ist
verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich
deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich reden wollte. Dies
Reden, ohne etwas zu sagen, ist beängstigend: das Drama ist
reine Erlösung. — Ist das ein Lob, daß diese Musik allein un-
erträgUch ist (von einzelnen, absichtlich isoUerten Stellen abgesehen !)
als Ganzes? — Genug! diese Musik ist ohne Drama eine fort-
währende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik :
wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze.
Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine
symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen
Kommentars, welcher die innere freie Phantasie des Ver-
Stehens mit Bann belegt — tyrannisch! Musik ist die Sprache
— 184 —
des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit
läßt, überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklä-
rung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) ein-
gelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat,
dann die Musik-Symbohk herausgesucht und verstanden hat und
ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat — der hat
dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber
es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke — weil zu angreifend,
diese zehnfache Gesamtaufmerksamkeit von Auge, Ohr, Verstand,
Gefühl, höchster Tätigkeit des Aufmerkens, ohne jede produktive
Gegenwirkung! — Dies tun die am wenigsten: woher doch die
Wirkung auf so viele? Weil man intermittiert mit der Auf-
merksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die
Musik, bald auf das Drama, bald auf die Szene allein acht gibt —
also das Werk zerlegt. Damit ist aber über die Ga t tu n g der Stab ge-
brochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat
oder eine willkürHche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung
hat acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebenein-
ander, sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen
Natur gemäß ist . . . die Heftigkeit der erregten Empfindung und
die Länge der Zeitdauer stehen im Widerspruch. Dies ist ein Punkt,
worin der Autor selber keine entscheidende Stimme hat: er hat
sich langsam an sein Werk gewöhnt und es in langer Zeit ge-
schaffen: er kann sich gar nicht auf den Standpunkt des Aufneh-
menden unbefangen versetzen. Schiller machte denselben Fehler
(sc. im ,Don Carlos') . . . Anscheinend Kunst für alle bei Wagner,
weil gröbere und feinere Mittel zugleich. Doch aber an bestimmte
musikalisch-ästhetische Erziehung gebunden, namenthch an morali-
sche Gleichgültigkeit . . . Wagners Nibelungenring sind strengste
Lesedramen, auf die innere Phantasie rechnend, hohes Kunst-
genre ... epische Motive für die innere Phantasie: viele Szenen
wirken viel schwächer in der Versinnlichung (der Riesenwurm und
Wotan) . . . diese wilden Tiere mit Anwandlungen eines sublimierten
Zart- und Tiefsinnes haben nichts mit uns zu tun . . . Wotan,
wütender Ekel: mag die Welt zugrunde gehen. Brünhilde liebt:
mag die Welt zugrunde gehen. Siegfried hebt: was schiert ihn das
Mittel des Betruges (ebenso Wotan). Wie ist mir das alles zuwider . . .
einzelne Töne von einer unglaubwürdigen Natürlichkeit wünsche ich
— 185 —
nie wieder zu hören; ja sie auch nur vergessen zu können . . .
Anwandlung der Schönheit: Rheintöchterszene, gebrochene
Lichter, Farbenüberschwang wie bei der Herbstsonne, Buntheit der
Natur, glühendes Kot, Purpur, melancholisches Gelb und Grün fließen
durcheinander ... am wenigsten stimme ich denen bei, welche mit
Dekorationen, Szene, Maschinerie in Bayreuth unzufrieden waren.
Viel zu viel Fleiß und Erfindung war darauf verwandt, die Phantasie
in Fesseln zu schlagen, bei Stoffen, die ihren epischen Ursprung
nicht verleugnen. Aber der Naturalismus der Gebärde, des
Gesanges, im Vergleich zum Orchester! Was für geschraubte, er-
künstelte, verdorbene Töne, was für eine falsche Natur hörte man
da! . . . mehrere Wege zur Musik stehen noch offen (oder standen
noch offen, ohne Wagners Einfluß): organische Gebilde als Symphonie
mit einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und
dann absolute Musik, welche die Gesetze des organischen Bildens
wiedergewinnt und Wagner nur benützt als Vorbereitung. Oder
Wagner überbieten: dramatische Chormusik, Dithyrambus.
Wirkung des Unisono. Musik aus geschlossenen Räumen ins Gebirge
und Waldgehege . . . Wagner hat den Gang unterbrochen, unheil-
voll, nicht wieder die Bahn zu gewinnen. Mir schwebte eine sich
mit dem Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich
erweiternd. Aber die Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner
anderswohin. Alle nur denkbaren Kunstmittel in der höchsten
Steigerung . . . den Untergang der letzten Kunst erleben wir.
Bayreuth überzeugt mich davon" ^).
1) Das ist ein ungemein scharf-, aber auch feinsinniges Urteil! Denn
weiter ausgesponnen, heißt dieser Gedanke, daß Wagner in seinem Be-
streben, das Musikdrama zu schaffen, die Musik — das Höchste! — einem
ästhetischen Stilprinzip unbedenklich geopfert hat: anstatt der Musik
dramatisches Leben einzuhauchen, hat er, weil er von der dramatischen Idee
nie loskommen konnte, durch seine Musik ein Drama symphonisiert. Und
doch ist diese Musik keine Symphonie im eigentlichen Sinne des Wortes;
denn weil er stets an der dramatischen Grundidee festhielt, entbehrt seine
Musik der Melodie im Sinne Mozarts: das heißt, er wird maßlos, pathetisch,
ausdrucksvoll, seine Melodie wird sozusagen materialisiert. Mit dieser extremen
Forderung an die Vorherrschaft der Musik hat Nietzsche nicht nur die
orthodoxesten Wagnerianer, sondern vor allem Wagner selbst übertrumpft.
Aber angesichts dieser nicht wegzuleugnenden Tatsachen scheint mir
Th. Lessings Frage nicht unberechtigt: „Und ist endlich das, was Nietzsches
fanatische Ausschließlichkeit wider Wagner kehrt, nicht etwa wirklich
— 186 —
In der Tat ist das Wagnersche Kunstwerk aus dem primären
Wesen der Musik hervorgegangen, während Wagner selbst in seiner
Theorie der Musik nur eine sekundäre Rolle zuweist. Deshalb ist es
die vorzügUchste Aufgabe einer objektiven Kritik, zu untersuchen,
wo die Theorie den Künstler überwältigt hat. Man darf nicht ein-
wenden, daß eine solche Kritik überflüssig ist. Niemand Geringerer
als Felix v. Weingartner, also sicher einer der Berufensten, warnte
direkt vor der Phrase, die fortwährend wiedergekäut wird, daß die
Kunst Wagners Religion sei, über die sich nicht streiten
lasse. Es sei das Vorrecht des großen Künstlers, sich der schärfsten
Probe auf seine goldene Echtheit zu unterwerfen — und Weingartner
ist überzeugt, daß Wagner diese Probe bestehen werde. Sein Bild
werde uns, vielleicht sogar mit deutlich erkannten Fehlern, später
einmal wertvoller sein als heute, wo wir es durch den trüge-
rischen Schleier unnahbarer Vollkommenheit anschauen.
Denn wer so oft und so tief in unser Leben eingegriffen habe wie
Wagner, mit dem müßten wir uns auch auseinandersetzen dürfen,
inwieweit er ein Recht gehabt habe, dies zu tun. Wahrlich, mit dem
bloßen Bewundern, dem Geltenlassen dessen, was da ist, wie es
der wunde Punkt einer Kultur, für die ihm Wagner nun einmal vorbildlich
wurde? — Er ergreift an ihm ein bestimmtes Problem, das Problem des
Schauspielers, des Theaters ! Und soweit in Wagner Schauspieler und Theater
stecken, ist er tatsächhch eine Gefahr für echte und schlichte Kunst . . .
alles, was Wagner im ,Judentum in der Musik' an Meyerbeer tadelt, der
Vorwurf des Requisiten- und Kolophoniumzaubers kehrt sich wider ihn
selbst... Kultur der Kulisse, Requisit und Kostüm treue sind Hemmnisse
einer neuen Kunst. Wagner hat beigetragen zu dieser entsetzUchen Barbarei,
die in den Sinnen den Sinn erstickt, und im Bestreben, alles greifbar- sinnfällig
zu machen, die selbstaufbauende Phantasie der Hörer ertötet." Das Aller-
interessanteste aber ist, daß Nietzsche bei Formulierung dieser seiner Kritik
ganz auf aristotelischer Grundlage fußt •— also war er sich schon damals
des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Hellenentum und Wagnertum
voll bewußt! — denn bei Aristoteles heißt es in der Poetik, c. 6: „Das
Trauerspiel ist eine nachahmende Darstellung nicht von Menschen, sondern
von Handlungen und Leben... Es sind aber die Menschen je nach ihren
Charakteren so oder so beschaffen, nach ihren Handlungen jedoch glückselig
oder das Gegenteil davon. So agieren denn die Bühnenflguren nicht, um
Charaktere darzustellen, sondern sie nehmen die Charaktere um der Hand-
lungen willen in den Kauf. Die Begebenheiten und die Fabel sind somit der
Zweck des Trauerspiels... Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung
ist es, daß die angehenden Dichter früher dazu gelangen, in der Diktion und
— 187 —
auch ist, tut man nicht nur einem Kunstwerke, sondern auch einem
Künstler nicht geringeres Unrecht als die Kritiker, die Goethes
, Dilettant und Kritiker" verhöhnt. Kein Künstler ist selbst im Un-
organischen so organisch wie Wagner: wie er selbst in den
„Meistersingern" so schön sagt: „Die Meisterregeln lernt bei Zeiten,
daß sie getreuhch euch geleiten!" hat er sich an dieses Gebot stets
gehalten. Wie unwillkürUch tauchen aus den dramatischen Wogen
seiner Tonfldten die festumrissenen Formen der alten Oper
wieder hervor, ohne die er in seinen eigenen Tonfluten er-
trunken wäre. Diese Formen gleichen Sicherheitsbooten, deren
sich ein Schwimmer, der weite Distanzen durchmißt, von Zeit zu Zeit
versichert. Darum gab Wagner unstreitig dort sein Schönstes und
Bestes, wo er sich der alten Oper wieder näherte: erster Akt
„Siegfried", die Schmiedelieder; „Tristan", zweiter Akt, Duett:
„0 sink' hernieder" etc. etc. Diesen Akten würden Wotans Frage-
spiel mit Mime oder die langatmige ^Psalmodie Markes wohl schwerlich
die Unsterblichkeit gesichert haben. Diese Beispiele könnten noch
unzählig vermehrt werden. Dafür bietet aber kein Werk Wagners
eine solche vollständige Übereinstimmung zwischen seiner Theorie
und Kunst wie der „Parsifal" : den harmonischen Einklang zwischen
Charakteristik etwas Erkleckliches zu leisten als im Bau der Fabel . . . Die
szenische Ausstattung entbehrt zwar nicht des bestrickenden Reizes, doch
ist sie das geistesärmste Element und hat mit der Stilkunst am wenigsten
zu schaffen ; tut doch überhaupt das Trauerspiel auch ohne schauspielerische
Aufführung seine Wirkung, und zudem ist bei der Anfertigung der Bühnen-
requisite die Kunst des Theatermeisters maßgebender als jene des Dichters."
— c. 7: „Das Schöne bedarf nicht nur einer Ordnung seiner Teile, sondern
auch einer gewissen, nicht eben beliebigen Größe. Beruht doch alle Schönheit
auf Größe und Ordnung... Auch die Fabeln müssen eine stattliche, aber
nicht eine der Erinnerung abträgliche Länge besitzen, sonst geht dem Be-
trachtenden ihre Einheit und Ganzheit verloren... Je größer innerhalb der
Grenzen der Übersichtlichkeit die Ausdehnung einer Fabel ist, um so größer
ist auch insoweit ihre Schönheit..." c. 24: „Anfang und Ende muß man
zugleich überschauen können..." c. 18: „Aus dem Trauerspiel darf man nicht
einen eposartigen Bau machen. Unter ,eposartig' verstehe ich den allzu
großen Stoffreichtum..." c. 24: „Im Trauerspiel können nicht mehrere
gleichzeitige Geschehnisse zur Darstellung gelangen, sondern nur eben das,
was jedesmal auf der Bühne durch Schauspieler erfolgt. Im Epos aber er-
möglicht es die erzählende Form, daß man mehrere Teile der Handlung
zugleich verlaufen läßt, wodurch, ihre iimere Verwandtschaft vorausgesetzt
die Wucht des Dichterwerkes erhöht wird."
— 188 —
Gewolltem und Geschaffenem. Niemand hat dies als erster klarer
und deutlicher ausgesprochen als gerade Nietzsche, wiewohl er selbst
die dem Parsifaldrama zugrunde liegende Tendenz auf das ent-
schiedenste bekämpfte. Der Parsifal ist daher nicht das Ende, sondern
der Anfang eines neuen musikdramatischen Stils.
An dieser Stelle möge es mir gestattet sein, Friedrich Hebbels
zu gedenken und seiner Stellungnahme zu Wagners Kunstwerken.
Als Hebbel Wagners Werk: „Oper und Drama" gelesen hatte, re-
ferierte er darüber am 27. April 1852 an den Baron Zigesar, Inten-
danten des Weimarischen Hoftheaters: „Alle Reform vorschlage
Wagners beruhen auf gründlichem Mißverständnis des Dramas.
Welch ein Irrtum, das Drama, welches die Totalität des Menschen
und der Welt in sich aufnehmen und wiedergeben soll, auf die Ge-
fühlsmomente beschränken zu wollen! Das hieße, es zu einer Ka-
stration verdammen, die wahrlich nicht weit mehr vom Selbstmorde
entfernt wäre... die Tragödie müßte auf alles Verzicht leisten,
was den Dichter in Spannung setzt... die Wahrheit ist, daß
die Musik nur die Gefühlsmomente ausdrücken kann; daraus folgt
aber nicht, daß das Drama die übrigen ausscheidet, sondern einzig
und allein, daß jene sich auf sie beschränken soll: Im übrigen bin
ich längst der Überzeugung gewesen, daß zwischen Drama und
Musik eine weit innigere Verbindung möglich ist, als bisher bestand.
Das Drama, wenigstens das höhere, hat immer Momente, wo es
aus Ökonomie sich individualisieren darf und doch auf eine Wirkung
rechnen muß, die durch ein paar allgemeine Linien nur halb erreicht
wird; dort trete jedesmal die Musik ein... als bloßer Sauerteig,
der einmal alles wieder in Gärung bringt, hat Wagner seine Berech-
tigung. Seine Dichtungen sind als Opern texte vortrefflich, wollen sie
aber als Surrogat für Dramen gelten, so sind sie der beste Beweis
für das, was ich sagte." Daher schrieb er dann am 19. Mai weiter:
„Wagners Musik verhält sich zum Text wie das heiße, rollende
Blut zur leeren, ausgespritzten Ader." Über den „Lohengrin" äußerte
sich Hebbel gegenüber der Fürstin v. Wittgenstein: „Der Text ist,
das Verhältnis der Musik im Auge behaltend, gewiß einer der aller-
vortrefflichsten, aber die Aufgabe des Dramas fängt eben da erst
an, wo er aufhört, und zwar im einzelnen, in jedem Vers wie im
ganzen, im Gesamtorganismus." Aber auch Hebbel ward durch
Wagners künstlerische Gewalt überwunden — Nietzsche prägte
- 189 —
dafür das Drastikon, Wagner werfe den stärksten Stier noch um ! —
und lieferte sich der Macht dieser Tonsprache mit offener Seele aus,
bis er bekannte, „daß alle Künste nur verschiedene Anläufe einer
und derselben Urkraft seien" — der Musik!
Aus allen diesen Ausführungen erhellt, daß Wagners Bedeutung
nur auf dem Gebiete der Musik liegt: „Tristan", „Meistersinger^'
und „Parsifal" sind Marksteine seiner Entwicklung ; rein als Dichter-
werk gesehen hat jedoch keines seiner Dramen Bedeutung, so wenig
man die dramatische Begabung Wagners und die Größe auch seiner
dichterischen Intentionen verkennen darf. Und doch ist auch der
„Ring" intuitiv erschaut und keineswegs nach einer philosophischen
Formel geschaffen. Der stärkste Beweis für diese Tatsache ist der
Umstand, daß Wagner erst nach seiner Bekanntschaft mit Schopen-
hauer (1854) erkannte, daß der „Ring", den er selbst bislang nach
Feuerbach optimistisch ausgedeutet hatte, ganz mit Pessimismus
durchtränkt sei. Nietzsche, der große Jasager zum Leben, war zuerst
ganz natürhch für dieses Werk so begeistert, weil seine optimistische
Tendenz ganz im Einklang stand mit seiner Vorliebe für den
Willen zur Macht, als dessen vollendetste Verkörperung ihm Sieg-
fried erschien. Wenn daher Wagner mit einer nicht zu verkennenden
Selbstbefriedigung seine Ringtragödie sich mit der Schopenhauerschen
Philosophie interpretierte, so konnte es ihm Nietzsche natürlich um
so weniger mehr verzeihen, daß der Meister seine eigene Vision,
die er in der „Geburt der Tragödie" und in der „IV. Unzeitgemäßen"
gezeichnet hatte, durch die fratzenhafte Verwirkhchung, wie das
reale Bayreuth sie darstellte, geschändet habe: der Mann, der einen
Siegfried, einen Tristan und die Meistersinger geschaffen hatte, war
zu deren Gegenidealen kondeszendiert und hatte der mächtigen
Pyramide seines Daseins die letzte krönende Spitze für immer ge-
raubt; hatte um des raschen Erfolges bei Lebzeiten willen sein
revolutionäres Werden vorzeitig in einem pseudolegitimen Sein
erstarren lassen. Darum galt die Gestalt Siegfrieds Nietzsche als
der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer unzugänglich,
unnachfühlbar, unnachahmlich: dieser sehr freie Mensch, der in der
Tat bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemut, zu gesund, zu anti-
hatholisch für den Geschmak alter und mürber Kulturen sei. Heute sah
er Wagner nicht mehr durch eine selbstkonstruierte Brille, sondern
er sah die Wirklichkeit und bekannte resigniert: „Man sieht, was
— 190 —
ich verkannte, womit ich Wagner und Schopenhauer beschenkte
— mit mir!" Wiewohl dieser Standpunkt Nietzsches bei der Be-
urteilung der Nibelungentragödie und des Parsifal einer gewissen
Einseitigkeit nicht entbehrt, so ist es dennoch eine irrige, wenn
auch ernster zu nehmende Ansicht, die behauptet, wegen dieser
Meinungsverschiedenheiten hätte Wagner Nietzsche nicht fallen
lassen dürfen. Wer diese Ansicht vertritt, der begeht nur den einzigen
Fehler, seinen eigenen Horizont mit demjenigen großer, apostolisch
veranlagter Männer zu verwechseln; weil ihm eben die Weit-
anschauung keine Herzenssache, nichts Persönhches ist; begreift er
nicht, daß sie für Männer wie Nietzsche oder Wagner das Alier-
herzlichste, das Allerpersönlichste darstellt. Im weiteren Verlaufe
meiner Darstellung werde ich auf diesen Punkt noch ausführlicher
zu sprechen kommen.
Aufzeichnungen aus dem Jahre 1878, die eine Art Rückblick
über die Bayreuther Zeit sind, besagen, daß Nietzsche, weil er mit
einem Ideal nach Bayreuth gekommen war, die bitterste Enttäuschung
erleben mußte: „Mein Fehler war der, daß ich nach Bayreuth mit
einem Ideal kam; so mußte ich denn die bitterste Enttäuschung
erleben^). Die Überfülle des Häßlichen, Verzerrten, Überwürzten
stieß mich heftig zurück ... ich habe hoch über Wagner die
Tragödie mit Musik gesehen — und hoch über Schopenhauer die
Musik in der Tragödie des Daseins gehört." Er hatte Wagner
„überwagnert". Er gelobte sich damals, lieber gar nicht mehr zu
leben, als seine Mahlzeiten wie bisher unter dem Schauspielervolk
und den höheren Kunstreitern des Geistes zu teilen; er fühlte sich
wie unter Zigeunern und Spielleuten, unter lauter Caghostros und
unechten Menschen; er machte sich Vorwürfe, daß er dort gehebt
habe, wo er hätte verachten sollen. Bitter, wie Hohn klingt sein
Geständnis im „Ecce homo": „Was ich in jungen Jahren bei
Wagnerischer Musik gehört habe, hat überhaupt nichts mit Wagner
zu tun. Wenn ich die dionysische Musik ^) beschrieb, beschrieb ich
1) Cf. Goethe (Schweizerreise 1797): „Die Erfahrung ist fast immer
eine Parodie auf die Idee." Dem ist in der Tat so: in seiner „IV. Unzeit-
gemäßen" beschrieb Nietzsche den Meister, wie er ihn haben möchte, nicht
wie er ist!
2) Nietzsche hatte das Leben gesucht, der Lebensbedürftige dionysisches
Leben, das lachend alles Endliche verneinen durfte, weil es des Unendlichen
— 191 —
das, was ich gehört hatte — ich mußte instinktiv alles in den
neuen Geist übersetzen und transfigurieren, den ich in mir trug.**
Und da riß er denn dieses Ideal seiner Jugend mit blutenden Wurzeln
aus seinem Herzen, jagte alle die Träume, die seine Jugend bis
dahin geliebt hatte, von sich und ging unbarmherzig den Weg
der Erkenntnis um jeden Preis weiter. „Was sich damals bei
mir entschied," erzählte er weiter, „war nicht etwa ein Bruch
mit Wagner: ich empfand eine Gesamtabirrung meines
Instinktes, von der der einzige Fehlgriff, heiße er Wagner oder
Baseler Professur, bloß ein Zeichen war." Deshalb schrieb er im
Vollgefühle der gelungenen Selbstbefreiung an Frau Andreas-Salome
(1882): „Ich habe so viel in bezug auf Wagner und seine Kunst
erlebt — es war eine ganze lange Passion. Ich finde kein
anderes Wort dafür. Die hier geforderte Entsagung, das hier endlich
nötig werdende Mich-schön-Wiederfinden gehört zu dem
Härtesten und Melancholischesten in meinem Schicksal." Aus seinem
Tagebuche seien folgende Aufzeichnungen aus dem Jahre 1876
zitiert: „Zuerst hat man in seiner intellektuellen Leidenschaft den
guten Glauben ; aber wenn diese bessere Einsicht sich regt, tritt der
Trotz auf, wir wollen nicht nachgeben. Der Stolz sagt, daß wir
genug Geist haben, um auch unsere Sache zu führen. Der Hoch-
teilhaft war, Lebens Verneinung aus Lebensübermaß, Lebensvernichtung aus
Urlust und Schöpfungslust. Das war die dionysische Gewalt der Musik, daß
sie uns hier, im Endlichen, schon am Unendlichen teilgibt. Wagners Kunst
indes „ist überfliegend und transzendental; sie hat etwas wie Flucht aus
dieser Welt, sie negiert dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht!" In gesunden
Tagen hatte er seine Lebensfülle, seinen Lebenswillen in Wagners Musik
hineingeworfen, er hatte sie über sich selbst hinausgedeutet, er war an
Wagner zum Dichter geworden. War es die Vermischung von Musik und
Drama, von Wille und Erscheinung, vom Unendlichen der Musik und der
Gebundenheit ans Endliche durch Person und Wort, die diese Musik nicht
zu ihrer reinen Wesenheit, zur absoluten Lust befreite, die ihr nicht die
Erlösung im Endlichen, sondern nur vom Endlichen möglich machte ; pessi-
mistisch schwächliche Weltflucht und müde Verneinung? „Mehrere Wege
zur Musik stehen uns noch offen: organische Gebilde als Symphonie mit
einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und dann absolute
Musik, welche die Gesetze des organischen Hildens wiedergewinnt und
Wagner nur benutzt als Vorbereitung? Mir schwebte eine sich mit dem
Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich erweiternd. Aber die
Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner anderswohin." (Cf. Ph. Witkop,
„Die neue deutsche Lyrik", II, p. 364/65.
— 192 —
mut verachtet die Einwendungen wie einen niedrigen, trocken-
herzigen Standpunkt. Die Lüsternheit zählt sich die Freuden im
Genießen noch auf und bezweifelt sehr, daß die bessere Einsicht so
etwas bieten kann. Das Mitleid mit dem Abgott und seinem
schweren Lose kommt hinzu; es verbietet, seine Un Vollkommenheiten
so genau anzusehen: dasselbe und noch mehr tut die Dankbarkeit.
Am meisten die vertrauliche Nähe, die Treue in der Lust des
Gefeierten, die Gemeinsamkeit in Glück und Gefahr. Ach, und sein
Vertrauen auf uns scheucht den Gedanken, daß er unrecht habe,
wie einen Verrat, eine Indiskretion, von uns."
Frau Förster sagt, dieser Bayreuther Festspiele gedenkend
daß sie sich nie werde überreden können, daß Wagner im Innern
von dieser Bayreuther Festzeit wirkUch befriedigt gewesen sei. Er
habe nur so getan! — Wagner sei nicht mehr jung genug und
aufrichtig gewesen, um gegen sich selbst Partei nehmen zu können.
Diese Überzeugung der Frau Förster ist insofern richtig, als tat-
sächlich der pekuniäre und künstlerische Erfolg dieses ersten Fest-
spieljahres weit hinter den gestellten Erwartungen zurückblieb. Es
ist nun klar, daß über so ein Resultat der Meister nichts weniger
als befriedigt sein konnte, daß er mit banger Sorge der nächsten
Zukunft entgegenblickte. Aber diese Tatsache, daß eine der größten
künstlerischen Taten des XIX. Jahrhunderts mit wahrhaft unzu-
reichenden Mitteln vollbracht worden war, gibt keineswegs zu der
Forderung Anlaß und Berechtigung: weil das Streben Wagners etwa
zwecklos gewesen sei '), hätte er als alter Mann seinem Streben ein
anderes Ziel geben sollen, ein Ziel, das sich mit dem Nietzsches
gedeckt hätte. Dazu war Wagner gewiß nicht mehr jung gewesen.
Und wenn er daher, unbeirrt durch Nietzsches ablehnende Haltung,
auf dem einmal betretenen Pfade weiterging, so blieb er sich selbst
treu, genau so treu, wie Nietzsche gegen sich selbst treu war. So
wurden beide das, was sie werden mußten.
Man müßte aber freilich ein schlechter Seelenkenner sein,
wollte man die furchtbare seelische Erschütterung verkennen, die
aus Nietzsches Worten zu uns spricht, daß ihn sein teuerstes Ideal,
seine heißeste Hoffnung so schmählich getrogen hat. War, wie
*) Cf. hiezu die feinsinnigen Ausführungen Höflers (1. c), der diese
ereignisreichen Tage als Augenzeuge mitgemacht hat. Der nunmehr Ver-
ewigte hat mir oft und oft von ihnen erzählt!
— 193 —
schon erwähnt, seine durch die Kriegsstrapazen ohnehin schon stark
angegriffene Gesundheit erschüttert gewesen, so sollten alle diese
schmerzlichen Enttäuschungen und seehschen Kämpfe den Ausbruch
einer Katastrophe nur noch beschleunigen: Bereits Weihnachten 1875
brach Nietzsche zusammen, und Monate dauerte es, bis er sich
wieder erholte. Dann kam der unsehge Sommer des Jahres 1876:
„ein Ekel vor sich selber" überfiel ihn, „sein Ekel an den Menschen
war zu groß geworden", er floh nach Italien, Ruhe wollte er sich
geben und „den Menschen". Jene Ruhe wollte er ihnen wiedergeben,
„ohne welche keine Kultur werden und bestehen kann. Ebenso die
Schlichtheit, Ruhe, Einfachheit und Größe! Auch im Stil ein Abbild
dieses Strebens, als Resultat der konzentriertesten Kraft seines
Strebens". In der ländlichen, friedlichen Stille seines Aufenthaltes in
Italien fand Nietzsche in der Tat die heißersehnte Ruhe wieder, die
Wogen des stürmisch aufgewühlten Gemütes legten sich, und er
faßte einen schweren Entschluß: mochte der Meister immerhin
Pfade betreten haben, auf denen er ihm nicht folgen zu können
glaubte, der Person des von ihm über alles geliebten Mannes wollte
er treu bleiben. Aber da kam auch die Familie Wagner nach Sorrent,
und er und Nietzsche hatten sich nicht mehr viel zu sagen. Rück-
sichtslos schob der alte Mann seinen jungen Freund beiseite, sobald
sich zwischen seinen Interessen und denen Nietzsches eine unüber-
brückbare Kluft auftat. Nur als Werkzeug war ihm Nietzsche will-
kommen gewesen; er durfte nicht seine eigenen Wege gehen, all
sein Sinnen und Trachten sollte ganz der Person des Meisters und
dessen Werk erhalten bleiben, ja Nietzsche sollte zwischen Wagner
und dessen Söhnlein jenes „Glied bilden", dessen der alte Mann
bedurfte, „etwa wie der Sohn zum Enkel". Denn durch sein Söhn-
lein wurde Wagner direkt auf Nietzsche hingewiesen und „ihm die
Sucht eingegeben, alle seine auf Nietzsche gegründeten Hoffnungen
buchstäblich zur Erfüllung getrieben zu sehen, da der Junge diesen
brauche". Dieses Ansinnen ihm gegenüber hat Nietzsche sehr bitter
empfunden, zumal er fühlte, daß zwischen ihm und Wagner schon
längst nicht mehr die anfänghche innige Geistesgemeinschaft bestehe.
Wagner überwachte ängstlich jeden Schritt seines Freundes und
wollte es durchaus nicht gestatten, daß dessen zur Selbständigkeit
erwachter Genius seine Flügel rege. Wir wissen bereits, daß Nietz-
sches „II. Unzeitgemäße" keineswegs Wagners Erwartungen ent-
Grießer, Wagner und Nietzsche, ]^3
— : 194 —
sprechen hatte, während dagegen Nietzsche gelegentlich seines Auf-
enthaltes in Sorrent sich in den Gedanken schon eingelebt hatte,
Wagner seinen eigenen Weg gehen lassen zu müssen, wobei er
freihch die Hoffnung hegte, dali auch Wagner seinerseits ihm dieses
Zugeständnis machen werde, so daß er nichts, was seinen Anschau-
ungen widerstrebte, anzuerkennen und nicht mehr anders zu scheinen
brauchte, als wie er dachte. Vielleicht wäre dies möghch gewesen:
aber Nietzsche verkehrte in Sorrent, wie wir bereits wissen, mit
Paul Ree, der Wagner höchst unsympathisch war; durch diesen
wurde Nietzsche mit den englischen Positivisten bekannt und lernte
er von ihm, seine skeptische Kritik auf der historischen Psychologie
zu begründen. Auch wurde Nietzsche durch R6e in seiner unter
Langes Einfluß stehenden prinzipiellen Ablehnung der Metaphysik
nur noch bestärkt. So mußte Wagner immer mehr in der Hoffnung
enttäuscht werden, in Nietzsche einen aufrichtigen Verehrer seiner
Person und gläubigen Vertreter seiner Denkrichtung zu haben. Und
dennoch! Diesen Mann wollte Wagner auf seine Schwenkung zum
Christentum vorbereiten, ja, er hat es getan. Denn des Meisters
Ziele hatten sich vom Leben immer mehr abgewandt, die Nietzsches
dem Leben dagegen immer mehr zugewandt. Wagner war der
Meinung, daß sich die tiefsten Wahrheiten nur in der Kunst, der
Metaphysik, der Religion entschleiern; Nietzsche hielt zunehmend
das von künstlerischen, metaphysischen, religiösen Vorurteilen
gereinigte wissenschafthche Denken für das Vehikel der Wahrheit.
Wagner geriet zunehmend in den Mystizismus, Nietzsche in den
Positivismus. Deshalb mögen die damals zwischen beiden Männern
geführten Gespräche dem äußerlichen Anscheine nach die Formen
der Höflichkeit getragen haben, innerlich jedoch mußten sie erkennen
lassen, daß beide kein geistiges gemeinsames Band mehr vereinte.
Im „Zarathustra" findet sich folgende schöne Sentenz, die wohl im
Hinblick auf den damaligen Verkehr Nietzsches mit Wagner geprägt
worden sein mag: „Wie lieblich ist es, daß Worte und Töne da
sind; sind nicht Worte und Töne Regenbogen und schöne Brücken
zwischen ewig Geschiedenem?" Die untrügliche Überzeugung, daß
Nietzsche seinen Ideengang nicht mehr teile und nie mehr teilen
werde, brachten dem Meister die beiden Aphorismensammlungen:
„Menschhches, Allzumenschliches", in denen Nietzsche sein einstiges
Ideal nunmehr offen angriff.
— 195 —
Professor Richter nennt diese stürmisch bewegte Zeit im Leben
Nietzsches den dritten Akt seiner Freundschaftstragödie mit Wagner :
Seine innere Freiheit hat er sich mit äußerer Gebrochenheit erkauft,
als er aus Bayreuth floh. „Die Freundschaft, die der philosophische
Segen einst geschlossen, sie hob der philosophische Fluch nun
wieder auf." Diese Lösung Nietzsches von Bayreuth mußte so kommen,
wie sie tatsächlich gekommen ist, nicht etwa im Sinne des Kausal-
gesetzes, sondern im Sinne einer höheren Zwangsrichtung, die durch
keine niedere aufzuhalten ist. Bei beiden Genies herrschte der Trieb vor:
die Wahrheit zu erkennen, sie zu gestalten, sie zu leben. Es
begegnet uns hier dieselbe Tragödie, von der die Geschichte oft
Kunde gibt, nämlich daß große und starke Persönhchkeiten allein
ihres Weges gehen und nur außerordentlich selten Schüler von
gleicher Bedeutung heranzuziehen oder in ihrem Bannkreis zu er-
halten vermochten; und wenn andere Heroen ihre Wege kreuzten,
waren die abstoßenden Wirkungen größer als die anziehenden. So
war es im alten China zwischen Konfuzius und Laotse, so spalteten
sich die Triumvirate der ausgehenden römischen Republik. Aus der
neuesten Zeit könnte man sich an das Verhältnis von Schleiermacher
und Hegel erinnern. Wo aber ein Bündnis hielt, wie zwischen
Luther und Melanchthon, da ging es auch nicht ohne Konflikte ab^
die nur durch eine außerordentliche sittliche Selbstzucht und durch
die stärkste sachliche Einheit in letzten Fragen überwunden wurden.
Die sachliche Einheit zwischen Wagner und Nietzsche begann in
dem Augenblicke zu schwinden, als Nietzsche ihre gemeinsame
Grundlage — Schopenhauer — auszuschalten begann und sich zu
einem internationalen Denker und zum „Antichristen" entwickelte,
während Wagner immer mehr nationalen und rehgiösen Tendenzen
huldigte: „Was ich Wagner nie vergessen habe..., daß er reichs-
deutsch wurde!"... „Der Dienst der Wahrheit ist der
härteste Dienst, und was heißt denn rechtschaffen sein
in geistigen Dingen? Daß man streng gegen sein Herz
ist, daß man die schönen Gefühle verachtet, daß man
aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht!" Diese stolzen
Worte konnte und durfte allerdings nur ein Nietzsche aus tiefster
Seele heraus bekennen! Wohl im Hinblick auf diese Worte konnte
Hugo Dinger in seiner „Dramaturgie als Wissenschaft", I, p. 38,
sagen: „Der einzige ernste und gefährliche Wagnerianer
13*
— 196 —
ist Nietzsche; warum? Weil er Wagner bis ins Mark verstanden
hat; er griff dessen Werke in deren Inhalt an, nicht mit will-
kürlicher Normkritik. " Daher war die Freundschaft nur eine
Äußerung dieses Triebes, der Freund nur Kampfgenosse für die
gleichen Ideale. Zählen wir dazu noch den großen Altersunterschied,
von dem Nietzsche in einem Briefe spricht, so kommen wir zu
demselben Resultat : der eine befand sich in seiner Sturm und Drang-
Periode, der andere am Ende seiner Bahn, neuer Wandlungen nicht
mehr fähig. Und hatte Nietzsche nicht das tiefe Wort geprägt, das
fast von allen seinen Freundschaften gelten kann;
Da seid ihr, Freunde! — Weh, doch ich bin's nicht,
Zu dem ihr wolltet?
Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?
Ihr wendet euch? — 0 Herz, du trugst genung,
Stark blieb dein Hoffen:
Halt neuen Freunden deine Türen offen I
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«
Angesichts dieser Unabwendbarkeit kann man wohl kaum von
einer Schuld sprechen; man müßte dann auch ein Kind schelten,
daß es aus seiner Unbefangenheit herauswächst, einen Jüngling,
daß er seinen naiven Überschwang verhert. Einzig und allein nur
von einer tragischen Schuld kann und darf die Rede sein. Des-
halb trifft auch Wagner an dieser Trennung keine Schuld, außer
gleichfalls nur eine tragische! Genau so wie Nietzsche nur „ Welt-
anschauungsbrüder" als Freunde duldete, hat dies auch Wagner
getan. Und daraus folgt, daß man die Entwicklung, den Höhepunkt
und das Ende dieser Freundschaft stets nur doppelseitig be-
trachten muß.
Man hat vielfach die Frage aufgeworfen, welcher Umstand
wohl Nietzsche bewogen haben mag, bereits im „Menschlichen"
Wagner offen anzugreifen, wiewohl es doch noch nicht zu einem
tatsächlichen Bruche der Beziehungen gekommen war. Niemand
anderer als Henri Lichtenberger hat diese Frage so klar und ein-
deutig beantwortet, wenn er sagt: „Nietzsche war durchaus kon-
sequent, als er Wagner mit ebensoviel Energie angriff, als er ihn
bewundert hatte. Er hat seiner intellektuellen Aufrichtigkeit das
größte Opfer gebracht, das man sich denken kann. Er hat ihm nicht
ohne Schmerz, aber ohne Schwäche eine der stärksten Neigungen
— 197 —
geopfert; die er kannte. Sein Benehmen ist nicht allein unangreifbar,
sondern sogar sehr schön, wenn das einzige Ziel des menschlichen
Lebens die Entwicklung der genialen Persönlichkeit ist, und wenn,
wie Nietzsche sagt, die Unpersönlichkeit keinen Wert im Himmel
und auf Erden hat."
C. Fr. Glasenapp, der offizielle und offiziöse Wagnerbiograph,
bespricht in seinem grundlegenden Werke natürhch auch des Meisters
Verhältnis zu Nietzsche und erkennt ganz richtig an, daß Nietzsches
„tiefernster, dichterisch-philosophischer Geist und der lebhafte Drang,
als öffenthcher Zeuge für die weltgeschichtlich reformatorische
Bedeutung von Wagners Schaffen einzutreten, ihn vorzeitig zu der
kühnen Kombination jener seiner poetisch-philosophischen Intuitionen,
mit seinem Bedürfnis einer bedeutungsvollen Huldigung, eines öffent-
lichen Bekenntnisses seiner Zugehörigkeit zu dem Meister hingerissen
haben, als deren Dokument die , Geburt der Tragödie' vor uns
liege, eine in ihrer Schönheit berauschende Schrift". Da muß man
aber denn doch entgegnen, daß dieses Werk mehr ist als eine
„bedeutungsvolle Huldigung" und eine durch „ihre Schönheit be-
rauschende Schrift" : es ist die geistvollste, philologisch-philosophische
Interpretation des Wagnerschen Gedankens, von Nietzsche teuer
genug bezahlt. Nicht mit Unrecht behauptete er selbst später von
dieser Schrift, sie sei „aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen
Selbsterlebnissen"; das kann nur gesagt sein mit Rücksicht auf seine
damahge Stellung zum Hellenentum und zu Wagner, aus dem er
sich, wie gezeigt worden ist, ein Idealbild geschaffen hatte. Tief
bedauerlich ist nur das eine, daß unsere heutigen Wagnerianer diese
schöne Schrift nur vom Hörensagen kennen, wie ihnen auch Wagners
theoretische Schriften meistens völhg unbekannt sind. Dieses Urteil
Glasenapps über die „Geburt der Tragödie" mag als entschuldbarer
Irrtum gelten. Unverzeihlich jedoch ist es, daß von Glasenapp, aller-
dings noch in fast schamhaft verhüllter Art und Weise, die Ver-
mutung ausgesprochen wurde, Nietzsche müsse zur Zeit seines Ab-
falles von Wagner schon geistig krank gewesen sein! Eine Ver-
mutung, die nachher von gewissenlosen Wagneraposteln in der
schamlosesten Weise zu einer Tatsache erhärtet worden ist. Offen-
bar nur mit Bezugnahme auf Briefe Wagners an Nietzsche und
Overbeck aus der Tribschener Zeit, worin jener seinen Befürch-
tungen wegen einer seelischen Erkrankung des Freundes Ausdruck
— 198 —
gab, erklärt Glasenapp: „Wer konnte verkennen, daß es sich um
einen nicht mehr gesunden, sondern um einen kranken Mann
handelt, der in seiner reizbaren Empfindlichkeit alles vertrug, nur
keine Erziehung und keine leiseste Ausstellung an der subjektiven
Willkür seiner Vorstellungen und Meinungen." So schrieb nämlich
Wagner an Overbeck: „Sehr auffällige Veränderungen sind mit
Nietzsche vorgegangen; v^er ihn jedoch schon vor Jahren in seinen
psychischen Krämpfen beobachtete, dürfte sich fast nur sagen, daß
eine längst befürchtete Katastrophe nicht ganz unerwartet bei ihm
eingetreten ist", deren Folge natürlich der Abfall von Wagner und
die Aphorismensammlung „Menschhches, Allzumenschliches" v^ar.
Ferner soll Wagner immer das Gefühl gehabt haben, als werde
Nietzsche im Verkehre mit ihm von einem geistigen Lebenskrampfe
beherrscht, der so stark gewesen sei, daß er seine eigenen Ideale
mit denen Wagners vereinigt habe, und habe es den Meister wunder-
bar bedünkt, daß dieser Krampf in Nietzsche ein so seelenvoll
leuchtendes und wärmendes Feuer habe erzeugen können, wie es
sich aus ihm zum Staunen aller, die ihn kannten, kundgetan habe.
Aber merkwürdig, trotz alledem und des wahrhaften Entsetzens,
mit dem Wagner sah, wie stark und endhch unerträglich jener
Krampf Nietzsche bedrückte, war ihm dieser selbe Nietzsche, weil
er Wagners Ideal liebte, zu dem seinen gemacht hatte und ver-
teidigte, so wertvoll, daß er in seinem Denken und Fühlen gleich nach
Cosima rangierte ! Wenn wir Herrn Glasenapp glauben, muß Nietzsche
damals aber auch ein Musterknabe gewesen sein, der gleich den
anderen Verehrern des Meisters sich um diesen drängte, ihm jedes
Wort vom Munde ablauschte und als eine Offenbarung hinnahm, an
deren Glaubwürdigkeit nicht gerüttelt werden darf. Denn er schreibt
wohl mit Zugrundelegung des Widmungsbriefes, mit dem Nietzsche
seine „Geburt der Tragödie" an Wagner gesandt hatte, daß Nietzsche
in seinen ersten Schriften noch von den Zinsen des ihm vom Meister
anvertrauten kostbaren Kapitals gelebt habe, um es dann freilich
mit dem Aphorismenbuche anzugreifen und in zwei großen Zügen
völhg aufzuzehren: „Während er der Reichste zu sein schien, der
Befähigteste im Dienste eines großen deutschen Genius, war er
innerUch verarmt und leer; er hatte sich der erneuten Anregung
in ängsthcher Scheu geflissentlich entzogen und war danach aus
einem , Wagnerschriftsteller' im besten Sinne und Mitwirkenden
— 199 ~
an einer schöpferischen Kulturtat ein hohler Schall und ein hoch-
trabendes leeres Nichts, mit einem Wort ein — ,Nietzsche-
schriftste 11 er' geworden, der von jetzt ab anstatt der höchsten
die minderwertigsten Einflüsse auf sich wirken ließ, deren Nichtig-
keit er selber durchschaute." Das heißt mit anderen Worten:
Nietzsche „bedeutete etwas", solange er Wagners unbedingter An-
hänger war. Man ist bei einer solchen Behauptung wirklich im
Zweifel, wen man mehr bewundern soll, diesen Wagner-Nietzsche
oder den kindlich-naiven Glasenapp? Treffend bemerkt Julius Kapp,
daß Glasenapp mit „solcher tiefgründiger Untersuchung" und ähn-
lichen Kedensarten diese wohl zu den ergreifendsten zählende Freund-
schaftstragödie abtut. Dagegen berichtet er mit größter „Gewissen-
haftigkeit", daß Wagner einmal von einem gewissen Herrn Nettke,
Wien, Nibelungenstraße 10 (sogar Straße und Hausnummer sind
nicht vergessen!), eine Sendung ausgewählter Havannazigarren zu-
teil wurde. Nun liegt Nietzsches Bedeutung für das deutsche Kultur-
leben zum Glück in seiner Bedeutung als Philosoph mit einem ganz
neuen Raisonnement, aber nicht in seiner problematischen Stellung
zu Richard Wagner und dessen Kunstwerken. Jeder Nietzschekenner
wird gern zugestehen, daß die unter dem Einflüsse Wagners ge-
schriebenen Werke, ausgenommen die „II. Unzeitgemäße'*, nicht
viel Neues, Originales enthalten : sie sind im großen und ganzen nur
geschickte Verarbeitungen eines bereits vorhandenen Materials und
zeugen von Nietzsches glänzender Darstellungskraft. So urteilt auch
Höfler (1. c), daß „jeder Gedanke" in Nietzsches fünf Erstlingswerken
„schon längst von Schopenhauer und Wagner vorgedacht gewesen war".
Schließlich tadelt Glasenapp, daß der kaum dreißigjährige Nietzsche
den um fast dreißig Jahre älteren Wagner seinen „Freund" genannt
habe und beruft sich dabei auf Hans Richter, der sich über das
Unsinnige und Unberechtigte dieses Freundestitels sehr mißfällig
geäußert habe. Hatte nicht der Meister selbst Nietzsche als seinen
besten Freund bezeichnet, der für ihn gleich nach Cosima rangiere?
Gewiß: Nietzsche erträumte sich eine für ihn ersprießliche Kultur-
bewegung: mitberufen, an derselben unter den ersten mitzukämpfen
und mitzuarbeiten. Aber er wollte auch gegenüber Wagner dessen
intimer Freund sein, und das wurde ihm von den Wagnerianern
als „dämonische Selbstüberhebung" ausgelegt — leider auch heute
noch! —, denn hier hieß es nicht Meister und Freund, sondern
— 200 —
Meister und Jünger. Über diese Enttäuschung schreibt er selbst:
„Es liegt jetzt noch wenig daran, daß man wisse, was ich eigent-
Uch von Wagner wollte, obwohl der Leser meiner „Geburt der
Tragödie" darüber nicht im Zweifel sein sollte; ja daß ich durch
ein Verlangen dieser Art aufs gründlichste bewiesen habe, wie
sehr ich mich über ihn und sein Vermögen im Irrtum befand ; genug,
daß mein Irrtum, eingerechnet den Glauben an eine gemeinsame und
zusammengehörige Bestimmung, weder ihm noch mir zur Unehre
gereicht." Auch diese gewissenhaft rapportierte Tatsache ist für die
Lösung dieser Freundschaftstragödie völlig irrelevant. Sie mag ledig-
lich für den „BildungsphiUster" von Interesse sein! Mit dem „Freunde"
Nietzsche teilte Wagner wohl kaum eine Eigenschaft! Nietzsche,
der „Freund", war ein Mensch, der mehr auf den Verkehr mit
Geistern eingestellt war als auf den mit Menschen, ja der eigent-
lich am Menschen alles Nichtgeistige als störend empfand, wozu
dann seine äußerst geringe Sinnlichkeit stimmt. Gegen Menschen
als nur vorübergehende Erscheinungen anspruchslos, ist er anspruchs-
voll nur gegen Menschen, denen er wirklich näher tritt. Ihr Geist
muß stark, ihr Wille rein sein. Nichts verabscheut er so sehr wie
die Unwahrheit. Viel wichtiger erscheint mir jedoch das Problem
Nietzsche als „Wagnerschriftsteller" und „Nietzscheschriftsteller" !
Wäre es besser gewesen, wenn Nietzsche, anstatt „aus wahrhaft
dämonischer Selbstüberhebung" am Meister und dessen Werken
Kritik zu üben, diesem in hingebender Liebe jedes von ihm ge-
sprochene Wort ohne Überlegung hätte nachbeten sollen, um sich
Wagners „wahrhaft väterliches Wohlwollen" ungeschmälert zu er-
halten ? Könnte man nicht viel eher behaupten, daß Nietzsche gerade
dadurch, daß er so lange unter Wagners Einfluß stand, eigentüch
verhältnismäßig ziemlich spät und nur auf einem Umwege den Weg
zu sich selbst wieder gefunden hat^)? Bei Beantwortung dieser
Frage könnte man sich fast versucht fühlen, zu sagen, daß Nietzsche
beinahe zu lange unter Wagners Einfluß stand, denn nach Paul
Friedrich habe er es nie mehr vermocht, sich von ihm zu befreien,
ganz abgesehen von jenem „falschen Blechtrompetenton", der trotz
„all seiner mimosenhaften Feinheit in seinen Schriften oft unan-
*) Im Zarathustra findet sich der äußerst bezeichnende Ausspruch:
„Man vergilt seinem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler
bleibt."
— 201 —
genehm laut und schrill gellt •* — als einem Erbstücke Wagners;
in so ziemlich alle die Fehler, die er an Wagner tadelte, sei er
später selbst gefallen^). Diese Wahrnehmung mag schheßlich die
Fabel veranlaßt haben, daß auch der von Wagner bereits abgefallene
Nietzsche gelegentlich noch Wagners Gedanken für seine Zwecke
verarbeitet habe. So erzählt Glasenapp, der russische Maler Paul
von Joukowsky, den Wagner in Neapel kennen gelernt hat, und
dem er den Dekorations- und Kostümentwurf zum „Parsifal" anver-
traute, nachdem Böckhn diese Arbeit abgelehnt hatte, sei geradezu
überzeugt gewesen, daß Nietzsche der Begriff des Übermenschen
einzig und allein durch seinen Umgang mit Wagner lebendig
geworden sei. Wenn auch dem allein schon die Tatsache entgegen-
zuhalten ist, daß dies gerade der spätere Nietzsche, nur umgekehrt,
wäre, weil der Nietzschesche Übermensch total antiwagnerisch ist,
so enthält diese Behauptung doch ein Körnchen Wahrheit: der
Helden- und Geniebegriff Nietzsches geht letzten Endes auf Schopen-
hauer und Wagner zurück, wurde dann aber immer mehr um-
gebildet, bis er im „Zarathustra" schließlich das Ideal einer neuen
Zukunft wurde ^). In diesem Sinne konnte daher Nietzsche über die
„ni. und IV. Unzeitgemäße" im „Ecce homo" sagen: „Im Grunde
wollte ich mit diesen Schriften... ein Problem der Erziehung
ohnegleichen; ein neuer Begriff der Selbstzucht, Selbstverteidigung
bis zur Härte, ein Weg zur Größe und zu welthistorischen Aufgaben
verlangte nach seinem ersten Ausdruck." Und jetzt erst entfaltete
Nietzsche alle die reichen Kräfte seines geistigen Könnens, die so
lange einer Sache dienen mußten, mit der ihn nur ein selbst-
konstruiertes Band ideeller Zusammengehörigkeit verband, jetzt erst
wurde er ein „Nietzscheschriftsteller" im vollsten Sinne des Wortes.
Denn — sind wir nur ganz ehrlich I — der Wagner, den Nietzsche
verehrte, war ein von diesem selbst stihsierter Wagner. Malwida
von Meysenbugs Worte: „Ich glaube, man kann die meisten Menschen
1) Was daher Nietzsche von Wagners Musik sagte: „Er ist immer auf
den extremsten Ausdruck bedacht", das trifft vielfach auf seine eigenen
Schriften zu.
2) Joukowsky hat ja in gewissem Sinne recht. So sagt auch Höfler
(1. c), daß Nietzsches „Kultus des Genies die Fortsetzung des Kultus seiner
beiden Erzieher", Schopenhauer und Wagner, „war: sein Übermensch eine
Reprise des schonungslosen Jung- Siegfried (nur daß ihm die Züge der Liebens-
würdigkeit abgestreift sind)!"
—■ 202 —
nur richtig beurteilen, wenn man sie ganz in ihrer Sphäre gesehen^
sich auf ihren Standpunkt gestellt, die Welt gleichsam durch ihre
Augen angeschaut und sein eigenes Fühlen und Denken ganz aus
^ dem Spiele gelassen hat", sind nur allzu wahr; Nietzsche hatte sich
eben selbst noch nicht gefunden und glaubte, sich in Wagner ge-
funden zu haben. Wagner tat das Umgekehrte! Ist es nicht tiefste
Tragik, daß sich an Nietzsche genau das erfüllte, was er seinen
Zarathustra verkünden läßt: „Ihr verehret mich; aber wie, wenn
eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht
eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber,
was hegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber, was
hegt an allen Gläubigen? Ihr habt euch noch nicht gesucht, da
fandet ihr mich... Nun aber heiße ich euch mich verlieren
und euch finden! Und erst wenn ihr mich alle verleugnet habt,
will ich euch wiederkehren!" Das darf uns aber nicht wundernehmen,
daß Nietzsche seine Ideen in Wagners Ideen wiedergefunden zu
haben wähnte: ähnlich erging es bekanntlich Lessing mit Shake-
speare: er wollte irgendwo des Aristoteles Kunstgesetze finden und
fand sie in — Shakespeare! Geradeso wollte Nietzsche in Wagner
die Kunstvollendung der Hellenen erblicken. Sein scharfes Auge
hatte zwar alle Schwächen Wagners klar erschaut — es waren im
Grunde vielfach Nietzsches eigene Schwächen — und doch ist er
mit einer Inbrunst an dem um ein Menschenalter älteren Meister
gehangen, wie eben der Jüngling an seinem Ideal hängt, aus d^m
er, um es anbeten zu können, jeden allzu irdisch erscheinen könnenden
Zug ängstlich verbannt. Wagner wollte den deutschen Geist durch
die Kunst erneuern und umbilden. Diesen Ehrgeiz in seiner höchsten
Potenz hat Nietzsche übernommen und durch seine Sehnsucht, zu
schaffen, sein Siegel auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs,
in sich fast bis zu einer pathologischen Wahnvorstellung gesteigert.
Daß er in der ersten Zeit seiner Bekanntschaft mit Wagner sich
dessen und Schopenhauers Weltanschauung zu eigen gemacht hatte,
ist nur ein Beweis, wie sehr diese seiner ganzen Natur entgegen-
kam, wie sehr sich in ihr aussprach, was in ihm schlummerte. Von
dem Augenblicke an jedoch, da Nietzsche zu eigenem, selbständigem
Denken erwacht war, mußte er erkennen, daß dieser ideelle Wagner,
wie er sich ihn vorgestellt hatte, unmöglich das werden könne, was
er sich von ihm versprochen hatte: und so nährte er zunächst lange
— 203 —
die Hoffnung in seinem Herzen, daß sich Wagner dennoch mit ihm
weiterentwickeln könne, und zwar in der Richtung seiner eigenen
Ansichten. Aber nur in Tribschen wäre ein solcher Einfluß möglich
und ist damals auch tatsächhch vorhanden gewesen, wie man aus
den damaligen Schriften Wagners deutlich erkennen kann. Frau
Förster ist daher geradezu der Ansicht, daß Wagner, seine Kunst
und Hinneigung zu nordischen Mythen zu Nietzsches Hauptansichten,
wie sie sich allmählich entwickelten, recht gut gepaßt hätte; nur
sei Wagner wohl schon zu alt gewesen, um sich Neues zu eigen
zu machen und gegen seine früheren Ansichten Partei zu nehmen.
Ja, sie geht so weit, daß sie behauptet, Nietzsche habe in der Tat
manchmal angenommen, daß Wagner im innersten Herzen seinen
neuen Ideen geneigt wäre und seine kritischen Bemerkungen be-
rechtigt fände; so habe sich Nietzsche einmal geäußert: „Dies alles
hat sich Wagner oft genug in heimhchem Zwiegespräch eingestanden,
ich wollte, er täte es öffenthch ; denn worin besteht die Größe eines
Charakters als darin, daß er zugunsten der Wahrheit imstande ist,
auch gegen sich selbst Partei zu nehmen." Als einst Frau Förster
zu ihm sagte: „Ach, ich wollte, Wagner wäre zwanzig Jahre jünger
gewesen, als du ihn kennen lerntest; ich glaube, du hättest ihn zu
deinen Ideen bekehrt", gab Nietzsche zur Antwort: „Was du da
sagst, habe ich früher auch geglaubt und gehofft; aber dann
kam der ,Parsifal' und zerstörte jede Hoffnung, ja jede Möglichkeit.
Inzwischen habe ich eingesehen, daß dieser Glaube ein Irrtum war,
unser innerstes Wesen war zu verschieden, das mußte uns früher
oder später trennen." Ganz richtig weist Nietzsche mit diesen Worten
auf einen Fundamentalunterschied zwischen ihm und Wagner hin,
dessen wir bereits früher Erwähnung taten: es waren die verschie-
denen Denkrichtungen. Dazu gesellte sich, wie Frau Förster betonte,
der enorme Altersunterschied : ja, wären beide gleichalterig gewesen,
vielleicht hätte dann Nietzsche den Meister zu seiner Weltanschauung
bekehren können oder umgekehrt. Doch mit solchen auf irrealen
Bedingungen sich aufbauenden Hypothesen kommt man der Wahr-
heit des Falles Wagner-Nietzsche absolut nicht näher.
Ebensowenig mit dem Hinweis auf den Freundschaftsbund
Goethes mit Schiller ! Von vielen Seiten wurde Wagners Freundschaft
mit Nietzsche mit der Goethes und Schillers verglichen und hat
man aus dieser Tatsache folgendes abzuleiten versucht: Wenn zwei^
— 204 —
60 große Genies treu zueinander hielten, wiewohl nach Schillers
eigenem Geständnis Goethe ihm „an Lebenserfahrung und Selbst-
entwicklung weit voraus und ihre Vorstellungsarten wesentlich ver-
schieden waren", wiewohl Chr. Gottfried Körner an Schiller ge-
schrieben hatte: „Freundschaft erwarte ich nicht, aber gegenseitige
Reibung und dadurch Interesse füreinander" — , um wieviel größer
wäre dann die Verpflichtung Nietzsches, der damals noch „gar nichts
bedeutete", gewesen, treu zu Wagner zu halten, der zu der Zeit,
als er mit Nietzsche bekannt wurde, in Deutschland eine bereits
anerkannte Größe war und nur mehr noch nach Mitteln und Wegen
fahndete, sein Lebenswerk durch die Schaffung des Festspielhauses
in Bayreuth zu krönen? Nun geben wir gerne zu, daß jener viel-
gerühmte Freundschaftsbund Goethes mit Schiller ganz einzigartig
dasteht und, recht verstanden, einen Höhepunkt der Entwicklungs-
geschichte der deutschen Literatur darstellt. Das Verhältnis, in dem
diese beiden Geistesheroen zueinander standen, war ein gegenseitiges
Nehmen und Geben, Fördern, Anregen und Austauschen, ein gemein-
sames Weiterbilden und Weiterkämpfen, wobei ganz naturgemäß
bald der eine, bald der andere der Aktivere war. So ist Schiller
trotz des von Goethe ausgehenden griechisch-römischen Klassizismus
auf dem Umwege über die von ihm abgelehnte Romantik („Jungfrau
von Orleans") der deutsche und nationale Dichter in des Wortes
wahrstem Sinne geworden und hat mit seinem „Teil" sein Bestes
gegeben, als ihn der Tod überraschte. Goethe wiederum kam durch
seinen Verkehr mit Schiller aus seiner geistigen Vereinsamung
heraus und wurde aus dem vermeintlichen Griechen wieder der
deutsche Dichter, der moderne Künstler, der uns „Hermann und
Dorothea" schenkte ; und als Schiller starb, war das für Goethe, als
ob eine Stütze bräche: ihm fehlte der Freund, der ihm bisher
^tausendfach Ideen" gegeben hatte, er wurde alt! Wie jeder Ver-
gleich hinkt natürUch auch dieser. So vergißt man bei diesem Hin-
weis oder dieser Gegenüberstellung, daß die organischen Bedingungen,
aus denen sich Goethe und Schiller entwickelt hatten und neben-
einander groß wurden, ganz andere waren, als sie etwa Wagner
zur Zeit seines Auftretens vorfand und Nietzsche mit ihm bekannt
wurde. Wer war damals Richard Wagner? Ich habe diese Frage
bereits beantwortet: nicht im entferntesten war er jene „Kultur-
gewalt", als welche er heute noch das Leben der Gegenwart
— 205 —
beherrscht. Er war noch ein Werdender, ein Mann, der sich erst
durchsetzen mußte! Daher ist es grundfalsch, wenn als Kriterium
für die Beurteilung der Freundschaft Nietzsches mit Wagner Wagners
heutige Bedeutung im Kulturleben des deutschen Volkes heran-
gezogen wird. Und zweitens vergißt man in diesem glorreichen Zeit-
alter des extremsten Individualismus ganz die individuellen Ver-
schiedenheiten der Genien Wagners und Nietzsches, Goethes und
Schillers. Gewiß liefen eine Zeitlang Nietzsches Anschauungen und
Bestrebungen mit denen Wagners parallel. Aber erst als in Nietzsche
sich die Ahnung zur bitteren Wahrheit verdichtete, daß es ihm von
Wagner verübelt wurde, daß er mit seinen drei „Unzeitgemäßen"
eigene Wege zu wandeln sich erlaubte, daß er aus einem „Wagner-
schriftsteller" ein „Nietzscheschriftsteller" zu werden begann, als
ihn der Meister in Sorrent rücksichtslos beiseite schob — wer darf
empfinden und sich unterwinden, das Ringen um geistige Selbständig-
keit Nietzsche allein zum unverzeihlichen Vorwurfe zu machen?
Goethe ist immer Goethe geblieben, Schiller immer Schiller! Und
daß Nietzsche immer Nietzsche geblieben ist, trotz seiner Freund-
schaft mit Wagner — das kann man selbst heute dem Toten noch
immer nicht verzeihen? Einen „ersten und zweiten" Nietzsche gibt
es wohl nur mit Beziehung auf seine Stellung zu Wagner, erschaut
unter einem ganz falschen Gesichtswinkel!
Paul Friedrich vermerkt es als eine für Nietzsche charak-
teristische Tatsache, wie er, durch den Bruch mit Wagner aus allen
seinen Fugen geschleudert, zunächst tastete, um sich irgendwo
Boden unter den Füßen zu schaffen, und Paul R6e zujubelte. Tat
er dies deshalb, weil er meinte, auf dem Gebiete der von jenem
vertretenen Moralpsychologie biete sich die beste Gelegenheit, auch
seinerseits etwas Großes zu schaffen, um es neben Wagners
Leistungen als etwas Gleichwertiges zu stellen ? Sollte wirklich nur
der Neid, gegen den er sich nach Stekels Annahme anfänglich durch
seine grenzenlose Liebe schützte, die letzte und innerste Ursache
dieses Freundschaftsbündnisses und -bruches gewesen sein? Zur
Bekräftigung des in diesen Fragen ausgesprochenen Gedankens weist
Friedrich darauf hin, wie Nietzsche in der Zeit nach dem denk-
würdigen Sommer des Jahres 1876 mit Aufbietung einer fabelhaften
Dialektik alle einstigen Ideale, ja überhaupt alle Menschheitsideale
rücksichtslos zerfasert und zergliedert und als bloße Irrtümer erweist,
— 206 —
bis er schauernd erkennt, in diesem erbarmungslosen Zerreißen seiner
Ideale könne unmöglich der positive Gewinn seiner Lebensarbeit
liegen, bis er an sich selbst erkannte und fühlte, daß diese Art der
Befreiung von Wagner nur eine andere Form der Entsagung sei.
Deshalb habe ihn die Sehnsucht nach dem „versunkenen Freunde''
immer stärker und stärker gepackt, bis es ihm nach einigen ver-
geblichen Versuchen gelang, aus seinem eigenen gequälten Ich einen
Doppelgänger und doch Größeren herauszuwühlen, den Zarathustra,
der ihm den verlorenen Helden repräsentieren sollte: denn „auch
meine Feinde gehören zu meiner Seligkeit". Je ekstatischer er schuf,
e „Größeres" er von sich gegeben zu haben sich einbildete, desto
erbitterter und höhnischer ward sein Rachegefühl gegen den Menschen,
den ihm dies alles aber trotzdem nicht zu ersetzen vermochte. In
seiner maßlosen Hysterie, in seiner ewig ihn von innen bedrängenden
ungesunden Ekstatik, die durch das in ihm bereits wühlende schwere
Leiden und die Ablehnung seiner Schriften in der damaligen Welt
entschuldbar ist, habe er sich selbst wie einen Bogen überspannt,
bis er zerbrach. Aber wie unentrinnbar er an Wagner gefesselt
gewesen sei, zeige sich selbst noch darin, daß er sogar noch im
Wahnsinnsstadium noch oft des Meisters gedachte, sich oft aus
dessen unsterblichen Werken vorspielen ließ und durch diese Weisen
bis zu Tränen gerührt wurde. Nietzsche und Wagner, so schließt
Friedrich seinen Essay, hier ein feiner, sensibler, kränklicher und
vor allem femininer Geist und dort ein starker, männlich-robuster
Sichselbstdurchsetzer um jeden Preis. Was Wunder, daß bei einer
Trennung dieses einzigartigen Bundes der Schwächere — wenn auch
wie ein antiker Held — unterlag! Er wurde wie Minna Wagner,
wie Hans v. Bülow ein Opfer dieses Molochs, allerdings ein Opfer,
das auf Kosten seines „sacrificio dell' intellecto" erkauft war. Dieser
Essay Friedrichs ist nun, und das sei schon jetzt konstatiert, die
Quelle für den bereits erwähnten Aufsatz Stekels, auf den wir noch
ausführlich zu sprechen kommen werden: Alles, was der bloße
Essayist im pathetischen Stil des typischen Journalisten, der Sen-
sationen, schreibt, erzählt, das suchte der Psychoanalytiker psycho-
logisch zu begründen. Daher sei es schon hier ausgesprochen, daß
nur ein Mann, der in das Wesen der Nietzscheschen Philosophie
nicht eingedrungen ist, sich die Entstehung von „Menschliches, All-
zumenschliches" so erklärt wie Friedrich; im Gegenteil: mit dieser
— 207 —
Schrift beginnt die zweite Schaffensperiode Nietzsches, die int eil ek-
tualistische oder rationalistische. Hatte er früher in dem
^sokratischen Geist" den Urgrund des flachen, ruchlosen Optimismus
gesehen, der nicht nur im diametralen Gegensatz zu aller Kultur
stehe, sondern auch dieselbe jederzeit und gänzlich zerstöre, so ist
ihm dieser Geist nunmehr das einzige Mittel, um zu einer klaren,
aller Lüge und Unvernunft baren Erkenntnis der Welt zu gelangen.
Das reine, vernunftgemäße Schließen allein kann Aufschluß geben
über die Fragen, die für die Erkenntnis der Wahrheit in Betracht
kommen und zur Wahrheit selbst führen. Daher tritt nun an die
Stelle Wagners Goethe, an die Stelle der Kunst die Wissenschaft,
an die Stelle der Metaphysik das Diesseits, das Nächste, „der schlichte
Blick für das wirkhche Menschenleben". „Der Künstler ist nicht der
Führer des Lebens", wie ich früher sagte. „Der wissenschaftliche
Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen." War er einst
an Wagner zum Dichter geworden, wird er es hier an der Wissen-
schaft. Und von diesem Standpunkte aus tritt Nietzsche jetzt zum
ersten Male an jenes Problem heran, das ihn von nun an fast aus-
schließUch mehr beschäftigt, nämUch das Problem der Moral-
philosophie. Doch begnügt er sich in dieser Periode, zunächst
nur über den Ursprung der Moral Untersuchungen anzustellen.
Daß er dabei das Element des rein materiellen Interesses, das
Utilitätsprinzip, als Ursprung findet, ist im Sinne der logischen
Entwicklung des Sokratismus nur selbst verständhch. Aber der Mann,
dessen höchstes Ideal die unaufhaltsame Entwicklung unseres Er-
kenntnisvermögens war, konnte auch in diesem Eationahsmus auf
die Dauer nicht seine innere Befriedigung finden.
XIV. WAGNERS MISSTEAUEN UND EGOISMUS;
SEIN „SCHAUSPIELERTUM".
Doch ehe wir uns weiter wenden^ wollen wir zunächst eine
Frage beantworten, die wir mit Friedrich schon früher gestellt
haben, die Frage nämlich, ob Wagner bereits in der Tribschener
Zeit in Nietzsche wirklich nur den Freund oder nicht doch schon
den Mann erbhckte, den' einzigen, der ihm durch seine hervorragende
Geisteskraft im Kampfe um die Erringung seines Zieles von höchstem
Nutzen sein könnte. Gedanken Nietzsches, wie „ich erkannte Wagner
nicht wieder, oder vielmehr, ich sah ein, daß der Wagner, den ich
zu kennen glaubte und welchen ich geschildert hatte, nur eine
Idealbildung war... ich habe dabei das Los der Idealisten getragen,
welchen der Gegenstand, aus dem sie so viel gemacht haben, dadurch
verleidet wird. Ideales Monstrum: der wirkhche Wagner schrumpft
zusammen . . . mein Irrtum über Wagner ist nicht einmal individuell,
sehr viele sagen, mein Bild sei das richtige. Es gehört zu den
mächtigen Wirkungen solcher Naturen, den Maler zu täuschen. Aber
gegen die Gerechtigkeit vergeht man sich ebenso durch Gunst als
Abgunst", legen die Vermutung nahe, daß Nietzsche aus zartem
Taktgefühl so manches verschweigt, worüber er sich vertrauten
Personen gegenüber wohl offener ausgesprochen haben mag. Es
steht außer allem Zweifel, daß Wagner, dessen Gefallen Nietzsche
schon dadurch erregt, hatte, daß er im gasthchen Hause der Frau
Professor Brockhaus das Preislied aus den „Meistersingern" mit
tiefem Verständnis gespielt und erläutert hatte, diesen lieb gewann,
weil er der Meinung gewesen war, er habe sich selbst in Nietzsche
wiedergefunden. Bestärkt wurde er in diesem Glauben hauptsächlich
dadurch, daß sich Nietzsche ganz zu des Meisters Idealen bekannte.
Der junge, bisher nur durch seine auf philologischem Gebiete ge-
leisteten, freihch glänzenden Arbeiten doch nur in Philologen-, also
Fachkreisen, bekannte Nietzsche sah sich nun durch seine Freund-
— 209 —
Schaft mit dem Meister aus der friedlichen Stille seiner Gelehrten-
stube auf den Kampfplatz, wo man um die Berechtigung einer neuen
Kunst stritt, versetzt und tat durch sein mannhaftes Eintreten für
Wagner mit der „Geburt der Tragödie" den ersten großen Schritt
in die breite Öffentlichkeit. Und er hätte nicht der Jünghng sein
müssen, in dem damals noch tausend selbst nicht geahnte MögUch-
keiten schlummerten, um sich nicht sofort mit all dem Feuer seiner
unverbrauchten Jugend in diesem Kulturkampfe als machtvoller
Bundesgenosse zu bewähren. Mochte Wagner an der Tüchtigkeit
und Zuverlässigkeit Nietzsches anfangs leise gezweifelt haben, so
hat ihn „Die Geburt der Tragödie" in seinen kühnsten Erwartungen
übertroffen. Das war Wagner mehr als erwünscht. Sein Dankbrief
an Nietzsche läßt uns vermuten, daß sich in ihm dann der Ge-
danke herausgebildet haben mag, diesen jungen Mann ganz in den
Dienst seiner Sache zu stellen: Nietzsche sollte ein „Wagner-
schriftsteller" im wahrsten Sinne des Wortes sein; er, der
Professor an einer berühmten Universität war, der sich in der
Gelehrten weit, von deren Urteil schließlich doch sehr viel abhing,
des größten Ansehens erfreute, war hiefür wie geschaffen. Wenn
ein solcher Mann für ihn und den Bayreuther Gedanken Propaganda
machte, „ich beklage eine Erziehung, bei der es nicht erreicht ist,
Wagner zu verstehen, bei der Schopenhauer rauh und mißtönend
klingt; diese Erziehung ist verfehlt", so war er dem Meister wohl
nützlicher als tausend Flachköpfe. Also erst nach dem Erscheinen
der „Geburt der Tragödie" kann Wagner die ernstliche Absicht
gefaßt haben, Nietzsches Geisteskraft für sich zu verwerten. So
schrieb Wagner am '24. Oktober 1872 an Nietzsche: „Mein Junge
weist mich nun auf Sie, Freund, und gibt mir, schon aus reinem
Pamilienegoismus, die Sucht ein, alle meine auf Sie gegründeten
Hoffnungen buchstäblich zur Erfüllung getrieben zu sehen: denn der
Junge — ach! — braucht Sie!" Und am 27. Februar 1873: „Es
kommen die Momente, wo ich mich tief besinne, und dann kommen
Sie gewöhnhch auch mit vor — so zwischen mir und Fidi. " So hatte
auch Wagner wiederholt die Absicht geäußert, in seinem Testamente
Nietzsche als Siegfrieds Vormund einzusetzen. Aber der feinfühlige
junge Nietzsche, für dessen psychologischen Scharfbhck die „Geburt
der Tragödie" ein glänzendes Beispiel ist, mochte, als er sich dessen
bewußt ward, wieviel in ihm nach Reife dürstete, welch tiefe Probleme
Grießer, Wagner und Nietzsche. j^
— 210 —
sich vor seinem Geiste ausbreiteten, bald erkannt haben, daß der
weitere ununterbrochene Umgang mit dem Meister ihn nur an sich
selbst irre machen könnte, und zog sich daher, um dem Freunde
die Treue zu wahren, selbstlos zurück. Er ging in die Einsamkeit,
wo er die Kräfte sammeln wollte, um sich neben jenem zu be-
haupten. Sein Hauptbestreben dabei war, einem eventuellen Konflikte,
der sich aus einer Meinungsverschiedenheit hätte entwickeln können,
auszuweichen. Nietzsche selbst prägte dafür den schönen Ausspruch :
„Ein Mensch, der nach Großem strebt, betrachtet jedermann, dem
er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Ver-
zögerung und Hemmnis — oder als zeitweiliges Ruhebett." Und
wenn er in einem Briefe schreibt: „Unter einem Jünger würde ich
einen Menschen verstehen, der mir ein unbedingtes Gelübde machte",
so charakterisieren diese beiden Sätze nicht nur ihn, sondern auch
Wagner: die alleinige Wertung der Persönlichkeit, einen gewissen
antisozialen Zug, der sich am deutlichsten in einem aristokratischen
Radikalindividualismus der beiden Männer spiegelt. Die Trennung
war unvermeidhch ! Und schheßlich sagte er sehr richtig: „Jeder
Meister hat nur einen Schüler und der wird ihm untreu — denn
er ist zur Meisterschaft auch bestimmt!"^) So wird der Leser sehr
erstaunt sein, wenn er aus der Gesamtausgabe von Nietzsches
Werken, Band X, entnehmen kann, daß bereits in der „Geburt der
Tragödie" Nietzsche nur mit Rücksicht für Wagner viele Gedanken
1) Cf. damit Goethes feinsinnige Sentenz: „Das Schrecklichste für den
Schüler ist, daß er sich am Ende doch wieder gegen den Meister herstellen muß.
Je kräftiger das ist, was dieser gibt, in desto größerem Unmut, ja Ver-
zweiflung ist der Empfangende." Es wurde bereits des öfteren darauf hin-
gewiesen, welch furchtbare Seelenkämpfe Nietzsche au Wagners Seite durch-
zukämpfen hatte, um sich schheßlich um den Preis eines großen Opfers
— des Verlustes des Meisters! — zur Selbständigkeit durchzuringen. Lassen
wir daher alle diese inneren Kämpfe an unserem geistigen Auge noch einmal
vorüberziehen, so müssen wir staunend erkennen, daß an Nietzsche Hebbels
tiefsinnige Sentenz: „Lieben heißt, in dem andern sich selbst erobern",
Wahrheit geworden ist. Und schließlich: war es nicht Nietzsches größter
Fehler, seine Freunde, darunter auch Wagner, stets maßlos zu überschätzen?
Deshalb sagte Peter Gast in stolzer Bescheidenheit noch am Grabe Nietzsches:
„Wie konnten wir deine Freunde sein? Doch nur, indem du uns über-
schätztest!" Aber wie ein Trost klingt es, was unser Altmeister verkündet:
„Was ihr niemals überschätzt.
Habt ihr nie besessen!"
— 211 —
unterdrückt hatte, die dessen Mißfallen hätten erregen können. Denn
der Meister war sehr mißtrauisch und mochte wohl auch schon
gelegentlich die Wahrnehmung gemacht haben, daß das Wesen
seines jungen Streitgenossen allmählich Züge annehme, die seinem
Wesen fremd waren. Deshalb fragte Nietzsche bei allem, was er
tat: „Wird es auch Wagner recht sein?" Frau Förster erzählt
folgende, dieses Verhältnis scharf charakterisierende Episode : Sie und
ihr Bruder saßen einst in den Parkanlagen zu Baden-Baden und
erörterten kunstästhetische Probleme. Plötzlich bemerkten sie, daß
ihnen ein Herr — es war Turgenjew — aufmerksam zuhöre. Als aber
der Lauscher wahrnahm, daß man ihn bemerkt hatte, entfernte er
sich. Da meinte Nietzsche, es sei gut, daß jener nicht wisse, wer
sie beide seien ; denn sonst käme am Ende ihr Gespräch Wagner zu
Ohren. Als die Schwester dazu bemerkte, Wagner könne doch un-
möglich erwarten, daß Nietzsche alle seine Ansichten teile, erwiderte
Nietzsche: „Doch, Lisbeth, das verlangt er!* So verzichtete
Nietzsche ferner aus Rücksicht auf Wagner 1872 auf eine Reise
nach Griechenland, weil sein erwählter Reisebegleiter, Professor
Mendelssohn in Freiburg i. Br., ein Sohn des berühmten Komponisten
war, dessen Freund Wagner bekanntlich nicht war. Kein Wunder,
wenn Nietzsche dann sagte: „Es gibt etwas, das im höchsten Grade
das Mißtrauen gegen Wagner wachruft: das ist Wagners Mißtrauen!
Das wühlt so stark, daß ich zweimal zweifelte, ob er Musiker sei ! "
Nach der „II. Unzeitgemäßen", die er Wagner zugesandt hatte,
erhielt Nietzsche von diesem zwar einen herzlichen Brief, mußte
jedoch durch eine dritte Person erfahren, daß sich Wagner über
dieses Werk sehr kühl und absprechend geäußert habe. Wagner
selbst schrieb ihm folgendes: „Lob erwarten Sie wohl nicht von
mir? Es sähe auch hübsch aus, wenn ich Ihr Feuer, Ihren Witz
— loben wollte! Meine Frau findet für so etwas die rechte Art
— dafür ist sie eben ein Weib!" Nietzsche äußerte sich später über
diesen Brief: Wagners „schöne Worte" seien ihm vorgekommen wie
„nur Blumen, die eine bittere Wahrheit verdecken sollten!" Auf des
Meisters Äußerung: „Dieser Nietzsche geht immer seine eigenen
Wege", antwortete Nietzsche: „Ich habe in Bayreuth nur Wert als
Wagnerschriftsteller, ich soll nichts weiter sein, ich darf nur das
bewundem und verehren, was in Bayreuth gebiUigt wird!" »Man
muß ihn nehmen, wie er ist!" hatte Wagner oft gesagt, nie jedoch
14*
-- 212 —
nach dieser Maxime gehandelt. Nietzsche fehlte eben jener etwas
ans Demagogentum streifende Zug Wagners. Damit stimmt eine
Äußerung Professor Ritschis über Nietzsche (Mai 1869): „Dazu ist
er nicht zu gebrauchen, immer will er mit seiner Liebe und Ver-
ehrung besondere Wege gehen ! " Das heißt, Nietzsche war eben nie
„Parteimann" und war um keinen Preis zu bewegen, sich ins Partei-
getriebe der Anhänger zu begeben. — Frau Förster zitiert folgende
Tagebuchnotiz ihres Bruders aus dem Jahre 1875 : „Ich wüßte nicht,
auf welchem Wege ich je des reinsten sonnenhellen Glückes teil-
haftig geworden ,wäre als durch Wagners Musik: und dies, obwohl
sie durchaus nicht immer von Glück redet, sondern von den furcht-
baren und unheimlichen unterirdischen Kräften des Menschentreibens,
von dem Leiden in allem Glücke und von der Endlichkeit unseres
Glücks: es muß also in der Art, wie sie redet, das Glück liegen,
das sie ausströmt. — Man rechne nur nach, woran Wagner seine
eigentUche Lust und Wonne hat, an was für Szenen, Konflikten,
Katastrophen — da begreift man, was er ist und was die Musik
für ihn ist. Wotans Verhältnis zu Siegfried ist etwas Wundervolles,
wie es keine Poesie der Welt hat: die Liebe und die erzwungene
Feindschaft und die Lust an der Vernichtung. Dies ist höchst sym-
bolisch für Wagners Wesen: Liebe für das, wodurch man erlöst,
gerichtet und vernichtet wird; aber ganz göttlich empfunden." Dazu
bemerkte Professor Ernst Holzer, der verdienstvolle Herausgeber von
Nietzsches philologischen Schriften: „So wie Wotan Siegfried gegen-
überstand, so hätte Wagner Nietzsche empfinden sollen, dann wäre
er göttlich gewesen. So aber fühle ich aus den Briefen Wagners und
Cosimas die kleinhche Besorgnis heraus, daß Nietzsche über Wagner
hinauswachsen könnte. Immer wird er geduckt, stets wird in
Cosimas Briefen angedeutet, daß er im Dienste von Wagners Genius
seinen eigentlichen Beruf zu finden habe." Nun ist mit Frau Förster
gewiß gerne zugegeben, daß diese Bemerkung übertrieben sei, indes
ist nicht zu vergessen, daß Nietzsche sich damals durchaus nicht
zu der Anschauungsweise verstiegen habe, daß er Wagner als Siegfried
gegenüberstehe und daß er, um ihm im Höchsten treu zu bleiben,
ihn bekämpfen müßte ! Ziehen wir aus all dem Gesagten die Summe,
so ergibt sich, daß, solange Wagner in Tribschen weilte und Männer
wie Nietzsche sehr nötig hatte, zwischen beiden die schönste Über-
einstimmung herrschte. Erst als Wagner in Bayreuth festen Fuß
— 213 —
gefaßt hatte und sich in die Rolle des europäischen Kunstdiktators
immer tiefer einlebte, kamen Sprünge und Risse in das Verhältnis:
Wagner sah in Nietzsche nur seinen untergeordneten Helfer, einen
willkommenen Handlanger seiner höheren Pläne, Nietzsche aber
hatte von Anfang an Gleichberechtigung beansprucht. In dem Maße,
als Wagner sein Bayreuther Werk gesichert und vollendet sah, ver-
lor der junge Nietzsche den Wert, den er als Agitator und Propa-
gandist dafür besessen hatte. Wagner brauchte ihn nicht mehr,
darum konnte er ihn ruhig sich selbst überlassen. Zudem mögen
ihm die originalen Kunstauffassungen, die Nietzsche den seinigen
gegenüber geltend machen wollte, immer unbequemer geworden
sein. Sobald aber Nietzsche , seinerseits das Bayreuther Unternehmen
nicht mehr in seinem Sinne beeinflussen konnte, war dort nicht
mehr seine Stätte. Wagner war mächtiger. Nietzsche aber vollendete
seine Abkehr von dem einst gehebten Meister, dem er doch nur
mehr Helfer denn Freund gewesen war; er war ihm, wie es im
„Menschlichen, Ahzumenschhchen" heißt, „Hausgerät und Zimmer-
schmuck, an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit aus-
lassen kann".
Diese Ausführungen, die ich nicht der Sensation halber, sondern
nur zur Steuer der Wahrheit gebracht habe, lehren uns, daß bei
Nietzsche für seine Abkehr von Wagner nicht allein rein philo-
sophische Gründe maßgebend gewesen sein müssen, wiewohl er im
Hinblick auf Wagner das herrliche Wort geprägt hat: „Wenn
Denken dein Schicksal ist, so verehre dies Schicksal mit göttlichen
Ehren und opfere ihm das Beste und Liebste!" Wir ersehen aber
daraus, wie unrecht Glasenapp hat, wenn er gegen Nietzsche den
Vorwurf erhebt, er habe eine Ausstellung an der subjektiven Willkür
seiner Meinungen nicht geduldet. Wenn dem so gewesen wäre,
hätte sich Nietzsche dann wohl zurückgezogen? Diese feine Vor.
nehmheit besaß Wagner keineswegs. Daher konnte Freiherr v. Seyd-
litz über Nietzsche sagen: „Ich habe keinen, keinen vornehmeren
Menschen kennen gelernt als ihn. Rücksichtslos zu sein hat er nur
verstanden den Ideen gegenüber, den Menschen nicht!" Und als in
Weimar im August 1898 die Wiederkehr von Goethes 150. Geburts-
tage gefeiert wurde, fragte Frau Förster den Baron Gersdorff, den
Nietzsche seinen Herzensfreund genannt hatte und dem er wohl
mehr anvertraut hatte als all den anderen Freunden, ob er ihr
— 214 —
nicht etwas Ungünstiges über ihren Bruder mitteilen könnte, ihr
fehle etwas Schatten in dem lichten Bilde seines Lebens. Darauf
sagte Gersdorff ernst und wehmütig: „Ich kann mich auf nichts
besinnen; er war nur Licht, der Schatten waren wir, seine Freunde,
die wir ihn nicht verstanden."
Aus alle dem erhellt, daß Wagner in dem „stets seine eigenen
Wege gehenden Nietzsche" einen Abtrünnigen erblicken mußte, weil
er seine Wesensart nie verstanden hat. An der großen Enttäuschung,
die der Mensch Wagner Nietzsche bereitete, trug der Meister auch
Schuld mit seiner Selbstbiographie „Mein Leben". Einem Briefe
an Otto Wesendonk läßt sich entnehmen, daß Wagner das Manu-
skript seiner Selbstbiographie „demjenigen übermachen wolle, der
seine wirkliche Biographie machen wolle, falls ihn nicht die Größe
und Widerwärtigkeit der laufenden Entstellungen seines Lebens
schon früher bestimmen sollte, einem Berufenen zur Berichtigung
einzelner Punkte das nötige Material aus diesen Diktaten an die
Hand zu geben". Entstanden ist dieses Werk über Wunsch des
Königs Ludwig und war nach Glasenapps Mitteilung zunächst nur
für die Familie des Meisters bestimmt. Veröffentlicht wurde es erst
im Jahre 1911. Um es kurz zu sagen, ist diese Autobiographie
nichts anderes als „typische Schauspielermemoiren in ihrer naiv
raffinierten, beinahe schon wieder unbewußt gewordenen Ver-
stellungsfreude und Geschicklichkeit des Ich-Inszenierens". Nietzsche
nun war einer der wenigen, die außerhalb des Familienkreises
standen, dem der Meister die stärkste Probe seines Vertrauens gab,
indem er ihm das Werk zur Durchsicht überließ; wohl sicherlich
in der Hoffnung, er habe in Nietzsche den vollkommenen Wagner-
schriftsteller gefunden. Dieser Aufgabe hat er den Freund nachher
bald entbunden, offenbar deshalb, weil Nietzsche die Ansicht ver-
trat, daß ganz besonders geartete Naturen gerade in Sitte und Her-
kommen einen starken Schutz fänden, um in der Welt des Geistes,
frei und unbeschwert von kleinlichen Alltagskämpfen, desto höher
zu steigen. Frau Förster berichtet nun, daß Wagner nur aus Rück-
sicht auf Nietzsches zartes Empfinden vieles Unerfreuliche aus
seinem Leben vor der Bekanntschaft mit dem Philosophen wohl-
weislich verschwiegen habe, wiewohl ihm später Nietzsches zarte
Tugendhaftigkeit recht ärgerhch war, so daß er sowohl über sich
selbst als auch über Cosima mitunter sehr Derbes und Häßliches
— 215 —
sagen konnte. Allerdings suchte er stets dies sofort wieder gut zu
machen, indem er auf seine Neigung, schlechte Witze zu machen,
kräftig schimpfte. So sagte er einst zu Frau Förster: „Ihr Bruder
ist in seiner zarten Vornehmheit oft recht unbequem; dazu sieht
man ihm auch alles an, was er denkt; manchmal schämt er sich
ordentlich, was ich für Witze mache — und dann treibe ich's
immer toller. Ihr Bruder ist gerade wie Liszt, der mag meine
Witze und Spässe auch nicht." Deshalb konnte es dem scharf-
blickenden Psychologen Nietzsche unmöglich entgangen sein, daß
der Meister in der Selbstbiographie von sich ein Bild entwarf, das
der Wirklichkeit am allerwenigsten entsprach. Im „Fall Wagner"
äußerte er sich über diese Autobiographie: „Das, was bisher als
Leben Wagners in Umlauf gebracht worden ist, ist fable convenue,
wenn nichts Schlimmeres. Ich bekenne mein Mißtrauen gegen jeden
Punkt, der bloß durch Wagner selbst bezeugt ist. Er hatte nicht
Stolz genug zu irgendeiner Wahrheit über sich; niemand war
weniger stolz ; er blieb ganz wie Viktor Hugo auch im Biographischen
sich treu — er blieb Schauspieler." Und in der „Genealogie der
Moral": „Man verspricht uns eine Selbstbiographie R. Wagners:
Wer zweifelt, daß es eine kluge Selbstbiographie sein wird?"
Wenn aber Wagner im Vorworte zu „Meinem Leben" schrieb, daß
„der Wert der hiemit gesammelten Autobiographie in der schmuck-
losen Wahrhaftigkeit beruhe", ist dadurch Nietzsche, der Wagner
„den Schauspieler seines eigenen Ideals" nannte, nicht widerlegt?
Ernest weist in seinem Buche über Wagner diese Behauptung
Nietzsches zurück mit folgender Argumentation: Schauspieler sei
nur der, „der sich als etwas anderes. Größeres geben möchte als
er ist. Konnte das aber in der Natur eines Mannes liegen, der so
unerschütterlich fest von seiner Bedeutung durchdrungen war, wie
Wagner? Und auch, wenn er sich immer von neuem als einen
anderen offenbarte, beruhte das nicht auf einem Rollen-, sondern
einem Überzeugungswechsel, wobei nie das Ziel durch die Überzeugung,
sondern die Überzeugung durchs Ziel bedingt wurde". Dem ist jedoch ent-
gegenzuhalten, daß Nietzsche unter Schauspieler an all den Stellen,
wo er Wagner damit belegt, stets den Menschen versteht, der
alle seine körperlichen und geistigen Gaben unkeusch
in den Dienst der unmittelbaren Wirkung stellt. Diese
Art der Verachtung des Schauspielers besaß aber Nietzsche schon
— 216 —
vor seinem Abfalle von Wagner; denn bereits 1871 heißt es in
dem Aufsatz „Musik und Tragödie" : „Noch im Munde des innerlich
überzeugtesten Schauspielers klingt uns ein tiefsinniger Gedanke,
ein Gleichnis, ja im Grunde jedes Wort wie abgeschwächt, ver-
kümmert, entheiligt; wir glauben nicht an diese Sprache, wir
glauben nicht an diese Menschen, und was uns sonst als tiefste
Weltoffenbarung berührte, ist uns jetzt ein widerwilUges Masken-
spiel. Man fühlt etwas wie eine Entweihung." Dasselbe Grundmotiv
wird wiederkehren in Nietzsches Kritik am „Parsifal". Nietzsche hat
an Wagner geglaubt, solange ihm dieser als der dionysisch Ver-
zückte erschienen war, jetzt sah er in ihm nur mehr den Komö-
dianten, den klugen maestro. Und das konnte er nie ganz verwinden.
Bereits in dem Panegyrikus „R. Wagner in Bayreuth" heißt es:
„Wenn man versucht hat, die großartigsten Entwicklungen aus
inneren Hemmungen oder Lücken herzuleiten, wenn zum Beispiel
für Goethe das Dichten eine Art Auskunftsmittel für einen ver-
fehlten Malerberuf war, wenn man von Schillers Dramen als von
einer versetzten Volksberedsamkeit reden kann, wenn man in ähn-
licher Weise Wagners Entwicklung mit einer solchen inneren
Hemmung in Verbindung setzen wollte, so dürfte man wohl in ihm
eine schauspielerische Urbegabung annehmen, welche es
sich versagen mußte, sich auf dem nächsten, trivialsten Wege zu
befriedigen und welche in der Heranziehung aller Künste
zu einer großen schauspielerischen Offenbarung ihre
Auskunft und ihre Rettung fand." In dieser Schrift findet
sich aber noch eine höchst bedeutsame Stelle, die den Schauspieler-
begriff von Wagners Kunst bereits auf dessen Leben überträgt:
„Das Leben Wagners, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehen,
hat sehr viel von der Komödie an sich, und zwar von einer
merkwürdig grotesken." In einem Nachlaßfragment heißt es: „In
meiner Jugend hatte ich Unglück, es lief mir ein sehr zweideutiger
Mensch über den Weg. Als ich ihn als das erkannte, was er ist,
nämlich ein großer Schauspieler, der zu keinem Ding ein echtes
Verhältnis hat (selbst zur Musik nicht), war ich so angeekelt und
krank, daß ich glaubte, alle berühmten Menschen seien Schauspieler
gewesen, sonst wären sie nicht berühmt geworden — und an dem,
was ich ,Künstler' nannte, sei eben das Hauptsächhchste die
schauspielerische Kraft." Und im „Fall Wagner": „Sie wissen
— 217 —
nicht, wer Wagner ist: Ein ganz großer Schauspieler! Der
Schauspieler Wagner ist ein Tyrann, sein Pathos wirft jeden Ge-
schmack, jeden Widerstand über den Haufen. War Wagner überhaupt
ein Musiker? Jedenfalls war er etwas anderes mehr: Nämlich ein
unvergleichlicher histrio, der größte Mime, das erstaunlichste Theater-
genie, das die Deutschen gehabt haben. Er gehört wo anders hin
als in die Geschichte der Musik: mit deren großen Echten soll man
ihn nicht verwechseln. Wagner und Beethoven — das ist eine
Blasphemie. Wagner war auch als Musiker nur das, was er über-
haupt war: er wurde Musiker, er wurde Dichter, weil der Tyrann
in ihm, sein Schauspielergenie, ihn dazu zwang. Man errät nichts
von Wagner, solange man nicht seinen dominierenden Instinkt
erriet. Wagner will die Wirkung, er will nichts als die Wirkung.
Er hat darin die Unbedenklichkeit, die jeder Theatermensch hat.
Auch im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor allem Schau-
spieler. Wagner bedeutet die Heraufkunft des Schauspielers in der
Musik. Noch nie wurde die Eechtschafifenheit der Musiker, ihre
, Echtheit' gleich gefährlich auf die Probe gestellt ... ein Zeitalter
der Demokratie treibt den Schauspieler auf die Höhe — in Athen
ebenso wie heute. Richard Wagner hat bisher alles darin überboten
und einen hohen Begriff vom Schauspieler erweckt, der Schauder
machen kann. Musik, Poesie, Religion, Kultur, Buch, Familie, Vater-
land, Verkehr — alles vorerst Kunst, will sagen Bühnenattitude . . .
Wagner war ein großer Schauspieler: aber ohne Halt und inwendig
die Beute von allen Sachen, welche stark berauschen ... er ist
verurteilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum
beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sichvergessens, des Sich-
betäubens — es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner
Kunst. Ein solch ,Unfreier' hat eine Haschisch- Welt nötig, er hat
Wagnersche Musik nötig. Eine gewisse Katholizität des Ideals vor
allem ist bei einem Künstler beinahe ein Beweis von Selbstver-
achtung, von Sumpf." Durch den „Parsifal" vollends „brachte" Wagner,
„ein im Grunde zerbrochener und überwundener Mensch, die große
Schauspielerei seines Lebens auf die Spitze". Wichtig erscheint mir
noch jene Szene im „Zarathustra", da der alte Zauberer — dichterische
Maske für Wagner — mit seiner Kunst und „rührenden Gebärde"
sich Zarathustras Liebe erschleichen will, von diesem jedoch zurecht-
gewiesen wird : „Halt ein, du Schauspieler! du Falschmünzer!
- 218 —
du Lügner aus dem Grunde! Ich erkenne dich wohl . . . du
Meer der Eitelkeit, was spieltest du vor mir, du schlimmer
Zauberer, an wen sollte ich glauben?" — „Den Büßer des Geistes,"
sagte der alte Mann, „den spielte ich ... und gesteh es nur ein:
es währte lange, bis du hinter meine Kunst und Lüge
kamst. Du glaubtest an meine Not, ich hörte dich jammern,
,man hat ihn zu wenig geUebt, zu wenig geliebt!' Daß ich dich
so weit betrog, darüber frohlockte inwendig meine Bosheit." —
„Du magst Feinere betrogen haben als mich", sagte Zarathustra
hart. „Ich bin nicht auf der Hut vor Betrügern, ich muß ohne Vor-
sicht sein,' so will es mein Los. Du aber — mußt betrügen: so
weit kenne ich dich! Ich errate dich wohl: du wurdest der Bezau-
bere r aller, aber gegen dich hast du keine Lüge und List mehr
übrig — du selber bist dir entzaubert! Du erntetest den Ekel ein
als deine eine Wahrheit. Kein Wort ist mehr an dir echt, aber
dein Mund: nämlich der Ekel, der an deinem Munde klebt." — „Wer
bist du doch?" schrie hier der alte Zauberer, „wer darf also zu
mir reden, dem Größten, der heute lebt?" und ein grüner
Blitz schoß aus seinem Auge nach Zarathustra. Aber gleich darauf
verwandelte er sich und sagte traurig: „0 Zarathustra, ich bin's
müde, es ekelt mich meiner Künste, ich bin nicht groß; was ver-
stelle ich mich! Aber, du weißt es wohl — ich suchte nach
Größe! Einen großen Menschen wollte ich vorstellen
und überredete viele: aber diese Lüge ging über meine Kraft.
An ihr zerbreche ich. 0 Zarathustra, alles ist Lüge an mir;
aber daß ich zerbreche — dies mein Zerbrechen ist echt!" —
„Du schlimmer alter Zauberer, das ist dein Bestes und Redlichstes,
was ich an dir ehre, daß du deiner müde wurdest und es aus-
sprichst: ,Ich bin nicht groß' und wenn auch nur für einen Hauch
und Husch, diesen einen Augenblick warst du — echt!" Indes
hat der „Schauspieler" Wagner nie widerrufen, wie sehr auch
Nietzsche — diese Zarathustrastelle beweist es! — eine Palinodie
bei Wagner herbeigesehnt haben mag. Es kann aber nicht genug
davor gewarnt werden, die Gestalt des alten Zauberers ohneweiters
immer mit Wagner zu identifizieren. Denn nur mitunter, wie zum
Beispiel in der zitierten Stelle, ist sie so individuell gezeichnet, daß
alle geschilderten Einzelheiten uns direkt auf Wagner hinweisen.
Sonst wird nämlich durch den Zauberer der rehgiöse Mensch sym-
— 219 —
bolisiert. — Nietzsches abfällige Kritik über Wagners Autobiographie
erscheint uns begreiflich, zumal wenn man bedenkt, daß er sie
innerhalb der Jahre 1865 — 1870 seiner Lebensgefährtin Cosima in
die Feder diktierte, also zu einer Zeit, da jene ihren Gatten Hans
V. Bülow verlassen hatte und am 5. August 1868 zu dauerndem
Aufenthalte in Tribschen eingetroffen war. Es .mochte ihm daher
wünschenswert erscheinen, manches aus seinem Leben der neu-
gewonnenen Gefährtin in ganz bestimmter Beleuchtung kundzutun.
Hieher gehört in erster Linie sein Verhältnis zu Mathilde Wesen-
donk. Dieses ist vollständig verschleiert und auf Kosten der Mit--
beteiligten als nichtig und bedeutungslos dargestellt. Wagner konnte
eben damals nicht einmal ahnen, daß seine herrlichen Ergüsse an
Mathilde einmal bekannt würden, zumal er ihr gegenüber den
Wunsch geäußert hatte, sie sollten vernichtet werden. Nun schreibt
Prof. Golther in der Vorbemerkung seiner Ausgabe der Briefe
Wagners an Mathilde, daß diese sie zur Veröffentlichung bestimmt
habe; die Familie Wagner habe sich ferner „ausnahmsweise und
für diesen Fall" ihres Autorrechtes entäußert. (Cf. dazu mein Buch:
„B., Wagners Tristan und Isolde, ein Interpretationsversuch", p. 250
bis 281.) Ferner entspricht nicht den Tatsachen die Schilderung
seines Verhältnisses zu seiner ersten Frau Minna, deren ganzes
Vorleben, deren sämtliche Vergehen und Fehltritte bis ins kleinste
Detail mit schonungslosester Breite ausgemalt werden, während
Wagner an sein eigenes Verhalten in puncto ehelicher Treue den
gleich strengen Maßstab nicht anlegt. Seltsam berührt es auch, daß
Wagner gegen das Ende des Buches fast auf jeder Seite, jedesmal^
wenn von einer größeren Einnahme die Kede ist, seine „Verpflich-
tungen gegen Minna" betont, während er der Ausgaben für sich
mit keiner Silbe gedenkt. Wer ferner Wagners Briefwechsel mit
Liszt und Otto Wesendonk kennt, wird sich wundern, wie karg,
kühl und spöttisch er in seiner Selbstbiographie dieser beiden Männer
gedenkt; denen er so unendhch viel verdankt. So entspricht es
ferner gleichfalls nicht den Tatsachen, wenn Wagner erzählt,
Schopenhauer habe sich „bedeutend und günstig" über seine Ring-
dichtung ausgesprochen; das Gegenteil trifft zu (cf. mein Buch:
„Wagners Tristan und Isolde", p. 237/38). So verschweigt er auch
ein Zerwürfnis mit Liszt im Jahre 1858. Über Mendelssohn, Meyer-
beer, Brahms und andere fällt er geradezu vernichtende Urteile..
— 220 —
Diese Autobiographie kündet uns nicht; wie Wagners Leben war,
sondern wie Wagner es später sah oder sehen wollte!
Ohne Zweifel hatte Nietzsche bereits frühzeitig das Schau-
spielerhafte, Lärmende, allzu Laute in Wagners Wesen klar erkannt
und sich dadurch von ihm abgestoßen gefühlt, was freilich Eigen-
schaften sind, die wir an Nietzsches späterem Wesen leider auch
konstatieren können, wiewohl sie aber auf eine ganz andere Wurzel
zurückzuführen sind wie bei Wagner. Zu Wagners Autobiographie
mag man sich stellen, wie man wolle: auch sie ist ein Kunstwerk
und demzufolge genau so einzuschätzen wie die anderen Kunstwerke
des Meisters. Jedoch vermissen wir in ihm jene Wahrhaftigkeit, mit
der Wagner z. B. im Tristandrama in poetischer Verklärung eine
Episode aus seinem Leben geschildert hatte. Und daher gebe ich
Beiart recht, der allein schon wegen der Zwitterstellung Wagners
in der Wesendonk-Affaire Wagner einen Schauspieler nannte, der
in seiner Autobiographie mit ängstlicher Scheu oder aus kluger
Berechnung nicht nur über diese größte Tragödie seines Lebens,
sondern auch über so manche andere Tatsache den rettenden Vor-
hang fallen läßt. Wenn man aber bedenkt, daß auch Wagner in
erster Linie nicht so sehr nach Glück, sondern vielmehr nach seinem
Werke trachtete, daß er eine stark sinnliche Natur war, ein so-
genanntes „Gehirnraubtier", das gleich Hebbel alles, das ihm
begegnete, rücksichtslos in den Dienst der eigenen Sache stellte,
daher auch das Glück Nietzsches, so hätte er diesen Wagner mit
größerer Berechtigung den verkörperten Willen zur Macht nennen
können. Schrieb doch Wagner selbst am 24. Oktober 1872 an
Nietzsche: „Ich bin jetzt so weit, nach gar keiner Seite zu mir
ein Blatt vor das Maul zu nehmen; und käme mir die Kaiserin
Augusta in den Weg, sie sollte bedient werden! Es muß endhch
-etwas dabei herauskommen. Denn das eine steht fest, daß an einen
Kompromiß, eine Transaktion gar nicht zu denken ist: sich gefürchtet
machen, da man nun einmal so sehr gehaßt ist, kann einzig etwas
helfen." In späteren Jahren mochte Nietzsche selbst eine solche
Identifikation für richtig gehalten haben; denn im „Jenseits" heißt
es von Wagner, daß es dieser in allem stärker, verwegener, härter,
höher getrieben habe als es ein Franzose des XIX. Jahrhunderts
treiben könne, „dank dem Umstände, daß wir Deutschen der Bar-
barei noch näher stehen als die Franzosen". — Das Genie hat eben
— 221 —
seine eigenen Gesetze. Es sind die eines rücksichtslosen und dadurch
fast ehrlichen Egoismus. Eine egozentrische, also vom eigenen Ich
mit solch überwältigender Kraft unbewußt getriebene Gefühlswelt,
daß sie als Äußerung eines ungeheuren Instinktes fast jenseits der
gewöhnlichen menschUchen Moralbegriffe steht. Unbegreiflich ist nur
das eine, daß gerade die offiziellen Wagnerbiographen sich sichthch
bemühen, aus dem Bilde Wagners alles Unlautere wegretouchieren
zu wollen, um ihn nicht nur zum größten Künstler, sondern auch
zum größten Menschen aller Zeiten zu stempeln. Wenn aber heute
ein Biograph mit rücksichtsloser Offenheit im Bilde Goethes, des
größten Deutschen, uns auf oft recht kleinliche Züge aufmerksam
macht, auf Züge, in denen sich das Allzumenschliche des Olympiers
offenbart, denken wir nur an sein Verhältnis zu Schopenhauer oder
Kleist, die er beide als Rivalen empfand, so nehmen wir dies als
etwas Selbstverständliches hin, zumal derselbe Goethe das schöne
Wort ausgesprochen hat, daß selbst Mahadöh, der Herr der Erden,
soll er schonen, soll er strafen, Menschen menschlich sehen müsse.
Warum macht man uns dagegen aus dem Menschen Wagner das
Idealbild eines Menschen, dem in der Wirklichkeit gar nichts ent-
spricht? Die Beantwortung dieser Frage führt uns auf eine Tat-
sache, die Th. Lessing etwa so formuliert hat: Es sei ein liebens-
würdiger, aber allgemeiner Irrtum, zu glauben, daß die schöpferischen
Meister irgendeines Gebietes auch in ihrem Ich soziale Werte ver-
körpern müssen. Ein gewichtiges psychologisches Gesetz scheint
gerade das Gegenteil wahrscheinUcher zu machen. Überall nämlich
entdecken wir eine Alternative zwischen jenen Werten, die der
Mensch in seinem Tun und Schaffen, und jenen andern, die er im
Wesen und Charakter verkörpert, derart, daß die Handelns- und
Punktionswerte als Äquivalent für die Lücken seiner Persönlichkeit
auftreten oder auch umgekehrt die geschlossene Harmonie und
Schönheit der Person ein Manko an schöpferischen Antrieben ein-
schließt. Dieses Gesetz treffe am stärksten bei Künstlern und ganz
besonders wieder bei Musikern zu, die sich in bloßem Fühlen und
Vorstellen so sehr erschöpfen, daß für ihre tägUche Umgebung meist
nicht mehr viel übrig bleibt. So gähnt eine endlose Kluft zwischen
dem das Werk umspannenden Wunschleben und dem historischen
Ich, das die nächste Umgebung zu ertragen hat. Denken wir nur
an das Verhältnis Wagners zu seiner Frau Minna, deren Leben an
_ 222 —
seiner Seite „ein langsamer Untergang" war, zu Otto Wesendonk,
zu Bülow und Cosima. Und je mehr wir uns bemühen, in das
Menschentum großer Männer einzudringen, auf eine desto
größere Unsumme von Rätseln und Widersprüchen stoßen
wii^. Ein apodiktisches Urteil ist daher nicht möglich, weil nur all-
zuoft Kunst und Wirklichkeit in eins verschmelzen. Aber trotzdem
sind Geistesheroen das einzige, was unser Leben recht-
fertigt und heiligt, in dem Maße, wie wir sie lieben und
verstehen; sie sind das einzige, was von unser aller
Leben und all der nutzlosen Arbeit sich in eine bessere
Zeit hinüberrettet. Daher wird es für uns ein ewiges Rätsel
bleiben, daß derselbe Nietzsche, der sich in seinen Schriften als
rücksichtsloser Bekämpfer der Menschen und ihrer Meinungen ent-
hüllt — so spricht Rohde in betreff der „Genealogie der Moral ^
direkt von einer „'Kannibalenmoral" — im persönhchen Umgange
mit Menschen das friedfertigste und sanfteste Geschöpf war, das
man sich überhaupt nur denken kann. Nietzsche selbst äußert sich
in der „Genealogie der Moral" zu diesem Problem: „Man soll sich
vor der Verwechslung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht
selbst gerät — wie als ob er eben das wäre, was er darstellen,
ausdenken, ausdrücken kann. Tatsächlich steht es so, daß, wenn er
eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken,
ausdrücken würde." In diesem Sinne verstehe ich daher den be-
rühmten Ausspruch Goethes: „Ich habe niemals von einem Ver-
brechen gehört, das ich nicht hätte begehen können!" Goethe
brauchte keine Verbrechen zu begehen, weil er sie künstlerisch
gestalten konnte: in der Dichtkunst konnte sich sein angeborener
„Wille zur Macht '^ unbeschränkt austoben. „Eben darum", sagt
Th. Lessing 1. c, „konnte und durfte Nietzsche unter der Qual un-
veräußerlicher Hemmung eine Ethik zügelloser Freiheit predigen,
von deren eisernen Strenge und unvergleichhchen seelischen Höhe
diejenigen keine Ahnung haben, die sie uns als Emanzipation des
Sichgehenlassens zu diskreditieren versuchten." Das wäre aber nur
ein Beweis für Lessings Theorie, daß eben das Aussinnen dieser
„Kannibalenmoral" und die sprichwörthch gewordene Rücksichts-
losigkeit in Nietzsches Werken als ein Äquivalent für die Lücken
in seiner Persönlichkeit aufzufassen sind. Nun lesen wir bei Hebbel,
der ja auch so ein „Gehirnraubtier" war: „Große Menschen werden
— 223 —
immer Egoisten heißen. Ihr Ich verschhngt alle anderen Individu-
alitäten, die ihm nahe kommen, und diese halten nun das Natürliche
und Unvermeidliche, das einfach aus dem Kraftverhältnis hervorgeht,
für Absicht." Gut! Aber trotzdem fragt man sich, wie ist es zu
erklären, daß gerade zwei solche Ausnahmsmenschen wie Wagner
und Nietzsche, die, wie ihre Werke tausendfach beweisen, die ge-
heimsten Regungen der menschhchen Psyche genau kannten, trotz
ihrer Forderung, sich selbst und andere zu erlösen, ihnen den Weg
zur wahren Freiheit zu weisen, in sich selbst nicht die Kraft fanden,
einander zu verstehen und den dornenvollen Weg der Entsagung zu
gehen, der allein uns Erdenmenschen zu den Höhen höchsten
Menschentums emporzuführen vermag? Daß beide einander stark
verkannten, trotz klar zutage liegender Wahlverwandtschaft, daß sie
das, was an ihnen echteste und unveräußerlichste Natur war, für
böse Absicht erklärten? 0 ewig unlösbares Rätsel der Persönhchkeit!
Wie sagt doch Zarathustra? „0 Einsamkeit aller Schenkenden!
0 Schweigsamkeit aller Leuchtenden ! 0, dies ist die Feindschaft des
Lichts gegen Leuchtendes; erbarmungslos wandelt es seine Bahnen.
Unbillig gegen Leuchtendes im tiefsten Herzen, kalt gegen Sonnen,
— also wandelt jede Sonne! Ihrem unerbittlichen Willen folgen sie,
das ist ihre Kälte!** — Darum wird es mir ewig unvergeßhch in
tiefster Seele stehen : unser aller Lehrer, Freund und Meister, Wagners
treuester Paladin, unser unvergeßhcher Alois Höfler, feierte seinen
68. Geburtstag. Ich stand an seinem Krankenlager und er, der
Gütige, der stets einen guten Rat Wissende, besprach mit mir dieses
mein Buch. Da kamen wir auch auf dieses ewige Rätsel zu sprechen;
und er faßte mich bei der Hand und Tränen füllten ihm die Augen,
als er mir sagte: „Auch hier ist der Rest Schweigen und sich
neigen in Ehrfurcht!" Drum rufe ich ihm, der dem Meister von
Bayreuth „bis hinüber nach jenem Reiche der Weltennacht" die
Treue gehalten hat, zu: „Non confunderis in aeternum anima Candida!"
XV. NIETZSCHE-BIZET-WAGNER.
In der „Fröhlichen Wissenschaft" schreibt Nietzsche : „Ich muß
den Fuß weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuß: und weil
ich muß, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten
konnte, einen grimmigen Rückblick — weil es mich nicht halten
konnte!" Dieser Ausspruch präzisiert Nietzsches ferneres Verhalten
Wagner gegenüber: er konnte von ihm nicht loskommen! „Sein
Kampf gegen Wagner ist nur Sinnbild eines Bruderzwistes in der
eigenen Brust, wie er so wild, so schonungslos gegen sich, so
faustisch- überdeutsch, so unauskämpfbar verhängnisvoll vielleicht
nur in einem deutschen Herzen sich zutragen kann. " Denn in seiner
Seele lebte das „große, das liebende Verachten, welches am meisten
hebt, wo es am meisten verachtet"; immer noch war und blieb er
„das Erbe und Erdreich" von Wagners „Liebe", „blühend zu" seinem
„Gedächtnisse" — allerdings blühend von sehr „bunten und wild-
wachsenden Tugenden!" Und doch! Wie wehe vollste Menschenklage
klingt sein erschütternder Ausruf: „Es hilft nichts; man muß erst
Wagnerianer sein!" Es wurde bereits hervorgehoben und betont,
daß Nietzsche mit seiner Abkehr von Wagner sich wieder für die
Musik der Itahener zu interessieren begann, daß er seinen Freund
Peter Gast über aUes schätzte. Gleichzeitig erwacht aber in ihm
eine schwärmerische Liebe und Begeisterung für den genialen
Bizet, dessen „Carmen" Nietzsche gegen Wagners Kunstwerke aus-
spielen will. Seine Randglossen zur „Carmen" beweisen seine Fähig-
keit zur musikalischen Analyse, überhaupt seine hohe musikahsche
Begabung. Diese Randglossen lauten: „Bizet, ein echt französisches
Talent der komischen Oper, gar nicht desorientiert durch Wagner,
dagegen ein wahrer Schüler von Hektor Berlioz. So etwas habe ich
nicht für möglich gehalten. Es scheint, die Franzosen sind auf einem
besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen
großen Vorsprung vor den Deutschen in einem Hauptpunkte: die
— 225 —
Leidenschaft ist bei ihnen keine so weit hergeholte (wie z. B. alle
Leidenschaften bei Wagner) ... ich bin nahe daran, zu denken,
, Carmen' sei die beste Oper, die es gibt; und solange wir leben,
wird sie auf allen Kepertoiren Europas sein . . . diese Musik scheint
mir vollkommen zu sein. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit
daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. ,Das Gute ist leicht,
alles Göttliche läuft auf zarten Füßen' : erster Satz meiner Ästhetik.
Diese Musik ist böse, raffiniert, fatahstisch : Sie bleibt dabei populär,
das Eaffinement einer Easse, nicht eines einzelnen. Sie ist reich.
Sie ist präzis." — Das Duett zwischen Jose und Micaela tadelt er
dagegen als „zu sentimental, zu tannhäuserhaft". Zum Einsatz der
Harfe bemerkt er: „Das war es, was Wolfram v. Eschenbach zum
Lobe der Liebe singen wollte — aber er fand die ,Weise' nicht
und begnügte sich, sein Verlangen danach auszudrücken." Joses
Auftrittlied nennt er „prachtvoll naiv und gut". Der Schluß der
Oper ist ihm „wahrhafte Tragödienmusik" : im „Fall Wagner"
schreibt er: „Endhch die Liebe, die in die Natur zurückversetzte
Liebe! Nicht die Liebe; einer ,höheren Jungfrau'! Keine Senta —
Sentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch,
unschuldig, grausam — und eben darin Natur! Die Liebe, die in
ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Tothaß der Ge-
schlechter ist ... eine solche Auffassung der Liebe (die einzige,
die des Philosophen würdig ist) — ist selten: sie hebt ein Kunst-
werk unter Tausenden heraus. Denn im Durchschnitt machen es
die Künstler wie alle Welt, sogar schlimmer — sie mißverstehen
die Liebe!" Für Nietzsches musikalische Ästhetik ist es charakte-
ristisch, daß ihn der Weg zu Bizet über Schumann und Mendelssohn
und Wagner führte. Schätzte er bei Wagner die „unendliche
Melodie", so begeisterte er sich jetzt an der Einzelmelodie;
war ihm Wagners Musik die Verkündigung der Welteinheit,
so ist ihm jetzt Bizets Musik die rhythmische Umbildung des
Operntextes, was R. M. Meyer auf Nietzsches immer stärkere
Entwicklung vom Komponisten zum Dichter zurückführt. Diese
Tatsache charakterisiert aber auch die von Nietzsche nun betretene
Denkrichtung: als Pessimisten regiert ihn die Musik Wagners,
in der sich der reine Wille Schopenhauers auszusprechen schien;
daher bleibt das metaphysische Prinzip siegreich. Als Optimist,
der eine empirisch-psychologische Auffassung der Musik vertritt.
Grießer, Wagner und Nietzsche. jg
— 226 —
interessiert ihn daher nicht mehr die Musikpsychologie des
Menschen Wagner mit seiner „erlösenden" Musik, sondern
die Psychologie der südländischen Menschen, deren Musik daher
„erlöst" ist- sie atmet eine ganz andere Sinnlichkeit, eine andere
Sensibilität, eine andere Heiterkeit, die in die Natur zurücküber-
setzte Liebe. Und diese Art Musik glaubt Nietzsche in der Carmen-
musik Bizets gefunden zu haben. Wenn er aber 1888 an Fuchs
über Bizet schreibt: ^Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht
ernst nehmen; so wie ich bin, kommt Bizet tausendmal für mich
nicht in Betracht. Aber als ironische Antithese gegen Wagner
wirkt er sehr stark", liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß er
Bizets Kunst nur zu dem Zwecke heranzog, um Wagner extrem zu
verdeutlichen. Damit würde sich decken, was Prof. Alois Riehl über
den „Fall Wagner" schreibt, diese Schrift sei dem Anscheine nach
allerdings nur eine Invektive gegen Wagner, in Wahrheit eine Ab-
rechnung über den Wert des Modernen überhaupt. Dies exemplifiziert
er an dem extremisierten Stil Wagners. Damit würde sich die An-
sicht der Frau Förster erledigen, welche die Entstehung des „Falles
Wagner" so erklärt: Im Jahre 1888 sei Nietzsche von Hans v. Bülow
eine Botschaft ausgerichtet worden, die eine sehr scharfe Kritik des
Bayreuther Kreises enthielt und schloß: „Nietzsche sollte doch ein-
mal schreiben, weshalb er von Bayreuth fortgegangen wäre; daraus
würde sicherhch viel zu lernen sein; er selbst (sc. Bülow)') wolle
sich über ein verwandtes Thema äußern." Allerdings gibt nun Frau
Förster zu, daß die Frage, ob diese Botschaft tatsächlich die An-
regung zum „Fall Wagner" gegeben habe, heute nicht mehr entscheid-
1) Es scheint nicht uninteressant zu sein, die Tatsache zu vermerken,
daß Bülow, der jahrzehntelang völlig im Banne der Wagnerschen Kunst ge-
standen und über Brahms zur Tagesordnung geschritten war, in seinen
späteren Jahren sich von einem Saulus zu einem Paulus wandelte und der
begeistertste und eifrigste Interpret der Brahmsschen Musik geworden ist,
wie ihn denn auch mit dem Wiener Meister ein inniges Freundschaftsver-
hältnis verband. Ob aber diese Wandlung in Bülows Gesinnung auf Nietzsches
Einfluß zurückzuführen ist, das bleibe dahingestellt. Den „Lebenserinnerungen"
Felix V. Weingartners läßt sich entnehmen, daß Bülow sehr abfällige Aus-
sprüche gegen Wagner zu Brahms' Gunsten tat, die wesentlich dazu bei-
trugen, daß sich die echten Wagnerianer von Brahms' Kunstschaffen ent-
fernten. Der Grund hiefür wird wohl das weder gerechte noch vornehme
Verhalten Wagners gegen den um 20 Jahre jüngeren Brahms gewesen sein
- 227 —
bar sei. Richtiger ist es daher, wenn sie meint, diese Schrift gehe
auf Vorstudien zum „Willen zur Macht" zurück: Die Gegenüber-
stellung des aufsteigenden Lebens, das sich in der Herrenmoral
und der klassischen Kunst zeigt, und des niedergehenden Lebens,
das sich als Sklavenmoral und romantische Kunst manifestiert.
Ferner die Erkenntnis Nietzsches, daß der moderne Mensch diese
beiden entgegengesetzten Wertschätzungen in sich trage, und daß
eines der markantesten Beispiele dieser Modernität mit allen ihren
Widersprüchen und ihren verderblichen Wirkungen R. Wagner selbst
sei. Im „Ecce homo** schreibt Nietzsche über den „Fall Wagner":
,Um dieser Schrift gerecht zu werden, muß man am Schicksale der
Musik wie an einer offenen Wunde leiden. Woran ich leide, wenn
ich am Schicksale der Musik leide? — Daran, daß die Musik um
ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist,
daß sie Dekadencemusik und nicht mehr die Flöte des Dionysos
ist . . . gesetzt aber, daß man dergestalt die Sache der Musik wie
seine eigene Sache, wie seine eigene Leidensgeschichte fühlt, so
wird man diese Schrift voller Rücksichten und immer noch mild
finden. In solchen Fällen heiter sein und sich gutmütig mitver-
spotten — ridendo dicere severum, wo das verum dicere jede Härte
rechtfertigen würde — , ist die Humanität selbst. Wer zweifelt eigent-
lich daran, daß ich als der alte Artillerist, der ich bin, es in der
Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren?
Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück — ich
habe Wagner geliebt^)!" Wer sich in Nietzsches Gedankenwelt ver-
senkt, begreift, daß diese Schrift geschrieben werden mußte. Aber
so wie damals wird sie auch heute nicht verstanden — was heute
genau wie damals nur ein Beweis dafür ist, daß Nietzsches Werke
viel zu wenig bekannt sind. Daher ist es nur auf das freudigste
zu begrüßen, daß Felix v. Weingartner, sicherlich kein Unberufener
in musikalischen Dingen, in seinem Vortrage zu Ehren von Wagners
1) Cf. Nietzsche an seine Schwester, 3. Mai 1888: „Der Fall Wagner
ist ein Pamphlet über Musik, das sich gegen Wagner wendet. Hier mache
ich den leidenschaftlichen Krieg, da ich nichts in der Welt so wie Wagner
und seine Musik geliebt und bewundert habe und mit Tribschen die erquick-
lichsten und erhabensten Erinnerungen verbinde. Jetzt aber hat die Wagnerei
ihre Zeit gehabt, sie wirkt verderblich. Das sollte sich ihre Gefolgschaft
sagen; sie wird aber immer fanatischer, christlicher und verdüsterter, wie
das ganze Europa; die Wagnerei ist nm' ein Einzelfall. Wie hat sich alles
15'
— 228 —
100. Geburtstage offen bekannte, man möge sich zu Nietzsche stellen,
wie man wolle, aus seinem „Fall Wagner" spreche ein wohltuend
freier Geist, der viel erquickender wirke als etwa die Schriften
Chamberlains oder Henry Todes.
Was Nietzsches Kunstanschauungen betrifft, so war er ein
leidenschaftlicher Liebhaber „der schönen Form", ein überzeugter
Bewunderer des Hellentums, der Eenaissance und der französischen
Kultur des XVIII. Jahrhunderts. Nur langsam ward er sich des
tiefen Unterschiedes bewußt, der zwischen dem griechischen und
dem Wagnerschen Drama besteht: Durch die Wahl seiner Stoffe,
den symboUschen Charakter, den er ihnen gegeben, den Umfang,
den er der inneren Handlung auf Kosten der äußeren gibt, erklärte
sich Wagner als durchaus deutsch empfindender Künstler. Dadurch
aber scheidet er sich scharf von den Meistern der einfachen, Hebten
„schönen Form". Diese waren Nietzsche „eine große Schule der
Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, eine imbändige Sonnen-
fülle und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches,
an sich glaubendes Dasein breitet". Daher sehnt er sich von der
gelehrten, komplizierten und überladenen Wagnerschen Kunst weg
nach einer Kunst mit den einfachen Linien eines griechischen
Tempels, nach einer mehr leidenschaftlichen als träumerischen
Kunst, „nach einer überdeutschen Musik, welche vor dem An-
blick des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen
Himmelshelle nicht verklingt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik
tut". Eine Vorstufe zu dieser neuen Kunst ist ihm Bizets „Carmen",
eine Kunst, die der „wahre" Ausdruck des „lateinischen" Geistes
ist, wie Wagners Werke der Ausdruck des deutschen Geistes sind.
Demgemäß können wir es nur auf das freudigste begrüßen, daß
Nietzsches Schriften gegen Wagner, die zuerst als die Skandal-
broschüren eines Wahnsinnigen abgelehnt wurden, uns heute zu
ernstem Nachdenken über Wagner anregen und einer gerechten,
gegen 1869 bis 1872 verändert! Damals war ich Wagnerianer wegen des
guten Stückes , Antichrist', das Wagner mit seiner Kunst und Art vertrat."
(Deshalb nannte auch die Fürstin Wittgenstein damals selbst Bayreuth „das
Atheistennest!") „Aber in dem Augenblicke, wo es anständiger als je war,
Heide zu sein, wurde Wagner Christ. Frau Cosima nennt man jetzt die
Markgräfin von Bayreuth, ein hübscher Scherz; doch habe ich allerhand
wehmütige Hintergedanken dabei. Wie hat man seit Tribschen den armen
Wagner verweltlicht und verchristlicht, ja, ja, die Frauen!"
— 229 —
objektiven Würdigung seiner Kunstwerke den Weg vorbereiten helfen.
Nie wollen wir es ihm vergessen, daß er von Wagner gesagt hat,
er wirke als Musiker am stärksten und reinsten dort, wo er die
Stimmung des Müden, Halben, Kesignierten, des Verfalls, des Zu-
endegehens, des Herbstes wiedergebe. Für seine Stellung zu Wagner
ist es bezeichnend, daß er, wie erwähnt, bereits zur Zeit seiner
uneingeschränktesten Wagnerverehrung erklärte, aus Bach und
Beethoven spräche eine viel „reinere Natur" als aus Wagner.
Die Erwähnung des so vielfach miß-, bzw. unverstandenen
Begriffes der sogenannten „unendlichen Melodie", dieses wich-
tigsten Requisits der Wagnerschen Musikästhetik, macht es erforder-
lich, zunächst diesen Begriff, dann überhaupt Wagners Ästhetik einer
kritischen Beleuchtung zu unterziehen. Am besten ist es, man geht
von Wagners eigenen Worten aus. Ausgangspunkt seiner Definition
ist das moderne Orchester, in erster Linie seine Verwendung; denn
chatte die antike Tragödie den dramatischen Dialog zu beschränken,
weil sie ihn zwischen die Chorgesänge, von diesen losgetrennt, ein-
streuen mußte, so ist dieses urproduktive Element der Musik, wie
es in jenen, in der Orchestra ausgeführten Gesängen dem Drama
seine höhere Bedeutung gab, unabhängig vom Dialoge im modernen
Orchester, dieser größten künstlerischen Errungenschaft unserer Zeit,
der Handlung selbst stets zur Seite, wie es, in einem tiefen Sinne
gefaßt, die Motive aller Handlung gleichwie in ihrem Mutterschoße
verschließt". Demnach ist das Orchester sozusagen nur ein Grlied
► des Dramas, und Wagners Hauptbestreben ging dahin, Wort und
Gesangsweise frei von Störung durch überlautes Musizieren des
Orchesters zu sichern. Das Verhältnis der Musik zur Dichtung be-
zeichnete er daher folgendermaßen: „In Wahrheit ist die Größe des
Dichters am meisten danach zu ermessen, was er verschweigt, um
uns das Unaussprechliche selbst schweigend sagen zu lassen; der
Musiker ist es nun, der dieses Verschwiegene zum hellen Ertönen
bringt und die untrügliche Form seines laut erklingenden Schweigens
ist die unendhche Melodie." Das ist die „tiefe Kunst des tönen-
den Schweigens", die, wie Wagner in einem Briefe an Mathilde
Wesendonk bekannte, von ihm nie herrlicher geübt wurde, wie im
„Tristan", der daher „mehr Musik ist als alles, was er zuvor gemacht
habe". Die unendUche Melodie ist daher ein Gewebe von „rastlos
a,uftauchenden, sich entwickelnden, verbindenden, trennenden, dann
— 230 —
neu sich verschmelzenden, wachsenden, abnehmenden, endhch sich
bekämpfenden, sich umschlingenden, gegenseitig fast sich ver-
schlingenden musikalischen Motiven, welche um ihres bedeutsamen
Ausdruckes willen der ausführlichsten Harmonisation, wie der selb-
ständig bewegten orchestralen Behandlung bedurften ... sie drücken
ein Gefühlsleben aus, wie es bisher in keinem rein symphonischen
Satze mit gleicher Kombinationsfülle entworfen werden konnte, und
somit hier wiederum nur durch Instrumentalkombination zu ver-
sinnlichen war, wie sie mit gleichem Reichtum kaum noch reine
Instrumentalkomponisten in das Spiel zu setzen sich genötigt sehen
dürften". Die unendliche Melodie ist also eine ununterbrochene
Seelen- und Geistessprache in Tönen, die nicht dem nächsten schönen
Klang, sondern stets dem Ausdruck der Dichtung folgt. Nun decken
sich in Bizets „Carmen" Musik und Stoff vollkommen, aber trotz-
dem muß man sagen, daß die Melodie auch so ihr ganzes Tempera-
ment auslebe, denn sie kümmert sich nicht so sehr um das Ge-
wissen des Textes und der einzelnen Gefühls Wahrheit, sondern
drückt die gesamte Gefühls Wahrheit durch ihre leidenschaftliche
Bewegtheit und durch ihre von dauernder Phantasie wachgehaltene
Buntheit und Rhythmik aus. Die Wagnersche Musik ist und bleibt
Programmusik. Wenn aber Programmusik die Musik ist, die
nicht durch sich selbst wirkt, sondern durch die Idee, welche ihr
unterschoben ist, wenn sie nur die Illustration eines Vorganges oder
Erläuterung eines philosophischen Problemes sein soll, dann hat die
Musik aufgehört, das zu sein, was sie sein soll — Musik. Als ab-
solute Musik wäre demnach die Musik zu definieren, die ohne Zu-
hilfenahme von Vorstellungen oder ohne Verbindung mit anderen
Künsten nur durch sich und an sich selbst wirkt. Wird aber nicht
alles als absolut definiert, was eigentlich absolut nicht zu definieren
ist? Bei dieser Gelegenheit möchte ich einer kleinen Rossini- Anekdote
Erwähnung tun, die unser Problem schlaglichtartig beleuchtet: man
sprach an Rossinis Tafel von Wagner und seiner Musik. „Er ist",
äußerte Rossini, „ein Mann von ungeheurem, aber durch ein falsches
System verdorbenem Talent. Seine Musik ist voller Wissen ... es
fehlt nur der Rhythmus, die Form und die Idee, die Melodie.*
Während er sprach, legte er einen prächtigen Turbot mit Kapern-
sauce vor, und als die Reihe an Herrn Carafa kam, der eben eine
Lanze für Wagner gebrochen hatte, sandte ihm Rossini nur Sauce
— 231 —
und Kapern. „Nun denn," rief Carafa, „du gibst mir keinen Fisch?"
— „Was willst du?" entgegnete Rossini, „ich bediene dich nach
deinem Geschmak . . . das ist Wagnersche Musik! Sauce, kein Fisch!"
Diese Anekdote entbehrt jedoch nicht eines charakteristischen Reizes.-
wenn man bedenkt, daß Rossini einer der klassischesten Vertreter
der reinen Melodik ist. Denn bei seinem Kunstschaffen zog er
einzig und allein die stimmliche Begabung des Sängers in sein
Kalkül, und nur ihr leiht seine Kunst um jeden Preis die schöne
Linie. Bei ihm ist die Melodie wirklich „erdenlos"; materialisiert
ist sie nur insofern, als sie des Elementes bedarf, das sie hörbar
macht: der Luft. Deshalb gestattet sie tausend Variationen, die uns
allerdings nur ein Virtuose faßbar machen kann. Bei Wagner da-
gegen müssen wir, abgesehen von seiner unendlichen Melodie, das
als Melodie bewerten, was ein unzerstörbares und am wenigsten
verspielbares Wesen von höchstem Ausdruckscharakter und heiligster
Symbolik ist. Deshalb wird bei ihm die Variation des melodischen
Motivs, um mit Oskar Bie zu sprechen, ein Spiegel psychologischer
Wandlung.
Wenn daher vielfach behauptet wird, daß Wagners Kunst
als „reine Musik" das Formloseste, Unmöghchste sei, das sich über-
haupt denken läßt, so wird nur der Mensch, dem die entmateriali-
sierte Melodie über alles geht, die Wahrheit der oben ausgesprochenen
Behauptung rückhaltslos anerkennen. Wessen Ohr dagegen in der
Musik nur eine Polyphonie hört, wer Geist für Gefühl und Distanz
für Erfahrung nimmt, der wird die obige These aufs entschiedenste
bestreiten; denn es gibt Menschen, die nur für eine materialisierte
Melodie ein Ohr haben. Nimmt man daher, um beim Begriff „reine
Musik" zu bleiben, der Wagnerschen Musik die Bühne weg, so fällt
sie auseinander. Denn in seinen Werken war bis zur letzten Note
das Poetische das Zeugende, und von hier aus gewann er auch für
die musikalische Seite seiner Werke eine Form, die zwar nicht aus
der Musik selber kam, aber doch eben immerhin eine Form war,
das Letzte in unserer Musik, das wirklich nach Beherrschung und
Gestaltungskraft aussah. Die Melodie, die bei Mozart nichts anderes
als Form war, ist bei Wagner bereits Gefühl und in gewissem
Sinne sogar auch schon Geist geworden. Aber trotzdem darf man
im Wagnerschen Kunstwerke das Ewige und Bleibende nicht über-
sehen. Und das ist, daß er das rein persönliche Element, das
— 232 —
Beethoven als erster in seine Symphonien hineingetragen hatte, als
echter Deutscher von der Symphonie auf die Oper übertrug. Das
ist das „Problem Wagner" ! Und daß diese seine Tat den reinsten,
den ideellsten Motiven entsprang, dafür ist Beweis, daß er unser
Theaterleben reformieren wollte, die Bühne ganz im Sinne Schillers
als moralische Anstalt betrachtete. Aber die Göttin Musik hat, um
wieder mit Bie zu sprechen, selbst durch dieses Opfer an die Welt
ihre Haltung nicht verloren! So ist die Musik des „Tristan" gerade
dafür ein charakteristisches Beispiel, daß die Gesangsmelodien mit
Liedmotiven sich nahezu decken, weshalb einer meiner Freunde
einst den „Tristan" treffend „Wagners itahenischeste Oper" genannt
hat. Wer denkt da nicht ganz besonders an das herrliche Duett im
zweiten Aufzuge! Aber einen gewaltigen Unterschied bedeutet es,
wenn im „Ring des Nibelungen", dem einzigen Werke des Meisters,
in dem seine Theorie des Leitmotivs sozusagen zum Prinzip er-
hoben ist, die Motive zur Charakterisierung der auftretenden Per-
sonen schlechthin angewendet werden. Was daher bereits der
Franzose Fetis über diese Art der Verwendung des Leitmotivs
gesagt hat, daß es, so verwertet, die freischaffende Inspiration
erstickt und die Arbeit des Künstlers zu einer ununterbrochenen
Reihe von künstlichen Kombinationen macht, ist mit gewissen
Einschränkungen auch heute noch gültig, und sollten diese Worte
vornehmlich jenen zu denken geben, welche Wagners Musik um
jeden Preis gegen die Musik selbst eines Beethoven oder Mozart
ausspielen wollen. Denn es gibt im „Ring" Stellen, die, statt den
Eindruck eines wahren Kunstwerkes zu machen, auf mich den
Eindruck bewußtest geleisteter Verstandesarbeit ausüben. So dienen
im „Ring" viele Leitmotive nicht so sehr der Affektbetonung als viel-
mehr der intellektuellen Verdeutlichung, sie sind sozusagen ein
Kommentar zum Text. Man könnte nun einwenden : Das sogenannte
Schwertmotiv z. B. braucht in mir nicht bloß die Vorstellung eines
Schwertes erwecken, es kann ja damit gleichzeitig in mir das Ge-
fühl siegreicher Kraft erzeugen! Das zugegeben ist aber klar, daß
das Leitmotiv dann nicht nur Vorstellungssymbolik mit Tönen treibt,
sondern gerade an solchen Stellen, wo Text und Szene einen dem
Motiv direkt entgegengesetzten Affekt ausdrücken, dem Ganzen
keineswegs zum Vorteil gereicht, besonders dann nicht, wenn es
harmonisch, rhythmisch, instrumental und dynamisch variiert ist.
— 233 —
Deshalb formulierte Nietzsche als der genaueste Kenner der Psycho-
logie Wagners sein Urteil über die Musik des Meisters in den Worten :
„Wagner war nicht Musiker von Instinkt! Dies bewies er damit,
daß er alle Gesetzlichkeit und, bestimmt geredet, allen Stil in der
Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nötig hatte, eine
Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung,
der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken. Wagner dürfte nur
hier als Erfinder und Neuerer ersten Ranges gelten — er hat das
Sprachvermögen der Musik ins Unermeßliche vermehrt.
Immer vorausgesetzt, daß man zuerst gelten läßt, Musik dürfe unter
Umständen nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern
ancilla dramaturgica sein." . . . Dafür aber ist Wagner der Musiker,
der „in der Musik das Mittel erraten hat, müde Nerven zu reizen. . .
ist er der Meister hypnotischer Gifte, wirft er die Stärksten noch
wie Stiere um". Und dem ist in der Tat so: denn auch die Wider-
strebendsten haben sich seiner Macht fügen müssen! Selbst wer im
melodischen Gesänge das Heil der Musik sieht, und wer die ver-
standesmäßigen Auseinandersetzungen ebenso unmusikalisch findet,
wie die epischen Erzählungen undramatisch, gerät doch immer wieder
in den Bann dieser sprechenden Motive, dieser spannenden Harmonik,
dieser ungeheuren Steigerungen und dieser niederschmetternden Kraft-
akzente; in seiner Art ist Wagner eben einzig und bis heute un-
erreicht!
Indessen wird dieses Urteil Nietzsches nur den oberflächhchen
Kenner der Wagnerschen Kunst befremden. Der tiefer Blickende, in
erster Linie natürlich derjenige, der mit Wagners theoretischen
Schriften vertraut ist, über die gleichfalls niemand anderer ein zu-
treffenderes Urteil gefällt hat als Nietzsche, wird gerne zugeben,
daß, weil Wagner die Kraft mangelte, das in Worten mitzuteilen,
was ihn im Innersten bewegte, er dies nur mit Hilfe der Musik hat
sagen können. Aber demselben Manne, der das stolze Wort geprägt
hat, „ich kann den Geist der Musik nicht anders fassen als -in der
Liebe!"; war diese Liebe keineswegs ein Etwas nach Art des pla-
tonischen Eros, sondern eine Liebe, der kein Mittel zu schlecht
schien, Befriedigung ihres glühenden Sehnens zu finden. Daher sind
seine Tonwerke nicht wie bei Beethoven aus der keuschen Stimmung
des absolut empfindenden Geistes empfangen und geboren; seine
Themen entstehen vielmehr „immer nur im Zusammenhang und
— 234 —
nach dem Charakter einer plastischen Erscheinung". Das dichterische
Stimmungsbild im Herzen, die zukünftigen Darsteller vor Augen,
verrichtet Wagner mit der musikalischen Gestaltung seiner Szene
mehr eine „ruhige und besonnene Nachtarbeit, der das Moment des
eigentlichen Produzierens bereits vorausgegangen ist", da er, ehe er
zum Schaffen eines Werkes gelangt, schon lange in dessen musi-
kalischen Dult untergetaucht ist. Aber dazu braucht er einen
Arbeitsraum, ausgestattet mit raffiniertester Pracht, betäubende
Wohlgerüche, Licht- und Farbeneffekte, den oszillierenden Glanz
schwerster Seidenstoffe, weiche Pelze und dicken Atlas, deren Be-
fühlen ihn heftig erregten, als berauschende Reizmittel für seine
gestaltende Phantasie. Aus ihnen sog er jenes Narkotikum, das
dann in seine Musik übergeströmt ist. „Muß ich mich wieder in die
Wellen der Phantasie stürzen, um mich in einer eingebildeten Welt
zu befriedigen, so muß wenigstens meiner Phantasie auch geholfen,
meine Einbildungskraft unterstützt werden. Ich kann dann nicht
wie ein Hund leben: ich kann mich nicht auf Stroh betten und
mich in Fusel erquicken: ich muß irgendwie mich geschmeichelt
fühlen, wenn meinem Geiste das blutig schwere Werk der Bildung
einer unvorhandenen Welt gelingen solle!" Daher sind Pathos und
Sinnlichkeit die beiden Pole, innerhalb deren sich sein Ausdrucks-
vermögen bewegt. Und doch mußte auch ein Nietzsche gestehen:
„Will man mir glauben, so hat man den höchsten Begriff Wagner
nicht aus dem zu entnehmen, was heute von ihm gefällt, ... es gibt
noch einen Wagner, der kleine Kostbarkeiten beiseite legt: unseren
größten Melancholiker der Musik, voll von Blicken, Zärtlichkeiten
und Trostworten, die ihm keiner vorweggenommen hat ... ein Lexikon
der intimsten Worte Wagners, lauter kurze Sachen von 5 bis 15 Takten,
lauter Musik, die niemand kennt... Wagner ist der größte Minia-
turist der Musik, der in den kleinsten Raum eine Unendlichkeit
von Sinn und Süße drängt."
Vielleicht wird es nun so mancher Wagnerianer eine Blasphemie
nennen, daß ich mit Wagner Rossini und nun auch noch Verdi in
einem Atem nenne. Denn Wagnersche Musik und die Musik Rossinis
oder Verdis — kann es für einen „waschechten" Wagnerianer etwas
Disparateres, Inkommensurableres geben, als die durch Wagner ver-
tretene germanische Musik und die romanische, deren glänzendste
Vertreter die beiden genannten itahenischen Meister sind? Und doch
— 235 —
hatte kein Geringerer als der Meister selbst in bezug auf die
romanische Musik sich zu H. v. Wolzogen geäußert: „Freilich habt
ihr's leichter, darauf zu schimpfen als davon zu lernen!" Ich möchte
nun meinen, daß auch unsere Wagnerianer gerade von Verdi sehr
viel lernen könnten, um das Lebenswerk Wagners voll und ganz^
also objektiv, zu begreifen, jenes Wagner, der sich die ganze Welt
erobert hat und dem alle großen Meister ihren schuldigen Tribut
entrichtet haben, Verdi hauptsächhch dadurch, daß er in seinen
Opern gleich Wagner das Hauptgewicht auf das dramatische Moment
legte und auf der musikalischen Szene als der Einheit der Gestaltung
die einzelnen Akte aufbaute. Von Wagner unterscheidet er sich
jedoch insofern, als er die dramatische Charakterisierung in die
melodische Gesangslinie verlegte, die durch das Orchester nur ge-
stützt wird, während Wagner, wiewohl er ein aufrichtiger Be-
wunderer der italienischen Gesangskunst war, seinem Orchester die
Aufgabe zuteilte, instrumental diesen oder jenen dramatischen Affekt
zu malen, wobei der Sänger bloß ausdrucksvoll deklamiert. Mit
anderen Worten: ist in einem Worttondrama Wagners die Gefahr
vorhanden, daß die Stimme des Sängers durch die Polyphonie des
Orchesters, das die „unendliche Melodie" spielt, sozusagen erstickt
wird, läßt Verdi sein Orchester nie zu solcher Stärke anschwellen,
daß jene Gefahr eintreten könnte. Deshalb sagte der Meister woht
mit Beziehung auf jene Komponisten, die in einem Musikgetöse die
menschliche Stimme begraben, daß „unsere vornehmen Opernkom-
ponisten den guten italienischen Kantabilitätsstil hübsch ablernen,
dabei aber sich vor den modernen Auswüchsen desselben hüten
müßten". Das kann doch nichts anderes heißen, als daß die Melodie
das A und das ii aller Musik ist und es bleiben wird in alle Ewig-
keit, jene Melodie, die uns nirgends schöner, edler und reiner ent-
gegentönt, als aus den Meisterwerken Mozarts, Schuberts und
Beethovens. Was daher Nietzsche 1884 an seinen Jugendfreund
Krug schrieb: „Ich sehe mir ^'etzt alle Musik auf die immer größer
werdende Verkümmerung des melodischen Sinnes an. Die Melodie,
als die letzte und sublimste Kunst der Kunst, hat Gesetze der
Logik, welche unsere Anarchisten als Sklaverei verschreien möchten 1",
wird gleichfalls ewige Geltung haben. Und selbst der Meister von
Bayreuth, dessen Melodien nach ganz eigenen, individuellen Gesetzen
geschaffen sind, konnte nicht umhin, trotz seiner „unendlichen
— 236 —
Melodie", die unsere Wagnerianer mit geschlossenen Augen aus
dem Orchester herauszuhören sich bemühen — sie hören aber stets
nur die Motive! — , zu bekennen: „Setzen wir zunächst fest, daß
die einzige Form der Musik die Melodie ist, daß ohne Melodie die
Musik gar nicht denkbar ist, und Musik und Melodie durchaus un-
trennbar sind. Eine Musik habe keine Melodie, kann daher, in
höherem Sinne genommen, nur aussagen: Der Musiker sei nicht
zur vollen Bildung einer ergreifenden, das Gefühl sicher bestimmen-
den Form gelangt, v^as dann einfach die Talentlosigkeit des Kom-
ponisten anzeigt, seinen Mangel an Originalität, der ihn nötigte, sein
Stück aus bereits oft gehörten und das Ohr gleichgültig lassenden
melodischen Phrasen zusammenzusetzen." Gewiß: Wagners Kunst-
werke werden als einzig in ihrer Art auch weiterhin unerreicht da-
stehen; aber ebenso auch die Kunst Verdis, die Kunst des bell
canto; freilich wird damit die Frage nicht gelöst, ob Wagner, der
mit seinem „Lohengrin" seine herrlichste Oper alten Stils geschaffen
hat, mit seinen späteren Werken mehr unbewußt die alte Opernform
zerbrach, oder ob er auf Grund seines revolutionären Programms aus
dem Jahre 1848, daß „nur die Revolution aus ihrem tiefsten Grunde das
von neuem und schöner, edler, allgemeiner gebären könne, was sie dem
konservativen Geiste einer früheren Periode schöner, aber beschränkter
Bildung entriß", mehr in Befolgung einer willkürlichen Konsequenz
eine Form zerstörte, die, wie Verdi durch seine Meisterwerke „Othello''
und „Falstaff" bewies, sich durchaus noch nicht überlebt hatte.
Es ist klar, daß mit der Erörterung dieser Frage ein Gebiet
betreten wurde, das das tiefste und innerste Wesen aller Musik
ausmacht. Nicht der Klang, auch nicht die kühnste Kombination
der Klänge geben der Musik ihren Ewigkeitswert, sondern einzig
und allein nicht die Erfindung des „Motivs", sondern der Melodie!
Und diese ist stets eine für sich selbständige Wesenheit und durch-
wegs ein wahrhaftes Geschenk der Götter. Wenn daher Ferrucio
Busoni in seinem Buche „Ästhetik der Tonkunst" weder für Pro-
gramm-, noch für absolute Musik ist, welch letztere ihm wegen
ihres regelmäßigen Baues nicht behagt; wenn ihm Beethoven die
„ganz absolute Musik" zwar „nicht erreicht", aber „in einzelnen
Augenblicken doch geahnt" hat; wenn ihm Wagner wegen seiner
„selbstgeschaffenen Grenzen" nicht mehr „steigerungsfähig" erscheint
uud er daher der gegenwärtigen Verarmung unserer Musik abhelfen
— 237 —
will durch Erweiterung der Tonleiter um Vierteltöne — die un-
geahntesten Klangwirkungen würden sich da ergeben! — , so ist all
der langen Reden kurz er Sinn nur der : die eigene Armut an Melodien
soll verhüllt werden! Freilich, in einem Punkte hat Busoni ent-
schieden recht: alle unsere heutige Musik nach Brahms ist etwas
Totes, Abgestorbenes, ist Theatermusik spätromantischer Prägung,
nur auf Klangwirkung gestellt, nicht auf Erfindung. Um die Musik
Haydns, Mozarts, Brahms', Beethovens schwebt ein eigentümhches
Geheimnis: wir kennen sie nur vom „Hören", wissen aber gar nichts
von ihren ungeheuren Werten, von dieser niemals wieder über-
troffenen beispiellosen Originalität der Erfindung, der Arbeit und des
Stils. Und dunkel liegt vor dem Bück der gegenwärtigen Musiker-
generation die Schaffens weit eines Johannes Brahms, ihre Tiefe, ihr
feierhcher Ernst, ihre innerste Beziehung zum deutschen Naturell.
Statt sich in die Geisteswelt der Werke unserer großen Meister zu
vertiefen, statt zu ergründen, was ihnen ihre ewige Lebenskraft gab,
glaubte man sie überbieten zu können durch eigene Werke, ohne
aber im Geringsten zu sehen, daß ihnen selbst das kürzeste Leben
beschieden sei. Wie ist dies möglich? Allgemein nimmt man an,
daß etwa mit dem Jahre 1900 der Höhepunkt einer Entwicklung
des Menschengeschlechtes erreicht war, innerhalb deren dieses aus
seiner ursprüngUchen geistigen Heimat in das Reich der Materie,
die irdische Erscheinungswelt hinabgestiegen sei. Dieser Abstieg
habe ganz naturgemäß erfolgen müssen: das Pendel mußte so weit
nach dieser Seite ausschwingen, damit es nun, um so heftiger, nach
der anderen aushole. Nun kehre das Pendel langsam zurück, zu-
nächst zum Höhepunkte, und in dieser Schwingung schwinge die
gesamte bisherige Kultur der Menschheit: also auch die Musik. Nun
steht aber fest: die Musik allein, ob im Verein mit den anderen
Künsten oder für sich, erinnerte in diesem Siegeslaufe der materiellen
Entwicklung an die geistige Heimat des Menschen, sie allein nahm
sich des vernachlässigten „Gefühles" an, sie allein trug dem Menschen
die Dosis Gemüt zu, deren er bedarf, um zu leben. Darum war sie
so schön, so kunstvoll, so tief, so willig und lebte unter den Ge-
setzen, die sie sich selbst holte und gab aus ewigen Bereichen.
Was sie errang, was sie als Botschaft aus höheren Welten auf
diese Erde brachte, reicht weit hinaus für ferne Zukunft. Indes : sie
gab nicht nur, sie nahm auch auf: den Geist der Zeit verspürte sie
— - 238 —
und die Verlockung, alle materiellen Möglichkeiten auszunutzen.
Aber auch sie trägt jetzt die Kosten der Reise und nimmt sie aus
erworbenen Schätzen, ziert sie mit wiederholtem und erborgtem
Glänze, mit epigonenhafter Verschwendung und — verarmt doch
dabei! Das Musikdrama war ihr erstes, großes, freiwilliges Armuts-
bekenntnis. Nichts ist daher verkehrter, als das „Entwicklungs-
gesetz" auch ihr um jeden Preis zuzumuten, jenes Entwicklungs-
gesetz, das die Quelle so vieler heilloser Irrtümer auf Erden geworden
ist. Denn daß wir uns nur nicht täuschen: was irdische Musik an
Innerlichkeit erwerben und geben konnte, ist durch die großen
Meister der Musik erschöpft. Tief und beherzigenswert sind die ewig
wahren Worte Grillparzers aus seiner Vorrede zum „Goldenen Vlies*':
„Es gehört — bei aller Besonnenheit — eine gewisse Unschuld des
Gemütes zu aller Produktion; wer ist denn noch imstande, sie zu
bewahren? Daher sind die ersten Werke unserer neuesten Dichter
die besten; sobald sie zur Reflexion kommen, tötet die Masse der
eindringenden Rücksichten jedes freie Emporstreben, und Nebel und
Begriffe geben sie statt Anschauung und Gestalt. Über dem Suchen
nach immer tieferer Begründung, nach imm.er höheren Anhalts-
punkten verliert sich das ganze Bestreben ins Ungeheure, Unsinn-
liche, Schranken- und Formlose, bei jedem Schritte wird an Extension
gewonnen, und darüber geht zuletzt alle Intension bis zur hohlen
Leerheit verloren." So hat denn auch Goethe nur das wirkliche
Genie im Auge, wenn er sagt:
„Wer Großes will, muß sich zusammenraffen,
in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister
und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben!"
Darum beruhte, wenn wir zusammenfassen, Nietzsches Trennung
von Wagner auf seiner wachsenden Einsicht in Wagners Mängel und
Unvollkommenheiten. Je weniger Nietzsche geneigt war, sich für
diese fragwürdigen Dinge aufzuopfern — Schopenhauertum und
buddhistische Mitleidsmoral in katholischem Gewände! — , je mehr
er sich der Wissenschaft, dem klassischen Drama, der Epik näherte,
je apollinischer seine Weltauffassung wurde, desto mehr befriedigte
er seine musikalischen Bedürfnisse in dem Lautertranke der absoluten
Musik. Dort konnte er die Form genießen und das Maß, das Gesetz an-
beten, das uns erst Freiheit gibt — Eigenschaften, die er im
Wagnerschen Musikdrama schmerzlichst vermißt hatte.
XVI. CHAMBERLAIN, SEILING, BRUNO GOETZ
ÜBER NIETZSCHE.
Wir wollen uns zunächst aber mit H. St. Chamberlain be-
schäftigen. Im Vorworte zur 3. Auflage seiner „Grundlagen des
XIX. Jahrhunderts" schreibt er: „Mit Recht wird Untreue, wenn
auch nicht als das schwerste, so doch als das schwärzeste Ver-
brechen betrachtet. Für sie gibt es keine Sühne ; nur der Wahnsinn
kann sie entschuldigen. Seit Jahren streiten die Gelehrten darüber,
in welchem Augenblicke Nietzsche tatsächlich in Wahnsinn verfiel;
und doch liegt es klar vor aller Augen: in dem Augenblicke, als er
von Wagner abfiel. Und recht war es und versöhnend, daß der
arme Mann sich dann öffentlich gegen den Freund wandte, daß er
ihn mit Kot bewarf, daß er das Heiligtum seines Herzens vor aller
Welt niederriß und zugleich alles andere Edle verleugnete, aus dem
^r in heißem Ringen sein gutes Ich nach und nach aufgebaut hatte ;
"das war echte Natur; so sprach die gute Mutter für ihn und ver-
kündete laut: Seht, er ist nicht untreu, er ist von Sinnen." Die
Saat, die Glasenapp vorsichtig gesäet, sie trug gar bald vielver-
heißende Frucht^): und heute wuchert dieses Unkraut üppiger denn
je. Und doch, wenn man die Worte Chamberlains liest und in ihrer
ganzen Schwere auf sich wirken läßt, ist man in faktischer Ver-
*) So schrieb auch Wolfgang Golther („Deutsche Literaturzeitung",
Jahrgang 1908, Nr. 1): „Nietzsche fiel von Wagner ab aus maßlos eitler
Selbstüberhebung; der angeblich so starke und selbständige Nietzsche mit
seinem unerträglich psalmodierenden Predigerton und seinen endlos phrasen-
haften Wiederholungen unterliegt überall den minderwärtigsten äußeren Ein-
flüssen, die er in gesunden Tagen aufs tiefste verachtet hätte. Daß in diesem
tollen Wirrwarr gelegentlich die Blitze eines einmal großen und reinen
Geistes nachzucken, ist eine aus jeder Krankengeschichte genügsam be-
kannte Tatsache. Wer den Fall Nietzsche in seinem Verhältnis zu Wagner
untersuchen wollte, müßte von den hier angedeuteten Gesichtspunkten aus-
gehen."
— 240 —
legenheit, was uns mehr abstößt: das holde Pathos seiner Diktion
oder die gekünstelte Naivität, mit der dieser sittlich so hoch-
stehende Mann, dieser trotz oder vielleicht gerade wegen seines
profunden Wissens genialste — wie er sich selbst nannte —
„Dilettant" sich als der größte Wagnerianer im schlechtesten
Sinne des Wortes gebärdet. Wie kindlich naiv ist es doch, sich
auf das Urteil der „guten" Mutter Nietzsches zu berufen, einer
Frau, die als Mutter die liebendste und sorgendste Mutter war, die
man sich denken kann, aber eben deshalb, zu ihren Ehren sei
es gesagt, kein Verständnis für die geistige Größe ihres Sohnes besaß.
Sie, als die fromme Pastorsfrau, die es erleben mußte, daß ihr
Sohn die heihgsten Güter der Menschheit rücksichtslos angriff, konnte
nichts anderes tun, sie mußte, wie Richard Oehler, Nietzsches Vetter,
erzählt, den harten Schicksalsschlag, der ihren Sohn traf, als eine
Strafe des Himmels für seine irreligiösen Schriften auffassen. Aber
die Wissenschaft, die doch Chamberlain vertritt oder vertreten will,
steht hoch über der Person; daher kann für sie die Klage einer
Mutter kein gewichtiges Argument sein. Nicht viel besser urteilt
Chamberlain über Nietzsche in seiner „berühmten" Monographie
über Wagner: Wie schon erwähnt wurde, bewundert er in der
„IV. Unzeitgemäßen" Nietzsches Prägnanz der Gedanken, seine
Sicherheit, mit der er überall das Wesentliche hervorhebt, die lapidare
Kürze und edle Begeisterung; deshalb sei diese Schrift das Beste,
was dieser merkwürdige Mann je geschrieben habe. Und doch erbhckt
er in dem Urteile Nietzsches „Wagner gehöre zu den ganz großen
Kulturgewalten", etwas Einseitiges, einen frühzeitigen Hinweis auf
die krankhafte Anlage von Nietzsches scharfem Geiste: denn dieser
habe in hellster Beleuchtung erblickt, was dem anderen noch ver-
schleiert blieb, sei jedoch von dem Lichte selber geblendet worden;
er hätte sagen sollen „Wagner diene einer großen Kulturgewalt!"
Aber infolge von Eindrücken, die mit Wagner und Bayreuth in
keinerlei Verbindung standen, habe sich sein Geist zu umnachten
begonnen, sich von der so klar erkannten Wahrheit abgewendet,
habe Nietzsche närrische Broschüren von abstoßender Trivialität
gegen den Mann gerichtet, dessen Größe er in so einziger Weise
verkündet hatte. Hinter den Gaukelbildern, mit denen die Krankheit
seinen außerordentlichen Verstand umhüllte, lebte doch noch Wagners
Gestalt, nur in tiefster Seele, seinem zerrütteten Denken nicht mehr
— 241 —
erreichbar ... als dieser herrliche Verstand zertrümmert war, hatte
das furchtbare Leiden ihn zum Hofnarren eines frivolen, skandal-
süchtigen fin de siecle gemacht. Und daneben zählt Chamberlain
Nietzsche doch zu jenen PersönHchkeiten, die einem kleinen Mikro-
kosmus gleichen. Gelehrt, wahrhaft gelehrt, von einer Gelehrsamkeit^
die nicht aus der Addition zahlloser Ziffern besteht, sondern aus
einem zu Fleisch und Blut, zu tiefer Überzeugung und hoher Be-
geisterung umgewandelten Wissen ; man kann bei ihm lernen, wenn
nicht, was Genie, so doch, was Kultur heißt, weil „Fülle des Wissens*
bei ihm wirklich zur „Fülle des Verstandes" ward. Dieses Lob
Nietzsches ist aber leicht erklärlich: es gilt nur dem „Wagner-
schriftsteller" Nietzsche. Und damit ist Chamberlains Standpunkt
zur Genüge illustriert.
Max Seiling, der sich Chamberlain anschließt und geradezu
erklärt, „die Absage Nietzsches an Wagner sei so ungeheuer
und einzig dastehend, daß sie aus der normal entwickelten
Erkenntnis eines etwaigen noch so großen Unterschiedes zwischen
dem eigenen und dem fremden Wesen unmöglich erklärt werden
könnte," behauptet, „daß unter den zahlreichen Aussprüchen
Nietzsches, die darauf schließen lassen, daß sein Geist zeitweise
umnachtet war, lange bevor die eigentliche Katastrophe ausbrach, es
einen gebe, der ganz besonders geeignet sei, diese Annahme, bzw.
Tatsache zu erhärten: Nietzsche war es vorbehalten, Jesum von
Nazareth in einer Weise zu schmähen, die selbst den schlimmsten
Feinden des Christentums ganz ferne liegt. Er nennt jenen Einzigen
eine ,arme, kranke Pöbelart, die nicht zu tanzen weiß!!'" Kein
Wunder, daß nach Möbius solche Gedanken gegen das Christentum
nur „ein Lump oder ein Gehirnkranker" schreiben konnte. Doch
müßte dann nicht auch Meister Luther dieser Ehre teilhaftig sein?
Das fragen wir nur nebenbei! Sowohl Chamberlain als auch Seiling
scheinen mir im höchsten Grade oberflächlich zu urteilen: denn ein
Mann von der geistigen Größe eines Nietzsche läßt sich, selbst
wenn er sich noch so wütende Ausfälle gegen das Christentum und
Wagner leistete, doch nicht so leicht abtun, daß man ihm einfach
früh beginnende, allerdings intermittierende Verrücktheit nachweist
und so sich bilhg der Aufgabe entzieht, festzustellen, was bei ihm
positiv und negativ ist. Wer von uns weiß denn, wie Gehirnkrank-
heiten Form oder Gehalt der geistigen Leistungen eines Menschen
Grießer, Wagner und Nietzache. ]ß
— 242 —
beeinflussen? Sie mögen das eine Mal herabdrücken und ein anderes
Mal steigern, womit aber auch nichts gesagt ist. (Sehr richtig urteilt
daher Reininger [1. c. p. 180]: „Im allgemeinen haben die [stets
sporadischen] pathologischen Angriffe nur eine noch überhöhte Affekt-
betonung gewisser Probleme bis zur extremsten Subjektivität erzeugt ;
also nur die Steigerung eines Zuges, der auch dem gesunden Philo-
sophen wesentlich war.") Aber diese jeder Wissenschaftlichkeit ent-
behrende Aburteilung Nietzsches auf Grund seiner Verhöhnung der
Lichtgestalt Jesu, abgesehen davon, daß Nietzsche dies noch öfters
und in noch gröberer Art getan hat! ist nur ein deutlicher Beweis
dafür, daß man die Genesis des Übermenschenideals nicht kennt
oder nicht kennen will. Paul Deussen, der größte und treueste
Schüler Schopenhauers, von dem ich gelegentlich eines Vortrages
das bedeutsame Wort hörte, daß Nietzsche sein Freund, ja sein
treuester Freund war, wie er nie einen hatte noch je fand, hat über
Nietzsches Übermenschenideals ich in Worten geäußert, die es wahrlich
verdienen, von allen denen, die selbständig denken gelernt haben,
tief beherzigt zu werden: der Übermensch ist ein Menschheitsideal,
geradeso wie es die Christusgestalt der Kirche ist. Beide treffen in
den wesentlichen Zügen zusammen, und es ist kein besonderer
Unterschied zwischen beiden Idealen, wenn Nietzsche die Verwirk-
Uchung seines Ideals von der Zukunft erwartet, die Kirche das ihrige
verwirkUcht sieht in einem Menschen der Vergangenheit. In Wahrheit
nämlich gehört dieses Menschheitsideal, mögen wir es nun Christus
oder Übermensch nennen, weder der Vergangenheit noch der Zukunft
an^ sondern ist eine metaphysische, zeitlose Gotteskraft, welche
potentiell in uns allen schlummert und in uns allen hervortreten
kann. Das geschieht jedoch nicht auf dem Wege der Genialität,
sondern durch Selbstverleugnung, das heißt durch Moralität'). Denn
1) Damit beweist jedoch Nietzsche nur, daß er auch von Schopenhauer
nicht loskommen konnte. „Der Wille zur Macht, den Nietzsche zur Entfaltung
bringen will, liegt, recht verstanden, in der Richtung der Verneinung, nicht
in der der Bejahung, deren Grundzug Sinnlichkeit, Schwäche und Unvermögen
zu allem Großen ist. Oder wenn man eine andere Terminologie vorzieht, der
Wille zur Macht ist nicht eine individuelle, sondern eine ü b e r i n d i-
V i d u e 1 1 e B e j a h u n g, das heißt er ist Verneinung" (Deussen, 1. c,
p. 106). Nietzsche selbst sagte wiederholt: „Meine stärkste Eigenschaft ist
die Selbstüberwindung... meine Selbstüberwindung ist im Grunde
meine stärkste Kraft."
__ 243 —
der Intellekt in uns ist und bleibt immer etwas Sekundäres; das
Radikale aber und Metaphysische in uns allen, das primäre Element, ist
immer nur der Wille. Dieser aber ist eine Potenz, welche nicht nur
dem Genie, sondern allen Menschen ohne Unterschied zukommt.
Daher ist der Übermensch kein Messias, sondern ein jedem Menschen
ergreifbares Lebensideal. Mit wieviel christlichen Idealen der Nietzsche^
sehe Übermensch durchsetzt und durchtränkt ist, lehrt am deut-
hchsten eine Lektüre seines Nachlasses zum „Zarathustra": Er
fordert die schaffende Liebe, die sich selber über ihren Werken
vergißt; und sein Übermensch, der Verklärer des Daseins, ganz
epikurischer Gott, ist Caesar mit der Seele Christi usw. Was
Nietzsches Stellung zum Christentum betrifft, so sei hier nur daran
erinnert, daß er speziell mit seinem „Antichrist" aufreizen, gleich
Ibsen „den Torpedo unter die Arche legen" wollte, um sie in die
Luft zu sprengen. Aber trotz allen Bedauerns für seine einseitige
Auffassung und Gehässigkeit muß man anerkennen, daß dieses
Buch „die auf Leben und Tod herausfordernde Streitschrift eines
im Innersten verwundeten Gläubigen ist". Genauer und eingehender
soll über diesen Punkt später gehandelt werden. Um zu Seilings
Behauptung zurückzukehren, fragen wir, wäre schließlich Nietzsche
wegen seiner Anfeindung des Christentums wirkhch jener Narr ge-
wesen, als den man ihn so gerne hinstellt, was müßte man dann
erst von Heine ^) sagen, der das Kreuz auch ganz umstoßen wollte,
der Jesum schmähte und besudelte, der die Seele des Christentums
töten wollte, dessen sterblichen Leib Voltaire mit seinen Scherzen
^) Heine sagte sich gleich Börne nur äußerlich vom Christentume los,
„wie Kämpfer", bemerkt Grätz sehr treffend, „die des Feindes Rüstung und
Fahne ergreifen, um ihn desto sicherer zu treffen und desto nachdrücklicher
zu vernichten!" Cf. sein Gedicht:
„Und als der Morgennebel zerrann,
da sah ich am Wege ragen
im Frührotschein das Bild des Manns,
den man ans Kreuz geschlagen.
Mit Wehmut erfüllt mich jedesmal
dein Anblick, mein armer Vetter,
der du die Welt erlösen gewollt,
du Narr, du Menschheitsretter !"
Diesem Heine gegenübergestellt, ist Nietzsche sehr zahm, ja geradezu
ein Stümper; Nietzsche wollte gewiß auch das Christentum vernichten, um
es in veredel terer Form auferstehen zu lassen, Heine dagegen wollte nur
16-
— 244 —
und Spöttereien nur geritzt habe*)? Aber je begreiflicher diese
Stellungnahme Chamberlains und Seilings Nietzsche gegenüber uns
erscheint, weil beide in den ersten Reihen der Wagnerianer fechten,
desto unbegreiflicher erscheint uns der Umstand, daß beide an den
Versuchen, Wagner zu einem Geisteskranken zu stempeln, mit Still-
schweigen vorübergehen. Schrieb doch Max Nordau, ein Berliner
Irrenarzt und „fingerfertiger Journalist, der zuerst als Moralprediger
auftrat, später als Arzt der Zeit" : „R. Wagner zeigt in seiner
allgemeinen Geistesverfassung Verfolgungswahnsinn, Größenwahn
und Mystizismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe,
Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchsgeist, in seinen Schriften
Zusammenhanglosigkeit, Gedankenflucht und Neigung zu blödsinnigen
Kalauern." Wahrlich, es wäre gerechtfertigter, wenn Chamberlain
und Seiling solche und ähnlich geartete Angriffe gegen Wagner und
sein Werk zurückgewiesen hätten, als daß sie die ganz absurde An-
nahme verträten, Nietzsche sei, solange er Wagners Pilot, gesund, als
er sich jedoch von ihm abwandte, krank gewesen; denn mit einer
solchen Parole ist die Freundschaftstragödie nicht zu lösen! Sehr
treffend sagt Walter v. Hauff in „Den Manen Friedrich Nietzsches",
p. 87 : „Nietzsche gleicht in dieser Zeit einem Forscher, dem es
gelungen ist, die stärksten Naturkräfte in enge Behälter zu bannen,
und der nun darangeht, die Gefangenen zu besehen. Dabei ist die
größte Vorsicht nötig, denn aus der kleinsten Öffnung jedes einzelnen
Gefäßes schlagen ihm Feuerlohen entgegen, die das ganze Gebäude
in Brand zu stecken drohen. Darum muß er nur immer dämpfen
und zurückhalten, während er bisher zu jedem Feuer, das er sah,
seine eigene Flamme hinzuschleuderte. So entsteht der Eindruck,
als wäre er ein anderer geworden, was aber genau so wenig berechtigt
ist als die Behauptung, ein Reiter, der ein schäumendes Pferd aus
dem Galopp in den Schritt zwingt, sei nicht mehr derselbe."
Würdiger, ernster und erfreulicher mutet uns die Besprechung
des Verhältnisses Nietzsche- Wagner durch Bruno Goetz an, wenn
auch sie der Wahrheit nicht entspricht. Im folgenden seien daher
vernichten, um jenes Chaos zu schaffen, unter dessen Druck heute gerade
das Volk schmachten muß, das das „Volk der Dichter und Denker" ist,
das einen Meister von Bayreuth hervorgebracht hat!
1) Ich erinnere nur an den von ihm oft gebrauchten Ausdruck: „ecrasez
rinfäme!"
— 245 —
seine Gedanken im Auszuge wiedergegeben. Als Nietzsche mit
Wagner bekannt wurde, liebte er ihn als die Erfüllung seiner
Wünsche und seiner Sehnsucht, sein Verhältnis zu Wagner war
damals wie „ein langes, stummes, weltvergessenes Gebet** und man
wird Nietzsche nie verstehen, wenn man nicht seine flammende
Liebe zu Wagner verstanden hat. Doch in den dunkelsten Tiefen
seiner Seele lauerte etwas dämonisch Zerstörendes, etwas sehn-
süchtig Irres. Lange hat er es beharrhch unterdrückt. Und als es
endUch hejnmungslos hervorbrach, da lachte Nietzsche über seine
Gebete und seinen „Götzen": sein bisheriges Leben kam ihm vor wie
ein wirrer Traum, der ihn bedrückte, dem er sich nun glückhch in
das Land der Freiheit entronnen wähnte. Und in diesem Gefühle
der Freiheit schwelgte er um so mehr, je mehr er sich einbildete,
durch den Umgang mit Wagner sei er im Dienste seines Kultur-
ideals unfrei geworden. Wie wenn er daher jetzt erst sehend ge-
worden wäre, erblickte er nun in Wagner mit erschreckender Deut-
lichkeit den unheimhchsten Verführer zur Müdigkeit, zur Lebens-
verneinung als Berauschung und begann ihn nach seinem eigenen
Maßstabe zu werten, wobei er aber die Inkommensurabilität in der
Genesis der beiden Lebensanschauungen irrtümlich übersah : Wagners
Weltanschauung war die Frucht seines Lebens, sie wurde von dem
Schaffenden und Leidenden am Feuer der Kunst geschmiedet,
während die Lebensverneinung Nietzsches aus Ekel geboren ward,
als eine rachsüchtige Flucht aus dem Leben, die sich mit Stolz und
Trotz drapiert hatte. Sich selbst täuschend hielt er diese Lebens-
verneinung für die höchste Lebensbejahung. Als er sich aber dieses
Irrtums bewußt ward, warf er ihn nicht allsogleich über Bord,
sondern klammerte sich ängstlich an Wagner an, zu dem ihn
sein Selbst ungestüm hinzog und mit dem ihn gemeinsames
Fühlen verband. Gierig sog er die Welt Wagners in sich ein und
überhörte absichtlich die warnenden Stimmen seines Innern, die
ihm die Unvereinbarkeit seiner und der Wagnerschen Lebens-
anschauung sagten. Und als die Reaktion eingetreten war, fühlte
er sich wie ein dem Kerker Entflohener und schloß nun von sich
auf Wagner, dessen Weltanschauung ihm wie eine Flucht aus dem
Leben vorkam, als ein sehnsuchtgeborenes Angstprodukt vor dem
Leben und seinen Kräften: auch für Wagner sei dessen Kunst das,
was sie ihm war, ein toller Rausch, aber keine Notwendigkeit, ein
— 246 —
furchtbarer Betrug, die furchtbarste Verleumdung des Lebens. So
ward ihm Wagner zu einem Feigling, der den Kampf mit dem
Leben floh, der sich an seiner Kunst berauschte und vor sich und
vor der Welt eine heldische Maske trug, um die Menschen in seine
Netze zu fangen, um das Leben aus unbewußter Rachsucht zu ver-
leumden und zu entkräften. Wie von einem bösen Alpdruck fühlte
er sich nun von Wagners Einüufs befreit und glaubte zu erkennen,
daß alles Müde und Kranke, womit seine Seele „infiziert" war^
geheimnisvoll von Wagner angezogen wurde: so erschien ihm nun
seine bisherige Hingabe an etwas außerhalb des Lebens Stehendes
wie eine böse Krankheit, der er zum Glück noch bei Zeiten ent-
ronnen war: „Mein größtes Erlebnis war eine Genesung; Wagner
gehört bloß zu meinen Krankheiten!" Er, dessen Brust ein ungeheurer
Freiheitsdrang schwellte, vermeinte, Wagners Kunst sei in ihrem
innersten Mark krank, da sie ihn unterdrückt und unfrei gemacht
hatte. Und diese innere Unfreiheit war für ihn das untrüghche
Symptom der Urkrankheit, an der sein höherer Mensch krankte.
Statt ihn zu stärken, hat ihn Wagner durch seine Kunst nur berauscht.
Deshalb erbhckte er in Wagner die größte Gefahr für die Freiheit
des höheren Menschen : Wagner wurzelte im Christentum, das nach
Nietzsche die Verkörperung und der Inbegriff alles Lebensfeindlichen
und Unfreien ist; Wagner vertrat eine Sklavenreligion, hinter deren
Sittlichkeit sich jeder Machtlose ängstlich verschanzt. Nietzsche
dagegen verlangte die unbedingte Macht, die nur die Freiheit schafft.
Wie mußte sich daher Nietzsche mit einem Male furchtbar ver-
einsamt fühlen, als der Mensch, der für ihn bislang der Größte und
Stärkste war, jener knechtischen Sklavenmoral erlegen war! Doch
er, der sich freier fühlte als Wagner, wollte noch freier werden,
ganz frei wollte er werden. Förmlich hypnotisiert von diesem Ge-
danken zerstörte er nun alles, was noch von früher her in ihm
lebendig war: er haßte sich und haßte — den Wagner in sich. Von
ihm sich gänzlich loszumachen, das erachtete er für seine vornehmste
Pflicht: er machte Wagner klein, lächerlich, niedrig — um sich in
stillen Stunden doch wieder von ihm überrumpeln zu lassen. Er
zerfetzte alle seine Gefühle und Empfindungen mit beißendem Spott :
frei bleiben wollte er von aller Frommheit, in der er die größte
Gefahr erblickte, das Lachen über diese kleine Welt verlieren zu
können. Aber nur der wahrhaft freie Mensch kann lachen! Nietzsche-
— 247 —
aber, der so gern lachen wollte, mußte sich krampfhaft bemühen,
um frei bleiben und lachen zu können, denn er war nicht frei! Das
fühlte er mit heimlich wachsender Angst — und ihr und seiner
steten Furcht, das Lachen noch ganz zu verlieren, galt sein Lachen!
Öeshalb erträumte er sich ein fernes Wunderland weniger freier
Lebensbejaher, die aus allem Bösen und Unheimhchen Kraft, aus
dem Furchtbaren und Wehen sich nur Freude zu gewinnen ver-
stehen werden. Denn e r selbst hatte gelernt, aus den tiefsten Leiden
und Schmerzen, die ihm das Leben bot, dieses selbst auf das freu-
digste zu bejahen. Aber trotzdem bheb er einsam: die Menschen
verstanden ihn nicht, weil keiner die Freiheit, die er meinte, wollte
und, die sie ja wollten, denen fehlte die Macht. Deshalb mußte
er sich noch einsamer als je zuvor fühlen: aber er erfand sich
einen Freund, mit dem er des vereinten Sieges gewiß das Fest der
Feste feierte: Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste — und
jetzt erst glaubte sich Nietzsche wahrhaft frei oder zwang sich zu
diesem Glauben, weil Wagner noch immer in ihm lebte. Tag und Nacht
mußte er sich bewachen, mußte er vor sich selber auf der Lauer
Hegen, um „frei" zu bleiben. Deshalb zwang er sich den
Glauben auf, er habe Wagner durch seinen „Zarathustra" besiegt.
Und das ist die furchtbare Tragik in seinem Leben, daß er, der
sich durch Wagners Kunst nur berauscht fühlte, der diesem Rausche
für immer entfliehen wollte, sich nun selbst berauschen mußte, sich
ein trauriges Surrogat schaffen mußte für die lebendige Kunst der
christUchen Kultur, aus der er seine besten Kräfte gesogen. Indem
er jede Religion vernichten wollte, tötete er seinen Gott und schuf
sich einen neuen Gott. Dabei aber fühlte er in seinem Herzen, daß
sein tiefstes Wesen in einer ganz anderen Welt verankert war als
in der Zarathustras — und dennoch kämpfte er weiter, bis er
zusammenbrach. Den Größten wollte er bekämpfen und fiel in diesem
Kampfe: so stark war dieser Große in ihm. Er hat sich selbst
zerstört, als er sich selbst im Wege stand.
Diese Darstellung, die sich mehr auf willkürlicher Dichtung als
auf der Wahrheit aufbaut, beruht letzten Endes auf der Voraus-
setzung des Pathologischen in Nietzsche: so konstruiert Goetz aus
dem Leben und Schaffen Nietzsches, das von einer krankhaften
Eifersucht auf Wagner als dem treibenden Elemente beherrscht wird,
eine neue Tragödie, mit der er die Freundschaftstragödie erklären will.
— 248 —
Bei einer solchen Annahme ließ sich Goetz offenbar von der fälsch-
lichen Tatsache leiten, daß Nietzsche mehr Dichter als Philosoph
sei, wie denn auch tatsächlich im „Zarathustra" das Dichterische
vorherrschend ist. Dadurch mußte sich Goetz vom Boden der Wahr-
heit entfernen, weil er nicht fähig war, durch den Schleier der
Dichtung das Tatsächliche im „Zarathustra" zu erblicken und so
einzudringen in das tiefste Wesen der Nietzscheschen Philosophie. Es
soll aber nicht geleugnet werden, daß seine Darstellung ganz richtig
die Gegensätzlichkeit im Denken Nietzsches und Wagners betont,
also das, was die beiden a priori trennte. Hätte nun Goetz das Motiv
der Eifersucht ausgeschaltet, hätte sich ihm die tatsächliche Genesis
von Nietzsches lebensbejahender Philosophie und dem Übermenschen-
tum ergeben müssen. Aber seine Analyse Nietzsches lehrt uns,
genau so wie die bereits besprochene Friedrichs, daß es ein ver-
fehltes Beginnen ist, mit Ausschaltung der philosophischen Inter-
pretation und durch einseitige Betrachtung diese Freundschaftstragödie
in befriedigender Weise zu lösen.
XVII. NIETZSCHES UND WAGNERS „SCHICKSALS-
GEMEINSCHAFT".
Ehe wir Stekels psychoanalytische Interpretation des Verhält-
nisses Nietzsches zu Wagner besprechen, sei vorher noch eine der
neuesten Darstellungen dieses Gegenstandes erörtert: Bertrams Ver-
such, mit Zugrundelegung einer Schicksalsgemeinschaft zwischen
den beiden Männern ihr Verhalten zueinander zu erklären. Ein
solcher Versuch mag nun tatsächlich probabler sein als die tiefst
schürfende, gelehrteste Abhandlung, weil er das Mystische in Nietz-
sches Wesen betont, aber mit einem „glauben müssen" oder „ignora-
bimus!" vor dem letzten Unaufhellbaren haltmacht. Unwillkürlich
wird man versucht, die Freundschaftstragödie zwischen Nietzsche
und Wagner, diesen — liceat dictu ! — unerhörten Verrat des Jüngers
an dem von ihm einst über alles geliebten Meister mit dem Verrate
des Judas an Jesus Christus zu vergleichen. Leider steht uns in
diesem Falle kein so ausgezeichnetes, fast lückenloses Tatsachen-
material zur Verfügung, ja, es erhebt sich sogar die Frage, ob nicht
die ganze Gestalt des Judas nur eine Schöpfung der dichterischen
Phantasie ist, die dem Prinzip des Guten, um es besser begreifen
zu machen, das Prinzip des Bösen als notwendiges Korrelat hinzu-
gefügt hat. Doch sehen wir von dem Werte oder Unwerte einer
solchen rationalistischen Ausdeutung, weil für unsere Zwecke völlig
gegenstandslos, ab, so ergibt sich, daß uns die vier Evangelisten in
übereinstimmender Weise nur die nackte, grauenerregende Tat des
Judas berichten, Berichte, auf Grund derer wir uns wohl kaum ein
auch nur halbwegs auf Wahrheit Anspruch erhebendes hypothetisches
Bild des tatsächlichen Sachverhaltes, bzw. seiner Motive rekon-
struieren können. Dafür hat sich die Legendendichtung des Judas-
stoffes als eines der dankbarsten Stoffe bemächtigt und in Anbetracht
der Simplizität dieses Falles denselben uns natürhch dementsprechend
menschlich begreiflich zu machen bemüht. So wird uns Judas teils
— 250 —
als Repräsentant der niedrigsten menschlichen Habsucht geschildert,
als ein Ausbund teuflischer Bosheit, teils aber als ein Mensch größter
geistiger Beschränktheit — mit anderen Worten, als eine ziemhch
gemeine Alltagsnatur, deren Tat man keine edleren Motive unter-
schieben darf; so zum Beispiel bei Abraham a Santa Clara: ,, Judas
der Erzschelm." Eine tiefere Auffassung des Judascharakters be-
kunden die dramatischen Entwürfe, welche die Motive seiner Tat
psychologisch zu ergründen versuchen; zum Beispiel Paul Heyse:
„Maria von Magdala". Und selbst Ernst Renan scheut sich nicht,
die Tat des Judas nach Klopstocks Vorbilde aus Eifersucht zu er-
klären. Aber von allen diesen Erklärungsversuchen erscheint mir
keiner so beachtenswert, wie jene Version der Judaslegende, nach
der Judas geradezu als die conditio sine qua non für das Erlösungs-
werk Jesu hingestellt wird: Judas muß sich opfern, das heißt, er
muß den gräßhchsten Fluch der Jahrtausende auf sich nehmen,
den Weltheiland verraten zu haben, damit das Wort der Schrift er-
füllt werde und Jesus das Erlösungswerk, dessen die Welt bedarf,
vollbringen könne. Judas also verrät den, den einer verraten muß;
er handelt gewissermaßen als das Werkzeug einer Macht, die un-
entrinnbar hoch über ihm und Jesus waltet. Daher zieht diese
Judaslegende aus jener Voraussetzung nur die folgerichtige Kon-
sequenz, wenn sie Jesum darstellt, wie er sich der Größe und
Schwere des Opfers bewußt ist, das Judas ihm und seinem be-
gonnenen Erlösungswerke bringt, damit er es vollenden könne. Denn
er weiß und fühlt es, wenn Judas ihn nicht verrät, wenn Judas vor
dem Worte der Schrift „oval ds rö ävd'QaTt^ ixslvo), öl o{) 6 vlbg
Tov dvd^gaTCov nagaöldotail" feige zurückbebt, die Weissagung dieser
selben Schrift an ihm sich nicht erfüllen könne. Deshalb ist Jesu
Schicksal mit dem des Judas unzertrennlich verbunden, und Jesus
ist sich dieser Schicksalsgemeinschaft bewußt: so ruht am letzten
Abende des Herren Auge voll Liebe auf dem, von dem er weiß, daß
er ihn verraten werde ; er spricht mit ihm in Worten, deren wahrer
Sinn den Jüngern verborgen bleibt. Einen leisen Anklang jener
Schicksalsgemeinschaft können wir vielleicht im JohannesevangeUum
erblicken: Jesus reicht beim letzten Abendmahle dem Judas einen
Bissen Brot — dadurch deutet er eben die Schicksalsgemeinschaft
an — und spricht die bedeutungsvollen Worte, deren wahrer Sinn
nur ihm und dem Angeredeten klar ist: „Was du tust, das tue
— 251 —
bald!" (Ev. Joh. XIII; 26, 27: „ßdifjag o^v tb i/^wfAtov ?M^ßdvsi xal
didcooiv ^lovda . . . Xsysi . . . ''Irjöovg: ,o Ttotstg, tcolyiöov tccxiovV) Und
wenn dann Judas nach dem Verrate hingeht und zur selbigen Stunde
seinem Leben ein Ende macht, da der Menschensohn auf Golgotha
sein „Es ist vollbracht!" sterbend ausruft, tut er das nicht aus
Reue, nein! sondern weil er Jesus treu bis in den Tod bleibt, weil
er der zwischen ihm und Jesus bestehenden Schicksalsgemeinschaft
zufolge diesem seine Jüngerschaft und Anhängerschaft nur mehr
noch durch den Tod beweisen kann, während alle anderen Jünger
Jesu diesen in seiner schweren Stunde feige verließen und flohen.
Deshalb konnte Hebbel sagen: ^ Judas ist der Allergläubigste!"
Diese Judaslegende kann uns nun mutatis mutandis Nietzsches
„Verrat" an Wagner verständlich machen. Zu diesem Zwecke muß
aber die Judaslegende, an deren Ausgestaltung zwei Jahrtausende
gearbeitet haben, auf das ihr wie jeder anderen Legende zugrunde
liegende Tatsächliche reduziert werden: jede Erlösergestalt zerfällt
in die zwei Komponenten des Guten und des Bösen; der gute Geist
und der böse Dämon müssen zusammenwirken, soll das geschicht-
lich Gewordene zu etwas Neuem, die Menschheit • von Grund aus
Erneuerndem umgeschaffen werden. Auf ein einfaches Gesetz zurück-
geführt heißt dies, daß der Mythos, die Legende, das, was sie
logischerweise als die Tat eines einzigen Individuums erkennen,
unter den Gestalten zweier sich bekämpfender Individuen für das
allgemeine Verständnis verdeutlichen, die Tatsache, daß jeder
Schaffende zugleich auch ein Vernichter, jeder Erlöser gleichzeitig
auch ein Verräter ist.
Dieses Gesetz, auf Nietzsches geistiges Schaffen angewandt
und übertragen, gestattet eine Folgerung, die näherer Beweise wohl
kaum bedarf: Nietzsche ist der typische Zweiseelenmensch; denn
zwei Seelen wohnen in ihm, eine gute und eine böse. Die Tragik
seines Lebens bestand jedoch darin, daß er diesen beiden Seelen
dienen mußte, daß er beide ganz und ungeteilt sein mußte. Im
„Ecce homo" schreibt er, dieses Zwittertums sich voll bewußt:
„Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß
ein Vermittler erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das
höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die
schöpferische. Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch,
den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, daß ich
— 252 —
der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Ver-
nichten in einem Grade, der meiner Kraft zum Vernichten gemäß
ist — in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche
das Neintum nicht vom Jasagen zu trennen weiß ... ich bin der
Vernichter par excellence." Nietzsche war nun, wie schon betont,
seiner ganzen natürlichen Veranlagung nach ein äußerst feinfühliger,
zarter Mensch, ein dankbarer Mensch ; er war „die höchste Güte"!
Doch „das höchste Böse" in ihm, die andere Seele, bewog ihn
mitunter, mit derselben Intensität, mit der er jemandem seine Liebe
und Verehrung bezeugte, diesen selben Menschen schonungslos an-
zugreifen; so bekannte er: auch „Angreifen ist bei mir eine Form
4er Dankbarkeit!" Aber wohlgemerkt: nie griff" er den betreff'enden
Menschen als solchen an, sondern stets nur die Ideen, die dieser
vertrat. Dies zeigt sich deutlich in seinem Verhältnisse zu Erwin
Eohde und kein vernünftiger Mensch wird glauben, daß lediglich
Rohdes Meinung über die Bedeutung des Franzosen Taine, die der
Nietzscheschen entgegengesetzt war, der wahre Grund der zwischen
beiden eingetretenen Entfremdung sein kann. Der philosophische
Trieb in ihm war es, dieses rücksichtslose, durch nichts zu beirrende
Streben nach der Wahrheit, das ihn oft über der Sache die Person
vergessen ließ. Ähnlich ist es ihm ja auch mit Paul Deussen er-
gangen. Noch deuthcher aber zeigt sich die Kehrseite von Nietzsches
Doppelnatur in seinem Verkehre mit Mutter und Schwester. So
schreibt er einmal: „Es gehört zu den Rätseln, über die ich einige
Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt
sind!" Nun ist es vom höchsten psychologischen Interesse, daß
Nietzsche, der sich selbst dieser Doppelnatur seines Wesens teils
stolz, teils schmerzlich bewußt war, diesen mit innerer Notwendig-
keit sich vollziehenden Verrat an der von ihm geUebten Person
nicht nur niemals bereute, sondern stets, so besonders in seinem
Verhältnis zu Wagner, immer und immer wieder die fatale Zu-
sammengehörigkeit, die nie zerreißbare Gemeinsamkeit seines Wesens
mit dem der verratenen Person betont. Nachdem er Rohde brieflich
wegen seiner Stellung zu Taine die bittersten Vorwürfe gemacht
hatte, bittet er ihn kurz darauf flehenthch: „Nein, laß dich nicht
zu leicht von mir entfremden!" und ebenso bittet er die Schwester,
in jenem Briefe nicht seinen Haß gegen sie zu sehen, sondern nur
seine Bitte um Liebe und Verstehen! Und im Jahre 1887 schrieb
— 253 —
er ihr: „Malwida schrieb mir einmal, daß ich gegen zwei ungerecht
wäre: gegen Wagner und gegen Dich, meine Schwester. Warum
wohl? Vielleicht, weil ich Euch beide am meisten geliebt
habe und den Groll nicht verwinden kann, daß Ihr mich
verlassen habt!"
In der Vorrede zum „Fall Wagner" heißt es: „Wagner den
Rücken zu kehren, war für mich ein Schicksal." Dieses
höchst bedeutungsvolle Wort besagt, daß sowohl Wagner wie
Nietzsche dieser furchtbaren Freundschaftstragödie nie und nimmer
haben entrinnen können, Nietzsche als der tragischeste Held dieser
Tragödie des Lebens, der, mochte er sich zu Wagner stellen wie
er wollte oder wie die Besserwisser zu glauben vermeinen, daß er
sich hätte stellen sollen, das ihm vorbestimmte Schicksal unmöglich
ändern kann. Dieses Walten des Schicksals scheint überhaupt im
Leben Nietzsches eine große Rolle zu spielen, speziell in betreff
seiner Beziehungen zu R. Wagner : Als Nietzsche das erstemal nach
Tribschen kommt, bleibt er lange vor Wagners Villa stehen. Aus
dem Innern des Hauses hört er einen immer wiederholten, schmerz-
lichen Akkord spielen. Später entdeckte er, daß dies eine Stelle aus
dem III. Akte des „Siegfried" war: „Verwundet hat mich, der mich
erweckt!" Den „Zarathustra" vollendete er „genau in der heiligen
Stunde, in der R. Wagner in Venedig starb". Und sofort nach Erhalt
von Wagners Todesnachricht schreibt er an Peter Gast: „Soeben
kommt die Nachricht von Wagners Tode aus Genua. Ich bin heute
ohne allen Grund hieher gereist und kaufte eben, wider meine Ge-
wohnheit, die eben erschienene Nummer des ,Caffaro'. Mein erster
Blick fällt auf das Telegramm aus Venedig!" Er selbst gesteht sich,
daß es „in seinem Leben Kuriosa von Sinn im Zufall gäbe, die nicht
ihresgleichen haben.** Als Nietzsche 1882 in Naumburg seiner
Schwester den „Parsifal" vorspielte, hielt er plötzlich inne; er be-
sann sich, ganz dieselbe Art Musik gemacht zu haben, als er, noch
ein Knabe, ein Oratorium komponierte. Er berichtet darüber an
Peter Gast: „Ich habe die alten Papiere hervorgeholt und nach
langer Zeit wieder abgespielt: die Identität von Stimmung und Aus-
druck war märchenhaft! Ja, einige Stellen, zum Beispiel der Tod
der Könige, erschienen uns beiden ergreifender als alles, was wir
uns aus dem , Parsifal* vorgeführt hatten, aber doch ganz parsifalesk !
Ich gestehe: mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder
— 254 —
bewußt geworden, wie nah ich eigentlich mit Wagner ver-
wandt bin!" Oder er schreibt in den Vorredeentwürfen der letzten
Jahre: „Als Knabe war ich Pessimist, so lächerhch dies klingt;
einige Zeilen Musik aus meinem zwölften, dreizehnten Lebensjahre
sind im Grunde von allem, was ich an rabenschwarzer Musik kenne,
das Schwärzeste und Entschiedenste. Ich habe bei keinem Dichter
oder Philosophen bisher Gedanken und Worte gefunden, die so sehr
aus dem Abgrunde des letzten Neinsagens heraus kämen . . . als
Knabe liebte ich Händel und Beethoven: aber , Tristan und Isolde'
kam, als ich fünfzehn Jahre alt war, hinzu als eine mir verständ-
liche Welt. Während ich damals den »Tannhäuser' und ,Lohengrin'
als unterhalb meines Geschmacks empfand: Knaben sind in Sachen
des Geschmacks ganz unverschämt stolz!" Enthält nicht gerade
diese letzte Aufzeichnung Nietzsches später erfolgte Abkehr von
Wagner schon in seiner Jugend vorgebildet? Das war Fatum! Und
diesem über ihnen schwebenden Fatum! vergleichbar etwa dem
Liebesmotiv, das in Wagners „Tristan" auf Markes Frage:
„Den unerforschhch tief, geheironisvollen Grund,
wer macht der Welt ihn kund?"
vielsagender erkUngt als die längsten Auseinandersetzungen zwischen
Marke und Tristan, diesem Unnennbaren, undefinierbaren Etwas
konnten beide nicht entrinnen: denn beide gehorchten nur der
Stimme in ihrem Innern, beide blieben sich selbst treu und litten
an ihrem Schicksal bis an ihr Lebensende, wobei nach Frau Försters
Versicherung „in dieser Sache Nietzsche am meisten gelitten hat".
Daß es so kommen mußte, daß dieser Verrat durch Nietzsches
tiefstes Wesen bedingt war, dafür spricht auch der Umstand, daß
Nietzsche im Falle Wagner genau so wie Rohde und seiner Schwester
gegenüber die Bande der Freundschaft nie ganz gelöst hat: selbst
Angreifen ist ja bei ihm eine Form der Dankbarkeit und der Abfall
war daher eine Form seiner Liebe. Und an Wagner fühlte sich
Nietzsche bis an sein Lebensende untrennbar gekettet, sowohl an
dessen Person wie an dessen Kunst, speziell an den „Tristan". Ja,
man kann steigernd sagen, daß er den Meister so sehr geliebt hat,
daß er, ohne je diesen Verrat zu bereuen — einen Brief an Peter
Gast ausgenommen! — , den Schmerz über seinen Verrat nie hat
ganz zu verbergen vermocht, ja daß er nicht einmal zu jener Zeit,
da er Wagners treuester Anhänger war, diesen so sehr hebte und
— 255 —
verehrte, wie zur Zeit nach der Trennung von ihm; denn „ich habe
R. Wagner mehr gehebt und verehrt als irgend sonst jemand!"
Jeder werde es daher seinem Urteile anmerken, daß er Wagner
sehr liebe, denn kein Gegner nehme je einen Gegenstand so tief.
„Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand das Ungeheure,
das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu
denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark
genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährhchste noch
zum Vorteil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich
Wagner den größten Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir
verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch an.
einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden
vermochten, wird unsere Namen ewig wieder zu-
sammenbringen; und so gewiß Wagner unter Deutschen bloß
ein Mißverständnis ist, so gewiß bin ich's und werde es immer
sein!" Kein Wunder, daß der Mann, der bekannt hatte: „Ich hätte
meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik!** im
Nachlaß zur „Umwertung" in die wehe Klage ausbrach, ja ausbrechen
mußte: „Ich habe ihn geliebt und niemand sonst. Er war
ein Mensch nach meinem Herzen... es versteht sich von
selber, daß ich niemandem so leicht das Recht zugestehe, diese
meine (jetzige) Schätzung Wagners zur seinigen zu machen, und
allem unehrerbietigen Gesindel, wie es am Leibe der heutigen
Gesellschaft gleich Läusen wimmelt, soll es gar nicht erlaubt sein,
einen solchen großen Namen, wie der Richard Wagners ist, über-
haupt in das Maul zu nehmen, weder im Lobe noch im Wider-
spruche!"^) Goldene Worte, die Nietzsche hier sprach! Worte, die
gerade einer heute heranwachsenden Generation ins Herz gehämmert
zu werden verdienten, einer Generation, die in stolzer Selbstüber-
hebung und leichtsinniger Voreingenommenheit, ohne sich ihrer
Kleinheit bewußt zu sein, an dem Lebenswerke des Meisters rüttelt
^) Aus dem Jahre 1882 stammt folgende Äußerung: „Ich bin damals,
als ich Wagner fand, unbeschreiblich glücklich gewesen. Ich hatte so lange
nach dem Menschen gesucht, der höher war als ich und der mich wirklich
übersah. In Wagner glaubte ich ihn gefunden zu haben. Es war ein Irrtum.
Jetzt darf ich mich nicht einmal mehr mit ihm vergleichen. Ich gehöre
einem andern Rang an." Und kurz, ehe er den „Fall Wagner" geschrieben:
„Wagner selber, als Mensch, als Tier, als Gott und Künstler geht tausend-
fach über allen Verstand und Unverstand der Deutschen hinaus."
— 256 —
und in Franz Schrecker ihren „Überwagner" verehrt. Wagner, und
das kann nicht genug betont werden, ist und bleibt eine im Geistes-
leben des deutschen Volkes ganz eigenartige Erscheinung. Und selbst
zugegeben, daß vor dem Forum einer objektiven Kunstkritik, welche
die absolute und doch dramatisch bewegte Musik Beethovens zu
ihrem Kriterium nimmt, so manches, das Wagner schuf, nicht be-
stehen kann: als Ganzes genommen, bleibt sein Lebenswerk un-
antastbar! Daher alle die Fehler, die man diesem Großen nachrechnet,
Fehler von gleichfalls ganz eigener Art sind: es sind Fehler, die
nur ein Genie sich erlauben darf, Fehler, aus denen wir Pygmäen
nur lernen können und sollen. Wagners Fehler und Irrtümer sind
schöpferischer Natur ! Indes ist diese Abkehr unserer Generation von
Wagner begreifbar, wenn wir der nervösen Unruhe gedenken, die
heute mehr denn je die ganze Welt beherrscht. Aber wozu, fragen
wir, zerstört die Menschheit in törichtem Wahne alles Überkommene,
negiert sie tief im Menschenherzen eingewurzelte Werte? Bloß um
überall Neuland zu schaffen? Sehen wir uns doch dieses Neuland
nach Wagner an ! Trotz aller Abkehr von ihm ist und bleibt Wagner
in seiner Titanengröße der Boden, aus dem diese Neuschaffer, diese
Umstürzler, diese Atonalisten, und wie sie sich auch nennen mögen,
die wertvollsten Nährstoffe für ihr eigenes Schaffen saugen, Wagner
ist und bleibt der Genius, dem die Fluten dieser „Zukunftsmusik"
kaum die Füße umspülen. Dr. Liebstöckl hat für diese Art „Musik-
macher" das klassische Wort geprägt: „Sie grüßen Wagner; aber
Wagner dankt ihnen nicht!" Sie haben Wagner „überwagnert" ! Ja,
in seinen Fehlern: das Rauschende, Faszinierende seiner Inszenierungs-
kunst artete bei ihnen zu einem oft geradezu widerlichen Kulissen-
zauber aus, der ihre Armut an „Musikalität" verbergen muß. Aber
die Zeit wird kommen, da das deutsche Volk reuevoll und dankbar
zu diesem seiner größten Söhne zurückkehren wird, um sich aus
seinen unsterblichen Werken die Kraft zu holen, deren es heute
mehr denn je bedarf, will es seine hohe Sendung als Volk der
Dichter und der Denker erfüllen. Denn gleich den Klassikern in
Weimar schuf uns der Meister in Bayreuth eine Geistesburg. Aber
betrachtet man sein und der Klassiker Wirken sub specie aeternitatis
und im Hinblicke auf das, was gerade Wagner trotz Not und Elend
die Schaffensfreude gab und erhielt, so werden wir erkennen, daß
sie alle am sausenden Webstuhl der Zeit der einen, ewigen Gottheit
— 257 —
lebendiges Kleid wirkten, wie sie ihnen eben aus dem Herzen sprach,
werden wir diese Burg weder in Weimar noch in Bayreuth suchen
und finden, sondern in unserem eigenen Innern: hier liegt sie, in
uns selbst ! Denn wir selbst sind eine zu erbauende Burg und unsere
ureigensten Erlebnisse liefern die Bausteine hierzu. Der Tondichter
des „Lohengrin" nannte diese Burg Montsalvat, die unnahbar unseren
Schritten in fernen Landen stolz gen Himmel ragt:
„Ein lichter Tempel stehet dort inmitten,
so kostbar, wie auf Erden nichts bekannt.
Drin ein Gefäß von wundertät'gem Segen
wird dort als höchstes Heihgtum bewacht."
Es heißt der Gral, vom Himmel herab durch eine Engelschar
gebracht. Drum naht alljährlich vom Himmel eine Taube, um neu
zu stärken seine Wunderkraft. Und dann erteilt durch ihn sich selig
reinster Glaube seiner Ritterschar. — Diese alljährlich vom Himmel
wiederkehrende Taube ist der Menschheit guter Genius, der immer
wieder und unaufhörlich, von Generation auf Generation sich ver-
erbend, die Brücke baut zwischen der Gottheit und uns und uns
von unserer Materialität erlöst, wenn wir — wollen! Geben wir
uns nur keiner Täuschung hin : nicht der Intellekt, die vielgerühmte
bessere Vernunft, ist, wie die Rationalisten uns weismachen, das
Primäre und Radikale in uns, sondern der Wille: er allein ist jene
zeitlose, ewige, metaphysische Gotteskraft, die potentiell in uns allen
schlummert, die aber jederzeit in die Tat umgesetzt werden kann,
zumal wenn wir uns dessen voll bewußt werden, daß auch unser
Herz ein Tempel ist, in dem jenes heilige Wundergefäß glüht und
leuchtet: der heiUge Gral!
Darum drängt es mich, gerade an dieser Stelle meiner per-
sönlichen Stellungnahme zu Wagner und seiner Kunst das Wort zu
sprechen; denn es könnte den Anschein erwecken, als würde ich
des Meisters Kunst ablehnen. Das liegt mir ferne! Im Gegenteil,
ohne unseres Meisters Kunst könnte ich mir die Welt einfach nicht
mehr vorstellen! Aber die wissenschaftliche Objektivität gebot mir,
auch das zu sagen, was meinem subjektiven Empfinden nicht ent-
spricht, gebietet mir zu sagen: Anstatt daß unser Volk sich freute,
daß ein gnädiges Geschick in Wagner und Nietzsche ihm auch
„zwei solche Kerle** beschert hat, die an der niemals rastenden,
niemals vollendeten Erziehung des Menschengeschlechtes mit Erfolg
Grießer. Wagner und Nietzsche. I7
— 258 —
gearbeitet, spielt man noch immer den einen gegen den anderen aus.
Ist das nicht kleinhch? Von beiden gilt das schöne Wort: Wagner
wie Nietzsche „sind kein ausgeklügelt Buch; sie sind Menschen in
ihrem Widerspruch!" Als ich zum ersten Male in meinem Leben
des Meisters „Tristan" hörte, gehörte mein Herz ihm! Und heute,
als gereifter Mann, der dieses Buch schrieb, weiß ich, daß ich in
diesem Wunderwerke, das gleich dem Goetheschen „Faust" noch
heute tausend nicht gelöste Rätsel in sich birgt, Rätsel, denen
gegenüber der kühnste Musiktheoretiker ohnmächtig ist, weil sie
die herrlichste Offenbarung des Göttlichen sind, die Quintessenz der
Wagnerschen Musik und Kunst erblicke, das Höchste, das er uns
geschenkt hat. Ich weiß es, daß auch ich dem Meister schon um
des „Tristan" willen die Treue halten werde bis hinüber nach jenem
Reiche der Weltennacht. Der „Tristan" ist ein Kunstwerk, das die
„Welt" nicht sucht; denn die „Welt" muß zu ihm kommen; es ist
göttlich, weil es ganz Natur ist; denn die Natur ist immer Gottes!
Und nur im „Tristan", vornehmlich in der grandiosen Schlußszene,
erklomm der Meister die höchste Musik, die hier sich weitet zu
unendlicher, weltumfassender Fülle: man hört das Licht, denn hier
ist es Musik geworden! Eine Musik des Todes ohne jeghche nöte
macabre: eine Musik des Lebens, das über der Ewigkeit steht; eine
Musik, in der alles Individuelle „in des Weltatems wehendem All"
sich verklärt; eine Musik sub specie aeternitatis ; das Letzte, das
erlösungsselige Amen in dieser grandiosen missa solemnis der Liebe
und des sich selbst bejahenden Willens zum Leben! Nur wer gleich
mir die Offenbarungen dieses heiligsten Mysteriums der Menschheit
so unzähhge Male erlebt hat, nur der soll das Recht haben, gleich
mir Nietzsche und Wagner in einem Atem zu nennen, in ihnen
beiden die letzten großen Deutschen zu erblicken ; beide warfen ihre
Werke in die unendliche Zeit, wohl wissend, daß ihnen diese ein
gerechterer Richter sein werde als ihre sie nicht verstehen wollende
Mitwelt! . . .
Von höchstem psychologischem Interesse erscheint ferner noch
jener Aphorismus aus der „Fröhlichen Wissenschaft", durch den
Nietzsche seinen Verrat an Wagner unter dem Titel „Zum Ruhme
Shakespeares" verherrlicht. Zunächst dankt er Shakespeare, daß er
Worte zur Rechtfertigung der Tat des Brutus gefunden, den Dante
zugleich mit Judas dem Rachen Luzifers überantwortet habe. Die
— 259 —
Annahme liegt nahe, daß Nietzsche in Shakespeares Caesartragödie
eine Art Freispruch seiner selbst und eine Eechtfertigung seines an
Wagner begangenen Verrates erblickte: „Das Schönste, was ich
zum Ruhme Shakespeares, des Menschen, zu sagen wüßte, ist dies :
Er hat an Brutus geglaubt und ihm kein Stäubchen Mißtrauens auf
diese Art Tugend geworfen! Ihm hat er seine beste Tragödie ge-
weiht — sie wird jetzt immer noch mit einem falschen Namen
genannt — ihm und dem furchtbarsten Inbegriff hoher Moral. Un-
abhängigkeit der Seele — das gibt es hier! Kein Opfer kann da zu
groß sein: Seinen liebsten Freund selbst muß man ihr opfern
können, und sei er noch dazu der herrlichste Mensch, die Zierde
der Welt, das Genie ohnegleichen — , . . derart muß Shakespeare
gefühlt haben! Die Höhe, in welche er Caesar stellt, ist die feinste
Ehre, die er Brutus erweisen konnte: so erst erhebt er dessen
inneres Problem ins Ungeheure und ebenso die seelische Kraft,
welche diesen Knoten zu zerhauen vermochte! . . . Stehen wir viel-
leicht vor irgendeinem unbekannt gebliebenen dunklen Ereignisse
und Abenteuer aus des Dichters eigener Seele, von dem er
nur durch Zeichen reden mochte? Was ist alle Hamletmelancholie
gegen die Melancholie des Brutus! — und vielleicht kannte Shake-
speare auch diese, wie er jene kannte, aus Erfahrung! Vielleicht
hatte auch er seine finstere Stunde und seinen bösen
Engel gleich Brutus!" Speziell diese letzten von mir gesperrten
Worte beweisen, daß sich Nietzsche der unheimlichen Doppelnatur
seines Wesens bewußt war und danach trachtete, der Gewissens-
bisse, die der gute Geist, die höchste Güte, in ihm weckte, durch
dieses künstlich rekonstruierte Analogen Herr zu werden und den
Verrat selbst demnach als etwas vom Fatum Vorbestimmtes hin-
zustellen. Nietzsches Judas- oder Brutusverhältnis zu Wagner ist
unbedingt das tiefste, umwandelnde Schicksalereignis seines persön-
lichen Lebens; es ist auch die Perspektive, unter der Nietzsches
Stellung zum Christentum betrachtet werden sollte.
17^
XVIII. NIETZSCHE UND DIE PSYCHOANALYTIKER.
Gleichfalls einer ausführlichen Besprechung würdig erscheint
mir die bereits mehrfach erwähnte Abhandlung Dr. Wilhelm Stekels
„Nietzsche und Wagner", worin er „in denkbar einseitigster Form,
unter Nichtachtung der einfachsten Grundlehren der Psychiatrie"
(Placzek: „Freundschaft und Sexualität**, p. 139), den Versuch unter-
nimmt, mit Hilfe der Psychoanalyse die menschlichen Motive des
Verrates Nietzsches an Wagner, eines Verrates, der in der Geschichte
bedeutender Männer nicht seinesgleichen finde, aufzuweisen. Aus-
gangspunkt seiner Betrachtungen bildet die von ihm als psycho-
logisches Grundgesetz aufgestellte Tatsache, daß fast jeder Verräter,
besonders aber der geniale — und ein solcher war Nietzsche —
seinen Verrat ethisch zu rechtfertigen strebt, das heißt ihn „ratio-
nalisiert", ihn als Folge seiner geistigen Entwicklung, mithin als
eine Notwendigkeit und innere Wahrheit darstellt. Das hätte nun
in hohem Grade bereits Nietzsche selbst getan, und auch das Buch
seiner Schwester „Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freund-
schaft" sei nichts anderes als ein Versuch, den Abfall Nietzsches
von Wagner zu „rationalisieren", ihn als Folge der divergierenden
Entwicklungshnien beider Genies zu erweisen. Doch beide, Nietzsche
wie seine Schwester, begehen einen großen Fehler: sie übersehen
alle anderen Motive, besonders die menschlichen. Schon gelegenthch
der Besprechung der musikalischen Kompositions versuche Nietzsches
wurde von mir Stekels Abhandlung erwähnt, weil auch er auf
Nietzsches hervorragende Fähigkeit, auf dem Klaviere frei zu
phantasieren, hinweist, darin jedoch den Grund für persönliche
Differenzen zwischen den beiden Freunden erblickt. Stekel ist
nämlich der Ansicht, daß Nietzsche zeitlebens von einer tiefen
Sehnsucht nach etwas Hohem erfüllt war, daß er, der Philosoph
wurde, eigentlich seinen Beruf verfehlt habe. Er hatte in sich das
Zeug zum Musiker. Doch durch Pflicht und Neigung in einen
— 261 —
anderen Beruf abgedrängt, mußte in ihm, als er mit Wagner be-
kannt wurde, der Neid erwachen; Resultat: er wollte es als der
geborene Musiker dem Meister gleichtun. Zunächst jedoch bezähmte
er seinen Neid, indem er sich vor ihm durch — Liebe rettete. So
ward er Wagners uneingeschränkter Bewunderer. Es mag sein, daß
Stekel dies aus den von ihm natürlich nicht erwähnten Sentenzen
im „Zarathustra" schloß: „Unser Glaube an andere verrät, worin
wir gerne an uns selber glauben möchten. Unsere Sehnsucht nach
einem Freunde ist unser Verräter I" Aber Nietzsche beneidete den
Meister nicht nur um seine musikalisch-schöpferischen Fähigkeiten,
sondern auch um sein — Weib! Zu diesen Ausführungen seines
Kollegen bemerkt Placzek (1. c. p. 141): „Armer Nietzsche! Was
wird nun aus dir unter der tüftelnden Spürkunst eines scharf-
sinnigen Psychoanalytikers! Natürlich wird dein Sexualleben durch-
schnüffelt, die in dir wie in jedem anderen Menschen angeblich
schlummernde ,Homosexual-Komponente' hervorgezerrt und jede
deiner Empfindungen und Affektäußerungen sexuell ausgedeutet!"
Heißt das nicht: den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen? Wie
bitterster Hohn klingen auf diese Art Seelenkunde Dr. Kraßnas
Worte :
„So oft ich den Geist rief
der Psychiatrie,
Psychiater sind kommen,
der Geist jedoch nie!"
Und wenn Wagner in einem Briefe an Nietzsche Ehe und Oper
einander „ironisch" gegenüberstellt, so folgert Stekel daraus, man
könne aus diesem Briefe ersehen, wie deutlich sich Wagner der
Quelle von Nietzsches Neid bewußt gewesen sei! Nietzsches Ver-
sicherung, daß Frau Cosima die einzige Frau gewesen sei, die ihm
imponierte, veranlaßt nun Stekel zu der Behauptung, Nietzsche habe
diese Frau geliebt, und als Sexualpsychologe erblickt er in dieser
Liebe des Philosophen zu Cosima „nur ein Überspringen von der
Liebe zu Wagner auf das von diesem gehebte Wesen". Ja, um
Gottes willen, warum denn? fragen wir ganz entsetzt! Der Psycho-
analytiker, der nie um eine Antwort verlegen ist, erwidert: Das ist
eine verdrängte Affektwirkung ins Unbewußte, die nun bei passender
oder unpassender Gelegenheit auftauche und sich neu verankere.
Aber, warum Nietzsches Liebe zu Wagner starb, warum sie so un-
— 262 —
motiviert starb, das verschweigt uns wohlweislich der alles wissende
Psychoanalytiker. Oder sollen wir nicht eher annehmen, daß auch
bei ihm die Erkenntnis des Grundes ins Unbewußte verdrängt worden
ist und nur auf die passende Gelegenheit lauere, um aufzutauchen?
Wenn weiters Nietzsche sich bemühte, alle seine Freunde mit
Wagner bekannt zu machen, damit auch sie ihn liebten, so enthält
nach Stekel „dieser Kommunismus der Liebe" deutliche Beziehungen
zu Problemen der Sexualpsychologie, da es sich hiebei um die
Wirkung der unbewußten homosexuellen Komponente in Nietzsches
Liebesleben handle. In jenem') Briefe hat Wagner Nietzsche auch
den Rat erteilt, bei Wahl der Frau auch deren Vermögensverhält-
nisse zu prüfen, und sein Ausruf, „warum muß nur Gersdorff gerade
eine Mannsperson sein?" lasse den Schluß zu, daß Wagner klar
erkannt habe, nur in Nietzsches Liebe zu seinen Freunden
stecke jenes Hindernis, das ihn vom Weibe abhalte. Ich bewundere
diese kühne Schlußfolgerung Stekels, die jedoch seine frühere Be-
hauptung, Nietzsche habe Cosima geliebt, geradezu über den Haufen
wirft! Was ist denn dann wahr? Beide Behauptungen schließen
doch einander völHg aus! Doch diese Aporie bereitet dem Sexual-
psychologen keine Verlegenheit, sondern das Fundament, um die
Frage aufzuwerfen, ob Nietzsche ein sexuell abnorm veranlagter
Mensch war. Er beantwortet sie damit, daß er zugibt, Nietzsches
Liebe zu Wagner sei die stärkste Kraft seines Lebens gewesen: er
habe Wagner geliebt, nur um sich vor seiner Eifersucht auf Cosima
zu retten! Diese nun zwischen Nietzsche und Wagner und dessen
Frau sich abspielende Liebestragödie seien nur „Masken der Homo-
sexualität", da sie im letzten Grunde auf gleichgeschlechtlichen
Neigungen beruht. Wieso? Diese Frage beantworten die Psycho-
analytiker mit dem Hinweis auf Weiningers M -\- W-Theorie,
nach der das männliche Element im Manne nur im Zustande des
Primates lebe, aber keineswegs als allein vorhanden sei. Daraus
ergibt sich dann der notwendige, ja selbstverständliche Schluß, daß
die Sexualität die Fähigkeit besitze, „von ihrer sonst gewohnten
Richtung abzubiegen und sich mit dem ganzen Register ihrer
Strebungsformen auf das gleiche Geschlecht zu werfen. An dieser
Inversion hat jeder Mensch irgendwie teil, nur verschieden stark
1) Cf. p. 97.
— 263 —
und in verschiedener Schichtung der Psyche." — „Nietzsches ewiges
Bedürfnis nach Freunden/ sagt Stekel, „seine Flucht vor den Frauen,
seine Liebe zu Wagner und seine Liebe zu der Frau Wagners —
schließlich liebt man den Becher, aus dem der andere trinkt", das
a-lso ist für Dr. Stekel ein vollgültiger, unantastbarer Beweis für
Nietzsches Homosexualität! Denn Nietzsche litt an „hysteria virilis",
die innig zusammenhängt mit homosexueller Paranoia. (Wozu Placzek
(1. c. p. 147) bemerkt: „Stekel geht von einer vorgefaßten Idee aus,
sieht alles nur in deren Beleuchtung und kann daher nur zu der
denkbar einseitigsten Ausdeutung gelangen. Man kann nur ver-
wundert fragen, wie das von einem hervorragenden Nervenarzte
geschehen konnte!" Saaler (1. c.) bezeichnet diese psychologische
Determinierung Stekels als dichterisch zwar recht schön, medizinisch
aber undenkbar. Zurück bleibt das tiefe Bedauern, daß die Psycho-
analyse in grenzenloser Überschätzung ihrer Leistungsfähigkeit und
in einseitiger Dogmatisierung ihrer Ergebnisse menschhche, künstle-
rische und ästhetische Werte antastet und erschüttert.) Auf diesen
Zusammenhang deuten folgende Symptome: Nietzsches Eifersucht;
die Frage, ob Nietzsche nicht auch auf Wagners Sohn Siegfried
eifersüchtig gewesen sei, scheut sich Stekel allerdings positiv zu
beantworten. Er konstatiert lediglich nur so viel, daß sich Nietzsche
um Siegfried Wagner herzlich wenig gekümmert habe! Doch aus
einem von mir bereits zitierten Briefe Nietzsches an seine Schwester
geht hervor, daß Nietzsche sich keineswegs so wenig um den
Knaben gekümmert habe ! Weitere Symptome für Nietzsches Homo-
sexualität seien: Die Einschränkung seines geistigen Gesichtsfeldes,
sein maßloser Neid, sein Größenwahn und seine Unfähigkeit zur
dauernden heterosexuellen Liebe. Es sei daher tief bedauerlich, daß
uns Nietzsche in seinen Bekenntnissen und Werken kein so wahr-
heitsgetreues Bild seines Sexuallebens wie Rousseau geliefert habe;
sie enthielten nur die letzten und feinsten Äußerungen seines sexu-
ellen Innenlebens. Im weiteren Verlaufe kommt Stekel auf die Be-
hauptung zu sprechen, die Nietzsches Schwester vertritt: Ihr Bruder
habe sich von Wagner durch dessen „Parsifal" abgewendet, den er
eine „Geschmackskondeszendenz zu den katholischen Instinkten
seines Weibes, der Tochter Liszts", genannt habe, und wirft die
Frage auf, ob wirklich nur „die Empörung über den Abfall Wagners
von der atheistischen Weltanschauung Nietzsche zum Gegner Wagners
— 264 ~
gemacht habe". Diese Frage sei negativ zu beantworten. Denn
Nietzsche selbst war Asket und Abstinenzler, dem Wagner einmal
sogar zurufen mußte: ,, Essen Sie auch Fleisch!" Hiezu sei bemerkt,
daß Nietzsche dem Berichte seiner Schwester zufolge zur Zeit seiner
Besuche in Tribschen, erste Hälfte des Jahres 1870, ein eifriger
Vegetarianer war und daß Wagner wie auch dessen Frau Nietzsche
nach Kräften zuredeten, diese Art der Ernährung aufzugeben. Später
sei jedoch Nietzsche zur gewohnten Kost allmähhch zurückgekehrt;
ob er dies jedoch Wagner zuUebe getan habe, wisse sie nicht. Im
„Ecce homo" dagegen schreibt Stekels Untersuchungsobjekt selbst:
„Ich, ein Gegner des Vegetariertums aus Erfahrung, ganz wie
R. Wagner, der mich bekehrt hat ! " Doch kehren wir zurück I Dieser
Asketismus Nietzsches passe aber schlecht zu dem Bilde des
Dionysos^), wie sich Nietzsche gerne nannte, während er den Ge-
kreuzigten, dessen Attribut die Askese ist, verhöhnte. Das sei ein
charakteristischer, ja typischer Fall von Hypochondrie, der uns
jedoch sofort begreiflich erscheint, wenn man bedenkt, daß Nietzsche
im Grunde seines Herzens immer fromm war, daß er die Religion
nur intellektuell überwunden habe, während er im Herzen immer
der fromme Pastorensohn war und blieb, dessen sehnlichster Wunsch
es war, selbst einmal Pastor zu werden. Daher war Christus sein
Vorbild und sein Übermensch nach Prof. Runzes Analyse nur ver-
setzte Sehnsucht nach Jesum. Aber hat man je schon einen Dionysos
gesehen, der Vegetarianer ist, nicht trinkt, nicht raucht und die
Weiber meidet? Und da klaffe der große Gegensatz und Widerspruch
zwischen Nietzsches Leben und seinen Anschauungen. Sein Leben
war ein Kompromiß zwischen rehgiösen und antireligiösen Strö-
mungen. Ein wirklicher Atheist war er nie gewesen, weil der wirk-
liche Atheist es nicht notwendig hat, Propaganda zu treiben und
sich als den Antichristen zu proklamieren. Sein steter Kampf gegen
Christus beweist vielmehr, daß er innerhch von ihm nicht loskommen
konnte. Und daher lebte er wie ein Heiliger, schrieb ein Buch nach
Art der Bibel, den „Zarathustra", glaubte gleich Christus an eine
große historische Mission seinerseits und fühlte sich am Ende selbst
als Christus. Stekel hält es nun für wahrscheinlich, daß sich in
1) Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn wir bei Möbius
(1. e. p. 90) lesen, daß sich Nietzsche Dionysos, „den Gott, den Patron der
Hysterie, ohne es zu ahnen, zum Heiligen gewählt habe"!
— 265 —
Nietzsche ein ähnlicher Abfall wie früher von Wagner auch vom
Atheismus vorbereiten wollte^ der aber nicht perfekt wurde, und
darum habe er Wagner später um den „Parsifal" beneidet, wiewohl
er ihn früher gerade wegen dieses Werkes auf das erbittertste be-
fehdete; denn Wagner habe mit dem „Parsifal" die Regression zum
infantilen Glauben vollziehen können. Weiters zieht Stekel aus einem
Briefe Nietzsches an Wagner den Schluß, daß jener unter des Meisters
Jüngern der erste und unter den wenigen Auserlesenen, die
für Wagner eintraten, dessen Liebling sein wollte^): „Denn wenn
es das Los des Genius ist, eine Zeitlang nur paucorum hominum
zu sein: so dürfen sich wohl diese pauci in einem besonderen
Grade beglückt und ausgezeichnet fühlen, weil es ihnen vergönnt
ist, das Licht zu sehen und sich an ihm zu wärmen, wenn die
Masse noch im kalten Nebel steht und friert. Auch fällt diesen
Wenigen der Genuß des Genius nicht so ohne alle Mühe in den
Schoß, vielmehr haben sie kräftig gegen die allmächtigen Vorurteile
und die entgegenstrebenden eigenen Neigungen zu kämpfen, so daß
sie, bei glücklichem Kampfe, schließhch eine Art Eroberungsrecht
auf den Genius haben.'' Den Widmungsbrief, mit dem Nietzsche
„Die Geburt der Tragödie" an Wagner übersandte, zitiert Stekel
auffälUgerweise nicht, obwohl gerade aus ihm der unverkennbare
Stolz Nietzsches spricht, „daß er jetzt gekennzeichnet sei und daß
man ihn jetzt immer in einer Beziehung mit Wagner nennen
werde!" Nach Stekel heißt dies: Nietzsche war stolz, Wagnerianer
zu sein, solange es noch eine Rarität war, Wagnerianer zu sein.
Ja, er wurde der „Wagnerei" zuhebe sogar Märtyrer, indem er zum
1) Charakteristisch für diese Art wissenschaftlicher Exegese der ge-
heimsten seelischen Regungen eines Menschen ist es, was Bruno Saaler (1. c.)
schreibt: „Wäre Nietzsche wirklich eifersüchtig gewesen auf Wagners Lebens-
werk, hätte er nicht denselben Grund gehabt, um auf Schopenhauer eifer-
süchtig zu sein?" Saaler zieht aus der Tatsache, daß bei Nietzsches Ab-
wendung von Schopenhauers Lehre kein wie immer gearteter Neid auf dessen
Lebenswerk mitspielte, die Folgerung: „Schon diese Tatsache sollte davon
abhalten, aus der Betrachtung des Freundschaftsverhältnisses zwischen
Wagner und Nietzsche eine sexual psychologische Studie zur Psychogenes©
des Freundschaftsverrates zu machen. Doch ein Analytiker reinster Observanz
gönnt seiner Ausdeutungskunst keine Schranken, enträtselt die Erscheinungen
einer Geistesstörung gleich hurtig und geschickt wie die rein psychisch be-
dingten Vorgänge einer Neurose und zergliedert darum Nietzsches Innenleben
ÄJit größter Seelenruhe/
— 266 —
Lohne für die Abfassung seiner „Geburt der Tragödie'' als abtrünnig
gewordener Philologe von den Philologen in Acht und Bann getan
und seine Kollegien von den Studenten einfach boykottiert wurden.
Aber trotzdem hielt er noch treu zu Wagner, entfaltete eine wirkungs-
volle Propaganda für diesen und warb Freunde für den Meister, die
mit ihm „unter den ersten für Wagner kämpfen und arbeiten"
sollten. Und daher ist es begreiflich, daß ihm die ersten Aufführungen
in Bayreuth eine herbe Enttäuschung brachten, wo er „einige Aus-
erlesene und die Ehren des Apostels erwartete", dafür aber eine
Horde und den Meister von vielen Jüngern umgeben fand: „Man
hatte das ganze müßiggängerische Gesindel Europas beieinander,
und jeder Beliebige ging in Wagners Hause ein und aus, wie als
ob es sich um einen Sport mehr handeln würde." Da mußte sich
denn Nietzsches Liebe, die sich sein ganzes Leben lang nach Liebe
sehnte, aber verschmachten mußte, nach innen kehren und er begann
langsam — sich selbst zu heben, sich selbst zu bewundern! Diese
Liebesenttäuschung jagte ihn aus Bayreuth davon! Aber statt sich
das einzugestehen, suchte Nietzsche nach Motiven für seinen Haß
gegen Wagner und, indem er sich seinen Haß „rationalisierte", fand
er deren, so viele er brauchte. Er zerstörte die Tempel der Liebe,
die er errichtet hatte, Wagner ward für ihn der große Verführer,
der Seelenfänger, der alte Käuber, der ihm seine Schüler raubt: „Er
raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsere Frauen und
schleppt sie in seine Höhle ... ah, dieser alte Minotaurus! Was er
uns schon gekostet hat! Alljährlich führt man ihm Züge der
schönsten Mädchen und Jünglinge in sein Labyrinth, damit er sie
verschlinge, alljährlich intoniert ganz Europa ,auf nach Kreta, auf
nach Ejreta!'" Diese Klage wird uns begreiflich, wenn wir der Tat-
sache gedenken, daß Wagner Nietzsche alle Freunde geraubt hat:
Gersdorff, Rohde, Heinrich v. Stein! Sie alle ergriffen für Wagner
gegen ihn Partei, ebenso auch Malwida v. Meysenbug. Da war es
denn kein Wunder mehr, daß er am Ende das wurde, was er
Wagner verächtlich vorgeworfen hatte: ein Schauspieler! Er
spielte sich eine Überzeugung vor, wo es sich nur um eine Rache
zurückgesetzter Liebe und gekränkten Musikerstolzes handelte. Des-
halb schuf er den „Zarathustra". Freilich muß auch Stekel zu-
gestehen, daß Nietzsches Sprache in diesem Werke eine ungeahnte
Vollendung aufweise, einen zauberhaften Klang besitze, der die
— 267 —
Alliterationskünste Wagners weit hinter sich lasse: Hier sei ihm
der Sieg über Wagner, den „Bauchredner Gottes", geglückt, von
dem er, der maßlos Ehrgeizige, der immer nur der Erste sein wollte,
dessen Wille zur Macht sein einziges Gesetz wurde, musikalisch
geschlagen worden war. Diese Niederlage, die er nie verschmerzen
konnte, zeitigte eine furchtbare Tragik: Nietzsche schauspielerte bis
an sein Lebensende vor sich selbst, wollte die eigene Erbitterung
nicht hören, verschwendete in unsinniger Weise eine Unsumme von
Lebenskraft, um die Rolle zu Ende zu spielen, die es ihm gestattete,
unter der Maske des Dionysos asketischen Tendenzen zu leben. Der
tief und unausrottbar in ihm wurzelnde Hang zum Kathohzismus
ließ ihn den Heihgen des Mittelalters spielen, eine Tendenz, gegen
die er mit aller Kraft seines Geistes ankämpfen mußte. Und in
diesem permanenten Kampfe liegt die Ursache für Nietzsches
geistigen Zusammenbruch: Seine Hysterie griff immer mehr um
sich, griff auf dem Wege der Konversion auf andere Organe über
und machte ihn asozial. (Unter den „anderen Organen" können
wohl nur Magen und Darm gemeint sein. Bekanntlich litt Nietzsche
sehr unter Verdauungsstörungen, die wiederum eine sehr natürliche
Folge des Chloralhydrats waren, das Nietzsche zur Bekämpfung
seiner Schlaflosigkeit in großen Dosen einnahm. Ein Internist soll
bei ihm „chronischen Magenkatarrh mit bedeutender Erweiterung
des Magens" diagnostiziert haben.) ... „Er brauchte nur die Ruhe,
die er in einer Flucht in die Krankheit erzwang. Auch der Wahn-
sinn ist kein Erzwungenes, sondern ein Gewolltes. Er
wurde wieder ein Kind ... er konnte wieder fromm sein und ein
vegetatives Leben führen, er, der für eine ganze Menschheit gedacht
hatte. Er wurde sein eigener Erlöser, er war der reine Tor, der
alle Wunder der Auferstehung erwarten konnte." Deshalb ist nach
Siekel die Hypothese einer auf luetische Infektion zurückzuführenden
progressiven Paralyse bei Nietzsche absolut nicht bewiesen; es ent-
spreche nur dem materialistischen Zuge unserer Zeit, das Psycho-
logische ganz zu vernachlässigen und das Somatische voranzustellen.
So bot denn auch nach Prof. Binswangers Diagnose Nietzsches
Krankheit das Bild einer „atypischen Paralyse" ; dasselbe diagnosti-
zierte auch der Berliner Psychiater Dr. Ziehen.
Es ist tief zu bedauern, daß Placzek, der als Assistent Prof.
Binswangers Nietzsches Behandlung auf der Jenenser psychiatrischen
— 268 -—
Klinik leitete, mit Berufung auf seine ärztliche Schweigepflicht
seine ,, unauslöschlichen, persönlichen Eindrücke" der Mitwelt vor-
enthält und „nur die Tatsachen verwertet, die aus der Nietzsche-
literatur der Allgemeinheit zugänglich gemacht wurden"; unter
diesen „Tatsachen" hebt er „besonders" (sie!) das Möbiussche Buch
über Nietzsche und Frau Försters Buch „Wagner und Nietzsche zur
Zeit ihrer Freundschaft" hervor. Ich bin nun allerdings kein Psych-
iater, aber ich muß bemerken, daß es mich mehr als sonderbar an-
mutet, daß auch Placzek seine Schlüsse über Nietzches geistige
Physiognomie lediglich aus den „besonders" zitierten Werken zieht l
Ich glaube, da hat nicht lediglich der § 300 des deutschen StGB, als
rettender deus ex machina gewirkt, sondern die eigene Unfähigkeit,
ein so kompliziertes und feinst differenziertes Seelenleben psychiatrisch
zu analysieren. Das erhellt am deutlichsten aus der Art und Weise^
wie Placzek Nietzsches Verhalten dem weiblichen Geschlecht gegen-
über abtut. Die „Tatsache", auf die sich Placzek beruft, daß „fein-
sinnige Naturen" — also in diese Kategorie zählt er Nietzsche! —
„am allerwenigsten ihre Beziehungen zu Frauen an die große Glocke
hängen" ^), genügt ihm, „aus der Tatsache der progressiven Paralyse
auf ihre unumgängliche Vorbedingung einer luetischen Ansteckung
schließen müssen". Wenn man aber bei Möbius nachlesen kann, wie
trotz seiner gewaltsamen Konstruktionen gerade diese Annahme zur
Aufhellung des späteren Krankheitsbildes so gut wie gar nichts
beiträgt, bleibt nichts übrig als zu rufen: „Risum teneatis amici!"
^) Dieser „Tatsache" steht jedoch die von Deussen (1. c. p. 24) berichtete
Tatsache gegenüber: „Nietzsche war . . . allein nach Köln gefahren, hatte sich
dort von einem Dienstmann zu den Sehenswürdigkeiten geleiten lassen und
forderte diesen zuletzt auf, ihn in ein Restaurant zu führen. Der aber bringt
ihn in ein übel berüchtigtes Haus. „Ich sah mich", so erzählte mir Nietzsche
am anderen Tage, „plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erschei-
nungen in Flitter und Gaze, welche mich erwartungsvoll ansahen. Sprachlos
stand ich eine Weile. Dann ging ich instinktmäßig auf ein Klavier, als auf
das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft, los und schlug einige
Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie." Nach
diesem und allem, was ich von Nietzsche weiß, möchte ich glauben, daß auf
ihn die Worte Anwendung finden, welche Steinhart in einer lateinischen
Biographie des Piaton uns diktierte: „Mulierem numquam attigit." Wenn nun
die Psychiater argumentieren, Nietzsche habe sich im Jahre 1866 luetisch
infiziert, so sei ausdrücklich betont, daß dieses von Deussen berichtete
Faktum in den Februar 1865 fällt; demnach müßte die Infektion noch viel
-— 269 —
Ja, wenn nicht dieser verdammte § 300 des StGB, wäre! Denn es
ist besser, einfacher und bequemer, ein Genie, das nunmehr schon
22 Jahre tot ist, in Mißkredit zu bringen; warum? Weil einigen
wenigen, denen vor ihrer eigenen Gottähnlichkeit nicht im mindesten
bange ist, vor der Gottähnlichkeit des Genius — bange ist! Spottet
Placzek zu Beginn seines Buches über das Bestreben der Psychiater,
seiner Kollegen, alles aus dem berühmten einen Punkte, von dem
aus alles zu kurieren sei, zu erklären, so fällt er am Ende in den-
selben Fehler! Die Katze kann eben das Mausen nicht lassen! Nun
lehren unsere heutigen Psychiater, daß auch die sogenannte
„atypische" oder „Binswangersche Paralyse" ätiologisch auf eine
luetische Infektion zurückzuführen sei. Bei Nietzsche liege das
„Atypische" des Falles eben darin, daß solche Patienten, deren
Kranksein der Laie nicht im entferntesten ahne, ganz gut im Voll-
besitze ihrer geistigen Kräfte tätig sein können, wiewohl bei ihnen
eine latente Demenz besteht, deren Vorhandensein freilich nur der
Fachmann konstatieren könne. Und bei Nietzsche schließt der Fach-
mann auf das Vorhandensein dieser latenten Demenz aus seinem
Abfalle von Wagner. Bewiesen wird dies mit der Tatsache, daß
Nietzsche nach der Abfassung von innerlich so harmonischen Kunst-
werken, wie „Geburt der Tragödie" und den vier „Unzeitgemäßen"
(speziell der vierten!); im Buche „Menschliches, AllzumenschUches"
mit einem Male einem aphoristischen Stile huldige, der jede innere
früher anzusetzen sein, um aus ihr das „taedium cohabitationis" abzuleiten.
Aber auch einer solchen Annahme steht die von Deussen berichtete Tatsache
entgegen, daß Nietzsche wiederholt zu ihm geäußert habe : „Ich werde wohl
für mich allein drei Frauen verbrauchen." Schließlich aber möchte ich
— wenngleich als Laie ! — auf die neuesten Forschungsergebnisse der Sexual-
ärzte und Sexualbiologen hinweisen, die, fußend auf Ostwalds Unterscheidung
von „Romantikern" und „Klassikern" annehmen, daß die geistige Pro-
duktivität des Individuums auf seiner verschiedenen Disposition zur Um-
wandlung seiner sexuellen Energien beruhe. Nach dieser Theorie wäre
Nietzsche zu den „Klassikern" zu zählen: deren geschlechtliche Intensität
sei bedeutend geringer als bei den „Romantikern", da ihr Organismus sich
von der Produktion, resp. Regenerationsfähigkeit der Geschlechtszellen ab-
wende und sich die im allgemeinen zwischen Hirn und Geschlecht geteilten
Energien allein auf das erstere konzentrieren. Daher werde die Produktivität
des Geistes mit der Produktivität des Geschlechtes bezahlt. Nietzsche wäre
demnach wie Newton vollständig impotent gewesen. Ein aus solchen
Prämissen abgeleitetes „taedium coöundi" wäre jedenfalls probabler.
— 270 —
Harmonie ganz vermissen lasse. Das sei nur so erklärlich, daß in
seinem geistigen Wesen eine gewaltige momentane Veränderung
Platz gegriffen habe: die zerstörende Wirkung einer akquirierten
Lues auf das Gehirn mache sich bereits bemerkbar, physisch sei
sie lediglich in der Anamnese auf Grund des wiederholt auftretenden
Kopfleidens zu konstatieren. Interessant ist da die „physiologische
Erklärung" für Nietzsches geänderte Denkrichtung durch Frau Cosima
(zitiert bei Höfler 1. c): „Eine zersetzte Organisation kann die
Macht gewisser Empfindungen und Ansichten nicht mehr ertragen und
fühlt sich zum Verrat durch das Unbehagen gedrängt." Nun ist aber
eine luetische Infektion bei Nietzsche noch immer nicht nachgewiesen^
trotz Möbius (1. c. p. 28) und Bernoulli (1. c. I, p. 433). Das Gegen-
teil scheint eher wahr zu sein, daß nämhch Nietzsche „muherem
numquam attigit". So schrieb Prof. Binswanger 1904 persönlich an
Peter Gast: „Eine genaue Krankengeschichte Nietzsches zu schreiben,
wird niemandem gelingen, da die Anfänge des Leidens nicht völlig
klargestellt sind. Nach der Turiner Katastrophe war der arme
Patient außerstande, selbst Bericht über die Vorgeschichte zu geben.
Die Angaben der Begleiter Nietzsches waren zu unvollständig, um
darauf absolut sichere Konstruktionen aufzubauen." Man sieht, wie
vorsichtig Binswanger ist: für ein apodiktisches Urteil fehlen ihm
die Grundlagen. Anders Möbius: für ihn ist eine frühzeitig erfolgte
syphilitische Infektion bei Nietzsche das Primäre und stützt er sich
auf die heute allgemein geltende Annahme, daß jede Form von
Paranoia syphilitischen Ursprunges sei. Allerdings vermag er sich
auf direkte Zeugnisse über Paranoiaerscheinungen, vor allem kör-
perlicher Natur, nicht zu stützen, sondern er erschließt sie nur
indirekt aus brieflichen Andeutungen und sammelt seine Beweise
aus Form und Inhalt von Nietzsches Schriften. Und in- der Tat
kann man manche Erscheinungen als Vorzeichen einer beginnenden
geistigen Störung auffassen. Aber absolut zwingend beweisen läßt
sich das nicht, vor allen Dingen gibt es keinen objektiven Maßstab,
um das Kranke vom Gesunden scharf abzusondern, und endlich
besteht noch die Möglichkeit, daß gerade mit aus krankhaften Anlässen
wertvolle Gaben erwuchsen. Für die letztere Behauptung wollen wir
wenigstens einen Beweis bringen. Charakteristisch für den Eintritt
der Paranoia soll ein besonderes Wohlgefühl, eine Heiterkeit im
Unterschiede zu sonstiger Unlust und Schwermut sein, die sogenannte
— 271 —
Euphorie. Auch Nietzsche lernte sie besonders in dem letzten Viertel-
jahre vor seinem Zusammenbruche kennen. Wozu aber regte sie
ihn an? Zu einem seiner besten und ergreifendsten Gedichte!') Wollen
wir diesem Gedichte seinen Wert absprechen, weil es wahrscheinlich
auch durch Krankheitssymptome angeregt ist? Gewiß nicht! Infolge-
dessen' wird man zu dem Eesultat kommen, daß, so bestimmt es
auch nicht an Vorbereitungen und Anzeichen der 1889 ausgebrochenen
Krankheit gefehlt hat, man doch praktisch mit ihnen kaum wird
rechnen können, da sie sich nicht sicher aussondern lassen und selbst
die auf sie zurückgehenden Produkte nicht schon dadurch allein
wertlos werden. So spricht denn selbst Höfler im Hinblick auf
diese Art der Genieerklärung von einer „nachahmenden schöngeistigen
Einfügung von Nietzsches Gestalt in einen der mit den wissen-
schafthchen Etiketten ,Paranoia', ,Mania', ,Dementia' etc. ver-
sehenen fertigen Rahmen". Aber gleichwohl wird Höfler durch den
im «Fall Wagner" herrschenden „zynischen Ton von Feindseligkeit
nur allzusehr an eine dem Psychiater wohlbekannte paradoxe Er-
scheinung erinnert: es überfällt gewisse Kranke ein Drang nach
gröbster Unanständigkeit in Ausdrücken und Gebärden, und er
überfällt sie um so heftiger und findet sie um so wehrloser, je
zarter und schamhafter sie in gesunden Tagen gewesen waren".
Was daher erzählt wird über erbliche Belastung oder eine luetische
Infektion, das alles sind, um wieder mit Höfler zu reden, „Mut-
maßungen, die hier zu schweigen haben, solange hier nicht ein
pathologischer Anatom, der zugleich sensibelster Psychologe ist, das
allein entscheidende Wort gesprochen hat". Leider ist das einzige
positive Auskunftsmittel, die Schädel-, resp. Gehirnsektion, aus
unbekannten Gründen verabsäumt worden. Und wenn man den
aphoristischen Stil des „zweiten Nietzsche" gegen den des „ersten
Nietzsche" als Krankheitssymptom ausspielt, so ist darauf zu erwidern,
daß die aphoristische Form zu tief mit seiner ganzen Geistesart
zusammenhing, als daß er sie je wirklich zu überwinden vermocht
hätte. Darum wird das Urteil über sie verschieden lauten, je nach
den Ansprüchen und Bedürfnissen, mit denen man an Nietzsches
Werke herantritt. Will man aus ihnen mühelos diese oder jene Gabe
naschen, sie rasch genießen und sich nur anregen lassen, dann wird
1) Nietzsche W. W. X., 468.
— 272 —
der Aphorismus willkommen sein, der aber als völlig unzureichend
erscheint, wenn man nach ernster Denkarbeit und wissenschafthcher
Allseitigkeit, Begründung und Klarheit verlangt. Daher gründet eine
große Anzahl von Menschen ihr Endurteil bewußt oder noch mehr
unbewußt auf die Eindrücke von Nietzsches Stil. Die trockenen
Gelehrten, denen jede Abweichung vom „holperigen Unterprimanerstil"
verdächtig erscheint, die Philister, die im Leben schon gar nichts
mit Blumen und Bildern anfangen können, geschweige denn in der
Literatur, werden von vornherein einen Stilisten wie Nietzsche ab-
schütteln, und zwar mit der Form auch den Inhalt, da dieser ohne
jene nicht zu erreichen ist. Umgekehrt werden künstlerisch emp-
findende Menschen in dem Maße unter die Gewalt der Form sich
beugen, daß ihnen der Inhalt fast verborgen bleibt.
Daß nun Nietzsche gerade diese Form der pointierten, un-
zusammenhängenden Einzeldarstellung, des Aphorismus, wählte,
erklärt sich einmal aus der zum guten Teil durch seine Krankheit
bedingten Form seiner Produktion — er dachte und entwarf meistens
seine Konzeptionen im Freien, arbeitete nur dann, wenn seine
Stimmung ihn dazu trieb, wenn eine Inspiration kam. Dann aber
bot ihm diese Form auch die Möglichkeit, seine stilistische Begabung
besonders gut zum Ausdruck zu bringen. Aber trotzdem hat niemand
das Unzureichende dieser Form mehr empfunden als er selbst,
sobald seine gelehrte Ader zum Vorschein kam und das Ideal ihm
aufleuchtete, eine wirkUch begründete, alles umfassende Welt-
anschauung auszubilden.
Ist es aber nicht merkwürdig, daß wiederum andere Denker
von Nietzsches Aphorismen behaupten, ihr Verfasser erhebe sich in
ihnen zu einer Meisterschaft des Prosastils, die unter den Deutschen
sehr selten gefunden werde? Daß hier die ästhetischen Quellen am
reichsten flössen, daß der Autor hier die reifsten, tiefsten und
gültigsten Aussagen über das Kunstschaffen gebe, Erkenntnisse von
objektivem Werte, die mit den analogen von Franz Brentano, Jodl oder
Fechner getrost rivalisieren könnten? Wie reimt sich das zusammen
mit der These der ärztlichen Sachverständigen, daß die bisher latent
gebliebene Paranoia sich manifestiere? Wahrlich: „Difficile estsatiram
non scribere!" Liegt etwa das Symptom der Paranoia darin, daß
der aphorismenschreibende Nietzsche mit sich experimentierte, indem
er immer nur Ansätze zum Schaffen machte, dann aber, anstatt
~ 273 —
daß er geschaffen hätte, wiedergab, was er aus dem Schaffen erlauscht
hatte?
Wir entsinnen uns, daß Nietzsche anläßhch der Zurückweisung
der Broschüre Dr. Puschmanns, der bereits 1873 Wagner als geistes-
krank erweisen wollte, an Rohde unter anderem schrieb: „Dieser
Kunstgriff, unbequeme ingenia zu beseitigen, der noch mehr nütze
als eine plötzliche Beseitigung, weil er das Vertrauen der kommenden
Geschlechter untergrabe, sei der Gemeinheit des gemeinsten Zeitalters
wunderbar gemäß!" Hat Nietzsche damals geahnt, daß er selbst
kaum ein Menschenalter später ein Opfer desselben Kunstgriffes
werden sollte ? — Wie allgemein bekannt, traf Nietzsche, als er auf
der Höhe seines geistigen Schaffens stand, das denkbar fürchterlichste
Schicksal: er verfiel in geistiges Siechtum, aus dem ihn erst nach
11 Jahren ein sanfter, schmerzloser Tod erlöst hatte. Mit der
geistigen Erkrankung wohl keines Genies ist so viel Mißbrauch
getrieben worden, wie mit dieser Krankheit Nietzsches: die psycho-
logische Schulung unserer Psychiater, die Begriffe medizinischer
Psychologie sind, wie Th. Lessing das ausführt, noch so grob, so
schematisch, daß es naiv wäre, in Fragen zartester seelischer Er-
fahrung auf diese beschreibenden Nomenklaturen auch nur Bezug
nehmen zu wollen. Ich möchte noch hinzufügen, daß es äußerst
unvornehm und bequem ist, mit dem Hinweis auf den bei Nietzsche
ausgebrochenen Irrsinn alle seine Gedankengänge, und zwar gerade
da, wo sie schwierig und gefährlich erscheinen, mit einem Schlage
abzutun, als ob es nicht feinere und geistigere Waffen gäbe, mit
denen man seiner Herr werden kann! Es gibt keine geniale und
nicht einmal außergewöhnliche Begabung, an welcher nicht der
gesunde Menschenverstand mit Bürgerplattheiten Lombrosos oder
Max Nordaus bilUg sein Mütchen kühlen könnte. Man hat über
Wagner, hat über Beethoven fachmännische Schriften veröffentlicht,
in denen man eine Geisteskrankheit diagnostizierte. Goethe wurde als
Erotomane, Kleist als Hysteriker, Shakespeare als Autosexualer
hingestellt. Und schließlich kommt der Mediziner zu der Überzeugung,
daß seit Homer alles Genie pathologisch und nur der Mandarine
vom Tschin vor solcher Krankheit sicher ist. Wenn man indessen
wirkUch aus Nietzsches letzter Schaffensperiode ein Symptom als
krankhaft ansprechen müßte, dann wäre es am ehesten sein zur
Manie gewordener Gesundheitsfanatismus, sein Argwohn, hinter
Grießer, Wagner und Nietzsche. 13
— 274 —
allem Geistigen Dekadenzzeichen zu wittern, und sein Wille, alles
unter der Lupe der „Biologie" zu betrachten. Sein gewaltsamer
Glaube an das Leben und seine Macht und Herrlichkeit, sein ekstatisch
vorgetragenes Evangelium der Lebensfreude — sie muten uns an
als die subjektiv notwendige Reaktion eines Menschen, der am Leben
litt. Er mußte das Leben so unermeßlich lieben, weil er sonst es
hätte nicht ertragen können: „Kein Schmerz hat vermocht und soll
vermögen, mich zu einem falschen Zeugnisse über das Leben, wie
ich es erkenne, zu verführen!" Ebenso haben wir unwillkürlich das
Empfinden, daß seine mitunter sehr unmäßigen und übermäßigen,
krankhaft verzerrten Angriffe auf Schopenhauer und Wagner, die für
ihn als der Inbegriff alles Lebensarmen galten, eine Abwehr sind gegen
jene Mächte, deren er selbst nicht ganz Herr geworden war. Aber
diese seine Schwäche wurde ihm zur Stärke! Indessen wäre der
logische Gehalt seiner Philosophie, die man nur nach objektiven
Gesichtspunkten beurteilen kann, schließlich selbst dann
nicht widerlegt, wenn man etwa nachweisen könnte, daß ihr
Schöpfer zur Zeit ihrer Abfassung geistig abnorm war. Ein Psychiater
wie Placzek (1. c. p. 140) ist allerdings so vorsichtig, den Beginn
von Nietzsches geistiger Erkrankung erst Mai- Juni 1888 anzusetzen;
Möbius verlegt diesen Termin bereits ins Jahr 1881; die Wagnerianer
extremster Parteirichtung gar schon ins Jahr 1876. Da müßte also
ein großer, wenn nicht der größte Teil von Nietzsches Werken als
die Arbeit eines Geisteskranken betrachtet werden ! So gesteht selbst
Möbius in seinerSchrift„Über das Pathologische bei Nietzsche",
daß der „Nachweis der Geisteskrankheit noch kein Einwand ist", und
daß gerade in Hinsicht auf jenes Anstößige, das als offenbare Wirkung
der Paralyse genommen werden könnte, von vornherein bei Nietzsche
eine „Neigung" dazu vorhanden war. Zweifellos ist doch, wobei wir der
Argumentation Hollitschers folgen, daß ein Mensch, der eine schließlich
so geschlossene Arbeit wie den „Antichrist" als letztes Werk schaffen
kann, unter keinen Umständen als irrsinnig genommen werden
darf. Und ob da ein paar oder eine ganze Masse anstößiger Dinge
vorkommen, die pathologischer Natur sein können — was tut das
weiter viel zur Sache! Auf das Wesen, auf den innersten Gedanken
kommt es allein an' und der ist bei Nietzsche so wenig irrsinnig,
wie etwa bei Max Stirner. Muß man, um über Nietzsche hinaus-
zukommen, zu seiner Krankheit greifen? Wahrlich, „in dem Falle
— 275 —
wäre dann die Paralyse nicht ein Einwand gegen ihn, sondern ein
Argument für. ihn". Eben weil Nietzsche krank war, muß es heißen:
alles, was er dachte und schrieb, stammt aus einem gesunden Geist,
und trotzdem hat es die und die Fehler, ist nach der und der
Richtung hin falsch; und trotzdem ist es nicht schwer, über ihn
zur Reife und Klarheit zu kommen. So urteilte bereits Rohde, der
in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" keine Symptome
einer geistigen Erkrankung finden konnte, „daß alles luzid bis ans
Ende sei, aber zur reinen Kannibalenmoral führe", und nur er selbst
sei unfähig, Nietzsches „letzten Evolutionen zu folgen". Rohde
konnte lediglich nur Spuren einer Erkrankung des Empfindens
konstatieren: Nietzsches „Verhalten zu Wagner in den letzten Zeiten
zeigte, daß wirkhch etwas krank war in ihm: denn sicher wäre
ihm in diesem Falle diese Art des Kampfes unmöglich gewesen
nach seiner ganzen Natur". Und schrieb nicht Nietzsche selbst
noch 1888: „Alle krankhaften Störungen des Intellekts sind mir bis
heute fremde Dinge gebheben!" Und ein anderes Mal schrieb er
resigniert: „Obwohl ich im 45. Lebensjahre stehe und ungefähr
fünfzehn Werke herausgegeben habe, hat man es auch noch nicht
zu einer einzigen, auch nur mäßig achtbaren Besprechung auch
nur eines meiner Bücher gebracht. Man hilft sich jetzt mit den
Worten: ,exzentrisch', ,pathologisch', ,psychiatrisch'."
Wenn wir jedoch bei Max Nordau lesen: „Die Tatsache, daß
ein erklärter Tobsüchtiger in Deutschland für einen Philo-
sophen gehalten werden und Schule machen konnte, bleibt
immer noch eine schwere Schmach für das deutsche Geistes-
leben der Gegenwart", so enthält dieser Satz allein schon
so viel Ungeheuerliches, daß er durch folgenden Satz Nordaus
kaum mehr übertrumpft werden kann: „Dozenten halten rite
Universitätsvorlesungen über die Verbigeration dieses Irrsinnigen!
Angesichts einer so unheilbar tiefen Geistesstumpfheit kann es
nicht wundernehmen, wenn der klar denkende und gesunde Teil
der heutigen Jugend in vorschneller Verallgemeinerung auf die
Philosophie selbst die Verachtung überträgt, welche amtlich bestellte
Lehrer der Philosophie verdienen, die sich unterfangen, ihre Schüler
in die Geisteswissenschaft einführen zu wollen, und dann nicht
einmal die Fähigkeit benützen, die zusammenhanglose Gedanken-
flucht eines Tobsüchtigen von vernünftigem Denken zu unter-
18*
— 276 —
scheiden^)." Ein positiver Beweis dafür, daß Nietzsche seine Lehren im
Wahnsinn gebildet habe, ist noch nicht erbracht worden. Gewiß war
Nietzsche oft krank, aber nicht geisteskrank. Das wurde er erst im
Jahre 1888. Oberkonsistorialrat Juhus Kaftan, der einer ganz anderen
Weltanschauung huldigt als Nietzsche, war im Spätsommer 1888
drei Wochen in Sils Maria mit ihm zusammen und glaubt, „wirklich
beurteilen zu können, wie es damals um ihn stand". Sein Urteil
lautet: „Ich habe während der ganzen Zeit niemals irgendwelche
Spur einer beginnenden geistigen Erkrankung wahrgenommen." Aber
selbst wenn er geisteskrank auch schon vor dem Jahre 1888 gewesen
sein sollte, so hätten wir doch die Pflicht, sachhch und unbefangen
zu prüfen. Tut man das denn nicht bei den Werken eines Schumann,
Lenau, Hölderlin, Hugo Wolff, die schließhch alle in geistige Um-
nachtung verfallen sind? Sehr richtig urteilte daher mein unvergeß-
licher Lehrer Prof. Jodl, daß Gedanken in ihrem Werte und ihrer
weltgeschichtlichen Wirkung davon ganz unabhängig seien, wie be-
schaffen das Individuum, welches zufällig ihr Träger ist, als Person
sein mag und was diese Gedanken für sein Schicksal bedeuten. Der
Gedanke, einmal ausgesprochen, die Tat, einmal gesetzt, gewännen
ein Sein für sich und wirkten fort, unbekümmert um die Erzeuger
wie Kinder, die dem Elternhause den Kücken gedreht haben. „Die
heute so beliebte und von großen Autoritäten vertretene Zusammen-
ordnung des Genies mit dem Wahnsinn ist grundfalsch und gänzhch
irreführend. Wenn beide auch bisweilen in demselben Individuum
zusammen vorkommen, so sind sie psychisch doch durch eine weite
Distanz voneinander getrennt. Gerade die heute so vielfach studierten
Phänomene des Doppel-Ich machen das wohl begreiflich. Das Ich,
welches das geistige Zentrum einer genialen Tätigkeit bildet, ist
ein überpersönliches Ich, erfüllt mit objektiven Inhalten; das Ich,
') Feinsinnig bemerkt Wieland: „Ein solcher Mann (sc. Horatius) wird von
— den Kommentatoren seiner Schriften und auf ihren Kredit hin beinahe von
der ganzen gelehrten Welt der niedrigsten und schlechtesten Gesinnungen fähig
gehalten und beschuldigt! So gefährlich ist es für einen Schriftsteller, mehr
Geist und Witz zu haben als seine Ausleger!" Von dieser Art Exegeten
gelten die Worte, die Faust Mephisto zuruft: „Ward eines Menschen Geist
in seinem hohen Streben von deinesgleichen je gefaßt?" — „Vom Patho-
logischen aus gelangt man nie zum Großen, sondern immer zum Kleinen,
Jämmerlichen; nie zum Unsterblichen, sondern immer nur zum Vergäng-
lichen." (Jodl 1. c.)
— 277 •—
welches sich die Charakteristik des Wahnsinns gefallen lassen muß,
ist das rein persönliche, individuelle Ich, das Subjekt als einzelnes.
Dieses verkümmert entweder, weil der regierende Herr, der Über-
mensch im Ich, keine Zeit hat, an seine Bedürfnisse zu denken...,
oder es wird auf glühender Bahn durchs Leben gejagt, weil es auch
die Kleinigkeiten des Tages in der riesenhaften Vergrößerung erblickt,
die ihm gestatten, als Denker oder Künstler Dinge zu schauen, die
kein Auge noch gesehen und die in keines Menschen Herz je zuvor
gekommen." (Jodl: „Vom Lebenswege** I, p. 44/45.) Nun war Nietzsche
gewiß eine Doppelnatur: zugleich ein nüchterner, tiefbohrender
Psychologe, der die versteckten Triebkräfte menschlichen Denkens
und Handels durchschaute, zugleich aber auch ein leidenschaftlicher
Gefühlsmensch, von glühender Sehnsucht getrieben, leuchtende Ideale
zu schaffen. Ich frage jedoch: muß man angesichts dieser Tatsache
unbedingt auf eine „Schizophrenie" schließen? Als Antwort auf
diese Frage seiReininger zitiert (1. c. p. 178): „Was sich, dem Leser
unsichtbar, in der Tiefe von Kants Seele abgespielt haben mag, als
er durch die unerbittUche Kraft seines kritischen Denkens den
metaphysisch-religiösen Halt des ihm zu höchst Stehenden: des
sittlichen Bewußtseins dahingleiten sah — dieses bange Gefühl des
nun Ganz-auf-sich-selbst-gestelltseins und damit der höchstgesteigerten
Selbstverantwortlichkeit in allen letzten Entscheidungen, das rollt
sich in Nietzsches Denkerleben offen vor unseren Augen ab.
Dieser Kampf einer hochgestimmten Menschenseele um einen letzten
Sinn des Lebens in einer entgötterten Welt, dieses prometheische
Emporringen eines unbeugsamen Willens zum Wert aus einer mit
hartem Entschluß festgehaltenen Nachtansicht des Wirklichen —
dieses menschlich-übermenschliche Schauspiel wird einem mitver-
stehenden Geist allezeit ein ebenso erhebender als ergreifender
Anblick bleiben." Als Romantiker überflog er jede Grenze der Wirk-
lichkeit. Seine Zeit ist Vergangenheit und Zukunft, aber nicht die
Gegenwart. Aus Ungenügen an der Zeit flüchtete er zu den Griechen
der Vergangenheit, zu den Übermenschen der Zukunft. Die wirkliche
Quelle von Nietzsches Philosophie, hat man ferner behauptet, sei der
Sadismus, freilich mit der Einschränkung, daß er lediglich auf die
geistige Sphäre beschränkt sei. Wenn jedoch potenziertes Selbst-
bewußtsein tatsächlich ein Symptom für Tobsucht wäre, dann hätten
nach Nordau auch Luther, Beethoven und Wagner ins Irrenhaus ein-
— 278 —
gesperrt werden müssen ! Diese Tatsachen lehren uns aber folgendes :
Je weniger Verständnis jemand für die Eigenart eines Menschen hat,
desto freudiger weiß er alles dies zu entdecken, was ihn vom nor-
malen Menschen unterscheidet und also pathologisch macht. Was
daher Max Nordaus mäßigem, „gesundem Menschenverstände'' nicht
gefiel, das erklärte er schlankweg für verrückt und für das blöd-
sinnige Machwerk „vertierter Idioten"! Das ist eine große Ober-
flächlichkeit, weil auf diese Weise die Frage nach dem wahren
Wesen einer ungewöhnlichen Erscheinung in, wie Emil Lucka aus-
führte, Begleitumstände aller Art verschoben wird. Ein typisches
Beispiel dafür ist es, daß man zum Beispiel die Epilepsie, an der
Dostojewski litt, zu einer Ursache seiner Sonderart machte,
während diese Krankheit in der Tat nur ein Merkmal unter vielen
anderen ist, das ihn charakterisieren kann. So erzählte er wiederholt,
daß er vor epileptischen Anfällen in begeisterte Ekstase gerate:
„Während einiger AugenbUcke durchströmt mich ein Glücksgefühl,
wie es ihn normalem Zustande undenkbar ist und von dem gesunde
Leute keine Ahnung haben. Ich empfinde in mir selbst und in der
ganzen Welt die höchste Harmonie; dieses Gefühl ist so stark und
beseligend, daß man imstande ist, für ein paar solcher Sekunden
zehn Jahre, ja, selbst das ganze Leben zu opfern"; oder: „Ihr ge-
sunden Menschen ahnt nicht, welch herrhches Wonnegefühl den
Epileptiker eine Sekunde vor dem Anfall durchdringt. Mohammed
erzählt in seinem Koran, er sei im Paradiese gewesen. Alle klugen
Narrenköpfe behaupten, er sei einfach ein Lügner und Betrüger.
Das ist aber nicht wahr, er lügt nicht! Sicher war er im Paradiese
während eines epileptischen Anfalles!" Es wäre in diesem Falle
immerhin möglich, daß Dostojewskis Wonnegefühl auf sexuell-
reUgiöser Basis beruht hat. In seinem Werke „Unser Seelenleben
im Kriege", p. 71, stellt Stekel die merkwürdige Behauptung auf:
„Der Künstler ist immer Neuro tiker, der seine psychischen Konflikte
im Schafi'en zu lösen versucht." Mein Freund, Univ.-Prof. Richard
Meister, bemerkte in seiner Besprechung zu dieser Behauptung:
„Sofern der Künstler Konflikte erlebt und im Schaffen löst und sich
so von ihnen befreit, ist er noch kein Neuro tiker! Neurose ist erst
der gar nicht oder unvollständig zum Austrag gelangte und daher
habituell gewordene Konflikt." Prof. Reininger hat in seinem jüngsten,
Nietzsche gerecht werdenden Werke „Friedrich Nietzsches Kampf
— 279 —
um den Sinn des Lebens" für dieses Problem die schönen, für seine
Objektivität zeugende Worte gefunden: „Ob, seit wann und in
welchem Umfange Nietzsches geistige Erkrankung auf sein geistiges
Schaffen von Einfluß geworden ist, wird sich wohl nie mit völliger
Sicherheit entscheiden lassen. Aber so wichtig begründete Ver-
mutungen dieser Art für den Biographen sein mögen, so gleich-
gültig sind sie im Grunde für den Philosophen. Angenommen, es
würde uns nachträglich Kunde, daß Descartes zur Zeit, als er sein
berühmtes „Cogito, ergo sum" erdachte, vorübergehend geistesgestört
gewesen ist — und jene Vielen, die ja längst wußten, daß es mit
einem Manne, der seine eigene Existenz bezweifelt, nicht ganz
richtig sein könne, möchten sich darüber gar nicht wundern —
würde damit dem echten philosophischen Problem, das sich hinter
jenen paar Worten verbirgt, etwas von seiner Wucht und Bedeutung
genommen sein? Ich glaube nicht; wenigstens nicht bei jenen, denen
das unerläßlichste Merkmal eines Philosophen eignet: Freiheit
von jedem Vor-Urteil. Daher halte ich es auch methodisch für
allein richtig, an Nietzsches Geisteswerk so heranzutreten, als ob
wir von dem persönlichen Schicksal seiner geistigen Umnachtung
gar nichts wüßten. Was an seiner Lehre falsch, irreführend und
ungesund ist, müßte fallen, gleichgültig, ob ihr Urheber gesund oder
krank war; das Große und Wertvolle aber an ihr auf den bloßen
Verdacht eines pathologischen Ursprungs hin nicht
sehen zu wollen, erschien mir als schweres Unrecht gegen diesen
ebenso edlen als unglücklichen Geist . . . eingedenk jenes Wortes
Spinozas, daß das Licht sich selbst offenbar macht und die Finsternis. "
Man bemüht sich vielmehr in barbarischer Absicht und nach einer
Methode, die an den Gegenstand ganz willkürhch aus fremden Ge-
bieten herangetragen wird, ein einmaliges Phänomen — das wert-
vollste, das die Welt besitzt ! — unter allgemeine Regeln zu bringen,
die vom Durchschnitt hergenommen und dem Durchschnitt an-
gemessen sind. Während die ältere Schule der Psychiater vorwiegend
auf Degeneration und Alkoholismus schwört, ist jetzt ein Schema
von Sexualität in Mode, in das Patienten und Genies gleichmäßig
hineingezwängt werden. Da der Untersuchende durch keinerlei
psychologische Instinkte gehemmt zu werden pflegt, tritt das Er.
gebnis immer mit verblüffender Einfachheit zutage. Aber die Tendenz,
am bedeutenden Menschen das zu finden, was ihm mit dem Neurotiker
- 280 —
gemein ist, erscheint Lucka überdies als ein Zeichen vollkommener
Kulturlosigkeit. Denn das erste Erfordernis zur Kultur ist wohl die
Fähigkeit, Wertvolles zu spüren und Achtung davor zu emp-
finden. Und gerade die als pathologisch, das heißt minderwertig
„Erwiesenen" haben die kulturellen Güter hervorgebracht. So ist
es auch Tatsache, daß die meisten jener großen Männer, die in der
Geschichte der Menschheit eine Rolle spielten, körperliche Dekadenten
waren, zum Beispiel Alexander der Große, Caesar, Wallenstein,
Napoleon. Und umgekehrt gibt es Tausende körperlich ganz gesunder
Menschen, welche geistig durch und durch Dekadenten sind. Daher
ist, wie R. M. Meyer treffend bemerkte, Nordaus schmähliches Buch
ein Denkmal dafür geworden, daß Deutschland immer noch nicht
gelernt hat, was Goethe als die Wurzel aller Tugend und Religion
seinem Volke einprägen wollte: Ehrfurcht. Wir respektieren jede
Uniform; wer aber bloß ein großer Geist, eine feurig suchende
Seele, ein epochemachender Künstler ist, der steht am Pranger für
jeden Schmutzwurf! Es scheint auch heute noch volle Geltung zu
haben Goethes Wort zu Sorot, 14. März 1830: „Ein deutscher
Schriftsteller — ein deutscher Märtyrer!" Ich kann es mir jedoch
nicht versagen, schon wegen ihrer Schönheit und warmen Begeisterung
für alles Große, jene Worte hier zu zitieren, die Wilamowitz in
seiner Kriegsrede über Alexander den Großen über eine solche Art
Genieerklärung gefunden hat: „Nach der neuesten Methode nennt
man pathologisch, was dem Betrachter unheimlich wird, weil es
sich nicht in dem Horizont seines Könnens und Begreifens hält.
Den vielen Kleinen, die das Gefühl des eigenen Nichts durchaus
nicht durchbohrt, erscheint jede Größe als Mißbildung. Man kann
sie nicht hindern, mag sie gewähren lassen; aber den Namen
der Wissenschaft sollen sie nicht mißbrauchen ^). Wissenschaft kommt
nicht mit einem fertigen Maßstabe, sondern sucht das Verständnis
aus dem Objekte herauszuholen; sie erforscht die äußeren und
inneren Lebensbedingungen der Vergangenheit, ehe sie einen Menschen
dieser Vergangenheit beurteilt. Und damit ist es noch nicht abgetan.
1) Cf. A. Messer, „Die Philosophie der Gegenwart", p. 142: „Die Psycho-
analyse des Wiener Psychiaters Sigmund Freud und seiner Schule erneuert
den Geist der mittelalterlichen mystischen Religionsphilosophie der Kabbala.
Ihre allegorische Deutungskunst (richtiger = Künstelei) erinnert an die Traum-
deutung des Talmud."
— ' 281 —
Wissenschaft erkennt mit Ehrfurcht neben dem, was in jeder Zeit
das Gewöhnliche und Gattungsmäßige, daher leicht Verständliche
ist, auch das Individuelle an, das sich von dem Gewöhnlichen, von
der Gattung abhebt. Wissenschaft weiß dabei, daß sie das Individuelle
niemals ganz erklären kann. Das gilt auch von jedem wahren
Kunstwerk. Je tiefer wir es verstehen, um so freudiger erkennen
wir an, daß es ein Wunder ist und bleibt; das heißt zugleich die
Unzulänglichkeit unseres Verständnisses eingestehen!!! Auch der
große Mensch ist eine Offenbarung des Göttlichen; aber hier liegt
die göttliche Größe in dem, was von der Regel abweicht, im Indi-
viduellen!"
Ich werde nun die Berechtigung der Sexualpsychologie und
der Psychoanalyse als Wissenschaften nie in Abrede stellen wollen;
denn sie haben bereits großen Segen gestiftet, indem wir gewisse
abnorme Erscheinungen als psychische Konstitutionskrankheiten
nicht nur gerecht beurteilen, sondern auch bessern, wenn nicht gar
definitiv zu heilen lernten. Und wer möchte verkennen, daß sich
gerade auf dem Gebiete der Sexualpathologie der Forschung das
weiteste und dankbarste Feld auftut? Unvergeßlich wirkt fort
Magnus Hirschfelds berühmtes Wort: „Durch die Wissenschaft
zurGerechtigkeit!" Wie indes die Dinge heute liegen, hat leider
noch immer Goethes Wort recht: „Gerechtigkeit: Eigenschaft
und Phantom der Deutschen!" Aber daß Psychoanalyse und
Sexualpsychologie allein, ohne Zuhilfenahme der reinen Geistes-
wissenschaften, ausreichend sein sollten, uns den wahren Gehalt
epochaler Geisteswerke eindeutig zu erklären, das stelle ich ent-
schieden in Abrede. Damit ist aber noch immer nicht behauptet,
daß das Geschlechthche der ästhetischen Betrachtung durchaus
feindlich sei! Im Gegenteil! Hat doch selbst ein Piaton aus dem
physischen Eros die höchste ästhetische Betrachtung geistiger Natur
abgeleitet: er entdeckte eben den Widerschein des Göttlichen in
der Sinnenwelt, während ihn die „Freudianer" etc. verdecken!
Schon die bekannte Tatsache, daß mit dem Erwachen des Geschlechts-
lebens auch der geistige Schaffenstrieb erwacht, ein künstlerischer
Drang sich regt, daß in der Zeit der Pubertät jeder Jüngling ein
Dichter ist, spricht für den innigen Zusammenhang von Sexualität
und ästhetischem Empfinden. Gibt doch erst die Sinnlichkeit dem
Leben Farbe, erzeugt nur sie die feinen Nuancen und Abtönungen
— 282 —
unserer Gefühle; ohne sie würde das Leben grau in grau erscheinen,
eine öde Monotonie sein, Daseinslust und Schaffenskraft vernichtet
oder wenigstens auf ein Minimum reduziert werden. Selbst die
idealste Liebe muß von der Sinnlichkeit genährt werden, wenn sie
schöpferisch und lebendig bleiben soll. Ein absolut zwingender Be-
weis für den innigen Zusammenhang zwischen Sexualität und
Ästhetik ist die Tatsache, daß die großen Künstler und Dichter in
der großen Mehrzahl durchaus sinnliche Naturen sind; ihr ästhe-
tisches Empfinden ist nämlich mit einer glühenden Sinnlichkeit
gepaart, die von dem Schönen schlechthin ihre mächtigsten Impulse
erfährt. So leugnet zum Beispiel von Krafft-Ebing die Möglichkeit
einer echten Kunst und Poesie ohne sexuelle Grundlage. Selbst
Volkelt muß den genetischen Zusammenhang zwischen diesen beiden
Momenten anerkennen. Und Nietzsche, der gegen die Schopenhauersche
Theorie von der Willenlosigkeit {= Selbstaufhebung des Willens im
reinen anschauenden Intellekt) Einspruch erhoben hatte, spricht
geradezu von einer „Ästhetik des Geschlechtstriebes". Der „Wille
zur Macht" ist es, der in der Kunst sich manifestiert, der das Da-
sein bejaht und niemals in Resignation verneint. Es gibt keine
Kunst im Sinne des Schopenhauerschen Pessimismus. Die tiefe
Lust an "allem Gegenständlichen, die sich bis zum Rausch, bis zur
Ekstase steigert, ist der künstlerische Zustand, ein Zeichen vollen
und blühenden Lebens, welche man heute „gewohnt ist, als krank-
haft zu beurteilen". Überfülle, nicht Romantikerschwäche schafft
die großen Werke! Es gibt auf- und absteigende Kunstperioden.
Kunstschaffen und Kunstgenießen werden daher von Nietzsche in
dieser Periode seines Denkens häufiger als bisher mit dem sexuellen
Leben in Parallele gestellt. „Es ist ein und dieselbe Kraft, die man
in der Kunst-Konzeption und die man im geschlechtlichen Actus
ausgibt: es gibt nur eine Kraft"; das ist der „Wille zur Macht".
In diesem Sinne definiert daher Stekel alle Kunst als „umgewertete
Erotik"; der Künstler zeugt seine Werke wie seine Kinder; ein
Stück seiner Erotik geht für das Leben verloren. „Das hat R. Wagner
gewußt, wenn er ausführte: ,Die Kunst fängt genau da an, wo das
Leben aufhört; wo nichts mehr gegenwärtig ist, da rufen wir in
der Kunst: ich wünschte!' In der Kunst lebt der leidende Künstler
seine übermächtige SexuaUtät aus. Alle Kraft, die Wagner in seinen
, Tristan' hineingelegt hat, ging der Wesendonk verloren. Durch
— 283 —
den , Tristan^ konnte er sich freimachen, wie sich Groethe durch
den Werther aus der Hörigkeit der Liebe in die Freiheit des
Schaffenden gerettet hat" (cf. Stekel „Berufswahl und Erotik" im
„Neuen Wiener Journal" vom 7. Dezember 1919). Im selben Sinne
hat daher Rosa Mayreder auf Grund der Selbstoffenbarungen in
seinen Briefen und Tagebuchblättern an Frau Wesendonk Wagner
als „erotisches Genie" definiert: „Die geistige Differenzierung
des erotischen Empfindens bringt eine neue Fähigkeit mit sich, die
das Bewußtsein der Überlegenheit auslöscht und das Bedürfnis nach
dem Abstand in das Bedürfnis der Gemeinsamkeit, der Gegenseitig-
keit verwandelt — die Fähigkeit der Hingebung. Damit begibt sich
das Merkwürdige in der männlichen Psyche, das große Wunder, das
eine völlige Umkehrung des primitiven Empfindens bewirkt, eine
Wandlung der teleologischen Geschlechtsnatur. Das erotische Genie
umfaßt die Wesen des anderen Geschlechtes mit intuitivem Ver-
ständnis und vermag sich ihnen ganz zu assimilieren. Sie sind ihm
das Urverwandte und Urvertraute ; die Vorstellungen der Ergänzung,
der Erfüllung, der Befreiung des eigenen Wesens oder selbst die
einer mystischen Verschwisterung begleiten seine Liebesbeziehungen.
Ihm bedeutet die Geschlechtlichkeit nicht eine Aufhebung oder Be-
schränkung der Persönhchkeit, sondern eine Steigerung und Be
reicherung durch die Individuen, mit denen es auf diese Weise ver-
knüpft wird." Nur unter dieser Perspektive ist es erklärlich, daß
Nietzsche nur den Wagner der Tristanzeit bis an sein Lebensende
als das größte Künstlergenie aller Zeiten pries: Infolge seiner Be-
ziehungen zu Frau Wesendonk stand eben Wagner damals im nie
mehr erreichten Vollgefühle seiner Schaffenskraft. Das „Gesünder-
werden", das heißt die Entsagung, die Abkehr von der Leidenschaft
wurde für ihn zu einem künstlerischen Rückschritt. Solch ein
:,erotischo3 Genie" war auch Goethe; man vergleiche nur seine
Bekenntnisse an und über Frau v. Stein:
„Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau!"
Und an Wieland schrieb er (April 1776): „Ich kann mir die Be-
deutsamkeit, die Macht, die Frau Charlotte v. Stein über mich hat,
anders nicht erklären, als durch die Seelenwanderung. Ja, wir
— 284 —
waren einst Mann und Weib! Nun wissen wir uns — verhüllt^
in Geisterduft!"
Ferner ist die Tatsache, daß in Wagners Kunstschaffen das
sexuelle Moment eine große Rolle spielt, unleugbar und wird durch
die Tendenz seiner Werke geradezu selbst bewiesen. Gewiß, niemand
wird es bestreiten, daß Wagners Name eine Welt für sich um-
schließe, eine Welt, die einzig dasteht. Aber um diese Welt liegt
keine reine himmlische Atmosphäre ; es ist, als entstiegen aus allen
ihren Poren narkotisierende, betäubende süße Dämpfe, die die Seele
einhüllen; sie knechtet die Empfindungen, anstatt sie zu befreien.
Und in diesem Geknechtetsein liegt die ganze Wollust ihres Zaubers.
Der Venusberg im „Tannhäuser" ist ein Symbol für Wagners Kunst;
es ist, als sei sie gleichsam unterirdisch abgeschlossen, dumpf um-
wölbt von einer Riesenhöhle, die den Himmel nicht mehr sehen läßt.
Und sein Tannhäuser selbst kommt uns vor wie ein Mensch, der
sich gewaltsam aus dieser Welt, die ihn zu ersticken droht, befreit
— es hat etwas Erschütterndes an sich, wie er wiederum zum
erstenmal die Hirtenflöte des freien Tales hört, wie wenn Wagner
sich selbst den Rücken kehren möchte zu einer anderen Welt hin.
Es ist der Kampf um die endgültige Befreiung aus den Banden der
Sinnhchkeit. Und selbst noch der H. Akt des „Parsifal" mit seiner
aufreizenden Verführungsmusik läßt es uns ahnen, wie übermächtig
in dem bereits altgewordenen Meister dieser Trieb lebte. Alle Ver-
suche daher, aus der „Parsifal"- Musik einen Schluß auf das Nach-
lassen der geistigen Schaffenskraft Wagners ziehen zu wollen, zeugen
von krassester Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Sagt man
von Nietzsche, daß er in seinen Werken mit einem wahren Fana-
tismus das preise und verherrliche, was dem Kranken fehlte: die
Gesundheit, die Macht, die Stärke, so gilt dasselbe mutatis mutandis
auch von Wagner: dieser preist die höchste Glückseligkeit, die aus
dem Einsgefühl mit sich und der Welt resultiert, weil sie ihm fehlte.
Dementsprechend hat Th. Lessing Wagner treffend charakterisiert,
wenn er sagt: „Er vermittelt die höchste Ekstase der Sinne, so
daß seine Musik (man denke an Stimmen vom Venusberg oder
Montsalvat!) den doppelten Reiz hat, jede Nervenfaser vor Leben
erbeben zu lassen, während sie doch das himmlische Jerusalem
und Kreuzigung des Fleisches predigt. Ein Menschenbeglücker und
Menschenverächter, ein großer Mitleider und großer Selbstsüchtling,
— 285 —
ein Mann von unendlicher Hingabe und despotischem Eigenwillen^
verschlossen und wahr, einheitlich und zerbrochen, ein Verklärer,
Verherrlicher, Vergolder und jauchzender Liebhaber unseres Lebens
und zugleich sein weiser Verächter und todestrauriger Kichter. Der
Narr des Lebens und sein Henker zugleich, das alles liegt neben-
einander in diesem großartigen Menschen und in dem Ausdruck
seiner seelischen Flutungen: der Musik." Spricht daher, wie schon
erwähnt, Nietzsche von einer „Ästhetik des Geschlechtstriebes", so
hat er dabei offenbar die Tatsache im Auge gehabt, daß überall
dort, wo einem starken Sexualtrieb auch eine starke aktive Apper-
zeption, die mit dem Willen identisch ist, gegenübersteht, die sinn-
liche Empfindung ein Lustgefühl zur Folge habe, das sich deutlich
in den Worten und Taten des betreffenden Menschen ausdrücke als
innere Harmonie und Heiterkeit. Und dieses schöne Lust-
gefühl, das im Bewußtsein einer hohen Kraft und deren harmonischem
Gebrauche liegt, ist es, das das Menschenleben mit jener Wonne
erfüllen kann, die ihn zu den Göttern erhebt. Goethe hatte es;
man lese nur das herrUche Lied des Türmers im H. Teile „Faust" ;
Nietszche hatte es auch, „denn alle Lust will Ewigkeit!" Der Wert
des sexuellen Lustgefühles kann also nach W. Wundt nur psycho-
physiologisch bestimmt werden. Richard Wagner als Mensch
scheint mir daher, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, eine
mehr a sexuelle Natur gewesen zu sein; das heißt, ihm fehlte zur
Tätigkeit, zum Leben, zum Glück jene echte, schöpferische Lebens-
kraft, die einen Goethe so herrlich ausgezeichnet hat. Der Quell
alles Lebens floß in ihm nicht ursprünglich und nicht reich genug.
Dafür sprechen alle seine Heldengestalten, dafür spricht seine Kunst,
die in allen Variationen dasselbe Thema, „Überwindung der Sexualität",
behandelt (Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Hans
Sachs, Brünhilde, Parsifal). Und darin dürfte wohl auch ein
Hauptgrund dafür liegen, daß sich Nietzsche, weil er diesen Mangel
der Wagnerschen Kunst als scharfblickender Psychologe klar er-
kannte, vom Meister abwendete. Es wäre eine nur zu begrüßende
und dankbare Aufgabe der Wissenschaft, eine psychophysiologische
Analyse der Werke Wagners oder Nietzsches, auf breitester Basis
aufgebaut, zu liefern. Nur sie wäre imstande, uns den tiefsten
Einblick in die geheimnisvolle Werkstatt eines gottbegnadeten
Menschen und Künstlers zu gestatten. Denn in allem und jedem
— 286 —
mit den „Freudianern'' immer nur den sexuellen Unterton zu
wittern, ihn meisterhaft aufzuspüren und kabbaUstisch auszudeuten,
das ist mehr als eine danaidenhafte Ausdauer!
Ich gebe gerne zu, dafa die meisten Genies gegenüber dem
normalen Durchschnittsmenschen im Denken, Fühlen und Handeln
exzentrisch veranlagt sind, eine Wahrnehmung, auf die bereits
Piaton und Aristoteles hingewiesen haben; ja Cicero sagt sogar:
„Omnes ingeniöses melancholicos esse!" Aber damit ist noch nicht
erwiesen, daß, weil die Verfasser exzentrischer Werke auch gewisse
Exzentrizitäten besaßen, ihre Werke anders beurteilt werden müßten,
als die des ^gesunden" Durchschnittsmenschen, daß uns irgendein
Werk, das die Menschheit als höchste Offenbarung des menschlichen
Geistes verehrt, mit einem Male nur als ein schöner Deckmantel der
entsetzhchsten, gar nicht auszudenkenden seelischen Abnormitäten
erscheint. So entsinne ich mich, vor Jahren eine Abhandlung gelesen
zu haben, worin uns ein Sexualpsychologe den „Faust" Goethes,
also sicherlich eines der erhabensten Kunstwerke, nach seiner Art
und Weise, mit Hilfe seiner Wissenschaft erklärt. Er geht dabei
aus von dem sexualpsychologischen Grundgesetze, daß jeder Mensch
im ersten Kindheitsstadium gegen seinen Vater, der Mutter gegen-
über, mehr oder minder eifersüchtig ist, welche Eifersucht sich bei
Kindern mit starkem sexuellen Triebleben bis zum gewollten, mit-
unter sogar zum tatsächlich beabsichtigten Inzest verdichten kann,
wenn auch mit zunehmender geistiger und körperlicher Reife und
unter dem Einfluß der Erziehung diese psychischen Zwangsvor-
stellungen wieder unter die Schwelle des Bewußtseins sinken. Auf
den „Faust" das übertragen, sei diese Dichtung der poetische
Versuch Goethes, sich von den ihn beherrschenden inzestiösen Ge-
danken gegen seine Mutter zu befreien. Substituieren wir für die
Hauptpersonen der Tragödie die Personen, die Goethes Denken und
Fühlen beherrschten, ergibt sich: Faust = Goethe, Gretchen =^ Goethes
Mutter, Valentin =: Goethes Vater. Was der Knabe Goethe gedacht
und gefühlt, was er in heißen Nächten vergeblich ersehnt hatte,
das läßt er in seiner Tragödie den Faust tatsächlich tun : Goethe =
Faust verführt seine Mutter = Gretchen. Valentin — Goethes
Vater wird getötet, weil er die verlorene Ehre seiner Schwester ==^
Frau strafen wollte! Heißt das nicht, die höchsten Offenbarungen
des Menschengeistes einem bloßen Prinzip zuliebe einfach aus-
— 287 —
löschen? Jeder kennt Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling". Nun
kommt der Psychoanalytiker Prof. Freud, analysiert es und sein
Ergebnis ist: Als Goethe dieses Gedicht schuf, habe er eifrig der
Masturbation gefröhnt! Karl Kraus, der bekannte Schriftsteller, hat
einmal darüber geschrieben: „Nervenärzten, die uns das Genie ver-
pathologisieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die
Schädeldecke einschlagen. Nicht anders soll man mit den Vertretern
der Humanität verfahren, die die Vivisektion der Meerschweinchen
beklagen und die Benützung der Künstler zu Versuchszwecken ge-
schehen lassen. Wer immer sich zum Nachweis erbötig macht, daß
die Unsterbhchkeit auf Paranoia zurückzuführen sei, allen rationellen
Tröstern des Normalmenschentums, die es darüber beruhigen, daß
es zu Werken des Witzes und der Phantasie nicht inkliniere, trete
man mit dem Schuhabsatz ins Gesicht, wo man ihrer habhaft wird !
Aber die anderen, die modernen Psychiatraliker, die uns die Werke
der Großen auf die Sexualität hin prüfen, lache man bloß aus. Mir
hat einmal einer den , Zauberlehrling^ als einen handgreiflichen
Beweis für die masturbatorischen Neigungen seines Schöpfers ge-
deutet. Ich war sittlich entrüstet, nicht wegen des Inhalts, aber
wegen der unsäglichen Ärmlichkeit der Zumutung. Ich fühlte, wie
sich zum legitimen Schwachsinn der literaturhistorischen Kom-
mentatoren allmählich ein neuer Wahnsinn geselle. Die wissen-
schaftlich fundierte Stimmung eines Herrenabends reklamiert den
Besen des Zauberlehrlings — ,oben sei ein Kopf — für ihre be-
sonderen Zwecke" (sc. als Phallus), „aber sie würde gegebenenfalls
auch nicht davor zurückschrecken, uns den ,Mond' ebenso zu deuten
von dem es in dem wundervollen Gedicht doch heißt, daß er ,wieder
Busch und Tal füllt'/ — „Was fällt Ihnen dazu ein?" lautet die
Frage des psychischen Analytikers. Aber wir haben ein Eecht, sie
in empörtem Ton zurückzugeben: Was Ihnen nicht einfällt! . . . Man
beruhigte mich mit der Versicherung, daß hier bloß eine Mitwirkung
des , Unbewußten' bei Goethe angenommen werde .. . Die Psychiater
waren nur uneinig, ob hier Masturbation oder Bettnässen sublimiert
sei. . . Dieses Unbewußte eines Dichters ist nun freilich ein Gebiet,
in dem das Bewußtsein eines Mediziners volle Bewegungsfreiheit
hat. Das ist tief bedauerlich. Denn die psychischen Analysen, die
an einem Privatpatienten vorgenommen werden, sind eine Privat-
sache zwischen den beiden vertragschließenden Teilen, aber Kunst-
— 288 —
werke sollten dem Untersucher schon wegen ihrer Wehrlosigkeit
Respekt einflößen. Goethe — irrsinnig? In Gottes Namen, daraus
können wir uns noch etwas herausfetzen ! Vielleicht sinkt die Mensch-
heit auf die Knie und fleht, vor ihrer Gesundheit bang, den Schöpfer
um mehr Irrsinn an! Aber die Verurteilung zur Masturbation läßt
ein Gefühl der Leere zurück, verzweifelnd empfängt man die Er-
kenntnis, daß, selbst wenn alle Welt masturbierte, dennoch kein
, Zauberlehrling' entstehen müßte. Und trostlos ist auch der Gedanke,
daß er, Goethe, es nicht gewußt, nicht einmal nachträglich bemerkt
hat. Er schrieb den ,Zauberlehrling' und wußte nicht, was er bedeute !
Und man hatte doch geglaubt, daß das Unbewußte eines Goethe
noch immer bewußter sei als das Bewußteste eines Sexualpsycho-
logen! . . . Ausgerechnet den siebenten Tag, an dem Gott der Ruhe
pflegt, benützt der Psychoanalytiker, um zu zeigen, daß die Welt
nicht von Gott sei. Er kann nicht anders. Er unterscheidet sich
vom Teufel dadurch, daß er von Gott nicht abfallen kann, ohne ihn
zu leugnen. Nur so kann er, was nicht vorhanden ist, behaupten:
sein Ich! Helden und Heilige darf es nicht geben, weil sonst am
Ende der Schleim lebensüberdrüssig wäre!"
Ein zweites klassisches Musterbeispiel psychoanalytischer Inter-
pretation ist im Anschluß an die von Goethes « Faust" oder „Zauber-
lehrling" die des „Oedipus rex" des Sophokles. Und wenn man
erwägt, daß uns von Sophokles keine so ausgezeichneten Biographien
zur Verfügung stehen wie über Goethe etc., so kann man diesen
Scharfsinn der Psychoanalytiker nur bewundern! Die Freudianer
nämlich, gestützt auf ihre Wissenschaft, werden nicht müde, uns
zu versichern: Das, was Ödipus vollbrachte (sc. den Vatermord, die
Schändung der eigenen Mutter), war der „unbewußte" Wunsch
unserer Kindheit! Ich muß gestehen, daß unserem Sophokles trotz
des „berüchtigten" Verses 981: „Wie viele haben schon einmal im
Traum mit ihrer Mutter sich vergangen", nichts ferner lag, als sein
„Unbewußtes" gestaltend bewußt zu machen; das blieb erst den
„Preudianern" und dem durch ihre Schule gegangenen „genialen"
Nachdichter Sophokleischer Kunst Hoffmannsthal vorbehalten, wenn
er aus diesem einen Sophokleischen Vers folgendes gemacht hat:
„Des Erschlagens Lust
hast du gebüßt am Vater, an der Mutter
Umarmens Lust gebüßt, so ist's geträumt
und so wird es geschehn!"
— 289 —
Wo bleibt da das Segens wort: „Durch die Wissenschaft zur
Gerechtigkeit?" zur gerechten Beurteilung unserer „abnormen*'
Genies! Bjerre hat mit seiner ausgezeichneten Schrift „Der geniale
Wahnsinn" Nordau, Möbius, Türck et Konsorten fachwissenschaftlich
widerlegt. Oder hat am Ende denn doch Ernest Renan recht, wenn er in
einem Briefe an einen Freund die schicksalsschwere Frage ausspricht:
„Vielleicht ist Geist, vielleicht ist Bewußtsein eine Krank-
heit, gleichwie die Perle zwar das schönste, glänzendste
Produkt der Muschel und doch die Erkrankung des Muschel-
tieres ist?" Wir wollen diese Betrachtung mit den Worten eines
Psychiaters schließen, der am Ende unter dem Druck der Tatsachen
gestehen muß (Placzek, 1. c. p. 151/152): „Doch selbst wenn Forscher
des Nietzsche-Wagner-Problems anderer Ansicht sein mögen, ihm
als echte Freudianer zu Leibe rücken und es enträtselt zu haben
glauben — enträtselt in dem Sinne, wie es eben nur die Psycho-
analytiker fertigbringen — auch dann sollte eine verständliche
Scheu verwehren, solche sexualpsychologische Studien in die Welt
zu setzen. Diese Scheu sollte wirksam werden, wenn auch Nietzsche
selbst sagt: ,Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit,
daß man nicht alles nackt sehe, nicht bei allem dabei sein, nicht
alles verstehen und »wissen« wolle.' Und derselbe Nietzsche fährt
fort: ,Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die,
Natur hinter Rätsel und bunte Ungewißheiten versteckt hat. Vielleicht
ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht
sehen zu lassen.'" (Paul Bjerre scheint mir in seinem aus-
gezeichneten Buche „Der geniale Wahnsinn" bezügUch Nietzsches
eher das Richtige zu treffen, wenn er sagt: „Nietzsche waren die
paralytischen Rauschzustände die höchste Inspiration. Die Degeneration
macht die Persönlichkeit und den Blick für das Leben frei und trägt
zum Auslösen der Kräfte der Persönlichkeit bei. Was im Innern
des Menschen entfesselt wurde, hat auch zur Auslösung welt-
gestaltender Kräfte geführt. Was durch die Entwicklung freigemacht
wurde, kommt zum Dasein, etwas, das über Raum und Zeit erhaben
ist, etwas Ewiges.")
Griefier, Wagner und Nietzsche. jg
XIX. NIETZSCHE UND FRAU COSIMA WAGNER.
Nach diesen Bemerkungen wollen wir uns nun der Besprechung
des Stekelschen Aufsatzes zuwenden und untersuchen, inwiefern sein
Maßstab als Kriterium für die Beurteilung Nietzsches als Mensch
und Denker gelten darf. Stekels Annahme, Nietzsche sei „ein
genialer Verräter" ist allein schon ein deutlicher Beweis dafür,
daß er als Psychoanalytiker mit einem fertigen Maßstabe, mit einer
gebundenen Marschroute in ein ihm gänzhch unbekanntes Reich
sich begibt: darum kann Nietzsches ethische Rechtfertigung
seines Verrates, wie durch divergierende EntwicklungsHnien, für
Stekel a priori nicht ausreichend sein: und da Nietzsche tatsächlich
in geistige Umnachtung fiel, sein Geistesleben wirklich zerrüttet
ward, muß Nietzsche schon frühzeitig, bereits zu einer Zeit, wo
noch kein Mensch sein schreckUches Ende auch nur ahnen konnte,
Symptome einer geistigen Erkrankung aufgewiesen haben : G-rößen-
wahn! Von dem Wunsche beseelt, etwas Großes zu werden, etwas
Exzeptionelles zu leisten, mußte Nietzsche, der als Philosoph natür-
lich seinen Beruf verfehlt hatte, sobald er mit Wagner bekannt
wurde, selbstverständlich auf dessen musikalisches Können eifer-
süchtig geblickt haben, da er jetzt — ■ freilich zu spät! — erkannte,
welch großes Gebiet einer wirkungsvolleren Tätigkeit er sich durch
falsche Neigung habe entgehen lassen. Das menschliche Motiv für
Nietzsches Abfall von Wagner, das bisher noch niemand so recht
zu betonen wagte, ist also ein sehr gewöhnliches, allzumenschliches :
Neid, hervorgegangen aus Größenwahn ! Darum war auch Nietzches
Liebe zu Wagner keine echte, sondern nur eine erkünstelte: er
liebte Wagner lediglich zu dem Zwecke, um sich über seinen tief
wurzelnden Neid hinwegzutäuschen! Je mehr Wagners Ruhm als
Musiker wuchs, desto mehr mußte ihn Nietzsche beneiden, desto
eifriger verlegte er sich selbst aufs Komponieren, ließ sich jedoch
durch die absprechendsten Urteile, auch von des Meisters Seite,
— 291 —
über seine Leistungen als Musiker nicht beirren, er blieb dem Meister
derselbe ergebene Freund, der er früher war; weil er aber nicht
mehr ihn Heben konnte — denn wer liebt seinen Rivalen? — ließ
er seine Liebe auf das von Wagner geliebte Wesen, auf dessen
Gattin, überspringen. Und indem er alle seine Freunde mit Wagner
bekannt machte, damit auch diese ihn liebten, gesellt sich zum
ersten Symptom des geistig nicht mehr ganz normalen Nietzsche
folgerichtig das zweite: abnormes geschlechtliches Emp-
finden! Als durch und durch femininer Geist war er zur Homo-
sexualität prädestiniert, die sich in seiner Unfähigkeit zu dauernder
heterosexueller Liebe am stärksten ausspricht. Aber mit dieser Be-
hauptung schuf Stekel einen Widerspruch : Wie kann, so fragen wir
nämhch, dieser dem weiblichen Geschlecht a priori abholde Mann,
dem Wagner vom ausschließlichen Umgange mit Männern ernstlich
abraten muß, mit einem Male in Liebe zu Wagners Frau entbrennen?
Einer näheren, sich auf Tatsachen stützenden, beweisenden Beant-
wortung dieser Frage weicht Stekel vorsichtig aus; die Anführung
der Tatsache, daß Frau Cosima die einzige Frau gewesen sei, die
Nietzsche imponiert habe, kann doch unmöglich als Beweis für eine
Liebe Nietzsches zu ihr gelten! Er weist lediglich auf die gewiß
unbestreitbare Tatsache hin, daß Nietzsches Liebe zu Wagner dessen
stärkstes Erleben gewesen sei: ganz seltsamer Glanz fiel durch
dieses Verhältnis in Nietzsches Jugend und er lernte damals aus
vollem Herzen kennen, was er später verlernen mußte: ver-
ehren! Aber nun erfahren wir zu unserem größten Erstaunen, daß
nicht so sehr die Eifersucht und der Neid auf Wagners Künstlertum
Nietzsche bewogen, Wagner zu lieben und zu verehren, sondern
vielmehr seine eifersüchtige Liebe zu Cosima! Aber diese Liebe
Nietzsches zu Cosima ist nach Stekel nicht wahre heterosexuelle
Liebe, sondern eine Maske für die bereits an Nietzsche konstatierte
Homosexualität, und diese wiederum eine Folge seiner Hysterie.
Was berichten die Tatsachen über diese angebliche Liebe Nietzsches
zu Cosima Wagner')?
^) Interessant sind die Ausführungen eines anderen Psychiaters, mag
er auch zu ganz anderen Ergebnissen als Stekel gelangen. So können wir
beiMöbius (I.e. p. 48/49) wörtlich lesen: „Bei Freundschaft mit unbewußtem
geschlechtlichem Hintergrunde ist im Bewußtsein gar nichts von Geschlecht-
lichkeit, ja der Gedanke daran würde Entrüstung hervorrufen. Ich betone
19*
— 292 —
In seiner Wagnerbiographie berichtet Julius Kapp, „daß außer
der durch die divergenten Entwicklungslinien der beiden Männer
bedingten Gegnerschaft auch ein privater Grund vorlag, der sie als
Menschen auseinanderbrachte, dies bezeugt ein Brief Wagners an
Nietzsches Arzt Dr. Eiser aus dem Jahre 1877, der sich seines
intimen Inhaltes wegen der Veröffentlichung entzieht". Glasenapp
berichtet über diesen Brief nur so viel, daß er einen Bericht über
Nietzsches Gesundheitszustand enthalten habe. Beiart wirft nun die
Frage auf, ob nicht dieser Brief mit der „Ariadne frage" im Zu-
sammenhange stehe?? — Im Jahre 1889, kurz nachdem Nietzsches
geistiger Zusammenbruch erfolgt war, sandte er einen Zettel an
Frau Cosima: „Ariadne, ich liebe dich!" Ebenso findet sich in einem
Briefe an Prof. Burckhardt folgende merkwürdige Stelle als Post-
skriptum: „Der Rest für Frau Cosima, Ariadne; von Zeit zu Zeit
wird gezaubert!" Aber bereits im „Ecce homo" spricht Nietzsche
von einer Ariadne. Er selbst hat an dieser Stelle Zarathustras
herrliches Nachtlied zitiert und fährt dann fort: „Dergleichen ist
noch nie geUtten worden ! So leidet ein Gott, ein Dionysos . . . auch
noch die tiefste Schwermut eines solchen Dionysos wird noch
Dithyrambus; die Antwort auf einen solchen Dithyrambus der
Sonnenvereinsamung im Lichte wäre Ariadne. Wer weiß außer mir,
das deshalb, weil wiederholt bei Nietzsche ein gewisser Grad von Verkehning"
(sc. des normalen Geschlechtstriebes, der HeterosexuaUtät, ins Homosexuelle)
„vermutet worden ist, weil insbesondere seine innige Freundschaft mit
einigen Schülern in Basel diese Meinung unterhalten hat. Soweit ich die
Sache beurteilen kann, ist die Vermutung unberechtigt. Man kann Nietzsches
Empfinden nur insofern abnorm nennen, als die Wirkung des anderen Ge-
schlechts auf ihn schwach war. Er empfand rein körperlich wohl ebenso
wie andere Leute, aber es fehlte der starke seeHsche Trieb zum Weibe, der
den gesunden Mann zur Hingabe an ein Weib zu nötigen pflegt. Diese Freiheit
von dem den meisten gefährlichen Zauber verlieh ihm eine gewisse Un-
befangenheit dem weiblichen Geschlechte gegenüber und betähigte ihn früh-
zeitig zu einem kalten und richtigen Urteile über die Weiber." Von wannen
dieser seltsame Widerspruch in den Forschungsergebnissen zweier solcher
Kapazitäten? Wir antworten abermals mit Dr. Hermann Kraßna:
„So oft ich den Geist rief
der Psychiatrie,
Psychiater sind kommen,
der Geist jedoch nie !"
Wenn also schon die „Sachverstandigen" so reden, wie müssen dann
erst die „schwachverständigen" Laien roden!
^ 293 —
wer Ariadne ist; von allen solchen Rätseln hatte niemand bisher
die Lösung, ich zweifle, daß je jemand hier auch nur Rätsel sah!"
Aus den Dionysosdithyramben und ganz besonders aus einer Auf-
zeichnung in der „Genealogie der Moral" gehe unzweideutig
hervor, daß Nietzsche unter Ariadne nur Frau Cosima verstanden
haben konnte. Auf diese Tatsache weist schon C. A. Bernoulli hin.
Nach dem Mythos verhebte sich Ariadne, die Tochter des Königs
Minos von Kreta, in Theseus, der sich als Tribut für den Minotauros
auf Kreta hatte landen lassen. Sie gab ihm einen Faden, mittels
dessen Theseus nach Erlegung des Minotauros aus dem Labyrinthe
hatte flüchten können. Ariadne floh sodann mit Theseus, wurde jedoch
von diesem auf der Insel Naxos verlassen. Dionysos fand die Verlassene
und, von ihrer Schönheit bezaubert, vermählte er sich mit ihr. Ber-
noulli sagt: „Der Gewinn seines Tribschener Erlebnisses war Nietzsches
rein subjektives Geschenk seiner Dionysoskonzeption als einer tiefsten,
eigensten Erfahrung. Als sich sein erlöschendes Ichbewußtsein aus-
breitete zur Dionysosinkarnation, wurde ihm der unvergeßliche
Schatten dieser Frau (sc. Cosima) zur Vision der Dionysosbraut . . .
die Lösung des Ariadnerätsels ist ausschließlich biographischer
Natur!" Nietzsches Ariadne in den Mund gelegte Bemerkungen:
„Theseus wird absurd, Theseus wird tugendhaft . . . das ist meine
letzte Liebe zu Theseus, ich richte ihn zugrunde", sein Spott, daß
Theseus-Wagner keinen Faden mehr hat, mittels dessen er sich
aus dem Labyrinth der Ariadne, in das er sich verirrt hat, retten
kann; Ariadnes Antwort, daß an ihr alle Helden zugrunde gehen;
sie wolle die Liebe des zum Kreuze zurückgekehrten Helden nicht
mehr, besagen jedoch mehr als deutlich, daß Wagner wegen seiner
Rückkehr zum Christentume verspottet wird, daß Nietzsche auf den
„Parsifal" abzielt, daß nach seiner Meinung selbst Ariadne parsifal-
müde ward, ihre katholischen Instinkte sich in moralfreie Tugenden
verwandeln werden, daß sie Theseus-Wagner als Lebensverleumder
zugrunde richten und sich mit Dionysos-Nietzsche vermählen werde!
Aus alle dem erhellt die wohl kaum zu bestreitende Tatsache, daß
Frau Cosima in der Tribschener Zeit auf den jungen Nietzsche wohl
den tiefsten und nachhaltigsten Eindruck gemacht hat. Damals
äußerte „die königliche Hoheit", wie Bernoulli Frau Wagner einmal
nannte, keine katholisierenden Instinkte, dort atmete ihr Wesen,
nach einer Beschreibung der Frau Förster zu schließen, den ganzen
— 294 —
Zauber der Romantik, haftete etwas aus den Salons ihrer Mutter,
der Gräfin d* Agoult ^), an ihr. Zudem war Wagner für Nietzsche damals
der große Immoralist und Atheist, der nicht nur seinen Siegfried
und seine Brunhilde das Sakrament der freien Liebe feiern heß,
sondern unbekümmert um eine ganze Welt, ja selbst um seinen
königlichen Freund, es mit Cosima v. Bülpw gefeiert hatte. So
sagte Nietzsche noch nach der Zeit der Trennung von diesem
Wagner: „Er war ein Mensch nach meinem Herzen, so unmoralisch,
atheistisch, antinomistisch ! " Daher wollte Nietzsche „um keinen
Preis die Tage von Tribschen aus seinem Leben weghaben, Tage
des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Einfälle!" Daß diese
geistig hochstehende Dame den Verkehr ihres Gatten mit Nietzsche
auf das anregendste zu gestalten verstand, daß sich Nietzsche in
Wagners gastlichem Hause, wo man seinen Ideen mit feinem Ver-
ständnisse entgegenkam, wohl fühlte, das ist ja menschlich begreiflich
und nachfühlbar. Es ist rührend, zu lesen, mit welcher Liebe die
Kinder dieses Künstlerpaares an dem „Fressor Nützsche" hingen und
mit welch zärtlicher Sorgfalt dieser auf die Erfüllung ihrer Wünsche
bedacht war. Und warum sollte Nietzsche dieser einzigen Frau, die
nicht nur eine gute Mutter, sondern auch, was ihre Hingabe an
Wagner und dessen Lebenswerk betrifft, die treueste Gattin war,
nicht ein tiefes und treues Gedenken bewahrt haben? So schrieb er
noch im Jahre 1880 an Malwida: „Frau Wagner, Sie wissen, es ist
die sympathischeste Frau, der ich im Leben begegnet bin." Aus
dem Jahre 1883 stammt folgender Briefentwurf, den Nietzsche an-
läßlich Wagners Tode an Frau Cosima verfaßte: „Sie haben einem
Ziele gelebt und ihm jedes Opfer gebracht; und über die Liebe jenes
Menschen hinaus erfaßten Sie das Höchste, was seine Liebe und
sein Hoffen erdachte! Dem dienten Sie, dem gehörten Sie und Ihr
Name immerdar, dem, was nicht mit einem Menschen stirbt, ob es
schon mit ihm geboren wurde! So sehe ich heute auf Sie und so
sah ich, wenngleich aus großer Ferne, immer auf Sie, als best-
verehrte Frau, die es in meinem Herzen gibt." Im „Ecce homo":
„Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand,
waren alle französischer Herkunft, vor allem Frau Cosima Wagner,
bei weitem die erste Stimme in Fragen des Geschmackes, die ich
*) Bekannt unter dem Namen Daniel Stern,
— 295 —
gehört habe." Beiart, dessen Gewährsmann Bernoulli ist, nimmt
jedoch an, daß eine bereits in der Tribschener Zeit bestehende tiefe
Leidenschaft Nietzsches für Cosima mehr als wahrscheinlich sei.
Doch unter dem Anwachsen des psychischen Leidens, das Nietzsche
bereits noch in Tribschen befiel und das, wie wir sahen, auch
Wagner mit Besorgnis um seinen Freund erfüllte, sei diese Leiden-
schaft zu erschütternder Tragik geworden : Nietzsche, der mit dem
„Gast der Gäste" auf hohen Bergen bereits die Vermählung gefeiert
hatte, die Vermählung von Licht und Finsternis — er feierte
schUeßUch die Hochzeit von Dionysos mit Ariadne!
Zu ganz anderen Ergebnissen führend, sind die Mitteilungen
Frau Försteis: Hans v. Bülow, auf den Nietzsches „Geburt der
Tragödie" tiefen Eindruck gemacht hatte, machte Nietzsche seinen
Besuch. Nietzsche war bei diesem Besuche sehr verlegen; denn
Bülows Besuch fiel in die Zeit, da den Philosophen die tiefste
Freundschaft mit "Wagner verband. Und Frau Cosima, die damals
mit Wagner lebte, war ja noch Bülows Gattin — wenigstens nach
dem Gesetz! Bülow suchte Nietzsches Verlegenheit dadurch zu
zerstreuen, daß er selbst sein damahges Verhältnis zu Wagner und
seiner Frau berührte und in folgendem Bilde darstellte : Cosima war
Ariadne; er, Bülow, Theseus und Wagner Dionysos. Wie alle
Gleichnisse hinkte auch dieses etwas: denn hier hatte nicht
Theseus Ariadne verlassen, sondern die Sache lag umgekehrt. Aber
Bülow wollte auch nur ausdrücken, daß nach ihm der Höhere, der
Gott, gekommen sei. „Mein Bruder hatte große Freude daran, daß
Bülow seine Erlebnisse gewissermaßen ins Unpersönliche und My-
thische erhob, wenn er auch einige sehr scharfe Bemerkungen
Bülows über die geliebten Freunde, die ihm außerordentlich weh
taten, Bülow aber nicht unterdrücken konnte, mit in Kauf nehmen
mußte." Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Nietzsche bei
Erwähnung seiner Beziehungen zu Wagner und dessen Frau mit
Rücksicht auf die ihm durch den „fromm" gewordenen Wagner be-
reitete Enttäuschung sich dieser mythologischen Nomenklatur
Bülows bediente. Sehen wir aber von jeder mythischen Hülle ab,
so ergibt sich folgendes, was Nietzsche sicherhch im Sinne gehabt
haben dürfte: so wie Cosima -Ariadne seinerzeit ihren Gatten
Bülow - Theseus, der doch sicher keiner der Geringsten war, verUeß,
mehr angezogen durch das Genie Wagners, wie sie durch diesen
— 296 —
Schritt rücksichtslos alle Bande der gesellschafthchen Konvention
brach und dadurch einen durch nichts einzudämmenden Willen zur
Macht bewies, geradeso, meint Nietzsche, sollte Ariadne jetzt, wo-
ihr Gatte wieder „fromm" geworden war, sich zu dem neuen
Dionysos flüchten, der, geistig größer als Wagner, ihr in Nietzsche
erstanden wäre. Selbstverständlich ist es geradezu absurd, aus
diesen Worten eine Liebesleidenschaft Nietzsches für Cosima zu
konstruieren.
In ihrem Buche „Der junge Nietzsche", p. 292, berichtet Frau
Förster ergänzend zu obigem, daß seit jenem Besuche Bülows
Frau Cosima im geheimen Ariadne genannt wurde. „Merkwürdiger-
weise kehren in meines Bruders Entwürfen zu seinen , Gesprächen
auf Naxos', die offenbar im Spätherbst 1885 entstanden sind, die
drei Personen Dionysos, Theseus und Ariadne wieder und bedienen
sich ungefähr derselben Worte, die in Wirklichkeit von Cosima,.
Wagner und Bülow in den Jahren 1871 und 1872 gesagt worden
sind. Dionysos wiederholt genau Wagners eigenen Ausspruch in
Hinsicht auf seine mangelnde Eifersucht auf Cosima: ,Was ich an
ihr liebe? Wie könnte das ein anderer lieben?' — während
Ariadne die boshaften Worte Bülows auf Cosima, die damals
meinem Bruder so wehe getan hatten, selbst sagt: ,An mir sollen
alle Helden zugrunde gehen.' Bülow hatte in seiner schmerzlichen
Verbitterung wörtlich zu meinem Bruder gesagt: ,Frau Cosima hat
mich ruiniert, die wird auch Wagner zugrunde richten!' Später,
als mein Bruder annahm, daß Wagner durch Cosimas Einfluß ,mehr
Liszt als Wagner' geworden war, so daß er zu ,seinem Siegfried
dessen Parodie Parsifal' schuf, kamen ihm Bülows Worte oft in
den Sinn, wohl auch in jenen projektierten Gesprächen auf Naxos.
Aber alles ist dort in die Sphäre des Symbolischen erhoben und hat
nichts mehr mit den genannten PersönUchkeiten zu tun.**
Frau Förster, die Cosima genau kannte und duzte, nennt
diese angebliche Liebe ihres Bruders zu Wagners Gattin eine Tor-
heit — und sie wird wohl für immer recht haben! Ansonsten
hätte das Haus Wahnfried, das durch seine wissenschaftlichen
Bannerträger über Nietzsche nur Ungünstiges verbreiten läßt
(cf. Chamberlain, Seiling, Glasenapp), die Dokumente jedoch, die
über Nietzsche Lobendes enthalten, entweder bei einem Umzüge
umkommen ließ oder der Veröffentlichung konsequent vorenthält,
— 297 —
sicher Einspruch erhoben. Schließlich decken sich mit den 'ob-
zitierten Ausführungen Nietzsches folgende aus dem „Fall Wagner":
^Die anbetenden Weiber sind ihr" (sc. der Genies) „Verderben. Fast
keiner hat Charakter genug, um nicht verdorben — ,erlöst^ zu
werden, wenn er sich als Gott behandelt fühlt : — er kondeszendiert
alsbald zum Weibe . . . der Mann ist feige vor allem ewig Weib-
lichen : das wissen die Weiblein ... in vielen Fällen von weibhcher
Liebe, und vielleicht gerade in den berühmtesten, ist Liebe nur ein
feiner Parasitismus, ein Sich - Einnisten in eine fremde Seele, mit*
unter selbst in ein fremdes Fleisch — ach! wie sehr immer auf
— des , Wirtes' Unkosten." Nietzsche war daher nur konsequent,
wenn er in dem Wagner des „Parsifal" Züge „durchaus feminin!
generis" fand. Außerdem hatte er schon kurz nach dem Erscheinen
des Klavierauszuges zum „Pajrsifal" folgende Aufzeichnungen gemacht:
„Frau Cosima ist das einzige Weib größeren Stils, das ich kennen
gelernt habe; aber ich rechne es ihr an, daß sie Wagner verdorben
hat. Er verdiente solch ein Weib nicht, zum Dank dafür verfiel er ihr.
Der ,Parsifal' Wagners war zu allererst und anfänglich eine Geschmacks-
kondeszendenz an die katholischen Instinkte seines Weibes, der
Tochter Liszts; eine Art Dankbarkeit und Demut von selten einer
schwächeren, vielfacheren, leidenderen Kreatur hinauf zu einer,
welche zu schätzen und zu ermutigen verstand, d. h. zu einer
stärkeren, begrenzteren, zuletzt selbst eine Art jener ewigen Feig-
heit des Mannes vor allem Ewigweiblichen. Ob nicht alle großen
Künstler bisher durch anbetende Weiber verdorben worden sind?
Wenn diese unsinnig eitlen und sinnlichen Affen — denn das sind
sie fast allesamt — zum ersten Male und in nächster Nähe den
Götzendienst erleben, den das Weib in solchen Fällen mit allen
ihren untersten und obersten Begehrungen zu treiben versteht,
dann geht es bald genug zu Ende; der letzte Rest von Kritik,
Selbst Verachtung, Bescheidenheit und Scham vor dem Größeren ist
dahin, von da an sind sie jeder Entartung fähig. Diese Künstler,
die in der stärksten, herbsten Zeit ihrer Entwicklung Gründe genug
hatten, ihre Anhängerschaft in Bausch und Bogen zu verachten,
werden unvermeidlich das Opfer jeder ersten intelHgenten Liebe
oder vielmehr jedes Weibes, das intelligent genug ist, sich in
Hinsicht auf das Persönhchste des Künstlers intelligent zu geben,
ihn als leidend zu verstehen und zu lieben." So spricht sicherUch
— 298 —
kein Mann, der für das Weib, das er so schonungslos angreift, in
leidenschaftlicher Liebe entbrannt sein soll!
Der Darstellung Belarts (1. c.) kann ich nicht beipflichten,
ebensowenig auch Prof. Charles Andler von der Pariser Universität,
der in seinem groß angelegten Werke über Nietzsche von der An-
nahme eines platonischen Liebesverhältnisses Nietzsches zu Frau
Cosima ausgeht.
Es liegt auf der Hand, daß solche ganz willkürUche Kon-
struktionen nichts anderes als Versuche der frei schaffenden dich-*
terischen Phantasie sind, die in dem Bestreben, die traurige Wirk-
lichkeit interessanter zu gestalten, sie noch trauriger gestaltet. Als
historischer Kern bleibt in allen diesen Fällen Nietzsches Verehrung
für Frau Cosima zurück. Da jedoch Nietzsche über seinen „Zara-
thustra" an Karl Hillebrand schrieb: „Alles, was ich gedacht, ge-
litten und gehofft habe, steht darin und in einer Weise, daß mir
mein Leben jetzt wie gerechtfertigt erscheinen will", drängt
sich uns folgende Erwägung auf: Jeder Leser des „Zarathustra"
kennt die Gestalt des alten Zauberers, unter dessen Maske niemand
anderer als Richard Wagner eingeführt wird. Dieser alte Zauberer
widerruft nun alle seine früheren Anschauungen, was bekannthch
in Wirkhchkeit bei Wagner nicht eingetreten ist, von Nietzsche
aber gewünscht und herbeigesehnt wurde ^). Diese Tatsache legt die
Vermutung nahe, daß Nietzsche, der sich in seinem letzten
Schaffensstadium eifrigst mit der Gestalt des Dionysos beschäftigte,
mit der historischen Gestalt der Frau Cosima dasselbe tat, was er
mit Wagner getan hatte: weil er jetzt die „mystische Narkose"
als notwendiges Komplement für seinen alles zersetzenden Zweifel
brauchte, verquickte er das historische Ich der Frau, die ihn wegen
seiner Angriffe auf Wagner hassen mußte, mit dem Idealbilde der
Frau, wie es in seinem Herzen fortlebte: unter dem befreienden
Einflüsse des Dionysos widerruft auch sie ihre Feindschaft gegen
Nietzsche. Denn im Dionysosdithyrambos „Klage der Ariadne" heißt es:
„All meine Tränen laufen zu dir den Lauf
und meine letzte Herzensflamme, dir glüht sie auf.
Oh, komm zurück, mein unbekannter Gott! mein Schmerz!
mein letztes Glück! ..."
(Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar.)
1) Cf. p. 218.
— 299 —
Dionysos:
„Sei klug, Ariadnel . . .
Muß man sich nicht erst hassen, wenn man sich
lieben soll? . . .
Ich bin dein Labyrinth ..."
Die letzte Zeile kann doch nichts anderes bedeuten als:
ebenso unbegreifbar, wie nach dem Erscheinen des „Menschliches,
Allzumenschliches", als ein Labyrinth, in dem sie sich nicht zurecht
finden konnte, muß Nietzsche Frau Cosima auch heute noch er-
scheinen, trotz seines treuesten Gedenkens an "Wagner, aus dem er
auch nach der Zeit der Trennung kein Hehl gemacht hatte. Doch
diese Hinweise dürften m. E. genügen, um in BernouUis, Belarts
und vollends Stekels ganz willkürliche Hypothesen so viel Wahr-
scheinliches zu bringen, das auf Wahrheit berechtigten Anspruch
erheben darf. Nur nebenbei möchte ich die Frage aufwerfen,
welchen Zweck die Konstruktion eines zwischen Nietzsche und
Wagners Frau bestehenden Liebesverhältnisses verfolgen mag!
Offenbar doch keinen anderen als den : die tiefe Verehrung, die
Nietzsche Frau Wagner selbst nach dem Tode des Meisters zollte,
begreiflich zu machen. Denn gewisse Leute können und werden es nie
begreifen, daß ein Mann von der geistigen Größe eines Nietzsche,
wenn er auch alle seine Mitmenschen nur auf Grand ihrer geistigen
Qualitäten einzuschätzen pflegte, daß ein solcher Mann, betone ich,
mit Wagner aus rein ideellen Gründen sich verfeindete, in dessen
Gattin jedoch, wie die angeführten Zitate beweisen, immer noch
und trotz allem die geistig hochstehende Frau schätzte und ver-
ehrte. Diesen kleinen Geistern hätte es jedenfalls besser gefallen,
wenn Nietzsche auch Frau Cosima so schonungslos und so
systematisch bekämpft hätte wie ihren Gatten. Das wäre mehr
sensationell gewesen! Aber so wie die Tristansage zur Erklärung
der zwischen Tristan und Isolde herrschenden tiefen Liebesleiden-
schaft des Liebestrankes bedurfte und auch noch heute bedarf, be-
darf umgekehrt jene Sorte von Besserwissern der Liebesleidenschaft,
um die rein geistigen Beziehungen zwischen zwei intellektuell so
hochstehenden Menschen sich selbst und anderen erklärlich zu
machen.
XX. DAS „PARSIFALPEOBLEM".
Was nun Stekels Behauptung betrifft, es sei absolut nicht zu-
treffend, daß sich Nietzsche einzig wegen des „Parsifal" von Wagner
abgewendet habe, weil er in dem Kunstwerke eine Geschmacks-
kondeszendenz des Meisters zu den katholischen Instinkten seines
Weibes erblickte, sei darüber folgendes gesagt: Die Abwendung
Nietzsches von Wagner ist viel früher anzusetzen! Das Erscheinen
des „Parsifal" hat ledighch den äußeren Anlaß hiezu gegeben, denn
innerlich hatte der Philosoph die völhge Entfremdung bereits längst
gefühlt und durchgelitten. Bölart dagegen vertritt in seiner Mono-
graphie über die Tragödie Wagners mit Mathilde Wesendonk die
Ansicht Nietzsches. Vielleicht stützt er sich auf die Tatsache, daß
Frau Cosima nach der Taufe des jungen Siegfried in einem Briefe
an Nietzsche sich äußerte, daß „Fidi hoffen thch unserem Heilande
treu bis ans Kreuz bleiben werde!" und folgert aus diesen Worten,
daß Frau Cosima eine strenggläubige Katholikin gewesen sei.
Allerdings soll Wagner über derartige pathetische Bemerkungen
seiner Frau mit Vorliebe ganz unchristliche und atheistische Be-
merkungen gemacht haben. So schrieb Nietzsche an Malwida:
„Sie wissen vielleicht nicht, wie klug Wagner in Tribschen gegen
mich gewesen ist: er spielte damals vorzüghch den Atheisten —
er wußte, in welchen Dingen ich keine Halbheit zulasse; er hatte
einiges in der , Geburt der Tragödie' verstanden." Und schon
1873 äußerte er über Wagner: „Wagner ist ein moderner Mensch
und vermag sich nicht durch den Glauben an Gott zu ermutigen
und zu befestigen. Er glaubt nicht in der Hand eines guten Wesens
zu stehen, aber er glaubt an sich. Keiner ist mehr gegen sich
ganz ehrlich, der nur an sich glaubt . . . mit einem etwas roman-
tischen Christentum würde Wagner harmonischer und glückhcher
sein." Dies konnte Nietzsche sagen, weil er selbst trotz seiner
freien Anschauungen über diesen Punkt im persönlichen Verkehr so
— 301 —
rücksichtsvoll und zartfühlend war, daß er im Gegensatze zu
Wagner fremde Überzeugungen achtete. Aber wenn Wagner, z. B.
gelegentlich seines Zusammentreffens mit Nietzsche in Sorrent,
diesem gegenüber von seinen christlichen Empfindungen erzählte
und ihm seine tiefe Neigung zu den christlichen Dogmen gestand,
ja, ihm sogar versicherte, daß die Feier des heiligen Abendmahles
für ihn stets ein Genuß sei, so erbhckte Nietzsche und mit ihm
Bölart, weil es das Nahehegendste war, in diesem plötzUchen Ge-
sinnungswandel Wagners offenbar die Nachwirkung der katholi-
sierenden Tendenzen Cosimas, die durch Wagners Zusammenleben
mit ihr immer mehr die Oberhand gewannen. So schrieb Nietzsche
1888: nWie nat man seit Tribschen den armen Wagner zugleich
verweltlicht und verchristlicht! Ja, ja, die Frauen!" So
heißt es auch im „Zarathustra": „Und einst wollte ich tanzen, wie
ich noch nie tanzte: über alle Himmel weg wollte ich tanzen. Da
überredetet ihr meinen liebsten Sänger! Und nun stimmte
er eine schaurige, dumpfe Weise an; ach, er tutete mir, wie ein
düsteres Hörn, zu Ohren!" Denn in der Wagn ersehen Musik habe
sich die am Leben irre, die wieder christlich gewordene, gebrochene
moderne Seele ausgesungen. Hinter aller scheinbaren Glut und
Kraft — der Klagelaut! Ähnlich wie bei jenem großen Bildner
Böcklin : hinter Glut, heiß quellendem Leben — am Ende taucht er
immer wieder auf, der Tod, der Schauer, das große Fragezeichen,
das Nichts! Doch diese Ansicht Nietzsches wie Belarts vermag ich
nicht zu teilen, weil sowohl ideelle Gründe wie materielle gegen
sie sprechen. So ist die Frage, ob bei Wagner die atheistischen
oder die christUch-pessimistischen, der Erlösung bedürftigen Vor-
stellungen den tiefsten Grund seines Wesens ausgemacht haben,
durch die tatsächhche Entwicklung seines Denkens zugunsten der
letzteren entschieden. So konnte Wagner selbst bereits in der
„Mitteilung an meine Freunde" schreiben: „Wenn in meinen
Werken ein poetischer Grundzug ausgedrückt ist, so ist es die
hohe Tragik der Entsagung, der wohlmotivierten, endüch not-
wendig eintretenden, einzig erlösenden Verneinung des Willens",
was aber nichts anderes ist als das offene Bekenntnis zu Schopen-
hauer, dem christianissimus omnium philosophorum. Th. Lessing
fand dafür das schöne Wort: „Wagner wollte von der Erde zum
Himmel, Nietzsche vom Himmel zur Erde. Da fanden sie sich
— 302 —
einen Augenblick auf ihrem Wege. Wagner war müde des Vielen,
was er gelebt und gesehen hatte. Sein letztes Schaffen war ein
Reich, das nicht von dieser Welt ist. Aber er brachte die reif
und müde machende Erfahrung reichen Erlebens mit sich. Nietzsche
aber, unter Büchern und Idealen, wußte nichts von jenem Welt-
leben. Seine Jugend verlief unter den stillen Kreisen gelehrten
Mittelstandes. Aber er kam herab aus jenem Reiche, das nicht
von dieser Welt ist. Dort war er eigentlich zu Hause. Und nun
sah und liebte der feine, zarte, keusche, liebe Mensch mit inniger
Hingabe in Wagner den Starken, der das laute, verworrene Leben
beherrscht. So fanden sich Jüngling und Mann, jeder auf dem
Wege, dem der andere entfloh." Aber eben durch Schopenhauer
ließ sich Wagner in einen Quietismus verstricken, daß er von der
göttlichen Höhe seines Sehertums den Weg nicht mehr zurückfand
ins wirkliche Leben. Auf der obersten Stufe seiner Erkenntnis
zeigt er sich als Weltweiser zugleich und als Kind: er wird das
wieder, was er vor dreißig Jahren war —7 ein Schwärmer! Und in
diesen Mystizismus des alten Wagner ist der letzte Nietzsche am
Ende selbst gefallen, aber mit dem Unterschiede, daß er Nietzsche
zum beseligendsten, die Rätsel des Lebens tatsächlich lösenden Er-
lebnisse ward! Frau Försters Ansicht, daß, wenn Wagner zu
Nietzsche in aller Schlichtheit und Aufrichtigkeit gesagt hätte: „In
diesem christlichen Mittelalter mit seinem gesteigerten religiösen
Empfinden liegen für einen Künstler starke Antriebe vor, sie künst-
lerisch-musikalisch zu gestalten**, wenn Wagner mit stolzer Heiter-
keit und etwas Schelmerei ihm gesagt hätte: „Jetzt will ich einmal
diese Zeitempfindung in Musik setzen!", Nietzsche dies sehr wohl
begriffen und ihm zugestimmt haben würde, hat ja etwas, das
nicht unterschätzt werden soll, für sich: Nietzsches Einwürfe gegen
den „Parsifal" beziehen sich nicht so sehr auf das Drama als
musikalisches Kunstwerk, sondern vielmehr auf die Person
des Schöpfers und die Tendenzen, die er mit dem „Parsifal" ver-
trat. Deshalb hat es auch Rohde beim „Parsifal", soweit dieses
Werk andere als rein künstlerische Zwecke verfolgte, nicht über
sich gewonnen, dem Meister Gefolgschaft zu leisten; er war gleich
Nietzsche nie in dem Sinne Wagnerianer, daß er sich in seinen
persönlichen Überzeugungen hätte binden lassen. Doch ganz
anders zu bewerten sind die Gründe materieller Natur ! Frau Förster
— 803 —
erwähnt, daß Nietzsche, der stets bei jedem Menschen seine auf-
richtige Gesinnung schätzte und daher aus seiner Hochachtung für
Christen, die sich aus innerster Überzeugung zu Christum be-
kannten, niemals ein Hehl machte, es nie für möghch halten wollte,
daß ein Mensch, der so wie Wagner bis in die letzten Konsequenzen
sich zum Atheismus bekannt hatte, nun mit einem Male reuig wieder
zurückkehre zu dem frommen, naiven Glauben. So äußerte sich
Nietzsche über jene Christen, die sich das im „Parsifal" vertretene
Christentum gefallen ließen: „Ich bewundere, anbei gesagt, die Be-
scheidenheit der Christen, die nach Bayreuth gehen. Ich selbst
würde gewisse Worte nicht aus dem Munde eines Wagner aus-
halten. Es gibt Begriffe, die nicht nach Bayreuth gehören . . . Wie ?
ein Christentum, zurechtgemacht für Wagnerianerinnen, vielleicht
von Wagnerianerinnen — denn Wagner war in alten Tagen durch-
aus feminin! generis — ? Nochmals gesagt, die Christen von heute
sind mir zu bescheiden!" Nun ist es eine leider nicht zu wider-
legende Tatsache, daß die Herausgeber der Briefe
Wagners in diesen des Meisters unter Feuerbachs Ein-
fluß gegen das Christentum gerichteten, oft maßlosen
Angriffe zumeist gestrichen haben. Der Wagner der Jahre
1849 — 1859 perhorresziert tatsächlich jede Transzendenz und huldigt
dem krassesten Atheismus. Mit feinem Instinkte witterte Nietszche
hinter diesem Gesinnungswechsel Interessen höchst materieller Art,
deren Erreichung Wagner, dem die finanzielle Seite seines Bayreuther
Unternehmens stets sehr am Herzen lag, nicht gleichgültig sein
konnte. Er erklärte sich daher Wagners plötzliche Wandlung nur
als einen Versuch, sich mit den fromm gewordenen herrschenden
Mächten in Deutschland zu arrangieren, zu dem einzigen Zwecke:
um desto sichereren Erfolg zu haben. Diese Vermutung knüpfte
Nietzsche, so berichtet Frau Förster, direkt an eine Äußerung
Wagners an, die er anläßlich des minimalen effektiven Erträgnisses
der Bayreuther Festspiele Nietzsche gegenüber tat: „Die Deutschen
wollen jetzt nichts von heidnischen Göttern und Helden
hören, die wollen was Christliches sehen!" Und das
nannte Nietzsche „Schauspielerei!" Schauspielerei gegen sich selbst,
die ihm Ekel einflößte! Ich beschränke mich ledigUch auf die Tat-
sache, daß, was den persönlichen Verkehr Nietzsches mit Wagner
betreffen mußte, sich dieser von dem plötzlich fromm gewordenen
— 304 —
Meister abgestoßen fühlen mußte, was schließlich die zwischen
beiden bereits bestehende Kluft nur noch vergrößerte. Ob jedoch
Nietzsche mit seiner Vermutung über die Genesis des „Parsifal"
Wagner unrecht tat, das läßt sich heute nicht mehr einwandfrei
feststellen; klar ist nur so viel, daß auch der „Parsifal'' geschrieben
werden mußte, und zwar mit derselben inneren Notwendigkeit, wie
etwa der „Tristan". Daß Nietzsche das nicht einsehen konnte oder
wollte, hat nicht zum mindesten darin seinen Grund, daß er die
Person Wagners als sein tiefstes seelisches Erlebnis in vielen
Punkten viel zu subjektiv, anstatt objektiv, beurteilte. Denn hätte
er nach dem Erscheinen des „Parsifal", mit dem sich der Meister
bekanntlich nicht erst seit gestern beschäftigt hatte, den geistigen
Entwicklungsgang Wagners objektiv beurteilt, so hätte er unfehlbar
erkennen müssen, daß all sein Schmerz und alle seine Entrüstung
über den fromm gewordenen Wagner sich nur aus Beziehungen von
Gefühlsketten ergebe, die notwendig in ein Nichts zusammen-
fallen müssen, während tatsächlich Wagners Entwicklung einem
System logischer Beziehungen gleichkommt, bei denen eine mit
Notwendigkeit aus der anderen folgte; ja, als feiner Psychologe
hätte er sich sagen müssen, das mußte so sein, weil Wagners
geistiges Wesen gerade so und nicht anders beschaffen war, aus
sich nicht heraus konnte und blind wie die Kugel auf der schiefen
Ebene dem Gesetze der inneren Schwerkraft folgen mußte.
Und damit berühren wir eine der Kardinalfragen, um die sich
die Lösung des Freundschaftsverhältnisses zwischen Wagner und
Nietzsche dreht: Spielte der „Parsifal" dabei überhaupt eine Rolle?
Und wenn ja, welche? Die extremen Wagnerianer behaupten heute
noch, Nietzsche habe sich nur wegen des „Parsifal" von Wagner
getrennt; sie motivieren dies damit, daß Nietzsche eben damals
schon wahnsinnig gewesen sei und daher nicht wußte, was er tat.
„Der Wahn brach die Treue!" In Wirklichkeit war Nietzsche damals
durchaus nicht wahnsinnig, sondern wußte wohl, was er tat: also
hat er sich mit der Ablehnung des „Parsifal" auch kein Armuts-
zeugnis ausgestellt, wie wenn er es in blindem Hasse total über-
sehen hätte, daß der „Parsifal" den krönenden Abschluß von Wagners
Schaffen bilde. Nun habe ich bereits den bindenden Nachweis er-
bracht, daß Nietzsches Trennung von Wagner sich schon bedeutend
früher vorbereitete, daß der „Parsifal" die ohnehin schon bestehende
— 305 —
Kluft noch weiter aufriß und einfach unüberbrückbar machte. Wie
läßt sich dieser auffallende Widerspruch — er besteht aber nur
scheinbar! — lösen? Wer Nietzsches Schriften gegen Wagner kennt,
weiß, daß er in ihnen den Meister als den genialsten Vertreter der
Dekadenz bezeichnet, d. h. Wagner vereinigte in sich alles, was das
verflossene Jahrhundert an hemmenden Schwächen aufzuweisen
hatte: Romantik und Mystik, höchstes Pathos der Leidenschaft und
trüben Pessimismus; letzteren auch als eine Folge der früher näher
beschriebenen Asexualität; ausgelassene Sinnenlust und ein mar-
terndes Erlösungsbedürfnis, wobei sich die klaren Grenzen zwischen
Diesseits und Jenseits verrücken. Über die Genesis solcher hemmender,
pessimistischer Faktoren sei folgendes gesagt: Je komplizierter die
Kulturverhältnisse werden, je mehr Verpflichtungen dem Menschen
aus verwickelten sozialen Beziehungen erwachsen, je mehr er sich
daher außerstande sieht, sie alle in vollem Umfange zu erfüllen,
je stärker ferner die nervöse Gesundheit durch die Abkehr von der
Instinktsicherheit eines naturgemäßen Lebens beeinträchtigt wird,
desto drückender wird sein Schuldbewußtsein, wenn er nicht nur die
zahlreichen Übel des Daseins als Folgen seiner Sündhaftigkeit
betrachten muß, sondern auch keine Verbesserung oder gar noch
eine Verschlechterung seiner Lage im Jenseits zu erwarten hat.
Aus diesem Schuldbewußtsein und aus diesem Pessimismus heraus
erwächst ein starkes Erlösungsbedürfnis, das Tausende veranlaßt,
nachzugrübeln über die Möglichkeit einer Rettung der sünd- und
leiderfüllten Welt. Und schUeßlich kommt in einer Prophetennatur
das Drängen all der Tausende zum Durchbruch. Dabei ist freihch
das eine bemerkenswert, daß die eine große Frage, wie die große
Erlösung zu gewinnen sei, eine viel geringere Rolle spielt als die
Frage, ob es eine Erlösung überhaupt gebe. Das gilt sowohl von
der christlichen wie buddhistischen Erlösungslehre. Erst Rudolf
Lehmann hat in seinem Werke „Schopenhauer, ein Beitrag zur
Psychologie der Metaphysik" den bindenden Nachweis erbracht, daß
zwei große Strömungen zu Beginn des XIX. Jahrhunderts, Ratio-
nalismus und Romantik, auf Schopenhauer — ich möchte er-
gänzen: auch auf Wagner — ihren Einfluß ausgeübt haben. Denn
echt rationalistisch ist beider Männer wenig entwickelter historischer
Sinn und ihr Verständnis für das Individuelle. Romantisch das
Streben beider, das Rätsel des Lebens von innen heraus lösen zu
Grießer, Wagner und Nietzsche. 20
— 306 —
können, und die Gefühlsethik, die in ausgesprochenem Gegensatz
zu Kants Lehre von der praktischen Vernunft steht. Daneben steht
Schopenhauer unverkennbar unter dem Einflüsse Spinozas, dem er
seinen modifizierten Monismus verdankt, der mutatis mutandis auch
bei Goethe, Schelling und Schleiermacher hervortritt. Schopenhauer
modifizierte diesen Monismus insofern, als er an die Stelle der
ästhetisch-optimistischen Betrachtung des spinozistischen Weltganzen
die asketisch-pessimistische Moralbetrachtung setzte. Im engsten
Zusammenhange damit steht Schopenhauers Mystizismus, der die
Seele, Welt und Gott in eins zusammenfaßt, also eine Welt-
anschauung, welche unter Verzicht auf die üblichen Erkenntniswege
der philosophischen Wissenschaften die Menschenbrust als den
lautersten Wahrheitsquell verehrt. So ist es begreiflich, daß Schopen-
hauer in der Kontemplation die letzten Offenbarungen seiner Philo-
sophie erlebt. Und diese Irrationalität, dieser mystische Schleier
umhüllt fast jedes Stück seiner Gedankenwelt. Es wird nun ein für
ewige Zeiten merkwürdiges Phänomen bleiben, daß Wagner ganz
unbewußt aus derselben Atmosphäre, die einen Schopenhauer um-
gab, die tragende tragische Idee seiner Werke sich geholt hat,
lange ehe er Schopenhauers Gedankenwelt kannte und sich dieselbe,
so gut er eben konnte, mit der gegenteiligen Philosophie Feuerbachs
zurech tinterpretierte. Ein klassisches Beispiel dafür ist der „Ring".
Daneben aber läuft parallel ein unverkennbarer Hegelianismus, wenn
Wagner an ein Besserwerden des absolut bösen Weltwillens
Schopenhauers glaubt, also ein Glaube an den Hegeischen Entwick-
lungsgedanken, der bei Wagner trotz seines ausgesprochenen Pessi-
mismus den Regenerationsgedanken zeitigte. Eine Tatsache, die
beweist, daß Wagner alles andere eher war denn ein — Philosoph,
was auch Schopenhauer nach der Lektüre der ihm übersandten
„Ring "-Dichtung klar erkannt hat.
Das also sind die Fundamente, auf denen sich Wagners Kunst-
werke aufbauen, das sind die Ideen, denen er durch seine Musik
suggestive Kraft verlieh. Nicht nur Nietzsche allein, sondern —
um nur einen zu nennen — kein Geringerer als Friedrich Jodl
nannte „diese Zukunftsmusik des Protestanten und Freimaurers die
Reaktion"; glaubte doch Wagner felsenfest, daß seine Musik allein
erlösen könne; durch sie wurde in den gleißenden Farben des Fort-
schritts die Ursünde des XIX. Jahrhunderts, seine geistige Trägheit
— 307 —
und Genußsucht, zum künstlerischen Prinzip erhoben. Nun ist es
einerseits klar, daß Nietzsche wegen des „Tristan", der ;, Meistersinger"
und einiger Akte aus der „Ring "-Tetralogie Wagners uneingeschränkter
Bewunderer wurde und blieb, während er den anderen Werken des
Meisters gegenüber sich ziemlich reserviert, ja ablehnend verhielt').
Anderseits aber ist es ebenso klar, daß der „Parsifal" nur den folge-
richtigen Schlußstein in Wagners Kunstschaffen bildet. Ragt er doch
schon seiner Entstehung nach in die „Tannhäuser"- und „Tristan "-Zeit
hinein und besteht ein ideeller Zusammenhang zwischen den
Gestalten des Tannhäuser-Tristan- Amfortas ; Venus-Klingsor- Alberich ;
Venusberg-Klingsors Zaubergarten. Nietzsche hätte also sämtliche
Werke Wagners verwerfen müssen, denn der Grundgedanke der
Entsagung ist ihnen allen gemeinsam. Indessen ist diese Antinomie
zwischen Nietzsches Werturteilen nur eine scheinbare : Bedenkt man
nämlich, daß z. B. „Meistersinger" und „Tristan" auf ein rein persön-
liches Erleben ihres Schöpfers zurückgehen, daher trotz ihres schein-
bar typischen künstlerischen Gehaltes ganz individuelles Leben
atmen, ohne eine wie immer geartete Tendenz zu vertreten, so
war es nur recht und bilHg, daß Nietzsche diese beiden Werke als
die vollendetsten pries; sind sie doch geschaffen aus dem seligen
Gefühle des Unbewußten. Ebenso verhält es sich mit dem „Ring" :
die Gestalt Siegfrieds, dessen Gegenteil später der Parsifal wurde,
entsprach nämlich nur zu sehr dem damaligen Wagner, und der
„Immoralist" Nietzsche sah in Siegfried sein und des Meisters Ideal
verwirkHcht. Anders aber, ganz anders liegt die Sache beim „Parsifal" !
Wenn man sich vor Augen hält, daß in die achtziger Jahre des
verflossenen Jahrhunderts die deutsche Hochdekadenz fällt, daß man
nicht nur am rehgiösen Prinzipe starr festhielt, sondern selbst im
protestantischen Lager mit dem Katholizismus zu liebäugeln begann,
so ist der Künstler Wagner an diesen Zeiterscheinungen nicht
gedankenlos vorübergegangen — in seinem Geiste bespiegelten sich
die Zeiten! — , so zeigte er sich mit der Schöpfung des „Parsifal"
wiederum als der echte Künstler, als der bewunderungswürdige
Spiegel, durch den wir in die tiefsten Herzensfalten der damahgen
Zeit hineinblicken können ; denn alle Kunst ist nur ein Gleich-
nis. Ob aber dabei, wie Frau Förster meint, auch materielle Gründe
') Cf. p. 180, 181; 254.
20'
— 308 —
mitgespielt haben, diese Frage wollen wir lieber unerörtert lassen.
Tatsache ist, daß eine beredtere, gewaltigere Apologie des katho-
lischen Kultus^) in Deutschland noch nie geschrieben worden ist
als mit dem „Parsifal" von Richard Wagner. Man kann nur staunen
vor dieser Macht der künstlerischen Phantasie bei einem Manne,
der selber nicht KathoHk gewesen ist und es doch verstand, alle
äußeren Mittel dieses Glaubens in einem Brennpunkte zu sammeln.
Der Zauber, mit dem man in Bayreuth durch musikalische und
szenische Kunst umfangen wird, ist so groß, daß man keine Zeit
übrig behält, um auf das grob-materialistische und mittelalterlich-
kathohsche Blendwerk zu reflektieren, mit dem der Erlösungs-
gedanke im „Parsifal" umgeben wird. Daß der Kunst der damaligen
Tage eine derartige Wiederbelebung religiöser Stoffe gelang, das gab
nicht nur Nietzsche, das gab auch Jodl und vielen anderen zu
denken, Theologen katholischen oder evangelischen Bekenntnisses:
War es bloß ein Nachklang einer früheren Zeit? War es nur ein
Vorspiel neuer Liebe? Mit ungemein feiner Witterung hat Nietzsche
das fremdartig betäubende Parfüm, das Narkotische, Entnervende,
das von Schopenhauers Ethik und Wagners Kunst ausgeht, heraus-
gefühlt, die ungeheure Gefahr für die deutsche Kultur, welche in
dieser kathohsierenden Wendung der größten Kunstmacht der Gegen-
wart lag, das Erschlaffende, welches eine buddhistische Mitleidslehre
und das Dogma von der unheilbaren Trostlosigkeit der Welt mit
sich bringen müßte. Wehe denen, die da wollen, daß wir den
Künstler in Wagner vergessen und nur den Propheten ver-
ehren sollen! So liegt in Nietzsches Urteilen über Wagners Kunst-
werke durchaus kein Widerspruch: er blieb nur konsequent, wenn
er den „Parsifal" wegen der in ihm klar zum Ausdruck gebrachten
Tendenz bekämpfte. Dem Künstler Wagner, der einen „Parsifal"
schrieb, ließ er volle Gerechtigkeit widerfahren; so schreibt er an
Peter Gast nach Anhörung des „Parsifal" -Vorspieles (21. Jänner 1887):
„Abgesehen von allen unzugehörigen Fragen (wozu solche Musik
dienen kann oder etwa dienen soll?), sondern rein ästhetisch
gefragt: hat Wagner je etwas besser gemacht? Die allerhöchste
^) Cf. Prälat Dr. Kluger: „R. Wagners ,Parsifal' als rehgiöses Kunst-
werk", der in katholischem Sinne interpretiert, während der Jesuitenpater
E. Hemmes („R.Wagners ,Parsifal"0 jedwedes katholisch-religiöse Moment
energisch ablehnt.
— 809 —
psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in bezug auf das, was
hier gesagt, ausgedrückt, mitgeteilt werden soll, die kürzeste
und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epi-
grammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als deskriptiver
Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt;
und zuletzt, ein sublimes und außerordenthches Gefühl, Erlebnis,
Ereignis der Seele im Grunde der Musik, das Wagner die höchste
Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen,
auch höheren ,Menschen', als unvereinbar gelten werden, von
richtender Strenge, von ,Höhe' im erschreckenden Sinne des Wortes,
von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit
Messern durchschneidet, — und von Mitleiden mit dem, was da
geschaut und gerichtet wird. Desgleichen gibt es bei Dante, sonst
nicht. Ob je ein Maler einen so schwermütigen Blick der Liebe
gemalt hat als Wagner mit den letzten Akzenten seines Vorspieles?"
An Freiherrn von Seydlitz schrieb er: „Die Situationen und ihre
Aufeinanderfolge, ist das nicht von der höchsten Poesie, ist es nicht
eine letzte Herausforderung der Musik?" Sind das vielleicht Urteile
eines Wahnsinnigen? Umgekehrt kann aber auch ich, der ich mich
einen guten Christen zu nennen getraue, unmöglich im „Parsifal",
so sehr ich ihn als Kunstwerk schätze, das Endergebnis mensch-
lichen Strebens und Ringens erblicken oder gar einen Ersatz für
unsere Religion. Nicht durch die Kunst Wagners werden wir Gott
suchen und finden, wohl aber durch unser Erkennen und Handeln:
Denn in uns selbst tragen wir das Bild der Gottheit, die immer nur
die Züge unseres besten Wesens annimmt. Das Himmelreich ist nur
in unserer Liebe und Barmherzigkeit. Der wahre, lebendige
Christus, das sei unsere Parole, aber nicht ein auf die Opernbühne
gebrachtes, mit Schopenhauerschen und buddhistischen Lehren ver-
quicktes Romantikerchristentum. Über Nietzsches Irrtümer in
der Bekämpfung der Tendenz des „Parsifal" zu sprechen, ist hier nicht
der Ort ; mir handelte es sich nur darum, zu zeigen, daß Nietzsche
auch in diesem Kampfe konsequent blieb und, was das Höchste ist,
sich selbst die Treue gehalten hat.
In diesem Zusammenhange scheint mir aber noch folgendes
äußerst beachtenswert: Wagner war sein ganzes Leben hindurch ein
leidenschaftlicher - Unchrist, dem die bisherige Opernform als ein
Greuel erschienen war, weil ihr jedweder ethische Wert fehlte.
— 310 —
Wagner wollte ihr einen neuen Inhalt, und zwar einen rein ethischen,
geben, und das ist ihm seiner Meinung nach damit gelungen, daß
er alle seine Werke mit einem Erlebnis erfüllte, das nicht sein
individuelles, sondern unser aller Erleben ist; daß er alle seine
Werke mit seiner, das heißt wiederum mit unserer heißen
Sehnsucht nach restloser Lösung der Rätsel dieses Daseins füllte.
Aber wenn wir uns fragen, ob Wagner die Lösung dieser Rätsel
so restlos geglückt sei, . wie er es sich dachte, so kann die Antwort
nur lauten, daß er dieser Lösung niemals ferner war als gerade in
all den Stunden, da er aus innerster Seele zu schaffen wähnte:
denn Gott war für Wagner niemals ein so tiefgreifendes Erlebnis
wie für Nietzsche, den „Feind Gottes"; Wagner hat nie so tief
-gelitten an Gott wie Nietzsche ; Wagner hat niemals Gott mit dieser
mystischen Sehnsucht gesucht wie Nietzsche. Deshalb hat Nietzsche
m. E. wiederum, wie so oft, seinen feinen psychologischen Instinkt
auf das glänzendste bewiesen, als er die Tendenz des „Parsifal" rück-
sichtslos ablehnte; sein durch keine Äußerlichkeiten zu trügendes
Gefühl sagte ihm, daß hier trotz aller gegenteiligen Beteuerungen
nicht Gott verkündet und verherrlicht werde, sondern daß vielmehr,
genau so wie im „Tannhäuser", „ein heißer Eros aus dem nordischen
Nebel seine Stimme schicke" ; aber daß die künstlerische Entwick-
lung des Meisters von Bayreuth mit seinem letzten Werke in
einem Mysterium endete, das jenen heidnischen Eros') mit dem
Christentume zu einer neuen Einheit verbinden wollte, das konnte
oder wollte Nietzsche an Wagner nicht erkennen! Eben weil in
Wagner zeitlebens ein Rest christlichen Empfindens lebendig war,
suchte er sein ganzes Leben lang mit allen Sinnen die Erlösung
und endete in der — Entsagung. Nietzsche hat dieselbe Erlösung
gesucht und — gefunden! Doch über diese tiefsten Probleme der
hier nur angedeuteten Wesensverwandtschaft zwischen Wagner
und Nietzsche soll erst am Schlüsse des Buches ausführlich ge-
handelt werden.
Mit seiner Behauptung also, daß nicht „die Empörung über
den Abfall Wagners von der atheistischen Weltanschauung Nietzsche
zum Gegner Wagners gemacht habe", hat Stekel das Richtige
getroffen; nur ist seine Beweisführung eine grundfalsche. Die Argu-
1) Sc. germanisch-hellenischen.
— 311 —
mente rein philosophischer Natur^ die Auswirkung des philosophischen
Triebes in Nietzsche, die man, wie wir es getan und auch nach-
gewiesen haben, für die Erklärung des Abfalles Nietzsches von
Wagner bereits aus den frühesten Zeiten ihrer Freundschaft heran-
ziehen muß, schiebt Stekel mit kühner Verachtung der Geistes-
wissenschaften beiseite. Das ist ja begreiflich: bei seiner Methode
ist es ja auch gar nicht notwendig, daß man sich darum allzu
ängstlich quäle:
„Denn eben wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
mit Worten ein System bereiten,
an Worte läßt sich trefflich glauben,
von einem Wort läßt sich kein Jota rauben!"
Doch Stekel bleibt konsequent! Wie würde, so fragt er sich oiffen-
bar, zu Nietzsches von Haus aus zerrüttetem Gehirn jetzt auf ein-
mal die Konzeption einer Weltanschauung taugen, die zu der
Wagnerschen im direkten Widerspruch stünde? Wer sagt uns denn,
daß Nietzsche wirklich ein Philosoph ist? Und doch war Nietzsche,
als er Richard Wagner kennen lernte, in der Tat „ein herrlicher
Mensch", der Rohde wie „eine neue Offenbarung menschlichen
Wesens" vorkam. Schon damals lebte in ihm jener gewaltige
Sri^Lovgyog, der die Materie so bildete, wie nur er es wollte. Wer
von uns armen Sterblichen vermag jene Tiefen aufzudecken, in
denen in einer gottbegnadeten Menschenseele irgendein gütiger ^sbg
sein lebendiges Kleid wirkt? Mag der Rationalismus und die Psycho-
analyse unserer Tage noch so spitzfindig zu Werke gehen: Wieder
Genius in die Welt gekommen, wie erwirkt und schafft, das sollen
und werden sie nie uns künden, auch bei Nietzsche nicht. Aber
nur die Wissenschaft, welche sich die Erforschung der Wahrheit
zum Ziele gesetzt hat, nicht jene Wissenschaft, die Winkel Wahr-
heiten nachjagt, kann uns dem Genius näher führen, denn „Wissen-
schaft", sagt Wilamowitz, „ist immer schön und heilig, ewig und
unsterblich gegenüber uns Sterblichen, die wir wissen, daß unser
Wissen Stückwerk ist. Sie fordert immer den ganzen Einsatz der
Person, auf daß diese selbst darin aufgehe und vergehe. Wissen-
schaft fordert Resignation. Aber ein Hochgefühl ist es, das erkannte
Wahre und Göttliche zu verkünden und mit dem Einsätze der
eigenen ganzen Person unmittelbar anderen Seelen zuzuführen."
— 312 —
„Alle bekränzen wir uns mit den Zweigen des heiligen Ölbaums
Aus Akademos Bezirk! An des Prometheus Altar
Zünden wir alle die Fackel zum Wettlauf! Der himmlischen Muse
Sohn gab allen dazu, Eros, die Weihe der Kraft!"
Mit denselben Methoden; die Nietzsche begeistert in den Dienst des
Wagnerschen Kulturideals gestellt hat, mit den Forschungsmethoden
der Philologie, kann man Nietzsches Gedankenwelt interpretieren
und erschließen, besser jedenfalls als auf Grund einer vorgefaßten
Meinung, die das Endresultat einfach präsumiert. Das will ich im
folgenden tun. Die Interpretation eines Dokumentes der mensch-
lichen Geistesgeschichte ist entschieden schwieriger als das Auf-
stellen eines Schemas von ein paar psychiatrischen Nomenklaturen^
in das der Autor dieses Dokumentes rücksichtslos hineingezwängt
wird. Diese Art der wissenschaftlichen Forschung und Interpreta-
tionskunst mag immerhin ein geistreiches AperQu sein. Aber ein
Dokument, voll verstanden, ist mehr wert als die geistreichsten.
Aper<jus, die darüber geschrieben werden.
XXI. NIETZSCHE ALS RELIGIÖSER UND
ETHISCHER REFORMATOR.
Was denkt sich der Laie, der nur weiß, daß Nietzsche seinen
Freund Wagner verraten hat, von diesem Nietzsche, V7enn er durch
Stekel mit der epochalen Entdeckung bekannt gemacht wird:
Nietzsche sei zwar selbst Asket und Abstinenzler gewesen, war
mithin für die im „Parsifal" ausgesprochene Weltanschauung prä-
destiniert, habe aber trotzdem für Dionysos, den Inbegriff des
vollen, nach Betätigung ringenden Lebenswillens (das versteht näm-
lich Stekel unter dem Dionysos!), geschwärmt! Mithin hat Nietzsche,
der in praxi der Asket par excellence war, in der Theorie aber das
Gegenteil des Asketismus vertrat, sich durch die Bekämpfung des
„Parsifal" entschieden widersprochen. Diese „Tatsache" in Nietzsches
Leben wertet Stekel als ein klassisches Beispiel für Hypochondrie
und zugleich als neuerlichen Beweis für Nietzsches geistige Ab-
normität: Nietzsche, der Sohn eines Pastors, Nietzsche, dessen
sehnlichster Wunsch es war, selbst einmal Pastor zu werden, hatte-
die Keligion, in der er erzogen worden war, nur intellektuell
überwunden, und daher war Christus, der Inbegriff einer asketischen
Weltanschauung, sein Vorbild; wer aber hat je einen asketischen
Dionysos gesehen, für den sich Nietzsche ausgab? Schon bei einer
früheren Gelegenheit sagte ich, daß für Stekel das Problem, das
Dionysos sowohl für die Religionsgeschichte als auch im konkreten
Falle für das „Problem Nietzsche" bedeutet, ein Buch, verschlossen
mit sieben Siegeln ist. Deshalb ist die mit sichtlicher Ironie erfol-
gende Betonung des angeblichen Gegensatzes in Nietzsches Leben
und Lehre wohl der stärkste Beweis dafür, daß Stekel trotz seines
reichen Wissens als Psychopathologe, das ich in seiner Anwendung'
auf Patienten durchaus nicht bestreiten werde, nicht reif ist, das
Fundamentalproblem der Nietzscheschen Philosophie zu lösen; und
meine mit rein geisteswissenschaftlichen Argumenten erfolgende-
— 314 —
Widerlegung seiner Ansichten soll dartun, daß Psychoanalyse,
Sexualpsychologie und wie sonst noch die für unfehlbar erklärten
Methoden der neuesten Interpretationskunst heißen mögen, weil sie nur
das „Menschliche", leider aber nicht das „Ewig-Menschliche" betonen,
bei der Erklärung der Philosophie Nietzsches, speziell der aus seinem
letzten Stadium, unfehlbar in die Irre gehen müssen.
Nietzsche war in der Tat aus theologischem Blute, aus durch-
wegs religiös-patriarchalisch gestimmten Ahnen hervorgegangen.
Dieser ererbte bürgerlich honette Theologengeist, hier als religiöse
Mystik, dort als ein Zug zu protestantisch-rationalistischem Vernunft-
glauben wirksam, ist in Nietzsche immer lebendig geblieben. Denn
Nietzsche ist — und damit berühren wir den tiefsten Kern seines
Wesens! — so weit entfernt davon, ein Religions zersetz er zu
sein, daß man ihn geradezu als den religiösen Genius unserer
Tage zu bezeichnen hat. Aber „eine gewisse Neigung zum Wahn-
sinn", sagt Emerson, „hat immer den Aufgang des religiösen Gefühls
im Menschen begleitet, als wären sie vom Übermaß des Lichtes
geblendet worden". Th. Lessing z. B. weiß außer Pascal und Kierke-
gaard keinen, der die Psychologie typisch religiöser Erfahrungen
an sich selber so durchgelitten und durchgegrübelt hätte, wie
Nietzsche. Machen wir uns das klar! Jeder Mensch glaubt, daß er
seine Ruhe, sein Glück und damit sein Leben preisgibt, wenn er
seine Arbeit, seine Art abhängig macht vom Erfolg, der Anerkennung
und der Dankbarkeit anderer. Das ist gewiß nichts Neues. Jesus
und fast alle Religionsgründer, unsere Philosophen sind auch auf
anderem Wege als dem der Erfahrung zu diesem Urteile gekommen.
Jesus aber und sein Volk konnten es nicht verstehen, wie ein Mensch
ohne Lohn sein Leben lang seine Pflicht tun kann, deshalb suchte
und fand er den großen Löhnungstag — im Himmel! Nun, dieser
Himmel ist eine herrhche Erfindung, älter als Jesus, aber eben —
eine Erfindung! Die Wirklichkeit belehrt uns, daß die Belohnung
des Guten eine Ausnahme, nicht die Regel ist. Demnach kann die
Aussicht auf solchen Lohn nicht genügen, uns in unserem Streben
aufrechtzuerhalten, sondern einzig und allein nur das Vertrauen
in die Vernunft des Menschenschicksals, die Bestimmung unserer
Gattung, und daß unser wahrer Wert davon abhängt, wie weit wir
dieser Vernunft dienen und uns aufopfern. Und diese Vernunft des
Menschenschicksals ist seit den Tagen, da es Piaton gelehrt hatte,
-- 315 —
nichts anderes als die Realisierung des Guten! Verpflichtet
sein zum Guten und sich dabei nicht irre machen lassen durch Un-
verstand, Mißtrauen, Undankbarkeit, Verleumdung — „so sprich und
stammle: das ist mein Gutes, das liebe ich, so gefällt es mir ganz,
so allein will ich das Gute!" — das ist unsere Aufgabe, nicht um
Heilige zu werden, sondern weil es das einzig Möghche ist, wo-
durch wir nun einmal bei unserer Anlage gedeihen und glücklich
sein können. Wir sind Menschen, wollen keine Märtyrer sein oder
werden, aber wir sind unglücklich, wenn wir unsere Erfahrung, daß
wir den Lohn für das Gute von jemand außer uns nicht erwarten
dürfen, ignorieren. Doch schon Euripides sagte: „Du bist gut ge-
boren und kannst das Gute, so du nur willst. Auf deiner eigenen
Kraft stehst du, kein Gott und kein Mensch nimmt dir ab, was du
zu tun hast; aber deine Kraft genügt zum Siege, wenn du sie ge-
brauchst." So läßt Wilamowitz den hellenischen Dichter das, was
die Heraklessage bedeutet, in Worte kleiden. Und was kündet
Nietzsche: „Ich liebe die, welche nicht erst hinter den Sternen
einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die
sich der Erde opfern! Ich Hebe den, welcher die Zukünftigen recht-
fertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will an den Gegen-
wärtigen zugrunde gehen! Ich liebe den, dessen Seele übervoll ist,
so daß er sich selber vergißt, und alle Dinge in ihm sind: so werden
alle Dinge sein Untergang." Daß wir aber eines Lohnes sicher
sind, der uns nimmer entgehen kann, darüber sind sich die Menschen
stets einig gewesen. Dieser ist aber nichts anderes als der Glanz
unseres Herzens. Menschen, an die wir uns hängen, können
sterben oder sich von uns wenden, Einrichtungen, materielle Werte
können zugrunde gehen. Den Glanz unseres Herzens allein kann
uns niemand aus unserem Leibe reißen, darüber verfügen wir allein
und ausschließlich. Für Mühen und Selbstüberwindung darf man
nicht mehr fordern als ein gutes Gewissen und ein reines Herz.
Das wird wohl jedem verständlich sein. Weniger indes die Motive,
aus denen Nietzsche sein Übermenschenideal ableitete. Und doch
schrieb der Nietzsche, der sich angebUch selbst für diesen Über-
nienschen gehalten haben soll, an seinen Freund Freiherrn v. Gers-
dorff: „Wenn wir einmal unser Leben austragen müssen, versuchen
wir es, dieses Leben so zu gebrauchen, daß es andere als wertvoll
segnen, wenn wir glücklich von ihm erlöst sind." Beachten wir
— 316 —
den Wortlaut: andere sollen unser, d. h. sein Leben als wertvoll
segnen! Der einsame Nietzsche segnete selbst sein Leben! Wie
gelangte nun Nietzsche zu der vorher skizzierten Weltansicht;
welche die Gegensätze zwischen Theorie und Praxis in unserem
Herzen mild versöhnend ausgleicht? Wilhelm Bölsche schließt
eines seiner Werke mit den Worten, daß „durch alle die Melodien
des Geistes ein Größtes klinge, das mehr noch ist als Liebe das
Schöpferwort, das Welten gebaut hat und aus Welten bessere
Welten baut, das Triumphwort aller Erfüllung und das stille Resig-
nationswort aller zeitlichen Beschränkung im engen Kämmerlein:
Sehnsucht". Sehnsucht pocht in unseren Tagen mehr denn je an
unser Herz: ein tiefes Sehnen durchzittert gerade die Welt des
Geistes, es ringt in all den Erzeugnissen des menschlichen Geistes
sichtbar und hörbar nach Ausdruck; damit ist jedoch nicht mehr
und nicht weniger angedeutet als unsere Sehnsucht nach einer
neuen Bildung. Diese soll berufen sein, den scharfen Gegensatz
zwischen Vergangenheit und Gegenwart in einer reich fortblühenden
Zukunft aufzulösen, d. h. wir suchen nach einem solchen Ausdrucke
unseres Selbst, der mit dem alten, den wir an uns doch nicht
missen wollen, unser neues Wesen verbindet. Der Vater und Ur-
heber dieser Bildung ist Nietzsche, er wollte uns tatsächlich neue
Lebensinhalte geben. „Wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem
will ich sem Herz schwer machen mit meinem Glücke!" ruft er
uns voll prophetischen Geistes zu. Und seine Worte tönen uns
entgegen gleich dem Morgenglockenton, der das Nahen des Tages
kündet, an dem die Menschen stärker, freier und schöner, im Eins-
gefühle mit sich und der Welt und dem Leben der Zukunft froh
entgegengehen, „voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben,
voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zu-
rückströmens". Nietzsches Sehnsucht hat aus der alten Welt
wirkUch eine neue Welt des Geistes geschaffen. Doch welcher Art
ist diese seine neue Welt? Philosophie ist, sagen wir, im weitesten
Sinne des Wortes Weltanschauungslehre. Aber nun ist es sattsam
bekannt, daß der menschliche Geist in der Tat jenem mythischen
Simson gleicht, der an den Säulen seines Hauses so lange rüttelt,
bis es zerfällt; aber aus den Trümmern baut er ein neues. Das
heißt: philosophische Systeme kommen und gehen, jeder Philosoph
gleicht jenem Simson. Der uns Menschen angeborene Zweifel an
— 317 —
allem Überlieferten, unsere ungeheure Sehnsucht, dieses Ali und
alles Geschehen in ihm in einem einheitlichen, widerspruchslosen
Bilde zu erfassen, zeigt uns den Verlauf unserer Geistesentwicklung
als ein beständiges Fluktuieren von Vertrauen und Mißtrauen in
die Macht unserer Erkenntnis. Ebenso wie einst Kant die Philo-
sophie den Armen des Skeptizismus, ihrem Niedergange, entriß,
brach auch Nietzsche in vielleicht noch tieferer "Weise als Kant
mit dem herrschenden Skeptizismus seiner Zeit, der doch durch
Schopenhauer zum Pessimismus ausgeartet war. Nietzsche zog in
den Bereich seiner fundamentalen Untersuchungen das Problem vom
Werte der Wahrheit und erbrachte den Nachweis, daß der mensch-
liche Trieb zur Wahrheit nur ein Mittel des allgemeinen Lebens-
willens sein könne. Sein Ideal ist, wie bereits gesagt wurde, die
unaufhaltsame Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens. Deshalb
perhorresziert er jeden Dogmatismus in unserer Philosophie und
setzt das vorwärts schreitende Erkennen einer Art Schaffen gleich.
An dieses Ergebnis knüpft er sodann die entscheidende Frage nach
dem Sinne des Menschenlebens und erblickt denselben mit Piaton
in einer Art Schwangerschaft des Menschen: der Mensch soll den
Übermenschen zeugen! Für ihn ist der Mensch nicht mehr das
„Wesen, das gar nicht existieren sollte, das sein Dasein abbüßt
durch vielgestaltetes Leiden und den Tod**, sondern die Vorstufe zu
einer noch höheren, edleren Art Mensch. Bei Formulierung dieser
seiner Forderung hat Nietzsche den Goetheschen Gedanken auf-
genommen: „Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur
ist der schöne Mensch . . . wer weiß, ob nicht auch der ganze
Mensch wieder nur ein Wurf nach einem höheren Ziele ist?" In-
dem Nietzsche den Mängeln seiner Zeit seine Ideale entgegenhielt,
formulierte er den Grundwert der starken, selbsteigenen Persön-
lichkeit, brachte er seiner Zeit die Gefahren des Gleichschätzens
und Gleichmachens eindringlich zum Bewußtsein, und er hätte
nicht klassischer Philologe sein müssen, wenn er nicht im Hellenen-
tum gleich Goethe das Endziel seiner Pläne bereits einmal ver-
wirkhcht gesehen hätte: „bisher, nach langer kosmopolitischer Um-
schau, der Grieche als Mensch, der es am weitesten brachte!"
Diesen Menschentypus will er erreichen durch die Hebung des
Niveaus der Menschen: je höher das Postament, desto höher die
von jenem getragene Säule. Zu diesem Zwecke schuf er „neue
— 818 —
Werte", d. h. „wertete" er die bestehenden Wahrheiten „um",
und nannte sie das Übermenschliche, das Vorbildliche. Also geistige
Werte sind es, Werte, welche die Handlungen der Menschen beein-
flussen, unsere Gesinnung neu beseelen sollen. Diese Werte stehen
jedoch mit dem Sinn und Zweck des Menschenlebens in einem ge-
wissen Zusammenhange, indem Nietzsche alle Dinge nach ihrem
biologischen und physiologischen Werte beurteilt; daher sagt er
zum aufsteigenden Leben ja und gut, zum absteigenden nein und
schlecht. Sein Kriterium bildet also die Lebensenergie in ihren
verschiedenen Äußerungen. Daher verabscheut er jede Vergut-
mütigung des Menschen, stellt sich in Gegensatz zum Christentum,
zu Rousseau und allen Demokraten, die mit dem ersten Menschen
den Begriff einer angebornen Gutmütigkeit verbinden. Feinsinnig
sind die Ausführungen bei M. Kronenberg, „Kant, sein Leben und
seine Lehre", p. 15 — 19: „Die Philosophie im tragischen Zeitalter
der Griechen", diese Blütezeit der Antike, in welcher die Ideenwelt
der Philosophie das natürliche Abbild der wirklichen Menschenwelt
zu sein schien und diese nichts anderes als die Reahsierung der
Ideen, welche der Gedanke aus sich erzeugt hatte, im bildsamen
Stoffe der lebendigen Wirklichkeit — diese glückhchste Periode war
schnell vorüber, und bald traten Denken und Sein, Idee und Wirk-
lichkeit immer zwiespältiger auseinander. Diese Divergenz endete
schließlich in einer Abkehr von der Wirklichkeit, in einer leiden-
schaftlichen Zuwendung zum menschlichen Innern. Man begann
leidenschaftlich zu schwärmen für die Unendlichkeit, entdeckte
Welten über Welten, bis zuletzt, durch den Eintritt des Christen-
tums, Realität und Idealität einander völlig ausschlössen. Denn
nun galt die Realität als der Sitz des Bösen, diese als Sitz des
Guten, nur durch höhere Erkenntnis, geheime Offenbarung etc. er-
kennbar, während die Vernunfterkenntnis nur auf die reale Welt
beschränkt wurde. Kein Wunder, daß der Ruf nach Erlösung von
dieser wirklichen Welt immer lauter wurde und sich zuletzt zum
einzig brausenden Akkord verdichtete, wenngleich die höchste Er-
kenntnis dieser Forderung nach Erfüllung ohnmächtig gegenüber-
stand. Denn selbst das feinst ausgedachte Gedankensystem einer
Erlösung von dieser Welt konnte nicht gleichkommen der fak-
tischen Losreißung vom eigenen Leben, wie es Christi Opfertod
darstellt. Daher seine faszinierende Wirkung auf alle Welt. Davor
- 319 —
mußte die Vernunft, die so siegreich ihren Flug begonnen, be-
dingungslos kapitulieren, und der religiöse Mythos begann üppiger
denn je zu blühen. Es ist charakteristisch, daß man nun unter dem
Einflüsse antiken Geistes, der noch lange wie eine fernhinziehende
Abendröte die christliche Welt bestrahlte, den Weg zur Natur und
Vernunft zurückzufinden sich bemühte. Und wenn selbst der
„letzte" Nietzsche in seinem Mystizismus scheinbar ganz neue,
noch nie dagewesene Lehren vorträgt, so hat er damit, konsequent
wie er war, seiner langen Entwicklungsreihe gleichfalls nur den
Schlußstein eingefügt: er hat stets, sein ganzes Leben lang, die
antike Philosophie, resp. die echt hellenische Weltanschauung re-
produziert. Bereits der Philologe Nietzsche predigt in seiner Schrift
„Wir Philologen" den Abfall vom Christentum, dem er Mangel
an Rehgiosität vorwirft, und schon damals gipfelt seine Rehgion in
der Erzeugung des Genius, als des einzigen, der das Leben wahr-
haft schätzen und verneinen kann. „Rettet euren Genius!
befreit ihn!" ruft er uns zu. So liegt im Anfange seiner Philo-
sophie bereits deren Ende, und das Ende seiner Philosophie deckt
sich folgerichtig mit dem Anfange: so wird dieser „Genius" erst
seinem späteren Denken zum Übermenschen, der aber freilich nicht
bloß befreit, sondern, was die Hauptsache ist, erst geschaffen
werden muß: er ist der bewußt gewordene Wille in menschhcher
Gestalt. Nun war Nietzsche eine von Haus aus religiös gestimmte
Natur; daher atmet selbst dieser sein so früh ausgesprochener
Atheismus rehgiöse Farbe und Glut. Nietzsche leugnet Gott als
Gott, weil ihm die gewöhnhche Gottesvorstellung nicht genügte,
weil er in seinem Übermenschenideal, in dem er das aristokratische
Ideal der Antike wieder aufnahm. Besseres und Höheres gefunden
zu haben glaubte. Denn der Gedanke, daß, wenn Gott als das
vollkommenste Wesen gedacht wird, durch die Existenz eines
solchen V/esens alles Höherstreben des Menschen einfach nutzlos
wird, ist echt hellenisch gedacht: ein bereits einmal erreichtes Ziel
wird man doch nicht neuerdings erreichen wollen! Gott bildet
demnach die Grenze für das Streben des Menschen. Nur in den
aus diesem Gedanken gezogenen Konsequenzen unterscheidet sich
Nietzsche von den Hellenen: „Ist es nicht deine Frömmigkeit selbst,
die dich nicht mehr an Gott glauben läßt?" fragt Zarathustra und
argumentiert so: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein
— 320 —
Gott zu sein!... Also gibt es keine Götter! Wohl zog ich den
Schluß; nun aber zieht er mich. Schaffen, das ist die große Er-
lösung vom Leiden und des Lebens leicht werden. Aber, was wäre
denn zu schaffen, wenn — Götter da wären?" Aus Unverstand
und wohl auch in böser Absicht hat man diese Argumentation mit
der durch Aristophanes in den „Rittern" gegebenen in eine
Parallele gestellt; es heißt dort: „Glaubst du, mein Freund, daß
Götter sind oder nicht sind?" — „Ich glaube, daß sie sind!" —
„Und womit beweisest du das?" — „Ich bin ihr Feind! Wie
sollten sie nicht sein?" So behauptete man, der größenwahn-
sinnige Nietzsche erträumte sich Gottgleichheit, habe sich selbst
als Gott gefühlt. Er hatte indes Besseres zu tun! Seine Polemik
gegen das Christentum wie seine Forderung des Übermenschen
fußt nämlich auf der Aufopferung des Menschen für ein höheres Sein:
der Mensch muß dieses Leben zuerst verlieren, um ein höheres zu
gewinnen. Das ist allerdings eine frappante Ähnlichkeit mit dem
christUchen Ideal, die man jedoch nicht mit Stekel auf den in
Nietzsche „tief und unausrottbar wurzelnden Hang zum Katholi-
zismus" zurückführen darf. Ein Reich eines allerdings nur zeitlichen
Jenseits wird erdichtet, in das der Mensch nur geistig eingehen
kann: denn das Übermenschenideal ist, wie bereits gesagt wurde,
ein uns allen zwar jederzeit ergreifbares, nie aber erreich-
bares Ideal; wir werden immer nach ihm streben, es jedoch nie
erschauen. Das Höchste, das Einzige, was wir können, ist: gleich
Zarathustra alle unsere Erlebnisse segnen und als Segnende
sterben; dafür müssen wir aber zunächst aus Betenden Seg-
nende geworden sein! Nichts ist jedoch verkehrter, als wenn
man aus Nietzsches scharfer Polemik gegen das Christentum
schließt, dieser sein Kampf gelte der Lichtgestalt Jesu, oder Nietzsche
habe das Christentum und die herrschende Moral als eine Art
Sklavenmoral einfach abschaffen wollen; im Gegenteil! Er will es
überbieten, durch eine höhere Lebensordnung ersetzen. Die christ-
liche Weltanschauung nämlich, begründet auf Aristotelischer Grund-
lage und ausgebaut durch Thomas von Aquino, hatte unverrück-
bare Wertbegriffe, die durch Vermittlung der Bibel und der Kirche
von Gott selbst geprägt waren. Meinungsverschiedenheiten konnten
nur über ihre Interpretation herrschen, nicht jedoch über ihre
Geltung. Daher war und ist die ganze christliche Ethik gewisser-
— 321 ~
maßen kosmisch verankert, ein integrierender Bestandteil der gött-
lichen Weltordnung. Im Lichte der beginnenden Aufklärung jedoch
erschien diese Lehre als aeschichtsfälschung und Aberglaube; daher
der Abfall von den alten Idealen zunächst durch die Reformation,
dann der Abfall in der Abkehr vom Dogma durch die Aufklärung,
dann die Abkehr von Gott im Materialismus, schließlich die Abkehr
von der Moral im Zynismus. Aus diesem so entstandenen Chaos
können nur zvsrei Wege zur Kettung führen: die Rückkehr in die
Vergangenheit = die Reaktion, und der Weg in die Zukunft = die
Revolution. Vertreter der ersten Richtung sind Tolstoi und Strind-
berg, der zweiten Goethe und Nietzsche. Der Rückweg ist uns
durch das Lebenswerk eines Kopernikus und Darwin versperrt, und
nur der zweite Weg kann nicht nur Europa, sondern die ganze
Welt zum Siege oder zum Tode führen. So wie seinerzeit Sokrates
und durch den Ausbau seiner Philosophie Piaton die Menschheit
zwischen krassem Aberglauben und wildem Unglauben neuen Zielen
entgegenführten, hat Nietzsche die durch Goethe inaugurierte Re-
ligion der Zukunft auszubauen versucht. Er stellte die Wertfrage
statt auf die bisherigen Pole Lust oder Unlust im Diesseits oder
Jenseits, auf die neuen Pole Entwicklung und Entartung und hat
dadurch den Blick der Menschheit, der bislang auf die Mitwelt be-
schränkt war, auf die Nachwelt fixiert. Und als echter Erbe Goethes
huldigt er dem ästhetischen Ideal nicht des Heiligen, sondern des
Helden; nicht dem des Guten, sondern dem des Edlen; nicht dem
des Mitleidigen, sondern dem des Tapferen; nicht dem des Weich-
herzigen, sondern dem des Großherzigen. Nietzsche sah infolge
der nicht auszumerzenden Antinomie zwischen einem durch das
Hellenische verschönten Germanentum und dem Christentum den
Augenbhck für gekommen, die Maske, die uns orientahsche Fremd-
herrschaft aufgezwungen, abzuwerfen und mit gutem Gewissen sich
zu bekennen zu einem durch das Christentum verklärten Heidentum
der Zukunft, basierend auf dem Schönheitsideal eines Goethe: aus
der Vermählung des Heidentums des Nordens mit dem des Südens
soll eine neue Religion entstehen, deren innerste Seele das Christen-
tum ist und bleiben muß; daher der „Caesar mit der Seele Jesu
Christi". Dieses Gefühl der Lebenssteigerung, das Nietzsche als
das Wertvollste preist, soll sich in seinen sublimsten und feinsten
Ausstrahlungen äußern als innere Harmonie mit sich selbst, als
Grießer, Wagner und Nietzsche. ' 21
— 322 —
liebende Harmonie mit den Menschen, als religiöse Harmonie mit
dem ganzen All. Denn ihr Endziel ist die Schönheit. Wenn Nietzsche,
wie Stekel meint, zufolge seines Hanges zum Katholizismus Christ
war, dann war er es auf eine heimliche, parodische und paradoxale
Art. So war er es zunächst, daß er seine Feinde liebte. Mit einer
Liebe freilich, in der christlicher Selbsthaß und hellenisch wett-
eifernder Neid eine echt Nietzschesche Vermählung eingehen. Nietzsche
ist niemandem dankbarer gewesen, hat sich niemandem mehr hin-
gegeben als denen, die er beleidigte und verfolgte, ein anderer
Saulus. Bertrams Analyse des Zweiseelenmenschen Nietzsche hat
daher etwas furchtbar Erschütterndes an sich, nicht nur in bezug
auf sein Verhältnis zu Wagner, sondern, im konkreten Falle, auf
seine Stellung zu Jesus. Es ist wahr: auch von Jesus konnte
dieser Nietzsche niemals loskommen ! Wenn man aber von Nietzsches
Haß gegen das Christentum, nicht Jesu, sondern des Apostels
Paulus spricht, dann möge man aus diesem seinen Hasse nicht
Waffen gegen Nietzsche selbst schmieden, sondern „die Gestalt
Christi in dem Schatten von Scheu und Ehrfurcht lassen, mit dem
selbst der leidenschaftliche Antichrist den Stifter des von ihm mit
solcher Saulus-Rachsucht verfolgten Christentums umgibt"; denn
ein Nachlaßfragment — es stammt aus der Zeit des „Antichrist"
— lautet: „Christus am Kreuz ist das erhabenste Symbol —
immer noch!" In einem Briefe an Peter Gast heißt es: „Das
Christentum ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich
wirklich kennen gelernt habe!", cf. auch seinen schönen Ausspruch :
„Man muß lieben lernen, gütig sein lernen und dies von Jugend auf."
R. M. Meyer fragt daher mit Recht: „Warum überhören die mo-
ralistischen und die theologischen Kritiker Nietzsches gar so gern
solche Sätze, um nur immer wieder das , Werde hart!' zu wieder-
holen — das doch auch aus Liebe und Güte geboren ist?" Dem-
zufolge hat G. Simmel Nietzsches „Fernstenliebe" sehr zutreffend
als eine „weitsichtige Technik der christlichen Nächsten-
liebe" bezeichnet. (Zum Problem vgl. E. Becker „Der Darwinismus
und die soziale Ethik", p. 66: „Die sozial-ethische Berücksichtigung
von Darwins Lehre führt nicht zu rücksichtslosem Egoismus,
sondern steigert in ungeheurem Maße unsere Verantwortung, fordert
Opferfreudigkeit, Pflichtgefühl und klarschauende Liebe zur Mensch-
heit.") Diese Äußerung ist für uns wahrlich wichtiger als die maß-
-- 323 —
losesten Angriffe und Schmähungen, die Nietzsche gegen Jesus ge-
richtet hat. R. M. Meyer hatte nicht unrecht, wenn er z. B. aus
der Tatsache, daß sich Nietzsche als der Einzige gegen den Ein-
zigen stellte, die Folgerung zog, daß dieser Nietzsche seine frühere
Weltanschauung mit einem Male zweimal verleugnet habe. Werfen
wir in seinen „Willen zur Macht", das leider unvollendete Haupt-
werk seiner Philosophie, einen Blick, so wird uns das Ziel, für
dessen Erreichung er das Christentum bekämpft, sofort klar: in der
Religiosität der Griechen konstatiert Nietzsche anfänglich eine un-
bändige Fülle von Dankbarkeit; daher ist der Hellene eine sehr
vornehme Art Mensch. Später jedoch, als der Pöbel zum Über-
gewicht kam, überwucherte die Furcht auch in der Religion, und
damit war die Grundbedingung für die Entwicklung des Christen-
tums gegeben. Aber als historische Realität darf man das
Christentum nicht mit jener einen Wurzel verwechseln, an welche
es uns mit seinem Namen erinnert; denn die anderen Wurzeln,
aus denen es erwachsen ist, sind bei weitem mächtiger gewesen.
Es ist ein Mißbrauch ohnegleichen, wenn solche Verfallsgebilde und
Mißformen, wie „christliche Kirche", „christUcher Glaube" und
„christliches Leben", sich mit jenem heiligen Namen abzeichnen.
Was hat Christus verneint? Alles das, was heute christlich
heißt. Die ganze christliche Lehre von dem, was geglaubt werden
soll, die ganze christliche „Wahrheit" ist eitel Lug und Trug und
genau das Gegenteil von dem, was den Anfang der christlichen
Bewegung gegeben hat. Christus geht direkt auf den Zustand los,
das „Himmelreich'" im Herzen, er ist rein innerlich. Ebenso
macht er sich nichts aus den sämtlichen groben Formeln im Ver-
kehre mit Gott: er wehrt sich gegen die ganze Büß- und Ver-
söhnungslehre; er zeigt, wie man leben muß, um sich als „ver-
göttlicht" zu fühlen. „Es liegt nichts an Sünde" ist sein Haupt-
urteil. Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens; nichts, was
„über der Erde" ist. Das Reich Gottes ist eine „Sinnesänderung
im einzelnen", etwas, das jederzeit kommt und jederzeit noch
nicht da ist.
Wenn der Verbrecher selbst, der Schacher am Kreuz,
urteilt: „So wie dieser Jesus, ohne Revolte, ohne Feindschaft,
gütig, ergeben leidet und stirbt, so allein ist es das Rechte": hat
er das Evangelium bejaht: und damit ist er im Paradiese...
21*
— 324 —
die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Bedingungen
geknüpft: sie ist die einzige Realität ... das Christentum ist jeden
Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten
Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt
haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch
von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der'
Erlösung, noch vom Glauben: es hat schlechterdings keine Meta-
physik nötig ... es ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt
uns, wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen.
Durch Paulus wurde es zu einer heidnischen Mysterienlehre
umgedreht; er geht vom Mysterienbedürfnis der großen Menge aus:
er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf
aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das
Bluttrinken, die unio mystica mit dem „Opfer". Er sucht die Fort-
existenz als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer
zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er bringt
nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte),
sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben
an eine wundergleiche Verwandlung („Erlösung" durch den Glauben).
Kein Geringerer als Wilamowitz hat den Nachweis erbracht,
daß Paulus nur durch totale Verkennung der unsterblichen platonischen
tpvxri das Dogma von der Auferstehung schuf. Die platonische ipvxrj
ist nach dem „Phädon" die individuelle, unkörperliche und doch un-
sterbliche Menschenseele, die ohne Leib fortlebt und doch derselbe
Mensch bleibt, eine Art dem Tode nicht verfallender Doppelgänger
des Menschen. Als das existierte sie bereits in den Mythen, die
Piaton übernahm, weil sie sich mit seinem Verstände vertrugen.
Schon der hellenische Volksglaube, schon Homer ist dadurch dem
Semitischen überlegen, das vom Körperlichen nicht los kann. Wer
für die semitische Denkart nicht dem Tode verfallen ist, wer also
weiter wirkend gedacht wird, muß entweder samt seinem Körper
in die Unsterblichkeit erhoben oder samt seinem Körper aus dem
Tode auferstanden sein. Wenn Paulus sich bei der ^jjvxt] auch nur
so viel gedacht hätte, wie Piaton bei seinen Lesern voraussetzt, so
würde er den Korinthern nichts von einem psychischen und einem
pneumatischen Leibe geschrieben haben. Weil er von der Seele
nichts weiß, braucht er eine biblische Auferstehung statt der Un-
sterblichkeit und für den Erlösten einen neuen Leib, der „aus Himmel"
— 325 —
(Kor. I, 15, 47) gemacht ist, genau wie das Trugbild der Helene
bei Euripides, das Paris raubte, während die wahre von den Gröttern
entrückt war. Aus dieser paulinischen Verlegenheitsausrede ist das
Dogma von der Auferstehung des Fleisches entstanden, weil die
Menschen ihren Leib wieder haben wollten, nicht ohne auf die Be-
friedigung seiner Genüsse zu hoffen, und schon die ältesten Theoretiker
der Kirche werden zu den abgeschmacktesten Fragen gedrängt, wo
denn bei der allgemeinen Auferstehung die einzelnen Stückchen des
verfaulten Kadavers zu finden sein würden. Das ist kein wirkUcher
Mythos, sondern eine der Not abgerungene Konsequenzmacherei.
Paulus hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt
verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi
eine vollkommen willkürhche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert,
überall das Schwergewicht verlegt, er hat prinzipiell das ursprüng-
liche Christentum annulliert^). Das unverschämte Gerede von der
.Rechtfertigung durch den Glauben" ist nur die Folge davon, daß
die Kirche nicht den Mut noch den Willen hatte, sich zu den
Werken zu bekennen, w^elche Jesus forderte. Die Kirche ist exakt
das, wogegen Jesus gepredigt hat und wogegen er seine Jünger
kämpfen lehrte. Das Christentum ist etwas Grundverschiedenes von
dem geworden, was sein Stifter tat und wollte: es ist die Herauf-
kunft des Pessimismus (während Jesus den Frieden und das Glück
der Lämmer bringen wollte), und zwar der Pessimismus der Schwachen,
der Unterdrückten. Drum soll das Menschheitsideal, das von diesem
Christentum erfunden worden ist, in Grund und Boden zerstört
werden. — „Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch,
die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt
der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein
genug ist, — ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck
*) Hat Nietzsche nicht mit diesen lapidaren Sätzen an ein Problem
gerührt, dessen restlose Lösung heute das Programm des freigesinnten,
geschichtlich denkenden Protestantismus ist, dessen glänzendsten Vertreter
ich in Adolf Harnack erblicke? In seinem Hauptwerke „Das Wesen des
Christentums" scheidet er bekanntlich scharf zwischen der Religion Jesu, die in
Gott nicht sowohl den strengen Richter als den liebenden Vater finden lehrt,
und der Religion der Christengemeinde, die miter Einwirkung hellenistischer
Kulte Jesum zum Gott macht, wie das schon die paulinischen Briefe zeigen.
„Nicht der Sohn, sondern der Vater gehört ins Evangelium, wie Jesus es
verkündigt hat, hinein."
— 326 ■—
der Menschheit." — „Das Christentum ist die höchste aller denk-
baren Korruptionen^)." — Denn mit seiner krankhaften Schönheit
redet es allen Feigheiten und Eitelkeiten müde gewordener Seelen
zu, wie als ob das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf
Mensch geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel,
die höchste "Wünschbarkeit abgebe.
Es liegt mir durchaus ferne, etwa der Nietzscheschen „Moral"
das Wort zu sprechen. Denn darüber sind wir uns ja alle einig,
daß sie auf einer totalen Verkennung der menschlichen Natur beruht.
Der Mensch ist nicht nur individuell, sondern auch sozial ver-
anlagt. Schaltet man eins dieser beiden Elemente aus und erbaut
sein Lehrgebäude der Ethik nur auf dem einen, wie Nietzsche es
tut, so kommt eine unnatürliche Moral heraus, welche eine Ver-
nichtung der Gesellschaft, der Menschheit zur Folge hat. Nun ist
es heute für den Forscher, speziell wenn er einer Nietzsche ent-
gegengesetzten Denkrichtung angehört, etwas leichtes, ihm alle
seine Fehler gewissenhaft nachzurechnen und sie am Ende als
logischen Unsinn zu erweisen oder zu sagen, sein Kampf gegen
Jesum und das Christentum gelte selbstgeschaffenen Phantomen.
Doch damit ist nichts Positives erreicht! So ist z. B. der positive
Gewinn des Nachweises, daß Nietzsche bei seiner Bewertung der
Moral als eines natürlichen Phänomens es vollkommen übersah,
daß dieses „Natürliche" diesseits wie jenseits der Ethik liegen kann,
eine sehr negative Erkenntnis. Denn Moral ist keine Naturtatsache,
sondern ist Heraustreten des Menschen aus der Natur, die an sich
weder moralisch noch unmoralisch, eben damit aber als das Un-
moralische erfaßt und bewertet wird. In diesem Sinne muß jede
1) Jetzt begreifen wir es, warum Chamberlain (cf. p. 240 dieses Buches)
bei der Konstatiening von Nietzsches "Wahnsinn sich auf die „gute Mutter"
des Philosophen beruft, wir verstehen aber auch Seilings Polemik gegen
Nietzsche. Denn Frau Pastor Nietzsche, die fromme alte Frau, der ihr Sohn
wegen so scharfer Ausfälle gegen das Christentum als wahnsinnig erscheinen
mußte, ging schließlich so weit, daß sie es für ihre Pflicht hielt, ja vielleicht
für eine Art Sühne, die ihrem unglücklichen Sohne im Jenseits zugute
kommen möge, seine gottlosen Schriften zu verbrennen und zu vernichten.
Als Frau Elisabeth aus Südamerika heimkehrte, gab es harte Kämpfe, um
die Mutter zu überzeugen, daß das Werk eines Genies nicht der Familie,
sondernder Welt gehöre. (Cf. Gabriele Reuter, „Begegnung mit Fr. Nietzsche"
im Feuilleton der „Neuen Freien Presse" vom 24. Juni 1921.)
— 327 —
Ethik destruktiv und asketisch sein, und eine andere als destruktive
und asketische Sitthchkeit ist eben keine Sitthchkeit! Aber alle
Ethik ist im letzten Grunde eine Machtfrage. Es fragt sich nur,
wer die Macht haben sollte! Indes vergißt man über dem Streben,
Nietzsche zu widerlegen, nur allzugerne die Pflicht, ihm in erster
Linie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hat der trockene Buch-
stabengelehrte eine Ahnung davon, welche tiefe Leidenschaft als
das untrennKche Attribut aller Größe Nietzsche zeitlebens beseelte?
Leidenschaft ist Fanatismus, Fanatismus ist einseitig und Einseitig-
keit ist Beschränktheit. Und gewiß erscheint uns dieser Nietzsche
einseitig und beschränkt. Sind wir ja doch tausendmal reifer und ein-
sichtiger als er und viel zu klug, um etwa an einer Leidenschaft
zu sterben! Wir haben vielmehr gelernt, jedes Ding von zehn
Seiten zu sehen. Wir durchschauen alle Motive und legen jene
Illusionen brach, die zu jedem hochherzigen Handeln nötig wären.
Wir wissen viel von Seele und Leben, aber wir verlieren die naive
Begeisterung, die spontane Opfer- und Todesseligkeit und jenen
„großartigen Mut der Unwissenden", wie Treitschke einst das
nannte, was das Wesen und den Vorzug der Unreife ausmacht. Je
reifer wir werden, um so seltener begeistern wir uns. Um so weniger
Glaubenskraft tragen wir in uns. Aber ist nicht der Glaube
gerade das Starke im Menschen, das einzige, was dieses Leben
noch erträglich macht, selbst auf die Gefahr hin, daß das im Sonnen-
glanze des Glaubens erschaute Ideal vor dem Forum der Vernunft
absolut nicht bestehen kann? Aber diese Kraft des Glaubens, das
ist die Stärke des Propheten. In Nietzsches Seele lebte eine
solche prophetische Gewalt und prophetische Eigenart, daß er mit
einem Blick das All, Weltliches und Außerweltliches umspannte,
aber von einem einzigen Augenpunkte aus. Er glaubt an die objektive
Wahrheit des Bildes, das er sieht, ordnet und wertet danach die
Dinge. Das Heil der Welt erblickt er darin, daß sie sehen und
schätzen lerne wie er, und sucht sie dazu zu bekehren. Eine subjektiv
gewaltige Natur ist er: darum weckt er noch heute starke Sym-
pathien und Antipathien. Was er wirkte, das wirkte er durch den
vollen Einsatz seines objektiven Glaubens. Darum war er auch nicht
„glücklich", was die Menschen so nennen. Aber sein Wort ist, eben
weil es Prophetenwort ist, vieldeutig. Daher kann seine Lehre, ein-
gekleidet in eine berauschend schöne Sprache, noch so tiefen
— 328 --
Enthusiasmus in uns auslösen oder mögen wir uns von seinen Idealen
noch so sehr abgestoßen fühlen: sicher bleibt das eine, daß auch
Nietzsche einer von denen ist, die uns den Weg zur ewigen Wahrheit
weisen: nicht der Nietzsche sei unser Vorbild, der gegen das Mitleid
den Krieg predigt, sondern der Nietzsche, der, solange er lebte,
das Kreuz auf sich nahm und dem nachfolgte, den er theoretisch
überwunden zu haben vermeinte. Praktisch vertrat eben auch er
eine destruktive und asketische Ethik. Das war eben auch seiner
Weisheit letzter Schluß. „Und wenn selbst ein Engel vom Himmel
käme und ein anderes Evangelium verkündete, glaubet ihm nicht!"
Mit Recht sagt daher Joel (1. c. p. 85): „Wer nur je einen Stein
erhoben gegen Nietzsche, der halte ein vor diesem Bilde: er, dessen
Lehre alle Bande der Liebe und Treue zerreißt, eilt freiwiUig herbei,
bereit, sein Leben hinzugeben für das alte Vaterland, und er, dessen
ganze Lehre Krieg verkündet, er pflegt in Liebe Feind wie Freund,
und er, der das Herrentum predigt in stolzester Gewalt, er dient,
er tut die niedrigsten, widrigsten Dienste selbst für gefangene Turkos,
und er, der Todfeind der Nächstenliebe und am meisten des Mitleids,
der Verächter und Preisgeber der Schwachen und Elenden in seiner
Lehre — er übt Krankenpflege Tag und Nacht, opferwillig, bis er
selbst hinsinkt, geschwächt und angesteckt zu schwerer Krank-
keit . . . Nietzsche, ein Opfer des Krieges, und wunderbarer noch :
ein Opfer des Mitleids!**
Also nur im Hinblick auf die früher entwickelten Gesichtspunkte,,
aber nicht, weil er ein Dionysos im Sinne Stekels oder Möbius' zu
sein sich einbildete, bekämpft Nietzsche mit hinreifsender Sprach -
und Gedankengewalt die Überschätzung der Selbstüberwindung und
Askese, weil sie die Tatkraft des Menschen lähmen und ihn innerlich
erst brechen zu müssen glauben, damit er moralisch werde: „Nicht
anders wußten sie ihren Gott zu ehren, als indem sie den Menschen
ans Kreuz schlugen!" Die Selbstüberwindung kann gewiß ein er-
zieherisches Mittel sein, das zwar tüchtig geübt, nie jedoch Selbst-
zweck werden darf. Nun ist es freilich tief im Wesen des Menschen
begründet, daß er die kraftvolle Betätigung der in ihm vorhandenen
Fähigkeiten als lustvoll empfindet. Deshalb fordert Nietzsche, daß.
bei jedem Menschen diese Funktionslust entwickelt und in die
richtigen Bahnen geleitet werde, nicht jedoch, daß man in der
Hemmung oder Aufhebung dieser Lust ein Verdienst erblicke. Nur
— 329 —
deshalb verdammt er alle Askese und Selbstquälerei: denn auszu-
dauern unter dieser Sonne trotz aller Schmerzen und Entsagungen
dieses Lebens, immer nur zu arbeiten am Wohle der Menschheit,
Kunst zu treiben, zu forschen und werktätige Liebe zu verbreiten,
auf daß der dumpfe Naturwille geläutert und durchsonnt werde zum
edelsten Dasein, zu echt menschenwürdiger Gestalt, „zum Caesar
mit der Seele Christi", wahrhch, dieses Gelübde zu leben ist
schwerer — aber auch wirksamer im Weltenschicksale ^) !
Nein, nicht mit Schopenhauer und Wagner geben wir diese
ganze Welt in Kauf, um auf Grund ihrer eklen Existenz ein phan-
tastisches Weltmysterium für erwiesen zu nehmen, das uns jede
Schaffensfreude in Leben und Liebe nehmen muß und dafür nichts
zurückgibt als eine im Innersten wesenlose Phantasmagorie. Nur
der Übermensch, in dem der Mensch „aus der Katakombenluft des
Christentums ans Tageslicht emporsteigt", kann uns aus unserem
„dogmatischen Schlummer" wecken und mahnt, unsere intellektuellen
Werte und Güter einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Nur
das Echte, ewig Menschliche wird diese Feuerprobe bestehen!
Aber umgekehrt haben in diesem Weltbilde Nietzsches Zügel-
losigkeit und Ungebundenheit gar kein Recht, sich auf ihn zu be-
rufen. Wie tief müßte er, der Herrhche, enttäuscht sein, wenn er
heute die Summe seines Lebenswerkes ziehen könnte, wenn er zu
erkennen vermöchte, wie er, der der Philosoph der geistig Starken sein
wollte, zum Schutzheiligen der morahsch Schwachen geworden ist!
Gar nicht zu reden von jenen unreifen Jungen, die aus Nietzsches
Werken das Recht zum Ausleben der Persönhchkeit ableiten ! Wie
^) Es sei bei dieser Gelegenheit an Pfarrer Rittelmeyer erinnert, der
in seinem ausgezeichneten Buche „Fr. Nietzsche und die Religion*' der Ver-
mutung Ausdruck gibt, daß Nietzsche die Religion viel zu sehr in der Form
der stillen Ergebung und des demütigen Gott-walten-lassens kennen gelernt
hat und es überhaupt als eine Schwäche bezeichnet, die die Verkündigung
der Religion vielfach an sich trägt, daß zu viel von Trost geredet wird und
zu wenig von freudigem Heldenmut: „Hierin kann und wird es anders
werden — und gerade Nietzsche wird dazu helfen." Und ich selbst kann nur
aufrichtig gestehen, daß die Loktüre von Kalthoffs „Zarathustrapredigten"
und Jathos „Der ewig kommende Gott", Werke, die auf jeder Seite Nietzsches
Geist atmen, auf mich stets befreiend gewirkt hat, daß Nietzsche, richtig,
verstanden und interpretiert, unser religiöses Fühlen und Denken nur be-
reichern, läutern mid vertiefen kann: denn „im Anfang war die Tat!"
— 330 —
schmerzlich müßte er es empfinden, wenn sein Gesetz der geistigen
Herrenrechte zum Deckmantel niederer Instinkte, seih Traum des
höheren Ichmenschentums zum Schlagwort des persönlichsten und
kleinhchsten Egoismus verdreht worden ist: der Unverstand nervöser
Frauen und die Zuchtlosigkeit verweichlichter Männer benützen
einige Brocken Nietzsches als glänzenden Mantel für ihre sozialen
und individuellen Ausschreitungen und stellen ihr Unvermögen zur
Selbstbeschränkung, ihr Versagen aller höchsten Instinkte — der
des Kampfes gegen sich selbst — noch als Ergebnis besonderer
psychischer Kraftwirkungen hin! Sie haben eben sich selbst noch
nicht gesucht, da fanden sie ihn! Er selbst ruft ihnen zu: „Nun
heiße ich euch, mich verlieren und euch finden!" — „Ich
suchte nach großen Menschen, ich fand immer nur die Affen ihres
Ideals^)!'' Ein moderner Dichter hat für diese Tatsache folgende
zutreffenden, launigen Verse geschrieben:
„Er blickte zu tief. Die Götter schraken zu Tode.
Sie haben rächend den klarsten Geist umnachtet.
Sie kannten die Jünger nicht, die ihn brachten in Mode:
Sonst hätten sie ihn genug gestraft erachtet!"
Ach, wo sich die Ewigkeit ihre Tempel baut, baut die Vergäng-
lichkeit eine Kapelle daneben! Der Weg, der zum Übermenschen
führt, ist nicht so leicht zu begehen, wie es etwa einige Hitzköpfe
1) Während Richard Dehmel, einer der besten Jünger Nietzsches, aus
Nietzsches zu starker Überschätzung der Bedeutung der starken Persönlich-
keit zuungunsten der Masse nach einem Modus sucht, um die gewaltigen
Kräfte überragender Menschen dem ganzen Volke und damit der Mensch-
heit dienstbar zu machen, versuchte Hermann Conradi mit unzulänglichen
Mitteln dasselbe: die Vereinigung des Ai'istokratismus Nietzschescher
Färbung mit proletarischen Formen. Dehmel fand diesen Weg von der
Einzelpersönlichkeit zum Volke, ohne seine machtvolle Persönlichkeit dar-
über zu vergessen. In seinem „Bergpsalm" läßt er den einsamen Wanderer
mit sich selbst Zwiesprache halten. Zu seinen Füßen liegt die Weltstadt
mit ihren Türmen, Häusern, Fabriken. Millionen Menschen schreien in
ihrem Seelenhunger „gell nach Brot". Da hört auch der Dichter die Stimme
der Pflicht in seinem Herzen, aus Mitleid und Liebe zu den Vielen wird die
Tat geboren:
„Den Kelch des Schweißes seh ich geistverklärt, ^
das Kreuz der Mühsal blütenlaubumflattert!
Was lachst du Sturm? — Im Rohr der Nebel gärt,
die Kiefer knarrt und ächzt, mein Mantel knattert:
— 331 —
sich einbilden; denn Nietzsche stellt seine Forderungen: „Bist du
eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein
aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, daß sie
sich um dich drehen? Ach, es gibt so viel Lüsternheit nach Höhe!
Es gibt so viele Krämpfe der Ehrgeizigen! Zeige mir, daß du
keiner der Lüsternen und Ehrgeizigen bist! Ach, es gibt so viele
große Gedanken, die tun nicht mehr als ein Blasebalg: sie blasen
auf und machen leerer. Frei nennst du dich? Deinen herrschenden
Gedanken will ich hören und nicht, daß du einem Joch entronnen
bist. Bist du ein solcher, der einem Joche entrinnen darf? Es gibt
manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit
wegwarf!" Und ein Ausspruch, den nur zu viele Bewunderer und Nach*
ahmer des Propheten vergessen zu haben scheinen, lautet: „Ich bin ein
Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure
Brücke aber bin ich nicht!" — „Der vornehme Mensch ehrt sich
in den Mächtigen, auch den, welcher Macht über sich selbst hat,
der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge
und Härte gegen sich selbst übt und Ehrerbietung vor
allem Strengen und Harten hat." Und seine Nachfolger, das
heißt alle jene, die „modern" sein wollen und zu Nietzsche beten
als dem so oft ungekannten Gotte, seien an diese seine Worte er-
innert: „Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, wünsche
ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung;
ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des
Empor aus deinem Rausch! Mitleid glüh ab!
Laß dir die Kraft nicht von Gefühlen beugen!
Hinab! Laß deine Sehnsucht Taten zeugen!
Empor, Gehirn! Hinab, Herz! Auf! Hinab!"
Conradi z. B. bleibt dagegen auf halbem Wege stehen und wird zu jenem
so unerfreuhchen Typus der Nietzschejünger, die sich in orgiastischer, zügel-
loser Erotik ausleben. Ein sexuelles Übermenschentum hat indes Nietzsche
niemals gepredigt. Aber vielen jungen Leuten ist sein Werk zum Ver-
hängnis geworden: sie haben die vielen unzweideutigen Aussprüche, die
im Werk, in der Leistung alles, im Genuß gar nichts sehen, nicht
beherzigt: „Wollust ist nur dem Welken ein süßlich Gift, für die Löwen —
Willigen aber — der ehrfürchtig geschonte Wein der Weine!" — „Sie kennen
mich nicht und meine edelsten Worte wissen sie nicht. Sie ehren mich
nicht mit ihren Ruhmreden, denn sie wissen nicht, wo ich allein geehrt
werden kann. Ich war ein Mensch und sie haben mich zu einem falschen
Götzen gemacht!"
— 882 —
Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen niclit unbekannt
bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige
wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht
— daß er standhält!"
Wenn jedoch jemand von uns, denen die Begriffe Moral und
Vergutmütigung nahezu identisch sind, glaubt, daß durch eine
systematische Moralisierung oder Vergutmütigung des Menschen-
geschlechtes dieses an persönlicher Kraft und Vollkommenheit zu-
nehmen müßte, so ist eine solche Ansicht mit Nietzsche, der in
einem solchen Verfahren Verminderung unseref Vitalität erbhckt,
entschieden zu verneinen. Denn die Menschheit von heute ist ver-
letzlicher, rücksichtenreicher, mitleidiger, selbstflüchtiger, unpersön-
licher denn je: der Instinkt des Herdentieres Mensch, den das
Griechenvolk in seiner glückUchsten Epoche so siegreich überwunden
hat, droht heute Herr zu werden über die immer seltener werdenden
Instinkte eines souverän veranlagten Menschen und seine Bedeutung
für die Kulturaufgaben eines Volkes, ja der gesamten Menschheit.
Denn Nietzsches Philosophie basiert auf dem Grundsatz, daß es
einen gewaltigen Unterschied bedeute, das Leben als Problem
oder als ein bloßes Spiel zu absolvieren. Daher der billige Liber-
tinismus unserer Tage, der dem kategorischen Imperativ der Pflicht
den Optativ des Herzens und der Sinne entgegengestellt, mit
Nietzsches ethischem Individuahsmus sich durchaus nicht befreunden
kann und mag. Mit Recht konnte daher Peter Gast Nietzsche als
den Aristokraten durch und durch bezeichnen und sagen, Nietzsche
würde, in ein Zeitalter hineingeboren, das wir kh che Herren gehabt
hätte, sofort zu dem geworden sein, der er einst werden wollte:
ein Mann der Tat, ein Ordensstifter, ein Kolonisator. Eine neue,
heroische Menschenklasse wollte er, einen neuen Adel, der sein
geistiges Ideal in der höchsten Intensität seiner Willens- und Geistes-
betätigung sucht, den vornehmen Menschen mit dem Willen zur
Selbstverantworthchkeit, der Ehrfurcht vor sich selbst, der Macht
über sich und sein Geschick. Die höchste Entfaltung des Individuums
bedeutet eben die Überwältigung des „Menschen", aller bisherigen
Moral. Der Tod ist seiner Zufälhgkeit entkleidet. Am Schaffen
selbst stirbt der Schaffende, der Schöpfer aus Güte und Weisheit.
Diesen Zusammenhang beleuchtet ein Nachlaßfragment zum „Zara-
thustra", das, da es nur in die große Ausgabe von Nietzsches
— 333 —
Werken aufgenommen wurde und deshalb zo ziemlich unbekannt
ist; hier wörtlich zitiert sei: „Zarathustra vor dem Könige. Es ist
nicht mehr die Zeit für Könige: die Völker sind es nicht mehr
wert, Könige zu haben. Du hast es gesagt, König: das Bild, das
vor dem Volke hergeht, das Bild, an dem sie alle zu Bildnern
werden: das Bild soll dem Volke der König sein. Vernichten, ver-
nichten sollst du, 0 König, die Menschen, vor denen kein Bild her-
läuft: das sind aller Menschheit schlimmste Feinde! Und sind die
Könige selber solche, so vernichte, o König, die Könige, so du es
vermagst!" „Meine Richter und Fürsprecher des Rechts
sind übereingekommen, einen schädlichen Menschen zu vernichten;
sie fragen mich, ob ich dem Rechte seinen Lauf lassen wolle oder
die Gnade vor dem Rechte." — „Was ist das Schwerere zu wählen
für einen König, die Gnade oder das Recht?" — „Das Recht", ant-
wortete der König; denn er war milden Sinnes. — „So wähle das
Recht und laß die Gnade den Gewaltmenschen als ihre eigene
Überwältigung." — „Ich erkenne Zarathustra," sagte der König
mit Lächeln: „wer verstünde wohl gleich Zarathustra auf eine
stolze Weise sich zu erniedrigen? Aber das, was du aufhobst, war
ein Todesurteil." — Und er las langsam daraus und mit halber
Stimme, wie als ob er mit sich allein sei „des Todes schuldig —
Zarathustra, des Volkes Verführer." — „Töte ihn, wenn du die
Macht hast" — rief Zarathustra auf eine furchtbare Weise abermals ;
und seine Bhcke durchbohrten die Gedanken des Königs. Und der
König trat nachsinnend einige Schritte zurück, bis hinein in die
Nische des Fensters; er sprach kein Wort und sah auch Zarathustra
nicht an. EndUch wandte er sich zum Fenster. Als er aber zum
Fenster hinausbhckte, da sah er etwas, darob die Farbe seines An-
gesichtes sich verwandelte. „Zarathustra," sagte er mit der Höflich-
keit eines Königs, „vergib, daß ich dir nicht gleich antwortete.
Du gabst mir einen Rat: und wahrhaftig, ich hörte gerne schon
auf ihn! — Aber er kommt zu spät!" — Mit diesen Worten zerriß
er das Pergament und warf es auf den Boden. Schweigend gingen
sie voneinander. Was der König aber von seinem Fenster aus ge-
sehen hatte, das war das Volk: das Volk wartete auf Zara-
thustra." Wen erinnert nicht dieses Fragment an Piaton, dessen
Traum von einer herrschenden Aristokratie auf geistigem Gebiete
nachmals Nietzsches Lieblingsgedanke geworden ist? In der „Politeia"
— 384 —
lesen wir: „Nicht früher wird es einen Stillstand der Übel für die
Staaten, ja ich meine für das ganze Menschengeschlecht geben,
bis die politische Macht und die Philosophie in eins zusammen-
fallen, bis entweder die Philosophen Könige werden oder die jetzt
sogenannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und nicht bloß ober-
flächlich zu philosophieren beginnen. Erst dann kann unser Staat
erwachsen und das Licht der Sonne schauen."
Und doch wird uns dieser Nietzsche, der solches lehrte, über-
einstimmend als einer der rücksichtsvollsten und zartfühlendsten
Menschen im persönlichen Verkehr geschildert, weshalb man mit Kecht
von ihm sagen kann : er selbst war durchaus nicht jener Übermensch,
den er lehrte und ersehnte, der reue- und gewissenlos über die zer-
trümmerten Existenzen der Mühsehgen und Beladenen, der Schwachen
und Kranken hinwegschreitet. Man kann aber aus dieser Tatsache
erkennen, ein wie heikles Problem es ist, aus der Lehre eines Philo-
sophen Rückschlüsse auf dessen persönhches Leben zu ziehen. Als
Arzt und Psychologe hätte es daher Stekel nicht verabsäumen
dürfen, die Frage näher zu untersuchen, ob nicht gerade der Wert
kraftvoller Gesundheit und Lebensfreude, die Nietzsche, dem Leidenden
versagt waren und ihn nur in Stunden berauschender Produktion
beglückten, von ihm so tief empfunden wurde, daß nicht nur sein
höchstes Ideal, sondern überhaupt seine Philosophie eine aus-
gesprochene Färbung nach dieser Seite hin erhielt? Wer es ihm
etwa verübelt, daß er einen Cesare Borgia und Napoleon verherrlicht
und aus dieser Tatsache den Schluß ableitet, daß derjenige, der
einen Giftmischer und Gewaltmenschen preist, selber nicht viel
besser gewesen sein muß als seine „Ideale", der befindet sich in
einem gewaltigen Irrtume und sei an folgendes erinnert: 1. Cesare
Borgia und Napoleon stehen jenseits von Gut und Böse. Niemals
kam es ihnen in den Sinn, die Menschheit als Ganzes zu heben,
harte Selbstzucht zu üben, Opfer zu bringen für das in der Ferne
winkende Menschheitsideal, ja sich selbst dafür zu opfern ; 2. Nietzsche
hat sie nur als Ästhet gesehen; und das will heißen: bei Borgia
sah er nur die Kraft der ungezügelten Leidenschaft, die sich lachend
über alle Schranken hinwegsetzte; in Napoleon sah er nur den
Imperator, der ohne Gewissensbedenken alle anderen, nur sich selbst
nicht opferte, der mit dröhnenden Schritten durch Europa dahin-
khrrte und mit Kronen und Krönchen souverän spielte. Nietzsche
— 335 —
hat sich in seiner vorwiegend ästhetischen Beanlagung zu einem
Lobhed auf diese Männer von der furchtbaren Pracht ihrer Er-
scheinung begeistern lassen, wie sich etwa Dichter von einem in
seiner elementaren Kraft alles zerpeitschenden und zerschmetternden
Gewittersturm zu einem Hymnus aufs Gewitter begeistern. Nietzsche
selbst war, es sei nochmals betont, ein guter, um in seiner Sprache
zu reden, ein „vornehmer" Mensch. Sein Selbstbewußtsein war
allerdings stark entwickelt und entwickelte sich in der Einsamkeit
seines Daseins immer mehr, je weniger sein gleichstarker Ehrgeiz
befriedigt wurde. Von ihm stammt das schöne Wort: „Alles Il-
legitime ist mir verhaßt!" Bescheiden in seinen Ansprüchen an
das Leben, wohnte er oft genug so einfach, daß mancher seiner
Besucher über diese spartanische Bedürfnislosigkeit erstaunt war,
er nahm herzlichen Anteil an dem Geschick der kleinen Leute, bei
denen er wohnte, nahm regen Anteil am Geschick seiner Freunde,
war von äußerster Höflichkeit im Verkehr mit seinen Mitmenschen,
besonders mit Damen, die seinen Umgang geradezu gesucht haben,
er übte Rücksichten. „Eben darum konnte und durfte er", sagt
Th. Lessing (1. c. p. 433), „unter der Qual unveräußerhcher Hemmung
eine Ethik zügelloser Freiheit predigen, von deren eiserner Strenge
und unvergleichlichen seeHschen Höhe diejenigen keine Ahnung
haben, die sie uns als Emanzipation des Sichgehenlassens zu dis-
kreditieren versuchten') . . . daher sind die Kämpfe, die Nietzsche
kämpfte, die unseren. Die Kontraste, denen er erlag, der Gegensatz
ästhetisch-rehgiöser und sozial-ethischer Impulse ist der Konflikt
unserer Zeit, und in irgendeiner Form müssen wir alle durch ihn
hindurch. Kein Philosoph kann uns dabei besserer Halt werden, ein
besserer Schutz gegen alles Zuchtlose und Schwächliche, alles Halbe
und Gemeine! Keiner freilich macht uns das Leben so schwer!
Keiner fordert gleich strenge Auffassung und Führung unseres
Lebens. Denn für ihn ist das individuelle Leben nur die harte
Schule der Selbstbestimmung und Selbstkultur. Strebe ich denn
nach meinem Glück? Ich strebe nach meinem Werk! So spricht
eine neue Pflichtenlehre, deren Blickpunkt zwar ein anderer ge-
worden ist, die aber an Strenge und Erhabenheit den alten Lebens-
lehren nicht nachsteht. Wer freiüch kann wissen, zu welchem
1) Cf. p. 221/22.
— 336 —
Mißverständnis auch die beste Wahrheit im Munde derer wird,
die für sie nicht reif sind oder die für Interesse und BequemHch-
keit nur einen Deckmantel suchen? Auch Wissenschaft ist Kunst!
Sie steigt aus unserem Blut, aus unserem Leben. Sie ist kein
passives Ereignis, sondern menschliche Wirkung und befreiende Tat!
Somit wissen wir nicht, was in letzter Objektivität wahr oder
falsch sei, denn alles bestimmt die Stunde, das Zeitalter und die
Umgebung, das Gefühl und die Wahrheit eines jeden Augenblicks,
und es bleibt uns nichts übrig als blind zu vertrauen, daß
irgendwo und in irgendwem alles und jedes zu seiner Reife komm.e !
Wir dürfen aber nicht den Schmied verantwortlich machen, wenn
sein Meisterstück irgendwo Schäden stiftet. Käme es in eines
Kindes Hände, dann werden sie sich zerschneiden. Fällt es in die
Hand eines Verzweifelten, dann kann er das Schwert gegen sich
selber kehren. Aber der Tapfere wird mit ihm seine Feinde bestehen."
In diesem Sinne konnte daher Jerusalem sagen, die Philosophie
Nietzsches sei eine „reiche Rüstkammer, aus der kommende Ge-
schlechter sich die Waffen holen werden gegen unberechtigte Unter-
drückung der freien Persönhchkeit im Menschen", daß „die lautere
Aufrichtigkeit seiner Gesinnung zweifellos zu einem sehr wertvollen
Kulturelemente" sich entwickeln werde. Zum Schlüsse endlich sei
es mir gestattet, die schönen W^orte R. M. Meyers zu zitieren: „Daß
ein Schwäcnling sich für die eigene Unkraft durch ein Schwelgen in
geträumten Heraklestaten entschädigt, kommt gewiß vor, und
Nietzsche selbst hat auf solche Erscheinungen hingewiesen — man
hat diese Sprüche weidhch gegen ihn ausgenützt ! . . . Wenn ich
einen Mann sehe, der mit unerschütterlicher Energie, durch alle
Krankheiten, Versuchungen, Ablenkungen unbeirrt, ein großes Ziel
im Auge behält; wenn ich einen Mann sehe, der fast ohne Unter-
stützung (außer durch den trefflichen Peter Gast), mit kranken
Augen und schmerzendem Kopf zwanzig große Werke vollendet;
wenn ich einen Mann sehe, der auf sein größtes Lebensglück, die
Freundschaft mit Wagner, unbedenklich verzichtet, weil er es seiner
Wahrheitshebe und seiner Entwicklung schuldig zu sein glaubt —
so genügen mir diese Zeugnisse für Nietzsches ungewöhnliche
Willenskraft, mag er sich auch einmal in irgendeiner Nebensache
haben überstimmen lassen. Und wenn eine Natur wie diese sich
zuletzt in Vorstellungen des Größenwahns hineinsteigert, so sehe ich
— 337 —
auch hierin eben nur die Steigerung und Überspannung seines
starken Willens; etwa wie bei Napoleons letztem Feldzug. Nein,
die Kraftberauschung eines Schwächlings sieht anders aus! Der
träumt sich in aller BequemUchkeit zum Sultan und denkt nicht
daran, auf den Willen der anderen zu wirken ! . . . Nietzsche ist nicht
der Schwächling, zu dem ihn eine an Kraft verzagende Nation um-
dichten will!"
Wie jedes starke, die Erkenntnis wie den Mut der Kultur-
arbeit gleichmäßig umfassende Weltbild ruht auch das Weltbild
Nietzsches auf dem Unterbau freier Wahrheitsforschung. Aber es
mündet ebenso wie das Weltbild Piatons oder Schopenhauers im
Rehgiösen, in das hinein der Denker gleichsam die Konsequenz
seiner Ideale projiziert. Denn das Religiöse kann nie dauernd auf
das Ideal der unbedingten Hingabe an die Wahrheitssuche um jeden
Preis verzichten. Heilig muß ihm auch die Arbeit an der Wahrheit
sein, die aus diesem Ideal hervorgeht: die Forschung und ihr Er-
kenntnisgewinn. Das sollten wir bei Nietzsche nie vergessen,
speziell nicht bei seiner Verherrlichung des Dionysos. Aus dem
eigenen inneren Erlebnis, aus Intuition, das ist eigentlich aus
innerem Schauen, stammt, was Nietzsche da verkündet, und auch
sein igag führt über alles Intellektuelle hinaus, eben zur Intuition,
zur dauernden Befriedigung im reinen Anschauen. Frau Andreas-
Salomö hat daher mit ihrer Behauptung vollkommen recht, daß
vorzüglich Nietzsches letzte Werke ein klarer Beweis dafür seien?
bis zu welchem Grade es der reUgiöse Grundtrieb war, der Nietzsches
Wesen und Erkennen stets beherrschte. Aber sie vergaß ganz, daß
selbst die abstrakteste, strengste Denktätigkeit in der Inbrunst eines
Gefühlslebens ihre Ergänzung findet, die wir religiös nennen müssen,
wenn sie weiter behauptet, allen Phasen von Nietzsches Denken
entsprächen ebenso viele Gottsurrogate, die ihm helfen sollen, ein
mystisches Gottideal außer seiner selbst entbehren zu können. Mit
einer Selbsttäuschung ohnegleichen löse Nietzsche den tragischen
Konflikt seines Lebens, des Gottes zu bedürfen und dennoch den
Gott leugnen zu müssen. Zuerst gestalte er mit sehnsuchtstrunkener
Phantasie das Übermenschenideal und dann, um sich vor sich selbst
zu retten, suche er mit einem ungeheuren Sprung sich mit dem.
selben zu identifizieren. So werde er zuletzt zu einer Doppelgestalt:
halb kranker, leidender Mensch, halb erlöster, lachender Übermensch.
Grieß er, Wagner und Nietzsche. 22
— 338 —
Das eine sei er als Geschöpf, das andere als Schöpfer, das eine als
WirkHchkeit, das andere als mystisch gedachte Überwirklichkeit.
IndeS; was Goethe in die herrlichen Verse gekleidet hat:
„In unseres Busens Reine lebt ein Streben,
sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
enträtselnd sich dem ewig Unbenannten.
Wir heißen's fromm sein!"
das traf auch bei Nietzsche ein: dem Unbekannten, tief in seine Seele
Greifenden, sein Leben wie ein Sturm Durchschweifenden, ihm Ver-
wandten, den er schon als Jüngling sehnend gesucht, als reifer
Mann hatte er ihn gefunden und ward sein Diener: mit der For-
mulierung seines Übermenschenideals hatte Nietzsche die Eudämonie
erreicht und der Gewinn dieses Augenblicks war unverlierbar: indem
er es erkannte, erfüllte sich seines Herzens Sehnsucht. Das Göttliche
wohnt jenseits der Grenzen, die der Wissenschaft gesteckt sind;
aber sein Licht ist es, an dessen Abglanz wir das Leben haben;
im farbigen Abglanze erschien dieses Licht Nietzsche als der Über-
mensch. Das war mehr wie eine mystische Verzückung : das war das
plötzliche Erfassen einer Wahrheit, die für ihn ein unverlierbarer Besitz
ward. Aber der Dichter in ihm ist es, dem wir uns begeistert an-
vertrauen, wenn er uns einen Vorgeschmack von der Seligkeit gibt,
die ihm in der wunschlosen Erfüllung alles irdischen und über-
irdischen Strebens als höchstes Ziel, als Vollendung vorschwebt').
1) M. E. hat daher Erwin Rohde gelegentlich einer Kritik über „Jenseits
von Gut und Böse" Nietzsche sehr richtig beurteilt : „ Was ich für Nietzsches
spätere Jahre fürchte? Er wird zu Kreuze kriechen aus Ekel an allem und
wegen seiner Veneration für alles Vornehme, die ihm immer im Blute steckte,
nun aber eine recht unangenehme theoretische Verherrlichung bekommen
hat." In diesem Zusammenhange verdient es als von Interesse vermerkt
zu werden, was mir einige katholische Theologen versicherten: sie seien der
festen Überzeugung, daß Nietzsche, wäre er nicht so frühzeitig in geistige
Umnachtung verfallen, sicheriich zum KathoUzismus übergetreten wäre. Ob
als ein Opfer des Wagnerschen „Parsifal"? Tatsache ist, daß sich Mietzsche
zu dem kühlen, ja kalten evangehschen zum äußerlich pompösen, mystischen
Kultus der katholischen Kirche sehr hingezogen gefühlt hat. Cf. seine
Äußerung an Frau Salomö: „Wenn alle Kombinationen erschöpft wären,
müßte man dann nicht wieder beim Glauben anlangen, vielleicht bei einem
katholischen Glauben?" Diesen Zusammenhang, daß sich Nietzsche,
wäre ihm ein längeres Leben beschieden gewesen, wenn nicht dem Katho-
— 339 —
Aber freilich, „die letzten Züge im Bilde dieses Nietzsche wird
man unphilosophischen und unproduktiven Gemütern schwer klar-
machen können ; um ihnen eine Ahnung davon zu geben, muß man
sie bitten, was sie etwa bei ihren Eltern oder einer Geliebten gegen-
über empfinden, unter Gegenstandswechsel sich auf die letzten
Daseinszusammenhänge übertragen zu denken". Ich möchte diesen
Ausspruch Prof. Richters noch steigern, indem ich sage: Selbst der
kritischeste Verstand, unsere vielgerühmte bessere Vernunft wird
diesen Nietzsche nie voll und ganz begreifen können; eher noch
unser Gefühl. In diese Tiefen seines Wesens vermag selbst das
hellste Licht der Erkenntnis nie hinabzuleuchten. Heraklit hat dafür
herrliche Worte gefunden: „'^vxfjg ndgata Icjv ovx av i^svQOLO Ttäeav
iTtLTtoQsvofisvog öööv ovTCj ßa^vv Xoyov ixsi^ . . . der Seele Grenzen
kannst du nicht ausflnden, und ob du jegliche Straße abschrittest;
so tiefen Grund hat sie." (Frg. 45, Diels.) Gewiß, der religiöse
Genius war in Nietzsche immer lebendig, am lebendigsten in der
letzten Periode seines Schaffens. Frau Salomes vorher zitierter Er-
klärungsversuch, der ja an und für sich psychologisch begründet
wäre, erscheint mir doch nur als ein unzureichender Versuch, eben
dieses Unzulängliche in Nietzsches Wesen — in der „Geburt der
Tragödie" nannte er es selbst die tragische Erkenntnis — zu
einem in jeder Phase seiner Entwicklung auf Grund psychologischer
Gesetze begreiflichen Ereignisse zu machen. Gar nicht zu reden von
Stekel, der behauptet, es habe sich bei Nietzsche ein Abfall vom
Atheismus, eine Regression zum Glauben der Kindheit vorbereitet,
sei jedoch nicht perfekt geworden! Ein solcher Nietzsche wäre ein
krankhaft veranlagter Schwärmer, dessen Größe eben nur eine
selbsterdichtete Scheingröße wäre! Es ist leicht, aus der Tatsache,
daß in Nietzsches Übermenschenideal alle labyrinthischen sinnlichen
Gefühle eine Heiligung zugleich und eine Rechtfertigung erfuhren
— sie brauchten nicht als böse Fleischeslust durch Askese aus-
getrieben zu werden, sondern wurden dem Dienste des erkannten
lizismus, so doch dem Christentume wieder zugewendet hätte, haben Gallwitz
in seinem Buche über Nietzsche („Fr. Nietzsche, ein Lebensbild"), A. Bonus
in einer Besprechung in den „Preußischen Jahrbüchern", auch Th. Ziegler
und A. Riehl näher beleuchtet und einen solchen Ausgang für wahr-
scheinlich oder doch für wohl möglich erklärt. Denn Nietzsche sagte selbst:
„Wer gut verfolgt, lernt leicht folgen; ist er doch einmal hinterher!"
22*
— 340 —
Göttlichen in Selbsterziehung und Seelenführung eingeordnet — die
Behauptung Stekels, Nietzsche selbst sei Asket gewesen, bewiesen
zu sehen. Aber für die Bedeutung des uns durch ihn erschlossenen
Ideals kommt es letzten Endes sehr wenig darauf an, ob sein
Schöpfer in punkto Alkohol, Nikotin und Weiberliebe abstinent
gelebt hat oder nicht. Denn auch dieses Ideal, das sich mit dem
Jesu nahezu deckt'), ist, während wir Menschen zwar auch sind,
das heißt aber mit der Einschränkung, daß wir nur das Bewußtsein
unseres kleinen Lebens „Sein" nennen. Und zu der Reinheit und
Vollkommenheit des Übermenschenideals, das in der Sphäre der
allgütigen und allverknüpfenden Welt der platonischen Ideen leuchtet,
1) Sehr richtig bemerkit daher G. Sinimel (1. c. p. 200 sq.), daß Nietz-
sches einseitige Werttheorie aiieh deshalb ein ungeheures Mißverständnis ist,
weil er keine spezifisch transzendente, sondern eine auf Leben, Geschichte
und Moral aufgebaute Natur war. Darum blieb es ihm verborgen, daß ein
wesentliches Maß seiner und der christlichen Wertungen unter dieselben
Oberbegriffe gehören, wenn man nur die transzendenten Beziehungen und
Glaubensvorstellungen des Christentums dazunimmt und es nicht, wie
Nietzsches Blickrichtung es freilich mit sich brachte, auf seine dem Irdischen
zugewandten Rangierungen beschränkt. Denn beiden kommt es auf die
Seinsbeschaffenheiten des Individuums an, die für Nietzsche im
Begriff des Lebens ihre Kulmination gewinnen, im Christentum aber als
Elemente einer höheren, göttlichen Ordnung, innerhalb deren sie die eigen-
tümliche Doppelstellung als Endwerte und als Glieder eines über sie hinweg-
greifenden Ganzen besitzen. Nietzsche übersieht im Christentum völlig diese
Zuspitzung zu dem Eigenwerte der Seele, indem er das christliche Wert-
gefühl ausschließlich in den Altruismus verlegt. Nicht auf den, dem gegeben
wird, sondern auf den, der gibt, nicht auf den, für den gelebt wird, sondern
auf den,' der lebt, kommt es Jesus an. Und so legen denn Nietzsche wie
Jesus allen Wert der Seele in ihre rein innerlichen Qualitäten. Sein
Haß gegen das Christentum richtet sich prinzipiell gegen den Gedanken der
Gleichheit vor Gott, als dessen Konsequenz erst man die Wendung der
praktischen Interessen zu den geistig Armen, den Mittelmäßigen, den Zukurz-
gekommenen ansehen kann. Daß die Seele jedes armen Schachers, jedes
kleinen Lumpen und Dummkopfes dieselben metaphysischen Werte haben
soll wie die Michelangelos und Beethovens — das ist der Scheidepunkt der
Weltanschauungen: auf der einen Seite beruht der Wert des Menschentums
auf der Gleichheit seiner Exemplare — sei es ihrer Wirklichkeit, sei es
dem Ideal und Sollen nach — , für Nietzsche dagegen darauf, daß es Höhe-
punkte der Menschheit gibt, daß ihre innere Distanzierung dem einzelnen
einen Aufschwung und ein Entwicklungsmaß über alles sonst bestehende
Niveau hinaus gestattet. Nicht mit Unrecht nannte ihn daher Strindberg im
„Inferno" „die vor der Zeit verbrauchte und ins Feuer geworfene Zuchtrute".
— 341 —
genau so unerreichbar, unberührbar, unwesenhaft wie jene, führt
uns nur der Glaube, derselbe Glaube, der den Gläubigen ins Himmel-
reich, ins Nirwana führt.
Wenn jedoch Nietzsche in der Tat ein Asket im Sinne der
christUchen Lehre war, bedingt durch ein Leben, das eine ununter-
brochene Kette von Leiden darstellt, die ihn jedoch in seinem rast-
losen Schaffen durchaus nicht behinderten ; wenn sein trauriges Los,
von Generation auf Generation verpflanzt und wachsend, genügt
hätte, daß eine ganze Menschheit an ihm zerscheitere, dann sollten
wir um so mehr Achtung haben vor diesem angebhchen Dekadenten,
der durch die Aussicht auf künftige Siege seine Lebensfreude so
weit zu steigern, sein Lebensgefühl so ungeheuerHch zu vertiefen
vermocht hat, daß er uns zurufen konnte: „War das das Leben?
Um Zarathustras willen, wohlan ! Noch einmal!" Und wenn er selbst
die Lehre der ewigen Wiederkunft gelehrt hat, durch die er theo-
retisch und praktisch seinem Übermenschenideal eher mehr Schaden
als Nutzen zugefügt hat, dann muß man eben auch diese sonderbare
Lehre in seinem Sinne sich erklären^); denn auch sie führt zum
Ziele, auch sie ist wie der Übermensch der notwendige Gedanke
einer und derselben Philosophie: „Wirklich den Pessimismus über-
winden, ein Goethescher Blick voll Liebe und gutem Willen als
Resultat ! " Nur der vergrößerte Mensch, der starke, glückliche Mensch
kann die Wiederkunft wünschen, weil sein Leben in seiner Schätzung
so wertvoll ist, daß eine Wiederkehr desselben ihm ein schöner Gedanke
wird: „So leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben, ist die
Aufgabe. So leben, daß wir nochmals leben und in Ewigkeit so leben
wollen! Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenbhck heran. Drücken
wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke
enthält mehr als alle Religionen, welche nach einem anderen
Leben hinzublicken lehrten!" Jedem anderen, allem Elenden, Miß-
ratenen, das nur mit Unmut und Widerwillen auf das eigene Leben
blickt, muß dieser Gedanke furchtbar sein.
^) Cf. R. M. Meyer (1. c. p. 445) : Nietzsches Lehre der ewigen Wieder-
kunft „ist eine Selbstüberwindung um ihrer selbst willen, es ist seine Askese,
die er hier übt; die.Überwindung des Pessimismus soll bis zu diesem Un-
geheuersten steigen, daß die ewige Wiederkehr als Freudenbotschaft begrüßt
wird." Cf. Bertram (1. c. p. 130): „Die Lehre von der ewigen Wiederkunft
ist psychologisch unzweifelhaft eine äußerste Form des Selbstmartyriums,
eine heroische Negation ursprünglicher schopenhauerischer Lebensangst."
— 342 —
Man hat gegen Nietzsche den Einwand erhoben: damit, dafs
er den freiwilHg erwählten Tod als den Gipfel unserer Autonomie
erklärte, stelle er sich zu seiner eigenen Lehre in Widerspruch;
denn die freie Todeswahl kann nur der Ausgang des gebrochenen
Lebenswillens sein, während er selbst gerade die Ungebrochenheit
des Willens und eine absolute Bejahung des Lebens für das Wesen
aller Sittlichkeit erklärte. Indes erkannte Nietzsche, wie Th. Lessing
ausführt, einerseits, daß eine absolute Bejahung den Stillstand alles
Lebens und das Ende aller Ethik bedeutet, während er anderseits
den Gipfel aller Ethik in einer Bejahung sieht, die zur Selbst-
vernichtung führen muß. Daher bebt er zurück vor dem Gedanken,
daß alle Mühen aller Existenzen eigentlich völlig wertlos sind, aber
sein Übermensch sagt freudig sein „ja!" zur Ewigkeit aller seiner
Taten. Nun hat Nietzsche zeitlebens nie, selbst dann nicht, wenn
er auf dem tiefsten Punkte seiner Vitalität angelangt war, seinen
Lebenswillen als gebrochen anerkannt und deshalb die Konsequenz
des Selbstmordes daraus für sich abgeleitet. Daher muß uns die
Zeit seines geistigen Siechtums, vom Jahre des Zusammenbruchs
bis zu seinem Todesjahre als eine Tat heroischester Selbstaufopferung
erscheinen; denn auf einer je höheren sittlichen Stufe ein Mensch
steht, desto eher wird er im äußersten Falle eben das zum Inhalte
eines freien Willensentscheides machen, was im Grunde nur in der
Konsequenz seines Handelns, seines Gefühls oder seiner Ansicht liegt.
Daher ist sein persönlicher Untergang die letzte Konsequenz einer
absoluten Lebensbejahung. Den letzten Sieg erringt die unheimliche
Folgerichtigkeit dieses großartigen Denkers eben dadurch, daß sie
in der Bejahung des Lebens auch den Tod und im völligen Stillstand
noch das Leben bejahte. Im Sterben Nietzsches glühte, wie sein
Zarathustra so schön sagt, wirklich noch sein Geist und seine
Hoffnung, gleich einem Abendrot um die Erde. Wohl im Hinblick
auf dieses Menschenschicksal konnte Th. Lessing sagen: „Es bleibt
etwas Großes, an Unmöglichem zugrunde gehen zu wollen. Und
wenn der Heros das Ziel der Geschichte ist, dann ist eben der
Tod ihr Ziel, in welchem das Leben über sich selbst hinausblickt
und sich vernichtet, um erneut aus sich emporzutauchen." Dieser
Nietzsche, der durch sein Leben selbst ein heldenhaftes Beispiel
dafür gegeben hat, was leben heißt, wie das einzelne Individuum,
wenn es eben nur will, sich dem Ideal des Übermenschen nähern
— 343 —
kann, hat dieses sein Ideal nicht als Gottsurrogat aufgerichtet, der
hat sich nicht in die Rolle des mittelalterlichen, asketischen Heiligen
hineingespielt, bis schließlich auch sein Wahnsinn etwas Gewolltes
war, sondern gerade dieser Nietzsche war der fleischgewordene,
lebendige, bewußte Wille in seiner höchsten Potenz. Daher haben
bei der Formulierung des Nietzscheschen Übermenschenideals nicht
nur allgemein-geschichthche, sondern auch persönliche Gründe mit-
gespielt'). Wie Goethe hat er das, was ihm auf der Seele brannte,
sich besonders im „Zarathustra" von der Seele geschrieben. Dort singt
Nietzsche, der Künstler, von dem, was ihm fehlt, von der Kraft;
seine Lieder sind nach Riehl „der Rückschluß vom Ideal auf den,
der es nötig hat". Seine Leiden steigerten sich nach seinen eigenen
Worten „in langen Jahren bis zum Höhepunkte habitueller Schmerz-
haftigkeit". Es kam so weit, daß er, der die unbedingte Bejahung
des natürhchen Lebens predigte, von Todessehnsucht gepackt wird:
„Die furchtbaren und fast unablässigen Martern meines Lebens lassen
mich nach dem Ende dürsten," so klagt er, „und nach einigen An-
zeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu
dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf ich das Leben
meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgendeiner Zeit messen."
Kein Wunder, daß er, wenn er in den Ruhepausen seiner Schmerzen
seine Werke schrieb, Gesundheit, Kraft, Willen in allen Tönen pries,
alles, was ihm abging, dessen Besitz er, der Besitzlose, am besten
zu schätzen verstand. Selbstmord hätte er begehen sollen? 0 nein!
Zu leben ist unendlich schwerer als das Leben fortzuwerfen: aber
das ist Menschenadel und Menschenmut, den Schritt der Feigheit
nicht zu tun. So überwindet der „Weltenüber winder" sich selbst.
Georg Forster schrieb einmal: „Hundertmal habe ich schon erfahren,
daß es größer ist zu leben als zu sterben. Jeder elende Hund kann
sterben. Aber wenn hernach der Teufel — oder wer ist der schaden-
1) Wenn früher gesagt worden ist, daß Nietzsche durch die Aufstellun.sr
seines Übermenschenideals die herrschende Moral und das Christentum nicht
nur ersetzen, sondern sogar überbieten wollte, so sei jetzt diese Behauptung
<lahin ergänzt, daß er dieses Ideal hauptsächlich deswegen errichtete, um,
wie er selbst sagte, „der größten Gefahr der geistigen Unfreiheit" zu
entgehen. Denn er vermeinte die volle Freiheit des Denkens und des
Handelns zu verlieren, wenn er an eine Vorsehung glaube; denn „in der
Religion fehlt der Zwang, uns als wert setzend zu betrachtend
— 344 —
frohe, zähnefletschende Geist in uns, der so einzusprechen pflegt? —
wenn der fragt, was ist dir nun die Größe? Bist du nicht ein eitler
Narr, dich für besser als andere zu halten ? 0 mein Gott, da versink'
ich in meinen Staub, nehme meine Bürde auf mich und denke nichts
mehr als: du mußt, bis du nicht mehr kannst. Dann hat's von
selbst ein Ende!" Steigt nicht auch dieses Menschenleben un-
sichtbar auf zu jenem, das die Legende zur durchsichtigen Lilie
verklärt hat: „Und Jesus verließ sie, warf sich auf die Knie nieder
und betete: Vater! Wenn du willst, laß diesen Kelch an mir vor-
übergehen; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!" Nicht
Wahnsinn war's, sondern auch Nietzsche hat den Ewigen Aug in Aug
geschaut, und daher war ihm der Frieden mit dem Dämon im
eigenen Herzen unverlierbar. Könnte man nicht in diesem Sinne
den Ausspruch Novalis' auf Nietzsche deuten: „Das Leben eines
wahrhaft kanonischen Menschen muß durchgehends symbolisch sein.
Wäre unter dieser Voraussetzung nicht jeder Tod ein Versöhnungs-
tod?"
XXII. „DER EINSAME NIETZSCHE."
Die Verse Hölderlins:
„denn weil
die Seligsten nichts fühlen von selbst,
muß wohl ... in der Götter Namen,
teilnehmend fühlen ein andrer —
den brauchen sie; jedoch ihr Gericht
ist, daß sein eigenes Haus
zerbreche der, und das Liebste
wie den Feind schelt und sich, Vater und Kind,
begrabe unter den Trümmern,
wenn einer wie sie sein will, und nicht
Ungleiches dulden, der Schwärmer",
und was Piaton in seinem berühmten siebenten Briefe schrieb:
„Wenn einer jetzt oder in Zukunft behauptet, er besäße ein Wissen
um dasjenige, dem mein Streben eigentlich gilt, einerlei, woher er
das Wissen haben will, so sage ich, er hat keine Ahnung davon.
Ich habe nicht darüber geschrieben und werde niemals darüber
schreiben, denn es läßt sich nicht wie die Objekte wissenschaftlicher
Untersuchung behandeln; der Wissenschaft ist es unaussprechlich.
Nach langer Arbeit, wenn man sich hineingelebt hat, geht plötzlich
in der Seele, wie wenn ein Funke hineinschlüge, ein Feuer auf, das
nährt sich dann selbst. Ich weiß wohl, ich könnte am besten darüber
reden und mir geht es am nächsten, wenn schlecht darüber geredet
wird. Wenn ich glaubte, es ließe sich befriedigend vor der Öffent-
lichkeit darüber reden oder schreiben, so würde ich es für die höchste
Aufgabe meines Lebens halten; ich würde ja der Menschheit den
größten Dienst erweisen, denn die ganze Natur der Dinge würde
damit ans Licht gebracht (das Rätsel des Lebens gelöst). Aber ver-
ständlich würde ein Versuch schriftlicher Mitteilung doch nur ganz
wenigen sein, und denen hilft ein leiser Wink dazu, es selbst zu
finden. Die anderen würden sich mit Verachtung abwenden oder sich
in dem Wahn wiegen, sie wüßten nun etwas ganz Erhabenes!"
mögen die Voraussetzung bilden für unsere letzte Betrachtung.
— 346 —
Wie alle moralischen Persönlichkeiten hegte auch Nietzsche
— R. M. Meyer hat dies wunderschön auseinandergesetzt — eine
leidenschaftliche Sehnsucht, sein Ideal verwirklicht zu sehen. Das
ist die Größe und zugleich die Tragik prophetischer Naturen, daß
sie das Wahrwerden ihrer Träume nicht abzuwarten vermögen. An
dem nicht Wahrwerden seines kühnsten Traumes, seines Idealstaates,
hat ein noch Größerer als Nietzsche, Piaton, so tief gelitten, daß
er nach seiner dritten Reise nach Sizilien nie mehr das ward, was
er früher war: der hoffnungsfreudige, himmelstürmende Piaton. Im
Grunde ist jeder Moralist ein Prediger des kommenden 100jährigen
Reiches, in das er sich und seine Hörer schon hineinzuversetzen
mit allen Organen verlangt. Nietzsches Ideal ist der Übermensch
— er muß den Übermenschen sehen; denn niemals hat er sich für
den Übermenschen gehalten — nur sein Yerkünder wollte er sein.
Aber Johannes ist da, damit er Christum tauft. Indes ist nichts
törichter und abgeschmackter als die platte Behauptung, Nietzsche
hätte durch seine Schriften zu einem Religionsstifter im weltlichen
Sinne, zum Haupte einer Gemeinde von Anbetern werden wollen;
auf die geistige Gefolgschaft allein kam es ihm an und auch
schon eine so beiläufig organisierte Gemeinde, wie sie Schopenhauer
aus seinen Evangelisten und Aposteln aufbaute, wäre nicht nach
seinem Geschmack gewesen, geschweige denn eine so fest organisierte
wie die von Bayreuth. Jede egoistische Absicht hat man bei diesem
resoluten Verteidiger des Egoismus zu verneinen; er war von
Herrschsucht ganz frei, aber früh erfüllt von dem berechtigten
Ehrgeiz zu wirken, Schüler zu bilden, „zu werden, was er war".
Ein persönlich zur Macht gearteter Wille lag ihm ferne, ebenso
Ausnützen, wie Wagner es unbedenklich für sein Recht hielt:
er empfand es schmerzlich, wie wenig in den schlimmsten Zeiten
die Freunde für ihn taten, gefordert aber hat er niemals einen
Dienst. Aber weil er die mit feurigster, zitternder Leidenschaft er-
faßten Dinge nicht wie ein Gelehrter systematisch darlegen konnte
— denn alle Systematik war ihm gleich Piaton verhaßt! — trieb
es, ebenso wie Wagners Lohengrin das „Verlangen aus der geistigen
Höhe in die Tiefe der Liebe" herabzusteigen, die „Sehnsucht, vom
Gefühl begriffen zu werden", treibt, auch Zarathustra — „denn ich
liebe die Menschen!" — aus seiner Einsamkeit unter die Menschen,
damit sie gleich ihm sein neues Ideal mit Herz und Geist erfassen.
— 347 —
Gleich Piaton wollte auch er auf die Gegenwart wirken und empfand
es bitter, daß sie ihn zwang, ein Lehrer zu bleiben; aber daß er
Lehrer und Schriftsteller bleiben mußte gleich Piaton, das ist nie
sein Wille gewesen, das hat er als den bittersten Verzicht empfunden.
Dieses Bewußtsein einer gewissen apostolischen Sendung bewog den
jungen Nietzsche bereits in Schulpforta, mit den zwei Freunden
aus der Kinderzeit Gustav Krug und Wilhelm Pinder die „Germania**
zu gründen, geboren aus der reinen Begeisterung für Kunst und
Wissenschaft und dem Streben, nach den eigenen Idealen zu leben
und ihnen auch das Leben anderer untertänig zu machen. Und im
Jahre 1870 schrieb er an Rohde: „Etwas wahrhaft Umwälzendes
wird von der Universitätsweisheit aus nicht seinen Ausgang nehmen
können. Wir können nur dadurch zu wirklichen Lehrern werden,
daß wir uns selbst mit allen Hebeln aus dieser Zeitluft heraus-
heben ... wir werfen einmal dieses Joch ab, das steht für mich
ganz fest. Und dann bilden wir eine neue griechische Akademie!"
An Peter Gast schrieb er: „Wo wollen wir den Garten Epikurs er-
neuern?" Es ist klar, um „Auserwählte" hat Nietzsche immer ge-
worben, aber die „Ehren eines Apostels", weder seines eigenen Ideals
noch des Wagnerschen, hat er nie erwartet; die „Affen seines Ideals"
waren ihm in tiefster Seele zuwider. Mit der Behauptung indes, daß
Nietzsche gleich Wagner Jünger suchte, hat Stekel also recht, ja
auch mit der Behauptung, daß der Philosoph den Meister um seine
Jünger beneidete! Aber was Wagner aus rein praktischen Gründen,
als Selbstdurchsetzer um jeden Preis verfolgte, das erfloß bei
Nietzsche aus Gründen rein ideeller Natur. Eine Besonderheit des
philosophischen Triebes in Nietzsche war sein Expansionsbedürfnis,
das Mitfortreißenwollen anderer, der fast fanatische Bekehrungseifer.
„Wenn jemand zu überreden, mitfortzureißen verstand", so sagt
Prof. Richter, „so war es der Nietzsche der Zarathustraperiode ; aber
mit diesem Werke war er seiner Zeit vorausgeeilt. Man verstand
ihn nicht"; das war der eigenthche Grund, weshalb ihm niemand
folgte, niemand ihn ernstlich studierte. Deshalb fielen alle Freunde
von ihm ab, in erster Linie Richard Wagner. Overbeck und Gersdorff
hielten menschhch noch zu ihm, wiewohl sich ersterer in seiner
Studie über Nietzsche zu dem unwahrsten und häßlichsten aller
Urteile verstieg, Nietzsches Vornehmheit sei nur Affektation gewesen !
Doch beide vermochten den Pfaden seiner Sehnsucht nicht zu folgen.
— 348 —
Ebenso Deussen, der unbedingter Anhänger Schopenhauers blieb.
R6e verharrte bei seinem naturwissenschafthchen Positivismus, den
Nietzsche im „Menschlichen" so glänzend vertreten hatte; und an
dem grausamen Doppelspiele, das Röe mit dem immer einsamer
werdenden Nietzsche trieb, scheiterte auch diese Freundschaft. Mit
Burckhardt verlor er immer mehr die geistige Fühlung. Malwida
konnte sich vom „Fall Wagner" nicht erholen. Auch Rohde konnte
nicht Treue halten: er wurde der resigniert-skeptische Gelehrte,
Nietzsche Kosmopolit. Nur mit tiefer Wehmut wird man die fol-
genden Zeilen lesen können, die einem Brief an Rohde aus dem
Jahre 1884 entnommen sind: „Mein lieber, alter Freund, als ich
Deinen letzten Brief las, da war's mir, als ob Du mir die Hand
drücktest und mich dabei wehmütig ansähest; schwermütig, als ob
Du sagen wolltest: ,Wie ist es nur möglich, daß wir so wenig noch
gemeinsam haben und wie in verschiedenen Welten leben! Und
einstmals ! . . . ' Und so, Freund, geht es mir mit allen Menschen,,
die mir lieb sind: alles ist vorbei, Vergangenheit, Schonung; man
sieht sich noch, man redet, um nicht zu schweigen —- man schreibt
sich Briefe noch, um nicht zu schweigen. Aber die Wahrheit spricht
der Blick aus, und der sagt mir (ich höre es gut genug): ,Freund
Nietzsche, du bist nun ganz allein!'" In der „Psyche", Rohdes
Meisterwerk, „wendet sich" zwar „manche Stelle an Nietzsche wie-
ein stummer Gruß aus der Ferne", aber Nietzsches Namen zu
nennen vermeidet er, gleichsam als schöbe auch er dessen Werk
aus dem Kreise der Wissenschaft hinaus, ja, einmal soll er Overbeck
gegenüber sein seinerzeitiges Eintreten für Nietzsche geradezu als
eine Jugendtorheit bezeichnet haben. An Gersdorff schreibt er:
,, Verschafft mir einen kleinen Kreis von Menschen, die mich hören
und verstehen wollen, und ich bin gesund!" Seine einzige Hoffnung
blieb noch Heinrich v. Stein, nächst Wagner und Rohde der dritte-
Mensch, mit dem er sich „wie unter Gleichen" gefühlt hatte; doch
dieser wurde ihm 1887 in der Blüte der Jahre durch einen früh-
zeitigen Tod geraubt. Als sich Nietzsche 1882 um eine Professur
an der Berliner Universität bewarb, teilte man ihm mit, daß sein
Gesuch ganz aussichtslos sein werde: „Die Fakultät werde es nicht
wagen, mich dem Ministerium vorzuschlagen — von wegen meiner
Stellung zum Christentum und den Gottesvorstellungen.
Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Mut wieder!" Kein
. — 349 —
Wunder daher, daß dieser einsame Nietzsche Wagner um dessen
Jünger und Schüler bildende Kraft tief und schmerzlich beneidete!
So schrieb er an Peter Gast, den einzigen, den er hatte, der treu
bei ihm ausharrte: „Mich ekelt davor, daß ,Zarathustra' als Unter-
haltungsbuch in die Welt tritt, wer ist ernst genug dafür! Hätte
ich die Autorität des ,letzten Wagner', so stünde es besser! Aber
jetzt kann mich niemand davon erlösen, zu den ,Belletristen' ge-
worfen zu werden . . . was den eigentlichen Wagner betrifft, so will
ich schon noch zu einem guten Teile sein Erbe werden... im
letzten Sommer empfand ich, daß er mir alle Menschen weggenommen
hatte, auf welche in Deutschland zu wirken überhaupt Sinn haben
kann." Und an Freiherrn v. Seydlitz schrieb er bereits 1876: „Bin
ich doch immer auf Menschenraub aus, wie nur irgend ein Korsar;
aber nicht, um diese Menschen in die Sklaverei, sondern um mich
mit ihnen in die Freiheit zu verkaufen." Als Wagner 1883 starb,
„ist ihm der Tod Wagners eine große Erleichterung*', denn jetzt
fühlt er sich als dessen Erbe und Nachfolger.
Gewiß, niemand wird es in Abrede stellen wollen, daß Nietzsches
Gedanken mitunter übertrieben, ja sogar krankhaft verzerrt er-
scheinen. Aber auch diese Tatsache dürfen wir nicht, wie es leider
vielfach geschieht und auch Stekel getan hat, als die notwendige Folge
seines inneren Wesens, das schon von Haus aus nicht ganz
normal gewesen sein soll, hinstellen. Wenn irgendwo, so gilt gerade
hier Magnus Hirschfelds großes Wort : „Durch die Wissenschaft zur
Gerechtigkeit!" Und gerade die Wissenschaft von der Seelenkunde
wäre die geeignetste, um jetzt auf Grund der Tatsachen, ohne Vor-
urteil, speziell in diesem Punkte eine gerechte Beurteilung des
Mannes herbeizuführen, dessen geistige Größe trotz aller Fehler, die
man ihm nachweist, unerreicht in die heutige Zeit noch hineinragt
und noch kommenden Geschlechtern ein Wegweiser sein wird auf
dem Pfade zu innerer Freiheit. Nichts wunderte mich daher bei
Stekel mehr, als daß er als Psychologe vergaß, auf den konstanten
Druck der äußeren Lebensumstände zu verweisen, unter dem sich
Nietzsches Wesen verändern mußte, weil solchem Druck kein
normaler Mensch auf die Dauer gewachsen sein kann. Da ist vor
allem seine furchtbare Einsamkeit zu erwähnen! Bereits 1879
schrieb er: „Ich habe ganz und völlig das Urteil über meine Sachen
eingebüßt, weil ich zu wenig mit Menschen verkehre und keine
— 350 —
Bücher lese." Diese innere Einsamkeit, der Mangel an ernster Kritik
und die Unmöglichkeit einer Aussprache mit Gleichgesinnten muß
die Individualität eines Menschen mit Notwendigkeit wenn nicht
brechen, so zur Karikatur ihrer selbst hintreiben: unwichtige
Einzelzüge müssen zunehmen, weil der Warner fehlt! Die ganze
Persönlichkeit, von niemandem gehört, schreit schließlich nach
innen, indem sie alles doppelt so dick aufträgt wie es ihrem eigent-
lichen Wesen geziemt. Daher ist die Mahnung, für Nietzsches Super-
lative stets die Positive zu setzen, wenn man ihn verstehen will,
gerechtfertigt. Aber ebenso begreifhch sollte es sein, daß eine so
apostolisch veranlagte Natur, wie die Nietzsches, unter diesem Fluche
des Totgeschwiegenwerdens entsetzlich leiden und seine geistige
Physiognomie durch dieses Leiden schließlich auch krankhafte
Züge annehmen mußte. Und der wichtigste Grund für diese „Ab-
normitäten" seines Wesens ist wohl der: Nietzsche war ein Philosoph,
der seine Philosophie nicht lehrte, sondern im wahrsten Sinne des
Wortes lebte! Während die Mehrzahl der Philosophen ihre Ehre
dareinsetzt, sich zu entselbsten, sich ihres Ichs zu entledigen
und ihr „Auge Licht werden zu lassen", wie Goethes schöner Aus-
spruch lautet, macht Nietzsche gerade seine Persönlichkeit zum
Angelpunkte seiner Philosophie. Er bringt sein Leben damit zu, sich
zu suchen und das Ergebnis dieses Suchens mitzuteilen. Er lieferte
in seiner eigenen Person das Objekt für seine psychologischen,
ethischen, ästhetischen und religionsphilosophischen Analysen.
„Niemals war eine psychologische Anatomie mit schönerem Leichen-
materiale ausgestattet." Als Psychologe hätte sich daher Stekel
sagen müssen, daß jede Versuchsperson mit der Zeit nicht mehr so
naiv reagiert, wenn sie zugleich die Resultate der Beobachtung
registrieren muß. Dadurch ward Nietzsche genötigt, die natürliche
Entfaltung seines Wesens zu fälschen und zu schädigen, daraus
erklärt sich auch seine Selbstüberhebung, seine fanatische Unduld-
samkeit, seine schmähende Polemik. Indem er den Schauplatz der
eigenen Seelenkämpfe, der Kämpfe zwischen „Opfertier" und „Opfer-
gott" in die Weltgeschichte verlegte, folgerte er, daß es so wie bei
ihm auch bei den Völkern zugegangen sein muß. So machte er aus
seiner Auto Psychologie eine Völkerpsychologie, aus der Selbst-
anschauung eine Weltanschauung. Diese Flecken aufzuzeigen fordert
die Gerechtigkeit, aber ebenso gerechtfertigt ist die Forderung, die
— 351 —
Schuld an ihnen der Mitwelt aufzubürden. Auf ihn passen Hebbels
Worte :
„Doch sie, die Welt, die das verbrach,
sie schändet meinen stummen Schmerz,
sie wagt die allerhöchste Schmach
und ruft, nachdem sie's selbst durchstach,
mir höhnend zu: du hast kein Herz!"
Unter der Wirkung des von ihm oft in reichlichen Dosen genommenen
Chlorais hat er nach seinem eigenen Geständnis Dinge geschrieben,
die ihm hinterher als vollkommen falsch erschienen sind; das Chloral
habe, wenn er es vor dem Schlafengehen nahm, am anderen Morgen
nach dem Erwachen einen eigentümlich erregten Zustand hinterlassen,
der ihm Menschen und Dinge in einem ganz falschen Lichte gezeigt
habe. Gegen Mittag sei dann dieser Zustand geschwunden und es
seien ihm „menschenfreundliche Gefühle" wiedergekehrt. Ist es nun
nicht recht gut denkbar, daß seine wütenden Ausfälle gegen Wagner
oder das Christentum, zumal sie doch von Ausdrücken höchster
Hochachtung abgelöst werden, im Zustande dieser betäubenden
Wirkungen des übermäßigen Chloralgenusses geschrieben worden
sind? Aber ganz abgesehen davon erhebt sich für uns die Frage,
ob sein Fanatismus bloß gegen Sachen oder auch gegen Personen
gerichtet war. Nietzsche selbst gibt nur das erstere zu; so schreibt
er: „Ich greife nie Personen an — ich bediene mich der Person
nur wie eines starken Vergrößerungsglases, mit dem man einen
allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Notstand
sichtbar machen kann . . . ich greife nur Dinge an, wo jede Personen-
differenz ausgeschlossen ist, wo jeder Hintergrund schlimmer Er-
fahrungen fehlt." Wer jedoch Nietzsches Kampf gegen Wagner
kennt, wird diese Selbsteinschätzung des Philosophen gewiß bestreiten ;
und doch schreibt er in einem Briefe aus dem Jahre 1888: „Wenn
ich jetzt zu den Gegnern der Wagnerschen Bewegung gehöre, so
liegen, wie es sich von selbst versteht, dahinter keine persönlichen
Motive." Klafft nicht auch hier zwischen dem Tatsächlichen und
dem „Rechtfertigungsversuche" Nietzsches ein nicht lösbarer Wider-
spruch? Nein; nicht lösbar nur für den boshaften Durchschnitts-
kenner Nietzsches. Aber gerade hier hätten unsere Psychiater und
Psychologen das geeignetste Feld für ihre wissenschaftliche, das
heißt objektive Betätigung. Spricht man immer nur von dem
— 352 —
Künstler Wagner, nie von dem Menschen Wagner, von dem
Wagner, der alles immer nur mit dem Auge des Künstlers be-
trachtete, um wie viel mehr gilt diese Forderung von dem Künstler
Nietzsche, den man in dem historischen Menschen Nietzsche — aus-
genommen seine für Wagner eintretenden Werke! — absichtlich
ignoriert! Denn auch in allen polemischen Werken Nietzsches
offenbart sich seine Künstlernatur mit ihrer starken Phantasie, die
alles Abstrakte konkret, alles Sachhche ins PersönUche wendet, weil
es dadurch plastischer und eindrucksvoller wird. Für ihn gewinnen
die Gestalten vergangener Geschichte in dem Maße Leben und Farbe,
daß er mit ihnen in eine Diskussion eintritt, als lebten sie, so daß
die temperamentvolle Stimmung des persönlichen Auge-in-Augesehens
entsteht. Anderseits aber ist die Bekämpfung doch auch in dem Maße
gegen persönliche Eigentümlichkeiten des Angegriffenen gerichtet,
daß man sie nicht allein als symbohsche Bezeichnung sachlicher
Werte auffassen kann, sondern urteilen muß, daß die sachliche und
persönliche Bekämpfung unmerklich und unentscheidbar ineinander
übergehen; trennen läßt sich beides nur am grünen Tisch und bei
der Aufstellung des ethischen Ideals. Wenn es Nietzsche darum
nicht gelungen ist, und gerade auch da nicht, wo ehemals freundliche
Beziehungen, wie mit Wagner, in gegenteilige umgeschlagen waren,
das persönhche Moment fernzuhalten, so steht er darum nicht tiefer
als viele andere Menschen. Haben doch fast die meisten großen
Männer, auch die der Religionsgeschichte, einen starken persönhchen
wie sachlichen Fanatismus besessen. Daß er die Scheidung von
beiden als Ideal empfand, hebt den Grundwert seiner PersönUchkeit.
(Cf. Grützmacher; 1. c. p. 44/45.) Anderseits aber tut man m. E.
Nietzsche nicht weniger Unrecht, wenn man behauptet, daß die so-
genannte „Euphorie" in ihm jene Seligkeitsräusche erzeugt habe, die
dem geistigen Zusammenbruche eines Paralytikers voranzugehen
pflegen, und ihn seine Gegner in milderem Lichte, ja wieder als Freunde
sehen ließ. Denn die durch die permanente Vereinsamung hervor-
gerufene Steigerung des Gefühlslebens ist einem so feinen Psycho-
logen, der Nietzsche war, nicht entgangen: in einem ergreifenden
Briefe an Franz Overbeck vom 3. Februar 1888 läßt er seinen
Freund in dieses seelische Elend, über das er sich klar war, hinein-
blicken: „Von allen Seiten aus betrachtet, ist mein Zustand un-
haltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letzte Schrift" (sc. der
— 353 —
„Wille zur Macht") « verrät etwas davon: in einem Zustande eines
bis zum Springen gespannten Bogens tut einem jeder Affekt wohl,
gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir , schöne
Sachen' verlangen ; so wenig man einem leidenden und verhungernden
Tiere zumuten soll, daß es mit Anmut seine Beute zerreiße!"
Daher war Nietzsche nicht im entferntesten der Schauspieler,
der sich nach Stekel eine Überzeugung vorspielen mußte, wo es
sich doch nur um eine Rache zurückgesetzter Liebe und gekränkten
Musikerstolzes handelte, sondern weil Nietzsches Freunde, auf die
er mit brennender Sehnsucht wartet, noch immer nicht sich ein-
finden wollten, weil der Jüngerkreis, den Wagner um sich ge-
sammelt hatte, ihm noch immer vorschwebt, erdichtete sich der
Einsame die Liebe, die er brauchte, nach der er einem Verschmach-
tenden gleich lechzte: maßlos überschätzte er Peter Gast und
dessen Musik, den er als „eine Art David betrachtet, den ihm der
Himmel zum Glücke geschenkt habe". Er dichtet die Musik, die
er nicht mehr hören wird, und er dichtet die Schüler, die er nicht
mehr sehen wird. Kurz gesagt: er flüchtete sich in die Herrlich-
keiten seines Traumlebens, das ihn tröstet und ihm die ganze
WirkUchkeit ersetzen muß. Tief beherzigenswert sind daher Paul
Deussens Worte: „Niemand kann sagen, inwieweit in Nietzsches
hochbegabtem Geiste die Keime der Zerrüttung schon als Anlage
vorhanden waren. Aber hätte Nietzsche sich nicht geflissentlich
von der menschlichen Gesellschaft abgesondert, in der er eine so
ehrenvolle Stellung einnahm; hätte er sein Amt behalten, eine
Famihe gegründet und die Früchte seines Geistes langsam reifen
lassen, anstatt in der Einsamkeit mit asketischer Überspannung
seiner Kräfte tagsüber unter ermüdenden Wanderungen seinen Ge-
danken nachzuhängen und nachts den fliehenden Schlaf durch
immer stärkere Narkotika zu erzwingen — wer weiß, ob er nicht
noch jetzt in voller Gesundheit unter uns lebte und statt des hinter-
lassenen Torso uns das vollendete Götterbild einer exzentrischen,
aber im höchsten Grade der Beachtung werten Weltanschauung
entgegenbringen könnte." Aber nun soll Stekel wieder einmal recht
haben: Nietzsche dichtete sich jetzt als der große Erzieher, der er
selbst nicht mehr sein konnte, der er aber während seines ganzen
Lebens werden wollte, zu Ende: er schuf den „Zarathustra", die
mächtigste pädagogische Utopie seit Piaton. Aber auch der „Zara-
Grießer, Wagner und Nietzsche. 23
— 354 —
thustra" ward umsonst geboren, denn so schreibt sein Autor 1887
an Overbeck: ^Nach einem solchen Aufruf, wie mein Zarathustra
es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von
Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr
vertausendfachte Einsamkeit — das hat etwas über alle Begriffe
Furchtbares, daran kann der Stärkste zugrunde gehen — ach! und
ich bin nicht der Stärkste!" Khngen nicht diese Worte als der
letzte, verzweiflungsvolle Schrei eines Menschenherzens, das sein
kostbarstes Herzblut für die Welt verströmen ließ, für eine Welt,
aus welcher:
„der kam zu spät, der flehend zu dir sagte:
„dort ist kein Weg mehr über eisige Felsen
und Horste grauser Vögel — nun ist not:
sich bannen in den Kreis, den Liebe schließt!" . . .
Ist etwa diese erschütternde Menschenklage nur eine theatra-
lische Schauspielerpose, daß man bei einer psychoanalytischen Unter-
suchung Nietzsches ohneweiters über sie zur Tagesordnung hin-
wegschreiten darf? Aber nicht zum mindesten ist Nietzsche daran
zugrunde gegangen : denn gleich Zarathustra konnte er nur schenken,
weil er zu stolz war, zu empfangen; er hat das Glück des Neh-
menden nie kennen gelernt! „Sein Glück erstarb im Schenken!"
Er wartete nur auf Liebe! Stekels und Goetz' Behauptung,
Nietzsche sei mit dem „Zarathustra'', den bereits Friedrich als einen
aus dem tiefsten Innern krampfhaft herausgewühlten Doppelgänger,
etwa als eine Art selbstfabrizierten Wagner -Ersatzes auffaßte, der
Sieg über Wagner, den er auf musikalischem Gebiete nicht schlagen
konnte, gelungen, ist geradezu absurd. Nichts ist törichter, als aus
der schließlich begreiflichen Tatsache, daß sich der einsame Nietzsche
in die Gestalt des Zarathustra verliebt habe, solche Folgerungen
ableiten zu wollen. Was müßte man da erst von Goethe sagen,
der sich doch auch in die Gestalten seiner Dichtungen verliebt
hatte? Daß sich aber Nietzsche tatsächlich mit dem Zarathustra
identifizierte, hat allerdings seinen guten Grund, freilich einen
anderen, als die drei genannten Herren glauben. Bereits im Jahre
1872 schrieb Nietzsche die bedeutungsvollen Worte nieder: „Ich
lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, *denn mein Herz
sträubt sich, zu glauben, daß die Liebe tot sei, es erträgt den
Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu
— 355 —
reden, als ob ich Zwei wäre." — „Immer einmal eins — das gibt
auf die Dauer zwei!" — »Um Mittag war's, da wurde Eins zu
Zwei!" Aus dieser Grundstimmung heraus ward der Zarathustra
geboren, denn, um an ein tiefsinniges Wort Dehmels anzuspielen,
ward auch dem einsamen Nietzsche die höchste Einsamkeit zur
tiefsten Zweisamkeit. Aber auch nicht aus dem ungeheuren Sehnen,
seiner tiefbewegten und leidvollen Innerlichkeit jenen Halt zu
geben, den der Gläubige in seinem Gott besitzt, entstand, wie Frau
Andreas Salome glaubt, der Zarathustra, sondern sein Entstehen
war — Bertram hat m. E. als erster auf diese viel zu wenig be-
achtete Tatsache hingewiesen — die notwendige Folge „des Ehr-
geizes seines Intellekts, nicht mehr individuell zu erscheinen", wie
es im Menschlichen heißt. Denn Nietzsche war sich dessen wohl
bewußt, daß das Nur -Individuum niemals mysterienbildend wirken
könne. Und in dieser Erkenntnis, die. den „Zarathustra*' schuf als
das persönUchste Werk seines Schöpfers, liegt die ungeheure Tragik
von Nietzsches Leben: er, der alles mit seiner individualistischen
Erkenntnisgier schonungslos zersetzte, dieser selbe Mensch trug in
sich den prophetisch bauenden, gemeinschaftssüchtigen Mysterien-
willen. Denn so zerrüttet war sein Geist denn doch nicht, als daß
nicht auch er sich hätte gestehen müssen, daß eine solche Freiheit
und Unabhängigkeit, wie er sie pries, dem Individuum im Universum
niemals beschieden sein kann. Denn das Individuum ist nicht nur
der Gegensatz zum Universum, sondern zugleich ein Teil desselben,
und aus dieser Doppelstellung ergibt sich sein Recht, aber auch
seine Schranke. „Ein tiefer Mensch braucht Freunde ; es wäre denn,
daß er seinen Gott noch hat!'' Aber „der Sehnsucht süßer Schrei"
nach „neuen" Freunden „erstarb im Munde"; nur um seinem
tiefen Bedürfnis nach einem Freunde Genüge zu tun, hat sich
dieser Individualist par excellence gleichsam in zwei Teile zerlegt:
in die göttliche Lichtgestalt Zarathustras als die verkörperte Ver-
klärung seines eigenen Wesens und den Menschen, der er war.
Und dieses von tausend Zweifeln und Sehnsüchten, jemals sein
höchstes Ideal verwirklicht zu sehen, zermarterte Herz, dieses Herz,
das seine ganze Kraft bisher nur dazu aufgewendet hatte, den Kopf
kühl zu erhalten, dieses Herz lebte nunmehr nur der heißen Sehn-
sucht, bis es sie schließlich hypostasiert hatte, bis Zweifel und Sehn-
sucht in eins verschmolzen und die treibende Kraft für sein ferneres
23*
— 356 —
Leben wurden. Aber, „wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten, ent-
steht die Mystik", und sie weckt jenes Gefühl, das Pindar mit den
Worten pries: „Gesegnet, wer, nachdem er das geschaut, unter die
Erde geht: er kennt den Endsinn des Lebens und den zeusgegebenen
Anfang." Als solch einen Gesegneten fühlte sich der Nietzsche des
„Zarathustra''. „Aus dem Jenseits", sagt Wilamowitz, „kommt Leben
und Erkennen. Erst wer das — nicht weiß, denn ein Wissen
vom Jenseits gibt es nicht, aber wer es erfahren hat, in sich
erlebt hat, der ist an dem Ziele, das dem Sterblichen zugänglich
ist. Wissenschaft treiben, nie aufhören, diesem Streben kein ,bis
hierher!' zurufen, und doch sich bewußt sein, daß es der Ergänzung
bedarf, die jenes Glauben, jene ,wahre' Meinung ist, die auf der
inneren Erfahrung beruht, sei sie auch ein göttlicher Wahnsinn",
das war nicht nur Piatons, das war auch Nietzsches letzte und
tiefste Erkenntnis. Piaton lehrte die öfiolcoeig d^sm. Und der tiefste
Grund von Nietzsches Wesen ist — hellenisch! Wenn er daher
nicht eine öfioCcaaig /liovvccp lehrte, sondern geradezu die Identifi-
kation mit diesem Gotte, so tat er dies beileibe nicht aus den von
Stekel mit Hilfe der Psychoanalyse erschlossenen Gründen, sondern
— um an ein Wort Goethes zu erinnern — in höherer Spirale lief
der „letzte" Nietzsche den Weg zurück zu jenem geheimnisvollen
Mysterium, das er in der „Geburt der Tragödie** angedeutet hatte.
Kurz: er blieb sich bis an sein Ende treu! Daß aber dieser große,
weltbewegende Geist zu dieser Erkenntnis nicht ohne die schwersten
Seelenkämpfe und nur unter den fürchterlichsten Leiden sich durch-
gerungen hat, das bedarf keiner näheren Erörterung mehr. Bertram hat
daher recht, wenn er wohl im Hinblick auf diese Seelenkämpfe sagt:
„Der brennende Schrei nach dem Mysterium, nach dem ,neuen
Wozu?', ohne das die Menschheit verdorrt, und das Spottlachen des
Intellektualismus, der sich im unentreißbaren Besitz aller Methoden
der Entschleierung weiß — sie klingen im ,Zarathustra' zu grauen-
vollem Zerrklang ineinander, nirgends schauriger als im ,Ecce
homo'. Dieser Zerrklang schrillt durch alle Erlebnisse Nietzsches.
Ein furchtbarer Schauder rüttelt ihn bei dem Gedanken, daß alle
Existenzen in einem fruchtlosen Kreislauf sich abmühen, aber der
Stolz und die Selbstachtung des Übermenschen fordern ein un-
bedingtes Ja zu der Ewigkeit all seiner Taten. Auf dem Gipfel
der Philosophie klafft ein trostloser Schlund, den die Menschheit nur
— 357 —
dadurch überbrücken kann, daß sie sich hineinstürzt. Das ewige
Leben wandelt sich in unergründlichen Tod! Die letzte Konsequenz
der Wahrheit wird zum Wahnsinn. Bei dem im entscheidenden
Augenblick entstehenden Feuerwirbel dieser seelischen Antinomien
mußte ihr Gefäß zersplittern." Das ist der entsetzliche Todeskampf
"zwischen Wunsch und Wissen. Nun ist er beendet! Aber auch
hier ist der Rest Schweigen und sich neigen in Ehrfurcht! Drum
wollen wir hier der herrlichen Verse R. Wagners gedenken, die er
den Manen seines allzufrüh verstorbenen jungen Freundes Karl
Tausig gewidmet hat:
„Reif sein zum Sterben,
des Lebens zögernd sprießende Frucht,
früh reif sie erwerben
in Lenzes jäh erblühender Flucht —
war es dein Los? War es dein Wagen?
Wir müssen dein Los wie dein Wagen beklagen ..."
Und diesen Nietzsche, der in seinem faustischen Streben seine
welke Brust zu den Quellen alles Lebens hindrängte, an denen
Himmel und Erde hängt, diesen Nietzsche nennt Stekel verächtlich
einen Schauspieler! Offenbar deshalb, weil ihm das „Schauspiel"
Nietzsche begreiflicher erscheint als die „unendliche Natur" Nietzsche,
die er trotz der Psychoanalyse oder vielleicht wegen der Psycho-
analyse nicht fassen kann! Dieser Nietzsche soll den „Zarathustra"
wirklich nur deshalb geschaffen haben, um seinen versunkenen
Freund Wagner, den er musikaUsch nicht besiegen konnte, doch
irgendwie zu übertrumpfen? Aber vielleicht liegt in dieser un-
geheuerlichen Behauptung Stekels denn doch ein Körnchen Wahr-
heit! Dem wäre der Fall, wenn Stekel unter der Produktionslust
Nietzsches den Drang verstünde, der Wagner beseelte, als er dafür
kämpfte, seine Ideale zu verwirklichen, d. h. die sichtbare Wirkung
seines Schaffens zu genießen. Also ein Schauspieler war Nietzsche
durchaus nicht. Gegen diese Behauptung Stekels spricht das gewich-
tige Zeugnis Deussens: „Nietzsche war von Haus aus eine tief-
ernste Natur, alles Schauspielerhafte in tadelndem wie in lobendem
Sinne lag ihm gänzlich fern." Seiner ganzen Natur nach ist er
unschauspielerisch, untheatralisch, mögen auch Züge einer gewissen
geistigen Koketterie zu allen Zeiten, namentUch aber in der Spät-
zeit, bei ihm zu beobachten sein. Umgekehrt aber mußten ihn
seine ungeheure Ehrlichkeit, die fast pedantische Ordnungsliebe miß-
— 358 —
trauisch machen gegen jede Art Kakozelie und jedes Pathos.
Th. Lessing (1. c. p. 239) hat dafür die schönen Worte gefunden:
„Alles Rhetorische, Pastorale und Dithyrambische, die Exaggeration,
der übersteigende Akzent, der große Faltenwurf, der Brustton der
Überzeugung, die lapidare Attitüde, das wurde ihm zu einem neuen
Problem. Er entdeckt das Problem der Emphatik. Er ent-
deckt, daß genau das selbe Wort, was bei ihm keusch und un-
schuldig war, an geschickteren Leuten Maske und Mittel sein mußte,
daß genau der gleiche Schrei, an dem er selbst fast starb, von
klügeren Männern nicht ohne Selbstgenuß ausgestoßen wird und
daß man wirklich nicht unterscheiden kann, ob die rote Farbe
des Geschriebenen von Herzblut oder Tinte herrührt. Und er ent-
deckt zugleich, daß das stumme Zucken der Lippe mehr offen-
bart als die gewaltigsten Gesten des Brustschiagens und Haaraus-
raufens, an die sein naiver Verehrungsdrang so gerne geglaubt
hatte . . . und er entdeckt in Wagner den Gestikulator und La-
menteui'. Den ,Heautontimorumenos', der an sich leidet, aber
zugleich das Leiden zum Schauspiel vor sich selber macht. An dem
nichts wahr ist als die Tatsache, daß er zerbricht, nicht aber die
Art, wie er sich an seinem Zerbrechen eine Folie gibt . . . und
das tut er immer etwas zu laut, immer etwas zu superlativisch,
ein wenig unkeusch. Damit will er das Menschentum Wagners
treffen." Damit wollen wir die wundervolle Selbstcharakteristik ver-
gleichen, die Nietzsche in seinen Lebenserinnerungen 1888 gibt:
„Mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder
Instinkte zu haben. Es fehlt jeder krankhafte Zug an mir ; ich bin
selbst in Zeiten schwerer Krankheit nicht krankhaft geworden ;
umsonst, daß man in meinem Wesen einen Zug von Fanatismus
sucht. Man wird mir aus keinem Augenblick meines Lebens irgend-
eine anmaßliche oder pathetische Haltung nachweisen können. Das
Pathos der Attitüde gehört nicht zur Größe; wer Attitüden über-
haupt nötig hat, ist falsch. — Vorsicht vor allen pittoresken
Menschen! — Das Leben ist mir leicht geworden, am
leichtesten, wenn es das Schwerste von mir ver-
langte^) .. . ich kenne keine andere Art, mit großen Auf-
1) Im „Zarathustra" findet sich die Sentenz: „Wir lieben das Leben,
nicht weil wir ans Leben, sondern weil wir ans Lieben gewöhnt sind."
Da ist aber freilich zu entgegnen, daß Nietzsche, der unsäglich Leidende,
— 359 —
gaben zu verkehren, als das Spiel: dies ist, als ein An-
zeichen der Größe, eine wesentliche Voraussetzung. Der ge-
ringste Zwang, die düstere Miene, irgendein harter Ton im
Halse sind alles Einwände gegen einen Menschen, um wieviel mehr
gegen sein Werk! — Man darf keine Nerven haben. — Auch an
der Einsamkeit leiden ist ein Einwand — ich habe immer nur
an der „Vielsamkeit" gelitten. — In einer absurd frühen Zeit, mit
7 Jahren, wußte ich bereits, daß mich nie ein menschliches "Wort
erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehen? —
Ich habe noch die gleiche Leutseligkeit gegen jedermann, ich bin
selbst voller Auszeichnung für die Niedrigsten: in dem allen ist
nicht ein Gran von Hochmut, von geheimer Verachtung. Wen ich
verachte, der errät, daß er von mir verachtet wird: ich empöre
durch mein bloßes Dasein alles, was schlechtes Blut im Leibe hat.
Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati; daß man
nichts anderes haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle
Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger
verhehlen, — aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen
— sondern es lieben!" Ähnliches können wir in einem Briefe
Nietzsches an Strindberg, wohl aus der dritten Novemberwoche 1888
mit allen Koniplementärfarben seines Leidens dieses Lebensideal uns aus-
gemalt hat; denn, so sagt sein Zarathustra: „Du willst, du begehrst,
du liebst, darum allein liebstdu das Leben!" Gewiß liegt in
diesem Ausspruche etwas vom schmerzvollen Rufe des Kranken nach Ge-
sundheit, aber auch etwas von dem alten Bibelwort: „Der Glaube ist eine
Zuversicht des, das man nicht siebet." Nietzsche hat eben das Leben
geliebt, nicht wie es war, sondern wie er es wollte, wie er es schaffen
wollte. Und darin, in diesem Protest gegen die Unvollkommenheit der Welt
<cf. p. 147/48) erblicke ich etwas Tiefreligiöses. Solange Menschen auf dieser
Erde leben werden, solange wird immer wieder dieser Protest erhoben
werden von — den tiefer Denkenden! Nietzsche zog daher ganz folgerichtig
die Konsequenz aus dem polaren Gegensatz der Systeme Hegels und
Schopenhauers (alles Wirkliche ist vernünftig und alles Vernünftige ist
wirklich — der Weltwille ist blind, alles Weltgeschehen ist unvernünftig).
Auch Wagner hat diesen Protest erhoben (cf. p. 148/49), daher mündet sein
Schaffen im Religiösen, genau so wie bei Nietzsche, der allerdings viel
radikaler war. So strahlt daher das alte Goethewort: „Wer Wissenschaft
•und Kunst besitzt, hat auch Religion", im Glänze einer neuen Wahrheit
auf. Denn niemand anderer wie Nietzsche gibt uns so unzweideutige Winke
zu einem tieferen Verständnis der Religion, zu einer so gewaltigen Einsicht
ihrer Lebens notwendigkeit.
— 360 —
stammend, lesen, gleichfalls eine Art Selbstschilderung: „Ich hatte
mit R. Wagner und Frau eine Intimität, wie ich sie mir wertvoller
nicht denken konnte. Im Grunde bin ich vielleicht ein alter Musi-
kant. Später hat mich Krankheit aus diesen letzten Beziehungen
herausgelöst und mich in einen Zustand tiefster Selbstbesinnung
gebracht, wie er vielleicht kaum je erreicht worden ist. Und da
in meiner Natur selbst nichts Krankhaftes und Willkürliches ist, so
habe ich diese Einsamkeit kaum als Druck, sondern als eine un-
schätzbare Auszeichnung, gleichsam als Reinlichkeit empfunden.
Auch hat sich noch niemand bei mir über düstere Mienen beklagt,
ich selbst nicht einmal: ich habe vielleicht schlimmere und frag-
würdigere Welten des Gedankens kennen gelernt als irgend jemand,
aber nur, weil es in meiner Natur liegt, das Abseits zu lieben. Ich
rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie." Wenn
aber trotzdem die Gerechtigkeit uns zwingt, zu sagen, daß seine
Angriffe auf Wagners Menschentum vielfach auf Grund vorgefaßter
Wertung, ohne Liebe und ohne psychologische Vollständigkeit er-
folgten, sind sie nicht zum großen Teile entschuldbar auf Grund
der seinerzeit entwickelten psychologischen Tatsachen? Gewiß,
auch hier bleibt ein Erdenrest, zu tragen peinlich^)! Aber noch
immer ist dieser Erdenrest nicht von der Schwere, um Nietzsche
erbarmungslos in Grund und Boden zu verdammen. Wie lange
noch wird auch von ihm das bittere Wort Goethes Geltung haben:
„Da man an mein Talent nicht herankann, verunglimpft man
meinen Charakter!"?
Das tragischeste jedoch ist, daß Nietzsche nicht nur als
Mensch, sondern auch als ^ Wissenschaftler" noch immer der Ver-
kennung ausgesetzt ist. Aber angesichts dieser Verkennung kann
^) Es sei bei dieser Gelegenheit an Goethe erinnert, der (am 2. Jänner 1800)
an Fritz Jacobi schrieb: „Man lernt, daß wahre Schätzung nicht ohne
Schonung sein kann!" Wir bedürfen eben — Wilamowitz hat einmal über
Goethe sich im selben Sinne geäußert — des ganzen Menschen mit all seinem
Vollbringen und Liegenlassen, Genießen und Entsagen. Gerade weil die Zeit
und die wissenschaftliche Forschung auch das Bedingte und Unzulängliche
in den Werken und in den Menschen immer deutlicher hervortreten läßt,
gewinnt der ganze Wagner, gewinnt der ganze Nietzsche erst die volle Macht
eines vorbildlichen Menschen; das ist mehr als Apotheose. Erst der ganze
Mensch, so recht und schlecht er ist, lehrt uns leben und streben und
— entsagen, was das Notwendigste ist!
— 361 —
seine persönliche Größe in seinem Scliaffen nie genug betont werden.
Und dieses stärkste philosophische Pathos, das mit ihm im selben
Maße kein Denker teilt, hat sich bei Nietzsche an der Antike ent-
zündet: aus ihr schöpft er Nahrung und Kraft wie vor ihm unsere
Klassiker. Aber wie die Stürmer und Dränger infolge einer gewissen
Seelenverwandtschaft sich für gewisse Seiten des Hellenentums
entflammten und begeisterten, tat dies auch Nietzsche, indem er
sich in den Vorsokratikern erkennt. Im Phänomen des Dionysischen,
wie er es aus dem Mythos und den Mysterienkulten jener Jahr-
hunderte fruchtbarsten Schaffens und Lebens zu ergreifen suchte,
fand er das sprechendste Symbol seiner Weltanschauung, seiner
Religion, die er aus jenem Griechentum herauslas oder in es hin-
einlas. Offenbar nur im engsten Anschluß an jene Erscheinungen
kam er zu den Visionen seiner Wertphilosophie, seines Evangeliums.
Nun steht es gewiß außer allem Zweifel, daß Nietzsche in der
„Geburt der Tragödie" mit erbarmungsloser Vergewaltigung der
historischen Tatsachen das Symbol des Dionysischen mit der ganzen
noch unverbrauchten Glut seiner Jugend ans Licht gehoben hat.
Und am Ende seiner Schaffenszeit, nach einem unsäglich opfer-
reichen und leid vollen Leben, kurz vor seinem Zusammenbruch,
hat er in der „ Götzendämmerung " auf dieses Problem wieder zu-
rückgegriffen und mit ihm den Ring seines Lebens, wie begonnen,,
so auch geschlossen. Indes schließt die Vorstellung vom Leben,
die er aus der Erkenntnis dieses Problems ableitet, den Gedanken
der Exuberanz, der ungeheuersten Verschwendung, des Reichtums
und Überschusses in sich. Nur von hier aus findet er die Be-
jahung und den Mut zu seiner erbarmungslos .tragischen') Welt-
anschauung: nicht so, daß er den Pessimismus Schopenhauers ab.
schwächte, sondern ihn vertiefte und verstärkte und trotzdem zu
einer positiven Bewertung unseres Daseins gelangt, weil bei ihm
bei dem Überschwang der Lebenskräfte der Schmerz als ein Reiz
mehr wirkt. Denn „das schnellste Tier, das euch zur Vollkommen-
heit emporträgt, ist das Leiden!" Symbol für diese Lebensfülle ist
ihm der Gott und Kultus des Dionysos, des Todes- und Lebens-
gottes, dessen Gläubige mit Lust den Schmerz suchen. Deshalb
^) Deshalb hat Wagner in einem Briefe an Peter Gast Nietzsche nicht,
mit Unrecht einen „verkappten Tragödiendichter" genannt.
— 362 —
sagt er in der „Götzendämmerung": „Die Psychologie des Orgiasmus
als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen
selbst der Schmerz noch als ein Stimulans wirkt, gab mir den
Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von
Aristoteles als insonderheit von unseren Pessimisten mißverstanden
worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessi-
mismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie
vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegeninstanz
zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen frem-
desten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben im Opfer
seiner höchsten Typen der eigenen Unerschöpflichkeit frohwerdend
— das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brücke zur
Psychologie des tragischen Dichters."
Unsere Aufgabe besteht nun darin, dieses Dionysosproblem
Nietzsches historisch und psychologisch zu beleuchten und den
Versuch zu wagen, es auf Grund des hiebei gewonnenen Materials
zu seinem innersten Denken und Fühlen in Beziehung zu setzen.
Ganz ungeahnte, weltumspannende Perspektiven werden sich dabei
unserem erstaunten Blicke auftun und die fast mystisch zu nen-
nende, tiefe Wesensverwandschaft entschleiern, die Nietzsche nicht
nur mit Richard Wagner verband, sondern auch mit den Größten
unserer Nation: mit einem Goethe, mit einem Beethoven.
Gegen das Ende seines Schaffens hat Nietzsche die tiefe
Identität des zerrissenen Dionysos mit dem gekreuzigten Christus
beschäftigt wie kein Thema. „Diese Tatsache", sagt Bertram, „er-
laubt uns die deutende Vermutung, daß Nietzsche vielleicht irgend-
wann einmal noch die Erkenntnis von dieser seiner eigenen christ-
lichen Identität großartig fruchtbar gemacht hätte, daß er das Bild
eines gekreuzigten Dionysos, des sieghaften zerrissenen Lebens, mit
einem neuen, noch nicht gehörten, dennoch uralten Sinn hätte er-
füllen können — daß er die beiden großen kultischen Gegenpole
und Enden der Menschheit, den hellenischen Kult des Leibes und
den christlichen Kult des Leidens miteinander irgendwie in einem
, neuen Liede' vereinigt hätte . . . einem Liede, das nun noch
schlafend geblieben ist und das von keiner bloßen ,Erkenntnis' auf-
geweckt werden wird." Mit anderen Worten: diesen Nietzsche
kann man nur unter der weitesten Perspektive betrachten, wenn
man ihn halbwegs verstehen will; ihn hineinzuzwängen in das
— 363 —
Prokrustesbett moderner psychiatrischei- Forschung, um an seinem
Denken die Daseinsberechtigung einer im Grunde nichtssagenden
Nomenklatur zu erweisen, das dünkt mich ärger als bloßes
Nichtverstehen ; d. h. den Mann und seine Werke absichtlich nicht
verstehen wollen. Als Nietzsche in Turin die ersten Symptome
geistiger Erkrankung zeigte, schickte er Zettel mit der Unterschrift
— „der Gekreuzigte'* oder „Dionysos" — an Cosima, Rohde, Brandes,
Bülow und Peter Gast. An letzteren schrieb er z. B.: „Singe mir
ein neues Lied; die Welt ist verklärt und alle Himmel
freuen sich. Der Gekreuzigte!" Oder an Georg Brandes, der
es als erster gewagt hatte, Nietzsche zum Gegenstand einer Uni-
versitätsvorlesung zu machen: „Dem Freunde Georg. — Nachdem
Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück, mich zu finden:
die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren . . . der Ge-
kreuzigte." Auch an Strindberg schrieb er: „Herrn Strindberg!
Eheu? . . . nicht mehr Divorgons? . . . Der Gekreuzigte." Es ist
nun merkwürdig, daß so viele, die Nietzsche bekämpfen und be-
klagen, ihn gleichzeitig ins Zuchthaus und ins Irrenhaus weisen.
Widerlegen sie sich nicht selbst? Karl Joel findet selbst in den
letzten privaten schriftlichen Äußerungen Nietzsches, soweit er sie
kannte, nichts von der Katastrophe, nichts, das den Zusammenhang
seiner Geistesentwicklung durchbricht und abreißt: „Nennt ihr's
auch Tollheit, hat es doch Methode I" Diese Aufzeichnungen nämlich
sind keineswegs die willkürlichen Äußerungen „eines toll gewor-
denen Zuchthäuslers", sondern sie lassen sich durch weltgeschicht-
liche Parallelen psychologisch rechtfertigen, ja sie werden geradezu
lichtgebend für diese Entwicklung seines Denkens, deren Konsequenz
sie offenbaren. Im Jahre 1888 schrieb Nietzsche: „Diese Herren,
die keinen Begriff von meinem Zentrum, von der großen Leiden-
schaft haben, in deren Dienst ich lebe, werden schwerlich einen
Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines Zentrums ge-
wesen bin, wo ich wirklich exzentrisch war!" Dieses Selbst-
bekenntnis Nietzsches ist nicht nur zu wahr, es ist mehr: es
liefert uns erst das richtige Kriterium für die objektive Beurteilung
seines Fühlens und Denkens. Nietzsches Zentrum blieb immer die
große Leidenschaft : Schwung der Begeisterung, Enthusiasmus ohne-
gleichen, oft geradezu ein Rauschtaumel — diese Affekte begleiten
sein Ringen um die Wahrheit. Dieser Nietzsche war selbst auf
— 364 —
jenem Zettel nicht exzentrisch, da er sich Rohde gegenüber Dio-
nysos nannte: denn diesen Dionysos, diesen Seelengott, diesen Gott
des höchsten Seelenaufschwungs, fühlte Nietzsche in sich nach»
Von der Zeit der „Geburt der Tragödie", da ihm das Dionysische
erst noch wie eine Vision erschien, von dieser Zeit an, sage ich,
bis zu seinem geistigen Zusammenbruch hat er ihn gesucht mit
all der Inbrunst, mit der ein Mystiker seinen Gott sucht, meinte er
stets seinen Verwandlungen auf der Spur zu sein. Aber als echter
Romantiker mußte er immer in einem anderen, in einem Höheren
als er selbst war, leben: zuerst war die klassische Philologie sein
Ideal, dann Schopenhauer, dann Wagner — „an allen psychologisch
entscheidenden Stellen von Wagner in Bayreuth ist nur von mir
die Rede — man darf rückhaltslos meinen Namen oder das Wort
Zarathustra hinstellen, wo der Text das Wort Wagner gibt!" —
dann Zarathustra und schheßlich wieder Dionysos. Und nachdem
er den Orgiasmus bis zum letzten, höchsten Aufschrei der Leiden-
schaft durchlebt hatte, da ihm die Seele emporschwoll bis zum
letzten Ziele, zur Einheit mit dem G-otte — da war er am Ende,
da barst ihm die übervolle Seele im müden, kranken Leib, da sank
er in Nacht! Wer deswegen Nietzsche bekämpft oder ihn verrückt
schilt, der versteht die ganze deutsche Mystik nicht, deren Ziel es
ist, eins zu werden mit dem Gotte, der versteht die Romantik
nicht, die vom Menschen forderte „Gott zu werden", der versteht
auch Piatons diiolaöig d^söo nicht!
Aber ehe der Berauschte entseelt zu den Füßen des Gottes
lag, mit dem seine Seele eins geworden war, nannte er sich auch
„der Gekreuzigte"! Vielleicht ist auch dieser letzte Brief und auch
diese Unterschrift nicht ganz so wahnsinnig als man gewöhnlich
meint; schließlich sagte er doch selbst: „Es ist immer auch etwas
Vernunft im Wahnsinn!" Gedenkt man der Christusparallelen, die
im „Antichrist" mehrfach mit besonderer Sympathie und FeierUchkeit
erklingen, so ergibt sich, daß sie ihm tiefer im Sinne lagen als er
früher verraten hatte, daß sein Verhältnis zu Christus, das man nie
gleichsetzen darf seinem Verhältnis zum Christentume, für ihn be-
reits damals ein zwar noch fernes, aber doch bereits geahntes
Mysterium barg, ein Mysterium, wo Haß und Liebe, Neid und Ehr-
furcht, Widerspruch und Vorbild verschmelzen zu einer letzten Ein-
heit der Gegensätze: denn Dionysos war in einer Person der Gott
— 365 —
des tiefsten Leidens und höchsten Jauchzens, Opferer und Opfer in
einer Person, der ewig Verwandelte und Wiedergeborene —
Nietzsches Wesen und Lehre, seine eigene Natur und sein Ideal.
So sagte er selbst: „Wer an sich denkt, denkt im Grunde an sein
Ideal", und dieses Ideal sei unser Wesen, ein höheres Wesen, als
wir selbst es sind, zu schaffen. Über Parallelen zwischen Christus
und Dionysos, wenn nicht gar deren Identifikation, äußerte sich
Nietzsche bereits als Philologe; so erschien ihm im euripideischen
Drama Dionysos eingeführt als „Gottessohn", von einer irdischen
Mutter geboren und als ein in den Menschen verwandelter Gott,
als Gottmensch. Und der dionysische Mythos zeigt das Martyrium
des Gottes, sein Sterben und seine Auferstehung, und die Orphik
vertiefte ihn zu einem Tröster der Armen und Mühseligen und zu
einem Erlöser der sündigen Menschheit. Aus diesem Grunde
nannte er das Volk, „das die Perserschlachten schlug, das Volk
der tragischen Mysterien". Aber da dämmerte im Osten die
Lehre des Christentums — und der neue Wein ward in die alten
Schläuche gegossen. Wir haben schon gehört, mit welcher Anti.
pathie Nietzsche dieser neuen Lehre, deren geistiges Oberhaupt ihm
Paulus ist, gegenüberstand. Und so wird es uns begreiflich er-
scheinen, daß, wenn selbst Hegel nach dem Siege des Christentums
als des tragischen Mysteriums über die antike Welt sagte, daß am
Ende der alten Welt „Gott gestorben sei!", Nietzsche mit derselben
Herzensangst wie die Alten ihr „der große Pan sei tot!" sein be-
rühmtes „Gott ist tot!" ausrief. Es war das damals, als der Apostel
Paulus auf dem Areopag zu den letzten Ausläufern griechischer
Schulen von jenen geheimen Mächten des menschlichen Herzens
sprach, die unter der häßlichsten Hülle am lebendigsten glühen und
gegen welche alle Schönheit und Pracht leuchtender Erden doch
nur ein Nichts ist — da beginnt der „Sklavenaufstand der Moral",
den Nietzsche haßt, weil er die kaum geborene Welt des schönen
Menschen mit alexandrinischem Dunst und dogmatischen Nebeln
überzog. Nun konnte Nietzsche diesen gestorbenen und wieder
auferstehenden Gott wiederfinden in seinem Dionysos, der die Welt
des vorsokratischen Griechentums beherrschte. Früh schon sprach
er davon, wie Dionysos als »der zukünftige Weltbeherrscher als
Kind von den Titanen zerstückelt wird und wie er jetzt in diesem
Zustand als Zagreus zu verehren sei" ; darauf beruhe der Unter-
- 366 —
boden des ganzen hellenischen Kunstlebens. Und in der Tat wurden
im tragischen Mysterium der alten Hellenen die Leiden des Gottes
dargestellt: die Zerreißung des Gottes gehörte zum Kultus des
Gottes; denn das zerrissene Opfertier, womit die Zerreißung ge-
geben war, stellte die Gottheit dar, und seine Verspeisung galt als
mystische Vereinigung mit der Gottheit. Vielleicht darf man nun
mit Joel Nietzsche, den Antichrist, den Mörder Gottes verstehen
als den Orgiasten in jenem Augenblick, da er den Gott, mit dem
er sich eins fühlt, zerreißt. Begründet wäre diese Ansicht
durch die religiöse Erfahrung der Menschheit, die tiefe Mystik
aller Zeiten und ganz besonders durch Nietzsches Lebens-
bekenntnis zu Dionysos: „Ein (das) Kreuz mit Rosen
umhüllt (dicht umschlungen), wie Goethe in den Geheim-
nissen", heißt es ahnungsschwer in einem Nachlaßfragment
zur „Geburt der Tragödie". Ganz besonders aber, wenn wir
lesen: „Die Musik als Nachklang von Zuständen, deren begriff-
licher Ausdruck Mystik war ... die Versöhnung der inneren Gegen-
sätze zu etwas Neuem, Geburt des Dritten!" Dieser Ausdruck
aber ist nichts anderes als die eleusische Formel für das Erleben
des Dionysos, der rglrog ^^6og genannt wurde^). Und aus welch
anderem Grunde hätte dieser selbe Nietzsche von der „Geburt der
Tragödie" 1886 geschrieben: „Sie war ein Zwiegespräch mit dem
Künstler R.Wagner", aber auch mit sich selbst: „Wer bist du?
Wer bin ich? An welche Aufgabe wagte ich bereits mit diesem
Buche zu rühren? . . . Dionysos redete zu mir!" wenn nicht
Dionysos stets sein tiefstes Erlebnis gewesen wäre?
1) Cf. p. 160/6L
XXIII. DER MYSTIKER NIETZSCHE.
Damit aber haben wir eine Seite in Nietzsches Wesen berührt,
die m. E. bisher noch viel zu wenig gewürdigt worden ist: seinen
ausgesprochenen Hang zum Mystizismus; der gegen das Ende
seines Schaffens von seinem Denken und Fühlen immer mehr und
mehr Besitz nimmt. Die Prädisposition zu dieser seiner Mystik er-
blicke ich in seiner Abstammung aus einer evangelischen Theologen-
familie und in seiner sublimen Vorliebe für das Hellenentum,
respektive das Instinktmäßige, Dunkle in ihm').
Das Wort Mystik wird abgeleitet von dem Verbum hvslv^
das heißt die Augen schließen, um wachen Geistes zu schauen
und sich in das eigene Wesen, die Innenwelt zu versenken. Der
Mystiker glaubt an eine innere Erleuchtung und an ein über-
irdisches Licht: er will Gott schauen in dem hellen Scheine,
der von obenher in seine Seele fällt. So heißt es im 36. Psalm:
„In deinem Lichte sehen wir das Licht." Von allem Äußeren ab-
gekehrt, ganz sich und der Kontemplation hingegeben, sehnt sich
die Seele nach Erleuchtung und will durch intellektuelle An-
schauung das Licht ergreifen, das ihr ein Gott, der in sie eintritt,
spendet. Hat sie dies gewonnen, genießt sie „tiefsten Kuhens
Glück" (PlotinEnn. V, 3, 17). Der Mystiker ist überzeugt, daß seine
Seele ein Wesen für sich, eine Hypostase ist und nur als Gast
im irdischen Leibe wohnt; daher macht „die ekstatische Erhebung
der Seele zu der Empfindung der eigenen GöttUchkeit die innerste
Kegung aus"; daher der Glaube des Mystikers, daß ihm auf Momente
wirklich und ohne Wahn mit dem Leben der Gottheit zu leben
nicht versagt ist. Aber um zu dem ewigen Leben, zu der Gemein-
schaft mit dem Göttlichen und Reinen und Einsgestaltigen zu
kommen, ist eine Umwendung der Seele erforderlich, eine Ab-
wendung von dieser Welt: da wachsen der Seele Flügel, und um
J) Cf. p. 166/67.
— 368 —
Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wird der Mystiker
göttUch und versetzt sich in Gott. In diesem Sinne hat Rohde in
seiner „Psyche" «die Verse eines nicht genannten Dichters zitiert:
„Darein ich mich versenke,
das wird rait mir zu eins;
ich bin, wenn ich ihn denke,
wie Gott, der Quell des Seins."
So wie daher Plotin die Idee des höchsten Guten nicht als
ein Gegenstand des größten Wissens, als ein (liycörov ^ccd^rj(ia,
erscheint, sondern als ein Gegenstand des intensivsten Schauens,
so „ließ" auch Nietzsche, um Plotins Worte zu gebrauchen, „alles
Wissen fahren und, bis hieher geleitet, denkt er bis zu dem Punkte,
auf dem er sich befindet; plötzlich schaut er, ohne zu wissen wie,
sondern das Schauen füllt die Augen mit Licht und läßt sie nicht
ein anderes sehen, sondern das Licht selbst ist das Objekt des
Schauens" (Enn. VI, 7, 36). Aber dieses Schauen ist noch nicht
das Letzte und Höchste. Soll es zur Vereinigung mit Gott kommen,
muß das Schauen über das Schauen hinausgehen: es muß eine
Ekstase werden, eine Hingabe seines Selbst, ein Suchen und Sinnen
auf Vereinigung (ixeraöig xal inidoöig avxov xal icpseig ^Q^S &(p^v
xal ötdöLs xal nsQivörjöig Jtgbg icpaQiioyriv; Enn. VI, 9, 11).
Nun sind wir leider über das Wesen der griechischen
Mysterien viel zu wenig unterrichtet; auf zerstreute Andeutungen
bei verschiedenen Autoren — die Mysten haben im strengsten
Sinne des Wortes Schweigepflicht geübt! — sind wir angewiesen
und können uns daher nur einen schwachen Begriff davon machen.
Karl du Prel („Die Mystik der Griechen") berichtet: „In einem dem
Plutarch zugeschriebenem Fragment bei Stobäus ist davon die Rede,
daß die mit der Einweihung verknüpfte Seligkeit nicht sofort er-
reicht werde; zuerst finde langes Umherirren statt, beschwer-
liche Wege, und aus einem gewissen Dunkel verdächtige und zu
keinem Ausgang führende Wege; dann, vor dem Ende selbst, alles
Furchtbare, Schauer, Zittern, Angstschweiß und Entsetzen. Sodann
aber kommt eine wundervolles Licht dem Einzuweihenden ent-
gegen, glänzende Auen mit Stimmen und Chortänzen, ehrwürdige
Laute und göttliche Erscheinungen. Dann erst begeht der Ein-
geweihte, frei geworden, entlassen umhergehend und gekrönt, die
eigentliche Feier. Er geht sodann mit heiligen und reinen Menschen
— 369 —
um." Das Wesen der Seele wird also in diesen Mysterien als gött-
lich erlebt, empfunden und geschaut; sie vereinigt sich mit Gott.
„Tiefere Naturen", sagt Reitzenstein, „suchen von früh an in dem
Mysterium neue Erkenntnis und Steigerung der Göttlichkeit des
eigenen Ichs . . . der Myste schaut nicht bloß, was Osiris er-
lebt hat, sondern er erlebt es selbst und wird dadurch Osiris."
Ganz merkwürdig aber ist der Bericht des Historikers Zosimos : Die
alten Hellenen sollen geglaubt haben, daß dieser Mysterienkult
dazu diene, das ganze Menschengeschlecht als eine Einheit zu-
sammenzuhalten. Was bedeutet diese merkwürdige Mitteilung?
So viel ist aber klar, daß die alten Hellenen den Pessimismus,
von dem wir seinerzeit sprachen, durch ihre Flucht ins Transzen-
dente, in die religiöse Mystik, zu überwinden verstanden haben:
das ist der Kult der orphischen Mysterien, der sich hauptsächhch
um die Person des Dionysos konzentrierte. Durch Platoji wurde er
sodann ein integrierender Bestandteil der griechischen Geisteswissen-
schaft. Indes besteht der Gegenstand dieses Denkens gewiß ver-
möge der Höherwertung der transzendenten, immateriellen Welt in
einer Abkehr von dieser materiellen, daher diese ganze Lebens-
anschauung pessimistisch ist, insoweit die Wertung des irdischen
Lebens in Betracht gezogen wird. Erwägt man aber, daß dieses
irdische Leben nichts anderes als nur ein kleiner Ausschnitt aus
dem Gesamtdasein der menschlichen Seele ist, die, ewig wie sie ist,
aus der göttlichen Sehgkeit stammt und in sie zurückzukehren hat,
so hegt in dem Gedanken, daß die Seele alle Kraft zur Erlösung
aus sich selbst schöpft, einer der Hauptunterschiede zwischen
Hellenentum und Christentum, bei welchem die Erlösung ein Akt
der göttlichen Gnade ist. Dieser Gedanke der hellenischen Selbst-
erlösung ist echt sokratisches Erbgut, basiert auf die Autarkie,
mag auch der Neuplatonismus die Betrachtung, durch die man sich
zum GöttUchen erhebt, ähnlich wie später Schopenhauer die
Kontemplation, als Allheilmittel gegen die Schwere des Lebens
empfehlen. Das echte, alte, vom orientahschen Dualismus noch nicht
angekränkelte Hellenentum hat den Pessimismus wirklich überwunden,
es fand die Kraft in sich, sich in die Wirklichkeit des Lebens zu
schicken, „sterblich gesinnt zu sein" und bei aller Schwere „die
Notwendigkeit zu lieben" (cf. Eurip. Frgm. 1075 : y,d'vrizbg yicQ dv xal
d^vrizic Tislösö&ai döxstl"). Damit deckt sich die Gesinnung, die
G r i e ß e r, Wagner und Nietzsche, 24
— 370 —
Nietzsche im Anschluß an die Antike und an Spinozas „amor
intellectuaUs dei" „amor fati" genannt hat: „die Bejahung des
ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens".
Aus unserer bisherigen Darstellung läßt sich als ziemlich fest-
stehend entnehmen: 1. daß die Mysterien der den Hellenen an-
geborenen lebenbejahenden; den Pessimismus verneinenden Welt-
anschauung ihren Ursprung verdanken; denn weswegen hätte sich
sonst der Kult um die Person des Dionysos als des Gottes des sieg-
reichen Lebens konzentriert? 2. daß die Mysten sich feierlich zu
einer heiligen G-emeinschaft^) zusammenschlössen, demnach also
eine in desWortes ursprünglichstem Sinne katholisierende Tendenz
vertraten. Daraus erhellt aber auch, daß sich mit Hilfe der Magie
Theurgie, Telestik, des Spiritismus oder gar Okkultismus das Wesen
der Mystik nicht begreifen läßt. Aber auch als eine Art dionysischen
Rausches dürfen wir sie nicht auffassen und rationalistisch deuten.
Auch der Materialist oder Monist werden einem Mystiker nie und
nimmer gerecht werden können. Beweis dafür ist, daß der Mystiker
Nietzsche kurzerhand als Narr, als irrsinnig erklärt wird und dieses
Märchen von Gebildeten wie von Laien mit Überzeugung nach-
gebetet wird.
Zu dieser Art Mystik, wie sie wissenschaftUch durch Plotin
vertreten wurde, gesellte sich noch die christliche, welche die unio
mystica durch den Gehorsam gegen Gott, durch den Glauben an
Gott, durch die Liebe zu Gott, durch Christus lehrte. Aber noch
viel später, jedenfalls unter dem Einflüsse indischer Dogmatik,
wurde die Identität des Mystikers mit Gott als eine wechselseitige
Beziehung aufgefaßt: die mystische Erfahrung kann entweder die
Erkenntnis sein, daß Gott ich ist, oder die Erkenntnis, daß ich Gott
bin. Die Wahrheit dieser beiden Erkenntnismöglichkeiten ist jedoch
die eine, daß das Absolute weder Gott ist noch ich. Und wenn es
die Voraussetzung aller Mystik ist, daß die Erkenntnis der Wahr-
heit zugleich auch die erlösende Erkenntnis ist, so folgt, daß in
der mystischen Einigung Gott ebenso von seinem Gottsein erlöst
wird, wie ich von meinem Ichsein. Gott und ich sind jetzt Wechsel-
^) Cf. die Gralsbrüderschaft im „Parsifal"! Und ist schließlich nicht
auch die „alleinseligmachende" katholische Kirche mit ihrer Forderung
nach einer Herde mit einem Hirten solch ein Verein von Mysten, die
sich um das heilige Wunder-Mysterium der Transsubstantiation scharen?
— 371 —
begriffe; ihrer beider absolute Setzung beruht auf der gleichen Ver-
kennung ihrer Identität; aber es ist ja auch wirkUch dasselbe Ich-
gefühl, das bald in einem Menschenleibe als Individual-Ich, bald in
der Welt der andern Dinge als Welt-Ich ausgesagt wird: Gott und
das Ich haben also nur eine relative, wechselseitig durch einander
bedingte Existenz : sie sind nicht an sich, sondern nur für einander.
Vielleicht dürfen wir in diesem Sinne Nietzsches früher zitierten
Ausspruch: „Wenn es Götter gäbe, wie hielt ich's aus, kein Gott zu
sein! .... Also gibt es keine Götter!", verstehen, wenn wir mit
Georg Simmel annehmen, daß Nietzsche mit diesen Worten nur ein
Gefühl in die Form des höchsten Personalismus gebracht hat, das
in anderer Form auch christlichen Strömungen des Innenlebens
durchaus nicht fern geblieben ist. Denn im Christentum lebt neben
allem unendlichen Abstand aller Niedrigkeit gegen Gott doch das
Ideal, ihm gleich zu werden — ein Derivat aus der früher er-
wähnten platonischen S^oCcjöig &£&, Verähnlichung mit Gott. Und
dieses Ideal mündet in die Sehnsucht, die durch die Mystik aller
Zeiten und Religionen geht: mit Gott völlig eins zu werden oder,
mit dem kühnsten Ausdruck: Gott zu werden. Von der „deificatio"
redet die Scholastik, für Meister Eckhardt kann der Mensch seine
Kreatürlichkeit aufheben und wieder zu Gott werden, wie er es
seinem eigentUchen und ursprünglichen Wesen nach ist, oder wie
es Angelus Silesius ausdrückt:
„Soll ich mein letztes End' und ersten Anfang finden,
so muß ich mich in Gott und Gott in mir ergründen
und werden das, was er."
Es ist das diese selbe Leidenschaft, die auch Spinoza und
Nietzsche erfüllt: sie können es nicht ertragen, nicht Gott zu sein.
Beide aber hegen, wie auch jene frühe deutsche Mystik, die Voraus-
setzung, daß die Individualität, das Für-sich-sein, die Besonderheit,
sich nicht mit der Universalität, dem Allsein, dem Göttlichen ver-
tragen. Und von diesen beiden Motiven aus schUeßt Spinoza im
Sinne der Mystik und völUg konsequent: also gibt es keine Be-
sonderheit. Denn in der Tat: wenn es nur Gott gibt, wenn die
Individualität der Wesen eine bloße negatio — ein Nichts ist, so
ist sie nicht. Und damit ist erreicht, daß das menschUche Wesen
Gott ist. Deshalb heißt es bei Angelus Silesius im „Cherubinischer
Wandersmann" :
24*
~ 372 —
„Gott ist wahrhaftig nichts; und so er etwas ist,
so ist er 's nur in mir, wie er mich Ihm erkist . . .
ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,
werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben . . .
nichts ist als Ich und Du: und wenn wir zwey nicht sein,
so ist Gott nicht mehr Gott, und fällt der Himmel ein."
Ich meine nun, daß der obzitierte Ausspruch Nietzsches dem-
nach durchaus keine krankhafte Ausgeburt seines Größenwahns ist,
sondern die einzig mögliche letzte und feinste Konsequenz des
idealistischen, ja solipsistischen Charakters seiner mystischen Er-
fahrung. Den ganzen „Zarathustra" denke ich mir als im Zustande
mystischer Ekstase geschaffen; berichtet doch der Autor selbst im
„Ecce Homo", daß man „mit dem geringsten Keste von Aber-
glauben in sich die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Medium
übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abweisen würde. Deshalb
sei seine Inspiration ein vollkommenes Außer-sich-sein mit dem
distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und Über-
rieselungen bis in die Fußzehen; alles geschehe wie in einem
Sturme von Göttlichkeit."
Gerade diese TJmbiegung des christlichen Mystizismus in einen
hellenischen, respektive ihrer beider Verquickung ist es, wie wir
im folgenden noch genauer zeigen werden, was Nietzsche mit
Goethe und Wagner als wesensverwandt erscheinen läßt. Allerdings
vertrat Wagner nur in der Frühzeit seines Schaffens, ganz besonders
im „Tristan", einen hellenisch, also optimistisch gefärbten Mystizis-
mus; denn der „Parsifal", sein mystischestes Drama, ist ganz und
gar nur von christlicher Mystik und Symbolik erfüllt. — Ich darf
wohl Goethes „dunkles" Gedicht „Die Geheimnisse'* als bekannt
voraussetzen: ein Pilger naht nach langer Wanderung einem Tale,
sieht dort das Kreuz der Erlösung und schlägt die Augen nieder:
„Er fühlet neu, was dort für Heil entsprungen,
den Glauben fühlt er einer halben Welt;
doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen,
wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt:
Es steht das Kjreuz mit Rosen dicht umschlungen^).
Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?
Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten
das schroffe Holz mit Weichheit zu begleiten."
1) Dieses mit Rosen umwachsene Kreuz deutet, wie der ganze Inhalt
der zur Ausführung gekommenen Strophen zeigt, auf Gottergebenheit und
— 373 —
Ist es nun nicht mehr als ein bloßer Zufall, daß Wagner sein
Werk „Die Kunst und die Revolution" mit den bedeutsamen Worten
schließt: „So würde uns denn Jesus gezeigt haben, daß wir
Menschen alle gleich und Brüder sind: Apollon aber würde diesem
großen Brüderbunde das Siegel der Stärke und Schönheit auf-
gedrückt, er würde den Menschen vom Zweifel an seinem Werte
zum Bewußtsein seiner höchsten göttUchen Macht geführt haben.
So laßt uns denn den Altar der Zukunft, im Leben wie in der
lebendigen Kunst, den zwei erhabensten Lehrern der Menschheit
errichten: Jesus, der für die Menschheit litt, und Apollon, der sie
zu ihrer freudenvollen Würde erhob."
Der „letzte" Nietzsche, der sich mit Dionysos, der sich mit dem
Gekreuzigten identifiziert, geht nun dieselben Gedankengänge wie
Goethe und Wagner. Auch er wollte die Bekenner des Christentums,
denen Gott in ihrer Schwäche ihre Stärke gab, zu einer Religion
der Zukunft erziehen, welche die bestehenden inneren Gegensätze
zwischen christlich-pessimistischer Weltbetrachtung und griechisch-
optimistischer Lebensbejahung durch etwas Neues, durch „Die
Geburt des Dritten" ausgesöhnt hätte. Das wollte, wenn wir uns an
die frühere Darstellung erinnern, der Ästhetiker Nietzsche. Denn
bei aller Verhöhnung des Christentums und trotz mancher bitterer
Ausfälle gegen den Stifter desselben — aber „nie sollteneinzelne
schroffe Äußerungen dieses vornehmen und feinfühlenden
Mannes das Gesamtbild, das wir uns von ihm machen,
beherrschen!" (Eucken) — erblickte Nietzsche in der Gestalt des
Heilandes immer das höchste Symbol edelsten Menschentums. So
können wir bei ihm wörtlich lesen: „Im Grunde gab es nur einen
Christen, und der starb am Kreuze.'' — (Von höchstem Interesse
ist aber eine Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1881 : „Gegen die
Vergangenheit gerecht sein, sie wissen wollen, in aller Liebe ! Hier
wird unsere Vornehmheit auf die höchste Probe gestellt! Ich merke
es, wer mit rachsüchtigem Herzen vom Christentum redet'' — hier
bricht die Notiz ab; was hat er noch sagen wollen? Auf dem Zettel
findet sich nur noch das Wort: „das ist gemein". Dann heißt es
Selbstüberwindung, wie sie im vollen Maße erst das Christentum in die
Welt brachte, aber geeint mit dem Sinn für die Schönheit und Fülle des
Lebens, an dessen Aufgaben der Mensch jene höchsten Vorzüge zu be-
währen hat.
— 374 —
wieder: „Es geschah spät, daß ich dahinter kam, was mir eigentlich
noch ganz und gar fehle: nämlich die Gerechtigkeit!") Und
wenn er an Jesus das Lachen vermißt, wenn er nicht müde wird,
seine höheren Menschen das Lachen zu lehren, so kann das, wenn
ich Nietzsche richtig verstehe, nichts anderes heißen als die Er-
richtung eines neuen höchsten Symbols in dem der Überschuß
an Bereitwilligkeit zur Lebensverneinung ersetzt werden soll durch
Lebensbejahung. So bliebe das Kreuz als das Zeichen der Erlösung
gewahrt, nur wäre es mit Kosen umwunden, d. h. das „Dritte
Testament" würde den starken, körperlich und seelisch vollendet
schönen, heiteren, reinen Menschen, den „Menschen mit der Rosen-
krone", verkünden, der an Stelle des armen, verspotteten Hauptes
mit der Dornenkrone treten sollte.
M. E. nämlich entsprachen dem ästhetischen Gefühle Goethes,
Wagners und Nietzsches nicht die Anschauungsmomente, die
sichtbar-sinnlichen Schmerzensvorgänge, mit denen das Leiden und
Sterben Jesu Christi von einer Richtung des Christentums in den
Vordergrund gestellt worden war als dessen wesentlichstes Moment.
Daher bezeichnete Goethe in seinem „berühmten" Briefe an Zelter
vom 9. Juni 1831 das Kreuz als „das leidige Marterholz, das Wider-
wärtigste unter der Sonne". Und in den „Wanderjahren" heißt es:
„Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes^
Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der
Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose
Welt ihr dies Schauspiel aufdrang." Es ist klar, daß die Ablehnung
nicht dem frommen Menschen Christus gilt, sondern der Gepflogen-
heit, die blutigen Zeichen der körperlichen Schmerzen eines
Heiligen in den Vordergrund zu drängen, ja der Welt aufzudrängen.
In diesem Sinne enthält daher auch der Schluß des „Faust", in
dem Goethe zu christhchen Symbolisierungen griff, die Zusammen-
fassung künstlerischer, religiöser und sozialer Elemente: sie fließen
in der Dichtung in eins zusammen, so wie sich Kreuz und Rose,
Griechentum und Christentum ergänzend ausgleichen sollen. Darum
findet der schöpferische Mensch dieses reinen Zu Standes gleich
Nietzsche sein Glück in seinem Werk!
Ich betone es aber ausdrücklich, daß die im vorigen vor-
gebrachten Anschauungen meine persönliche Überzeugung sind,
für die ich den wissenschaftlichen Wahrheitsbeweis hier, weil es
— 375 —
den gezogenen Rahmen dieses Buches weit überschreiten würde,
nicht erbringen kann; allein ich hoffe, daß dadurch ein anderer
sich angeregt fühlen wird, das hier aufgerollte Problem einer
wissenschaftlich tiefgründigen Untersuchung zu unterziehen, von
der ich mir sehr viel verspreche. Projizieren wir nämlich das, was
von den griechischen Mysterien gesagt worden ist, in Goethes
„Paust", in Wagners „Parsifal" und in Nietzsches Schaffen — ich
verstehe darunter sein ganzes Lebenswerk, bis zu dem berühmten:
„Singe mir ein neues Lied; die Welt ist verklärt und alle Himmel
freuen sich" — „dem Lichte zu — deine letzte Bewegung; ein
Jauchzen der Erkenntnis — dein letzter Laut ! " — so offenbart sich
uns ein einziges gewaltiges Mysterium. Faust, Parsifal und der
Übermensch: alle drei wandeln sie des Leidens und der Irrnis
Pfade; von allen dreien gilt das Wort: „Nur wer strebend sich be-
müht, den können wir erlösen." Freilich, als Ganzes wird man die
reifsten Geisteswerke Goethes, Wagners wie Nietzsches nicht so
sehr durch Kommentare erfassen, sondern einzig und allein durch
eigenes Nacherleben. Da können wir dann in uns jene „innere
Bühne" aufbauen, die an traumtiefer Schönheit alles hinter sich
läßt, was die wirkliche bieten kann, dann versinken wir in einen
Zustand, der sich am besten als „Urzeitstimmung" bezeichnen ließe ;
allerdings ist jede Mitteilbarkeit über dieses innere Erleben ganz
ausgeschlossen. Aber freudig wollen wir mit dem Dichter ausrufen:
^ Blüte der Menschheit bist du, Heidentum, wenn du ihr den
Himmel aufschließest aus der Welt. Aber auch Blüte der Mensch-
heit bist du, Jesus, wenn du ihr die Welt aufschließest erst aus
dem Himmel!"
XXIV. DAS DIONYSOSIDEAL — ISOLDENS „LIEBES-
TOD^' — GOETHE — BEETHOVEN.
Nachdem wir im Verlaufe unserer Abhandlung bis zu diesem
Höhepunkte der Betrachtung gelangt sind, ergibt sich für uns als
wichtigste Aufgabe, alle bisherigen Ergebnisse zu Nietzsches Lebens-
ideal, das er Dionysos nannte, in Beziehung zu setzen. Denn ob-
gleich wir es bis jetzt noch nicht direkt ausgesprochen haben,
bildet die Konzeption dieses Lebensideals die Krönung des Lebens-
werkes dieses einzigartigen Denkers. Gleichwohl aber wurde wieder-
holt schon darauf hingewiesen, daß das ungeheure Problem, das sich
hinter diesem Namen verbirgt, für Stekel und Konsorten ein Buch,
verschlossen mit sieben Siegeln, ist und bleibt, in welcher Behaup-
tung wir durch die Tatsache bestärkt wurden, daß die Interpretation
des Dionysos als eines Gottes oder Schutzpatrones der Hysterischen
geradezu unsinnig ist. Denn Nietzsche war durchaus nicht jener
Hysteriker oder Paranoiker, als der er uns so gerne hingestellt
wird; es müßte denn sein, daß man auch den letzten großen
Griechen des deutschen Volkes, Goethe, mit demselben ehrenden
Epitheton belegt. Und in der Tat: die Konzeption dieses Ideals,
der ekstatische Glaube an seine weltumspannende und weltumge-
staltande Macht entsprang einzig und allein Nietzsches tiefem
Griechenheimweh : er war, worauf wir schon wiederholt hinzuweisen
die Gelegenheit hatten, ein echt antik empfindender Mensch mit
jener aristokratisch-vornehmen Gesinnung, von der die edelsten
Vertreter des klassischen Hellenentums beseelt waren. Das erhellt
am deuthchsten aus seiner Stellung zur klassischen Philologie:
Nietzsche lehrte sie nicht bloß, er lebte sie! Und in diesem Sinne
war er mehr Grieche als Goethe, der die ganze Antike im Grunde
genommen doch nur mehr oder weniger vom Standpunkte des
Ästheten betrachtete und mit seiner „Iphigenie" alles andere eher
schuf als ein Griechenweib. So hatte Lessing durchaus nicht un-
— 377 —
recht, als er gelegentlich der Wielandschen Bearbeitung der Euri-
pideischen „Alkestis", die Goethe in seiner Farce „Götter, Helden
und Wieland" scharf und leidenschaftlich angegriffen hatte, die
Äußerung tat, Goethe verstünde von der Antike noch weniger als
Wielaud. Aber bezeichnend für Nietzsches Stellung zu Goethe,
diesem Einzigen, den er Zeit seines Lebens aus ganzer Seele ver-
ehrte, um dessentwillen er Deutschland lieben mußte, den er nie-
mals angriff, ist es, daß er unter dem Namen oder der Person
Goethes die Totalität des Seins, das spezifisch Griechisch-Heidnische
verehrte: den Geist, der sich zur Freiheit durchgerungen hat, der
mit beiden Füßen fest mitten im All steht und von dem Glauben
beseelt ist, daß alles einzelne und Ephemere als verwerflich im
Lichte einer solchen Weltbetrachtung spurlos verdampft, daß im Un-
endUchen dasselbe wiederkehrend ewig fließt und das tausendfältige
Gewölbe sich kräftig ineinander schUeßt. Fragen wir uns, wo auf
aller Welt gibt es heute Menschen, die sich zu jener Höhe der
Weltbetrachtung emporgeschwungen haben, die zugleich, um mit
Lukrez zu sprechen, die vollendetste Form wahrer Frömmigkeit ist:
ruhig im Geiste hinschauen zu können auf alles !, so kann die Ant-
wort nur so lauten : Dieses Ideal kann nur in jenen Seelen lebendig
sein, die in ahnungsvollen Stunden den Geist des Weltalls empfinden^
der niederflammt in ihr Herz, die dann in die dunklen Risse des
Unerforschten einen Blick tun und in ihre Finsternisse ein leuchtend
Bild dieser Welt zurücknehmen, die im Unendhchen vorschweben,
weil sie es in sich selbst genießen^). Um nun diese Sehnsucht
„nach höherer Begattung" in uns auszulösen — das lehrt un&
Goethe wie Nietzsche in nicht mißzuverstehender Weise — ist
wiederum nur die Erfassung des Altertums in seiner Totalität daa
geeignetste Mittel. Während jedoch die berufenen Hüter und Be-
wahrer dieses Ideals im engen Kreise ihrer Wissenschaft fest-
gebannt stehen bleiben und innerhalb des Menschlichen Schranken
um Schranken errichten, trotz des berühmten „Nil humani a me
alienum puto!" — ja heute ist diese Wissenschaft allerdings so
spezialisiert, daß Fälle gar nicht zu den Seltenheiten gehören, wie
^) Man lese nur das jüngste Werk über Nietzsche von Heinrich Römer,
einem evangelischen Theologen! Der freisinnige, vorurteilslose, durch kein
Dogma gebundene Theologe wird in Zukunft an Nietzsche nicht mehr vor-
übergehen können I
— 378 —
etwa der, daß ein Philologe sein ganzes Leben damit hinbringt, „die
homerische Frage vom Standpunkte der Präpositionen zu lösen und
glaubt mit ävh und Kazh die Wahrheit aus dem Brunnen zu
ziehen ... die Philologen gehen an den Griechen zugrunde — das
wäre etwa zu verschmerzen! — aber das Altertum zerbricht
durch die Philologen selbst in Stücke", während also diese
Kategorie von Forschern wähnt, sie hätte auf diesem Wege auf Grund
ihrer alles genauestens analysierenden, katalogisierenden etc. Pedanterie
das Richtige gefunden und das geistige Band, das alle diese Mosaik-
bildchen zusammenhält, klar erkannt und — wie bescheiden! —
bei diesem Resultate sich beruhigt, konnte ein Feuergeist wie
Nietzsche nicht eher zur Ruhe gelangen, als bis er jede auf ana-
lytisch-kritischem Wege gefundene Erkenntnis mit seinem eigenen
Leben und Erleben so innig durchtränkte, allem und jedem so sehr
den Stempel des eigenen, echt hellenisch empfindenden Wesens
aufgedrückt hatte, daß diese Erkenntnisse in der Folgezeit tat-
sächlich sein ganzes Denken, Fühlen und Streben beherrschten. So
wurde das Hellenentum, oder besser gesagt: die Antike überhaupt,
für ihn zur zweiten Natur, zur lebendigen Kraft in des Wortes ur-
eigenstem Sinne. Schon diese Tatsache allein ist ein gewichtiger
Beweis dafür, wie groß der Irrtum Stekels und Konsorten ist,
wenn sie Nietzsches Vorliebe für das Hellenentum als eine klug
inszenierte, selbstgefällige Kopierung durch einen Narren inter-
pretieren und sich dabei auf psychoanalytische Fundamentalgesetze
stützen ! Nietzsche war einer der wenigen Auserwählten, dem jene
elegische Wehmut der meisten Philologen zeitlebens etwas Un-
bekanntes war, jener Sorte weichlicher Ästheten, die im bitteren
Tone der Resignation „das Land der Griechen mit der Seele
suchend" um ein entschwundenes, unwiederbringliches Ideal klagen
und dem wahrheitsuchenden Jünger Steine statt des Brotes reichen,
sondern — und da zeigt sich so recht Nietzsches angeborenes
Griechenheimweh! — er setzte diesen für den einzelnen wie für die
Gesamtheit unfruchtbaren Sentimentalitäten den klaren, selbst-
bewußten, zielstrebigen Willen entgegen, die gesamte Menschheit
aus lediglich durch die Tradition ererbten, heute jedoch müd und
matt gewordenen Lebensformen zu erlösen und dem Leben des
einzelnen wie der Gesamtheit neue, höhere, bessere Ziele zu
schaffen. Deshalb haßte er aus ganzer Seele allen Geist und Leben
— 379 —
tötenden Formalismus und Intellektualismus, der gerade in unserer
Wissenschaft sich breitmacht. Nicht für ein enges Fachgebiet
soll der Philologe seine Schüler erziehen und ihnen den Kopf mit
einem Ballaste lebloser Kenntnisse vollstopfen, sondern Menschen-
bildner im wahrsten Sinne des Wortes soll er aus ihnen heraus-
erziehen, Menschen, in deren Seele das heiUge Feuer des platonischen
Eros geweckt worden ist und damit die Sehnsucht nach restloser
Erfassung dieses ganzen, vielgestaltigen, bunten Lebens, das ja
doch nur wieder eine einzige große Einheit ist. Daß wir bis heute
dieses ideale Ziel Goethes wie Nietzsches noch immer nicht erreicht
haben, daß wir von ihm heute vielleicht weiter entfernt sind denn
je, von jenem Ziele, um dessentwillen Nietzsche noch heute als
Verräter an seiner Wissenschaft bekämpft und verspottet wird,
daran trägt die Schuld unsere ganz und gar unhistorische, durch
nichts zu motivierende Verquickung des Christentums mit der An-
tike: sie fußt auf dem einseitigen und daher falschen Vorurteile,
daß das Christentum die Erfüllung des klassischen Altertums und
dieses lediglich nur eine Vorstufe und Vorbereitung auf jenes
nach dem Willen des a priori allem Weltgeschehen zugrunde he-
genden götthchen Erziehungsplanes sei. „Griechenland hat die
Welt vorbereitet, der Predigt eines hl. Paulus zu lauschen!" Von
diesem Vorwurfe ist selbst der allverehrte Altmeister unserer
Wissenschaft, Wilamowitz, nicht ganz freizusprechen, trotz seines
von aller Welt als richtig anerkannten Standpunktes: alles Ge-
wordene historisch zu begreifen. Kurt Hildebrandt hat den strikten
Nachweis erbracht, daß gerade Wilamowitz, dessen überragender
Bedeutung als Erforscher und Verkünder antiken Lebens dadurch
nicht der geringste Abbruch getan werden soll, mehr unbewußt
und ohne es zu wollen, gerade eine der wichtigsten Epochen an-
tiken Geistes: den herben Ernst und Heroismus der Tragödie für
das deutsche Volk in deutsch-protestantisch-christlichem Sinne um-
gedeutet hat. Der hehrste Grundsatz dieses größten Altertums-
kenners der Gegenwart, jedes Kunstwerk nur aus sich selbst und
aus der Welt heraus, in der es seinen Ursprung hat, zu erfassen
und zu erklären, bleibt eben in den meisten Fällen nur ein frommer
Wunsch, weil es unseren Gelehrten zu sehr an der Selbstlosigkeit
und Selbstentäußerung, dann wieder an der Bescheidenheit gebricht,
um ihm zum vollen, sieghaften Durchbruch zu verhelfen. Denn
— 380 —
das Christentum ist durchaus nicht die Erfüllung der Antike; sein.
Verdienst besteht, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, lediglich
darin, daß es dem Altertum nur zeitlich folgte. Das Christentum
ist und bleibt Orient, das Hellenentum ist und bleibt ewig Okzi-
dent! Und damit ist auch schon der scharfe Gegensatz bezeichnet,,
in dem diese beiden Geistesrichtungen für ewige Zeiten zueinander
stehen müssen: das Christentum ist und war der Todfeind des-
Griechentums, es ist und war sein Untergang. Vom christlich-
sittlichen Standpunkte aus kann man den Geist, von dem eine alt-
hellenische Tragödie durchweht ist, nie und nimmer begreifen*
cf. die deshalb gescheiterten „Neubearbeitungen" antiker Stoffe:
Hasenclevers «Antigene", Werf eis „Troerinnen", Diese durch nichts
aufzuhebende Antinomie zwischen Hellenentum und Christentum
hat Nietzsche klar erkannt und dieser Erkenntnis in seiner „Geburt
der Tragödie" Ausdruck verliehen: die Gestalten der bocksfüßigen
Satyrn interpretiert er dort als einen Fleisch und Blut gewordenen
Protest gegen den durch die Kultur Geschwächten; sie sind ihm
vielmehr eine Bejahung jener elementaren Kräfte, die alles Leben
erst schaffen. Trotz all ihrer Wildheit und Ungebundenheit reprä-
sentieren sie ihm etwas Göttliches, Heiliges. Darin allein schon
liege „ein göttliches Jasagen zu sich selbst aus animaler Fülle
und Vollkommenheit — lauter Zustände, zu denen der Christ nicht
ehrlich ja sagen darf". Denn „vielleicht gibt es nichts Befrem-
denderes für den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu
entdecken, daß die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen
Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar
eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staats wegen ein-
richteten: es ist dies das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom
Christentum aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das
härteste bekämpft und verachtet. Sie nahmen jenes Allzumensch-
liche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen,,
ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die
Bräuche der Gesellschaft und des Kultus zu geben: ja alles, was
im Menschen Macht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an
die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den
schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen
ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Kulte und Tage, nach^
dem sie genug Vorsichtsmaßregeln erfunden haben, um jenen wilden
— 381 —
Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluß geben zu können.
Dies ist die Wurzel aller moralischen Freisinnigkeit des Altertums.
Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Tierisch-Rückstän-
digen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher
im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mäßige Ent-
ladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das
ganze System solcher Ordnungen umfaßte der Staat, der nicht auf
einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen
menschlichen Eigenschaften hin konstruiert war. In seinem Bau
zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch -Tat-
sächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geo-
graphen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes
priesterliches oder kastenmäßiges Sittengesetz, welches bei der Ver-
fassung des Staates und Staats-Kultes zu entscheiden hatte: sondern
die umfängliche Rücksicht auf die Wirklichkeit alles Mensch-
lichen." Ja, selbst der hohe Idealismus eines Piaton, den wir
Philologen unseren Schülern so gerne aus dem in usum delphini
zugestutzten Meisterwerke des Philosophen, dem Symposion, inter-
pretieren, würde, wie Nietzsche treffend bemerkt, geradezu un-
denkbar sein, „wenn es in Athen nicht schöne Jünglinge gegeben
hätte, daß deren Anblick es erst war, was die Seele des Philo-
sophen in einen erotischen Taumel versetzte und ihr keine Ruhe
ließ, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schönes Erd-
reich hinabgesenkt habe**. Und weil Goethes Verhältnis zur Antike
die Totalität des Seins ist, das heißt das spezifisch Griechisch-
heidnische, jener freigeborene Geist, der mit einem freudigen und
vertrauenden Fatalismus mitten im All steht, von dem Glauben
beseelt, daß nur das einzelne verwerflich ist, daß sich aber im
ganzen alles erlöst und bejaht, nur deshalb pries Nietzsche
diesen Goethe als den Heiden, als den Hellenen, als den Diony-
sischen, als den „Antichrist". Ja, es ist und bleibt erschütterndste
Wahrheit, daß eine der glänzendsten Epochen der Menschheits-
geschichte in dem welthistorischen Augenblicke starb, als das
Christentum als herrschende Staatsreligion proklamiert und die
letzten griechischen Philosophen aus ihrer abendländischen Heimat
vertrieben wurden.
Daher bestand denn auch Nietzsches Kampf gegen die Philo-
logie und ihre zunftmäßigen Vertreter in dem Bestreben, mit dem
— 382 —
es ihm blutiger Ernst war: die Altertumswissenschaft, soll sie
wirklich befruchtend auf die Neugestaltung unseres Lebenswerkes
wirken, müsse sich von jedweder Beeinflussung durch die herrschende
Theologie, respektive das Christentum emanzipieren. Nur deshalb
schrieb dieser „merkwürdige Mann" die „Geburt der Tragödie", nur
deshalb trat er seinerzeit so energisch für Richard Wagner ein,
weil er in dessen Werken die Heraufkunft eines neuen großen
Lebensmittags begrüßte. Nur deshalb schrieb er einen „Antichrist".
So schließt sich der Ring seines Lebens: eine Unendlichkeit vor
sich, eine Unendlichkeit hinter sich, so weitete sich durch syste-
matische Forscherarbeit sein Blick, bis er reif ward zur großen
Synthese, mit dem Auge des Hellenen dieses ganze Leben zu er-
fassen, ein Ziel, zu dem ihm die wenigsten zu folgen vermögen.
Wie dieses Streben Nietzsches verkannt und mißdeutet
worden ist, dafür bietet das Möbiussche Buch ein klassisches Bei-
spiel ; und doch ist sein Irrtum verzeihlich, weil er Nietzsche ledig-
lich durch die Brille des Nervenarztes sieht. Er greift aus dem
ganzen „Antichrist" jene Stelle heraus, wo Nietzsche es bedauert, daß
Cesare Borgia nicht Papst geworden sei, denn „wohlan, das wäre
der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange — : damit
war das Christentum abgeschafft! — Was geschah? Ein deutscher
Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mensch . . . empörte sich
in Rom gegen die Renaissance!" Diese Worte und vieles andere in
diesem systematischesten Werke Nietzsches sind für Möbius etc.
lediglich „ein Stilfeuerwerk, um einige Absurditäten auszudrücken!"
Habeant sibi ! Über das Niederträchtige sich niemand beklage ; denn
es ist das Mächtige, was man dir auch sage!
Betrachten wir — es wird sich reichlichst der Mühe lohnen ! —
mit wissenschaftlich historischer Akribie diese flammenden Worte
„dieses Feindes Gottes"-. Es ergibt sich, daß Nietzsche nichts
anderes im Sinne hatte und meinte wie Goethe: beide haben sich
von der Reformationstat Luthers mehr erwartet. Er wäre vermöge
seiner humanistischen Studien der befähigteste Mann gewesen, den
Geist der Renaissance, der im Italien Petrarcas bereits so herrliche
Blüten gezeitigt hatte, zu einer die Gemüter befreienden Segenstat
für das ganze europäische Abendland zu machen. Was tat er jedoch?
Er stellte die Renaissance bloß in den Dienst der Erneuerung des
Menschengeschlechtes im Glauben. Und wenn Möbius im Hinblick
~ 383 —-
auf Cesare Borgia meint, daß dieser, falls er nicht umgebracht
worden wäre, und wirklich Petri Thron bestiegen hätte, bloß den
Kirchenstaat säkularisiert hätte, demnach also sein Verdienst um
die Kenaissance gar kein sonderlich großes gewesen wäre, so miß-
versteht Möbius den Ästheten^) Nietzsche gründlichst; denn in
jenem erblickte der Ästhete Nietzsche trotz all seiner Unnatur die
Verkörperung seines antik-aristokratischen Ideals : er wäre der Mann
gewesen, der, weil ganz im Altertum lebend, die vöUige Emanzi-
pation Koms vom Geiste des Christentums durchgeführt hätte, die
völlige Rückkehr zum Geiste des Altertums, um das ganze Leben in
Staat, Glauben und Kultus neu zu befruchten. Was jedoch tat Luther?
Er benützte seine Altertumswissenschaft, um sich in gelehrtes un-
fruchtbares Theologengezänke einzulassen und blieb auf halbem
Wege stehen. Nun ist gewiß zuzugeben, daß Nietzsche hier ein
gewaltiger historischer Irrtum unterlaufen ist, den auch Möbius
trotz seines Hinweises auf ein Werk Burckhardts, von dem sich
Nietzsche habe beeinflussen lassen, nicht richtig gestellt hat. Cesare
Borgia war nämlich niemals nahe daran, Papst zu werden, ferner
war er schon vier Jahre tot, als Luther nach Rom kam, und zehn
Jahre, als Luther vor die Welt trat. Auch Rittelmeyer hat (1. c.)
diese Stelle mißverstanden; ein richtiges Verständnis derselben kann
man meines Erachtens nur aus den von mir p. 334/35 dargelegten
Gründen erhalten.
Nietzsches Schaffen, unter dieser Perspektive betrachtet, ergibt
die Tatsache, daß es der Erreichung eines einzigen Zieles galt:
Wiedererweckung der Antike. Er wollte den Pfad bereiten für den
Einzug des Griechengottes : des Dionysos. Dieser Dionysos ist aber bei-
leibe nicht der Schutzpatron der Hysterischen, sondern Nietzsche ver-
steht unter ihm den Gott „des starken, hochgebildeten, in allen Leiblich-
keiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selbst ehr-
fürchtigen Menschen, der sich den Umfang und Reichtum der
Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser
Freiheit ist" ; was mit anderen Worten heißen kann, daß für
Nietzsche die Philologie, das heißt das Studium der Altertums-
wissenschaft niemals Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck
war . . .
1) Cf p. 334/35.
— 384 —
Zitternd vor heiliger Leidenschaft, Leib und Seele dieser
höchsten Erkenntnis geweiht, nannte Nietzsche dieses Tiefste, das
er da geschaut: Dionysos. Will man nun durchaus von einer
Tragik in Nietzsches Leben sprechen, so möchte ich am liebsten
den Umstand als die tiefste Tragik seines Menschenlebens be-
zeichnen, daß er, der mit schonungsloser Gier die Bewußtseins-
inhalte aller Kulturen aller Zeiten zerpflückt hatte ; dessen Intellekt
nie rasten noch ruhen konnte; der sich bei keinem resignierten
„ignorabimus" begnügte; der von glühendster Skepsis an allem und
glühendster Sehnsucht nach dem Höchsten geschüttelt ward, letzten
Endes Myste wurde und stammelnd vor innerer Freude uns das
verkündete, was vor ihm Goethe, Beethoven und Richard Wagner
auch gesagt hatten, in Worten und Tönen, aber schließlich doch
dasselbe! . . .
Nietzsche sagt einmal, daß es heiHge Erlebnisse gäbe, vor
denen die Menge die Schuhe auszuziehen und die unsauberen Hände
fernzuhalten habe. Gelegentlich deutet er auch hin auf jenen tief
geheimnisvollen Kult der eleusinischen Mysterien. Nach dem Zeug-
nisse des Historikers Zosimos sollen die alten Hellenen geglaubt
haben, daß dieser Mysterienkult dazu diene, das ganze Menschen-
geschlecht als eine Einheit zusammenzuhalten, mit anderen Worten :
daß er die heilige Gemeinsamkeit aller derer herbeiführen wollte,
die sich Menschen nennen. In die Hände der Mysten hatte die
Natur als an die Berufensten das höchste Geheimnis alles Werdens
und Vergehens vertrauensvoll gelegt: die in tausend, ewig
einander bekämpfende Nationen zersplitterte Menscheit zu einer
letzten, großen Einheit zusammenzuschweißen, in der alle Gegen-
sätze gelöst sind. Zarathustra hat dafür die schönen Worte ge-
funden: „Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es.
Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das
eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt
mir doch meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt,
fehlt da nicht auch — sie selber noch?" Heute hat mehr denn je der
Ruf Geltung: zurück zu jenem, die Einheit schaffenden Mysterium,
ohne das die Menschheit auseinanderzufallen droht. Letzter Künder
dieses Geheimnisses, von dem hellenische Zungen beharrlich ge-
schwiegen haben, ist und war Nietzsche, und als er von seinem
inneren Erlebnisse stammelnd aussagte, da traf ihn wie im alten
— 385 —
Hellas die Strafe: der Gott, dem er diente, zerbrach seinen Geist,
vernichtete ihn und zeichnete aber zugleich ihn als seinen Jünger
aus. Und darin liegt ein ungeheurer Sieg der Menschennatur über
sich selbst und allen einseitigen Intellektualismus: indem er sich
selbst überwand und der Menschheit die letzte, die tiefste Weisheit
kündete, hat er sich für die Menschheit als Opfer dargebracht,
geradeso wie im alten Hellas Dionysos, wie später Christus. Kann
nun noch derjenige, der die tiefen Zusammenhänge zwischen diesen
beiden Gestalten wenn auch nicht voll begreift, so doch wenigstens
ahnt, diesen Nietzsche einen Narren nennen?
Der größte Deutsche, Goethe, hatte offenbar auch ein diony-
sisches Erlebnis solcher Art, als er sein berühmtes „schwierigstes"
Gedicht „Selige Sehnsucht" schrieb'):
„Sagt es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet:
das Lebend'ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung, die dich zeugte, wo du zeugtest,
überfällt dich fremde Fühlung, wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibst du umfangen in der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig, kommst geflogen und gebannt,
und zuletzt, des Lichts begierig, bist du Schmetterling verbrannt.
Und solang du das nicht hast, dieses: Stirb und Werde!
bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde."
Nun ist sicher gerne zuzugeben, daß dieses Gedicht „schwierig"
sein mag, und doch ist sein Gedankengang für den „Eingeweihten"
leicht verständlich: auf drei Stufen führt es den Menschen zur
höchsten ihm erreichbaren Vollendung. Er muß 1. die Fähigkeit
besitzen, das principium individuationis, seine Individualität zu zer-
brechen, sein Ich-bewußtsein zeitweise auszuschalten; das ist die
Sehnsucht nach dem Flammentode*); 2. er muß sich zu jener Höhe
der Abstraktion durchgerungen haben, daß er die Zeugung, diesen
1) Zu den folgenden Ausführungen vgl. den Aufsatz Dr. Friedrich
Würzbachs „Dionysos" in „Den Manen Fr. Nietzsches", p. 193—208, der teil-
weise von mir benützt wurde.
2) „Im Grenzenlosen sich zu finden,
wird gern der Einzelne verschwinden,
da löst sich aller Überdruß! . . .
sich aufzugeben ist Genuß!"
Grießer, Wagner und Nietzsche. 25
— 386 —
in der ganzen Natur stärksten Instinkt, als eine Brücke zu höherer
Begattung auffaßt, als eine mystische Berührung, als eine plötz-
liche „fremde Fühlung" mit dem Ureigensten der Welt'); 3.) er
muß sich abgekehrt haben von jeglichem asketischen Ideal; denn
diese Erde ist kein Jammertal, sondern unsere einzige wahre
Heimat^); daher jeder Mensch, insolange ihm das dionysische Er-
lebnis versagt bleibt, von dieser Erde sich wegsehnen wird in das
Nirwanam Schopenhauers oder den christlichen Himmel . . .
In der unzeitgemäßen Betrachtung „Schopenhauer als Er-
zieher" sagt Nietzsche: „Es gibt Augenblicke und gleichsam
Funken des hellsten liebevollsten Feuers, in deren Lichte wir nicht
mehr das Wort „Ich" verstehen, es liegt jenseits unseres Wesens
etwas, das in jenen Augenblicken zu einem Diesseits wird, und
deshalb begehren wir aus tiefstem Herzen nach den Brücken
zwischen hier und dort." Eine solche Brücke wäre nun nach
Goethes zitiertem Gedichte der Geschlechtsakt; denn, sagt derselbe
Nietzsche, „es ist typisch, daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis
Ehrfurcht erweckt", und „im dionysischen Rausch ist die Geschlecht-
hchkeit und die Wollust".
Auch bei der Interpretation dieses anfänglich äußerst geheimnis-
vollen Wortes sei der Altmeister Goethe unser Führer, und zwar
sein herrliches Pandorafragment. - Als Pandora sieht, wie ihre
Schwester Mira, im Sinnestaumel trunken, einem Manne in die
Arme sinkt, fragt sie, zu tiefst erschrocken, ihren Vater Prometheus :
„Sag', was ist das alles, was sie erschüttert und mich?", worauf
Prometheus antwortet: „Der Tod" und folgende nähere Erklärung gibt:
.,Da ist ein Augenblick, der alles erfüllt,
alles, was wir gesehnt, geträumt, gehofft,
gefürchtet, Pandora —
das ist der Tod!"
Da Pandora noch immer dies Phänomen nicht begreift, gibt
Prometheus eine mystische Erklärung der Liebe, dieses unsäglich
^) „und bald verlischt ein unbegrenztes Streben
im sel'gen Wechselblick,
Und so empfangt mit Dank das^^schönste Leben
vom All ins All zurück."
2) „denn aus dieser Erde quill en meine Freuden
und diese Sonne scheint meinen Leiden!"
— 387 —
seligen, schmerzlosen Todes, den jede Kreatur in unendlich
brennender Sehnsucht sucht:
„Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde
du ganz erschüttert alles fühlst,
was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen,
im Sturm dein Herz erschwillt,
in Tränen sich erleichtern will
und seine G-lut vermehrt,
und alles klingt an dir und bebt und zittert,
und all die Sinne dir vergehn,
und du dir zu vergehen scheinst
und sinkst,
und alles um dich her versinkt in Nacht,
und du, in inner eigenem G-efühl,
umfassest eine Welt:
dann stirbt der Mensch'!"
„0 Vater, laß uns sterben!" ruft nun Pandora mit instinktivem
Verständnis freudig aus ! Leider ist die „Pandora" Fragment geblieben ;
daß es ein Dionysosdrama gev^^orden wäre, erhellt aus den spär-
lichen Aufzeichnungen Goethes zur Fortsetzung, v^o sich die inhalts-
schweren Worte finden : „dionysisch" und „völliges Vergessen".
Interpretiert Goethe mit diesen Worten das psychisch-
physische Erlebnis der Liebe, erklärt Nietzsche die „höhere Be-
gattung" des Weisen mit dem Ureinen der Welt rein psychisch auf
dieselbe Weise: „Mit dem Worte , dionysisch' ist ausgedrückt: ein
Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft,
Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich
schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zu-
stände: ein verzücktes Jasagen zum Gesamtcharakter des Lebens,
als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-
Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit,
welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften
des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung,
zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der
Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens."
Begreifen wir es nun, warum dieser Nietzsche Wagners
Meisterwerk „Tristan und Isolde" über alles liebte und schätzte?
„In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall,
in des Weltatems wehendem All —
ertrinken, versinken — unbewußt —
höchste Lust!"
25*
— 388 —
Auch in diesen Versen, besonders aber in der sie erst
illustrierenden Musik, ist die conditio sine qua non für das diony.
sische Erlebnis des „Flammentodes", die Durchbrechung des
Individuationsprinzips enthalten, respektive dargestellt: das Hinaus-
greifen über die eigene Individualität, schlieMich über die Realität
überhaupt, das „neue Verlangen zu höherer Begattung" mit dem
Ureigensten der Welt, wobei das Ichbewußtsein versinkt — „bist
du Schmetterling verbrannt" — , sozusagen aufgelöst im Feuer
nicht erdachter, sondern erlebter Erkenntnis, ein Phänomen, das
genau so wie beim physischen Liebesakt „höchste Lust" auslöst,
und, wie der Goethesche Prometheus erläuternd auseinandersetzt:
„Wenn alles — Begier und Freud' und Schmerz —
im stürmenden Genuß sich aufgelöst,
dann sich erquickt in Wonneschlaf —
dann lebst du auf, aufs Jüngste wieder auf,
von Neuem zu fürchten, zu hoffen, zu begehren."
So wollen auch Tristan und Isolde „endlos ewig ein-bewußt"
in „heißerglühter Brust höchste Liebeslust" genießen; denn „so
starben sie, um ungetrennt, ewig einig, ohne End, ohn' Erwachen,
ohn' Erbangen, namenlos in Liebe umfangen, ganz sich selbst ge-
geben der Liebe nur zu leben"; warum? Die Antwort gibt Nietzsches
Zarathustra, wohl auch im Anschlüsse an Prometheus Worte : „denn
alle Lust Will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
„Ohne Wähnen sanftes Sehnen; ohne Bangen süß Verlangen;
ohne Wehen hehr Vergehen; ohne Schmachten hold Umnachten;
ohne Meiden, ohne Scheiden, traut allein, ewig heim,
in ungemessenen Räumen übersel'ges Träumen."
Mit Recht konnte Wilhelm Bölsche die Frage aufwerfen, ob
denn am Ende nicht auch der Tod des Individuums trotz seiner
bangen Form nichts anderes sei, als „ein verkannter Liebesakt,
über den nach allem bitteren Sträuben zuletzt doch auch die voll-
kommene Seligkeit des lebendigen Aufgehens in eine höhere
Gemeinschaft käme, wie sie nur die Liebe gibt?" Sagen wir daher,
daß der eigentliche Bereich des Menschen, seine Macht, seine
Essenz das Gefühl ist, so ist eben die Liebe das höchste dieser
Gefühle. Denn in 'ihr können wir den Zusammenhang zwischen
Irdischem und Ewigem ahnen. Daher das Urmysterium des Christen-
tums, daß Gott seinen Sohn der Welt aus Liebe hingegeben habe;
dies will besagen, daß er der Welt nicht anders nahen konnte als
— 389 —
im Verhältnis der Liebe: er opfert sich selbst den Menschen zu
Liebe. Es erhellt aber auch sowohl aus dem „Tristan'' als auch aus
der „Pandora", daß die Liebe und der Tod uns Menschen als Er-
löser, als unsere treuesten Freunde zur Seite stehen: der Tod, das
Sichaufgeben ist identisch mit der ekstatischen Wonne des Liebes-
genusses. In demselben Sinne schrieb daher Otto Julius Bierbaum
in seinem Gedichte „Brautführer Tod"; der Tod spricht nämlich zu
dem Liebespaare: „Wohin ich führe, braucht ihr nicht zu fragen.
Fühlt euch — so fühlt ihr mich! . . . Ich segne euch!" Wahrlich:
selig sind jene, die zum Nichts geworden sind, denn ihrer ist aller
Herrlichkeit Fülle! Wer auserkoren ist, so zu empfinden, dessen
Seelenblüte kehrt zu ihrem Ursprung zurück, vor dem steht die
Zeit stille: denn nicht mehr faßt er die Einheit aller Dinge in sein
Selbst zusammen, weil er selbst in diese leuchtende Einheit hinein-
gewachsen ist, mit ihr verwoben ist; er ist das Nichts — er ist
das All! Es ist und bleibt Wagners welthistorische Tat, in seinem
Tristandrama den Gefühlskomplex von Liebe und Tod zum ersten
und vorläufig letzten Male in der großartigsten Weise ^) durchlebt
und verkörpert zu haben. Gerade in der Schlußszene hat der
Meister, nachdem er mit Tristans letzten Worten: „Wie, hör ich
das Licht?" die Unzulänghchkeit unserer Sinne hat ausdrücken
wollen, es versucht, den metaphysischen Zustand der Liebeseinheit
selbst zu schildern, der für unser Bewußtsein naturgemäß nur die
negativen Merkmale des Undenkbaren und Unfühlbaren, kurz des
„Unbewußten" haben kann. Weil aber der Künstler das alles mit
positiver Anschauung erfüllen wollte, rief er alle Sinne zu Hilfe
— Ton, Licht, Duft — , um dieses Untertauchen in des „Weltatems
wehendem All" uns ahnen zu lassen. Solch ein Sterben heißt aber
nicht „tot sein", „vernichtet sein", sondern anders sein, voll-
kommener sein in der Liebe! Es ist, als sei dem Gefühle der
Liebenden göttliche Schöpferkraft zuteil geworden! Deshalb hat
auch Wagner in seiner Tristanmusik für das, was bisher noch kein
Mensch so intensiv gefühlt hat, einen Ausdruck gefunden, der bis-
her noch nie gehört worden war und wohl schwerlich ein zweites
Mal zu hören sein wird. Emil Lucka hat m. E. als erster unter
dieser grandiosen Perspektive die Tristanmusik in großen Zügen
1) Cf. p. 258.
— 390 —
zu analysieren versucht. Seine Ausführungen gipfeln in Folgendem:
Die Musik des Dramas bestehe aus der kommensurablen des Tags-
bewußtseins und der des inkommensurablen, metaphysischen, eigent-
Uchen Inhaltes. Deshalb hat auch die Harmonie, auf der das Werk
ruht, und die weder Dur noch Moll ist, den Charakter des Sich-
über-die-Welt-hinaus-Sehnenden; und nur unserem, gewöhnlichen,
harmonischen Bewußtsein — weil wir eben an diese Welt ge-
bunden sind! — erscheine sie als gebrochen und ruhelos. Mit
einem Worte: diese Harmonie ist Transharmonie. Was daher
die tiefe Wirkung, die gerade dieses Wunderwerk Wagners auslöst,
betrifft, hat bereits Nietzsche die Frage aufgeworfen, ob man sich
einen Menschen denken könne, der den III. Akt des Tristan ohne
alle Beihilfe von Wort und Bild, rein als ungeheuren symphonischen
Satz zu perzipieren imstande wäre, ohne unter einem krampfartigen
Ausspannnen aller Seelenflügel zu veratmen! „Ein Mensch, der wie
hier das Ohr gleichsam an die Herzkammern des Weltwillens ge-
legt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden
Strom oder als zartesten, zerstäubten Bach von hier aus in alle
Adern der Welt sich ergießen fühlt, er sollte nicht jählings zer-
brechen? Er sollte es ertragen, in der elenden gläsernen Hülle des
menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust- und
Weherufe aus dem „weiten Raum der Weltennacht" zu vernehmen,
ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat
unaufhaltsam zuzuflüchten?" Als Charakteristikum für Wagners
Fühlen sei es erwähnt, daß er in einem Briefe an Liszt eine direkte
„Tristanische" Wendung gebraucht: „Gib mir ein Herz, einen
Geist, ein weibliches Gemüt, in das ich mich ganz unter-
tauchen könnte, das mich ganz faßte — wie wenig würde ich
dann nötig haben von dieser Welt!" Derjenige Leser dieses
Buches, der sich für die Behandlung des hier besprochenen Problems
durch einen unserer modernsten Dichter interessiert, sei vor allem
an Dehmels pantheistisches Epos „Zwei Menschen" erinnert. Die
folgenden zwei Stellen mögen genügen, um ein annäherndes Bild
seiner Auffassung zu geben'):
1) Nebenbei möchte ich daran erinnern, daß sich diese Identifikation
von Tod und Liebesgenuß bereits bei den Romantikern findet. Ich zitiere
nur die mir bekannten Stellen. So heißt es bei E. T. A. Hoffmann „Elixiere
des Teufels": „Auch du glaubst, daß der Liebe höchste Seligkeit, die Er-
— 391 —
„Nun schau und lausche, ganz wie wir sind — ganz Geist in Leib,
nicht trunken bhnd,
klar aufgetan bis ins Unendliche — Unüberwindliche, Unabwendliche,
bis wir im Schoß alles Daseins sind: und du wirst sehn, Herz,
daß die Erde
noch immer mitten im Himmel liegt — und daß ein Blick von
Stern zu Stern genügt,
damit dein Geist zum Weltgeist werde ... in diesem Anschaun
bin ich ewig dein
und kann dir treuer als je mir selber sein.
Wir sind so innig eins mit aller Welt,
daß wir im Tod nur neues Leben finden!"
Jetzt bleibt noch Beethoven. In welchem seiner Werke pre-
digte er uns das Evangelium seines dionysischen Erlebnisses? Ehe
wir diese Frage beantworten, sei einer den ganzen Mann scharf
charakterisierenden Tatsache aus seinem Leben gedacht: er, der
ausgesprochene Pantheist, hatte über seinem Pulte, der Stätte, wo
er seine gewaltigen Werke schmiedete, nichts anderes hängen als
die drei Sprüche aus dem damals aufgedeckten Tempel der ägyp-
tischen Göttin zu Sais, die er eigenhändig auf ein Blatt Papier ge.
schrieben hatte: „Ich bin, was da ist. Ich bin alles, was ist, was
war, was sein wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier
aufgehoben. Er ist einzig von ihm selbst und diesem Einzigen
sind alle Dinge ihr Dasein schuldig!" Dieser Beethoven also legte
seinem gewaltigsten dionysischen Werke, der „IX. Symphonie", den
Text von Schillers Hymnus „An die Freude" zugrunde. Nicht etwa
wegen der immerhin problematischen Schönheit der Schillerschen
Verse, wohl aber in Anlehnung an Hafis' Worte: „Die Freude nur
verschwistert dich der Erde!" Auch er wollte, wie Zosimos von
den eleusischen Mysterien berichtete, das Menschengeschlecht zu-
sammenhalten: „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der
ganzen Welt . . . alle Menschen werden Brüder!" Denn Dionysos ist
der einzige, der verbinden kann, „was die Mode streng geteilt". (Feiert
nicht die katholische Kirche in ihrem Pfingstfeste ein Fest ganz
derselben Art? Denn wie nach der heiligen Legende einst
füllung des Geheimnisses, im Tode aufgeht?" Und bei Novalis: ,,Im Tode
ist die Liebe am süßesten; für den Liebenden ist der Tod eine Brautnacht,
ein Geheimnis süßer Mysterien." Ferner spricht er von einer „mystischen
Hochzeit von Wollust und Tod".
— 392 —
durch die Sprachverwirrung anläßlich des Turmbaues zu Ba-
bylon die Menschheit zerspalten worden ist und seither die
Völker sich nicht mehr verstehen, so sollte durch den „Geist"
eine neue Epoche anheben, in der sie wieder zu einer Einheit
gebracht wird. Die ganze Welt sollte eine große Einheit bilden:
ein Hirte, eine Herde; daher katholisch: Tcad^' öXovl) Dionysos
zieht an uns vorüber in jener unerhörten, wie aus dem Herzen der
Welt selbst herausgeborenen Melodie, die das Orchester nach dem
zweiten Chorsatze anstimmt, Dionysos zieht vorüber mit Flöte,
Triangel, Pauke und Trommel. Denn besser als durch alle Worte
spricht dieser Dionysos zu uns durch die Musik, und wenn je, so
gilt auch hier wie beim „Tristan" Nietzsches Wort: „Erst aus dem
Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Ver-
nichtung des Individuums." Kein Wunder, daß der Nietzsche, der
seinem Zarathustra die Worte in den Mund legt: „Seit es Menschen
gibt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut: das allein, meine
Brüder, ist unsere Erbsünde", daß dieser^Nietzsche sich von Wagner
abwenden mußte, als er mit seinem „Parsifal" uns die Pforten
eines Kelches erschloß, von dem weder Goethe, noch Beethoven,
noch Nietzsche je etwas wissen wollten! Nicht Verneinung der
Lust, sondern Bejahung der Lust in alle Ewigheit! Denn, so lehrt
er uns: „Meine Brüder, bleibt der Erde treu!" . . . „warten und
sich vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der
Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten;
vom Jahrmarktsstaube und -lärm dieser Zeit seine Seele immer
reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches über-
winden und nicht nur von sich abtun — denn die christliche Lehre
war die Gegenlehre gegen die dionysische; — den Süden in sich
wieder entdecken und einen hellen, glänzenden geheimnisvollen
Himmel des Südens über sich ausspannen; die südliche Gesundheit
und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt
vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, über-
europäischer, morgenländischer, endlich griechischer — denn
das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles
Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen
Seele, die Entdeckung unserer „neuen Welt"; — wer unter
solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen
kann? Vielleicht eben — ein neuer Tag!"
— 393 —
Aber ist es nicht tiefste Tragik, daß gerade der Manri; dem
die Musik des „Tristan" die tiefsten Geheimnisse des Lebens restlos
geoffenbart hatte, daß dieser Mann am Ende selbst diese Musik
opferte und ihr hinabfolgte? Und schon grüßte er mit trunkenem
Bück die Morgenröte des neuen, von ihm ersehnten Kelches, als er
im letzten Augenblick des Hinabgehens das Glück des Anblicks
stolz verschmäht: wie der sterbende Tristan hört auch er das
Licht, denn: „Singe mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt . . .
daß ich- dich singen hieß, meine Seele, siehe, das war mein
Letztes!" In der Tat:
„Und wenn die strenge und gequälte Stimme
Dann wie ein Loblied tönt in blaue Nacht
Und helle Flut — so klagt: sie hätte singen,
Nicht reden sollen, diese neue Seele^)!"
Warum es aber anders kam, darüber können wir nur Ver-
mutungen anstellen, geradeso wie über den im Kerker einen Di-
thyrambos auf Apollon dichtenden Sokrates. War es die Erfahrung,
daß nicht nur vielen die Begabung gebricht, so weit im Denken
vorwärts zu kommen, sondern daß vielmehr andere trotz reichster
Begabung für dieses Höchste keine Empfänglichkeit haben, daß er
es uns verschwieg, woher ihm jene plötzliche Erleuchtung kam,
jenes plötzliche Aufleuchten der Lösung? Vielleicht dachte er
gleich Piaton: „Also wird ein ernsthafter Mann sich hüten, das
auszusprechen, mit dem es ihm eigentUch ernst ist, weil er es da-
mit nur dem Spott und Hohn der Menschen preisgibt. Alles, was
wir schreiben, ist immer nicht das, was uns recht eigentlich am
Herzen hegt; nur die Eitelkeit wird sich verleiten lassen, dies
Teuerste ans Licht zu ziehen." Jedenfalls kommt Bertram der
Wahrheit näher als Stekel, wenn er behauptet, daß die Idee, das
Erlebnis der „entzückten dionysischen Weisheit", ihrer stummen
Schönheit und ihres totenstillen Lärms, dies eleusisch angeschaute
Erlebnis großer Dinge, von denen man schweigt oder groß redet,
^) So heißt es in der Vorrede zur „Geburt der Tragödie" vom Jahre
1886: „Hier redete eine fremde Stimme . . . hier sprach eine mystische und
beinahe mänadische Seele . . . fast unschlüssig darüber, ob sie sich mitteilen
oder verbergen wolle. Sie hätte singen sollen, diese neue Seele — und
nicht reden! Wie schade, daß ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht
als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!"
— 394 —
in Nietzsche erst im Verwandlungsaugenblicke seiner geistigen
Auflösung, seiner inneren Sprengung und Entindividualisierung
triumphiere. Aber dieses eleusische Schweigen, diese eleusische
Scheu — sie sind das echteste Zeugnis für Nietzsches eingeborenes
Griechenheimweh: „Halten wir ein," sagt Pindar (Nem. V, v. 30,
ed. Schroeder), „denn es frommt nicht immer, wenn die lautere
Wahrheit ihr Antlitz offen zeigt! Öfter ist auch Schweigen das
weiseste, was sich der Geist des Menschen aussinnt. ** Und so
mußte sich denn mit eiserner Notwendigkeit an dem '„letzten"
Nietzsche das erfüllen, was er bereits als Achtundzwanzigjähriger,
prophetischen Geistes voll, gesagt hatte: „Die Menschheit hat
an der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang^)."
So sagte er auch in einer Baseler Uni versitäts Vorlesung : „Das ist
althellenisch: das siegreiche Individuum gilt als Inkarnation des
Gottes, tritt in den Gott zurück!" So wurde sein „Begreifen
ein Ende!" Und mit Schiller sagen wir:
„Frommt's, den Schleier aufzuheben,
wo das ewige Schrecknis droht?
Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod!"
Und ein Wort, das in Buddhas Reden unzählige Male wiederkehrt,
lautet: „Der Gedanke ist der Schlächter des Lebens!"
Der Schüler soll den Schlächter töten : dann erst wird er die Region
von Asat, dem Falschen, verlassen und in das Reich von Sat, dem
Wahren, eingehen.
Wir sind am Ende ! Aber im Blicke auf die letzten ver-
hüllten Jahre von Nietzsches Geist wollen wir ein Wort Henriette
Feuerbachs hersetzen : „Vielleicht, daß der Mensch das Höchste in
sich selbst nicht ungeblendet schauen darf — wie Moses auf dem
Sinai sein Antlitz verhüllen mußte!" — „Kein Denkmal verkündet
noch in deutschen Landen mit steinernem Munde seinen Ruhm . . .
aber Könige werden sterben und Reiche werden dahinsinken, doch
sein Name wird noch über ferne Jahrtausende glänzen!"
„Glücklicher Meister, du starbst, bevor jedes Maul dich
beschwatzte,
Gleich dem Läufer, der stolz seinen Staub überholt!"
1) Cf. p. 147.
— 395 —
Doch eines wissen wir und dieses eine wollen wir hoch und
heilig halten, dieses eine wollen wir unserer Jugend ins Herz
hämmern: daß auch Nietzsche einer der Größten im Geiste war,
und daß Gott fortwährend in den höheren Naturen wirksam bleiben
wird, um die geringeren zu sich heranzuziehen! Und so ist seine
Philosophie, „diese lebenbejahendste, lebenverherrlichendste Philo-
sophie des christUchen Europa im Kernsinne eine überaus christ-
liche Philosophie mit kühnster Willenswendung ins Hellenische".
Was Nietzsche von Goethe sagte, daß sein Denken „zwischen
Pietismus und Griechentum schwebe", das gilt daher von ihm
selbst . . . das stolze Hinübergleiten dieses Mannes, die tödliche
Selbstentzündung, Selbstentrückung in den auflösenden Wahn — es
war wohl auch wie das Ende aller großen, das ist stellvertretenden,
vorbildKch sich vollendenden Menschen eine Maske des Gottes.
Eine Opfermaske des großen Allebendigen, „das nach Flammentod
sich sehnt", weil es aus der Flamme stammt, das im Flammen-
rausche siegreich „in den Gott zurücktritt", aus dem es kam:
„Ja! ich weiß, woher ich stamme;
ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzelir' ich mich . . .
Flamme bin ich sicherlich!"
XXV. NACHWORT.
Lange war der Weg, beschwerlich mitunter die Keise, die wir
zurücklegen mußten, um die ungeheure Odyssee des Geistes, die
Nietzsche erleben mußte, an unserem geistigen Auge und mit-
empfindenden Herzen vorüberziehen zu lassen. Aber gleich der
Phaiakeninsel ragt aus diesem Meere des Elends, das er kühnen Mutes
durchsteuerte, die „Insel der Seligen", Tribschen: dort Hegt der
Auf- und Niedergang seiner Sternenfreundschaft mit Wagner be-
schlossen.
In vollster Objektivität, das heißt: weder geblendet durch den
Ruhm, der Wagner bereits zu jener Zeit umstrahlte, da er Nietzsche
fand, noch durch den heute heller den je strahlenden Stern seiner
Kunst und durch die „wissenschaftliche Feststellung" beeinflußt,
daß mit dem „Zarathustra" Nietzsches Wahn beginnt — ^aber welch
ein Wahnsinn und welches Feuer wirft er im Flammenschein über
die Welt", wie Rohde sich äußerte; beides Momente, die den Blick
des Forschers nur trüben können — , deckte ich die Genesis dieser
Freundschaft auf und schilderte ihre weitere Entwicklung bis zur
endgültigen Trennung. Und da lassen sich drei Hauptpunkte fest-
stellen, weshalb Nietzsche, einstens der „Treueste der Treuen",
seinen Freund „verriet", will sagen, von ihm sich trennen mußte:
1. Die divergierenden geistigen Entwicklungslinien
der beiden Männer: Nietzsche, der bereits während seiner Bonner
Universitätszeit sich mit Langes „Geschichte des Materialismus"
bekannt gemacht hatte, war, durch Lange beeinflußt, bereits in, ja
sogar vor der Tribschener Zeit! — Nachlaßfragmente beweisen
dies! — ein ausgesprochener Gegner aller Metaphysik, wie sie
theoretisch durch Schopenhauer, praktisch durch Wagner in seinen
Kunstwerken vertreten wurde. Aber dennoch versuchte er auf der
ursprünglich eingeschlagenen idealistischen Denkrichtung fortzu-
schreiten, weil er glaubte, Schopenhauers und Wagners ästhetische
Ideen stünden zur griechischen Kunst in gewisser Beziehung. Daher
— 397 —
das zentaurenartige Buch die „Geburt der Tragödie". Diese idealistische
Denkrichtung gab er vollends auf, als er, angeregt durch Paul Ree,
sich dem Positivismus zuwandte und damit jene Kunst- und Welt-
anschauung inaugurierte, die in seiner Lehre von der Umwertung
aller Werte ihren Höhepunkt erreichte.
2. Die große Enttäuschung, die ihm Wagner bereitet hatte,
der Wagner, mit dem er eine Reformierung unserer Kunst und
Kultur herbeiführen wollte: durch Schopenhauer, der im Genie
— dieses Genie war für den damaligen Nietzsche der erst später
so benannte „Übermensch" — die einzige Entschuldigung für die
Zerteilung des einen Willens in die zahllosen Wesen erblickte, auf
Wagner als das Genie der Zeit vorbereitet, verehrte Nietzsche Wagner
als die Emanation des Ewigen. Denn wie fast alle Romantiker ging
auch Nietzsche vom Goethekultus aus und steigerte diesen Genie-
begriff, den er in der Person Wagners feierte, fast ins Mythische.
Solange daher die Schaffenswege beider Männer sich berührten, weil
Nietzsche, wie er das bei seinen Freundschaften allgemein tat, eigene
Empfindungen, Absichten und Anschauungen bei anderen voraussetzte,
fühlte sich der Romantiker Nietzsche in Wagners Gesellschaft als
eines auserwählten Gleichgesinnten wohl. Die Abschwenkung von
Wagner mußte unausbleiblich erfolgen, sobald sich in Nietzsche die
kritische Seele regte und er als Aufklärer seine ureigenen Gedanken
zu verkünden begann. Der „Ring" und vollends der „Parsifal" ent-
sprachen eben gar nicht jenem „dionysischen" Idealdrama, das
Wagner schaffen wollte und als dessen Verkörperung Nietzsche der
„Tristan" erschienen war. Diese Verfratzung des geliebten Bildes
einer dionysischen Natur in eine komödiantische, einer orphischen
Urmusik für dionysisch Verwandelte zur großen Zauberoper für
Bourgeois des neuen Deutschen Reiches wurde Nietzsche zu einer
beinahe tödlichen Selbstentschleierung : so hatte er im WesentUchsten,
Wesenhaftesten seiner Natur sich täuschen lassen, vielmehr sich
selbst getäuscht.
3. Rein persönliche Gründe, die in ihrer Spezifizierung
sich auf die Gebiete der Kunst, Musik und des Psychischen erstrecken.
Dazu wären noch die Differenzen rein persönlicher Natur zu zählen :
Wagners Hang zum Demagogentum, womit er aber gleichwohl eine
rücksichtslose Tyrannei zu verbinden wußte, wie zum Beispiel die
Forderung nach vollständiger Unterwerfung unter seine Ansichten,
— 398 —
und die Wagner fehlende Eigenschaft, auch fremde Größe anzuerkennen.
SchUeßlich wäre da auch jener Briefe zu gedenken, in denen sich
Wagner mit Nietzsches psychischem Leiden beschäftigt, wobei es
freilich dahingestellt bleiben mag, ob sie in der uns vorliegenden
Fassung mit Bezug auf die „Ariadnefrage" geschrieben worden sind.
Klarheit könnte nur der der Veröffentlichung bisher entzogene Brief
Dr. Eisers an Wagner bringen.
Daraus ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit der Schluß,
daß es „der geniale Verräter" Nietzsche durchaus nicht notwendig
hatte, nach Motiven seines Verrates zu suchen, bezw. diesen selbst
zu rationalisieren ! Aber trotzdem : die logische, denkerische Ent-
wicklung Nietzsches allein dürfte wohl nicht ausreichend sein, seinen
Bruch mit Wagner eindeutig zu erklären. Denn mit der von mir
gegebenen Darstellung ist ja nicht gesagt, was wohl in den vierzehn
Jahren, die zwischen dem Nietzsche der „Geburt d^r Tragödie" und
dem völlig entgegengesetzten Nietzsche des ^Falles Wagner" liegen,
in seiner Seele vorgegangen sein mag! Woher kommt, fragen wir
mit Th. Lessing, der Gärungsstoff, der eine so ungeheure seehsche
Umwälzung zuwege brachte? Das aber scheint nicht zweifelhaft,
daß gerade Nietzsche seine geheimsten Wunden mit maßlosem Stolz
und lauterer Scham verborgen hält, an die auch nur zu rühren das
zarteste Wort zu unzart wäre.
Und doch : mit einer fast erschreckenden Deutlichkeit hat sich
gezeigt, eine wie tiefe Wesensverwandtschaft — fast möchte man
von einer Schicksalsgemeinschaft sprechen ! — Nietzsche mit Wagner
verband; denn „das, worin wir einander verwandt sind, daß
wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen
dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere
Namen ewig wieder zusammenbringen" heißt es im „Ecce
homo". Und: „Mein Glaube an eine gemeinsame und zu-
sammengehörige Bestimmung gereicht weder Wagner
noch mir zur Unehre!" Ist nicht auch hier der Rest Schweigen
und sich neigen in Ehrfurcht vor der göttlichen Unbegreifbarkeit des
Genius? Denn das Allerletzte, das Allertiefste in Wagners wie in
Nietzsches Wesen werden weder die dö^a noch die iTtiön^iirj jemals
enthüllen: was der Genius, geheimnisvoll am lichten Tag, uns nicht
freiwilhg offenbaren mag, das zwingen wir ihm nicht ab mit Hebeln
und Schrauben! Lebt er doch in jener ehernen Welt idealer Axiome,
— 399 —
unabhängig von Zeit, Ort, Person und Erkenntnis: Das ist Piatons
TOTiog vTtsQovQdvLog^ der überhimmlische Ort, die allgütige und all-
verknüpfende Welt seiner Ideen, deren Mittler und Träger dennoch
alle Milliarden Leiber waren, die heute im Boden modern ; das ist jene
ewig fließende und in jedem von uns ganz seiende objektive Welt
des Zeit- und Weltgeistes : sie hängt über uns allen, immer und nie,
überall und nirgends als jene unbegreifliche Atmosphäre, in der wir
weben, leben und sind. Wir alle glauben zu schaffen und zu ge-
stalten. Und doch sind wir nur Saitenspiel letzter Gesamtheiten und
sind Geschöpfe jener Welt, die wir schaffen. Was Ihr dazu sagt
und lehrt, was ich dazu sage und lehre, kommt es darauf an?
Unser eigenstes ist Zufall und Tag. Schon das Bewußtsein „ich bin!"
ist etwas Neues gegenüber meinem Sein. Unser ist nicht Wahrheit.
Unser ist nur Erkenntnis. Wir leben. Die Ideale aber sind!
Aber an die eine Wahrheit glaube ich, daß die ungeheuren
Wirkungen, die von Wagner wie von Nietzsche ausgehen, auch heute
noch nicht abgeschlossen sind, ja daß die Zeit erst kommen wird,
da durch eine glückhche Synthese ihrer scheinbar unvereinbaren, im
tiefsten Grunde jedoch konvergierenden Weltanschauungen ein neues,
fruchtbares, religiöses Ideal erschlossen werden wird, eine neue
Renaissance auf hellenisch-germanisch-christlicher Basis. Denn sie
beide durften früh des ewigen Lichtes genießen, das später sich zu uns
hernieder wendet. Das leuchtende Ideal, um dessen VerwirkUchung
Nietzsche gekämpft und gelitten, für das er sich selbst geopfert hatte,
die Zeit, da die Liebe kommen wird, die den Menschen das Leben und
die Erde wirklich zurückgibt, da wir Menschen werden in Freiheit und
Schönheit, in Freude und Kraft — ich glaube, dieses Ideal zur
Genüge aufgezeigt zu haben. Und das Ideal, das dem Meister von
Bayreuth vorschwebte? Er selbst hat ihm das Wort geredet! Ist es
aber nicht wieder tiefste Schicksalsgemeinschaft, daß Nietzsche
gerade dieser Sehnsucht von der Südlandssonnenfahrt das Wort
gesprochen hat, jener Sehnsucht und Hoffnung, der Wagner in einem
offenen Briefe an den Bürgermeister von Bologna in folgenden Worten
Ausdruck verlieh: „Es hat sich gezeigt, daß der Schoß deutscher
Mütter die erhabensten Genies der Welt empfangen konnte; ob die
Empfängnisorgane des deutschen Volkes der edlen Geburten dieser
auserwählten Mütter sich wert zu erzeigen vermögen, steht erst
noch zu erwarten. Vielleicht bedarf es hier einer neuen Begattung
— 400 —
des Genies der Völker. Uns Deutschen leuchtet hierfür keine schönere
Liebeswahl entgegen als diejenige, welche den Genius Italiens mit
dem Deutschlands vermählen würde."
„Zum Nord drängt unseres Geistes Art,
Wo Blut und Sitte uns entsprang.
Doch von der Südlandssonnenfahrt
Träumt unsere Sehnsucht lebenslang!"
Nietzsche und Wagner — ihnen beiden gehört die Zukunft
unseres Volkes. Verehren wir diese Meister! WahrUch, wir bannen
gute Geister!
Drum mögen auch von dieser Arbeit die schHchten, aber
inhaltsschweren Worte des platonischen Sokrates gelten*, „toüto dk
ccTtXcog xal ärixvag Kai tacog svrj&cjg ^%g} nao' i^avtcjl'' Aber selbst
wenn auch ich dann, eben weil ich mich vom Glauben an jene
Ideale leiten ließ, in trüber Dämmerung schwer den lichten Tag
gesucht und am Ende gleichfalls jämmerlich geirrt haben sollte,
möchte ich mit Cicero ausrufen: „Errare mehercule malo cum PJatone,
quem tu quanti facias scio, quam cum istis vera sentire!" Was
aber ist die Wahrheit, die „dh^d-sia"? Eine r<cc?.ri d-sla^l
Sollte es sich aber hier und da ereignet haben, daß Worte
oder Gedanken neuer und noch lebender Autoren in mein Buch
ohne äußere Kennzeichen übergegangen sind, so glaube ich trotzdem,
eben weil es mir zum Teile auch auf die Reproduktion und richtige
Gruppierung überlieferter Tatsachen, Worte und Gedanken ankam,
vor der Beschuldigung des Plagiats sicher zu sein und Anspruch
auf Selbständigkeit erheben zu dürfen.
„Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht
Die hättest, denen du leuchtest. 0 Himmel über mir, wann trinkst
du diesen Tropfen Taus, wann trinkst du meine Seele in dich zurück?"
Wien, am Tage des 78. Geburtsfestes Friedrich Nietzsches.
DER VERFASSER.
LITERATURNACHWEIS.
Alafberg Friedrich: „Aufstieg,"
Bölart Hans: „Friedrich Nietzsches Leben." — „Friedrich Nietzsches Freund-
schaftstragödie mit R. Wagner und Cosima Wagner- Liszt."
Bertram Ernst: „Nietzsche, Versuch einer Mythologie."
Chamberlain H. St.: „Richard Wagner." — „Die Grundlagen des XIX. Jahr-
hunderts."
Crusius Otto: „Erwin Rohde, ein biographischer Versuch."
Deussen Paul: „Erinnerungen an Fr. Nietzsche."
Decsey Ernst: „Anton Brückner."
Ernest Gustav: „R. Wagner, sein Leben und sein Schaffen."
Eucken Rudolf: „Lebensanschauungen der großen Denker."
Friedrich Paul: „Essays", 2 Bände.
Grießer Luitpold: „R. Wagners Tristan und Isolde."
Grützmacher Richard: „Nietzsche, ein akademisches Pubhkum."
Höfler Alois: „Zur Wandlung des ersten in den zweiten Nietzsche." (Beilage
zur „Allgemeinen Zeitung", Jahrgang 1901, Nr. 176, 177.)
HoUitscher Jakob: „Fr. Nietzsche, Darstellung und Kritik."
Howald Ernst: „Fr. Nietzsche und die klassische Philologie."
Istel Edgar: „Das Kunstwerk R. Wagners."
Jodl Friedrich: „Vom Lebenswege", 2 Bände.
Jodl Margarethe: „Fr. Jodl, sein Leben und Wirken."
Joel Karl: „Nietzsche und die Romantik."
Kapp Julius: „R. Wagner."
Kießhng Arthur: „R. Wagner und die Romantik."
Lessing Theodor: „Schopenhauer, Wagner, Nietzsche." (Ein Werk, dem ich
besonders viel verdanke.)
Lichtenberger Henri: „Fr. Nietzsche, Abriß seines Lebens." — „Die Philosophie
Fr. Nietzsches."
Lucka Emil: „Die drei Stufen der Erotik."
Louis Richard: „R. Wagners Weltanschauung."
Meyer R. M.: „Die deutsche Literatur des XIX. Jahi'hunderts."
— „Fr. Nietzsche."
Moos Paul: „R. Wagner als Ästhetiker."
Möbius P.: „Nietzsche."
Nietzsche, Ehsabeth Förster: „Biographie Fr. Nietzsches." — „Wagner und
Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft."
Grießer, Wagner und Nietzsche. 26
— 402 —
Oehler Richard: „Den Manen Fr. Nietzsches." (Festgabe für Frau Förster
zum 75. Geburtstage.)
Puschmann Th.: „R. Wagner, eine psychiatrische Studie."
Placzek, Dr.: „Freundschaft und Sexualität."
Reininger Robert: „Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens."
Richter Raoul: „Fr. Nietzsche." — „Essays."
Riehl Alois: „Fr. Nietzsche der Künstler und der Denker." — „Philosophie
der Gegenwart."
Römer Heinrich: „Nietzsche", 2 Bände.
Salome Lou- Andreas: „Fr. Nietzsche in seinen Werken."
Seiling Max: „R. Wagner, der Künstler und Mensch."
Simmel Georg: „Schopenhauer und Nietzsche."
Stekel, Dr. W.: „Nietzsche und Wagner." (Zeitschrift für Sexualwissenschaft,
Jahrgang 1917, IV. Band, Heft 1, 2, 3.)
Saaler Bruno: „Über die Krankheit Nietzsches." (Zeitschrift für Sexual-
wissenschaft, 1918, Jännerheft.)
Strecker Karl: „Nietzsche und Strindberg in ihrem Briefwechsel."
Weichelt Hans: „Kommentar zum Zarathustra."
Werner Alfred: „Die Philosophie Fr. Nietzsches."
Zeitler Julius: „Nietzsches Ästhetik."
Feuilletons aus der „Neuen Freien Presse" und dem „Pester Lloyd" von
R. N. Coudenhove-Kalergi und Hans Liebstöckl.
Selbstredend Wagners und Nietzsches Briefwechsel.
Sonstige Literatur siehe im Texte.
CORRIGENDA.
Seite 58, Zeile 3 von unten, lese „dafür sagt er ihm Dinge, an . . ." statt
„und ihm Dinge zu sagen, an . . .".
Seite 59, in der Fußnote, lese „cf. p. 6" statt „p. 10".
Seite 166, Zeile 16 von oben, lese „Tragiker, Sokrates . . .".
Seite 206, Zeile 11 von oben, lese „je" statt „e".
Seite 240, Zeile 1 von oben, lese „hohle" statt „holde".
Seite 242, Zeile 16 von oben, lese „Übermenschenideal sich" statt „Über-
menschenideals ich".
Seite 888, Fußnote, Zeile 6 von unten, lese „von" statt „zu".
NAMENVERZEICHNIS.
Abraham a Santa Clara 250.
Achilleus 122.
Agathon 140.
Agoult d', Gräfin 294.
Aischylos 6, 8, 52 f., 116, 135, 140,
150 f., 167.
Aisopos 141.
Alexander der Große 51, 280.
Anaxagoras 137.
Andler Charles 298.
Angelus Silesius 371 f.
Apis 160*.
Apollon 118 f., 134, 150, 373, 393.
Archilochos 123.
Aristophanes 138, 320.
Aristoteles 13, 186*, 202, 286, 320, 362.
Athene Pallas 132.
Ariadne 292 f., 295 f., 298 f., 399.
Augusta, Kaiserin 220.
Bach J. S. 55, 88, 229.
Bachofen J. J. 165.
Becker E. 322.
Beethoven 13, 52, 55, 74, 88, 168, 169*,
217, 229, 232 f., 235 f., 254, 256, 273,
277, 340*, 384, 391 f.
Beiart Hans 220, 292, 295, 298 f., 300 f.,
Berlioz Hektor 224.
BernouUiC.F. 64*, 87*, 270, 293, 295, 299.
Bertram Ernst 249 f., 322, 341* 355 f., 393.
Bie Oskar 231.
Bierbaum 0. J. 389.
Binswanger, Prof. 267, 269 f.
Bismarck 55, 100.
Biz6t Georges 87*, 224 f., 226, 228, 230.
Bjerre Paul 289.
Boeckh August 164.
Boethius 86.
Bonfantini 11.
Bonus Arthur 338*.
Böcklin Arnold 201, 301.
Bölsche Wilhelm 316, 388.
Börne Jakob 243*.
Brahms Johannes 86 f., 219, 226*, 237.
Brandes Georg 363.
Brentano Franz 272.
Brockhaus, Frau 2, 5, 208.
Brutus 259.
Buddha 394.
Burckhardt Jakob 71, 152, 163, 292,
348, 383.
Busoni Ferrucio 236 f.
Bülow Hans v. 1, 90 f., 94, 103, 111,
152, 206, 219, 222, 226, 295, 363.
Carafa 230 f.
Caesar C. Julms 243, 259, 280, 321, 329.
Cesare Borgia 334, 382 f.
Chamberlain H. St. 38, 53, 177, 228,
239 f., 241, 244, 296, 326*.
Christus Jesus 241, 243, 249, 264, 303,
309, 313 f.. 318, 320 f., 322 f., 325,
329, 340, 344, 346, 362, 364 f., 370,
373 f., 375, 385.
Cicero 286, 400.
Conradi Hermann 330*.
Dante 258, 309.
Darwin 321 f.
Daumer 149.
Dehmel Richard 330*, 355, 390.
Demosthenes 53.
Descartes 279.
Deussen Paul 89, 114, 145, 242, 252,
268*, 348, 353, 357.
Diels Hermann 339.
Dilthey Wilhelm 155.
Dinger Hugo 195.
Dionysos 107, 118 f., 131 f., 134, 150,
160, 264, 267, 292 f., 295 f., 298,
313, 324, 328, 337, 356, 361, 364 f.,
366, 370, 373, 376, 383 f., 385, 391.
Dostojewski 278.
Dove Alfred 171.
Dühring Eugen 149.
Eckhardt, Meister 371.
Eiser, Dr. 292, 399.
Emerson R. W. 314.
Engelmann 15.
26"
404
Epikuros 347.
Einest Gustav 179, 182, 215.
Eucken Rudolf 373.
Euripides 7, 134f., 315, 324, 365, 369, 377.
Falckenberg 106.
Fötis 232.
Feuerbach Henriette 394.
Feuerbach Ludwig 149, 189, 303, 306.
Fechner 272.
Feustel 21.
Forster Georg 343.
Frazer 158.
Freud Sigmund 280*, 287.
Friedrich Paul 116, 200, 205 f., 208,
248, 354.
Fritzsch E. W. 15.
Fuchs 226.
Gallwitz 338*.
Gast Peter 63, 78, 89, 101, 182, 210*,
224, 253 f., 270, 308, 322, 332, 336, 347,
349, 353, 361*, 363.
Geyer, Wagners Stiefvater 7.
Glasenapp G. Fr. 87, 197 f., 201, 213 f.,
239 292 296,
Goethe 6, 13, 55, 93, 96, 98, 108 f.', 117J
148, 153, 165, 187, 190, 203 f., 205,
207, 210*, 213, 216, 221 f., 238, 258,
273, 280 f., 283, 285 f., 287 f., 306,
317, 321, 338, 341, 343, 350, 354, 356,
359*, 360*, 361, 366, 372 f., 374 f.,
376 f., 379, 381 f , 384 f., 392, 395, 398.
Gersdorir Frh. v. 11, 19 f., 20, 22 f.,
27 f., 30, 32. 46, 49, 88, 99, 114, 153,
162, 170, 18Ö, 213 f., 262, 266, 315, 347.
Grützmacher K. H. 352.
Goetz Bruno 244 f., 354.
Golther Wolfgang 219, 239.
Grätz 243.
Grillparzer 238.
Hafis 391.
Hamlet 259.
Hanslick Eduard 94*.
Harnack Adolf 325*.
Haydn 88, 237.
Hasenclevcr 380.
Hanck Minnie 87*.
Hauff Walter v. 244.
Händel 87, 254
Hebbel Friedrich 176, 188, 210*, 220,
222 251 351
Heckel Emil 19, 21, 33, 88*.'
Heckel Karl 88*.
Hegel 75, 149, 195, 306, 359*, 365.
Heine Heinrich 243.
Helene 325.
Helmholtz Hermann 144.
Hemmes S. J. 308*.
Hera 132, 159.
Herakles 315, 336.
Herakleitos 339.
Heyse Paul 250.
Hillebrand 99. 298.
Hildebrandt Kurt 60, 379.
Hirschfeld Magnus 281, 349.
Hobbes 106.
Hoffmann E. T. A. 390*.
Hoffmannsthal Hugo v. 288.
Hollitscher Jakob 274.
Holzer Ernst 143, 212.
Homer 6, 116, 122, 131, 273, 324.
Horatius Flaccus 98, 276*.
Howald Ernst 153, 102.
Hoefer Edmund 94.
Höfler Alois 192* 199, 201* 223, 270 f.
Hölderlin 276. 345.
Hugo Viktor 215.
Ibsen Henrik 243.
Jakobi Friedrich 360*.
Jahn 180.
Jatho Karl 329*.
Jerusalem Wilhelm 336.
Jodl Friedrich 106, 272, 276, 306, 308.
Joel Karl 328, 363, 366.
Johannes 346.
Jordan Wilhelm 149.
Joukowsky Paul 201.
Judas 249 f., 258 f.
Kadmos 135.
Kaftan Julius 276.
Kalthoff Albert 329*.
Kant 47, 106, 144, 277, 306, 317 f.
Kapp Julius Vi, 199, 292.
Kierkegaard 314.
Klages Ludwig 166.
Kleist Heinric
Klindworth 9.
Klopstock 250.
Kluger, Prälat 308*.
Konfuzius 195.
Kopernikus 321.
Kögel Fritz 104.
Körner Chr. G. 204.
Krug Gustav 235, 347.
Kratrt-Ebing v. 282.
Kraus Karl 287 f.
Kraßna, Dr. Hermann 261, 291*.
Kronenberg M. 318.
Kundry 63*.
— 405 —
Lange Fr. A. 143 f., 146, 194, 397.
Laotse 195.
Lehmann Rudolf 305.
Lenau 164, 276.
Lenbach 17. 152.
Lessing G. E. 202, 376.
Lessing Theodor 185*, 221 f., 273, 284,
301, 314, 335^ 342, 358, 399.
Lichtenberger Henri 62, 8 J, 86, 173, 196.
Liebstöckl Hans 256.
Lionardo da Vinci 181.
Liszt Franz 42, 94, 152, 215, 219, 263,
296 f., 390.
Lombroso Cesare 273.
Lorm Hieronymus 105*.
Lucifer 258. ^
Lucka Emil 278, 280, 389.
Lucretius Garus 877.
Ludwig H. 6 f., 18, 22, 40, 55, 180, 214.
Luther 52, 169*, 195, 241, 277, 382 f.
Lykurgos 137.
Magdalena 63*.
Mahler Gustav 102.
Malvida V. Meysenbug 12, 1&, 62, 78 f.,
82 f., 89, 101, 111, 201, 253, 266, 294,
300, 348.
Marduk 160*.
Mayreder Rosa 283.
Mazzini 145.
Meister Richard 278.
Mendelssohn, Komponist 87 f., 219, 225.
Mendelssohn, Prof. 211
Melanchthon 195.
Messer August 280*.
MeyerR.M. 225, 280,322 f., 336, 841*, 346.
Michelangelo 340*.
Midas 121.
Minos 293.
Mira 386.
Mithras 160*, 324.
Mohammed 278.
Montaigne 86.
Montesquieu 165.
Moses 394.
Mozart 74, 88, 185*, 231 f,, 235, 237.
Möbius P. J. 241, 264*, 268, 270, 274,
289, 291*, 328, 382 f.
Muncker 21.
Nabonassar 161*.
Napoleon 280, 834, 337.
Nettke 199.
Newton 268*.
Nietzsche-Elisabeth 1, 8, 11 f., 15 f., 25,
30, 40. 44, 46, 48 f., 57, 62 f., 65, 72,
76, 38 f., 90, 96, HO*, 170, 173, 179,
192, 203, 211 f., 213, 215, 226, 253,
260, 268, 293, 295 f., 302 f., 307, 326*.
Nohl 111.
NordauMax 244, 273,275, 277 f., 280,289.
Novalis 344, 390*.
Oehler Richard 240.
Osiris 160, 324, 369.
Ostwald Wilhelm 268*.
Pan 365.
Pandora 386 f.
Paris 325.
Pascal 314.
Paulus 322, 324 f., 365, 379.
Paulsen Friedrich 177.
Pentheus 135.
Persephone 132.
Petrarca 382.
Petrus 382.
Petzoldt Josef 169*.
Philoktetes 66.
Pindar 108, 356, 394.
Pinder Wilhelm 347.
Placzek, Dr. 260 f., 263, 267 f.,269, 274, 289.
Piaton 8, 59 f., 105 f., 116, 136, 139,
163 f., 166, 170, 268*, 281, 286, 314,
317, 321, 324, 333, 337, 345 f., 347,
353, 356, 364, 369, 871, 381, 393, 399 f.
Plutarch 368.
Pohl 111.
Porges Heinrich 111.
Prel Karl du 368.
Prometheus 386 f.
Puschmann, Dr. 171, 273.
R^e, Dr. Paul 62, 64 f., 194, 205, 348. 389.
Reininger Robert 242, 277.
Renan Ernest 250, 289.
Reitzenstein 369.
Reuter Gabriele 326*.
Ribbeck 108, 155.
Richter Hans 12, 14, 16, 199.
Richter Raoul 112, 174, 180, 183, 195,
339, 347.
Riedel, Prof. 90 f.
Riehl Alois 226, 338*, 343.
Ritschi, Frau 2.
Ritschi Friedr., Prof. 107, 152, 212.
Rittelmeiyer, Pfarrer 329*, 383.
Rohde Erwin 1, 6, 11, 15 f., 20, 22 f.,
26 f., 33 f., 40, 46, 54, 57, 60, 66, 70,
93, 108, 111, 116, 152*, 153 f., 165,
171, 179 f., 222, 254, 266, 273, 275,
302, 311, 338*, 347 f., 363 f., 367. 397.
Rossini 229 f., 234.
— 406 —
,A/y
Römer Heinrich 377*.
Rousseau 263, 318.
Runze, Prof. 264.
Rühl Franz 71.
Saaler, Dr. Bruno 263, 265*
Sallust 97.
Salome Lou-Andreas 65, 66*, 81, 83,
90 f., 113, 175, 191, 337, 338*, 339, 355.
Scharlitt Bernard 103.
Schelling 164, 306.
Schiller 11, 55, 122, 125 f., 128, 145 f.,
165, 184, 203 f., 205, 232, 391, 394.
Schlegel A. W. 125, 128.
Schleiermacher 195, 306.
Schmeitzner 77.
Schopenhauer 5, 11, 31, 47, 54* 56 f.,
66, 75 f., 80, 86, 109, 112, 114 f., 117,
119, 122, 143 f., 149 f., 156, 162, 171 f.,
174, 176, 189 f., 195, 199, 201, 209,
219 f., 221, 225, 242, 265* 274, 282,
301 f., 305 f., 308, 317, 329, 337, 341*,
346, 348, 359*, 361 f., 364, 369, 386, 397.
Schreker Franz 256.
Schubert 88, 235.
Schumann Robert 86 f., 90, 225, 276.
Seidler Luise 108.
Seiling Max 241 f., 244, 296, 326*.
Seydlitz Frh. v. 73, 77,^213, 309, 349.
Shakespeare 55, 202, 258 f., 270.
Silen 121.
Simmel Georg 149, 322, 340* 371.
Spinoza 106, 279, 306, 370 f.
Sokrates 7 f., 59 f., 115, 135 f., 148, 166,
321, 369, 400.
Sophokles 8, 115, 138, 140, 288.
Soret Friedrich 280.
Spitteler Carl 87*.
Stein, Frau v. 283.
Stein Heinrich v. 80, 82, 151, 206, 348.
Stemhart 268*.
Stekel, Dr. W. 89 f., 205 f., 249, 260 f.,
278, 282, 290 f., 299 f., 310 f., 313 f.,
320, 322, 328, 334, 339 f., 347, 349 f.,
353 f., 357, 376, 378, 393.
Stern Daniel = Gräfin d'Agoult 294.
Stern, Dr. 34, 38 f.
Stirner Max 274.
Strindberg 321, 340* 359, 363.
Stobaeus 368.
Strauß D. Fr. 29, 60.
Strauß, Dr. R. 102.
Sulzer Jakob 97.
Taine 252.
Tausig Karl 357.
Teiresias 135.
Theseus 293, 295 f.
Thomas v. Aquino 320.
Tode Henry 228.
Tolstoi 321.
Treitschke H. v. 327.
Turgenjew 211.
Türck Hermann 175, 289.
Ueberweg 106.
Usener Hermann 155.
Verdi 234, 236.
Volkelt Johannes 282,
Voltaire 243.
Wagner Cosima 7 f., 11 f., 17, 21 f
25 f., 34, 47 f., 64, 69 f., 89 f., 97 f.,
101, 104, 152, 199, 214, 219, 222,
228* 261, 263, 270, 293. 295 f., 297 f.,
299, 301, 360, 363.
Wagner Blandine 9.
Wagner Daniella 9.
Wagner Eva 9.
Wagner Isolde 9.
Wagner Minna 206, 219, 221
Wagner Siegfried 6, 9, 12, 24, 193, 209,
263, 300.
Wallenstein 280.
Weber G. M. 74.
Weingartner Felix v. 186, 226* 227.
Weininger Otto 262.
Werfel Fr. 380.
Wesendonk Mathilde 63* 219 f., 229, 300.
Wesendonk Otto 214, 219, 222.
Wieland Chr. M. 97. 270* 283, 377.
Wilamowitz 139, 153 f., 163, 171, 280,
311, 315, 324, 356, 360* 379.
Winckelmann 117, 153.
Winckler Hugo 160*.
Windelband W. 106.
Windisch 2 f.
Wittgenstein Fürstin v. 63* 188, 228*.
Wittkop Ph. 191*.
Wolzogen H. v. 235.
WolflF Hugo 276.
Wundt W. 285.
Würzbach, Dr. 385*.
Zagreus 132, 159, 365.
Zeitler Julius 69, 169.
Zelter 374.
Zigesar, Baron 188.
Ziegler Leopold 169*.
Ziegler Th. 338*.
Ziehen, Prof. 267.
Zosimos 369, 384, 391.
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ML
410
W11G7
Griesser, Luitpold
Nietzsche und Wagner