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Alexander Puſchkin
Novellen
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ii Puſchkin)
Novellen
Deutſch von Johannes v. Guenther
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München
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung
Dskar Beck
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5
Thomas Mann
dem tiefen Kenner ruſſiſcher Dichtung
in Dankbarkeit und Bewunderung
gewidmet vom Überfeger
Inhalt
Die Erzählungen Bjelkins. 1
110
Der Schneeſtum .. 33
Der Sargmacher 56
Der Pofthalter .. .. 70
Das Fräulein als Bäuerin 93
Dubromslij .. .. 129
Pique Dame .... ... 261
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INNE
Bom Herausgeber
. wir die Herausgabe der Erzählungen J. P.
Bjelkins auf uns nahmen, die hier dem Publikum рог:
gelegt werden, hegten wir gleichzeitig den Wunſch,
eine wenn auch nur kurze Lebensbeſchreibung des
verſtorbenen Verfaſſers beifügen zu können, um
hiermit die gerechte Neugier der Liebhaber unſerer
ruſſiſchen Schriftkunſt zu befriedigen. Wir wandten
uns zu dieſem Zwecke an Marja Alexejewna Trafi—
lina, die nächſte Anverwandte und Erbin Iwan Petro⸗
witſch Bjelkins; allein zu ihrem Bedauern war es ihr
unmöglich, uns Nachrichten von ihm zu übermitteln,
da der Verſtorbene ihr völlig fremd geblieben war.
Sie riet uns aber, uns in dieſer Angelegenheit an
einen ehrenwerten Herrn zu wenden, der mit Iwan
Petrowitſch in freundſchaftlichen Beziehungen ge—
ſtanden hatte. Wir befolgten dieſen Rat und erhielten
auf unſer Schreiben die gewünſchte unten folgende
Antwort. Wir drucken ſie hier ohne die geringſte Ver⸗
änderung und ohne Anmerkungen ab, als ein koſt—
bares Denkmal edler Geſinnung und rührender Freund—
ſchaft, gleichzeitig aber auch als eine durchaus befriedi⸗
gende biographiſche Nachricht.
Mein ſehr geehrter Herr
Ihr verehrliches Schreiben vom 15. dieſes Monats
hatte ich die Ehre am 23. dieſes Monats zu erhalten,
3
Die Erzählungen Bjelkins
darin Sie den Wunſch äußern, von mir genaue
Nachrichten über den Geburts- und Todestag, als
auch über die Dienſtzeit, die häuslichen Umſtände, die
Beſchäftigungen und den Charakter des verſtorbenen
Iwan Petrowitſch Bjelkin, meines aufrichtigen Freun⸗
des und Gutsnachbarn, zu erhalten. Mit großer Ge⸗
nugtuung komme ich dieſem Ihren Verlangen nach
und übermittele Ihnen, mein ſehr geehrter Herr, bei-
folgend alles, was ich aus Geſprächen mit ihm ent⸗
nommen und aus eigenen Beobachtungen geſchöpft
habe. 5
Iwan Petrowitſch Bjelkin wurde als Sohn acht⸗
barer und edler Eltern im Jahre 1798 auf dem Gute
Gorochino geboren. Sein verſtorbener Vater, der Ge:
kundmajor Pjotr Iwanowitſch Bjelkin, verehelichte
ſich mit der Jungfrau Pelageja Gawrilowna aus dem
Hauſe Trafilin. Er war nicht wohlhabend, aber mäßig
und in allen wirtſchaftlichen Dingen ſehr bewandert.
Der Sohn erhielt den erſten Unterricht vom Dorf—
küſter. Dieſem verehrungswürdigen Manne verdankt
er offenbar ſeine Luſt am Leſen und an der Beſchäf—
tigung mit der ruſſiſchen Schriftkunde. Im Jahre
1815 trat er in ein Infanterie-Jägerregiment (an die
Nummer kann ich mich nicht mehr erinnern) und ег:
blieb in dieſem bis zum Jahre 1823. Der faſt gleich⸗
zeitig erfolgende Tod ſeiner beiden Eltern nötigte ihn,
den Abſchied zu nehmen und ſich auf dem Gut Goro—
chino, ſeiner Geburtsſtätte, niederzulaſſen.
4
Bom Serausgeber
Als Iwan Petrowitſch die Verwaltung des Gutes
übernahm, brachte er die wirtſchaftlichen Verhältniſſe
infolge der ihm mangelnden Kenntniſſe und ſeiner
Weichherzigkeit bald herunter und vernachläſſigte die
ſtrenge Ordnung, die ſein verſtorbener Vater ein—
geführt hatte. Er ſetzte den zuverläſſigen und де:
ſchickten Dorfälteſten ab, da die Bauern (wie das ſo
ihre Gewohnheit iſt) mit dieſem unzufrieden waren, und
ließ das Dorf von ſeiner alten Beſchließerin verwalten,
die durch ihre Kunſt, Geſchichten zu erzählen, ſein
volles Vertrauen gewonnen hatte. Dieſe törichte Alte
war nicht einmal imſtande, einen Fünfundzwanzig—
Rubelſchein von einem Fünfzig⸗Rubelſchein zu unter⸗
ſcheiden; die Bauern, zu deren jedem ſie in gevatter—
lichen Beziehungen ſtand, hatten nicht den geringſten
Reſpekt vor ihr; der Alteſte aber, den ſie ſich erwählt
hatten, war ſo nachſichtig gegen ſie und gleichzeitig ſo
betrügeriſch, daß Iwan Petrowitſch ſich bald ge—
zwungen ſah, den Frondienſt aufzuheben und den
Bauern ſehr mäßige Abgaben aufzuerlegen; aber auch
hier verſtanden es die Bauern, im erſten Jahre eine
ſehr willkürliche Milderung herbeizuführen zund zahlten
in den folgenden mehr als zwei Drittel der Abgabe in
Nüſſen, Preiſelbeeren und ähnlichem; und ſelbſt hier—
bei gab es noch beträchtliche Rückſtände.
Da ich ein Freund von Iwan Petrowitſchs ver—
ſtorbenem Vater war, hielt ich es für meine Pflicht,
auch dem Sohn mit meinem Rat beizuſtehen, und bot
5
Die Erzählungen Bjelkins
mich mehrfach an, die vormaligen, nunmehr in Un⸗
ordnung geratenen Zuſtände wiederherzuſtellen. Eines
Tages beſuchte ich ihn zu dieſem Zweck und ließ mir
die Haushaltungsbücher vorlegen, wobei ich gleich—
zeitig den betrügeriſchen Alteſten kommen ließ, und
begann in Iwan Petrowitſchs Anweſenheit die Bücher
durchzuſehen. Der junge Hausherr wohnte anfangs
mit großer Aufmerkſamkeit und vielem Eifer der Unter⸗
ſuchung bei; als ſich aber dann nach den Berechnungen
herausſtellte, daß in den letzten zwei Jahren die Zahl
der Bauern ſich vergrößert, die Zahl des Geflügels
jedoch und des Viehs wie mit einer gewiſſen Abſicht
ſich verringert hatten, war Iwan Petrowitſch von der
erſten Mitteilung bereits ſcheinbar voll und ganz Бе:
friedigt und hörte mir gar nicht erſt weiter zu, denn im
gleichen Augenblick, als ich durch mein Nachforſchen
und das ſtrenge Verhör den betrügeriſchen Alteſten
in äußerſte Verwirrung und zu völligem Schweigen
gebracht hatte, mußte ich zu meinem gewaltigen Arger
wahrnehmen, daß Iwan Petrowitſch auf ſeinem Stuhl
ſitzend kräftig ſchnarchte. Seit jener Zeit unterließ ich es,
mich jemals wieder um feine Haushaltungsangelegen⸗
heiten zu kümmern, und überantwortete ſeine Sache
(wie er ſelber es tat) dem Willen des Höchſten.
Dieſer Umſtand beeinträchtigte unſere freundſchaft—
lichen Beziehungen nicht im mindeſten; denn trotzdem
ich die Schwäche und die verderbliche Fahrläſſigkeit
Iwan pPetrowitſchs, die eine Eigenſchaft unſeres ganzen
6
Vom Herausgeber
jungen Adels iſt, ſehr bedauerte, hatte ich ihn dennoch
aufrichtig gern; es wäre auch unmöglich geweſen,
einen fo ſanften und ehrlichen Menſchen nicht lieb zu
haben. Seinerſeits reſpektierte Iwan Petrowitſch meine
Jahre und zeigte eine herzliche Neigung zu mir. Er
ſuchte mich faſt jeden Tag bis zu ſeinem Verſcheiden
auf und ſchätzte die einfache Unterhaltung mit mir,
gingen wir auch in unſeren Gewohnheiten, unſerer
Denkart und unſeren Sitten in den meiſten Fällen weit
auseinander.
Iwan Petrowitſch führte das allergeordnetſte Leben
und vermied jedes Übermaß ; ich habe ihn niemals an⸗
geheitert geſehen (was man in unſerem Lande als ein
unerhörtes Wunder betrachten kann); er hatte für das
andere Geſchlecht eine große Neigung, doch war er
dabei von einer Гай mädchenhaften Schamhaftigkeit. 1
Außer den Erzählungen, von denen Sie in Ihrem
gefälligen Schreiben ſprechen, hat Iwan Petrowitſch
noch eine Menge von Handſchriften hinterlaſſen, die
ſich zum Teil in meinem Beſitz befinden, zum Teil von
ſeiner Beſchließerin für allerlei Haushaltungsdinge
verwendet worden ſind. So hat ſie zum Beiſpiel im
vergangenen Winter die Fenſterrahmen in ihrem
Flügel mit dem erſten Teil eines Romanes verklebt,
1 Hier folgt eine Anekdote, die wir nicht einrücken, da wir ſie
für überflüſſig halten, doch beeilen wir uns, den Leſer zu benach-
richtigen, daß in ihr nichts enthalten №, was das Andenken Jwan
Petrowitſch Bjelkins irgendwie zu ſchmälern geeignet wäre. (An⸗
merkung des Verfaſſers.)
Die Erzählungen Bjelkins
den er nicht zu Ende geführt hat. Die oben erwähnten
Erzählungen waren, wie mir ſcheint, ſeine erſten Ver—
ſuche. Sie ſind, wie Iwan Petrowitſch zu ſagen pflegte,
größtenteils wahrheitsgemäß und nach Berichten ver⸗
ſchiedener Perſonen aufgezeichnet.! Freilich ſind alle
Namen in den Erzählungen immer von ihm felber er:
funden, die Namen der Dörfer und Güter ſtammen
dagegen aus unſerer Gegend, wieſo es denn auch
kommt, daß an einer Stelle ſogar mein Gut erwähntiſt.
Im Herbſt des Jahres 1828 zeigten ſich bei Iwan
Petrowitſch Erkältungserſcheinungen, die in ein hitziges
Fieber übergingen, an dem er ſchließlich ſtarb, trotz
aller unermüdlichen Bemühungen unſeres Kreisarztes,
eines, zumal in der Heilung eingewurzelter Krank—
heiten, wie zum Beiſpiel Hühneraugen und dergleichen,
ſehr geſchickten Mannes. Er war dreißig Jahre alt
geworden, als er in meinen Armen ſtarb, ſeine Ruhe⸗
ſtätte fand er in der Dorfkirche von Gorochino neben
ſeinen verſtorbenen Eltern.
Iwan Petrowitſch war mittelgroß, ſeine Augen⸗
farbe war grau, die Haare blond, die Naſe gerade;
ſein Antlitz war blaß und hager.
1 In der Tat НЕ in den Handſchriften des Herrn Belkin unter
jeder Erzählung eine Notiz von der Hand des Verfaſſers: Ver⸗
nommen von der und der Perſon (folgen Titel oder Rang und die
Initialen des Namens). Wir laſſen fie hier folgen, um die Neugier
von Intereſſierten zu befriedigen; Der Poſthalter wurde erzählt von
dem Titularrat A. P. N., der Schuß vom Oberſtleutnant J. P. L.,
der Sargmacher vom Kommiß B. W., der Schneeſturm und das
Fräulein vom Fräulein K. J. T. (Anmerkung der Verfaſſers.)
8
Vom Herausgeber
Das, mein ſehr geehrter Herr, iſt alles, was ich
von der Lebensart, den Beſchäftigungen, den Sitten
und dem Äußeren meines verflorbenen Nachbarn und
Freundes weiß. Für den Fall, daß Sie es für richtig
befinden ſollten, meinen Brief in irgendeiner Form zu
benutzen, bitte ich Sie allerergebenſt, meinen Namen
unter keinen Umſtänden erwähnen zu wollen, denn,
wenn ich auch den Stand der Schriftſteller außer:
ordentlich achte und reſpektiere, halte ich es doch für
überflüſſig, mir dieſen Titel anzueignen, und ſogar für
unziemlich in meinen Jahren.
Ich verbleibe mit aufrichtiger Eigebenheie uſw.
Den 16. November 1830, Gut Nenaradowo.
#
Wir halten es für unfere Pflicht, den Willen des
verehrten Freundes unſeres Verfaſſers zu reſpektieren,
ſprechen ihm jedoch gleichzeitig unſeren tiefſten Dank
für die uns übermittelten Nachrichten aus, und hoffen,
daß das Publikum ihre Aufrichtigkeit und ſchöne Ge:
ſinnung zu ſchätzen wiſſen wird.
A. P.
Der Schuß
Wir ſchoſſen uns.
Baratynskij
Ich ſchwor, ihn nach den Geſetzen
des Duells niederzuſchießen (ich
bin ihm noch einen Schuß ſchuldig
geblieben).
Ein Abend im Biwak
1
Wir lagen in der Ortſchaft ?“. Ein jeder kennt
das Leben eines Armeeoffiziers. Am Vormittag exer⸗
zieren und auf die Manege; zum Mittag beim Re:
gimentskommandanten oder in der jüdiſchen Kneipe;
abends Punſch und Karten. In ®®® gab es kein ет:
ziges gaſtfreies Haus, ja nicht einmal ein einziges
Mädchen, das man hätte verehren können; ſo ver—
ſammelten wir uns denn immer einer beim andern und
bekamen nie etwas anderes zu Geſicht außer unſeren
Uniformen. |
Lediglich ein einziger Menſch, der kein Militär war,
gehörte zu unſerer Geſellſchaft. Er mochte fünfund-
dreißig Jahre alt ſein, und wir zählten ihn aus dieſem
Grunde bereits zu den Greiſen. Seine Erfahrung gab
ihm vor uns mancherlei Vorzüge; und ſowohl ſeine
gewöhnliche finſtere Verſchloſſenheit, als auch ſeine
ſchroffe Art und ſeine böſe Zunge übten auf unſere
jungen Köpfe einen gewaltigen Einfluß aus. Etwas
Rätſelhaftes lag in feinem Schickſal; er ſchien zwar
10
Der Schu ß |
ein Ruſſe zu fein, doch klang fein Name ausländiſch.
Er hatte in früherer Zeit bei den Huſaren gedient und
ſogar Erfolg gehabt; doch kannte keiner die Urſache,
die ihn bewogen hatte, ſeinen Abſchied zu nehmen und
ſich in dieſer armen Ortſchaft niederzulaſſen, in der er
ein gleichzeitig armſeliges und verſchwenderiſches Da⸗
ſein führte: man ſah ihn nie anders als zu Fuß in
einem längſt abgetragenen ſchwarzen Leibrock, und деп:
noch war ſein Tiſch ſtets für alle Offiziere unſeres
Regimentes gedeckt. Beſtand auch das Mittageſſen
тей nur aus zwei oder drei Gängen, die ein verab—
ſchiedeter Soldat zubereitete, ſo floß doch der Cham⸗
pagner dazu in Strömen. Niemand wußte Beſcheid
über ſein Vermögen oder über ſeine Einkünfte und
kein einziger hätte je gewagt, ihn danach zu fragen.
Er beſaß mehrere Bücher, die zum größten Teil mili⸗
täriſchen Inhaltes waren, freilich waren auch Romane
darunter. Er lieh ſie gern aus, wenn man ſie leſen
wollte, und verlangte ſie nie zurück; dafür jedoch gab
auch er niemals ein Buch zurück, das er entliehen
hatte. Seine Hauptbeſchäftigung beſtand im Piſtolen—
ſchießen. Die Wände ſeines Zimmers waren mit
Kugeln geradezu beſpickt und voller Löcher, ſo daß
ſie Honigwaben ähnlich ſahen. Der einzige Luxus in
der ärmlichen Behauſung, in der er lebte, war eine
reiche Piſtolenſammlung. Die Fertigkeit, die er erreicht
hatte, war ſo außergewöhnlich, daß, wenn er ſich hätte
anſchicken wollen, mit der Kugel eine Birne von der
11
Die Erzählungen Bjelkins
Mütze eines von uns herabzuſchießen, keiner aus un⸗
ſerem Regiment auch nur einen Augenblick gezaudert
hätte, ihm den eigenen Kopf darzubieten. Unſere Ge—
ſpräche berührten häufig das Thema der Zweikämpfe;
allein Sylvio (ſo will ich ihn nennen) beteiligte ſich
niemals an ſolchen Unterhaltungen. Fragte man ihn,
ob er ſich jemals duelliert habe, dann pflegte er trocken
zu antworten, er habe ſich duelliert, aber er vermied
dabei, auf Einzelheiten einzugehen, und es war nur
zu offenſichtlich, daß ſolche Fragen ihm unangenehm
waren. Wir nahmen darum an, daß irgendein un⸗
ſeliges Opfer ſeiner furchtbaren Geſchicklichkeit ſein
Gewiſſen belaſte. Übrigens wollte es keinem von uns
jemals in den Kopf, in ihm etwas, das vielleicht nach
Feigheit ausſehen mochte, auch nur zu vermuten. Es
gibt Menſchen, deren Äußeres allein bereits jeden
ſolchen Verdacht widerlegt. Ein unerwarteter Vorfall
ſetzte uns darum alle in Erſtaunen.
Einmal ſpeiſten wir Offiziere bei Sylvio, zehn
Köpfe hoch. Wir tranken wie immer, das heißt mit
anderen Worten, wie immer ſehr viel; nach dem Eſſen
überredeten wir den Hausherrn, die Bank zu halten.
Er lehnte es anfangs beharrlich ab, denn er ſpielte
faſt nie; ſchließlich jedoch befahl er, Karten herbei⸗
zubringen, warf ein halbes Hundert Goldſtücke auf
den Tiſch und nahm Platz. Wir ſcharten uns um ihn,
und das Spiel begann. Es war Sylvios Gewohn⸗
heit, beim Spiel völliges Schweigen zu beobachten,
12
Der Schu ß
er ſtritt nie und ließ ſich auch niemals auf irgendwelche
Erklärungen ein. Wenn einer der Spieler ſich ver:
rechnet hatte, ſo zahlte er entweder ſogleich den Reſt
aus, oder er ſchrieb die Differenz auf. Das kannten
wir bereits und darum hinderte ihn keiner von uns je,
auf ſeine Art zu ſchalten; dieſes Mal doch befand ſich
ein Offizier in unſerer Mitte, der erſt vor kurzem zu
uns verſetzt worden war. Er ſpielte gleichfalls und
bog aus Zerſtreutheit bei einer Karte eine Ecke zu viel
um. Sylvio nahm die Kreide und glich nach ſeiner
Gewohnheit die Rechnung aus. Da der Offizier dachte,
daß jener ſich geirrt hätte, wollte er ſich auf eine Aus⸗
einanderſetzung einlaſſen. Stumm jedoch fuhr Sylvio
fort, die Bank zu halten. Der Offizier verlor die Ge⸗
duld, ergriff eine Bürſte und wiſchte das, was ihm
als überflüſſig vorkam, fort. Sylvio dagegen nahm
aufs neue die Kreide und ſchrieb es wieder auf. Da
der Offizier, erhitzt vom Wein, vom Spiel und vom
Gelächter der Kameraden, ſich hierdurch bitter be—
leidigt empfand, packte er im Zorn einen auf dem Tiſch
ſtehenden kupfernen Leuchter und warf ihn ſo heftig
auf Sylvio, daß dieſer kaum imſtande war, dem
Schlag auszuweichen. Wir alle waren beſtürzt. Sylvio
erhob ſich, bleich vor Zorn, und ſprach mit funkeln—
den Augen: „Mein Herr, haben Sie die Güte, uns
zu perlaſſen und danken Sie Gott, daß dies in meinem
Hauſe geſchehen iſt.“
Wir waren nicht einen Augenblick im Zweifel, was
13
Die Erzählungen Bjelkins
jetzt geſchehen würde, und ſahen unſeren neuen Kame—
raden bereits für tot an. Der Offizier verließ das
Haus, indem er hinzufügte, daß er bereit wäre, für
die Beleidigung jede Genugtuung, die dem Herrn
Bankhalter erwünſcht wäre, zu geben. Das Spiel
wurde nur noch einige Minuten fortgeſetzt: da wir
nur zu gut fühlten, daß dem Hausherrn der Sinn
jetzt nicht danach ſtand, gab einer nach dem andern
die Sache auf, und ſo gingen wir denn bald darauf
heim, indem wir uns über die neue Vakanz unterhielten.
Als wir uns am nächſten Tage in der Manege ver—
ſammelten, wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob
wohl der neue Leutnant noch am Leben ſei, doch da
trat er auch ſchon ſelber in unſere Mitte; wir richteten
mithin die gleiche Frage an ihn. Er entgegnete, daß
er von Sylvio noch nicht die geringſte Nachricht er:
halten hätte. Wir wunderten uns darüber. Wir gingen
bald darauf zu Sylvio und fanden ihn auf ſeinem
Hof damit beſchäftigt, eine Kugel nach der andern in
ein Aß zu ſchießen, das er ans Tor geklebt hatte. Er
empfing uns wie gewöhnlich, doch fiel kein Wort über
den geſtrigen Vorfall. Auf dieſe Weiſe vergingen drei
Tage, und der Leutnant war immer noch am Leben.
Erſtaunt fragten wir uns, ob es möglich ſei, daß
Sylvio ſich nicht duellieren wolle? Und freilich duel⸗
lierte ſich Sylvio nicht. Er begnügte ſich mit einer ge⸗
ringen Erklärung und ſchloß Frieden.
Diefer Umſtand ſchadete ihm anfangs bei uns jungen
14
Der Schu ß
Leuten ſehr. Junge Leute, die gewöhnlich in der Tapfer—
keit den Gipfel der menſchlichen Tugenden und die
Entſchuldigung für alle nur erdenklichen Laſter finden,
verzeihen am wenigſten einen Mangel an Verwegen—
heit. Nach und nach aber geriet auch dieſes in Ver—
geſſenheit, und Sylvio gewann ſeinen früheren Ein—
fluß zurück.
Einzig ich konnte nicht mehr die früheren Beziehungen
zu ihm gewinnen. Da ich von Hauſe aus über eine
romantiſche Einbildungskraft verfügte, hatte ich mich
an dieſen Menſchen noch näher als die andern an—
geſchloſſen, denn ſein Leben war rätſelhaft und er
kam mir wie der Held einer geheimnisvollen Geſchichte
vor. Er hatte mich ſehr gern; zum mindeſten ließ er
einzig vor mir ſeine gewohnheitsmäßig beißende Bos⸗
heit fahren und wußte auch von anderen Dingen ſehr
einfach und ungewöhnlich angenehm zu reden. Nach
dem unglückſeligen Abend aber wollte der Gedanke,
daß ſeine Ehre befleckt und trotzdem nicht durch eigenen
Antrieb reingewaſchen worden ſei, dieſer Gedanke
wollte mir nicht aus dem Kopf und hinderte mich daran,
mit ihm ſo zu ſein, wie ich vormals geweſen war; ja,
mir war es jetzt ſogar läſtig, ihn anzuſchauen. Sylvio
hingegen war viel zu klug und zu erfahren, um das
bemerkend, nicht auch ſogleich den Grund zu erraten.
Es ſchien ihn ſogar zu bekümmern, zum mindeſten
bemerkte ich zweimal den Wunſch bei ihm, mit mir
darüber zu ſprechen; da ich jedoch eine jede ſolche
15
Die Erzählungen Bjelkins
Möglichkeit vermied, ließ Sylvio ſchließlich von mir
ab. Seit jener Zeit ſah ich ihn nur noch, wenn wir
im Kreiſe meiner Kameraden waren, und unſere
vormaligen offenherzigen Unterredungen hatten ein
Ende.
Die ewig abgelenkten Bewohner der Hauptſtadt
können ſich keinen Begriff von mancherlei Empfin⸗
dungen machen, die den Bewohnern der Dörfer oder
kleinen Städtchen nur zu gut bekannt ſind, wie zum
Beiſpiel das Warten auf den Poſttag: am Dienstag
und am Freitag war unſere Regimentskanzlei immer
voll von Offizieren; der eine erwartete Geld, jener
Briefe, ein dritter Zeitungen. Die Pakete wurden meiſt
an Ort und Stelle erbrochen, man teilte ſich die Neuig⸗
keiten mit und an dieſen Tagen bot die Kanzlei das
belebteſte Bild. Die Briefe, die Sylvio erhielt, waren
an unſer Regiment adreſſiert und darum war er ge—
wöhnlich auch da. Eines Tages erhielt er eine Sen—
dung, von der er ſogleich mit dem Ausdruck der größten
Ungeduld das Siegel herunterriß. Er überflog den
Brief und ſeine Augen blitzten. Die Offiziere, deren
jeder mit feinen eigenen Briefen beſchäftigt war, be-
merkten nichts. „Meine Herren,“ ſprach Sylvio zu
ihnen, „die Umſtände erfordern meine unverzügliche
Abreiſe; ich reiſe noch heute nacht; ich hoffe, ſie wer⸗
den es mir nicht abſchlagen, zum letztenmal bei mir
zu ſpeiſen. Ich erwarte auch Sie,“ fuhr er, zu mir
gewendet, fort, „ich erwarte Sie beſtimmt.“ Mit dieſen
16
Der S ch u 5
Worten verließ er uns eilig; und auch wir gingen,
nachdem wir beſchloſſen hatten, uns bei Sylvio wieder
zu ſehen, ein jeder in ſeiner Richtung.
Ich kam um die feſtgeſetzte Stunde zu Sylvio und
fand bei ihm faſt das ganze Regiment vor. Sein Hab
und Gut war bereits gepackt; nicht viel mehr als
die nackten zerſchoſſenen Wände war zurückgeblieben.
Wir ſetzten uns zu Tiſch; der Hausherr war außer—
gewöhnlich gut gelaunt, ſeine Heiterkeit ſteckte bald die
andern an; jede Minute knallte ein Pfropfen, unab⸗
läſſig ſchäumten die Gläſer, und mit allem nur erdenk—
lichen Eifer wünſchten wir dem Abreiſenden eine glück—
liche Reiſe und alles mögliche Gute. Als wir uns vom
Tiſch erhoben, war es bereits ſpät am Abend. Wäh—
rend wir nach unſeren Mützen ſuchten, hielt Sylvio,
der derweilen von den anderen Abſchied genommen
hatte, mich in dem Augenblick, als ich mich anſchickte
fortzugehen, am Arm zurück. „Ich habe noch mit
Ihnen zu ſprechen“, ſagte er leiſe. So blieb ich denn.
Die Файе verſchwanden; wir waren zu zweit, wir
nahmen einander gegenüber Platz und ſetzten ſchweig⸗
ſam unſere Pfeifen in Brand. Sylvio ſchien bedrückt
zu ſein; von der früheren ein wenig krampfhaften
Heiterkeit war nichts mehr zu bemerken. Seine finſtere
Bläſſe, die funkelnden Augen und die dicken Rauch-
wolken, die ſeinem Munde entſtrömten, verliehen ihm
das Ausſehen eines wirklichen Dämons. Es vergingen
einige Minuten, bevor Sylvio ſein Schweigen unter⸗
P. 1 2
17
Die Erzählungen Bjelkins
brach. „Es könnte ſein, daß wir uns nicht mehr wieder
ſehen, ſagte er ſchließlich: „Bevor wir uns jetzt trennen,
möchte ich Ihnen daher einige Erklärungen geben.
Sie konnten wahrnehmen, wie gering ich die Anſichten
der anderen einſchätze: Sie jedoch habe ich gern, und
ich fühle es, daß es mir peinlich ſein würde, in Ihrem
Geiſt eine ungerechte Anſicht über mich zurückzulaſſen.“
Er hielt ein und ſtopfte ſich ſeine ausgebrannte Pfeife
von neuem; ich ſchwieg mit niedergeſchlagenen Augen.
„Es iſt Ihnen ſeltſam vorgekommen,“ fuhr er fort,
„daß ich von dieſem Wirrkopf R. .. keine Genug:
tuung verlangt habe. Sie werden mir zuſtimmen, daß,
da ich das Recht der Waffenwahl hatte, ſein Leben
in meiner Hand lag, das meinige dagegen ſo gut wie
ungefährdet war. Es wäre mir ein leichtes, dieſe meine
Mäßigung durch Großmut zu erklären. Aber ich will
nicht lügen. Wäre es in meiner Macht geweſen, R..
zu züchtigen, ohne im geringſten mein Leben dabei aufs
Spiel zu ſetzen, ſo hätte ich ihm unter keinen Um⸗
ſtänden Verzeihung gewährt.“ \
Erſtaunt blickte ich Sylvio an. Diefes Geſtändnis
brachte mich vollends in Verwirrung. Sylvio fuhr fort.
„So iſt es: ich habe kein Recht, mein Leben aufs
Spiel zu ſetzen. Vor ſechs Jahren erhielt ich eine Ohr⸗
feige, mein Feind aber iſt noch immer am Leben.“
Meine Neugierde war aufs äußerſte beſchäftigt.
„Und Sie ſchlugen ſich nicht mit ihm?“ fragte ich.
„Vermutlich haben die Umſtände Sie getrennt?“
18
— zei
er Sch u ß
„Ich ſchlug mich allerdings mit ihm“, entgegnete
Sylvio. „Und hier ИЕ das Andenken an unferen тре:
kampf.“
Sylvio erhob ſich und entnahm einer Schachtel eine
rote Mütze mit goldener Troddel und einer Treſſe
(die Franzoſen nennen das bonnet de police); er ſetzte
ſie auf; ſie war einen Zoll über der Stirn von einer
Kugel durchlöchert.
„Sie werden ſich erinnern,“ fuhr Sylvio fort, „daß
ich im ... ſchen Huſarenregiment gedient habe. Meine
Charaktereigenſchaften ſind Ihnen ebenfalls nicht un—
bekannt: ich bin daran gewöhnt, der erſte zu ſein,
und dieſer Trieb war, als ich noch jung war, geradezu
eine Leidenſchaft in mir. Zu unſerer Zeit waren Toll⸗
heiten die große Mode: und ich war der tollſte Burſche
in der ganzen Armee. Wir prahlten mit unſerer Trink⸗
fähigkeit: ich habe ſogar den berühmten Burzow, den
noch Denis Dawydow beſungen hat, unter den Tiſch
getrunken. All' Augenblick gab es in unſerem Regiment
irgendein Duell. Und bei jedem war ich entweder als
Sekundant zugegen oder als handelnde Perſon. Meine
Kameraden vergötterten mich, dagegen ſahen mich die
Regimentskommandeure, die ununterbrochen wechſel—
ten, wie ein unvermeidliches Übel an.
Ich ließ mir dieſen Ruf ruhig (oder unruhig) ge—
fallen, als eines Tages ein junger Mann aus einer
reichen und berühmten Familie (ich will ſeinen Namen
nicht nennen) zu uns verſetzt wurde. Ich war noch
19
Die Erzählungen Blelkins
nie in meinem Leben einem ſo glänzenden Glückspilz
begegnet! Denken Sie ſich Jugend, Verſtand, Schön⸗
heit, wildeſte Luſtigkeit und ſorgloſeſte Tapferkeit ver⸗
eint mit einem klingenden Namen und Geldern, die er
im Überfluß beſaß, und die ihm niemals fehlten, und
ſtellen Sie ſich dazu vor, welchen Eindruck er auf unſere
Schar machen mußte. Meine führende Stellung war
erſchüttert. Zwar ſuchte er anfangs, von meinem Ruf
verlockt, meine Freundſchaft, da ich ihm aber kalt be⸗
gegnete, zog er ſich, ohne den geringſten Kummer zu
empfinden, von mir zurück. Ich begann ihn zu haſſen.
Seine Erfolge im Regiment und bei den Frauen brachten
mich völlig zur Verzweiflung. Ich ſuchte Streit mit
ihm; aber er antwortete auf meine Spottverſe mit.
Spottverſen, die mir immer viel unerwarteter und
treffender vorkamen als die meinigen, und die пай:
lich ganz unvergleichlich viel luſtiger waren: er ſcherzte
ja nur, ich aber, ich wütete. Und als ich ſchließlich
eines Abends auf einem Ball bei einem polniſchen
Gutsbeſitzer ſehen mußte, daß nur er der Gegenſtand
der Aufmerkſamkeit aller Damen war und zumal der
Hausfrau ſelber, mit der ich damals in Verbindung
ſtand, nahm ich die Gelegenheit wahr und ſagte ihm
irgendeine platte Grobheit ins Ohr. Er flammte auf
und gab mir eine Ohrfeige. Wir ſtürzten zu den Sä⸗
beln; die Damen fielen in Ohnmacht; man zerrte uns
auseinander, und noch in der gleichen Nacht begaben
wir uns an den Ort, an dem wir uns duellieren ſollten.
20
Der Schu ß
Es war um die Zeit der Dämmerung. Ich ſtand
mit meinen drei Sekundanten an der verabredeten
Stelle. Mit einer unſagbaren Ungeduld wartete ich
auf meinen Gegner. Die Frühlingsſonne ging auf,
und es wurde allmählich heiß. Endlich wurden wir
ſeiner gewahr. Er kam zu Fuß, von einem einzigen
Sekundanten begleitet und hatte ſeinen Uniformsrock
an den Säbel gehängt. Wir ſchritten ihm entgegen.
Er näherte ſich uns, in der Hand die Mütze, die voll
von Kirſchen war. Unſere Sekundanten ſchritten die
zwölf Schritte ab. Ich hatte als erſter zu ſchießen;
da mich aber die Wut noch immer ſo heftig ſchüttelte,
daß ich mich nicht auf die Sicherheit meiner Hand
verlaſſen konnte, trat ich, um mir Zeit zu laſſen, kühler
zu werden, ihm den erſten Schuß ab; allein mein
Gegner ging darauf nicht ein. Es wurde beſtimmt,
das Los entſcheiden zu laſſen: und der erſte Schuß fiel
ihm, dem ewigen Liebling des Glückes, zu. Er zielte
und durchlöcherte meine Mütze. Die Reihe war an
mir. Nun lag ſein Leben endlich in meiner Hand;
gierig hing ich an ſeinem Geſicht, beſtrebt, wenigſtens
einen Schatten von Unruhe darin zu erblicken. Aber
er ſuchte, trotzdem meine Piſtole auf ihn gerichtet war,
gleichmütig die reifſten Kirſchen aus ſeiner Mütze und
ſpuckte ruhig die Kerne aus, die faſt bis zu mir rollten.
Sein Gleichmut brachte mich nur noch mehr auf. Was
nützt es, mußte ich denken, ihm jetzt das Leben zu
nehmen, das ihm noch nicht einmal teuer geworden
21
Die Erzählungen Bjelkins
iſt? Ein boshafter Gedanke ſchoß durch meinen Kopf,
Ich ließ die Piftole ſinken. Sie ſcheinen jetzt noch
nicht auf Tod eingeſtellt zu fein,‘ Гаде ich zu ihm:
„Sie belieben noch zu frühſtücken; ich will Sie dabei
nicht ftören.‘ — , Sie ſtören mich nicht im mindeſten,
entgegnete er: ‚fchießen Sie nur; im übrigen ſteht es
Ihnen frei, zu handeln wie Sie wollen: Ihr Schuß
ſoll Ihnen verbleiben; ich ſtehe Ihnen jederzeit zur
Verfügung.“ Ich wendete mich darauf zu den Ge:
kundanten und erklärte ihnen, daß ich gegenwärtig
nicht die Abſicht hätte, zu ſchießen, womit zunächſt
unſer Zweikampf zu Ende war..
„Ich nahm den Abſchied und begab mich an dieſen
Ort. Aber kein Tag iſt ſeit jener Zeit vergangen, an
dem ich nicht an meine Rache gedacht hätte. Und jetzt
iſt meine Stunde gekommen ...“
Hierbei zog Sylvio den Brief aus ſeiner Taſche,
den er am Morgen bekommen hatte, und gab ihn mir
zu leſen. Jemand (es ſchien ſein Bevollmächtigter zu
ſein) ſchrieb ihm aus Moskau, daß die bewußte Per⸗
ſon in kurzer Zeit mit einem jungen und ſchönen Mäd⸗
chen in den Stand der Ehe zu treten beabſichtige.
„Sie erraten,“ ſagte Sylvio: „wer die bewußte
Perſon iſt. Ich reiſe nach Moskau. Ich will doch
ſehen, ob er kurz vor der Hochzeit genau ſo gleichgültig
ſeinen Tod erwarten wird, wie er es ſeinerzeit tat,
als er die Kirſchen aß!“
Bei dieſen Worten erhob ſich Sylvio, warf die Mütze
22
Der Schu ß
zu Boden und ſchritt im Zimmer erregt auf und ab,
als wäre er ein Tiger in ſeinem Käfig. Regungslos
hatte ich ihm zugehört; ſonderbare und auffällig ein—
ander widerſprechende Gefühle hatten mich während
ſeiner Erzählung bewegt.
Der Bediente trat ein und meldete die Pferde. Sylvio
drückte mir kräftig die Hand; wir küßten einander zum
Abſchied. Er ſtieg in den Wagen, in welchem zwei
Käſten bereit lagen, der eine mit den Piſtolen, der andere
mit ſeinen Habſeligkeiten. Wir nahmen noch einmal
Abſchied, dann zogen die Pferde an.
II
Einige Jahre vergingen, häusliche Umſtände zwan—
gen mich, mich auf einem ärmlichen Gütchen, das im
N. . . ſchen Kreiſe lag, niederzulaſſen. Ich mußte mich
viel mit wirtſchaftlichen Fragen abgeben, hörte aber
in der Stille nicht auf, meinem früheren geräuſch—
vollen und ſorgloſen Leben nachzuſeufzen. Am ſchwer—
ſten waren mir die Frühlings- und Winterabende in
dieſer völligen Einſamkeit. Bis zum Mittageſſen konnte
ich mir noch irgendwie die Zeit vertreiben, indem ich
mit dem Dorfälteſten ſchwatzte, die Feldarbeiten be—
ſichtigte oder mich zu den Neubauten begab. Sobald es
aber zu dämmern begann, wußte ich überhaupt nicht
mehr, wohin mit mir. Die wenigen Bücher, die ich unter
den Schränken und in der Voratskammer fand, kannte
ich bald auswendig. Die Märchen, an die ſich meine
23
Die Erzählungen Bjelkins
alte Beſchließerin Kirillowna erinnern konnte, waren
bald erzählt; die Lieder der Weiber machten mich ſtets
traurig. Ich machte mich an die ungeſüßten Frucht⸗
ſchnäpſe, aber ſie verurſachten mir nur Kopfweh; zu⸗
dem, ich geſtehe es, fürchtete ich, ein Säufer aus Ver⸗
ztpeiflung zu werden, die ja die allerverzweifeltſten
Säufer find; Beiſpiele hierfür hatte ich in unſerem Kreiſe
mehr als genügend zu Geſicht bekommen.
In meiner Nähe lebten keine Nachbarn, mit Aus⸗
nahme eben von zwei oder drei dieſer Verzweifelten,
deren Geſpräch hauptſüchlich aus Aufſtoßen und Auf—
feufzen beſtand. Da war die Einſamkeit noch erträg—
licher. So beſchloß ich denn, mich ſo früh als möglich
zu Bett zu begeben und ſo ſpät als möglich zu ſpeiſen;
auf dieſe Weiſe verkürzte ich den Abend und verlängerte
ich den Tag, und ich ſah, daß es ſehr gut war.
Vier Werſt von mir befand ſich ein reiches Gut,
das der Gräfin B. .. gehörte; freilich lebte dort
nur der Verwalter, denn die Gräfin hatte ihre Зе:
ſitzung nur einmal, im erſten Jahr ihrer Ehe, beſucht
und war nicht länger als einen Monat dort geblieben.
Plötzlich jedoch entſtand im zweiten Frühling meines
Einſiedlerdaſeins das Gerücht, die Gräfin käme mit
ihrem Gatten aufs Gut, um dort den Sommer zu ver⸗
bringen. Und ſo war es auch, die beiden trafen im
Anfang des Juni ein.
Die Ankunft eines reichen Nachbarn bildet ſtets für
die Dorfbewohner eine wichtige Epoche. Die Фив:
24
Der Schu ß
beſitzer und ihr Hausgeſinde ſchwatzen ſchon zwei
Monate zuvor darüber und noch drei Jahre nachher.
Was mich felber betrifft, fo berührte, ich muß es де:
ſtehen, die Nachricht von der Ankunft der jungen und
ſchönen Nachbarin mich ſtark; ich brannte vor Цпде:
duld, ſie zu ſehen, und begab mich darum bereits am
erſten Sonntag nach ihrer Ankunft nach Tiſch zum
Dorf““, um mich ſeiner und ihrer Durchlaucht als
nächſten Nachbarn und ergebenſten Diener vorzuſtellen.
Ein Kammerdiener führte mich ins Kabinett des
Grafen und verließ mich, um mich anzumelden. Das
geräumige Kabinett war mit aller nur erdenklichen
Pracht ausgeſtattet; an den Wänden ſtanden Schränke
mit Büchern und auf jedem ragte eine bronzene Büſte;
über dem marmornen Kamin hing ein breiter Spiegel.
Der Boden war mit grünem Tuch beſpannt, auf dem
viele Teppiche lagen. Da ich in meiner ärmlichen Be-
hauſung mich längſt von aller Pracht entwöhnt und
ſchon lange keinen fremden Reichtum mehr geſehen
hatte, machte dieſer Anblick mich faſt ſchüchtern, und
ich erwartete den Grafen mit genau der gleichen Auf—
regung, mit der ein Bittſteller aus der Provinz das
Erſcheinen des Miniſters erharrt. Die Tür ging auf,
und ein ſchöner Mann von zweiunddreißig Jahren
trat ein. Der Graf näherte ſich mir mit offener und
freundſchaftlicher Miene; ich gab mir Mühe, mich zu
faſſen, und wollte damit beginnen, mich vorzuſtellen,
aber er kam mir zuvor. Wir nahmen Platz. Seine freie
25
Die Erzählungen Bjelkins
und liebenswürdige Unterhaltung bewirkte bald, daß
ich meine verwilderte Verlegenheit ablegte. Ich war
bereits im Begriff, meine gewöhnliche Laune wieder⸗
zugewinnen, als plötzlich die Gräfin eintrat, und meine
Verwirrung noch größer wurde als zuvor. In der
Tat, ſie war ſehr ſchön. Der Graf ſtellte mich vor;
ich wollte ungezwungen erſcheinen, aber je mehr Mühe
ich mir gab, dieſen Eindruck zu machen, um ſo ver⸗
legener wurde ich. Um mir Zeit zu laſſen, mich zu
faſſen und mich an die neuen Bekannten zu ge:
wöhnen, plauderten die beiden miteinander, wobei ſie
mit mir wie mit einem guten Nachbarn ohne alle
Steifheit umgingen. Ich ſchritt derweilen auf und ab
und betrachtete die Bücher und die Bilder. Ich bin
kein Kenner von Bildern, doch zog eines von ihnen
ſogleich meine Aufmerkſamkeit an. Es ſtellte irgendeine
Schweizerlandſchaft dar; aber es war nicht die Malerei,
die mich überraſchte, ſondern der Umſtand, daß das
Bild von zwei Kugeln durchbohrt war, von denen
die eine auf der andern ſaß. „Ein trefflicher Schuß“,
meinte ich zum Grafen. — „Allerdings,“ entgegnete
er: „ein ſehr bemerkenswerter Schuß. Wie iſt es,
ſchießen Sie gut?“ fuhr er fort. — „Beſſer als der
Durchſchnitt“, entgegnete ich, erfreut, daß das Geſpräch
endlich einen mir vertrauten Gegenſtand berührte. „Ich
fehle auf dreißig Schritt keine Karte, freilich nur aus
einer Piſtole, mit der ich bereits geſchoſſen habe.“ —
„Wirklich?“ fragte die Gräfin mit großer Aufmerk⸗
26
Der Schuß
ſamkeit: „Und du, mein Freund, kannſt du wohl eine
Karte auf dreißig Schritt treffen?“ — „Wir wollen
es einmal ſpäterhin verſuchen,“ entgegnete der Graf:
„ ſeinerzeit ſchoß ich nicht ſchlecht; aber es find jetzt vier
Jahre her, daß ich keine Piſtole mehr in die Hand ge—
nommen habe.“ — „Oh, in dieſem Falle möchte ich
wetten,“ warf ich ein: „daß Erlaucht auch auf zwanzig
Schritte keine Karte treffen würde: die Piſtole erfor—
dert tägliche Uebung. Das weiß ich aus Erfahrung.
In unſerem Regiment galt ich als einer der beſten
Schützen. Einmal jedoch traf es ſich, daß ich einen
ganzen Monat hindurch keine Piſtole zur Hand nahm:
die meinigen befanden ſich in Reparatur; und was
denken Sie wohl, Erlaucht? Als ich das erſtemal
wieder ſchoß, fehlte ich viermal nacheinander eine
Flaſche auf zwanzig Schritt. Bei uns war damals
ein Rittmeiſter, ein luſtiger und witziger Kerl; er war
zugegen, als das geſchah, und ſagte: ‚Da ſieht man's,
Bruder, du kannſt deine Hand gegen keine Flaſche
erheben.“ — Nein, Erlaucht, dieſe Beſchäftigung ſoll
man nicht vernachläſſigen, ſonſt kommt man ſofort
aus der Übung. Der beſte Schütze, dem ich jemals
begegnet bin, pflegte jeden Tag zum mindeſten drei:
mal vor dem Mittageſſen zu ſchießen. Das war ſo
ſeine Gewohnheit, wie ein Schnaps vor dem Eſſen.“
Der Graf und Gräfin freuten ſich, daß ich geſprächig
geworden war. „Und wie ſchoß er denn?“ fragte
mich der Graf. — „Das kann ich Ihnen ſagen, Er—
27
Die Erzählungen Bjelkins
laucht: wenn er zum Beiſpiel bemerkte, daß auf der
Wand eine Fliege ſaß ... Sie lachen, Gräfin? Weiß
Gott, es ИЕ wahr ... Wenn er fo eine Fliege ſah, rief
er auch ſchon: ‚Kuſjka, meine Piftole!‘ — und Kuſjka
brachte ihm augenblicks die geladene Piſtole. Ein Knall,
und die Fliege [аб tief in der Wand!“ — „Erjtaun:
lich!“ meinte der Graf: „Und wie hieß er denn?“ —
„Sylvio, Erlaucht.“ — „Sylvio!“ rief der Graf und
ſprang von ſeinem Platz auf: „Kannten Sie Sylvio?“
„Wie ſollte ich ihn nicht kennen, Erlaucht, wir waren
ja Freunde; er war von meinem Regiment wie einer
unſeresgleichen aufgenommen worden; allerdings iſt
es bereits fünf Jahre her, daß ich nicht die geringſte
Nachricht von ihm habe. Ich darf wohl mithin an—
nehmen, daß auch Sie, Erlaucht, ihn kannten?“ —
„Ich kannte ihn ſehr genau. Hat er Ihnen niemals
von einem ſehr ſonderbaren Vorfall erzählt?“ —
„Meinen Sie etwa die Ohrfeige, Erlaucht, die ihm
auf irgendeinem Ball von einem Tollkopf verſetzt
wurde?“ — „Und hat er Ihnen nicht ben Namen
dieſes Tollkopfes geſagt?“ — „Nein, Erlaucht, den
hat er mir nicht geſagt ... Ach, Erlaucht!“ fuhr ich
fort, denn ich erriet die Wahrheit: „Verzeihen Sie ..
ich wußte nicht .. waren Sie es am Ende?“ — „Ich
war es“, entgegnete der Graf mit einer außergemöhn:
lich verſtimmten Miene: „Und das zerſchoſſene Bild
dort НЕ ein Andenken an unſere letzte Begegnung.“ —
„Ach, Liebſter,“ rief die Gräfin, „um Gottes Willen,
28
Der Schuß
erzähle es nicht, es iſt mir ſchrecklich, davon zu
hören.“ — „Nein, ich muß es erzählen“, erwiderte
der Graf: „Er weiß, auf welche Weiſe ich ſeinen
Freund gekränkt habe, ſo ſoll er denn auch wiſſen, wie
Sylvio ſich an mir gerächt hat.! Der Graf rückte mir
einen Seſſel heran, und mit lebhafteſter Spannung
lauſchte ich folgender Erzählung.
„Ich heiratete vor fünf Jahren. Den erſten Monat,
the honeymoon, verbrachte ich hier auf dieſem Dorf.
Ich verdanke dieſem Hauſe die ſchönſten Minuten
meines Lebens und gleichzeitig eine der allerſchwerſten
Erinnerungen.
Eines Abends ritten wir beide aus; das Pferd meiner
Frau bockte: es hatte ſich über irgendetwas erſchreckt;
ſie gab mir die Zügel und ging zu Fuß nach Hauſe.
Ich ritt voran. Auf dem Hofe erblickte ich einen Reiſe⸗
wagen; man teilte mir mit, in meinem Kabinett ſäße
ein Menſch, der ſeinen Namen nicht geſagt, ſondern
einfach erklärt hätte, daß ihn ein Anliegen zu mir führe.
Ich trat in dieſes Zimmer hier ein und erblickte in der
Dunkelheit einen von Reiſeſtaub bedeckten bärtigen
Mannz er ſtand hier an dieſer Stelle vor dem Kamin.
Ich näherte mich ihm und verſuchte vergeblich, mich
ап fein Geſicht zu erinnern. ‚Du erkennſt mich nicht,
Graf?‘ fragte er, und feine Stimme bebte. —, Sylvio!
rief ich, und ich muß geſtehen, ich fühlte, wie mir die
Haare plötzlich zu Berge ftiegen. — ‚Sch bin es‘, fuhr
er fort: Ich habe noch einen Schuß gut und reiſte Бег,
29
Die Erzählungen Bjelkins
um meine Piſtole abzuſchießen; biſt du bereit?“ Ich
bemerkte jetzt erſt, daß aus ſeiner Seitentaſche eine
Piſtole hervorſchaute. Ich maß zwölf Schritte ab und
ſtellte mich dorthin in die Ecke, wobei ich ihn bat, mög⸗
lichſt ſchnell zu ſchießen, ehe meine Frau zurückkäme.
Er zauderte; ſchließlich bat er um Licht. Die Kerzen
kamen, ich ſchloß die Türe und gab den Befehl,
niemand hereinzulaſſen, darauf bat ich ihn aufs neue,
doch endlich zu ſchießen. Er zog die Piſtole aus der
Taſche und zielte ... Ich zählte die Sekunden ... Ich
dachte nur an meine Frau... Die Minute war furcht⸗
bar! Sylvio ſenkte den Arm. ‚Ich muß bedauern,
ſagte er: ‚daß die Piſtole nicht mit Kirſchkernen де:
laden iſt ... die Kugel ИЕ zu ſchwer. Es will mir
ſcheinen, daß es kein Duell iſt, das hier ſtattfindet,
ſondern ein Totſchlag: ich bin nicht imſtande, auf
einen Unbewaffneten zu ſchießen. Fangen wir von
neuem an; laſſen wir das Los entſcheiden, wer als
erſter ſchießen fol.‘ Mein Kopf drehte ſich ... ich
glaube, daß ich mich zunächſt nicht damit einverſtan⸗
den erklärte ... Aber endlich wurde noch eine Piſtole
geladen; zwei Papiere wurden gefaltet, und er tat
dieſe in ſeine Mütze, die ich einſt durchlöchert hatte;
ich zog das erſte Los. ‚Du haft ein teufliſches Glück,
Graf‘, ſagte er mit einem höhniſchen Lächeln, das
ich niemals vergeſſen werde. Ich kann freilich auch
heute noch nicht verſtehen, was damals mit mir
geſchehen war und auf welche Weiſe er mich dazu
30
Der Schu ß
brachte ... immerhin ich ſchoß und traf das Bild
hier.“ (Der Graf wies bei dieſen Worten auf das
zer ſchoſſene Bild; fein Geſicht brannte wie Feuer, die
Gräfin war blaſſer als ihr Tuch; ich ſtieß einen Aus⸗
ruf aus.) |
„So ſchoß ich denn“, fuhr der Graf fort: „und traf,
Gott fei Dank, nicht; und nun begann Sylvio ...
(und in dieſem Augenblick war er wahrhaft furchtbar),
Sylvio begann auf mich zu zielen. Plötzlich öffnet ſich
die Türe, Maſcha fliegt herein und ſtürzt mir mit
einem Wimmern um den Hals. Ihre Anweſenheit gab
mir die Geiſtesgegenwart zurück. Liebſte,“ ſprach ich
zu ihr: ‚ſiehſt du denn nicht, daß wir nur Spaß
machen? Wie du dich erſchreckt haſt! Geh, trink ein
Glas Waſſer und komm darauf wieder zu uns; ich
will dir dann auch meinen alten Freund und Kame—
raden vorſtellen.“ Aber Maſcha wollte nicht daran
glauben. ‚Sagen Sie, ſpricht mein Mann die Wahr:
beit?‘ fragte fie, indem fie ſich zum drohenden Sylvio
wandte: ‚ft es wahr, daß Sie nur Spaß treiben?“ —
‚Er, Gräfin, treibt immer feinen Spaß“, entgegnete
Sylvio: ‚Er gab mir einmal aus Spaß eine Ohrfeige,
aus Spaß durchlöcherte er mir dieſe Mütze hier, noch
ГоеБеп ſchoß er aus Spaß an mir vorbei; fo iſt denn
auch mir die Luft gekommen, einmal zu ſpaßen ...
Und bei dieſen Worten wollte er wieder auf mich
zielen .. trotz ihrer Anweſenheit. Maſcha lag zu feinen
Füßen. ‚Steh auf, Maſcha, und ſchäm dich!“ ſchrie
31
Die Erzählungen Bjelkins
ich, faſt toll vor Wut: ‚Und Sie, mein Herr, wollen
Sie wohl aufhören, eine arme Frau zu verhöhnen?
Werden Sie jetzt ſchießen oder nicht?“ — Ich will
nicht, entgegnete Sylvio: ‚ich bin befriedigt: ſah ich
doch deine Verwirrung und deine Zaghaftigkeit; iſt es
mir doch ſogar gelungen, dich zu veranlaſſen, auf mich
zu ſchießen. Das genügt mir. Du wirſt an mich denken.
Ich überlaſſe dich deinem eigenen Gewiſſen.“ Mit
dieſen Worten wandte er ſich, um hinauszugehen,
machte jedoch in der Türe halt, blickte das zerſchoſſene
Bild an und ſchoß darauf, faſt ohne zu zielen, worauf
er verſchwand. Meine Frau lag in tiefer Ohnmacht.
Meine Leute wagten nicht, ihn aufzuhalten, und
ſahen ihm voll Entſetzen nach; er trat vors Haus, rief
ſeinem Kutſcher und fuhr fort, noch eh ich recht meine
Geiſtesgegenwart wiedererlangt hatte.“
Der Graf verſtummte. Dies alſo war das Ende
einer Geſchichte, deren Anfang mich einſtmals ſo ſehr
überraſcht hatte. Ihrem Helden bin ich nicht mehr be⸗
gegnet. Man hat mir ſpäter erzählt, daß Sylvio zur
Zeit des Aufſtandes Alexander Ypſilantis eine Ab⸗
teilung der Heteriſten befehligte und in der Schlacht
bei Skulleni gefallen ſei.
Der Schneeſturm
Durch den wildverwehten Schnee
Meine Roſſe jagen ..
Seitlings von der Straße ſeh
Ich die Kirche ragen.
Plötzlich brauſt ein Schneeſturm her;
Dichte Flocken ſchütten;
Schwärzlich ſchwingt ein Rabe ſchwer
Über meinem Schlitten;
Was er krächzt iſt nichts als Leid!
Meine Roſſe ſchauen
Achtſam in die Dunkelheit,
Faſt erſtarrt vor Grauen
Schukowskij
Gegen Ende des 181 ften Jahres, in jener Epoche
alſo, die für uns ſo denkwürdig geworden iſt, lebte
auf ſeiner Beſitzung Nenaradowo der brave Gaw—
rila Gawrilowitſch R... Seine Gaſtfreundſchaft und
Freigebigkeit waren im ganzen Umkreiſe bekannt, und
es verging kein Tag, an dem nicht die Nachbarn ihn
beſuchten, um bei ihm zu eſſen und zu trinken oder
mit feiner Frau Praskowja Petrowna um fünf Ko:
peken Boſton zu ſpielen, oder ſchließlich um die Tochter
der beiden, Marja Gawrilowna, anzuſchauen, ein
ſchlankes, blaſſes, ſiebzehnjähriges Mädchen. Sie galt
allgemein als ein reiches Bräutchen, und viele kamen
mit der Abſicht hin, ſie heimzuführen oder für ihre
Söhne um ſie zu werben.
P. 1 3
33
Die Erzählungen Bjelkins
Marja Gawrilownas Erziehung ſtand unter dem
Einfluß franzöſiſcher Romane, und daher war es kein
Wunder, daß ſie verliebt war. Ihr Erkorener war ein
armer Armeeleutnant, der ſich derzeit auf Urlaub Бе:
fand und ſein Gütchen bewirtſchaftete. Es verſteht ſich
von ſelber, daß der junge Mann von gleicher Leiden:
ſchaft verzehrt wurde, und daß die Eltern ſeiner Lieb⸗
ſten dieſe beiderſeitige Neigung bald bemerkten und
ihrer Tochter unterſagten, an ihn auch nur zu denken;
er wurde in ihrem Hauſe von da ab unfreundlicher
als etwa der geringſte verabſchiedete Beiſitzer auf:
genommen.
Unſere Liebenden ſtanden in ſtändigem Briefwechſel
miteinander und hatten täglich heimliche Zuſammen—
künfte in einem Fichtenwäldchen oder bei der alten
Kapelle. Dort ſchworen ſie einander ewige Liebe, dort
haderten ſie mit dem Schickſal und ſchmiedeten die
verſchiedenſten Pläne. Brieflich und mündlich kamen
fie (mie es immer geht) auf dieſe Weiſe nach und nach
zu folgender Überlegung: da wir ohne einander nicht
mehr atmen können, der Wille unſerer grauſamen
Eltern jedoch unſerem Glück entgegenſteht, wäre es
nicht vielleicht denkbar, daß wir ſchließlich auf dieſe
verzichten könnten? Es iſt klar, daß dieſer glückliche
Gedanke zunächſt im Kopfe des jungen Mannes ent⸗
ſtand, und daß er der romantiſchen Phantaſie Marja
Gawrilownas außergewöhnlich zuſagen mußte.
Der Winter brach an und machte ihren Zuſammen⸗
34
Der Shneefturm
fünften ein Ende; um fo lebhafter wurde nunmehr ihr
Briefwechſel. In jedem Briefe flehte Wladimir Niko⸗
lajewitſch ſie an, endlich die Seine zu werden und ſich
heimlich mit ihm trauen zu laffen; er ſchwor ihr, daß
ſie, nachdem ſie ſich einige Zeit hindurch verborgen ge—
halten, ſich zu den Füßen der Eltern niederwerfen woll—
ten, und verſicherte ihr, daß dieſe ſchließlich, von der
heroiſchen Beſtändigkeit und dem Ungemach der
Liebenden gerührt, ihnen zweifellos ſagen würden:
„Kinder! Kommt in unſere Arme.“
Marja Gawrilowna zauderte lange; ſie verwarf
immer wieder die verſchiedenſten Pläne, auf welche
Weiſe die Flucht zu bewerkſtelligen wäre. Aber end—
lich gab ſie ihre Einwilligung: ſie ſollte an dem feſt—
geſetzten Tage auf das Abendeſſen verzichten und ſich
unter dem Vorwand heftigen Kopfwehs in ihre Ge—
mächer zurückziehen. Ihre Kammerjungfer war in
alles eingeweiht worden; die beiden ſollten durch die
Hintertüre in den Garten, hinter dieſem würden ſie
einen Schlitten finden, in dem ſie Platz zu nehmen und
auf ihm die fünf Werſt zwiſchen Nenaradowo und
dem Dorf Schadrino zurückzulegen hätten; dort an-
gelangt, ſollten ſie geradewegs vor die Kirche fahren,
in welcher Wladimir ſie bereits erwarten wollte.
Am Vorabend des entſcheidenden Tages fand Marja
Gawrilowna während der ganzen Nacht keinen Schlaf;
ſie packte ihre Sachen, ſie legte ihre Wäſche und ihre
Kleider zuſammen und ſchrieb ſchließlich einen langen
„| 98
Die Erzählungen Bjelfins
Brief an ihre Freundin, die ein ſehr empfindſames
Fräulein war, und einen zweiten Brief an ihre Eltern.
In den allerrührendſten Ausdrücken nahm ſie von
dieſen Abſchied, ſie entſchuldigte ihr Vergehen mit dem
unüberwindlichen Trieb ihrer Leidenſchaft und ſchloß
damit, daß ſie jene Minute für die glücklichſte ihres
Lebens anſehen wolle, da ihr erlaubt würde, ſich zu
den Füßen ihrer teuerſten Eltern Vergebung zu er—
flehen. Nachdem ſie die beiden Briefe mit ihrem Siegel
tulaſcher Arbeit, auf dem zwei lodernde Herzen mit
einer geziemenden Überſchrift verſehen abgebildet
waren, verſiegelt hatte, warf ſie ſich kurz vor der
Morgendämmerung aufs Bett und nickte ein; aber ſie
fand auch jetzt keinen Schlaf, denn furchtbare Traum:
geſichter weckten ſie unabläſſig auf. Bald war es ihr,
als hielte ihr Vater ſie im gleichen Augenblick, da ſie
in den Schlitten einſteigen wollte, um zur Trauung
zu fahren, zurück und zöge ſie mit einer qualvollen
Schnelligkeit über den Schnee und ſtieße ſie in ein
dunkles, bodenloſes Erdgewölbe ... und als flöge fie
Hals über Kopf mit einem unerklärlichen Erſterben
des Herzens herab; bald wieder ſah ſie ihren Wladimir
bleich und blutüberſtrömt auf dem Graſe liegen. Ster⸗
bend flehte er ſie mit einer durchdringenden Stimme
an, ſich doch in größter Eile mit ihm trauen zu laſſen
. . aber es waren auch noch andere grauenhafte und
ſinnloſe Erſcheinungen, die an ihr vorüberglitten. Noch
blaſſer als ſonſt erhob fie ſich endlich mit einem ſchreck⸗
36
Der Schneeſturm
lichen, völlig ungekünſtelten Kopfweh. Der Vater und
die Mutter bemerkten ihre Unruhe; ihre zärtliche Auf—
merkſamkeit und ihre immer wiederkehrenden Fragen:
„Was haſt du, Maſcha? Biſt du nicht krank, Maſcha?“
zerriſſen ihr faſt das Herz. Sie gab ſich Mühe, ſie zu
beruhigen und heiter zu erſcheinen, jedoch es gelang
ihr nicht. Der Abend brach an. Der Gedanke, daß
ſie heute zum letzten Male im Kreiſe ihrer Familie
wäre, wollte ihr faſt das Herz abdrücken. Sie war
wie leblos; insgeheim nahm ſie von allen Perſonen
und allen Gegenſtänden, die ſie umgaben, Abſchied.
Es kam die Stunde des Abendeſſens; ihr Herz klopfte
heftig. Mit bebender Stimme ſagte ſie, ſie wolle nicht
eſſen, und begann darauf, ſich von Vater und Mutter
zu verabfchieden. Dieſe küßten fie und ſegneten fie, wie
ſie es immer taten; das Mädchen konnte nur mit Mühe
ihre Tränen zurückhalten. Als ſie endlich in ihrem
eigenen Zimmer war, warf ſie ſich in einen Seſſel und
brach in Schluchzen aus. Die Jungfer redete ihr zu,
ſich doch zu beruhigen und Mut zu faſſen. Alles war
bereit. Nach einer halben Stunde ſollte Maſcha auf
immer ihr Elternhaus verlaſſen, ihre Stube und ihr
ſtilles Mädchenleben ... Draußen wütete ein Schnee—
ſturm; der Wind heulte, die Fenſterläden lärmten und
klapperten; wie eine Drohung erſchien ihr das und
wie eine traurige Vorbedeutung. Nach kurzer Zeit
verſtummte das ganze Haus in tiefem Schlaf. Maſcha
hüllte ſich in ihren Shawl, warf einen warmen Mantel
37
Die Erzählungen Bjelkins
über, nahm ihre Schatulle und ging durch die Hinter—
türe aus dem Hauſe. Die Jungfer trug die zwei Ge⸗
päckſtücke. So kamen ſie in den Garten. Der Schnee⸗
ſturm hatte keineswegs nachgelaſſen; der Wind blies
ihr ins Geſicht, als wäre es ſeine Abſicht, die junge
Sünderin aufzuhalten. Mit Müh und Not erreichten
fie die Gartenpforte. Der Schlitten erwartete fie Бе:
reits. Die frierenden Pferde wollten nicht länger ruhig
ſtehen; Wladimirs Kutſcher mußte ſich unabläſſig an
der Deichſel zu ſchaffen machen, um die unruhigen
Tiere zurückzuhalten. Er half dem Fräulein und ihrer
Jungfer einſteigen und brachte auch das Gepäck und
die Schatulle unter, dann faßte er die Zügel, und in
einem Nu flogen die Pferde dahin. — Wir aber wollen,
nachdem wir das Fräulein der Führung des Schickſals
und der Kunſt Tereſchkas, des Kutſchers, anvertraut
haben, uns nunmehr unſerem jugendlichen Liebhaber
zuwenden.
Wladimir war den ganzen Tag über unterwegs.
Am Morgen war er zum Prieſter von Schadrino де:
fahren und hatte dieſen nur mit großer Mühe zu
überreden vermocht; darauf begab er ſich zu den bee
nachbarten Gutsbeſitzern auf die Suche nach Trau⸗
zeugen. Der erſte, zu dem er kam, der verabſchiedete
vierzigjährige Kornett Drawin, willigte mit Vergnügen
ein. Er beteuerte, daß dieſes Abenteuer ihn an frühere
Zeiten und Huſarenſtreiche erinnere. Er überredete
Wladimir, bei ihm zu Mittag zu ſpeiſen, und erklärte
38
Der Shneefturm
ihm, daß es ein Leichtes fein würde, die zwei übrigen
Zeugen herbeizuſchaffen. Und in der Tat, ſogleich
nach dem Mittageſſen erſchien, ſchnurrbärtig und
ſporenklirrend, der Feldmeſſer Schmitt, mit ihm kam
der Sohn des Kreishauptmanns, ein ſechzehnjähriger
Burſche, der erſt vor kurzem zu den Lllanen gekommen
war. Dieſe nahmen nicht nur alsbald Wladimirs An
erbieten an, ſondern ſchworen ihm ſogar ihre Bereit⸗
willigkeit zu, für ihn ihr Leben zu laſſen. Wladimir
umarmte ſie begeiſtert und fuhr nach Hauſe, um ſeine
Vorbereitungen zu treffen. |
Die Abenddämmerung war längft hereingebrochen.
Er entſandte ſeinen zuverläſſigen Tereſchka mit der
Troika nach Nenaradowo und gab ihm die genaueſten
und eingehendſten Verhaltungsmaßregeln mit, für ſich
ſelber aber ließ er den kleinen einpferdigen Schlitten an⸗
ſpannen und begab ſich allein und ohne Kutſcher nach
Schadrino, da Marja Gawrilowna nach zwei Stunden
dort eintreffen mußte. Die Straße war ihm wohlbekannt,
er hatte nicht mehr als zwanzig Minuten zu fahren.
Allein kaum war Wladimir aus dem Dorf ins Freie
gekommen, als der Sturm ſich erhob und ein ſolches
Schneetreiben begann, daß er nichts mehr im Umkreiſe
erblicken konnte. Nach einer Minute war die Straße
pöllig verweht; die Umgebung verſchwand im trüben
gelblichbleichen Dunkel, durch welches unabläſſig die
weißen Schneeflocken fegten; Erde und Himmel waren
eines; Wladimir befand ſich gleich darauf auf offenem
39
Die Erzählungen Bjelkins
Felde und gab ſich vergebens Mühe, die Straße wieder
zu gewinnen; das Pferd taſtete ſich auf Gutglück vor:
wärts und mußte bald über Anhöhen klettern, bald
wieder ſtolperte es in eine Grube. Keine Minute verging,
ohne daß nicht der Schlitten umſtürzte. Wladimirs
einzige Sorge war nur, die Richtung nicht zu verlieren.
Doch ſchon war mehr als eine halbe Stunde verſtrichen,
und er hatte immer noch nicht das Gehölz von Scha—
drino erreicht. Weitere zehn Minuten vergingen —
und noch immer war nichts vom Gehölz zu ſehen.
Wladimir fuhr jetzt über ein Feld, das von tiefen
Gräben durchfurcht war. Der Schneeſturm ließ nicht
nach, und auch der Himmel wollte ſich nicht aufklären.
Sein Pferd ermattete nach und nach, und auch er war
bereits von Schweiß durchnäßt, trotzdem er unabläſſig
bis an den Gürtel im Schnee ſtak.
Endlich mußte er erkennen, daß er in der falſchen
Richtung fuhr. Wladimir hielt an: er überlegte hin
und her und kam ſchließlich zur Überzeugung, daß er
mehr nach rechts halten müßte. So fuhr er denn
nach rechts. Sein Pferd wollte kaum mehr weiter.
Er war bereits mehr als eine Stunde unterwegs.
Schadrino mußte ganz in der Nähe ſein. Aber immer
noch ging es weiter und weiter, und das Feld wollte
nicht enden. Immer noch nichts als Gräben und
Schneewächten; unabläſſig ſchlug der Schlitten um,
und unabläſſig mußte er ihn aufrichten. Die Zeit ver⸗
ging; Wladimir war in großer Unruhe.
1165
Der Schneeſturm
Endlich trat auf einer Seite etwas Dunkles hervor.
Wladimir lenkte dorthin. Als er näher kam, ſah ег *
ein Gehölz. Gott ſei Dank, dachte er, jetzt iſt es ganz
nah. Er fuhr längs des Gehölzes, denn er wußte, daß
er entweder ſogleich auf die bekannte Straße kommen,
oder aber um das Gehölz herumfahren mußte, denn
Schadrino lag gleich dahinter. Bald darauf fand er
die Straße und fuhr in das Dunkel der Bäume, die
der Winter entblättert hatte. Hier konnte der Sturm
nicht ſo wüten, darum war auch die Straße leichter
fahrbar; das Pferd wurde munterer, und auch
Wladimir beruhigte ſich.
Aber er fuhr und fuhr, und kein Schadrino zeigte
ſich; das Gehölz nahm kein Ende. Mit Schaudern
bemerkte Wladimir, daß er in einen unbekannten Wald
geraten war. Er war ganz verzweifelt. Er ſchlug aufs
Pferd ein; das arme Geſchöpf verſuchte, ſich in Trab
zu ſetzen, aber nicht lange, und es verſagte, und nach
einer Viertelſtunde ging es trotz aller Anſtrengungen
des unglücklichen Wladimir nur mehr im Schritt.
Endlich lichteten ſich die Bäume, und Wladimir ließ
den Wald hinter ſich, aber vor ihm lag kein Schadrino.
Es mußte bereits gegen Mitternacht ſein. Die Tränen
fprangen ihm aus den Augen; er fuhr jetzt nur noch
aufs Geratewohl dahin. Das Unwetter ließ nach, die
Wolken teilten ſich; vor ſeinen Augen breitete ſich eine
von einem weißen, ſchöngewellten Teppich bedeckte
Ebene. Die Nacht war ziemlich klar. Er gewahrte
41
Die Erzählungen Bjelkins
ein Dörfchen in der Nähe, das aus vier oder fünf Ge⸗
bäuden beſtand. Wladimir fuhr hin. Kaum hatte er
die erſte Hütte erreicht, da ſprang er aus dem Schlitten,
eilte zum Fenſter und begann zu klopfen. Nach eini⸗
gen Minuten wurde der hölzerne Fenſterladen auf—
gemacht, und in der Öffnung zeigte ſich ein alter
Mann mit grauem Bart. „Was willſt du?“ — „Iſt
es noch weit bis Schadrino? ! — „ОБ es noch weit bis
Schadrino iſt? “ — „Freilich! Ob es noch weit iſt? —
„Nicht ſchlimm: an die zehn Werſt.“ Als Wladimir
dieſe Antwort hörte, raufte er ſich die Haare und ſtand
regungslos da wie ein zum Tode Verurteilter.
„Von wo kommſt du?“ fuhr der Alte fort. Wladi⸗
mir war es nicht danach, jetzt auf Fragen zu antworten.
„Sag mal, Alter,“ ſagte er, „kannſt du mir Pferde
verſchaffen, um nach Schadrino zu kommen?“ —
„Was da, Pferde bei uns“, entgegnete der Bauer. —
„Könnte ich wenigſtens einen Führer bekommen? Ich
zahle wieviel er verlangt.“ — „Wart' mal,“ meinte
der Alte, den Fenſterladen zuſchlagend, „ich ſchick dir
meinen Sohn, er wird dich führen.“ Wladimir wartete.
Noch war keine Minute verſtrichen, da klopfte er aufs
neue. Der Fenſterladen ging auf, und der Bart kam
aufs neue zum Vorſchein. „Was willſt du?“ — „Nun,
und dein Sohn?“ — „Kommt gleich, zieht ſich nur
die Stiefel an. Wenn du kalt haſt, komm herein,
wärm dich.“ „Danke; ſchick mir nur ſchneller deinen
Sohn heraus.“
42
Der Schneeſtu rm
Die Pforte knarrte; ein Burſche mit einem Knüppel
trat heraus und ging voran; er wies den Weg und
fand ihn immer, obwohl die Schneewächten ihn oft
verſteckten. „Wie ſpät iſt es?“ fragte Wladimir. —
„Es wird bald dämmern“ , entgegnete der junge Bauer.
Wladimir vermochte kein Wort mehr zu ſagen.
Die Hähne krähten, und es war bereits hell, als
ſie Schadrino erreichten. Die Kirche war verſchloſſen.
Wladimir entlohnte den Führer und fuhr zum Haus
des Prieſters. Sein Dreigeſpann ſtand nicht auf dem
Hof. Und welch eine Nachricht erwartete ihn!
Doch kehren wir wieder zu unſeren braven Nena—
radowſchen Gutsbeſitzern zurück, und ſchauen wir, was
ſich inzwiſchen bei ihnen ereignet hat.
Eigentlich nichts von Belang.
Nachdem die Eltern erwacht waren, gingen ſie wie
immer ins Speiſezimmer, Gawrila Gawrilowitſch in
ſeiner Nachtmütze und warmen Joppe, Praſkowja
Petrowna dagegen im wattierten Schlafrock. Der
Sſamowar kam, und Gawrila Gawrilowitſch ſchickte
die Jungfer, zu erfahren, wie Marja Gawrilowna
fi) befände und wie fie geruht hätte. Die Jungfer
kehrte zurück und meldete, daß das Fräulein ſehr ſchlecht
geſchlafen hätte, doch daß es ihr jetzt beſſer ginge und
daß ſie gleich erſcheinen würde. Und in der Tat öffnete
ſich alsbald die Türe, und Marja Gawrilowna trat
ein, um Vater und Mutter zu begrüßen.
„Was macht dein Kopf, Maſcha?“ fragte Gawrila
43
Die Erzählungen Bjelkins
Gawrilowitſch. — „Schon beſſer, Papa“, entgegnete
Maſcha. — „Du haſt ſicher geſtern zu viel Ofendunſt
eingeatmet, Maſcha“, meinte Praſkowja Petrowna.—
„Kann ſein, Mama“, entgegnete Maſcha.
Ruhig verging der Tag, zur Nacht aber wurde
Maſcha ſehr krank. Man ſchickte in die Stadt nach
dem Doktor. Er traf ein, als die Kranke bereits im
hohen Fieber lag. Es war ein heftiger Fieberanfall,
und zwei Wochen lang ſchwebte die arme Kranke am
Rande des Grabes.
Niemand im Hauſe wußte auch nur das geringſte
von der beabſichtigten Flucht. Die Briefe, tags zu⸗
vor geſchrieben, waren längſt verbrannt, und die Zofe
ſprach zu keinem Menſchen ein Sterbenswörtchen,
da ſie den Zorn ihrer Herrſchaft fürchten mußte.
Der Priefter, der verabſchiedete Kornett, der ſchnurr⸗
bärtige Landmeſſer und der kleine Ulan waren zurück⸗
haltend und hatten wohl auch Grund dazu. Te⸗
reſchka, der Kutſcher, hingegen ſprach niemals ein
übriges Wort, nicht einmal, wenn er betrunken war.
Auf dieſe Weiſe wurde das Geheimnis bewahrt, ob—
wohl die Zahl der Verſchworenen ein halbes Dutzend
überſtieg. Zwar verriet Marja Gawrilowna in ihren
unabläſſigen Fieberreden ſelber ihr Geheimnis. Doch
da ihre Worte völlig unwahrſcheinlich klangen, ent⸗
nahm die Mutter, die nicht von dem Krankenlager
wich, ihnen nur, daß ihre Tochter ſterblich in Wladi⸗
mir Nikolajewitſch verliebt fei, und daß aller Wahr:
44
Der Shneefturm
ſcheinlichkeit nach die Urſache dieſer Krankheit Liebe
fei. Sie beriet ſich mit ihrem Gatten und einigen Nach:
barn, und ſchließlich wurde einſtimmig befchloffen, dies
wäre augenſcheinlich Marja Gawrilownas Schickſal,
und man könnte dem Erkorenen nicht einmal zu Pferde
entrinnen, Armut ſei kein Laſter, und man habe nicht
mit dem Reichtum, ſondern mit dem Menſchen zu
leben und dergleichen mehr. Dieſe moraliſchen Redens⸗
arten können in Fällen, in denen wir ſelber nichts Rechtes
zu unſerer Rechtfertigung erſinnen können, manchmal
von erſtaunlichem Nutzen ſein.
Derweilen genas das Fräulein nach und nach.
Wladimir hatte ſich im Hauſe Gawrila Gawrilowitſchs
lange nicht mehr blicken laſſen. Der Empfang, den er
dort immer gefunden, hatte ihn wohl abgeſchreckt. So
wurde denn beſchloſſen, ihn holen zu laſſen, um ihm
das unerwartete Glück mitzuteilen, daß man ihm die
Einwilligung zur Ehe nicht länger vorenthalte. Wie
groß jedoch war das Erſtaunen der Nenaradowſchen
Gutsbeſitzer, als ſie einen halb tollen Brief von ihm
als Antwort auf ihre Einladung erhielten! Er erklärte
ihnen darin, daß ſein Fuß niemals wieder ihr Haus
betreten würde, und bat, den Unſeligen zu vergeſſen,
dem als einzige Hoffnung nur noch der Tod geblieben
ſei. Wenige Tage darauf erfuhren ſie, daß Wladimir
zur Armee abgereiſt wäre. Dies alles geſchah im
Jahre 1812.
Noch lange danach wagte es keiner, dieſen Umſtand
45
Die Erzählungen Bjelkins
der geneſenden Maſcha mitzuteilen. Sie ſelber er—
wähnte Wladimirs Namen niemals. Aber einige No:
nate darauf fiel ſie, als ſie ſeinen Namen unter der
Zahl derjenigen fand, die ſich bei Borodino ausge⸗
zeichnet hatten und ſchwer verwundet worden waren,
in Ohnmacht, und man fürchtete, das Fieber könnte
ſie aufs neue packen. Allein die Ohnmacht hatte,
Gott ſei dank, keine üblen Folgen.
Dagegen ſuchte ein anderer Kummer ſie heim: Gaw⸗
rila Gawrilowitſch ſtarb und ließ ſie als Erbin ſeiner
Beſitztümer zurück. Aber das Erbe war ihr kein Troſt:
ſie teilte den bitteren Kummer der armen Praſkowja
Petrowna und ſchwur, ſich niemals von ihr trennen
zu wollen; beide verließen Nenaradowo, den Ort ſo
vieler trauriger Erinnerungen, und begaben ſich auf
das . .. ſche Gut, um fürderhin dort zu leben.
Allein auch dort gab es viele Bewerber, die das
liebenswürdige und reiche Bräutchen umſchwirrten;
doch gab ſie keinem einzigen von dieſen jemals auch nur
zur geringſten Hoffnung Anlaß. Die Mutter redete
ihr zwar gelegentlich zu, ſich doch nach einem Kamera—
den umzuſehen, aber Marja Gawrilowna ſchüttelte
ſtets den Kopf und wurde nachdenklich. Wladimir war
längſt nicht mehr am Leben; er war kurz vor dem
Einzug der Franzoſen in Moskau geſtorben. Sein
Andenken ſchien Marja heilig zu ſein; ſie hatte alles,
was an ihn erinnern konnte, ſorgfältig aufgehoben:
die Bücher, die er einſtmals geleſen, ſeine Zeichnungen,
46
Der Schneeſtur m
aber auch die Noten und die Gedichte, die er für ſie
abgeſchrieben hatte. Die Nachbarn, die natürlich alles
wußten, wunderten ſich über eine ſo große Beſtändig⸗
keit und erwarteten voll Neugierde jenen Helden, der
ſchließlich und endlich über die traurige Treue der
jungfräulichen Artemis obſiegen mußte.
Der Krieg war unterdeſſen ruhmreich zu Ende ge—
führt worden. Unſere Regimenter kehrten aus dem
Ausland zurück. Das Volk ſtrömte ihnen entgegen.
Die Muſik ſpielte die während des Feldzuges erlernten
neuen Lieder: Vive Henri- Quatre, Tiroler Walzer und
Arien aus der Joconde. Die Offiziere, die zu Beginn
des Krieges noch faſt als Jünglinge ins Feld gezogen
waren, kehrten, in der Luft des Kampfes zu Männern
gereift, mit Orden geziert, zurück. Heiter plauderten
die Soldaten miteinander und mengten unabläſſig in
ihre Rede deutſche und franzöſiſche Worte. Unver—
geßliche Zeit! Zeit des Ruhmes und des Rauſches!
Wie ſtark pochte das ruſſiſche Herz beim Namen Bater:
land! Wie ſüß waren die Tränen des Wiederſehens!
Mit welcher Eintracht verbanden wir damals das Ge:
fühl des Nationalſtolzes mit der Liebe zum Herrſcher!
Und für dieſen ſelber — welch eine Minute für ihn!
Die Frauen, die ruſſiſchen Frauen, waren damals
unvergleichlich. Ihre gewöhnliche Kühle war ver—
ſchwunden. Ihre Begeiſterung war wahrhaft berau⸗
ſchend, zumal als ſie, die Sieger begrüßend, hurra riefen
„Und in die Luft die Hauben warfen“.
47
Die Erzählungen Bjelkins
Iſt wohl einer unter den damaligen Offizieren, der
nicht geſtehen wollte, daß er ſeine beſte, ſeine köſtlichſte
Belohnung von der ruſſiſchen Frau erhielt?
In jener glanzvollen Periode lebte Marja Gawri⸗
lowna mit ihrer Mutter im ... Gouvernement und
ſah wenig davon, wie die beiden Hauptſtädte die Rück⸗
kehr der Heere feierten. Freilich war die allgemeine
Begeiſterung in den Landkreiſen und Dörfern vielleicht
noch ſtärker. Wenn nämlich ein Offizier an dieſen
Orten erſchien, ſo war es ein wahrhafter Triumph⸗
zug für ihn, und ſchlecht ging es in feiner Nachbar:
ſchaft dem Liebhaber im Frack.
Wir erwähnten bereits, daß Marja Gawrilowna
trotz ihrer Kälte nach wie vor von Bewerbern um—
ringt wurde. Aber ſie alle mußten abtreten, als der
verwundete Oberſt Burmin mit dem Georg im Knopf:
loch in ihrem Palais auftauchte; er war, wie die
dortigen Fräuleins ſich ausdrückten, von einer beſon⸗
ders intereſſanten Bläſſe. Er mochte gegen ſechs—
undzwanzig Jahre alt ſein. Er war auf ſeine Güter
beurlaubt, die in der Nachbarſchaft von Marja
Gawrilownas Beſitzung lagen. Marja Gawrilowna
zeichnete ihn ſehr aus. Ihre gewöhnliche Verſonnen⸗
heit belebte ſich ein wenig, wenn er in ihrer Nähe war.
Man konnte nicht ſagen, daß ſie mit ihm kokettiert
hätte; doch wäre ein Dichter, ihr Benehmen gewahrend,
ſicherlich in folgende Worte ausgebrochen:
Se amor non 6, che dunche?...
48
Der Schneeſtur m
Burmin war in der Tat ein ſehr liebenswürdiger
junger Mann. Er verfügte über jenen Geiſt, der den
Frauen ſo gut gefällt: der Geiſt des Anſtandes und
der Aufmerkſamkeit, niemals fordernd und ewig forg:
los ſpöttiſch. Sein Verhalten Marja Gawrilowna
gegenüber war frei und einfach; allein, was immer
dieſe auch ſagen oder tun mochte, ſeine Seele und ſeine
Blicke folgten ihr hartnäckig. Er ſchien von ſtiller und
beſcheidener Gemütsart zu ſein, obwohl ihm das Ge⸗
rücht nachſagte, daß er vormals ein ſchrecklicher Tauge⸗
nichts geweſen, doch ſchadete ihm dieſer Umſtand bei
Marja Gawrilowna nicht im mindeſten, denn dieſe
wie überhaupt alle jungen Damen entſchuldigte mit
Vergnügen all die Schelmereien, die von Verwegen—
heit ſprachen und von einem leichtentflammbaren Cha-
rakter.
Am meiſten jedoch ... (und zwar mehr als feine
Zartheit, mehr als ſeine angenehme Unterhaltung,
mehr als ſeine intereſſante Bläſſe, ja mehr noch als
ſein verbundener Arm) — am heftigſten wurden ihre
Neugierde und ihre Phantaſie von der Schweigſam—
keit des jungen Huſaren angeregt. Sie konnte es ſich
nicht länger verhehlen, daß ſie ihm außergewöhnlich
gut gefiel; und vermutlich hatte auch er bei ſeinem
Verſtande und ſeiner Erfahrung bereits die Beobach—
tung machen können, daß ſie ihn auszeichnete; wie
alſo kam es, daß ſie ihn immer noch nicht zu ihren
Füßen erblickt und noch immer nicht ſein Geſtändnis
P. I 4
49
Die Erzählungen Bjelkins
zu Ohren bekommen hatte? Was hielt ihn wohl
zurück? War es die Scheu, die unzertrennbar von
wahrer Liebe iſt, war es Stolz oder gar nur das Spiel
eines ſchlauen Wüſtlings? Dies war ein Rätſel für
ſie. Nachdem ſie ſich den Fall gehörig überlegt hatte,
kam ſie zum Eutſchluß, daß der einzige Grund hierzu
ſeine Scheu war, und beſchloß darum, ihn durch noch
größere Aufmerkſamkeit, ja, wenn die Gelegenheit es
ergeben ſollte, ihn ſogar durch Zärtlichkeit aufzumun⸗
tern. Sie war auf die allerunwahrſcheinlichſte Löſung
des Geheimniſſes gefaßt und erwartete voll Ungeduld
die Minute feiner romantiſchen Erklärung. Jedes Фе:
heimnis, es ſei wie es wolle, laſtet immer auf dem
weiblichen Herzen. Ihre Strategie hatte den ge—
wünſchten Erfolg: Burmin wurde zum mindeſten ſo
ungemein nachdenklich und heftete ſeine ſchwarzen
Augen mit ſolchem Feuer auf Marja Gawrilowna,
daß es den Anſchein erwecken mußte, die entſcheidende
Minute ſei bereits ſehr nahe herangerückt. Die Nach⸗
barn ſprachen ſchon von der Hochzeit, als von einer
beſchloſſenen Tatſache, und die gute Praskowja Pe-
trowna freute ſich, daß ihre Tochter endlich einen
Bräutigam gefunden, der ihrer würdig war.
Die alte Dame ſaß eines Tages im Wohnzimmer
und legte eine Grande-Patience, als Burmin das Ge:
mach betrat und ſich ſogleich nach Marja Gawrilowna
erkundigte. „Sie iſt im Garten,“ entgegnete die Alte,
„gehen Sie nur zu ihr, ich werde derweilen hier auf
50
Tr
Der Shneefturm
Sie warten.“ Burmin verließ fie, die Alte aber Бе:
kreuzigte ſich und dachte: vielleicht geht die Sache
heute zu Ende!
Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, wo ſie
in ihrem weißen Tuch, ein Buch in der Hand, unter einer
Weide wie eine wirkliche Romanheldin ſtand. Nach—
dem die erſten Fragen beantwortet waren, unterließ es
Marja Gawrilowna mit einer gewiſſen Abſicht, das
Geſpräch weiter im Gang zu halten, und verſtärkte
hierdurch die beiderſeitige Verwirrung nur noch mehr,
ſo daß, um ſie zu löſen, nur noch eine plötzliche und
entſcheidende Erklärung möglich war. Das geſchah
auch: Burmin, der die ganze Schwierigkeit ſeiner Lage
empfand, teilte ihr mit, daß er ſchon längſt nach einer
Gelegenheit geſucht hätte, ihr ſein Herz zu enthüllen,
und bat um eine Minute der Aufmerkſamkeit. Marja
Gawrilowna ſchloß das Buch und ſchlug zum Zeichen
des Einverſtändniſſes die Augen nieder.
„Ich liebe Sie“, ſagte Burmin: „Ich liebe Sie mit
aller Leidenſchaft ...“ (Marja Gawrilowna errötete
und ſenkte den Kopf noch ein wenig tiefer.) „Ich
handelte unvorſichtig, als ich mich der lieben Gewohn—
heit hingab, der Gewohnheit, Sie täglich zu ſehen und
zu hören ..“ (Marja Gawrilowna mußte hierbei an
den erſten Brief des St. Preux denken.) „Es iſt be—
reits zu fpäf, mich meinem Schickſal zu widerſetzen;
die Erinnerung an Sie, Ihr liebliches und unvergleich—
liches Bildnis wird von nun ab die Qual und die
51
Die Erzählungen Bjelkins
Freude meines Lebens ſein; und ſo bleibt mir jetzt nur
noch das eine, Ihnen zur Erfüllung einer ſchrecklichen
Pflicht ein gräßliches Geheimnis zu enthüllen und
zwiſchen uns beiden eine unüberwindliche Schranke auf⸗
zurichten ...“ — „Die hat immer ſchon beſtanden“,
unterbrach ihn Marja Gawrilowna lebhaft: „Ich
hätte niemals Ihre Frau werden können ...“ —
„Ich weiß es“, entgegnete er ſtill: „Ich weiß, daß Sie
einmal geliebt haben, aber der Tod und drei Jahre
der Klage ... Teure Geliebte, Marja Gawrilowna,
nehmen Sie mir nicht den letzten Troſt: den Gedanken,
daß Sie vielleicht einverſtanden geweſen wären, mein
Glück zu teilen, wenn ...“ — „Schweigen Sie, um
Gottes willen, ſchweigen Sie. Sie peinigen mich.“ —
„Ja, ich weiß es, ich fühle es, daß Sie die Meine
hätten werden können, aber — ich bin das unſeligſte
Geſchöpf ... ich bin verheiratet.“
Marja Gawrilowna blickte ihn überraſcht an.
„Verheiratet bin ich“, fuhr Burmin fort: „Ich bin
bereits das vierte Jahr verheiratet und weiß nicht, wer
meine Frau iſt und wo ſie weilt und ob es mir jemals
befchieden fein wird, mit ihr zuſammenzutreffen!“
„Was ſagen Sie da?“ rief Marja Gawrilowna:
„Wie ſeltſam das iſt! Aber fahren Sie fort; ich muß
Ihnen nachher etwas erzählen ... fahren Sie fort,
ſeien Sie ſo gut.“
„Es war zu Beginn des 1812 ten Jahres“, erzählte
Burmin: „Ich eilte gerade nach Wilna, wo ſich да:
52
8 — — —
: ˙ —· © рые
Der Schneeſtur m
mals mein Regiment befand. Eines Abends langte ich
auf einer Poſtſtation ſpät an und erteilte gerade
den Befehl, die friſchen Pferde möglichſt ſchnell an—
zuſpannen, als ſich plötzlich ein furchtbarer Schnee—
ſturm erhob und der Aufſeher und die Kutſcher mir
ſogleich rieten, noch ein wenig zu warten. Ich ließ
mich überreden, obwohl eine unerklärliche Unruhe von
mir Beſitz ergriff; mir war, als würde ich von ци:
ſichtbarer Hand auf etwas zugeſtoßen. Das Wüten
des Schneeſturms draußen ließ nicht nach; ſchließlich
hielt ich es nicht länger aus und befahl aufs neue an⸗
zuſpannen und fuhr mitten im Sturm davon. Mein
Kutſcher faßte den Entſchluß, über den Fluß zu fahren,
was unſeren Weg um drei Werſt verkürzen mußte.
Da die Ufer völlig verſchneit waren, fuhr der Kutſcher
an der Stelle, auf der man ſonſt abbiegt, um wieder
die Straße zu gewinnen, vorbei, und unverhofft be-
fanden wir uns plötzlich in einer unbekannten Gegend.
Der Sturm wollte immer noch nicht nachlaſſen; da
ſah ich ein Licht und befahl dem Kutſcher, darauflos
zu fahren. Wir kamen bald danach in ein Dorf; in
der Dorfkirche war Licht. Die Kirchentür ſtand offen;
hinter der Kirchenmauer hielten mehrere Schlitten;
unter dem Portal bewegten ſich einige Menſchen.
„Hierher! Hierher!“ riefen Stimmen. Ich befahl dem
Kutſcher, dorthin zu fahren. „Ich bitte dich, wo warſt
du ſo lange?“ redete mich jemand an: „Die Braut
liegt in tiefer Ohnmacht; der Prieſter weiß nicht mehr,
33
Die Erzählungen Bjelkins
was tun; wir waren ſchon drauf und dran heim⸗
zufahren. Komm ſchnell.“ Stumm ſprang ich aus
dem Schlitten und trat in die Kirche, die von zwei
oder drei Kerzen düſter erleuchtet war. Auf einer Bank
in einer dunklen Kirchenecke ſaß ein Mädchen; eine
andere rieb ihr die Schläfen. „Gott ſei Dank!“ ſprach
dieſe: „Endlich ſind Sie gekommen. Sie hätten faſt
unſer Fräulein getötet.“ Und ſchon näherte ſich mir
der bejahrte Prieſter mit der Frage: „Belieben Sie,
daß wir beginnen?“ — „Beginnen Sie nur, beginnen
Sie, Hochwürden“, entgegnete ich zerſtreut. Man
richtete das Mädchen auf. Sie ſchien mir hübſch zu
fein ... Unbegreiflicher, unverzeihlicher Leichtſinn ...
ich ſtellte mich neben ſie vor den Altar: der Prieſter
hatte große Eile; die drei Männer und die Jungfer
ſtützten die Braut, und waren lediglich mit ihr be—
ſchäftigt. So wurden wir getraut. „Jetzt müßt ihr
euch küſſen“, ſagte jemand. Meine Gemahlin wendete
mir ihr bleiches Geſicht zu. Ich wollte fie küſſen ...
Da ſchrie ſie: „O weh, es iſt nicht er! Nicht er iſt's!“
und ſtürzte beſinnungslos nieder. Die erſchreckten
Augen der Zeugen lagen auf mir. Ich drehte mich
um, verließ unbehindert die Kirche, ſprang in den
Wagen und ſchrie: „Vorwärts!“
„Mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna: Na Sie
wiſſen alſo nicht, was aus Ihrer armen Gemahlin
geworden ИЕ?“
„Ich weiß nichts von ihr,“ entgegnete Burmin, „ich
54
— ,
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ве" — №
Der Schneeſtur m
weiß nicht einmal, wie das Dorf heißt, in dem ich
getraut wurde, und erinnere mich auch nicht, welche
Poſtſtation es war, von der ich abfuhr. Zu jener
Zeit legte ich meinem verbrecheriſchen Streich ſo wenig
Bedeutung bei, daß ich ſogar, gleich nachdem die Kirche
hinter mir lag, eingeſchlafen bin und erſt am nächſten
Morgen erwachte, als wir bereits die dritte Pofthalte:
ſtelle erreicht hatten. Der Diener, den ich damals bei
mir hatte, fiel während des Feldzuges, ſo daß ich nicht
die geringſte Hoffnung mehr habe, jene wiederzufinden,
der ich ſo grauſam mitgeſpielt habe, und die jetzt ſo
grauſam an mir gerächt iſt.“
„Mein Gott, mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna
und ergriff ſeine Hände: „Sie alſo waren es! und
Sie erkennen mich nicht?“
Burmin erblaßte ... und lag zu ihren Füßen.
Der Öargmakder
Sehn wir nicht Särge jedes Jahr
Wie welken Weltalls graue Haare?
Derſchawin
Des Sargmachers Adrian Prochorow letztes Hab
und Gut wurde auf den Leichenwagen geſtapelt,
und die zwei dürren Klepper ſchleppten ſich zum
pierfenmal von der Basmannaja nach der Nikitskaja,
denn nach dorthin zog der Sargmacher mitſamt
feinem ganzen Haufe um. Er ſchloß den Laden und Бе:
gab ſich, nachdem er zuvor an das Haus eine Bekannt⸗
machung genagelt hatte, es wäre zu verkaufen oder zu
vermieten, zu Fuß nach ſeiner neuen Behauſung. Aber
als er ſich dem gelben kleinen Hauſe, das ſchon ſo lange
ſeine Einbildung verlockt und das er ſchließlich für
eine anſtändige Summe erworben hatte, näherte, da
fühlte der alte Sargmacher plötzlich nicht ohne Ver—
wunderung, daß in ſeinem Herzen keine Freude war.
Und als er gar die noch ungewohnte Schwelle über:
ſchritt und in ſeiner neuen Wohnung nichts als Wirr⸗
warr vorfand, da ſeufzte er faſt ſeinem verwitterten
Häuschen nach, denn im Laufe von achtzehn Jahren
hatte dort die allerſtrengſte Ordnung geherrſcht; er
begann auf ſeine zwei Töchter und die Bedienerin
ihrer Saumſeligkeit wegen zu ſchelten und legte ſelber
mit Hand an. Die Ordnung war bald hergeſtellt;
der Schrein mit den Heiligenbildern, der Geſchirr⸗
56
Der SGargmadhıer
ſchrank, ЗИФ, Sofa und Bett ftanden in den gehö—
rigen Ecken des hinteren Zimmers; Küche aber und
Wohnzimmer wurden von den Erzeugniſſen des Haus—
herrn gefüllt: Särge in den mannigfaltigſten Farben
und in jeder Größe, ebenſo aber Schränke, voll von
Trauerhüten, Trauergewändern und Fackeln. Über
dem Haustor prangte ein Schild, auf dem ein Amor
dargeſtellt war, in der Hand eine zur Erde geſenkte
Fackel, die Unterſchrift aber lautete: „Särge, einfache
und angeſtrichene, werden hier verkauft und tapeziert,
auch verliehen, und alte werden wieder neu hergerichtet.“
Die Mädchen gingen in ihr Zimmer; Adrian aber
ſchritt durch ſeine ganze Behauſung, endlich nahm er
am Fenſter Platz und befahl, den Sſamowar aufzu:
tragen.
Der aufgeklärte Leſer weiß, daß ſowohl Shake⸗
ſpeare wie auch Walter Scott ihre Grabgräber als
luſtige und ſchelmiſche Menſchen ſchilderten, um unſere
Phantaſie durch dieſen Kontraſt nur noch heftiger zu
treffen. Wir jedoch wollen aus Reſpekt vor der Wahr⸗
heit ihrem Beiſpiel nicht folgen und ſind gezwungen,
zu bekennen, daß die Lebensart unſeres Sargmachers
ſeinem düſteren Gewerbe völlig entſprach. Adrian
Prochorow war meiſtens finſter und nachdenklich.
Sein Schweigen unterbrach er eigentlich nur, um
auf ſeine Töchter zu pochen, wenn er ſah, daß ſie
untätig durchs Fenſter auf die Vorübergehenden
guckten, oder um für ſeine Erzeugniſſe jenen, die das
57
Die Erzählungen Bjelkins
Unglück (oder auch zuweilen das Vergnügen) hatten,
ihrer zu benötigen, geſalzene Preiſe abzufordern. Und
ſo ſaß denn Adrian am Fenſter und trank, wie es
ſeine Gewohnheit war, die ſiebente Taſſe Tee, ganz ver⸗
ſunken in ſeine ſorgenvolln Gedanken. Er dachte an
den Platzregen, der, eine Woche war es her, alle Per:
ſonen, die zur Beerdigung des verabſchiedeten Bri⸗
gadiers gekommen waren, noch vor dem Schlagbaum
überraſcht hatte. Viele Gewänder waren nachher ein⸗
geſchrumpft, und viele Hüte hatten Krümmungen be⸗
kommen. Er ſah unvermeidbare Ausgaben bevor,
denn fein uralter Vorrat an Gewändern zu Leichen:
begängniſſen geriet allmählich in einen kläglichen Zu:
ſtand. Freilich hoffte er, dieſen Verluſt durch die alte
Kaufmannsfrau Trjuchinga wieder hereinzubringen,
denn dieſe lag bereits ſeit Jahresfriſt im Sterben.
Aber es war ein entferntes Stadtviertel, in dem die
Trjuchina ihrem Ableben entgegenſah, und Prochorow
fürchtete, daß die Erben, entgegen ihrem Verſprechen,
zu läſſig ſein würden, ihn aus einer ſolchen Ent⸗
fernung holen zu laſſen, und daß ſie am Ende mit
einem näher wohnenden Lieferanten handelseins wer⸗
den könnten.
Dieſe Gedanken wurden unverſehens durch ein
dreimaliges freimaureriſches Klopfen unterbrochen.
„Wer da?“ fragte der Sargmacher. Die Tür ging
auf, und mit fröhlicher Miene trat ein Mann, dem
man bereits auf den erſten Blick den deutſchen
58
— ee ˖— ee A” 3
Der Sargmadher
Handwerker anſah, ins Zimmer und näherte ſich dem
Sargmacher. „Um Vergebung, mein werter Herr
Nachbar,“ ſagte er mit einer Ausſprache des Ruſ—
ſiſchen, die wir auch heute noch nicht, ohne lachen zu
müffen, hören können. „Um Vergebung, daß ich Sie
ſtöre ... ich beeilte mich, Ihre Bekanntſchaft zu
machen. Ich bin ein Schuſter meines Gewerbes und
heiße Gottlieb Schulz, ich wohne auf der anderen
Seite der Straße in jenem Häuschen, das Ihren
Fenſtern gerade gegenüberliegt. Und morgen, da
feiere ich meine Silberhochzeit, und wollte Sie und
Ihre Töchter gebeten haben, bei mir Ihre Mittags⸗
mahlzeit einzunehmen.“ Dieſe Einladung wurde wohl—
wollend angenommen. Der Sargmacher forderte den
Schuſter auf, Platz zu nehmen und eine Taſſe Tee
zu trinken, und ſchon bald darauf war, dank Gottlieb
Schulzens offenherzigem Weſen, ein freundſchaftliches
Geſpräch im Gange. „Wie ſteht es mit dem Handel
von Euer Liebden?“ fragte Adrian. — „Hm,“ ent⸗
gegnete Schulz, „fo fo, ich kann nicht klagen. Aller:
dings hält meine Ware keinen Vergleich mit der Ihrigen
aus: der Lebende kann auf Stiefel verzichten, der Tote
aber kann nicht ohne Sarg ableben.“ — „Wahr,
wahr,“ warf Adrian ein, „doch wenn der Lebende
kein Geld hat, um ſich Stiefel zu kaufen, dann iſt das
nicht zu ändern, dann geht er eben barfuß; der Tote
aber, der nichts hat, der nimmt ſich eben ſemen Sarg
ohne Bezahlung.“ Und auf dieſe Weiſe ſetzte ſich das
59
Die Erzählungen Bjelkins
Geſpräch noch einige Zeit hindurch fort, bis endlich
der Schuſter aufſtand und vom Sargmacher Abſchied
nahm, wobei er nicht verſäumte, ſeine Einladung zu
wiederholen.
Pünktlich um die zwölfte Stunde des anderen
Tages ſchritten der Sargmacher und ſeine Töchter
durch das Pförtchen des neuerworbenen Hauſes und
begaben ſich zum Nachbarn. Aber weder gedenke ich
hier Adrian Prochorows ruſſiſchen Kaftan noch Aku—
[паз und Darjas europäiſierte Kleider zu beſchreiben
und weiche in dieſem Falle von den zur Gewohnheit
gewordenen Gepflogenheiten der gegenwärtigen Er:
zähler ab. Dennoch halte ich es nicht für überflüſſig
hinzuzufügen, daß die beiden Mädchen gelbe Hüte
trugen und rote Schuhe angezogen hatten, was von
ihnen nur bei beſonders feierlichem Anlaß getan wurde.
Die enge Wohnung des Schuſters war voller Gäfte,
es waren zum größten Teile deutſche Handwerker,
die ihre Frauen und ihre Geſellen mitgebracht hatten.
Die ruſſiſche Beamtenſchaft war durch einen Polizei⸗
wächter vertreten, den Finnländer Jurko, der, un⸗
geachtet ſeiner beſcheidenen Stellung, es dennoch ver⸗
ftanden hatte, das beſondere Wohlwollen des Haus:
herrn zu erringen. Mit Treu und Glauben, wie jener
Poſtillon des Pogorjelskij, verſah er ſchon fünf:
undzwanzig Jahre lang ſeinen Poſten. Als die Feuers⸗
brunſt des Jahres 1812 die Hauptſtadt vernichtete,
ging auch ſein erbärmliches Hüttchen mit drauf. Aber
50
Der Sargmacher
als der Feind vertrieben worden war, erſtand auf der
gleichen Stelle ein neues Häuschen, grau mit weißen
Kolonnen im doriſchen Stile, und ausgerüſtet mit
feiner „Hellebarde“ und dem „Panzer aus Bauern:
tuch“ ſchritt Jurko wiederum auf und ab davor. Die
meiſten Deutſchen, die in der Nähe des Nikitatores
wohnten, kannten ihn: manch einem von ihnen war
es bereits zugeſtoßen, die Nacht vom Sonntag auf
Montag bei Jurko verbringen zu müſſen. Adrian
ſchloß mit ihm, als mit einem Manne, den man früher
oder fpäfer doch nötig haben würde, ſogleich nähere
Bekanntſchaft, und ſetzte ſich, als die Gäſte darauf zu
Tiſch gebeten wurden, neben ihn. Herr und Frau
Schulz und ihre Tochter, das ſiebzehnjährige Lottchen,
ſpeiſten mit ihren Gäſten am gleichen Tiſche, bewir—
teten ſie eifrig und halfen gleichzeitig der Köchin auf—
tragen. Bier floß in Strömen. Jurko aß für vier,
und Adrian ſtand ihm in nichts nach, ſeine Töchter
jedoch zierten ſich; das in der Hauptſache deutſch ge—
führte Geſpräch wurde von Stunde zu Stunde ge—
räuſchvoller. Plötzlich bat der Hausherr um Auf—
merkſamkeit und rief, einer gut verſiegelten Flaſche
den Hals brechend, laut und in ruſſiſcher Sprache:
„Auf die Geſundheit meiner guten Luiſe!“ Der Halb—
champagner ſchäumte. Zärtlich drückte der Hausherr
einen Kuß auf das friſche Geſicht ſeiner vierzigjährigen
Freundin, und geräuſchvoll tranken die Gäſte auf die
Geſundheit der guten Luiſe. „Auf die Geſundheit
61
Die Erzählungen Bjelkins
meiner lieben Gäſte!“ rief der Hausherr und öffnete
die zweite Flaſche — und die Gäſte bedankten ſich,
indem ſie aufs neue ihre Becher leerten. Und nun
folgte eine Geſundheit der anderen; man trank auf
das Wohl eines jeden einzelnen der Gäſte, man trank
auf das Wohl Moskaus und eines ganzen Dutzends
deutſcher Städtchen, man trank auf das Wohl ſämt⸗
licher Innungen im allgemeinen und einer jeden ein—
zelnen im beſonderen, und man trank auf die Meiſter
und auf ihre Geſellen. Adrian trank mit großem Eifer
und war ſchließlich ſo luſtig geworden, daß er ſelber
einen ſcherzhaften Trinkſpruch ausbrachte. Zuguter⸗
letzt ſchwenkte einer der Gäſte, ein dicker Bäcker, ſeinen
Becher und ſchrie: „Die Geſundheit derer, für die wir
arbeiten, unſerer Kundleute!“ Freudig und einmütig,
wie alle zuvor, wurde auch dieſer Vorſchlag auf—
genommen. Die Gäſte verbeugten ſich voreinander,
der Schneider vor dem Schuſter, der Schuſter vor
dem Schneider, der Bäcker vor beiden, und alle anderen
vor dem Bäcker, und ſo ging es weiter. Und durch
den Wirbel dieſer allgemeinen Verbeugungen ſchrie
Jurko, ſich zu ſeinem Nachbarn wendend: „Nun,
und du? trink, Väterchen, auf die Geſundheit deiner
Toten!“ Die anderen brachen in ein Gelächter aus,
aber der Sargmacher, der ſich für gekränkt hielt, run⸗
zelte die Brauen. Allein niemand bemerkte es, die Gäſte
fuhren fort zu zechen, und erſt als die Abendglocken
zu läuten begannen, erhob man ſich vom Tiſch.
62
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S
Der Sargmacher
Es war ſchon ſpät, als die Gäfte gingen; die meiften
von ihnen waren angeheitert. Jurko wurde von dem
dicken Bäcker und einem Buchbinder, deſſen Antlitz
rötlich wie ein Saffianeinband glühte, unter den Armen
gefaßt und zu ſeinem Häuschen geſchleppt, wobei ſie
in die ſem Falle die Weisheit des ruſſiſchen Sprichwortes
befolgten: Schulden werden ſchön, wenn man ſie zahlt.
Betrunken und ärgerlich kam der Sargmacher nach
Hauſe. „Was ſoll das, wahrhaftig?“ ſprach er laut.
„Worin iſt mein Gewerbe weniger ehrenhaft als das
der anderen? Oder iſt der Sargmacher etwa ein Bru—
der des Henkers? Worüber lachten die Heiden? Es
war meine Abſicht, ſie zur Einweihung der neuen
Wohnung einzuladen und ein großes Gelage zu ver—
anſtalten, aber nichts dergleichen jetzt! Ich will die
einladen, für die ich arbeite: die rechtgläubigen Toten
will ich einladen.“ — „Was ſoll das, Väterchen?“
unterbrach ihn die Bedienerin, die ihm derweilen die
Stiefel auszog: „Was ſchwatzeſt du da? Bekreuzige
dich! Tote zur Einweihung der neuen Wohnung zu
laden! Hat man fo was gehört!“ — „So wahr mir
Gott helfe, ich will ſie einladen,“ fuhr Adrian ſort,
„und zwar ſchon auf morgen. Erweiſt mir die Ehre,
meine Wohltäter, und kommt morgen mich beſuchen;
ich will euch vorſetzen, was Gott beſcheert hat.“ Nach:
dem er dieſe Worte geſprochen, warf ſich der Sarg—
macher auf ſein Bett und ſchnarchte bald darauf.
Draußen war es noch ſtockdunkel, da wurde Adrian
2
63
Die Erzählungen Bjelfins
bereits wieder geweckt. Die Kaufmannsfrau Trju⸗
china war in der Nacht geſtorben, und ein Eilbote
ihres Verwalters überbrachte Adrian dieſe Nachricht.
Der Sargmacher gab ihm ein Zehnkopekenſtück als
Trinkgeld, zog ſich in aller Eile an, nahm eine Droſchke
und begab ſich dorthin. Vor dem Tore hielt die Po-
lizei Wache, und wie Krähen, die einen Leichnam
ſpüren, ſchritten Händler auf und ab davor. Gelb wie
Wachs, wenn auch noch nicht von der Verweſung ver—
unſtaltet, lag der Körper der Verſtorbenen auf einem
Tiſch aufgebahrt. Die Verwandten, die Nachbarn
und das Geſinde ſcharten ſich im Kreiſe. Alle Fenſter
waren geöffnet, Kerzen flackerten, und Prieſter ſprachen
ihre Gebete. Adrian näherte ſich dem Neffen der Trju⸗
china, einem jungen Kaufmann in einem eleganten
Gehrock nach der Mode, und benachrichtigte ihn, daß
der Sarg, die Kerzen, der Überzug und all die anderen
zum Leichenbegängnis notwendigen Gegenſtände von
ihm ſogleich, und zwar mit der peinlichſten Genauig⸗
keit, herbeigeſchafft werden würden. Der Erbe dankte
ihm ein wenig zerſtreut und warf hin, daß er wegen des
Preiſes nicht feilſchen wolle, ſondern daß er ſich in allem
auf ſeine Rechtſchaffenheit verlaſſe. Der Sargmacher
rief daraufhin, wie er dies immer tat, Gott zum Zeu⸗
gen an, daß er nichts Überflüffiges berechnen würde,
tauſchte aber gleichzeitig einen bedeutungsvollen Blick
mit dem Verwalter und eilte dann fort, alles zu be⸗
ſorgen. Der ganze Tag verging, indem er raſtlos
64
Der Sargmader
von jenem Stadtteil zur Nikitapforte hin und her fuhr,
gegen Abend aber war endlich alles erledigt, und er
begab ſich, nachdem er den Kutſcher bezahlt, zu Fuß
nach Hauſe. Die Nacht war mondhell. Ungefährdet
erreichte der Sargmacher das Nikitator. An der
Himmelfahrtskirche rief ihn der uns bereits bekannte
Jurko an, aber als er den Sargmacher erkannte,
wünſchte er ihm nur eine geruhſame Nacht. Es war
ſchon ziemlich ſpät. Der Sargmacher näherte ſich be-
reits ſeinem Hauſe, da war ihm plötzlich, als ſähe er
jemand durch das Tor treten, die Türe öffnen und im
Innern verſchwinden. „Was ſoll denn das nun
wieder?“ überlegte Adrian. „Hat ſchon wieder jemand
etwas von mir nötig? Oder ſchlich ſich ein Dieb ein?
Oder am Ende Galane, die ſich zu meinen När⸗
rinnen ſtehlen? Jedenfalls nichts Gutes!“ Und ſchon
wollte der Sargmacher ſeinen Freund Jurko zu Hilfe
rufen. Aber in dem Augenblick näherte ſich wieder
einer dem Tor und ſchickte ſich an, hineinzugehen,
blieb jedoch, als er den herbeieilenden Hausherrn
wahrnahm, ſtehen und lüftete den Dreiſpitz. Das Ge⸗
ſicht kam Adrian bekannt vor, obwohl er in ſeiner
Haſt unterließ, ſich die Züge genauer anzuſehen. „Sie
geruhten, mich aufzuſuchen,“ ſtieß Adrian noch atem—
los hervor, „erweiſen Sie mir doch die Ehre und
treten Sie näher.“ — „Keine Umſtände, mein Väter⸗
chen“, erwiderte jener dumpf. „Geh nur voran und
zeige den Gäſten den Weg!“ Adrian hatte auch gar
5
P. 1
65%
Die Erzählungen Bjelkins
nicht die Abſicht, Umſtände zu machen. Die Tür ſtand
offen, er ſchritt die paar Stufen hinan, und jener
folgte ihm. Adrian ſchien es dabei, als höre er Men⸗
ſchen in ſeiner Wohnung auf und ab gehen. „Was
für ein Teufelsſpuk!“ dachte er und beeilte ſich einzu⸗
treten ... aber da verſagten ihm die Beine den Dienſt.
Das Zimmer war voll von Toten. Der Mond ſchien
durchs Fenſter auf gelbe und bläuliche Geſichter, er
zeigte klaffende Münder, gebrochene Augen und ſpitzige
Naſen ... Und mit Entſetzen erkannte Adrian eben
jene in ihnen, die vermittels feiner Bemühungen Бе:
erdigt worden waren; der Gaſt aber, der mit ihm
gleichzeitig eingetreten, war jener Brigadier, der
während des Platzregens beſtattet worden war. Mit
Verbeugungen und Begrüßungen umringten ſie alle,
Frauen ſowohl wie Männer, den Sargmacher, und
nur ein allerärmſter, der kürzlich umſonſt beerdigt
worden war, ſtand zerknirſcht und ſich ſeines Hemdes
ſchämend, demütig in einer Ecke und näherte ſich nicht.
Die anderen waren alle mit großem Anſtand gekleidet:
die Frauenleichname trugen Häubchen und Bänder, die
verſtorbenen Beamten hatten ihre Uniform an, freilich
waren ihre Bärte ungepflegt, die toten Kaufleute aber
wandelten in ihren Feiertagskaftanen. „Siehſt du,
Prochorow,“ redete ihn der Brigadier im Namen der
ganzen reſpektablen Geſellſchaft an, „auf deine Ein⸗
ladung hin ſind wir alle gekommen, und nur die ſind
zu Hauſe geblieben, die ſchon gar nicht mehr konnten,
«66
Der Gargmader
die ſchon ganz und gar zerfallen find, und jene, die
nur noch aus Gerippe ohne Haut beſtehen; aber auch
von dieſen wollte einer nicht ſtill halten — ſo ſehr
verlangte es ihn danach, bei dir zu ſein ..“ Und in
dieſem Augenblick drängte ſich ein kleines Skelett durch
die Schar und näherte ſich Adrian. Sein Schädel grinſte
den Sargmacher liebenswürdig an. Fetzen hellgrünen
und roten Tuches und morſcher Leinwand baumelten
an ihm wie an einem Gerüſt, und die Beinknochen
ſchlotterten in den viel zu weiten Stulpenſtiefeln wie
eine Keule im Mörſer. „Du erkennſt mich nicht mehr,
Prochorow“, ſagte das Skelett. „Aber erinnerſt du
dich nicht an den verabſchiedeten Gardeſergeanten Pjotr
Petrowitſch Kurilkin, an jenen, dem du noch im 179 er
Jahre deinen erſten Sarg verkaufteſt — und dazu
noch einen aus Fichtenholz ſtatt aus Eiche?“ Und mit
dieſen Worten wollte ihn der Tote in ſeine knöcherne
Umarmung ſchließen, aber da nahm Adrian all ſeine
Kraft zuſammen, ſchrie auf und ſtieß ihn fort. Pjotr
Petrowitſch taumelte, fiel und war auf einmal ganz
und gar zerfallen. Ein unwilliges Gemurmel erhob
ſich unter den Toten; alle traten für die Ehre ihres
Kameraden ein, und rückten Adrian mit Scheltworten
und Drohungen zu Leibe, der arme Hausherr aber,
betäubt von ihrem Schreien und faſt zerquetſcht,
war wie von Sinnen, fiel über die Knochen des
verabſchiedeten Gardeſergeanten und verlor das Зе:
wußtſein.
67
Die Erzählungen Bjelkins
Die Sonne ſchien ſchon lange auf das Bett, in dem
unſer Sargmacher lag. Endlich öffnete er die Augen
und erblickte die Bedienerin vor ſich, die damit be-
ſchäftigt war, den Sſamowar anzufachen. Voller
Grauen gedachte Adrian der geſtrigen Erlebniffe.
Dunkel kam ihm die Erinnerung an die Trjuchina,
an den Brigadier und an Kurilkin, den Sergeanten.
Er ſchwieg und wartete darauf, daß die Bedienerin
zu ſprechen anfange und ihm von den Folgen des
nächtlichen Abenteuers erzähle.
„Väterchen Adrian Prochorowitſch, du haſt dich
aber verſchlafen“, ſagte Axinja und reichte ihm feinen
Schlafrock. „Der Nachbar, der Schneider, kam vorüber,
und der Polizeiwächter kam mit der Nachricht, daß
heute der Namenstag des Revier aufſehers ſei, aber
du ſchliefſt in einem fort, und wir wollten dich nicht
wecken.“
„Und von der verſtorbenen Trjuchina, iſt da jemand
gekommen?“
„Von der verſtorbenen? Ja, iſt ſie denn geſtorben?“
„Närrin! Als ob nicht du mir geſtern geholfen hätteſt,
alles zu ihrer Beerdigung vorzubereiten?“
„Was ſoll denn das, Väterchen, haſt du wohl gar
den Verſtand verloren, oder iſt der geſtrige Rauſch
immer noch nicht vergangen? Was für eine Beerdi⸗
gung war denn geſtern? Den ganzen Tag über zechteſt
du bei dem Deutſchen, kamſt betrunken nach Hauſe
und fielſt geradezu ins Bett und haſt bis zu dieſer
68
Der Sargmader
Stunde durchgeſchlafen, da doch ſchon die Glocken
das Ende des Mittagsgottesdienſtes geläutet haben.“
„Was du nicht ſagſt!“ meinte erfreut der Sarg⸗
macher.
„Freilich, freilich“, entgegnete die Bedienerin.
„Nun, wenn ſich das ſo verhält, dann ſchneller her
mit dem Tee und ruf meine Töchter.“
Der Poſthalter
Zwar nur Kollegienregiſtrator,
Doch in der Poſtſtation Diktator.
Fürſt Wjaſemskij
Wer von uns hat noch nie die Poſthalter ver—
wünſcht, wer von uns noch nie mit ihnen gehadert?
Wer von uns hat in den Augenblicken des Зог:
nes ihnen noch nicht jenes ſchickſalvolle Buch ab⸗
gefordert, um feine völlig nußlofe Klage über aller⸗
hand Bedrückungen, Grobheit und Unzuverläſſigkeit
hineinzuſchreiben? Und wer endlich hat ſie nicht für
den Abſchaum des Menſchengeſchlechtes gehalten, zu
vergleichen nur den Amtsſchreibern der alten Zeit,
oder zum mindeften den Räubern aus Murom? Allein
ſeien wir dieſes Mal gerecht und bemühen wir uns,
in ihre Lage einzudringen, um darauf ein bedeutend
gemäßigteres Urteil zu fällen. Was ſtellt eigentlich ſo
ein Poſthalter vor? Wahrhaftig, er iſt der Märtyrer
der vierzehnten Beamtenrangklaſſe, den ſein Titel
eigentlich vor nichts als vor Prügeln bewahrt, und
auch dieſes nicht einmal immer. (Ich appelliere hier⸗
bei an das Gewiſſen meiner Leſer.) Und welches iſt
wohl das Amt dieſes Diktators, wie ihn der Fürſt
Wjaſemskij zum Scherz benannt hat? Wahr und
wahrhaftig, iſt es nicht etwas in der Art eines Zucht⸗
hauſes? Keine Ruhe, weder bei Tag noch bei Nacht.
Aller Arger, der ſich im Reiſenden während der Dauer
70
Der Poſthalter
des langweiligen Wagenfahrens aufgefpeichert hat,
wird an dem Poſthalter ausgelaſſen. Ob das Wetter
ſchlecht, die Wege abſcheulich, der Kutſcher eigenſinnig,
oder ob die Pferde nicht laufen wollen — ſchuld an
allem ift der Poſthalter. Der Reiſende, der die dürf—
tige Behauſung betritt, ſieht ihn als ſeinen Feind an;
es ИЕ ein Glück für ihn, wenn es ihm gelingt, den ип:
gebetenen Gaſt ſchnell los zu werden; wie aber, wenn
er zufällig keine Pferde hat? .. Oh Gott! welche Be⸗
ſchimpfungen, welche Bedrohungen hageln dann auf
ſein Haupt herab! Trotz Regen und kotigen Straßen
iſt er gezwungen, von Hof zu Hof zu laufen; und
wie oft pflegt er bei Sturm oder beim tollſten Froſt
auf den Flur hinauszugehen, um nur vor den Schreien
und den Püffen des erbitterten Eindringlings Ruhe
zu haben. Und wenn erſt ein General kommt; zit⸗
ternd überläßt ihm der Poſthalter ſeine zwei letzten
Dreigeſpanne und darunter womöglich ſogar das für
die Kuriere beſtimmte. Der General reiſt ab, ohne ſich
zu bedanken. Nach fünf Minuten aber — Schlitten⸗
glöckchen! ... und ſchon tritt ein Feldjäger herein,
der ihm feine Reiſeordre auf den Tiſch haut! ...
Überlegen wir ung das einmal gehörig und ſtatt Un—
willen zu empfinden, werden unſere Herzen ihn voll
aufrichtigen Mitgefühles beklagen. Noch einige Worte:
im Verlauf der letzten zwanzig Jahre durchſtreifte
ich Rußland nach allen Richtungen; faſt alle Poft:
ſtraßen habe ich befahren; mehrere Geſchlechter von
71
Die Erzählungen Bjelkins
Kutſchern ſind mir bekannt geworden; es dürfte nur
wenige Poſthalter geben, die ich nicht geſehen, nur
wenige, mit denen ich nicht zu tun gehabt hätte; den
erſtaunlichen Vorrat meiner Reiſeerinnerungen hoffe
ich in abſehbarer Zeit herausgeben zu können; für
dieſes Mal will ich mich darauf beſchränken zu ſagen,
daß bisher das Amt des Poſthalters der Allgemein⸗
heit völlig verkehrt geſchildert worden iſt. Denn dieſe
ſo verleumdeten Poſthalter ſind durchweg friedliche
Menſchen, von Haus aus dienſtfertig, menſchenliebend,
beſcheiden in ihrem Ehrgeiz und keineswegs zu hab⸗
gierig. Aus ihrer Unterhaltung (die ſo häufig von
den Herren Durchreiſenden gering geſchätzt wird) kann
man viel Merkwürdiges und Belehrendes ſchöpfen.
Was mich perſönlich anbelangt, ſo muß ich geſtehen,
daß ich die Unterhaltung mit ihnen durchaus dem Ge⸗
ſpräch mit irgendeinem Beamten der ſechſten Rang⸗
klaſſe, der in Staatsdienſten reiſt, vorzuziehen ge⸗
neigt bin. |
Ein jeder kann leicht erraten, daß ich unter dieſem
allerehrenwerten Stande der Poſthalter einige Freunde
habe. Und in der Tat, ſo iſt es, das Andenken eines
von ihnen iſt mir auf immer teuer. Die Umſtände
brachten uns einmal zuſammen, und ich habe jetzt die
Abſicht, den freundlichen Leſern von ihm zu erzählen.
Es war im Jahre 1816 im Monat Mal, als ich
im .. . ſchen Gouvernement auf einer Poſtſtraße, die
heuer aufgelaſſen worden iſt, zu fahren hatte. Ich
72
Der Poſt halter
war damals ein kleiner Beamter, benutzte die gewöhn⸗
liche Poſt und konnte für nicht mehr als für zwei
Pferde zahlen. Die Poſthalter kümmerten ſich infolge—
deſſen nicht ſehr um mich, und wie häufig mußte ich
mir mit den Fäuſten das erkämpfen, was mir meiner
Anſicht nach mit Recht und Billigkeit zuſtand. Da
ich damals noch jung und leicht erregbar war, ſchalt
ich häufig über die Niedrigkeit und Engherzigkeit des
Poſthalters, wenn dieſer letztere das für mich bereif:
geſtellte Dreigeſpann vor den Wagen eines höheren
Beamten ſpannen ließ. Freilich hat es ebenſolange
gedauert, ehe ich mich daran zu gewöhnen vermochte,
daß ein allzu wähleriſcher Diener mich während des
Diners beim Gouverneur bei einem Gang überging.
Jetzt allerdings ſcheint mir ſowohl das eine wie das
andere in der Natur der Sache zu liegen. Denn in
der Tat, was würde wohl aus uns werden, wenn
ſtatt der allgemeinen und bequemen Regel: der höhere
Rang hat den Vorrang, etwa ein anderes zum all—
gemeinen Gebrauch erhoben würde, wie zum Beiſpiel:
der größere Verſtand hat den Vorrang? Welche Strei—
tigkeiten müßten hieraus entſtehen! Und bei wem
würden wohl die Diener mit dem Servieren beginnen?
Aber ich wende mich wieder meiner Erzählung zu.
Es war ein heißer Tag. Wir hatten noch drei Werft
bis zur Station“ , als es zu tröpfeln begann, und
nach einer weiteren Minute hatte mich ein Platzregen
bereits durch und durch durchnäßt. Als wir endlich
73
Die Erzählungen Bjelkins
. anlangfen, war es mein erſtes, mich möglichſt ſchnell
umzuziehen, darauf beſtellte ich mir einen Tee. „He,
Dunja!“ ſchrie der Poſthalter: „Schnell den ©{а:
mowar her, und hol Rahm.“ Bei dieſen Worten trat
ein vierzehnjähriges Mädchen hinter der ſpaniſchen
Wand hervor und lief auf den Flur. Ihre Schönheit
überraſchte mich. „Iſt das deine Tochter?“ fragte
ich den Poſthalter. — „Freilich iſt es meine Tochter,“
erwiderte er mit der Miene zufriedenen Selbſtgefühles:
„Und ſo verſtändig iſt ſie, ſo flink, ganz wie die ver⸗
ftorbene Mutter.“ Er machte ſich daran, meine Reife:
ordre in ſein Buch zu ſchreiben, ich aber beſchäftigte
mich derweilen mit dem Betrachten der Bilder, die
ſeine beſcheidene, aber ſaubere Behauſung ſchmückten.
Sie ſtellten die Geſchichte des verlorenen Sohnes dar;
auf dem erſten Bild ſah man einen ehrwürdigen Greis
mit Schlafrock und Schlafmütze den ruheloſen Jüng⸗
ling ziehen laſſen, der nur noch in aller Eile den väter⸗
lichen Segen und den Beutel mit dem Golde entgegen⸗
nahm. Das zweite Bild ſtellte in grellen Farben das
laſterhafte Verhalten des jungen Menſchen dar; er
tafelte, umgeben von lügneriſchen Freunden und ſcham⸗
loſen Weibern. Auf einem weiteren Bilde war zu ſehen,
wie der ruinierte Jüngling in grober Gewandung,
einen Dreiſpitz auf dem Haupt, die Schweine hütete
und das Futter mit ihnen teilte; tiefe Trauer und Reue
waren auf ſeinem Geſicht zu leſen. Und ſchließlich gab
es dann noch die Rückkunft zu ſeinem Vater: immer
74
Der Poſthalter
noch in der gleichen Nachtmütze und vom gleichen
Schlafrock bekleidet, eilte der gute Alte ihm entgegen;
der verlorene Sohn lag auf den Knien; auf dem
Hintergrunde des Bildes ſah man den Koch ein ge—
mäftetes Kalb ſchlachten und den älteſten Bruder die
Diener über die Urſache des Freudenfeſtes befragen.
Unter einem jeden der Bilder las ich die dazu paffen:
den deutſchen Verſe. Bis zum heutigen Tage hat ſich
dieſes in meiner Erinnerung erhalten, genau ſo wie die
Blumentöpfe mit den Balſaminen, und das Bett mit
dem bunten Vorhang und all die übrigen Gegenſtände,
die mich damals umgaben. Und als wäre es heute,
ſehe ich immer noch den Hausherrn vor mir, einen
Mann von fünfzig Jahren, friſch und rüſtig, im
langen grünen Leibrock mit den drei Medaillen an den
verblichenen Ordensbändchen.
Ich hatte meine Rechnung mit meinem alten Kutſcher
noch nicht ausgeglichen, da kehrte Dunja bereits mit
dem Sſamowar zurück. Die kleine Kokette bemerkte
ſchon beim zweiten Blick den Eindruck, den ſie auf
mich gemacht hatte; ſie ſchlug die großen blauen Augen
nieder; ich zog fie ins Gefpräch; fie antwortete mir wie
ein Mädchen, das ſchon aller hand von der Welt де:
ſehen hat, ohne jede Scheu. Ich machte ihrem Vater
den Vorſchlag, ein Glas Punſch mit mir zu trinken;
Dunja dagegen bot ich eine Taſſe Tee an, und ſo
kamen wir nach und nach zu dritt ins Geſpräch, als
wären wir bereits ſeit Ewigkeit bekannt.
75
Die Erzählungen Bjelkins
Längſt warteten die Pferde auf mich, aber immer
noch wollte ich mich vom Poſthalter und ſeiner Tochter
nicht trennen. Endlich ſchieden wir. Der Vater wünſchte
mir eine gute Reiſe und die Tochter wollte mir bis
zum Wagen das Geleit geben. Ich blieb auf dem Flur
ſtehen und bat um Erlaubnis, ihr einen Kuß geben
zu dürfen; Dunja willigte ein... Wie viele Küſſe
könnte ich aufzählen,
„(ей ich mit derlei mich befaſſe“,
doch hat nicht einer von allen eine ſo lange und ſo
angenehme Erinnerung in mir zurückgelaſſen.
Einige Jahre vergingen, und wieder einmal führten
mich die Umſtände auf der gleichen Poſtſtraße durch
die gleichen Ortſchaften. Ich gedachte der Tochter des
alten Poſthalters und freute mich bei dem Gedanken,
ſie wiederzuſehen. Freilich — dachte ich — kann es
leicht möglich ſein, daß der alte Poſthalter bereits ab⸗
geſetzt iſt, und vermutlich hat ſich Dunja derweilen
verheiratet. Auch ſchoß mir der Gedanke an den Tod
des einen oder des andern durch den Kopf, und frau:
rige Vorgefühle waren es, mit denen ich mich der
Poſtſtation näherte. Endlich hielten meine Pferde vor
dem Poſthäuschen. Als ich das Zimmer betrat, er—
kannte ich ſogleich die Bilder, welche die Geſchichte des
verlorenen Sohnes darſtellten, wieder; der Tiſch und
das Bett befanden ſich immer noch am gleichen Platz,
aber keine Blumen ſchmückten mehr die Fenſter, und
ringsum ſprach alles von Hinfälligkeit und Unacht⸗
76
ntpſsiĩ tts — r h
Der Poftbalter
ſamkeit Der Poſthalter ſchlief, von ſeinem Schafspelz
zugedeckt; meine Ankunft weckte ihn und er erhob
ſich ... Ja, es war Sſimeon Wyrin, aber wie ſehr
hatte er inzwiſchen gealtert! Während er ſich anſchickte,
meine Reiſeordre zu kopieren, betrachtete ich ſein graues
Haar, die tiefen Runzeln auf dem ſchon ſeit langer Zeit
nicht mehr raſierten Geſicht und den gebückten Rücken
— ich konnte mich nicht genugſam darüber wun—
dern, wie ſchnell die drei, vier Jahre vermocht hatten,
den rüſtigen Mann in einen ſiechen Greis umzuwan—
deln. „Haſt du mich nicht wieder erkannt?“ fragte ich
ihn: „Wir beide find doch alte Bekannte.“ — „Kann
fein,“ entgegnete er rauh: „Dies iſt eine große Straße;
viele Durchreiſende find hier ſchon vorüber gekom—
men.“ — „Und deine Dunja, ift Пе geſund?“ fuhr
ich fort. Das Geſicht des Alten verfinſterte ſich. „Gott
weiß,“ entgegnete er. — „Dann hat ſie ſich wohl
verheiratet?“ meinte ich. Aber der Alte gab ſich den
Anſchein, meine Frage überhört zu haben, und fuhr
murmelnd fort, meine Reiſeordre zu entziffern. Ich
ſtellte mein Fragen ein und bat um Tee. Die Neu—
gierde plagte mich ſehr, und ich hoffte nur das eine,
daß vielleicht der Punſch die Zunge meines alten Be—
kannten löſen würde.
Ich täuſchte mich nicht: der Alte lehnte das an—
gebotene Glas nicht ab. Ich konnte nur zu bald be—
merken, daß der Rum ſeine Finſterkeit ſchwinden
machte. Bereits beim zweiten Glaſe wurde er ge—
77
Die Erzählungen Bjelkins
ſprächig und jetzt erinnerte er ſich auch meiner, oder
gab ſich zum mindeſten den Anſchein, ſich meiner zu
erinnern, und ſo erfuhr ich denn von ihm jene Ge⸗
ſchichte, die mich damals ungewöhnlich beſchäftigte
und rührte.
„Sie haben alſo meine Dunja gekannt?“ begann
er: „Wer hat ſie nicht gekannt. Ach, Dunja, Dunja!
War das ein Mädel! Wer immer hier des Weges
vorüber kam, ein jeder lobte, keiner tadelte. Die Damen
ſchenkten ihr Spitzentücher und Ohrringe. Die durch—
reiſenden Herren aber machten unter dem Vorwande,
zu Mittag oder zu Abend ſpeiſen zu wollen, häufig
halt, geſchah es auch meiſt nur aus dem Grunde, um
meine Tochter länger anſchauen zu können. Und
wie zornig manch einer der Herren manchmal auch
war, er wurde, wenn er ſie erblickte, ſtill und ſprach
mit mir im gnädigſten Tone. Ob Sie es glauben oder
nicht: ſogar die Kuriere und Feldjäger verplauderten
oft halbe Stunden mit ihr. Sie war die Stütze des
Hauſes; was auch zu richten und zu machen war, ihr
ging alles von der Hand. Und ich alter Narr konnte
mich nicht ſatt an ihr ſehen, nicht ſatt freuen konnte
ich mich an ihr; hab ich meine Dunja etwa nicht ge⸗
nügend gern gehabt, hab ich mein Kindchen vielleicht
zu wenig verwöhnt, war es vielleicht kein gutes Leben,
das ſie bei mir hatte? Aber nein, man ſoll das Un⸗
glück nicht ver ſchwören: was fein ſoll, dem entrinnt
keiner.“ Und nun erzählte er mir die Geſchichte ſeines
78
— » > rt ларибик —
Der Poſthalter
Kummers mit allen Einzelheiten. Es mochte drei Jahre
her fein, da fuhr an einem Winterabend, als der Рой:
halter ſich gerade ein neues Buch zurecht linierte und
ſeine Tochter ſich hinter der ſpaniſchen Wand ein Kleid
nähte, ein Dreigeſpann vor, und ein Reiſender im
Militärmantel, eine tſcherkeſſiſche Mütze auf dem Kopf,
trat, vom Shawl dicht verhüllt, ins Zimmer und ver⸗
langte Pferde. Aber alle Pferde waren unterwegs.
Der Reiſende erhob bei dieſer Auskunft nicht nur ſeine
Stimme, ſondern auch ſeine Peitſche; Dunja aber,
die an dergleichen Auftritte gewöhnt war, eilte aus
ihrem Verſchlag und wandte ſich mit der freundlichen
Frage an ihn: „Ob es ihm nicht beliebe, irgend etwas
zu ſpeiſen?“ Dunjas Erſcheinen übte die gewohnte
Wirkung aus. Der Zorn des Reiſenden verflog; er
erklärte ſich einverſtanden, auf die Pferde zu warten,
und beſtellte ein Abendeſſen. Er warf ſeine naſſe zottige
Mütze ab, wickelte ſich aus dem Shawl und ſtreifte
den Mantel ab, und plötzlich kam ein junger ſchlanker
Huſar mit einem ſchwarzen Schnurrbärtchen zum
Vorſchein. Er richtete ſich beim Poſthalter häuslich
ein und begann mit ihm und ſeiner Tochter ein heiteres
Geſpräch. Bald darauf kam das Abendeſſen. In:
zwiſchen kehrten auch die Pferde wieder heim, und der
Poſthalter befahl, ſie augenblicks, ohne ihnen erſt Futter
zu geben, an den Wagen des Reiſenden zu ſpannen;
als er aber wieder ins Haus trat, ſah er den jungen
Mann faſt beſinnungslos auf einer Bank Педей: ihm
79
Die Erzählungen Bjelkins
war übel, der Kopf tat ihm weh, und in dieſem Зи:
ſtand weiterzureiſen, war für ihn unmöglich... Was
tun! Der Poſthalter trat ihm das eigene Bett ab und
es wurde beſchloſſen, daß man, wenn es dem Kranken
nicht beſſer ginge, am Morgen des andern Tages
nach ©... ſchicken wollte, um den Arzt von dort
zu holen.
Tags darauf fühlte ſich der Huſar ſchlechter. Sein
Diener ritt zur Stadt, den Arzt zu holen. Dunja wickelte
ihm ein mit Eſſig getränktes Tuch um den Kopf und
nahm mit ihrer Näharbeit neben ſeinem Lager Platz.
Wenn der Poſthalter zugegen war, ſtöhnte der Kranke
beträchtlich und konnte kaum ein Wort hervorbringen,
trank aber zum Frühſtück zwei Schalen Kaffee und
beſtellte ſich ächzend das Mittageſſen. Dunja wich nicht
von ſeiner Seite. Es verging keine Minute, in der er
ſie nicht darum gebeten hätte, ihm zu trinken zu geben,
und jedesmal brachte ihm Dunja den Krug mit der
Limonade, die ſie für ihn zubereitet hatte. Der Kranke
benetzte die Lippen und drückte, wenn ег den Krug zu: `
rückgab, zum Zeichen der Dankbarkeit mit ſchwacher
Hand Dunjas Hand. Als die Stunde des Mittag⸗
eſſens herankam, erſchien der Arzt. Er fühlte dem
Kranken den Puls und fprach darauf einige Zeit hin⸗
durch in deutſcher Sprache mit ihm. Ruſſiſch fügte er
hinzu, daß ihm nichts als Ruhe not täte, und daß er
ſich nach zwei Tagen bereits wieder auf den Weg
machen könnte. Der Huſar händigte ihm für den
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Der Poſthalter
Krankenbeſuch fünfundzwanzig Rubel ein und lud ihn
ein, mit ihm zu Mittag zu ſpeiſen. Der Arzt willigte ein;
beide ſpeiſten mit großem Appetit, tranken eine Flaſche
Wein und ſchieden im beſten Einvernehmen voneinander.
Ein weiterer Tag verging, und unſer Huſar wurde
immer lebendiger. Seine Laune war außergewöhn—
lich gut, er ſcherzte ohne Unterlaß bald mit Dunja
und bald wieder mit dem Poſthalter. Er pfiff, er
unterhielt ſich mit den Durchreiſenden, er trug ihre
Reiſeordres in das Poſtbuch ein und ſtahl ſich der⸗
maßen in das Herz des rechtſchaffenen Poſthalters, daß
es dieſem am dritten Morgen geradezu leid tat, ſich
von dem liebenswerten Gaſt zu trennen. Es war ein
Sonntag; Dunja ging gerade zur Meſſe. Der
Wagen des Huſaren fuhr vor. Er nahm vom Poſt—
halter Abſchied, nachdem er ihn zuvor für Aufenthalt
und Verköſtigung reich entlohnt hatte. Als er von
Dunja Abſchied nahm, ſchlug er ihr vor, ſie bis zur
Kirche zu fahren, die ſich am äußerſten Rande des
Dörfchens befand. Dunja war unſchlüſſig ... „Wo⸗
vor fürchteſt du dich?“ fragte der Vater. „Seine
Hochwohlgeboren iſt doch kein Wolf und wird dich
nicht freſſen; fahr du nur ruhig mit ihm zur Kirche.“
Dunja nahm im Wagen neben dem Huſaren Platz,
der Diener ſprang auf den Bock, der Kutſcher pfiff
und die Pferde zogen an.
Der arme Poſthalter konnte nicht begreifen, wie es
möglich geweſen, daß er ſelber ſeiner Dunja erlaubt
P. 1 6
81
Die Erzählungen Bjelkins
hatte, mit dem Huſaren zu fahren, und aus welchem
Anlaß er ſo mit Blindheit geſchlagen worden war,
und was damals wohl mit ſeinem Verſtande geſchehen
fei? Es verging keine halbe Stunde, da fing es in feinem
Herzen zu bohren an und nach und nach ergriff Unruhe
ſo ſehr Beſitz von ihm, daß er es nicht länger aushielt
und ſelber in die Meſſe lief. Als er ſich der Kirche
näherte, bemerkte er, daß alle Leute bereits fortg ingen,
Dunja aber war weder innerhalb der Kirchenmauern
noch vor der Kirche zu erblicken. Er eilte in die Kirche:
der Prieſter verließ gerade den Altar, der Mesner
blies die Kerzen aus; zwei alte Frauen beteten in einer
Ecke, allein Dunja war auch in der Kirche nicht zu
gewahren; der arme Vater brachte es über ſich, den
Mesner zu fragen, ob fie wohl zur Meſſe gekommen
ſei? Der Mesner antwortete, fie fei nicht dageweſen.
Halbtot kam der Poſthalter nach Hauſe. Eine einzige
Hoffnung war ihm geblieben: es konnte immerhin
möglich ſein, daß Dunja aus jugendlichem Leichtſinn
beſchloſſen hatte, bis zur nächſten Poſtſtation mitzu⸗
fahren, wo ihre Taufpatin lebte. In qualvoller Er⸗
regung erwartete er die Zurückkunft des Dreigeſpanns,
mit dem er ſie hatte fortfahren laſſen. Aber der Kutſcher
wollte und wollte nicht wiederkommen. Endlich, als
es ſchon Abend geworden war, kehrte er allein und
betrunken zurück und überbrachte ihm die tödliche
Mitteilung: „Dunja iſt von jener Poſtſtation aus
mit dem Huſaren weitergefahren.“
82
Der Poſthalter
Die ſer Schlag war für den Alten zu ſchwer: er
mußte ſich auf der Stelle ins Bett legen, und zwar
in das gleiche Bett, in dem noch in der Nacht zuvor
der junge Betrüger gelegen hatte. Jetzt erſt erriet der
Poſthalter, nachdem er alle Umſtände im Geiſt an ſich
vorüberziehen ließ, daß jene Krankheit nur erheuchelt
war. Lange lag der Armſte an heftigem Fieber dar⸗
nieder: man transportierte ihn nach © ..., an feine
Stelle trat zeitweilig ein anderer. Zufällig kurierte ihn
der gleiche Arzt, der zu dem Huſaren gerufen worden
war. Er beteuerte dem Poſthalter, der junge Mann
ſei damals ganz geſund geweſen, er, der Arzt, hätte
freilich ſchon damals feine böswillige Abſicht erraten
und nur aus Furcht vor der Knute geſchwiegen. Ob
nun der Deutſche die Wahrheit ſprach, oder ob er
nur mit ſeiner Weitſichtigkeit prahlte, auf jeden Fall
konnte ſeine Mitteilung dem armen Kranken keinen
Troſt bringen. Kaum daß er von ſeiner Krankheit
geneſen war, erbat ſich der Poſthalter von ſeinem
Vorgeſetzten einen achtwöchigen Urlaub und begab
ſich, ohne auch nur ein Wörtchen über ſeine Abſicht
zu verlieren, zu Fuß auf den Weg, um ſeine Tochter
wiederzufinden. Aus der Reiſeordre hatte er erſehen,
daß der Rittmeiſter Minskij von Smolensk nach Peters⸗
burg gereiſt war. Der Kutſcher, der ihn gefahren, hatte
ausgeſagt, Dunja habe den ganzen Weg über geweint,
obwohl es keineswegs den Eindruck gemacht hätte, daß
ſie nicht aus eigenem Antriebe mitführe. „Vielleicht,“
83
Die Erzählungen Bjelkins
dachte der Poſthalter, „vielleicht bringe ich mein ver⸗
irrtes Schäfchen dennoch wieder heim.“ Mit dieſem
Gedanken kam er in Petersburg an und fand Unter⸗
kunft im Hauſe eines verabſchiedeten Unteroffiziers,
der ſein alter Regimentskamerad war; von hier aus
machte er ſich auf die Suche. Er erfuhr nach kurzer
Zeit, daß der Rittmeiſter Minskij in Petersburg weile
und im Wirtshaus von Demuth wohne. Der Poft:
halter entſchloß ſich, ihn aufzuſuchen.
Es war eine frühe Morgenſtunde, als er das Bor:
zimmer betrat und die Bitte ausſprach, man möge
Seiner Hochwohlgeboren melden, ein alter Soldat
bäte darum, von ihm empfangen zu werden. Der
Burſche, der gerade die auf Leiſten geſchlagenen Stie⸗
fel putzte, erwiderte, daß ſein Herr noch ſchlafe, und
daß er vor elf Uhr niemand empfangen könnte. Der
Poſthalter ging fort und kehrte um die angegebene
Zeit wieder zurück. Und dieſes Mal kam Minskij im
Schlafrock und roter Mütze ſelber zu ihm heraus.
„Was willſt du, Bruder?“ fragte er. Das Herz des
alten Mannes kochte, Tränen traten ihm in die Augen,
und mit bebender Stimme rief er nichts als dies: „Euer
Hochwohlgeboren! ... erweiſen Sie mir die himmliſche
Gnade! ... Minskij ſah ihn flüchtig an, errötete tief,
packte ihn am Arm und zog ihn in ſein Kabinett, deſſen
Türe er hinter ſich ſchloß. „Euer Hochwohlgeboren!“
fuhr der Alte fort: „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen;
aber geben Sie mir wenigſtens meine arme Dunja
84
Der Poſthalter
wieder zurück. Sie haben ja genugſam Ihre Luſt an
ihr gehabt; ſtoßen Sie ſie nicht völlig ins Verderben.“
— „Was geſchehen ift, kann man nicht wieder rüd-
gängig machen,“ erwiderte der junge Mann in äußer⸗
ſter Verwirrung: „Ich trage eine große Schuld vor
dir und bin bereit, dich um Verzeihung zu bitten, aber
denke ja nicht, daß ich Dunja je verlaſſen könnte: ich
verſpreche dir mit meinem Ehrenwort, ſie glücklich zu
machen. Was willſt du von ihr? Sie liebt mich; ſie
wird ſich nie mehr in ihre vorherige Lage zurüͤckfinden
können. Und weder du noch ſie, keines von euch wird
je vergeſſen können, was geſchehen iſt.“ Er ſtopfte ihm
darauf etwas hinter den Armelaufſchlag, öffnete die Tür
und ſogleich befand ſich der Poſthalter, er wußte ſelber
nicht wie, auf der Straße.
Lange ſtand er dort regungslos. Endlich bemerkte
er zuſammengefaltetes Papier in ſeinem Armelauf⸗
ſchlag; er nahm es heraus, glättete es und erkannte
einige zerknüllte Fünfzig⸗Rubelſcheine. Tränen traten
wiederum in ſeine Augen, freilich dieſes Mal Tränen
des Unwillens! Er ballte die Papiere in ſeiner Fauſt
zuſammen, warf fie zu Boden, ſtampfte mit dem Ab⸗
Гав darauf und ging weiter ... Aber er ging nur
wenige Schritte, dann blieb er aufs neue ſtehen und
überlegte ... und kehrte zurück ... doch da waren
die Scheine bereits nicht mehr da. Ein gutgekleideter
junger Mann lief, als er ihn erblickte, zu einer
Droſchke, ſprang haſtig hinein und ſchrie: „Vor—
85
Die Erzählungen Bjelkins
wärts! ...“ Der Poſthalter dachte nicht daran, ihn
zu verfolgen. Er faßte den Entſchluß, wieder zu
ſeiner Poſtſtation heimzukehren, allerdings wollte er
vorher noch einmal ſeine arme Dunja wiederſehen.
Zu dieſem Zwecke ſuchte er nach zwei Tagen Minskij
noch einmal auf; doch deſſen Burſche ſagte ihm rauh,
daß ſein Herr niemand empfange, und drängte ihn
aus dem Vorzimmer, worauf er ihm die Türe vor
der Naſe zuſchlug. Der Poſthalter ſtand einige Zeit
vor der Türe und ging dann ſeines Weges.
Am Abend des gleichen Tages ſchritt er, nachdem er
einem Gottesdienſt in der „Aller-Betrübten: Zuflucht“
Kirche beigewohnt hatte, die Litejnajaſtraße entlang.
Plötzlich jagte eine elegante Equipage an ihm vor—
über, in welcher der Poſthalter Minskij ſitzen ſah.
Die Equipage hielt vor dem Eingang eines dreiſtöckigen
Hauſes, der Huſar eilte die Freitreppe hinan. Dem
Poſthalter kam ein glücklicher Gedanke. Er ſchritt
zurück und fragte den Kutſcher: „Weſſen Pferd iſt
das, Bruder?“ und fuhr fort: „Iſt es nicht Minskijs
Pferd?“ — „Freilich,“ entgegnete der Kutſcher:
„Willſt du was von ihm?“ — „Hör mal: dein Herr
hat mir befohlen, ſeiner Dunja ein Billett zu bringen,
und ich habe ganz vergeſſen, wo dieſe Dunja eigentlich
wohnt.“ — „Na hier doch, im zweiten Stock. Du
kommſt mit deinem Billett zu ſpät, Bruder; er iſt be-
reits bei ihr.“ — „Macht nichts,“ entgegnete der
Poſthalter, während ſein Herz unbeſchreiblich pochte:
86
Der Poſthalter
„Ich danke dir, daß du es mir geſagt Бай, ich will
trotzdem meinen Auftrag ausführen.“ Er ſchritt mit
dieſen Worten die Treppe hinan.
Die Tür war verſchloſſen; er läutete. Einige Se—
kunden verſtrichen in qualvoller Erwartung. Endlich
klirrte der Schlüſſel, man öffnete ihm. „Wohnt hier
Amdotja Sſimeonowna?“ fragte er. — „Sie wohnt
hier“, entgegnete eine jugendliche Zofe: „Was willſt
du von ihr?! Der Poſthalter ſprach kein Wort, ſondern
betrat ſtumm den Salon. „Das geht nicht; aus:
geſchloſſen!“ rief ihm die Zofe nach. „Awdotja Sfi:
meonorona hat Beſuch.“ Jedoch der Poſthalter hörte
nicht auf ſie, ſondern ſchritt ruhig weiter. Die beiden
erſten Zimmer waren dunkel, das dritte war er—
leuchtet. Er näherte ſich einer geöffneten Türe und
blieb ſtehen. Nachdenklich {аб Minskij in einem präch-
tig eingerichteten Gemach, Dunja aber ſaß, nach der
letzten Mode gekleidet, auf der Armlehne ſeines Seſſels,
wie eine Reiterin auf dem engliſchen Sattel. Ihre
Blicke ruhten voll Zärtlichkeit auf Minskij, und ſie
wickelte ſeine ſchwarzen Locken um ihre ſchimmernden
Finger. Armer Poſthalter! Noch niemals war ihm
feine Tochter fo ſchön erſchienen; er blieb unmillfür-
lich ſtehen, um den Anblick recht zu genießen. „Iſt
dort jemand?“ fragte ſie, ohne aufzuſehen. Er ſchwieg
noch immer. Dunja ſchaute, da ſie keine Antwort er—
hielt, auf .. . und fiel mit einem Schrei auf den Tep—
pich nieder. Der erſchreckte Minskij ſprang auf, um
87
Die Erzählungen Bjelkins
ſie aufzuheben, doch ließ er, als er den in der Türe
ſtehenden alten Poſthalter bemerkte, Dunja ſein und
trat zornbebend an ihn heran. „Was willſt du noch?“
ſprach er und knirſchte mit den Zähnen: „Warum
ſchleichſt du mir wie ein Räuber nach? Willſt du mich
vielleicht umbringen? Mach, daß du hinauskommſt!“
Mit dieſen Worten packte er den alten Mann mit ſtar⸗
Вет Arm am Kragen undſtieß ihn auf die Treppe hinaus.
Der Alte kam wieder in ſein Abſteigequartier. Der
Freund riet ihm, Klage zu führen, aber der Poſthalter
überlegte lange und entſchloß ſich zuletzt, es nicht
zu tun. Zwei Tage danach verließ er Petersburg und
kehrte wieder zu ſeiner Poſtſtation zurück, um dort
ſeine Tätigkeit von neuem aufzunehmen. „Es iſt jetzt
das dritte Jahr,“ mit dieſen Worten beſchloß er ſeine
Erzählung, „daß ich hier ohne Dunja lebe und von
ihr keinerlei Nachricht habe, Gott allein weiß, ob ſie
noch am Leben iſt. Es iſt alles möglich. Sie iſt nicht
die erſte und wird nicht die letzte ſein, die ſo ein durch⸗
reiſender Taugenichts verführt und mit ſich nimmt
und zum Schluß verſtößt. Viele ſolcher junger När⸗
rinnen gibt es in Petersburg. Heute gehen ſie in
Atlas und Samt, aber ſchon morgen kehren ſie die
Straße gemeinſam mit dem Abſchaum aus den Kneipen.
Und wenn ich dann zuweilen denke, daß auch Dunja
vielleicht auf die gleiche Weiſe zugrunde gehn wird,
begehe ich unwillkürlich die Sünde, ihr lieber das Grab
zu wünſchen ...“
88
Der Poſthalter
Dies war die Erzählung meines Freundes, des alten
Poſthalters, eine Erzählung gelegentlich von Tränen
unterbrochen, die er, wie der getreue Terentjitſch in
der ſchönen Ballade von Dmitrijew, maleriſch mit
ſeinem Rockſchoß trocknete. Zum Teil mochte aller—
dings wohl auch der Punſch an dieſen Tränen ſchuld
ſein, von dem er im Verlauf der Erzählung fünf
Gläſer zu ſich nahm; wie dem aber immer ſei, ſie
rührten mein Herz. Und als ich mich von ihm
trennte, konnte ich den alten Poſthalter lange nicht
vergeſſen und dachte noch lange an die arme Dunja
zurück
Kürzlich kam ich wieder einmal durch jenes Drt-
chen . .. und gedachte aufs neue meines Freundes;
aber man teilte mir mit, daß die Poſtſtation, auf der
er regiert hatte, jetzt aufgelaſſen worden ſei. Auf
meine Frage, ob der alte Poſthalter noch am Leben
ſei, konnte ich keine befriedigende Auskunft erhalten.
So beſchloß ich denn, die mir wohlbekannte Gegend
aufzuſuchen, mietete Pferde und begab mich zum
Dorf N.
Es war im Herbſt. Blaßgraue Wolken zogen am
Himmel; über die abgemähten Felder fegte ein kalter
Wind, der die roten und gelben Blätter von den
Bäumen ſchüttelte. Ich kam erſt um Gonnenunter-
gang im Dorf an und ſtieg im Poſthäuschen ab. Im
Flur (wo mich einſtmals die arme Dunja geküßt hatte)
kam mir ein dickes Weib entgegen und antwortete auf
89
Die Erzählungen Bjelkins
meine Frage, es ſei ſchon über ein Jahr her, daß der
alte Poſthalter geſtorben, und jetzt lebe ein Bierbrauer
in dem Haufe und fie ſelber wäre die Frau des ег:
brauers. Mir tat leid, daß meine Fahrt vergebens
geweſen, und daß ich ſieben Rubel zwecklos aus⸗
gegeben hatte. „Woran iſt er denn geſtorben?“ fragte
ich die Frau des Bierbrauers. — „Am Trunk, Vä⸗
terchen,“ entgegnete fie. — „Und wo hat man ihn
begraben?“ — „Hier ſelbſt auf dem Friedhof, neben
ſeiner verſtorbenen Frau.“ — „Wäre es möglich,
daß mich jemand zu dem Grabe führt?“ — „War:
um denn nicht? He, Wanjka! laß jetzt endlich die
Katze. Führ den gnädigen Herrn zum Friedhof und
zeig ihm das Grab des Poſthalters.“
Bei dieſen Worten lief ein abgeriſſener, rothaariger
und einäugiger Bub aus dem Zimmer und führte
mich ſchnurſtracks zum Friedhof.
„Haſt du den Verſtorbenen noch gekannt?“ fragte
ich ihn, während wir zum Friedhof gingen.
„Ob ich ihn gekannt habe! Er hat mich doch де:
lehrt, Rohrpfeifen ſchnitzen. Wenn er (Gott habe ihn
felig!) manchmal aus der Schenke kam, liefen wir
hinter ihm her und ſchrien: Großväterchen, Groß⸗
väterchen! Nüſſe!“ und immer ſchenkte er uns dann
Nüſſe. Immer ſpielte er mit uns.“
„Erinnern ſich eigentlich die Reiſenden noch ſeiner?“
„Jetzt gibt es wenig Reiſende; nur hier und da
kommt es vor, daß der Beiſitzer bei uns einkehrt, aber
90
Der Poſthalter
der kümmert ſich nicht um Tote. Neulich im Sommer
reiſte hier freilich eine Dame durch, die fragte nach
dem alten Poſthalter und hat dann auch ſein Grab
beſucht.“
„Was war das für eine Dame?“ fragte ich neugierig.
„Eine ſchöne Dame war es“, entgegnete der Bub:
„Sie reiſte in einem ſechsſpännigen Wagen, und drei
junge Herrchen und eine Amme und ein ſchwarzes
Hündchen waren mit ihr, doch als man ihr ſagte, daß
der alte Poſthalter geſtorben ſei, brach ſie in Tränen
aus und ſprach zu den Kindern: „Bleibt jetzt hier,
ich will derweilen zum Friedhof gehen.“ Ich wollte ſie
eigentlich hinführen, aber die Dame ſagte: „Ich kenne
den Weg.“ Und gab mir einen ſilbernen Fünfer ...
So eine gute Dame war das!“
Wir kamen zum Friedhof. Es war ein freier, von
keiner Mauer eingezäunter, von keinem Baum be—
ſchatteter Platz mit unzähligen Holzkreuzen. Noch nie
in meinem Leben hatte ich einen ſo traurigen Friedhof
geſehen.
„Hier iſt das Grab des alten Poſthalters“, ſagte
der Bub und ſprang auf einen Sandhügel, auf dem
ein ſchwarzes Kreuz mit einem kupfernen Heiligen:
bilde ragte.
„Und die Dame, kam ſie hierher?“ fragte ich.
„Sie kam hierher“, entgegnete Wanjka: „Ich be—
obachtete ſie von fern. Sie warf ſich nieder und blieb
lange liegen. Kurze Zeit danach ging die Dame ins
91
Die Erzählungen Bjelkins
Dorf, ließ den Prieſter holen und gab ihm Geld, und
dann fuhr ſie fort, nür aber hat ſie einen ſilbernen
Fünfer gegeben ... es war eine ausgezeichnete Dame!“
Auch ich gab dem Buben einen Fünfer und be⸗
dauerte nicht mehr, daß ich die Fahrt gemacht, noch
die ſieben Rubel, die ich dabei ausgegeben hatte.
Das Fräulein als Bäuerin
In allen Kleidungen gefällſt du, Seelchen, mir.
Bogdanowitſch у
а Petrowitſch Bereſtows Beſitzung lag in einem
der entfernteſten Gouvernements unferes Reiches. Er
war in feiner Jugend Gardeoffizier geweſen, hatte
zu Beginn des Jahres 1797 ſeinen Abſchied ge—
nommen und ſich ſogleich auf fein Dorf begeben,
von wo er ſeit der Zeit nicht wieder fortgekommen
war. Er hatte ein armes Edelfräulein geheiratet,
die bald darauf und gerade zu einer Zeit, da er
auf der Jagd war, im Wochenbette ſtarb. Die Be⸗
wirtſchaftung ſeines Gutes tröſtete ihn bald. Er er⸗
baute ſich ein Haus nach ſeinen eigenen Plänen,
errichtete eine Tuchfabrik, vermehrte feine Ein:
künfte und hielt ſich wahrhaftig für den klügſten
Menſchen im ganzen Ulmkreiſe, und feine Nachbarn,
die zu ihm reiſten und oft mit ihren ganzen Familien,
ja fogar mit ihren Hunden bei ihm logierfen, wider—
ſprachen ihm hierin nicht. An Wochentagen trug
er eine Plüfchjoppe, an Feiertagen zog er dagegen
einen Rock, der aus hausgefertigtem Tuch war, an,
und ſchrieb eigenhändig alle Ausgaben ins Buch ein;
außer den Senatsnachrichten kannte er keinerlei Lek⸗
türe. Man hatte ihn, obwohl er für ſtolz galt, all—⸗
gemein recht gern. Und nur Grigorij Iwanowitſch
95
Die Erzählungen Bjelfins
Muromskij, fein nächſter Nachbar, lebte ewig in Un⸗
frieden mit ihm. Dieſer war ein wahrhaft ruſſiſcher
Edelmann. Nachdem er in Moskau den größten Teil
ſeines Beſitztums verſchleudert hatte und zuguterletzt
Witwer geworden war, begab er ſich auf das letzte
Dorf, das ihm verblieben, und fuhr dort fort, Unfug
zu treiben, allerdings auf neue Weiſe. Er legte einen
engliſchen Garten an, der faſt ſeine geſamten ihm noch
verbliebenen Einkünfte verſchlang. Seine Stallknechte
kleidete er durchweg in der Art der engliſchen Jockeis.
Für feine Tochter engagierte er eine engliſche Haus:
dame. Seine Felder ließ er nach engliſcher Methode
bearbeiten,
„doch auf die fremde Art gedeiht kein Korn
in Rußland“,
und fo kam es denn, daß Grigorij Jwanowitſchs Ein:
künfte trotz der bedeutenden Verringerung der Aug:
gaben keineswegs zunahmen; er fand ſogar noch in
der Einöde neue Wege, um neue Schulden zu machen;
und dennoch galt er trotz alledem als ein keineswegs
dummer Menſch, war er doch der erſte aus der Schar
der Gutsbeſitzer dieſes Gouvernements geweſen, der
auf die Idee gekommen war, ſeine Beſitzung beim
Vormundſchaftsgericht zu verpfänden, was eine Sache
war, die zu der damaligen Zeit noch als außerordent⸗
lich verwickelt und verwegen galt. Freilich gab es auch
Menſchen, die ihn deswegen verurteilten, und unter
dieſen war Bereſtow wohl der ſtrengſte. Ein Haupt⸗
94
Das Fräulein als Bäuerin
zug feines Charakters war nämlich fein Haß gegen
alle Neuerungen. Es war ihm unmöglich, ſich der
Anglomanie ſeines Nachbarn gleichgültig gegenüber⸗
zuſtellen. Darum fand er in allem und jedem eine
Gelegenheit, jenen zu kritiſieren. So pflegte er zum
Beiſpiel, wenn er irgendeinem Gaſt ſeine Beſitzungen
zeigte, als Antwort auf das Lob, mit dem dieſer ſeine
wirtſchaftlichen Anordnungen bedachte, nicht ohne ein
liſtiges und ſpöttiſches Lächeln zu ſprechen: „Ja, ja!
es ИЕ bei mir anders als bei meinem Nachbarn Gri⸗
gorij Iwanowitſch. Warum ſich auf englifche Art
zugrunde richten! Wenn man auf ruſſiſche ſatt werden
kann.“ Dieſe und ähnliche Späße kamen, dank dem
Eifer der Nachbarn, Grigorij Iwanowitſch mit aller:
hand Ergänzungen und Erläuterungen zu Ohren. Der
Anglomane konnte genau ſo wenig Kritik ertragen
wie unſere Zeitungsſchreiber. Er wurde wütend und
nannte ſeinen Zoilus einen Bären und einen Finſter⸗
ling aus der Provinz.
Wie man ſieht, waren die Beziehungen zwiſchen
den beiden Gutsbeſitzern zugeſpitzt, da kam Bereſtows
Sohn zu ihm aufs Gut. Er hatte die... ſche Uni⸗
verſität abſolviert und beabſichtigte eigentlich, zum
Militär zu gehen; allein ſein Vater erlaubte ihm das
nicht. In Staatsdienſte zu treten behagte dem jungen
Mann nicht, denn hierfür fühlte er ſich völlig untaug⸗
lich. Keiner von beiden wollte dem andern nachgeben,
und ſo lebte denn unſer junger Alexej zunächſt das
95
Die Erzählungen Bjelkins
Leben eines Landedelmanns, ließ ſich jedoch für alle
Fälle bereits einen Schnurrbart wachſen.
Alexej war wahrhaftig ein braver Junge. Es wäre
in der Tat ſchade darum geweſen, wenn ſein ſchlanker
Körper niemals von einem Waffenrock eingeſchnürt
worden wäre, oder wenn er, ſtatt maleriſch hoch zu
Roß zu ſitzen, ſeine Jugend hätte über Kanzleipapieren
gebückt verbringen müſſen. Einſtimmig meinten auch
die Nachbarn, als ſie ihn auf den Treibjagden immer
als erſten voranſprengen ſahen, daß aus ihm niemals
ein brauchbarer Tiſchvorſteher werden könnte. Die
jungen Mädchen ſchauten ihm nach und verſchauten
ſich wohl auch an ihm: doch da Alexej wenig Auf:
merkſamkeit für fie hatte, entſchieden fie, daß der Grund
zu dieſer Gefühlloſigkeit offenbar in einer Liebes ſache
zu ſuchen ſei. Und allerdings ging die Abſchrift einer
Adreſſe von Hand zu Hand, die man auf einem ſeiner
Briefe gelefen hatte: „An Akulina Petrowna Фито:
kina zu Moskau, gegenüber dem Alexejewſchen Kloſter
im Hauſe des Kupferſchmiedes Sſaweljew, mit der
gehorſamſten Bitte, dieſen Brief zu übermitteln
an A. N. R.“
Keiner meiner Leſer, der nicht auf Gütern gelebt
hat, kann ſich jemals vorſtellen, wie hinreißend dieſe
Landfräulein find! Aufgewachſen in friſcher Luft, ег:
blüht im Schatten der Apfelbäume in ihren Gärten,
ſchöpfen ſie ihre Kenntniſſe der Welt und ihr Wiſſen
vom Leben einzig aus Büchern. Einſamkeit, Unge⸗
96
Das Fräulein als Bäuerin
zwungenheit und Lektüre entwickeln ſchon zeitig jene
Gefühle und Leidenſchaften in ihnen, die unſeren zer:
ſtreuten Schönen ewig unbekannt bleiben. Für ſolch
ein Fräulein iſt der Ton eines Glöckchens bereits ein
Ereignis; eine Reiſe in die nächſte Stadt wird als
Epoche des Lebens angeſehen, und der Beſuch eines
Gaſtes bleibt in langer und zuweilen auch in ewiger
Erinnerung. Es ſei freilich einem jeden unbenom—
men, über gewiſſe ihrer Eigenheiten zu ſpotten; aber
der Spott des oberflächlichen Beobachters, wie könnte
er je ihre weſentlichſten Vorzüge ſchmälern, von
denen die ins Auge fallendſten gewiß die Eigenart des
Charakters und die Selbſtändigkeit ſind (individualité),
ohne welche nach der Anſicht Jean Pauls keine menſch—
liche Würde beſtehen kann. Es mag ſein, daß die
Frauen der Hauptſtadt eine beſſere Erziehung genießen;
allein wie raſch ſchleifen die Gewohnheiten der Welt
den Charakter ab und bewirken, daß die Seelen genau
fo einförmig werden wie etwa der jeweilige Kopfputz.
Nicht zum Tadel ſagen wir das und nicht als Ver—
urteilung, jedoch nota nostra manet, um einen alter⸗
tümlichen Kommentator zu zitieren.
Es iſt ein leichtes, ſich vorzuſtellen, welchen Eindruck
Alexej im Kreiſe dieſer Fräuleins machen mußte. Er
war der erſte, der mit einer düſteren Miene als ein
Enttäuſchter vor ſie trat; er als erſter ſprach ihnen
von verlorenen Freuden und von ſeiner hingewelkten
Jugend; und trug er nicht überdies noch einen ſchwar—
P. 1 7
97
Die Erzählungen Bjelkins
zen Ring mit der Abbildung eines Totenkopfes? All
das war in jenem Gouvernement noch unerhört neu.
Die jungen Damen waren von ihm hingeriſſen.
Am meiſten aber beſchäftigte er die Phantaſie der
Tochter unſeres Anglomanen, die Liſa hieß (oder Betſy,
wie fie von Grigorij Iwanowitſch meiſt genannt wurde).
Da die Vater einander nicht zu beſuchen pflegten, hatte
ſie Alexej noch nicht geſehen, obwohl all ihre jungen
Nachbarinnen über nichts anderes ſprachen als ewig
von ihm. Sie war ſiebzehn Jahre alt. Schwarze
Augen belebten ihr bräunliches und außerordentlich
reizendes Geſicht. Sie war das einzige Kind und in:
folgedeſſen ſehr verwöhnt. Ihre Munterkeit und ihre
nie ausſetzenden Streiche entzückten ihren Vater und
brachten die Hausdame, Miß Jackſon, zur Verzweif⸗
lung; letztere war eine vierzigjährige prüde alte Yung:
fer, ſie ſchminkte ſich, färbte ſich die Augenbrauen, las
zweimal im Jahr die Pamela, erhielt hierfür zwei⸗
tauſend Rubel und ſtarb in dieſem barbarif chen Ruß:
land vor Langeweile.
Liſa wurde von einer Zofe namens Naſtja bedient;
dieſe war ein wenig älter und ebenſo unbeſtändig wie
ihr Fräulein. Liſa hatte ſie ſehr gern, weihte ſie in
alle ihre Geheimniſſe ein und machte ſie zur Mitver⸗
ſchworenen all ihrer Streiche; mit einem Wort, auf
dem Gut Prilutſchino ſpielte Naſtja eine bedeutend
weſentlichere Rolle, als jede beliebige Vertraute in
einer franzöſiſchen Tragödie.
98
Das Fräulein als Bäuerin
„Darf ich heute ausgehen, um einen Beſuch zu
machen“, bat eines Tages Naſtja, während ſie das
Fräulein ankleidete.
„Schon gut; wohin gehſt du?“
„Nach Tugilowo, zu den Bereſtows. Die Frau
des Kochs feiert ihren Namenstag und kam geſtern
her, uns zum Mittageſſen einzuladen.“
„Da ſieht mans!“ ſagte Liſa: „Die Herrſchaft
liegt im Streit, aber die Bedienten bewirten einander.“
„Was geht denn uns die Herrſchaft an!“ entgeg⸗
nete Naſtja: „Zudem gehöre ich doch Ihnen und nicht
dem Herrn Papa. Und Sie haben ſich ja mit dem
jungen Bereſtow noch gar nicht gezankt; mögen ſich
die Alten meinetwegen prügeln, wenn ihnen das Ver⸗
gnügen macht.“
„Sieh zu, Naſtja, daß du Alexej Bereſtow zu Ge:
ſicht bekommſt, und erzähl mir dann auf das genaueſte,
wie er ausſieht, und was er für ein Menſch iſt.“
Naſtja verſprachs, und voller Ungeduld wartete
Liſa den ganzen Tag über auf ihre Rückkehr. Naſtja
kam abends zurück.
„Alſo, Liſaweta Grigorjewna,“ ſagte ſie, als ſie
das Zimmer betrat: „ich habe den jungen Bereſtow
geſehen; ich habe ihn zur Genüge betrachten können;
wir waren den ganzen Tag beiſammen.“
„Wie das? Erzähl doch, erzähl alles der Reihe nach.“
„Mit Vergnügen: wir gingen alſo, ich, Anisja
Jegorowna, Nenila, Dunjka ...“
99
Die Erzählungen Bjelkins
„Schon gut, weiß ich: was weiter?“
„Aber bitte, laſſen Sie mich doch der Reihe nach
erzählen. Wir kamen gerade zum Mittageſſen. Das
Zimmer war ganz voll von Menſchen. Die Kol—
binſchen waren da, die Sacharjewſchen, und zwar
die Verwaltersfrau mit ihren Töchtern, die Chlu—
pinſchen ...“
„Nun, und Bereſtow?“
„Geduld. Wir ſetzten uns zu Tiſch, die Verwalters⸗
frau bekam den Ehrenplatz, und ich wurde neben ſie
geſetzt ... ihre Töchter ärgerten ſich zwar darüber,
aber darauf ſpuck ich ...“
„Ach, Naſtja, mit deinen ewigen Einzelheiten lang—
weilſt du mich!“
„Wie ungeduldig Sie find! Na, alſo, endlich ver
ließen wir den Tiſch ... drei Stunden lang hatte es
gedauert, und das Mittageſſen war prachtvoll; eine
ſüße Speiſe gab es, ein blancmanger, blau, rot und
geſtreift ... Wir ſtanden alſo vom Tiſch auf und
gingen in den Garten, um Haſchen zu ſpielen, und da
kam der junge Herr.“
„Nun, und? Iſt es wirklich wahr, daß er ſo
{Фот ИЕ?“
„Erſtaunlich ſchön iſt er; ein ſchöner Mann, das kann
man ruhig ſagen. Schlank, hoch, die Wangen rot...“
„Wahrhaftig? Und ich dachte, daß ſein Geſicht blaß
wäre. Nun, und? Wie kam er dir vor? War er traurig
oder nachdenklich?“
100
Das Fräulein als Bäuerin
„Warum denn? Mein Lebtag habe ich noch keinen
1 Tollkopf geſehen. Es kam ihm ſogar in den
Kopf, mit uns Haſchen zu ſpielen.“
„Mit euch Haſchen zu ſpielen? Ausgeſchloſſenle
„En nicht gar. Und was er fich dabei alles aus: -
dachte! Wenn er eine fing, küßte er fie gleich!“
„Wie du willſt, Naſtja, aber jetzt lügſt du.“
„Wie Sie wollen, aber ich lüge nicht. Nur mit
großer Mühe habe ich mich von ihm losgemacht. Auf
dieſe Weiſe verbrachte er den ganzen Tag mit uns.“
„Aber warum erzählt man dann, daß er verliebt
ſei und kein einziges Mädchen anſchaue?“
„Das weiß ich nicht, aber auf mich hat er feſt де:
ſchaut und auch auf Tanja, die Tochter des Verwal⸗
ters, und auch auf Paſcha aus Kolbino, und über⸗
haupt hat er keine einzige zurückgeſetzt, der Schelm, der!“
„Erſtaunlich! Und was ſpricht man im Hauſe
von ihm?“
„Ein vortrefflicher Sar, ſagt man, ſei er: und
immer ſo gut und ſo luſtig. Und nur das eine ſei nicht
ganz in der Ordnung, daß er nämlich den Mädchen
zu heftig nachſtelle. Doch das iſt, meiner Anſicht nach,
kein Unglück. Er wird mit der Zeit ſchon brav werden.“
„Ach, wie ſehr wünſchte ich doch, ihn zu erblicken!“
meinte Liſa mit einem Seufzer.
„Was iſt denn da dabei? Tugilowo iſt ja ganz in
der Nähe — nur drei Werſt trennen uns: gehen Sie
doch einmal in jener Richtung ſpazieren, oder reiten
101
Die Erzählungen Bjelkins
Sie aus; Sie werden ihm beſtimmt begegnen. Jeden
Tag begibt er ſich frühmorgens mit dem Gewehr auf
die Jagd.“
„Nein, das gefällt mir nicht. Er könnte annehmen, daß
ich ihm nachlaufe. Und da unſere Väter nicht gut auf-
einander zu ſprechen find, fo iſt es auch für mich unmög⸗
lich, mit ihm bekannt zu werden ... Aber, Naſtja, weißt
du was! Ich werde mich als Bäuerin verkleiden!“
„Sehr gut, wahrhaftig: ziehen Sie ein grobes Hemd
an und einen Sſarafan und gehen Sie dreiſt nach
Tugilowo; ich wette mit Ihnen, daß Bereſtow Sie
beſtimmt ins Auge faſſen wird.“
„Und überdies ſpreche ich ausgezeichnet nach der
hieſigen Mundart. Ach, Naſtja, liebſte Naſtja! Welch
ein herrlicher Gedanke!“ — Als Lifa zu Bett ging,
hatte ſie bereits den feſten Entſchluß gefaßt, ihren
luſtigen Vorſatz beſtimmt auszuführen. Sie machte
ſich ſchon am nächſten Tage daran, den Plan zu ver⸗
wirklichen, ſchickte zum Markt und ließ grobe Lein⸗
wand, blauen Nanking und Kupferknöpfe beſorgen;
mit Naſtjas Hilfe ſchnitt ſie ſich ein Hemd und einen
Sſarafan zurecht, an denen die ganze Mägdeſchar
nähen mußte, ſo daß zum Abend alles fertig war.
Als Liſa ihr neues Gewand anprobierte, mußte ſie ſich
vor dem Spiegel geſtehen, daß ſie ſich noch nie ſo nett
vorgekommen war. Eifrig ſtudierte ſie ihre Rolle ein.
Sie machte beim Gehen eine tiefe Verbeugung und
nickte dann einige Male mit dem Kopf, genau ſo wie
102
Das Fräulein als Bäuerin
es die Kater aus Ton fun; fie ſprach mit bäuriſchem
Dialekt, lachte, indem ſie ihr Geſicht mit dem Armel
verdeckte, und errang ſich ſchließlich Naſtjas volle An⸗
erkennung. Nur eines war ihr zu ſchwer: ſie verſuchte
nämlich, barfuß über den Hof zu gehen, aber der
Raſen zerſchnitt ihre zarten Fußſohlen, und der Sand
und die kleinen Steinchen bereiteten ihr unerträgliche
Schmerzen. Doch Naſtja wußte auch hierfür einen
Ausweg: ſie nahm Liſa Maß und lief geſchwind ins
Feld zu Trofim, dem Hirten, und beſtellte bei dieſem
nach dem vorhandenen Maß ein Paar Baſtſchuhe.
Liſa erwachte bereits in der früheſten Frühe des an—
dern Tages. Noch ſchlief das ganze Haus. Naſtja
wartete am Tor auf den Hirten. Die Schalmei er-
tönte und die Dorfherde trappelte am Gutshof рог:
über. Als Trofim Naſtja ſah, übergab er ihr die
kleinen bunten Baſtſchuhe und erhielt von ihr als Be⸗
lohnung einen halben Rubel. Und nun zog Liſa ſich
in aller Stille als Bäuerin an, gab Naſtja flüſternd
Anweiſungen, wie fie ſich gegen Miß Jackſon zu ver:
halten habe, ſchlupfte durch die Hintertür und lief durch
den Gemüſegarten ins Feld.
Im Oſten ſchimmerte die Morgenröte, es machte
den Eindruck, als erwarteten die goldenen Wolkenzeilen
die Sonne, genau ſo wie Höflinge auf ihren Herrſcher
warten; der klare Himmel, die Friſche des Morgens,
der Tau, der ſanfte Wind und das Zwitſchern der
Vögel erfüllten Liſas Herz mit junger Heiterkeit; da
103
Die Erzählungen Bjelkins
ſie befürchten mußte, irgend welchen Bekannten zu be⸗
gegnen, war ihr Gang kein Gehen mehr zu nennen,
ſondern faſt ein beflügeltes Schweben. Erſt als Liſa
ſich dem Gehölz näherte, das ſich an der Grenze des
väterlichen Beſitztums befand, wurde ihr Gang etwas
langſamer. Es war ihre Abſicht, hier auf Alexej zu
warten. Ihr Herz klopfte ſehr, doch wußte ſie wirklich
nicht, warum; aber iſt die Angſt, die ſtändige Beglei⸗
terin unſerer Jugendſtreiche, nicht auch gleichzeitig ihr
Hauptreiz? Liſa trat in die Dämmerung des Wäld⸗
chens. Ein tiefes hallendes Rauſchen ſchlug dem Mäd⸗
chen entgegen. Ihre Heiterkeit wurde gedämpfter.
Nach und nach gab ſie ſich ſüßen Träumereien hin.
Sie dachte ... jedoch wer will es unternehmen, genau
feſtzuſtellen, woran ein ſiebzehnjähriges Fräulein denkt,
das an einem Frühlingsmorgen um ſechs Uhr ſich
allein in einem Wald befindet? So ſchritt ſie dahin,
ſchritt nachdenklich auf dem Pfade, der von beiden
Seiten von hohen Bäumen beſchattet wurde, als ſie
plötzlich vom Gebell eines wunderſchönen Jagdhundes
geſtellt wurde. Liſa erſchrak und ſchrie unwillkürlich
auf. Gleichzeitig ertönte eine Stimme: „Tout beau,
Sbogar, iei“... und ein junger Jäger trat hinter dem
Gebüſch hervor. — „Keine Angſt, mein Kind!“ ſagte
er zu Liſa: „Mein Hund beißt nicht.“ — Liſa hatte
ſich bereits von ihrem Schreck erholt und wußte un⸗
verzüglich die Umſtände auszunutzen: „Nein, nein,
gnädiger Herr!“ ſagte ſie, und nahm dabei eine halb
104
Das Fräulein als Bäuerin
erſchreckte, halb verlegene Miene an: „Ich fürcht
mich dennoch, er ſcheint ſo böſe zu ſein; der geht gewiß
wieder auf mich los.“ Alexej (daß er es war, weiß
der Leſer wohl ſchon) muſterte unterdeſſen die Bäuerin
eingehend. — „Wenn du dich fürchteſt, will ich dich
gern begleiten“, ſagte er zu ihr: „Erlaubſt du mir,
neben dir zu gehen?“ — „Keiner hindert dich dran!“
entgegnete Liſa. „Jeder ſoll tun, was er mag, und die
Straße iſt für alle da.“ — „Woher biſt du?“ —
„Aus Prilutſchino; ich bin die Tochter des Schmie—
des Waſſilij, und kam her, um Pilze zu ſammeln.“
(Liſa trug an einem Schnürchen einen kleinen Korb.)
„Und du, gnädiger Herr? Biſt du der Tugilowſche?
Was?“ — „So iſt es!“ entgegnete Alexej: „Ich bin
der Kammerdiener des jungen Herrn.“ — Alexej
wollte hierdurch den Unterſchied zwiſchen ſich und ihr
geringer machen, aber Liſa blickte ihn nur an und
lachte: „Schwindle nicht!“ ſagte ſie. „Du haſt keine
Nãrrin vor dir. Ich ſehs ja, daß du felber der gnädige
Herr biſt.“ — „Warum denkſt du das?“ — „Das
ſeh ich doch aus allem. — „Zum Beiſpiel?“ — „Wie
ſollte ich den Herrn nicht vom Diener unter ſcheiden?
Du biſt weder ſo gekleidet, noch redeſt du wie ein
Diener und ſogar den Hund haſt du nicht in unſerer
Sprache gerufen.“ Von Minute zu Minute machte
Liſa unſerem Alexej einen ſtärkeren Eindruck. Da es
ſeine Gewohnheit war, mit hübſchen Bauernmädchen
nicht erſt lange Umſtände zu machen, wollte er ſie
105
Die Erzählungen Bjelkins
umarmen. Aber Liſa entzog ſich ihm und nahm plötz⸗
lich eine ſo ſtrenge und kühle Miene an, daß Alexej
zwar lachen mußte, aber von allen weiteren Verſuchen
Abſtand nahm. „Wenn Sie wollen, daß wir in Зи:
kunft gute Freunde bleiben,“ ſagte ſie nicht ohne Würde:
„dann belieben Sie, bitte, ſich nicht mehr zu vergeſſen.“
— „Wer hat dich denn dieſe Weisheiten gelehrt?“
fragte Alexej laut lachend: „Am Ende gar Naſtja,
meine gute Bekannte, die Zofe Eures Fräuleins? Schau
mir doch einer an, auf welchen Wegen die Aufklärung
verbreitet wird!! — Liſa hatte ein wenig den Eindruck,
daß ſie aus ihrer Rolle gefallen war, und gab ſich
darum Mühe, den Fehler wieder zu verbeſſern.
„Glaubſt du wohl,“ ſagte ſie: „daß ich nie auf dem
Gutshof geweſen bin? Keine Sorge. Ich habe alles
gehört und alles geſehen. Allein, fuhr Пе fort: „während
ich mit dir ſchwatze, ſammle ich keine Pilze. Darum
geh du, gnädiger Herr, lieber deines Weges und laß
mich meines Weges gehen. Ich bitt um Verzeihung ...“
На wollte ſich entfernen; Alexej ergriff ihre Hand. —
„Wie heißt du denn, mein Seelchen?“ — „Akulina“,
entgegnete Liſa, vergeblich bemüht, ihre Finger aus
Alexejs Hand zu ziehen: „Und jetzt laß mich gehn,
gnädiger Herr, es ИЕ Zeit für mich nach Hauſe.“ —
„Alſo hör denn, beſte Akulina, ich werde beſtimmt
deinen Vater, Waffılij, den Schmied, beſuchen.“ —
„Was ſagſt du da?“ entgegnete Liſa: „Um Chriſti
willen, tu das nicht. Wenn man zu Hauſe erfährt,
106
Das Fräulein als Bäuerin
daß ich allein mit dem gnädigen Herrn im Wäldchen
geplaudert habe, wird es mir ſchlecht gehen; mein Vater,
Waſſilij, der Schmied, wird mich zu Tode prügeln.“ —
„Aber ich will dich unbedingt wiederſehen.“ — „Biel:
leicht komme ich wieder einmal her, Pilze ſammeln.“
— „Wann denn?“ — „Meinetwegen morgen.“ —
„Liebſte Akulina, wie gern würde ich dich jetzt küſſen,
aber ich trau mich nicht. Morgen alfo, um die gleiche
Zeit, nicht wahr?“ — „Schon gut.“ — „Und du
wirſt mich nicht betrügen?“ — „Ich werds nicht.“ —
„Schwöre!“ — „Alfo beim heiligen Freitag, ich
komm.“ |
Die jungen Leute trennten ſich. Lifa verließ den
Wald, ſchlich durchs Feld, ſchlüpfte durch den Garten
und eilte Hals über Kopf in die Meierei, in der Naſtja
ſchon lange auf fie wartete. Sie kleidete ſich um, mo:
bei ſie auf die Fragen ihrer ungeduldigen Vertrauten
nur zerſtreute Antworten gab, und lief ins Speiſe⸗
zimmer. Dort ſtand der Tiſch gedeckt, das Frühſtück
war fertig, und Miß Jackſon, ſchon geſchminkt und
mit einer ſo dünnen Taille, daß ſie an ein Weinglas
erinnerte, ſchnitt gerade dünne Brotſcheiben. Der Vater
lobte ſie, daß ſie ſo früh ſpazieren gegangen war.
„Nichts iſt geſünder als dieſes,“ ſagte er: „um die
Morgendämmerung aufſtehen.“ Und natürlich wußte
er hierbei verſchiedene Beiſpiele menſchlicher Lang—
lebigkeit anzuführen, die er aus engliſchen Zeitſchriften
geſchöpft hatte. Es ſchien ihm ebenfalls angebracht,
107
Die Erzählungen Bjelkins
zu bemerken, daß alle Menſchen, die länger als hundert
Jahre gelebt, nie Schnaps getrunken hätten und im
Winter ſowohl als auch im Sommer ſtets um die Zeit
der Morgendämmerung aufgeſtanden wären. Aber
Liſa hörte nicht darauf. In Gedanken wiederholte ſie
alle Einzelheiten der Zuſammenkunft dieſes Morgens,
das ganze Geſpräch Akulinas mit dem jungen Jäger,
und nach und nach begann ihr Gewiſſen zu ſchlagen.
Hieran änderte auch nichts, daß fie ſich ſagte, das Ge-
ſpräch hätte keineswegs die Grenzen des Anſtandes
überſchritten, und daß dieſer Streich überhaupt keine
Folgen haben könnte — die Sprache des Gewiſſens
war lauter als die Stimme ihres Verſtandes. Am
meiſten beunruhigte ſie jenes Verſprechen, das ſie
für morgen gegeben hatte; ja, ſie war ſchon halb
und halb entſchloſſen, ihren feierlichen Schwur nicht
zu halten. Wie aber, wenn Alexej, nachdem er ſie ver⸗
geblich erwartet, ins Dorf ginge, um die Tochter des
Schmiedes Waſſilij, die richtige Akulina, ein feiſtes
pockennarbiges Mädchen, aufzuſuchen und auf dieſe
Weiſe hinter ihren leichtſinnigen Schritt käme? Dieſer
Gedanke machte Liſa große Sorgen, und darum ent⸗
ſchloß ſie ſich, am nächſten Morgen wieder als Akulina
im Gehölz zu erſcheinen.
Alexej war in heller Begeiſterung; den ganzen Wag
über dachte er an nichts als an ſeine neue Bekannte;
das Bild der Schönen mit dem bräunlichen Geſicht
verfolgte ſeine Einbildungskraft ſogar noch nachts
108
Das Fräulein als Bäuerin
im Traume. Es dämmerte kaum, da war er Бе:
reits angezogen. Ohne ſich erſt Zeit zu nehmen, ſein
Gewehr zu laden, eilte er mit ſeinem treuen Sbogar
ins Feld und lief zum Orte der beſprochenen Zu—
ſammenkunft. In einem für ihn faſt unerträglichen
Harren verſtrich eine halbe Stunde; endlich gewahrte
er zwiſchen den Büſchen das Flattern des blauen
Sſarafans und ſtürzte ſeiner lieben Akulina entgegen.
Als ſie den Rauſch ſeiner Dankbarkeit wahrnahm,
mußte ſie lächeln; aber Alexej bemerkte ſogleich auf ihrem
Antlitz Spuren der Verſtimmung und der Unruhe.
Er wollte die Urſache erfahren. Liſa geſtand ihm, daß
ſie ihren Schritt für leichtfertig halte, ja, daß ſie ihn
bereits bereue, und daß ſie freilich dieſes Mal noch
das Wort, das ſie gegeben, hätte halten wollen, aber
daß dieſe Zuſammenkunft allerdings die letzte ſein
müßte, und daß ſie ihn bäte, die Bekanntſchaft abzu—
brechen, die für beide zu nichts Gutem führen könnte.
Es verſteht ſich von ſelber, daß ſie dies alles in der
Mundart der Landbevölkerung ſprach; aber dennoch
wurde Alexej von dieſen Gedanken und Gefühlen, die
für ein einfaches Bauernmädchen ungewöhnlich waren,
ſehr überraſcht. Er gebrauchte, um Akulina von ihrer
Abſicht abzubringen, ſeine ganze Beredſamkeit; er
beteuerte die Unſchuld ſeiner Wünſche, er verſprach
ihr, ihr nie auch nur die geringſte Urſache zur Reue
zu geben und ſtets in allem folgſam zu ſein, und er
beſchwor ſie ſchließlich, ihm nicht ſeine einzige Freude
109
Die Erzählungen Bjelkins
zu nehmen — ſie allein zu ſehen, und ſei es auch nur
jeden anderen Tag, oder gar nur zweimal in der Woche.
Seine Sprache war die der aufrichtigſten Leidenſchaft,
man konnte ihn in dieſem Augenblick wahrhaftig
als verliebt bezeichnen. Liſa hörte ihn ſtumm an.
„Verſprich mir,“ ſagte ſie ſchließlich: „daß du mich
niemals im Dorf aufſuchen oder irgendjemand nach
mir fragen willſt. Ver ſprich mir, nie andere Zuſammen⸗
künfte mit mir herbeiführen zu wollen außer jenen,
die ich ſelber beſtimmen werde.“ Alexej wollte ihr das
beim heiligen Freitag beſchwören, aber lächelnd hielt
ſie ihn davon ab. „Ich brauche keinen Schwur,“ ſagte
Liſa: „mir genügt, wenn du es mir verſprichſt.“ Sie
plauderten darauf, im Walde auf- und abgehend, auf
das freundſchaftlichſte, bis endlich Liſa ihm ſagte, daß
es für ſie Zeit ſei. Sie trennten ſich, doch konnte Alexej,
als er wieder allein war, gar nicht faſſen, auf welche
Weiſe dieſes einfache Bauernmädchen es in nur zwei
Zuſammenkünften vermocht hatte, dieſe große Gewalt
über ihn zu gewinnen. Seine Beziehungen zu Akulina
hatten für ihn den Reiz der Neuheit, und wenn ihn
auch die Vorſchriften des ſeltſamen Bauernmädchens
bedrückten, ſo kam ihm doch der Gedanke überhaupt
nicht in den Kopf, ſein Wort etwa nicht zu halten.
Denn Alexej war trotz des verhängnisvollen Ringes
und ungeachtet ſeiner geheimnisvollen Korreſpondenz
und der enttäuſchten Düſterkeit ſeiner Miene ein braver
und heißblütiger Burſche und hatte das reinſte Herz,
110
2
———— дико
Das Fräulein als Bäuerin
das durchaus noch fähig war, unſchuldige Entzückungen
zu empfinden.
Wenn ich jetzt nur darauf hören wollte, was mir
Vergnügen bereitet, würde ich beſtimmt und mit aller
Genauigkeit die Zuſammenkünfte der jungen Leute be⸗
ſchreiben, ihre anſchwellende gegenſeitige Neigung,
ihr Zutrauen, ihre Beſchäftigungen und ihre Geſpräche;
allein ich weiß nur zu gut, daß der größte Teil meiner
Leſer nicht gewillt ſein dürfte, dieſes Vergnügen mit
mir zu teilen. Solche Einzelheiten können überhaupt
leicht einen zu ſüßlichen Eindruck machen, und ſo laſſe
ich ſie denn aus, indem ich nur in aller Kürze hinzu⸗
füge, daß keine zwei Monate vergingen, und mein
Alexej bereits toll verliebt war, aber auch Liſa war
nicht viel gleichgültiger als er, obwohl ſie viel ſchweig⸗
ſamer war. Beide waren glücklich über die Gegen-
wart und dachten wenig an die Zukunft.
Ziemlich häufig war jedem von beiden bereits der
Gedanke an eine unauflösliche Verbindung gekommen;
aber noch nie hatte eines von ihnen den Mut gefaßt,
hierüber mit dem andern zu ſprechen. Der Grund lag
auf der Hand: war auch Alexej feiner lieben Akulina
ungemein zugetan, ſo mußte er doch immer an den
Abſtand denken, der zwiſchen ihm und der armen
Bäuerin beſtand; Liſa hingegen war nur zu gut be—
kannt, wie ſehr die beiderſeitigen Väter einander haßten,
und ſie wagte nicht zu hoffen, daß es zu einem Friedens⸗
ſchluß kommen würde. Zudem wurde ihre Eigenliebe
111
SER Bjelkins
insgeheim von der dunklen und romantiſchen Hoffnung
aufgeſtachelt, den Tugilowſchen Gutsbeſitzer endlich
zu Füßen der Schmiedstochter aus Prilutſchind zu
ſehen. Plötzlich jedoch trat ein wichtiges Ereignis ein,
das ihre Beziehungen faſt völlig verändert hätte.
Iwan Petrowitſch Bereſtow ritt an einem klaren
und kalten Morgen (einem jener Morgen, an denen
unſer ruſſiſcher Herbſt fo reich ift) ſpazieren und nahm
für jeden Fall drei Windhundkoppeln, einen Reitknecht
und einige Buben aus dem Gutshof mit, die gegebenen⸗
falls zu klappern hatten. Um die gleiche Zeit befahl,
vom ſchönen Wetter verlockt, Grigorij Iwanowitſch
Muromskij die Stute mit dem geſtutzten Schweif zu
ſatteln und ritt im Trabe durch feine angliſierten Be:
ſitzungen. Als er ſich dem Walde näherte, erblickte er
feinen Nachbarn, der in feinem mit Fuchspelz gefüt⸗
terten Jagdrock ſtolz zu Pferde ſaß und auf einen
Haſen wartete, den die Buben mit Schreien und
Klappern ſoeben aus dem Gebüſch aufſcheuchten.
Hätte Grigorij Jwanowitſch die Begegnung voraus⸗
geſehen, er wäre ſicherlich vorher beiſeite geritten; ſo
aber ſtieß er völlig unverhofft auf Bereſtow und hielt
plötzlich in der kleinen Entfernung eines Piſtolenſchuſſes
vor ihm. Da war nichts zu machen. Ulm ſich als де:
bildeten Europäer zu zeigen, ritt Muromskij an ſeinen
Gegner heran und begrüßte ihn höflich. Und Bereſtow
erwiderte die Begrüßung mit dem gleichen Eifer, mit
dem ein an die Kette gelegter Bär, der Weiſung ſeines
112
Das Fräulein als Bäuerin
Führers gehorchend, die anweſenden Herrſchaften Бе:
grüßt. Im gleichen Augenblick aber ſprang der Haſe
aus dem Walde und ſtrich übers Feld. Bereſtow und
der Reitknecht ſchrien laut auf, ließen die Hunde frei
und jagten auf feiner Spur übers Feld. Muromskijs
Pferd, das noch nie auf einer Jagd geweſen war, er-
ſchrak darüber und ging durch. Da Muromskij ſich
immer gerühmt hatte, ein ausgezeichneter Reiter zu
ſein, ließ er dem Pferd die Zügel und war ſogar
innerlich über den Zufall erfreut, der ihn von einer un⸗
angenehmen Unterhaltung befreite. Allein ſein Pferd
flog, als es plötzlich auf einen Abhang, den es zuvor
nicht bemerkt hatte, zuſchoß, jählings zur Seite und
Muromskij vermochte nicht, ſich dabei im Sattel zu
halten. Er fiel ziemlich ſchwer auf die hartgefrorene
Erde und blieb liegen, wobei er in Gedanken ſeine
kupierte Stute verwünſchte, dieſe aber blieb, ganz als
wäre fie augenblicks, da fie ſich ohne Reiter fühlte, zur
Beſinnung gekommen, ſogleich neben ihm ſtehen. Iwan
Petrowitſch ſprengte heran und erkundigte ſich, ob er
ſich nicht weh getan hätte. Unterdeſſen führte der Reit⸗
knecht das Pferd, das an dem Sturz ſchuld war, am
Zaum herbei. Er half Muromskij in den Sattel ſteigen
und Bereſtow lud ihn ein, in ſein Haus zu kommen.
Muromskij konnte es nicht gut ablehnen, denn er
fühlte ſich ihm verpflichtet, und ſo kam es alſo, daß
Bereſtow in vollem Triumph nach Hauſe zurückkehren
konnte, denn er hatte nicht nur einen Haſen erlegt,
P. 1 8
113
Die Erzählungen Bijelktins
ſondern führte auch ſeinen Gegner verwundet und
faſt als eine Art von Kriegsgefangenen mit ſich.
Beim Frühſtück kam es zwiſchen den beiden Mad):
barn zu einem ziemlich freundſchaftlichen Geſpräch.
Muromskij bat Bereſtow um ſeinen Wagen, denn er
mußte geſtehen, daß er ſich infolge des Sturzes nicht
imſtande fühlte, nach Haufe zu reiten. Bereſtow
begleitete ihn bis vors Haus und Muromskij fuhr
nicht eher fort, bevor er ihm nicht das Ehrenwort
abgenommen, bereits am nächſten Tage in Begleitung
feines Sohnes Alexej nach Prilutſchino zu kommen,
um dort auf Freundesart zu Mittag zu ſpeiſen. Es
machte ſomit den Eindruck, daß die alte und tief ver⸗
wurzelte Feindſchaft infolge des Scheuens einer Фи:
pierten Stute auf dem Punkt angelangt war, bei⸗
gelegt zu werden.
Liſa eilte Grigorij Iwanowitſch entgegen. „Was
iſt geſchehen, Papa?“ fragte ſie erſtaunt: „Sie hinken
ja? Und wo iſt Ihr Pferd? Und wem gehört dieſer
Wagen?“ — „Das würdeſt du nie erraten, my dear“,
entgegnete ihr Grigorij Iwanowitſch und teilte ihr
alles mit, was ſich ereignet hatte. Liſa wollte ihren
Ohren nicht trauen. Aber Grigorij Iwanowitſch gab
ihr nicht erſt lange Zeit, ſich zu ſammeln, ſondern
ſagte, daß die beiden Bereſtows morgen bei ihm zu
Mittag ſpeiſen würden. „Was Sie ſagen!“ rief ſie
und erblaßte: „Die Bereſtows, Vater und Sohn!
Morgen bei uns zu Mittag! Nein, Papa, tun Sie,
114
Das Fräulein als Bäuerin
was Sie wollen; ich komme um keinen Preis zu Tiſch.“
— „Du bift wohl verrückt geworden?“ erwiderte der
Vater: „Seit wann biſt denn du ſo ſchüchtern, oder
nährſt du am Ende, wie eine romantiſche Heldin, einen
erblichen Haß gegen die beiden. Laß doch die Dumm⸗
heiten ..“ — „Nein, Papa, um nichts in der Welt,
um keine Schätze der Erde zeige ich mich den Bere—
ſtows.“ Grigorij Iwanowitſch zuckte die Achſeln und
ſtritt nicht länger mit ihr, denn er wußte, daß man bei
ihr durch Widerreden nichts erreichen konnte, er ging
darum lieber ins Haus, um ſich von ſeinem bemerkens⸗
werten Spazierritt zu erholen.
Liſaweta Grigorjewna eilte in ihr Zimmer und rief
Naſtja. Beide berieten lange über den Beſuch, der
morgen kommen ſollte. Was wohl Alexej ſagen würde,
wenn er in dem wohlerzogenen Fräulein ſeine Akulina
erkennen ſollte? Und was würde er wohl über ihr
Betragen denken, ihre Anſtandsregeln, und was müßte
er von ihrer Vernunft halten? Andererſeits reizte es
Liſa natürlich außerordentlich, zu ſehen, welch einen
Eindruck dieſe unerwartete Begegnung auf ihn machen
würde ... Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie teilte
ihn Naſtja mit; beide freuten ſich darüber und Бе:
ſchloſſen, das Vorhaben beſtimmt auszuführen.
Am Tage darauf fragte Grigorij Iwanowitſch
ſeine Tochter beim Frühſtück, ob ſie immer noch die
Abſicht habe, ſich vor den Bereſtows zu verſtecken.
„Lieber Papa,“ entgegnete Liſa: „wenn es Ihnen be-
115
Die Erzählungen Bjelkins
liebt, ſo will ich ſie empfangen, allein ich ſtelle eine
Bedingung: wie immer ich auch vor ihnen erſcheinen
ſollte, und was immer ich tun werde, Sie dürfen mich
deswegen nicht ſchelten und keinerlei Zeichen des Er⸗
ſtaunens oder des Unwillens äußern.“ — „Sicherlich
wieder irgendeiner deiner Streiche!“ ſagte Grigorij
Iwanowitſch lachend: „Gut, ſchon gut: ich bin ein⸗
verſtanden, tu was du magſt, mein ſchwarzäugiger
Schelm.“ Er küßte ſie bei dieſen Worten auf die Stirn
und Liſa eilte, ihre Vorbereitungen zu treffen.
Pünktlich um zwei Uhr rollte eine ſechsſpännige,
zu Hauſe gebaute Kutſche auf den Hof und bog
um den dicht mit Gras bewachſenen grünen Rafen-
platz. Der alte Bereſtow ſtieg, unterſtützt von zwei
liprierten Dienern Muromskijs, die Freitreppe herauf.
Sein Sohn folgte ihm, und beide betraten gleich⸗
zeitig das Speiſezimmer, in welchem der Tiſch bereits
gedeckt war. Muromskij empfing ſeine Gäſte auf das
zuvorkommendſte, er ſchlug ihnen vor, noch vor dem
Mittageſſen den Garten und den Raubtier zwinger zu
beſichtigen, und führte ſie auf Wegen, die ſorgfältig
geſäubert und mit feinem Kiesſand beſtreut waren.
Zwar wurmte es den alten Bereſtow innerlich, daß
fo viel Zeit und Arbeit an fo nutzloſe Spielereien рег:
ſchwendet worden war, doch er war höflich und ſchwieg.
Sein Sohn teilte weder die Unzufriedenheit des berech-
nenden Gutsbeſitzers noch die Begeiſterung des alten
Anglomanen; ungeduldig wartete er auf das Er—
116
Das Fräulein als Bäuerin
ſcheinen der Haustochter, von der man ihm bereits
ſo viel erzählt hatte; denn war auch ſein Herz, wie
uns bekannt iſt, bereits beſetzt, ſo vermochte doch jede
junge Schöne immer noch Platz in ſeiner Phantaſie
zu gewinnen.
Als ſie wieder ins Speiſezimmer zurückgekehrt waren,
nahmen ſie zu dritt am Tiſch Platz: die alten Herren
gedachten der früheren Zeit und tauſchten Anekdoten
über ihre Dienſtjahre aus, Alexej dagegen überlegte
derweilen, welche Rolle er wohl ſpielen wollte, wenn
Liſa erſchiene. Er entſchied ſich dahin, daß kalte
Zerſtreutheit in jedem Falle das Angemeſſenſte ſein
dürfte, und traf infolgedeſſen ſeine Vorbereitungen
hierzu. Die Türe öffnete ſich, und mit ſolchem Gleich—⸗
mut und mit einer ſo ſtolzen Nachläſſigkeit wandte
er feinen Kopf hin, daß ſogar das Herz der aller-
erfahrenſten Koketten unbedingt hätte erzittern müſſen.
Aber zum Leidweſen trat ſtatt der erwarteten Liſa nur
die alte geſchminkte und geſchnürte Miß Jackſon mit
niedergeſchlagenen Augen und einem kleinen Knicks ein
und ſo fiel die vortreffliche militäriſche Taktik Alexejs
in nichts zuſammen. Noch hatte er nicht Zeit gefunden,
ſich aufs neue zu ſammeln, da öffnete ſich wiederum
die Türe, und dieſes Mal trat Liſa ein. Alle erhoben
ſich; ihr Vater wollte ihr die Gäſte vorſtellen, aber
plötzlich hielt er inne und biß fich ſchnell auf die Lippen .
Liſa, ſeine braune Liſa war geſchminkt bis an die Ohren,
noch viel ſchlimmer geſchminkt als etwa Miß Jackſon;
117
Die Erzählungen Bjelkins
die falſchen Locken, die viel heller waren als ihre echten
Haare, waren zu einer Perücke der Zeiten Ludwigs XIV.
aufgetürmt; die Ärmel & l’imbeeille ragten fteif wie
höchſtens ein Reifrock der Madame de Pompadour;
die Taille war ſo eng zuſammengeſchnürt, daß die
Geſtalt dem Buchſtaben X glich und an ihren Fingern,
ihrem Halſe und an den Ohren ſchimmerten alle Bril⸗
lanten ihrer Mutter, die noch nicht verſetzt oder ver—
pfündet waren. Alexej konnte natürlich in dieſem lächer⸗
lichen und prunkvollen Fräulein keineswegs ſeine Aku⸗
lina erkennen. Sein Vater trat heran, um ihr das
Händchen zu küſſen, und ärgerlich mußte er es ihm
nachtun; als er mit den Lippen ihre weißen Fingerchen
berührte, ſchien ihm, daß dieſe leiſe erbebten. Und gleich⸗
zeitig bemerkte er ein Füßchen, das mit Abſicht ein
wenig hervorſchaute, und mit aller nur möglichen
Koketterie beſchuht war. Dieſer Umſtand verſöhnte
ihn ein wenig mit ihrem übrigen Aufzuge. Was {тей
lich die Schminke und den Puder betraf, ſo bemerkte
er, offen geſtanden, dieſe in der Einfalt ſeines Herzens
auf den erſten Blick zunächſt nicht und ſchöpfte hin⸗
ſichtlich ihrer auch ſpäterhin keinen Verdacht. Grigorij
Iwanowitſch gedachte feines Verſprechens und gab
ſich alle Mühe, nicht kundzugeben, wie ſehr er erſtaunt
war; doch amüſierte ihn die Schelmerei ſeiner Tochter
ſo ſehr, daß er nur mit großer Anſtrengung das Lachen
verbeißen konnte. Aber gar nicht nach Lachen war der
affektierten Engländerin zumute. Sie erriet, daß die
118
Das Fräulein als Bäuerin
Schminke ſowohl als auch der Puder aus ihrer Kom:
mode ſtammten, und purpurne Röte des Argers brach
alsbald durch die künſtliche Bläſſe ihres Geſichts.
Flammenblicke ſchleuderte fie auf die junge Miſſe—
täterin, dieſe jedoch ſtellte ſich, als bemerke ſie nichts,
denn ihr lag daran, alle Auseinanderſetzungen auf
einen fpäferen Zeitraum zu verſchieben.
Man ging zu Tiſch. Alexej fuhr fort, die Rolle
des Zerſtreuten und Nachdenklichen zu ſpielen. Liſa
zierte ſich und ſprach mit einem ſingenden Ton durch
die Zähne, und zwar gebrauchte ſie nur die franzöſiſche
Sprache. Der Vater ſah unentwegt ſeine Tochter an,
er begriff zwar nicht, welche Abſicht ſie mit ihrem
Spiel verfolge, aber er fand es ſehr ergötzlich. Die
Engländerin wütete und ſchwieg. Und nur Iwan
Petrowitſch fühlte ſich wie zu Hauſe: er aß für zwei,
er trank ſein gewöhnliches Maß, er lachte über ſeine
eigenen Späße und unterhielt ſich von Stunde zu
Stunde freundſchaftlicher.
Endlich erhob man ſich vom Tiſch; die Gäſte reiften
ab und nun konnte Grigorij Iwan ſeinem Gelächter
und ſeinen Fragen Luft machen. „Warum fiel es dir
eigentlich ein, ſie zum Narren zu halten?“ fragte er
Liſa: „Und überhaupt, weißt du was? Die weiße
Schminke ſteht dir ausgezeichnet; ich will nicht in die
Geheimniſſe des Damenputzes eindringen, aber an
deiner Stelle würde ich mich häufiger ſchminken; nicht
übertrieben natürlich, ſondern nur ein wenig.“ Liſa
119
Die Erzählungen Bjelkins
war über ihren Einfall entzückt. Sie umarmte den
Vater, verſprach ihm, über ſeinen Rat nachzudenken,
und eilte, die erzürnte Miß Jackſon zu beſänftigen;
fie konnte fie freilich nur mit großer Mühe dazu be⸗
wegen, die Türe zu öffnen und ihre Rechtfertigungen
anzuhören. Liſa ſagte, daß es ihr peinlich geweſen
ſei, vor den Gäſten mit ihrem bräunlichen Teint zu
erſcheinen; ſie ſagte, daß ſie nicht gewagt hätte, darum
zu bitten ... doch daß fie überzeugt geweſen wäre,
daß die gute, liebe Miß Jackſon ihr verzeihen würde
. . . und ähnliches mehr. Als Miß Jackſon zur Über-
zeugung gekommen war, daß Liſa nicht etwa die Ab-
ſicht gehabt hätte, ſie lächerlich zu machen, beruhigte
ſie ſich, küßte Liſa und ſchenkte ihr als Friedenspfand
ein Töpfchen mit engliſcher Schminke, welches von
Liſa mit dem Ausdruck der aufrichtigſten Dankbarkeit
in Empfang genommen wurde.
Der Leſer wird leicht erraten, daß Liſa nicht ver⸗
ſäumte, am Morgen des nächſten Tages im Wäldchen
der Zuſammenkünfte zu erſcheinen. „Gnädiger Herr,
warſt du geſtern bei unſerer Herrſchaft?“ fragte ſie
als erſtes: „Und wie gefiel dir unſer Fräulein?“
Alexej entgegnete, daß er ſie kaum bemerkt hätte.
„Schade“, entgegnete Ца. — „Warum denn?“ fragte
Alexej. — „Weil ich dich gerne gefragt hätte, ob es
wahr iſt, was man ſagt ...“ — „Was ſagt man
denn?“ — „Ob es wohl wahr iſt, was man ſagt, ich
ſähe unſerem Fräulein ähnlich?“ — „Welch ein Ци:
120
Das Fräulein als Bäuerin
ſinn! Mit dir verglichen iſt fie das ſcheußlichſte Scheu⸗
ſal.“ — „Ach, gnädiger Herr, ſchämſt du dich nicht,
fo zu ſprechen; unſer Fräulein hat ет fo weißes Фе:
ſichtchen und iſt ſo ſchön geputzt! Wie könnte man
mich je mit ihr vergleichen!“ Aber Alexej ſchwor ihr,
daß fie viel ſchöner {её als alle nur immer erdenk⸗
baren weißen Fräulein, und begann, um ſie vollends
zu beruhigen, ihre Herrſchaft mit ſo lächerlichen Zügen
zu ſchildern, daß Liſa herzlich lachen mußte. „Immer⸗
hin,“ ſprach ſie darauf mit einem Seufzer: „wenn
auch unſer Fräulein möglicherweiſe komiſch iſt, ſo bin
ich doch im Vergleich mit ihr nichts als eine ungebil—
dete Närrin.“ — „Ih!“ meinte Alexej: „Das brauchſt
du dir nicht zu Herzen zu nehmen! Und übrigens,
wenn du willſt, ich kann dich leicht leſen und ſchreiben
lehren.“ — „Wahrhaftig,“ meinte Liſa, „ob man es
nicht in der Tat verſuchen ſollte?“ — „Schon recht,
Liebſte; fangen wir meinetwegen ſogleich an.“ Sie
ſetzten ſich. Alexej zog einen Bleiſtift und ein Notizbuch
aus der Taſche und erſtaunlich ſchnell lernte Akulina das
Alphabet. Alexej konnte ſich über ihre Auffaſſungs—
gabe nicht genug wundern. Bereits am nächſten Nor:
gen äußerte ſie den Wunſch, es mit dem Schreiben zu
verſuchen; und wollte auch anfangs der Bleiſtift (Фет:
bar nicht recht gehorchen, ſo wußte ſie doch bereits
nach wenigen Minuten ziemlich hübſch die Buchſtaben
zu malen. „Ein Wunder!“ rief Alexej: „Bei uns geht
ja der Unterricht noch ſchneller als nach dem Lancaſter—
121
Die Erzählungen Bjelkins
ſyſtem.“ Und tatſächlich vermochte Akulina bereits
im Verlaufe der dritten Unterrichtsſtunde „Natalja,
die Bojarentochter“ zu buchſtabieren, wobei fie die
Lektüre in einem fort mit Bemerkungen unterbrach,
die Alexej in das aufrichtigſte Erſtaunen verſetzten.
Sie kritzelte außerdem ein großes Blatt mit Apho—
rismen voll, die aus der gleichen Erzählung ſtammten.
Noch war keine Woche vergangen, da ſtanden die
beiden bereits im Briefwechſel. Als Poſtbureau diente
ihnen ein Hohlraum im Stamm einer alten Eiche.
Naſtja hatte in aller Stille das Amt des Briefträgers
übernommen. Alexej trug ſeine mit großen Zügen
geſchriebenen Briefe dorthin und fand ſtets die auf
einfaches blaues Papier gekritzelten Krähenfüßchen
ſeiner Angebeteten vor. Es war erſtaunlich, wie ſchnell
ſich Зита an die feinere Ausdrucksweiſe gewöhnte
und wie offenſichtlich ihr Verſtand ſich entwickelte
und bildete.
Die Bekanntſchaft zwiſchen Iwan Petrowitſch Be:
reſtow und Grigorij Jwanowitſch Muromskij wuchs
derweilen immer kräftiger an und verwandelte ſich in
Kürze ſogar in Freundſchaft, und zwar aus folgendem
Grunde. Muromskij dachte häufig daran, daß nach
dem Tode Iwan Petrowitſchs all deſſen Beſitzungen
Alexej Iwanowitſch zufallen würden, und daß in
dieſem Falle Alexej Iwanowitſch wohl einer der
reichſten Gutsbeſitzer ſeines Gouvernements werden
dürfte, und daß mithin keinerlei Grund vorliege,
122
Das Fräulein als Bäuerin
warum ег Liſa etwa nicht heiraten ſollte. Der alte
Bereſtow hingegen leugnete keineswegs die vielen vor⸗
trefflichen Eigenſchaften ſeines Nachbarn, wie zum
Beiſpiel ſeine außergewöhnliche Tüchtigkeit, war er
auch immer noch der Anſicht, daß Muromskij ein
wenig verrückt ſei (oder wie er es nannte, an der eng⸗
liſchen Narrheit litt); Grigorij Iwanowitſch war zu:
dem ein naher Verwandter des Grafen Pronskij, der
ein bedeutender und einflußreicher Mann war; dieſer
Graf konnte unter Umſtänden Alexej von großem
Nutzen werden, außerdem durfte Muromskij (fo re:
nigſtens dachte Iwan Petrowitſch) ſicherlich über die
Gelegenheit erfreut ſein, ſeine Tochter gut zu ver—
heiraten. Und ſo lange überlegten die alten Herren
dieſen Plan ein jeder für ſich allein, bis ſie ihn ſchließ⸗
lich miteinander beſprachen, worauf ſie ſich umarmten
und einander das Wort gaben, die Angelegenheit ge—
hörig zu betreiben; ein jeder machte ſich nun daran,
ſeinerſeits die notwendigen Schritte zu unternehmen.
Muromskij ſtand eine ſchwere Aufgabe bevor: mußte
er doch ſeine Betſy überreden, näher mit Alexej, den
ſie ſeit dem bemerkenswerten Mittageſſen nicht wieder—
geſehen hatte, bekannt zu werden. Es hatte ihm den
Eindruck gemacht, als hätten ſie einander nicht ſehr ge—
fallen; zum mindeſten hatte Alexej keinerlei Abſicht де:
zeigt, wieder einmal nach Prilutſchino zu fahren, Liſa
aber ſchloß ſich jedesmal, wenn Iwan Petrowitſch ihnen
die Ehre ſeines Beſuches erwies, in ihrem Zimmer
123
Die Erzählungen Bjelfins
ein. Wenn aber Alexej — dies waren die Gedanken
Grigorij Iwanowitſchs — erſt täglich in meinem
Hauſe verkehren wird, dann wird Betſy ſich beſtimmt
in ihn verlieben. Das liegt in der Natur der Sache.
Die Zeit wird es ſchon machen.
Iwan Petrowitſch war über den Erfolg ſeines
Vorhabens bedeutend weniger beunruhigt. Noch am
gleichen Abend befahl er ſeinen Sohn zu ſich ins
Kabinett, ſteckte die Pfeife an und meinte nach einem
kurzen Schweigen: „Wie iſt denn das, Aljoſcha, du
ſprichſt ſchon lange nicht mehr vom Militärdienſt? Oder
ſollte wirklich die Huſarenuniform dich nicht mehr ver⸗
locken?“ — „Nein, Papa!“ entgegnete Alexej reſpekt⸗
voll: „Ich merke doch, daß es Ihnen nicht erwünſcht
iſt, daß ich Huſar werde; und es iſt meine Pflicht,
Ihnen zu gehorchen.“ — „Schon gut!“ entgegnete
Iwan Petrowitſch: „Ich ſehe, daß du ein gehorſamer
Sohn biſt; das tröſtet mich ſehr; ſo will ich denn auch
meinerſeits dich zu nichts zwingen: ich will dich nicht
veranlaſſen ... ſogleich ... in den Staatsdienſt zu
treten; ich habe zunächſt einmal die Abſicht, dich zu
verheiraten.“
„Mit wem denn, Papa?“ fragte Alexej überraſcht.
„Mit Liſaweta Grigorjewna Muromskaja“, ent⸗
gegnete Iwan Petrowitſch: „Ein vortreffliches Bräut⸗
chen, nicht wahr?“
„Aber, Papa, ich habe noch gar nicht ans Heiraten
gedacht.“
124
B EN ERLERNEN Ze 2
A ru ы бий .
Das Sräulein als Bäuerin
„Du nicht; darum habe ich für dich gedacht und
alles zu Ende gedacht.“
„Wie Sie wollen, aber Liſa Muromskaja gefällt
mir ganz und gar nicht.“
„Sie wird dir ſchon gefallen, Gewohnheit bringt
Liebe.“
„Aber ich fühle mich durchaus nicht befähigt, ſie
glücklich zu machen.“
„Was geht dich ihr Glück an? Wie? Befolgſt du
ſo meinen väterlichen Willen? Sehr gut!“
„Wie Sie wollen, aber ich will nicht heiraten und
werde nicht heiraten.“
„Du wirſt heiraten, oder ich werde dich verdammen,
und mein Gut — fo wahr Gott lebt — verkaufen und
verſchleudern, ſo daß dir auch nicht ein roter Heller
bleiben wird. Ich gebe dir drei Tage zur Überlegung,
wage es nicht, mir bis dahin unter die Augen zu treten.“
Alexej wußte nur zu gut, daß, wenn ſein Vater ſich
etwas in den Kopf geſetzt hatte, man es ihm, wie
Taras Skotinin ſagt, nicht einmal mehr mit einem
Nagel aus dem Kopf hauen konnte; aber Alexej war
darin wie ſein Vater, und es war genau ſo ſchwierig,
ihn zur Räſon zu bringen. Er ſchloß ſich in ſein
Zimmer ein und dachte tief über die Grenzen der väter⸗
lichen Gewalt nach, aber auch über Liſaweta Grigor:
jewna, über das feierliche Verſprechen des Vaters,
ihn zum Bettler zu machen, und dachte nicht zuletzt
auch an Akulina. Jetzt, zum erſten Male, erkannte
125
Die Erzählungen Blelkins
er auf das allerdeutlichſte, daß er ſie leidenſchaftlich
liebte; ihm ſchoß der romantiſche Gedanke durch den
Kopf, die Bäuerin zu heiraten und von ſeiner eigenen
Hände Arbeit zu leben, und je länger er ап dieſen ent:
ſcheidenden Schritt dachte, deſto mehr Vernunft fand
er in ihm. Die Zuſammenkünfte im Wäldchen waren
infolge des regneriſchen Wetters ſeit einiger Zeit unter⸗
brochen worden. Er ſchrieb daher mit der allerfau-
berſten Handſchrift und dem allerraſendſten Stil einen
Brief an Akulina, in welchem er ihr von dem Ver⸗
derben, das ihnen beiden drohte, Mitteilung machte,
und ihr aufs neue ſeine Hand antrug. Ohne Zeit zu
verſäumen, brachte er den Brief zur Poſt, nämlich
zu dem Hohlraum im Baum, und begab ſich erſt dann,
zufrieden mit ſich ſelber, zu Bett.
Tags darauf ritt Alexej, treu ſeinem Entſchluß,
оп am frühen Morgen zu Muromskij, um ſich
offenherzig mit ihm auseinanderzuſetzen. Er gedachte
an ſeine Großmut zu appellieren, und hoffte, ihn für
fi) zu gewinnen. „ЭЙ Grigorij Iwanowitſch zu
Hauſe?“ fragte er, nachdem er ſein Pferd vor der
Freitreppe des Schloſſes von Prilutſchino zum Stehen
gebracht hatte. „Der Herr iſt nicht zu Hauſe,“ ent⸗
gegnefe der Diener: „Grigorij Jwanowitſch beliebte
es, bereits am frühen Morgen auszureiten.“ — Wie
ärgerlich! dachte Alexej. „Iſt wenigſtens Liſaweta
Grigorjewna zu Haufe?“ — „Das Fräulein find zu
Hauſe.“ Alexej ſprang ſogleich vom Pferd, warf dem
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Das Fräulein als Bäuerin
Diener die Zügel zu und trat ein, ohne ſich erft melden
zu laſſen.
Nun wird ſich alles entſcheiden — dachte er, als
er ſich dem Wohnzimmer näherte —, ich werde mit
ihr ſelber ſprechen. Er trat ein ... und erſtarrte zu
einer Bildſäule: На... nein doch, Akulina, die liebe
bräunliche Akulina, ſaß dort zwar nicht im Sſarafan,
aber im weißen Morgenkleide am Fenſter und las
ſeinen Brief; ſie war ſo ſehr damit beſchäftigt, daß
ſie nicht gehört hatte, wie er eintrat. Alexej war nicht
imſtande, einen Freudenſchrei zu unterdrücken. Liſa
erbebte, hob den Kopf, ſchrie auf und wollte davon.
Er eilte ihr nach. „Akulina, Akulina! ...“ Liſa рег:
ſuchte vergebens, ſich aus feinen Armen zu winden ...
„Mais laissez-moi done, Monsieur, mais etes-vous
fou?“ rief fie in einem fort, 14 von ihm abwendend.
„Akulinal Geliebte, Akulina!“ ſtammelte er, ihre Hände
küſſend. Miß Jackſon, die dieſer Szene als Zeugin
beiwohnte, wußte nicht, was ſie denken ſollte. In dieſem
Augenblick öffnete ſich die Tür und Grigorij Iwano⸗
witſch trat ein.
„Aha!“ meinte Muromskij: „Na, die Sache ſcheint
ja von euch bereits in Ordnung gebracht worden zu
ет...“
Die Leſer werden es mir gewiß erfparen, die übri-
gen Einzelheiten der Löſung zu ſchildern.
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Erſtes Kapitel
Es iſt mehrere Jahre her, da lebte auf einer ſeiner
Beſitzungen der ruſſiſche Edelmann alten Schlages
Kirila Petrowitſch Trojekurow. Sein Reichtum, ſein
vornehmer Stand und ſeine Verbindungen verliehen
ihm in dem Gouvernement, in dem ſich fein Gut Бе:
fand, ein großes Anſehen. Da er von allen, die ſich
in ſeiner Umgebung befanden, überaus verwöhnt
wurde, war es ihm zur Gewohnheit geworden, einer
jeden Regung ſeines feurigen Charakters nachzugeben,
ebenfo aber auch allen Launen feines ziemlich beſchränk⸗
ten Verſtandes. Seine Nachbarn waren beglückt, wenn
fie feinem kleinſten Wunſch genügen konnten; die Gou—
bernementsbeamten dagegen zitterten, wenn fie nur
ſeinen Namen hörten. Kirila Petrowitſch nahm alle
dieſe Beweiſe der Unterwürfigkeit wie einen ihm zu⸗
ſtehenden Tribut entgegen. Sein Haus war immer
voller Gäfte, die nur darauf lauerten, feinen adeligen
Müßiggang zu ergötzen, indem ſie ſtets bereit waren,
die lärmenden und zuweilen wohl auch wilden Ber:
gnügungen zu teilen. Keiner wagte je, eine Einladung
von ihm abzulehnen, oder etwa an den bewußten
Tagen nicht mit dem gehörigen Reſpekt im Dorf
Pokrowskoje zu erſcheinen. Kirila Petrowitſch war
durch und durch gaſtfrei und litt, trotz ſeiner unge—
wöhnlichen phyſiſchen Kräfte, regelmäßig zweimal
in der Woche an den Folgen des Überfreffens, es
131
Dubrowskij
verging außerdem kein Abend, an dem er nicht be-
rauſcht war.
(Es gab nur wenige Mägde unter feinem Hof:
geſinde, die den wollüſtigen Angriffen des Fünfzig⸗
jährigen entgangen waren. Außerdem lebten in einem
der Flügel des Gutsgebäudes ſechzehn Zofen, die mit
nichts anderem als den ihrem Geſchlecht zuſtehenden
Handarbeiten beſchäftigt waren. Vor den Fenſtern
dieſes Flügels waren Holzgitter; die Eingangstüre war
beftändig verſchloſſen und der Schlüſſel befand ſich in
Verwahrung bei Kirila Petrowitſch. Die jugendlichen
Einſiedlerinnen durften nur zu beſtimmten Stunden
in den Garten und ergingen ſich dort ſtets unter der
Aufſicht zweier alter Frauen. Von Zeit zu Zeit ver: |
heiratete Kirila Petrowitſch einige von ihnen, dann
traten Neue an ihre Stellen. Mit den Bauern und
dem Hofgeſinde verfuhr er ſtreng und eigenwillig; trotz⸗
dem aber waren ihm alle ſehr ergeben: ſie prahlten 1
шй dem Reichtum und dem Ruhm ihres Herrn und
nahmen ſich ihrerſeits viele Freiheiten gegen ihre Nach⸗ 4
Баги heraus, да fie auf den ſtarken Schutz ihres Ge- —
bieters bauten.)!
Trojekurows einzige und ſtändige Beſchäftigung
beſtand im Grunde nur aus Spazierritten, die ihn
durch ſeine ausgedehnten Beſitzungen führten, aus
endloſen Gelagen und aus allerhand Streichen, die
täglich neu erſonnen wurden und deren Opfer gewöhn⸗
Eu —
r
Das in Klammern Stehende iſt im Ntanuſkript durchgeſtrichen.
132
Dubromsfij
lich irgendeiner feiner neuen Bekannten war, obwohl
auch ſeine älteren Freunde nicht immer ungerupft
davonkamen; die einzige Ausnahme hiervon bildete
Andrej Gawrilowitſch Dubrowskij. Dieſer Dubrows⸗
kij, ein verabſchiedeter Gardeleutnant, war fein паф:
ſter Nachbar und beſaß nicht mehr als ſiebzig Seelen.
Doch Trojekurow, der ſich ſogar gegen Perſonen von
allerhöͤchſter Herkunft hochmütig benahm, hatte vor
Dubrowskij trotz deſſen geringem Vermögen den
größten Reſpekt. Sie hatten vor Zeiten im gleichen
Regiment gedient und Trojekurow war der ungedul:
dige und entſchloſſene Charakter ſeines Nachbarn wohl
bekannt. Das ruhmreiche Jahr 1762 hatte die beiden
auf lange getrennt. Trojekurow, der ein Verwandter
der Fürſtin Daſchkow war, machte eine glänzende
Karriere; Dubrowskij hingegen, deſſen Vermögen ſich
in einem verwahrloſten Zuſtande befand, ſah ſich ge⸗
zwungen, den Abſchied zu nehmen und ſich auf ſeine letzte
Beſitzung zurückzuziehen. Als dieſer Umſtand Kirila
Petrowitſch zu Ohren kam, trug er dem Freunde ſeine
Unterſtützung an; Dubrowskij lehnte jedoch dankend
ab, denn er zog es vor, arm, aber unabhängig zu ſein.
Einige Jahre darauf ließ ſich auch Trojekurow, der
als General en chef den Abſchied genommen hatte, auf
ſeinem Gut nieder; die Freunde ſahen ſich wieder und
empfanden große Freude darüber. Seit jener Zeit war
kein Tag vergangen, an dem ſie nicht zuſammen—
gekommen wären, und Kirila Petrowitſch, der noch
133
Dubromsfij
niemals jemand die Ehre feines Beſuches erwieſen
hatte, kehrte häufig im Häuschen ſeines alten Kame⸗
raden ein. (Da ſie gleichalterig waren, dem gleichen
Stande entſtammten und ähnlich erzogen worden
waren, ähnelten ſich zum Teil auch ihre Charaktere
und Neigungen; ja, man konnte ſogar ſagen, auch) t
ihr Schickſal ſah ſich einigermaßen gleich: beide hatten
aus Liebe geheiratet, beide waren früh Witwer де:
worden und jeder von den beiden hatte aus ſeiner
Ehe ein einziges Kind. Dubrowskijs Sohn wurde in
Petersburg erzogen, Kirila Petrowitſchs Tochter da—
gegen wuchs unter den Augen ihres Erzeugers heran,
und oft pflegte Trojekurow zu Dubrowskij zu ſprechen:
„Hör mal, Bruder Andrej Gawrilowitſch, wenn dein
Wladimir einmal ſeinen Weg gemacht haben wird,
ſoll er meine Maſcha kriegen, gleichviel, ob er auch
der ärmſte Schlucker ſei.“ Aber Andrej Gawrilowitſch
ſchüttelte dazu nur den Kopf und antwortete gemöhn:
lich: „Nein, Kirila Petrowitſch, mein Wladimir iſt
kein Mann für Marja Kirilowna. Ein armer Edel:
mann, wie er einer iſt, tut beſſer daran, ein armes
Edelfräulein zu heiraten, damit er in ſeinem Hauſe das
Haupt ſei, ſtatt der Verwalter eines verwöhnten Weib⸗
chens zu werden.“
Das Einverſtändnis, das zwiſchen dem aufgebla—
ſenen Trojekurow und ſeinem armen Nachbarn be—
ſtand, war der Gegenſtand des Neides aller und manch
Das in Klammern Stehende iſt im Manuſkript durchgeſtrichen.
134
Dubromsfij
einer wunderte ſich über den Mut Dubrowskijs, wenn
er am Tiſch Kirila Petrowitſchs freimütig ſeine Mei⸗
nung gerade heraus äußerte, ohne ſich lange darum
zu kümmern, ob dieſe nicht am Ende der Anſicht des
Hausherrn widerſpräche. Der eine und der andere
verſuchte ſogar, es ihm nachzutun und die Grenzen
des geziemenden Reſpektes zu überſchreiten; Kirila
Petrowitſch aber wußte in dieſen Fällen allen ſolche
Angſt zu machen, daß ihnen auf immer die Luſt
zu ähnlichen Unternehmungen verging; Dubrowskij
war und blieb der einzige, der außerhalb des all—
gemeinen Geſetzes ſtand. Jedoch ein unverhoffter
Zufall änderte das und brachte alles aus dem Gleich—
gewicht.
Eines Tages, es war im frühen Herbſt, begab ſich
Kirila Petrowitſch auf die Jagd. Die Hundewärter
und Pferdeknechte hatten ſchon am Abend vorher den
Befehl erhalten, um fünf Uhr früh bereit zu ſein.
Zelt und Feldküche befanden ſich bereits an Ort und
Stelle, nämlich dort, wo Kirila Petrowitſch zu Mittag
ſpeiſen wollte. Der Hausherr und ſeine Gäſte begaben
ſich auf den Hundehof, auf welchem mehr als fünf—
hundert Jagd- und Windhunde zufrieden und gut
lebten und Kirila Petrowitſchs Freigebigkeit immerzu
in ihrer Hundeſprache prieſen. Dortſelbſt befand ſich
auch ein Lazarett für die kranken Hunde, das unter
der Aufſicht des „Stabsarztes“ Timoſchka ſtand, und
ferner eine Abteilung, in der die Hündinnen ihre
135
Dubromsfij
Jungen warfen und ſpäterhin die Welpen ſäugten.
Dieſe trefflich eingerichteten Anſtalten waren Kirila
Petrowitſchs ganzer Stolz. Und er verſäumte keine
Gelegenheit, vor ſeinen Gäſten damit zu prahlen,
wenn auch ein jeder von dieſen die Baulichkeiten min⸗
deſtens zwanzigmal bereits geſehen hatte. Umgeben
von ſeinen Gäſten und geleitet von Timoſchka und
den Haupthundewärtern ging er auf dem Hundehofe
auf und ab und blieb gelegentlich vor einigen Zwingern
ſtehen, wobei er bald nach der Geſundheit der Er—
krankten fragte, bald wieder mehr oder weniger ſtrenge
und gerechte Anordnungen traf; die Hunde, die er ет:
kannte, rief er heran und unterhielt ſich zärtlich mit
ihnen. Die Gäſte hielten es für ihre Pflicht, in den
Ausdrücken des Entzückens von Kirila Petrowitſchs
Hundehof zu ſprechen. Nur Dubrowskij ſchwieg finſter;
er war ein leidenſchaftlicher Jäger, aber der Zuſtand
ſeines Vermögens erlaubte ihm nicht, mehr als zwei
Jagdhunde und eine Windhündin zu halten, und darum
konnte er ſich beim Anblick dieſer wahrhaft großartigen
Zucht eines gewiſſen Neides nicht enthalten. „Warum
ſchauſt du fo finfter, Bruder?“ fragte Kirila Petro—
witſch, „gefällt dir am Ende mein Zwinger nicht?“ —
„Nein,“ entgegnete Dubrowskij rauh, „der Zwinger
НЕ großartig; aber ich bezweifle, ob alle Ihre Leib⸗
eigenen ein ſolches Leben haben wie Ihre Hunde.“
Dieſe Worte kränkten einen der Hundeknechte. „Dank
Gott und unferem Herrn“, ſagte er, „können wir über
136
Dubromsfij
unfer Leben nicht klagen; aber die Wahrheit zu fagen,
würde es manchem Edelmann vielleicht nur zum Vor—
teil gereichen, ſeinen Gutshof gegen eine beliebige der
Hundehütten hier zu verfaufchen; er hätte es hier nicht
nur wärmer, ſondern würde auch beſſer genährt
werden.“ Die freche Bemerkung ſeines Leibeigenen
zwang Kirila Petrowitſch ein lautes Lachen ab, was
zur Folge hatte, daß auch die Gäſte in ein Gelächter
ausbrachen, wenn auch manche von ihnen ſich des Ge:
fühles nicht ganz erwehren konnten, daß der Scherz
des Hundeknechtes ſich eigentlich auch auf ſie hätte
beziehen können. Dubrowskij erbleichte und entgeg—
nete kein Wort. In dieſem Augenblick wurde Kirila
Petrowitſch ein Wurf junger Hunde in einem Körb—
chen gebracht; er beſchäftigte ſich mit ihnen und
wählte zwei von ihnen aus, die anderen befahl er, zu
erfäufen. Derweilen jedoch war Andrej Gawrilo—
witſch verſchwunden, ohne daß irgendjemand es Бе:
merkt hätte.
Bald darauf verließ Kirila Petrowitſch, gefolgt von
ſeinen Gäſten, den Hundehof und begab ſich zum
Abendeſſen, und hier erſt merkte er, als er Dubrowskij
nirgends ſah, daß dieſer verſchwunden war. Die
Diener teilten ihm mit, daß Andrej Gawrilowitſch
nach Haufe gefahren ſei. Trojekurow befahl fogleich,
ihm nachzujagen und ihn unter allen Umſtänden zu—
rückzubringen. Es war noch nie vorgekommen, daß
er ohne Dubrowskij auf die Jagd gegangen wäre,
137
Dubromsfij
denn dieſer war ein erfahrener und vortrefflicher
Kenner aller Hundeeigenſchaften und in allen nur er—
denkbaren Jagdͤſtreitigkeiten war feine Entſcheidung
immer die einzig richtige. Allein der Diener, der ihm
nachgeſchickt worden war, kehrte zurück, während alles
noch bei Tiſch ſaß, und meldete ſeinem Herrn, Andrej
Gawrilowitſch hätte nicht Folge geleiſtet und beab—
ſichtige nicht zurückzukehren. Wie immer erhitzt vom
Fruchtſchnaps, ärgerte ſich Kirila Petrowitſch ſehr
und ſchickte den gleichen Diener noch einmal Andrej
Gawrilowitſch nach und ließ ihm ſagen, daß, wenn
er nicht augenblicks nach Pokrowskoje zurückkäme,
um daſelbſt zu übernachten, er, Trojekurow, ſich auf
ewig mit ihm verzanken würde. Der Diener ſprengte
aufs neue fort. Kirila Petrowitſch hob die Tafel auf,
ließ die Gäſte gehen und begab ſich ſelber zu Bett.
Am Tage darauf war ſeine erſte Frage: „Iſt
Andrej Gawrilowitſch da?“ Man überreichte ihm
einen in Form eines Dreiecks zuſammengefalteten Brief.
Kirila Petrowitſch befahl ſeinem Schreiber, das Billet
laut vorzuleſen, und bekam folgendes zu hören:
„Mein allerwerteſter Herr!
Ich beabſichtige nach Pokrowskoje ſolange nicht
zu kommen, bis Sie mir nicht den Hundewärter
Paramoſchka geſchickt haben, damit dieſer ſich
vor mir entſchuldige; und wird es in meinem Be-
lieben ſtehen, ihn zu beſtrafen oder zu begna—
digen; Späße von Ihren Leibeigenen werde ich
138
Dubromsfij
mir keineswegs gefallen laffen und auch von
Ihnen gedenke ich nichts dergleichen zu erdulden,
denn ich bin kein Narr, ſondern ein Edelmann
aus altem Hauſe. Inzwiſchen verbleibe ich als
Ihr zu jedem Dienſt bereiter
Andrej Dubrowskij.“
Nach den heutigen Anſtandsbegriffen wäre dieſer
Brief als durchaus ungehörig zu bezeichnen; Kirila
Petrowitſch dagegen war weniger über den ſonder—
baren Stil und die Ausdrucksweiſe verletzt als über
den Inhalt. „Wie?“ ſchrie Trojekurow und ſprang
barfuß aus dem Bett: „Meine Leute zu ihm ſchicken,
damit ſie ſich entſchuldigen! Er will ſich die Freiheit
nehmen, ſie zu ſtrafen oder zu begnadigen! Ja, was
fällt ihm denn eigentlich ein? Weiß er wohl, mit wem
er es zu tun hat? Ich werd ihm! der ſoll mir noch
klein werden! Er ſoll mir erfahren, was es heißt,
mit Trojekurow zu ſtreiten.“
Trotzdem jedoch zog ſich Kirila Petrowitſch an und
ritt mit dem gewöhnlichen Prunk auf die Jagd. Aber
die Jagd war erfolglos; den ganzen Tag bekam man
nichts als einen einzigen Haſen zu Geſicht und auch
der wurde gefehlt; das Mittageſſen im Zelt war eben-
falls nicht geglückt oder zum mindeſten Kirila Petro—
witſch nicht nach dem Sinn, denn er prügelte den Koch,
beſchimpfte die Gäſte und nahm darauf mit ſeinem
ganzen Gefolge den Heimweg abſichtlich über die Fel—
der Dubrowskijs.
139
Du browskij
Zweites Kapitel
Einige Tage vergingen, doch wurde die Feindſchaft
zwiſchen den beiden Nachbarn deswegen nicht geringer.
Andrej Gawrilowitſch zeigte ſich nicht mehr in Фо:
krowskoje, Kirila Petrowitſch langweilte ſich ohne ihn
und äußerte ſeinen Mißmut in den allerverletzendſten
Ausdrücken, die natürlich, dank dem Eifer der dort
anweſenden Edelleute, Dubrowskij ergänzt und Бе:
richtigt zu Ohren kamen. Ein weiterer Umſtand ver:
nichtete ſchließlich auch die letzte Hoffnung auf einen
Friedensſchluß.
Eines Tages ritt Dubrowskij durch feine kleine Be:
ſitzung; er hörte, als er ſich einem Birkenwäldchen
näherte, Beilſchläge und gleich darauf den Lärm eines
zu Boden ſtürzenden Baumes; er ritt dorthin und
überraſchte Bauern aus Pokrowskoje, die in ſeinem
Gehölz Waldfrevel trieben. Als ſie ihn ſahen, machten
ſie ſich auf die Flucht; allein Dubrowskij erwiſchte
mit der Hilfe ſeines Kutſchers einen von ihnen und
ſchleppte ihn gefeſſelt mit ſich zurück; außerdem waren
dem Sieger noch zwei der feindlichen Pferde als Beute
zugefallen. Dubrowskij war wütend; vor dieſem Tage
war es noch nie geſchehen, daß Trojekurows Leib⸗
eigene, die bekannte Räuber waren, es gewagt hätten,
innerhalb ſeiner Beſitzung ihr Unweſen zu treiben,
denn alle kannten ja ſeine nahe Freundſchaft mit ihrem
Herrn; jetzt aber mußte Dubrowskij bemerken, daß
140
Dubromsfßij
fie das Zerwürfnis zwiſchen ihm und feinem Nach:
Баги ſich zu Nutzen machten, und daher entſchloß er
ſich, entgegen allen Regeln des Kriegsbrauches, ſeinen
Gefangenen mit eben den gleichen Ruten zu züchtigen,
die er im Gehölz geſtohlen hatte, die Pferde aber zur
Arbeit zu verwenden und ſie dem herrſchaftlichen
Pferdebeſtand zuzuteilen.
Das Gerücht hiervon drang noch am gleichen Tage
zu Kirila Petrowitſch. Er geriet außer ſich und wollte
im erſten Augenblick der Wut mit ſeinem ganzen Hof—
geſinde Kiſtenjowka überfallen (ſo hieß die Beſitzung
feines Nachbarn), alles in Grund und Boden рег:
wüſten und den Beſitzer ſelber in ſeinem Gutshaus
belagern; Heldentaten dieſer Art waren für ihn nichts
Rares; doch nahmen ſeine Gedanken bald eine andere
Wendung. Während er mit ſchweren Schritten im
Zimmer auf und ab ging, blickte er zufällig durchs
Fenſter und bemerkte vor dem Tore ein Dreigeſpann.
Ein Mann in Ledermütze und Friesmantel ſprang aus
dem Wagen und begab ſich zum Flügel, in dem der
Verwalter wohnte. Trojekurow erkannte in ihm den
Beiſitzer Schabaſchkin und ließ ihn rufen. Nach weni⸗
gen Augenblicken ſtand Schabaſchkin vor Kirila Petro⸗
witſch und konnte ſich nicht genug an Verbeugungen
tun, er wartete andächtig darauf, was jener ihm zu
ſagen hätte.
„Guten Tag ... wie heißt du doch gleich?“ fragte
Trojekurow: „Warum biſt du hier?“
141
Dubromsfij
„Ich fahre gerade zur Stadt, Eure hohe Exzellenz,“
entgegnete Schabaſchkin, „und wollte Iwan Dem⸗
janow nur fragen, ob nicht irgendetwas erledigt
werden könnte.“
„Du Бай recht getan, hier einzukehren ... wie
heißt du doch gleich? Ich brauch dich nämlich; da
haſt du einen Schnaps und jetzt hör mal zu.“
Dieſer liebenswürdige Empfang war eine ange—
nehme Überrafchung für den Beiſitzer; er lehnte den
Schnaps ab und hörte mit dem allerer denkbarſten Eifer
Kirila Petrowitſch zu.
„Ich habe einen Nachbarn,“ ſagte Trojekurow,
„einen Grobian mit wenig Land; dem will ich ſeine
Beſitzung nehmen . . . Was hältſt du davon?“
„Eure hohe Exzellenz, gibt es vielleicht irgend⸗
welche Dokumente? ...
„Schwatz nicht, Bruder, was da Dokumente? Da⸗
für gibt es Geſetze. Das iſt es ja, ich will ihm näm⸗
lich ſein Gut ohne jedes Recht nehmen.“
„Schwer, Eure hohe Exzellenz ...“
„Wart mal! Dieſes Gut hat nämlich vormals uns
gehört, es wurde von einem gewiſſen Spizyn gekauft
und ſpäterhin an Dubrowskijs Vater verkauft. Könnte
man nicht vielleicht dieſen Umſtand verwerten?“
„Schwer, Eure hohe Exzellenz; dieſer Verkauf
wurde doch gewiß mit allen geſetzlichen Formalitäten
betätigt.
„Alſo denk mal nach, Bruder, ſtreng dich an.“
142
r N se
Dubrowsk i]
„Wie wäre es, Eure hohe Exzellenz, wenn Sie, zum
Beiſpiel, es möglich machen könnten, das Schriftſtück,
kraft deſſen er ſein Gut beſitzt, von dem Nachbarn
zu erhalten, denn dann ...“
„Verſteh ſchon, aber es hat einen Haken: während
eines Feuerſchadens ſind alle ſeine Papiere verbrannt.“
„Wie, Eure hohe Exzellenz, feine Papiere find ver-
brannt? Ja, was wollen Sie denn noch mehr? In
dem Fall können Sie ſogar auf dem Wege des Ge—
ſetzes gegen ihn vorgehen: Sie werden ohne Zweifel
volle Genugtuung erhalten.“
„Glaubſt du? Alſo, ſchau mal zu, ich verlaſſe mich
auf deinen Eifer, an meiner Dankbarkeit ſoll es nicht
fehlen.“
Schabaſchkin verbeugte ſich faſt bis zur Erde,
ging hinaus und begann noch am gleichen Tage,
ſich um die beſprochene Angelegenheit zu kümmern.
Dank dem Eifer, mit dem er die Sache betrieb, erhielt
Dubrowskij ſchon nach zwei Wochen eine Aufforde—
rung aus der Stadt, unverzüglich die notwendigen
Papiere einzureichen, da beim Gericht ein Geſuch des
Generals en chef Trojekurow eingelaufen ſei, des In⸗
haltes, daß der Beſitztitel auf das Dörfchen Kiſten—
jowka ungeſetzmäßig wäre.
Voller Unwillen über dieſe unerwartete Anfrage
ſchrieb Andrej Gawrilowitſch noch am gleichen Tage
eine ziemlich grobe Antwort, in der er auseinander⸗
ſetzte, daß das Dorf Kiſtenjowka nach dem Tode ſeines
143
DubromsPij
verſtorbenen Erzeugers ihm zugefallen fei und daß ег
es nach dem Rechte der Erbſchaft beſitze, er ſchrieb
ferner, daß die ganze Angelegenheit Trojekurow ganz
und gar nichts anginge, und daß jeder Anſpruch
auf dieſe ſeine Beſitzung nichts als Verleumdung und
Betrug ſei. Dubrowskij hatte nicht die geringſte Er⸗
fahrung in Gerichtsſachen. Er ließ ſich in den meiſten
Fällen von ſeinem geſunden Verſtande leiten, aber
es muß geſagt werden, daß dieſe Leitung nur ſelten
die rechte und faſt immer ungenügend iſt.
Dies Schreiben machte auf den Beiſitzer Schabaſch⸗
kin den allerangenehmſten Eindruck; denn erſtens erſah
er daraus, daß Dubrowskij nur wenig von ſolchen
Geſchäften verſtünde; zweitens aber machte er die Be⸗
merkung, daß es ein leichtes ſein müßte, einen ſo heiß⸗
blütigen und unvorſichtigen Menſchen bald in die
allerungünſtigſte Lage zu bringen.
Als Andrej Gawrilowitſch einige Zeit darauf die an
ihn gerichtete Anfrage mit größerer Kaltblütigkeit
überdachte, erkannte er, daß es unumgänglich not⸗
wendig war, eingehender zu antworten; er ſetzte daher
ein neues und ziemlich ſachliches Schreiben auf, aber
auch dieſes wurde in der Folge als ungenügend an⸗
geſehen.
Die Sache zog ſich hin. Andrej Gawrilowiſch war
von ſeinem Recht ſo ſehr überzeugt, daß er ſich ihrer
wenig annahm, außerdem hatte er weder Luſt noch
Möglichkeit, mit Geldern um ſich zu ſtreuen, er ſpottete
144
с ee
Dubromwsfij
über die Verkäuflichkeit der Gewiſſen des Tinten:
geſchlechtes und es kam ihm überhaupt nicht einmal
der Gedanke, daß er möglicherweiſe ein Opfer dieſer
Hinterliſt werden könnte. Seinerſeits dachte Troje-
kurow ebenſowenig daran, ob er als Sieger aus der
begonnenen Sache hervorgehen würde: für ihn arbeitete
ja Schabaſchkin, der in ſeinem Namen wirkte, die
Richter kaufte und einſchüchterte und alle möglichen
Geſetze und Verfügungen auf jede erdenkbare Art
auszulegen beſtrebt war. Wie dem aber auch ſei, am
9. Februar des Jahres 18.. erhielt Dubrowskij
durch die Stadtpolizei die Aufforderung, vor dem
Landgericht зи ®® zu erſcheinen, um den Entſcheid in
der Streitſache zu hören, die zwiſchen ihm, dem Leut⸗
nant Dubrowskij, und dem General en chef Зто]е:
kurow hinſichtlich der fraglichen Beſitzung entſtanden
ſei, und um mit ſeiner Unterſchrift zu bekunden, daß
er den Entſcheid annehme, oder dagegen Berufung
einlege. Noch am gleichen Tage begab ſich Dubrowskij
zur Stadt; Trojekurow überholte ihn unterwegs; hoch⸗
mütig blickten die beiden einander an und Dubrowskij
bemerkte ein boshaftes Lächeln auf dem Antlitz ſeines
Gegners.
Andrej Gawrilowitſch wohnte in der Stadt ſtets
bei einem Kaufmann, mit dem er bekannt war, er
übernachtete auch diesmal bei ihm und begab ſich in
der Frühe des nächſten Tages zum Gerichtshof. Nie⸗
mand ſchenkte ihm Beachtung. Bald nach ihm kam
P. 1 10
145
Dubromsfij
Kirila Petrowitſch. Die Schreiber ſprangen auf und
ſteckten ihre Federn hinters Ohr; die Richter empfingen
ihn mit Ausdrücken der tiefſten Ergebenheit und rückten
ihm aus Reſpekt vor ſeinem Rang, ſeinen Jahren und
ſeiner Abſtammung ſogar einen Seſſel herbei; er ſetzte
ſich; Andrej Gawrilowitſch dagegen ſtand, wobei er
ſich an die Wand lehnte. Eine tiefe Stille brach an
und alsbald begann der Sekretär mit ſchallender
Stimme den Entſcheid des Gerichtes vorzuleſen. Wir
rücken ihn hier in vollem Umfange ein, da wir ап:
nehmen, daß es einen jeden intereſſieren dürfte, eine
der Methoden kennen zu lernen, dank welcher wir in
Rußland ein Beſitztum verlieren können, auf deſſen
Beſitz wir unbeſtreitbare Rechte haben. .. 1
Der Sekretär verſtummte: der Beiſitzer erhob ſich
und forderte Trojekurow mit einer tiefen Verbeugung
auf, das vorliegende Papier zu unterſchreiben. Tri⸗
umphierend nahm Trojekurow die Feder aus ſeiner
Hand und ſchrieb unter die Gerichtsentſcheidung ſein
völliges Einverſtändnis.
Nun war die Reihe an Dubrowskij. Der Sekretär
trat auch an ihn mit dem Papier heran, aber Зи:
browskij verharrte regungslos und mit geſenktem
Kopf in der gleichen Stellung. Der Sekretär wieder—
holte die Aufforderung: „Entweder voll und ganz
1 Puſchkin hatte eigentlich die Abficht, hier die authentiſche Ent⸗
ſcheidung des Koslowſchen Landgerichts in Sachen Krjukow gegen
Muratow beizulegen, indem er nur die Namen zu verändern ge-
dachte.
146
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р
1
Dubrowsk 1
zuzuſtimmen, oder aber ſeinem Nichteinverſtändnis,
ſollte ſein Gewiſſen ihm wider Erwarten ſagen, daß
ſeine Sache gerecht ſei, aufs deutlichſte Ausdruck zu
geben, wenn er nämlich die Abſicht hätte, während
der vom Geſetz vorgeſchriebenen Friſt gehörigen Ortes
Berufung einzulegen.“
Dubrowskij ſchwieg noch immer ... Aber plötzlich
fuhr ſein Kopf in die Höhe, ſeine Augen funkelten,
er ſtampfte mit dem Fuß auf und ſtieß den Sekretär
mit ſolcher Kraft von ſich, daß dieſer zu Boden ſtürzte,
darauf packte Dubrowskij das Tintenfaß, ſchleuderte
es auf den Beiſitzer und ſchrie mit der wildeſten Stimme:
„Wie, ihr achtet Gottes Gebote nicht! Packt euch hin⸗
aus, ihr Geſchlecht von Lakaien!“ Er wandte ſich Мег:
auf zu Kirila Petrowitſch: „ЭЙ es nicht unerhört,
Exzellenz, daß die Hundeknechte ihre Windhunde in die
Kirche Gottes bringen!“ und fuhr fort: „Jetzt laufen
die Hunde bereits in der Kirche herum! Ich wills ihnen
ſchon zeigen!“ Alles geriet in Entſetzen. Die Gerichts:
diener hörten den Lärm, liefen herbei und konnten den
Raſenden nur mit großer Mühe überwältigen. Man
führte ihn hinaus und brachte ihn in ſeinem Schlitten
unter. Trojekurow folgte, vom ganzen Gerichtshof
geleitet; Dubrowskijs plötzlich ausgebrochener Wahn⸗
ſinn hatte einen heftigen Eindruck auf ihn gemacht;
er würdigte die Richter, die ſich große Hoffnungen auf
ſeine Dankbarkeit gemacht hatten, keines einzigen
freundlichen Wortes; insgeheim von ſeinem Gewiſſen
147
Dubromsfij
gequält, begab er fich ſchleunigſt nach Pokrowskoje
und man kann nicht ſagen, daß der Triumph, den fein
Haß erzielt hatte, ihn ſehr befriedigte. Dubrowskij aber
mußte derweilen das Bett hüten; ein Kreisarzt (der
übrigens kein völliger Dummkopf war) ließ ihn zur
Ader und ſetzte ihm Blutegel an und ſpaniſche Fliegen;
abends fühlte er ſich ein wenig beſſer und konnte be⸗
reits am nächſten Tage nach Kiſtenjowka gebracht
werden, das ihm eigentlich ſchon faſt nicht mehr gehörte.
Drittes Kapitel
Einige Zeit verging, doch ſtand es mit der Gefund-
heit des kranken Dubrowskij immer noch ſchlimm. Die
Wahnſinnsanfälle wiederholten ſich freilich nicht mehr,
doch nahmen ſeine Kräfte merklich ab. Seine vor—
maligen Beſchäftigungen hatte er vergeſſen, ſein
Zimmer verließ er nur noch ſelten, aber tagelang
konnte er daſitzen und grübeln. Jegorowna, eine gute
Alte, die vormals ſeinen Sohn betreut hatte, war jetzt
ſeine Wärterin geworden. Sie pflegte ihn, wie man
ein Kind pflegt, ſie erinnerte ihn, wenn es Zeit war
zu eſſen oder zu trinken, ja, ſie fütterte ihn ſogar und
brachte ihn zu Bett. Andrej Gawrilowitſch folgte ihr
in allem, denn ſie war überhaupt der einzige Menſch,
den er in dieſer Zeit ſah. Er war nicht mehr fähig,
an feine Geſchäfte zu denken oder wirtſchaftliche An—
ordnungen zu treffen, und darum hielt es die Jegorowna
für unumgänglich notwendig, den jungen Dubrowskij,
148
Dubromsfij
der in einem Gardeinfanterieregiment diente, das zu
jener Zeit in Petersburg ftand, von allem zu Бепаф:
richtigen. Zu dieſem Zweck riß ſie ein Blatt aus dem
Wirtſchaftsbuch und diktierte dem Koch Chariton, dem
einzigen Schriftkundigen in Kiſtenjowka, einen Brief,
der noch am gleichen Tage auf der Poſt in der Stadt
aufgegeben wurde.
Allein es wird allmählich Zeit, den Leſer mit
dem eigentlichen Helden unſerer Erzählung bekannt
zu machen.
Wladimir Dubrowskij hatte feine Erziehung im
Kadettenkorps genoſſen, von wo er als Kornett zur
Garde kam. Sein Vater gab alles her, damit er dort
anſtändig leben konnte, und darum erhielt der junge
Mann von zu Hauſe weit mehr, als er eigentlich hätte
erwarten dürfen. Da er ehrgeizig und von feuriger
Gemütsart war, gewöhnte er ſich bald an allerhand
koſtſpielige Neigungen; er ſpielte gern Karten und
machte Schulden, kurz, er kümmerte ſich wenig um die
Zukunft, und wenn er gelegentlich an ſie dachte, ſo fiel
ihm nichts weiter ein, als daß er früher oder ſpäter
ein reiches Bräutchen ſuchen müßte.
Eines Abends ſaßen einige Offiziere bequem aus:
geſtreckt in ſeiner Wohnung und rauchten aus ſeinen
Bernſteinpfeifen, da trat Griſcha, ſein Kammerdiener,
ein und überreichte ihm einen Brief, deſſen Aufſchrift und
Siegel den jungen Mann aufs äußerſte überraſchen
mußten. Haſtig erbrach er den Brief und las folgendes:
149
Dubromsfij
„Wladimir Andrejewitſch, gnädiger Herr, ich,
deine alte Amme, erdreiſte mich, dir eine Nachricht
über das Befinden deines Papachens zukommen zu
laſſen. Es ſteht ſehr ſchlecht mit ihm, er weiß oft
gar nicht mehr, was er ſpricht, und ſitzt den ganzen
Tag über wie ein töricht Kind da — Leben und
Tod ſtehen zwar in Gottes Hand, aber dennoch
ſollteſt du, unſer hübſcher Falke, kommen und wir
wollen dir auch Pferde nach Peſſotſchnoje entgegen⸗
ſchicken. Man ſpricht hier davon, das Landgericht
würde demnächſt zu uns kommen, um uns an Kirila
Petrowitſch Trojekurow abzutreten, weil wir dem
gehören ſollen, aber wir gehören doch euch und
haben nie etwas anderes gehört. Könnteſt du nicht,
da du doch in Petersburg lebſt, dem Väterchen
Zaren hierüber berichten, damit er nicht zuläßt, daß
wir gekränkt würden. Und bei uns regnet es jetzt
ſchon die zweite Woche und der Hirt Rodja iſt vor
kurzem geftorben. Griſcha fende ich meinen müffer:
lichen Segen. Biſt du mit ihm zufrieden? Ich ver—
bleibe als deine treue Dienerin und Amme
Arina Jegorowna Buſyrjowa.“
Erregt las Wladimir Dubrowskij dieſe ziemlich kon⸗
fuſen Zeilen einige Male durch. Er hatte ſchon in
früheſter Kindheit ſeine Mutter verloren und war, ehe
er noch ſeinen Vater recht kennen gelernt hatte, mit
acht Jahren nach Petersburg gebracht worden. Schon
aus dieſem Grunde hatte er eine romantiſche Neigung
130
Dubromsfij
für feinen Vater und war um fo mehr für das Samilien:
leben eingenommen, als er ja noch Гай nie die Mög:
lichkeit gehabt hatte, ſich an deſſen ftillen Freuden zu
ergößen. |
Qual voll drang ihm der Gedanke, daß er vielleicht den
Vater verlieren könnte, ins Herz, und ſchaudern machte
ihn die Lage des armen Kranken, die er aus dem Brief der
Amme eerriet. Lebhaft malte er ſich das Bild des Vaters
im einſamen Dorf aus, umgeben von einer törichten
Greiſin und dem übrigen Hofgeſinde ... und zu alle:
dem bedroht von irgendeinem Ungemach, und in Эна:
len des Leibes und der Seele ohne jedwede Hilfe hin—
welkend ... Wladimir Andrejewitſch machte ſich jetzt
bittere Vorwürfe über ſeine ſträfliche Nachläſſigkeit.
Er hatte ſchon geraume Zeit über keine Nachricht von
ſeinem Vater erhalten, aber dennoch hatte ihn dieſer
Umſtand nicht bewogen, ſich nach ihm zu erkundigen,
denn er war der Anſicht, daß der Vater auf Reiſen
ſei oder von wirtſchaftlichen Fragen völlig in Anſpruch
genommen.
Darum faßte er jetzt ſogleich den Entſchluß, hin—
zufahren und ſogar, falls der kränkliche Zuſtand des
Vaters ſeine immerwährende Anweſenheit erfordere,
den Abſchied zu nehmen. Die Kameraden bemerkten
ſeine Unruhe und verließen ihn. Als Wladimir allein
war, ſchrieb er alsbald das Urlaubsgeſuch, ſteckte ſeine
Pfeife an und verſank in tiefes Nachdenken.
— — — — — — — — — — — —
Dubromsfij
Wladimir Andrejewitſchs Wagen näherte fich der
Poſtſtation, von der aus es nach Kiſtenjowka ging.
Sein Herz war voll trüber Vorahnungen: er fürchtete,
den Vater nicht mehr am Leben anzutreffen; und nur
ungern ſtellte er ſich das traurige Leben vor, das ihn
im Dorf erwartete: Einöde, Menſchenleere, Armut
und immerwährende Geſchäfte, von denen er auch nicht
das geringfte verſtand. Als er das Poſtgebäude Бе:
trat, eilte er ſogleich zum Poſthalter und fragte, ob
Pferde da wären. Der Poſthalter erkundigte ſich, wo⸗
hin er reiſe, und teilte ihm darauf mit, daß die Pferde
aus Kiſtenjowka ihn bereits ſeit vier Tagen erwarteten.
Bald darauf erſchien auch der alte Kutſcher Anton,
der ihn einſt durch die Stallungen geführt und die
Obhut über ſein kleines Pferdchen gehabt hatte. Als
Anton ihn erblickte, kamen ihm gleich die Tränen, er
verneigte ſich vor ihm tief und meldete, daß der alte
Herr noch am Leben ſei, darauf eilte er, die Pferde
anzuſpannen. Wladimir Andrejewitſch ſchlug das an⸗
gebotene Frühſtück aus, denn es trieb ihn, weiter zu⸗
kommen. Während Anton ihn auf Nebenſtraßen nach
Hauſe fuhr, entſpann ſich zwiſchen den beiden folgen⸗
des Geſpräch:
„Sag mal, Anton, was iſt das für eine Sache, die
mein Vater mit Trojekurow hat?“
„Gott allein weiß es, Väterchen Wladimir Andre⸗
jewitſch; der gnädige Herr iſt, wie man ſagt, im Un⸗
frieden von Kirila Petrowitſch gegangen und dieſer
152
Dubromsfij
hat ihn verklagt, obwohl es fonft feine Gewohnheit
iſt, ſtets ſelber den Richter zu ſpielen. Aber es iſt nicht
an uns, den Bedienten, darüber zu urteilen, was die
Herrſchaften für richtig halten; trotzdem jedoch iſt es,
weiß Gott, überflüſſig, daß Ihr Väterchen gegen
Kirila Petrowitſch zu Felde gezogen iſt: wer kann mit
einer Peitſche gegen ein Beil aufkommen?“
„Mithin macht dieſer Kirila Petrowitſch ſcheinbar
bei euch alles, was ihm in den Kopf kommt?“
„Freilich, Herr: man ſagt, daß der Beiſitzer ihm
keinen Groſchen wert ſei, den Polizeileutnant aber ge⸗
brauche er für Botengänge; und die ganzen Herr—
ſchaften aus der Umgebung kommen ja zu ihm, um
ihm ihren Reſpekt zu erweiſen, und überhaupt muß
man ſagen, wo ein Trog iſt, da finden ſich immer die
Schweine.“
„Und iſt es wahr, daß er uns unſer Gut nehmen
will?“
„Ach, Herr, wir haben auch ſo was gehört. Noch
vor einigen Tagen ſagte der Küſter von Pokrows⸗
koje bei der Kindstaufe zu unſerem Dorfälteſten: ihr
habt jetzt die längſte Zeit dem Müßiggang gefrönt;
jetzt werdet ihr in die Hände von Kirila Petrowitſch
kommen; Mikita, der Schmied, aber entgegnete ihm:
laß das, Sſaweljitſch, wozu den Gevatter betrüben
und die Gäſte verwirren. Kirila Petrowitſch iſt eines
und Andrej Gawrilowitſch iſt ein anderes; und wir
gehören Gott und dem Zaren; aber trotzdem iſt es
153
Du browsk ij
immer ſchwierig, einen Knopf auf einen fremden Mund
zu nähen.“
„Mit anderen Worten, ihr habt keine große Luſt,
zu Trojekurow zu kommen?“
„Zu Trojekurow zu kommen! Der Herr behüte
und bewahre uns davor! Seinen eigenen Leuten geht
es ja ſchlecht genug, wie ſoll es erſt werden, wenn er
nun noch fremde dazu bekommt? Denen wird er nicht
nur die Haut, fondern auch gleich das Fleiſch mit ab:
ſchinden. Nein, пет, ſchenke Gott Andrej Gawrilowitſch
ein langes Leben; aber ſollte es in Gottes Willen ſtehen,
ihn fortzunehmen, ſo brauchen wir niemand außer
dir, unſer Ernährer. Wenn du uns nur nicht preis:
gibſt, wir werden ſchon zu dir halten.“
Anton ſchwang bei dieſen Worten mächtig feine
еше, zog die Zügel an und brachte die Pferde in
ſchnellen Trab.
Gerührt von der Anhänglichkeit des alten Kutſchers,
verſtummte Dubrowskij und gab fich völlig feinen
Gedanken hin. So verging mehr als eine Stunde;
plötzlich weckte ihn Griſcha mit dem Ruf: „Da iſt
Pokrowskoje!“ Dubrowskij ſchaute auf. Sie fuhren
am Ufer eines breiten Sees, aus dem ein Flüßchen
ſtrömte, das ſich weiterhin zwiſchen den Hügeln ver:
lor. Auf einem von dieſen ragte, vom dichten Grün
eines Haines faſt verdeckt, das grüne Dach und das
Belvedere eines rieſigen Steinhauſes, dort befand ſich
ferner ein Kirchlein mit fünf Kuppeln und ein alter:
154
Dubromsfij
tümlicher Glockenturm; in der Umgebung wurden die
Dorfhütten mit ihren Gemüſegärten und Ziehbrunnen
ſichtbar. Dubrowskij erkannte die Gegend ſofort
wieder; er erinnerte ſich ſogar daran, daß er auf
dieſem ſelben Hügel mit der kleinen Maſcha Troje—
kurowa geſpielt hatte, die zwei Jahre jünger war als
er und ſchon damals eine kleine Schönheit zu werden
verfprach. Er verſpürte den Wunſch, ſich bei Anton
nach ihr zu erkundigen, doch hielt ihn irgendeine Scheu
in ſeinem Innern davon ab.
Als ſie ſich dem Herrenhauſe näherten, gewahrte
er zwiſchen den Bäumen des Parks ein weißes Ge⸗
wand. Aber gleichzeitig ſchlug Anton heftig auf die
Pferde ein und fegte, dem allgemeinen Ehrgeiz fol—
gend, der ſowohl den Dorfkutſchern als auch den
Stadtkutſchern eigen ift, über die Brücke und am Park
vorbei. Ihr Weg führte, nachdem ſie das Dorf im
Rücken gelaſſen hatten, bergauf, kurze Zeit darauf
ſah Wladimir bereits das Birkenwäldchen und links
davon auf einem freien Platz das graue Häuschen mit
dem roten Dach; ſein Herz pochte: Kiſtenjowka lag
vor ihm und das arme Haus ſeines Vaters.
Zehn Minuten danach fuhr er bereits auf den
Gutshof. Mit unbeſchreiblicher Erregung blickte er
ſich um: es war mehr als zwölf Jahre her, daß er die
Heimat nicht mehr geſehen. Die kleinen Birken, die
man noch zu ſeiner Zeit längs des Zaunes gepflanzt
hatte, waren jetzt emporgeſchoſſen und hohe dicht—
155
Dubromsfij
belaubte Bäume geworden. Der Gutshof, deſſen
Zierde vormals drei regelmäßige Blumenbeete ge:
weſen waren, zwiſchen denen ein breiter, ſauber де:
haltener Weg führte, hatte ſich jetzt in eine ungemähte
Wieſe verwandelt, auf der ein gekoppeltes Pferd wei⸗
dete. Die Hunde bellten, aber ſie verſtummten ſogleich,
als ſie Anton erkannten, und wedelten mit ihren
buſchigen Ruten. Das Hofgeſinde ſtrömte aus den
Geſindehäuſern hervor und umringte den jungen
Herrn mit lärmenden Freudenkundgebungen. Nur
mit Mühe konnte er ſich durch die eifrige Schar zwängen
und flog die morſche Freitreppe hinauf; die Jego—
rowna empfing ihn im Hausflur und umarmte ihren
einſtmaligen Zögling weinend. — „Guten Tag,
Kinderfrau, guten Tag,“ ſagte er und drückte die
wackere Alte ans Herz: „Was macht der Vater, wo
iſt er? Wie geht es ihm?“ In dieſem Augenblick
trat, mühſam die Beine ſchleppend, ein hochgewach⸗
ſener, blaſſer und magerer Greis im Schlafrock, die
Nachtmütze auf dem Kopf, in den Saal. „Wo iſt Wla⸗
dimir?“ fragte er mit ſchwacher Stimme und feurig
umarmte Wladimir ſeinen Vater. Allein dieſe Freude
war eine zu heftige Erregung für den Kranken, mit
einem Male wurde er ganz ſchwach, die Beine ver⸗
ſagten ihm den Dienſt, und er wäre gewiß hingeſtürzt,
wenn der Sohn ihn nicht gehalten hätte. „Warum
biſt du nur aufgeſtanden?“ meinte die Jegorowna,
„er hält ſich nur mit Mühe auf den Beinen und will
156
e ей
- re — nA ie
Dubromstfij
doch immer dorthin, wo die andern Menſchen find.“
Man trug den Alten in ſein Schlafzimmer. Er gab
ſich die größte Mühe, mit Wladimir zu ſprechen, aber
ſeine Gedanken waren zu wirr und ſeine Worte ganz
ohne Zuſammenhang. Nach und nach verſtummte er
und nickte ſchließlich ein. Sein Zuſtand verſetzte Wla-
dimir in Schrecken. Er ließ ſein Bett im Schlafzimmer
aufſchlagen und bat, daß man ihn mit dem Vater
allein laſſe. Das Hausgeſinde gehorchte und wandte
ſich nunmehr Griſcha zu, der alsbald ins Leutezimmer
geführt wurde, wo man ihn nach Dorfſitte mit aller nur
erdenklichen Gaſtfreundſchaft bewirtete und ihn gleich-
zeitig mit Fragen und Begrüßungen faſt zu Tode quälte.
Viertes Kapitel
Wo Prunk einſt war, ſteht jetzt ein Sarg.
Nachdem einige Tage verſtrichen waren, beabſich—
tigte der junge Dubrowskij eigentlich, ſich mit den
laufenden Geſchäften zu befaſſen, aber ſein Vater war
nicht in der Lage, ihm die nötigen Aufklärungen zu
geben, zudem hatte Andrej Gawrilowitſch keinen Be:
vollmächtigten. Wladimir verſuchte die Papiere durch-
zuſehen, fand jedoch nur den erſten Brief des Beiſitzers
und den erſten Entwurf einer Antwort auf dieſes
Schreiben. Er vermochte nicht, ſich hieraus ein klares
Bild über den Gang des Prozeſſes zu machen, und
entſchloß ſich daher, im Vertrauen auf die gerechte
Sache, alles Weitere abzuwarten.
157
Dubromwesfij
Andrej Gawrilowitſchs Befinden verſchlimmerte ſich
derweilen von Stunde zu Stunde. Wladimir ſah den
baldigen Tod voraus und wich nicht vom Lager des
Alten, der ſchon völlig kindiſch geworden war.
Inzwiſchen war aber die geſetzliche Friſt verſtrichen
und keine Berufung war eingelegt worden. Kiften:
jowka gehörte mithin Trojekurow. Schabaſchkin eilte
zu ihm mit Glückwünſchen und Ergebenheitsbeweiſen
und bat um Anordnungen: „Wann es wohl Troje—
kurow belieben würde, den Beſitz des neu erworbenen
Gutes anzutreten, und ob er das ſelber zu tun wünſche,
oder ob er irgendjemand hierzu bevollmächtigen wolle?“
Kirila Petrowitſch geriet in eine gewiſſe Verlegenheit.
Er war durchaus nicht habgierig; ſein Verlangen nach
Rache hatte ihn ſichtlich zu weit geführt; ſein Gewiſſen
murrte. Zudem war ihm ja bekannt, in welcher Ber:
faſſung ſich ſein Gegner, ſein alter Jugendfreund be—
fand, und ſo war ihm der Sieg, den er errungen,
keineswegs nach dem Herzen. Drohend blickte er
Schabaſchkin an und ſuchte nach einem Grund, um
ihn beſchimpfen zu können, beſchränkte ſich jedoch, da
er keinen genügenden Vorwand fand, darauf, ihm
wütend zuzurufen: „Pack dich; ich will dich nicht länger
ſehen!““ Da Schabaſchkin ſah, daß jener keineswegs
guter Laune war, verbeugte er ſich und machte ſich
ſchleunigſt davon, Kirila Petrowitſch dagegen begann,
als er allein war, heftig im Zimmer auf und ab zu
marſchieren, wobei er „Siegesdonner ſoll erſchallen“
138
FFP ee
— ие миры сли ыы
Dubrowskij
laut vor ſich hinpfiff, was ein Beweis dafür war, daß
in ſeinem Innern eine ungewöhnliche Bewegung vor
ſich ging.
Es endete ſchließlich damit, daß er den Befehl
gab, den leichten Wagen anzuſpannen, er kleidete ſich
warm an (es war bereits Ende September) und fuhr
vom Hof, wobei er ſelber kutſchierte.
Bald darauf lag Andrej Gawrilowitſchs Häuschen
vor ihm. Widerſtrebende Gefühle erfüllten ſeine Bruſt.
Befriedigte Rache und Herrſchſucht hatten bisher bis
zu einem gewiſſen Grade die edleren Gefühle in ihm
erſtickt, endlich aber triumphierten die letzteren dennoch.
Er war jetzt feſt entſchloſſen, ſich mit ſeinem alten
Nachbarn auszuſöhnen, und indem er ihm ſeine Be—
ſitzung zurückgab, die letzten Spuren jeden Zwiſtes
auszurotten. Dieſe gute Abſicht machte ihm die Bruſt
wieder frei, und nun fuhr Kirila Petrowitſch im Trab
dem Gute ſeines Nachbarn zu und fuhr ſchnurſtracks
auf den Gutshof.
Um die gleiche Zeit Гав der Kranke in feinem Schlaf—
gemach am Fenſter. Eine furchtbare Verwirrung ver—
ſtörte ſein Geſicht, als er Kirila Petrowitſch erkannte:
die gewöhnliche Bläſſe wich einer tiefen Röte, die
Augen funkelten und unverſtändliche Laute drangen
aus ſeinem Munde. Sein Sohn, der neben ihm ſaß
und ſich gerade mit den Wirtſchaftsbüchern befaßte,
blickte auf und war von ſeinem Anblick überraſcht.
Mit der Miene des tiefſten Entſetzens und des Zornes
159
DubromsfPij
wies der Kranke mit dem Finger auf den Hof. Im
ſelben Augenblick ertönten die Stimme und die ſchweren
Schritte der Jegorowna: „Herr, gnädiger Herr!
Kirila Petrowitſch iſt da, Kirila Petrowitſch ſteht vor
der Tür!“ Die Jegorowna ſtöhnte: „Herr mein Gott!
was ſoll das nur? Was geſchieht mit ihm?“ Der
Alte verſuchte, ſich aus ſeinem Schlafrock zu wickeln
und vom Seſſel aufzuſtehen. Er erhob ſich ſogar, doch
ſchlug er gleich darauf hin. Der Sohn eilte auf ihn
zu; aber ſchon lag der Vater beſinnungslos auf dem
Fußboden und atmete nicht mehr: ein Schlaganfall
hatte ihn getroffen. „Schnell, ſchnell zur Stadt, einen
Arzt!“ ſchrie Wladimir. — „Kirila Petrowitſch läßt
fragen, ob Sie ihn empfangen wollen,“ meldete gleich⸗
zeitig ein Diener. Wladimir warf ihm einen furcht⸗
baren Blick zu. „Sage Kirila Petrowitſch, daß er ſich
ſo ſchnell als möglich zum Teufel ſcheren ſoll, bevor
ich den Befehl gebe, ihn vom Hofe zu jagen .. marſch!“
Freudig eilte der Diener, die Anordnung ſeines Herrn
auszuführen. Die Jegorowna ſchlug die Hände зи:
ſammen. „Lieber gnädiger Herr,“ ſagte ſie mit weiner⸗
licher Stimme: „Du ſtürzſt dich in dein Verderben!
Kirila Petrowitſch wird uns jetzt auffreſſen.“ —
„Schweig, Kinderfrau,“ ſagte Wladimir zornig: „An⸗
ton ſoll gleich in die Stadt, um einen Arzt zu holen.“
Die Jegorowna verließ das Zimmer. Im Vorzimmer
war kein Menſch: alles war auf den Hof geeilt, um
Kirila Petrowitſch anzuſchauen. Sie ging auf die Frei⸗
160
Dubrowskij
treppe hinaus und hörte den Diener die Antwort des
jungen Herrn überbringen. Kirila Petrowitſch hörte
ihn im Wagen ſitzend ſtumm ап; fein Geſicht wurde
finſterer als die Nacht; er lächelte verächtlich, ſtreifte
das Gutsgeſinde mit einem drohenden Blick und fuhr
im Schritt vom Hof. Er ſchaute auch ins Fenſter hin—
ein, in dem er noch vor einem Augenblick Andrej
Gawrilowitſchs Geſicht geſehen hatte, aber er konnte
ihn nicht mehr erblicken. Die Amme ſtand noch immer
auf der Freitreppe, ſie hatte den Befehl ihres jungen
Herrn ganz und gar vergeſſen. Lärmend unterhielt
ſich das Geſinde über den unerhörten Vorfall. Тов:
lich trat Wladimir unter ſeine Leute und ſagte mit
unſicherer Stimme: „Wir brauchen keinen Arzt mehr
— mein Vater iſt geſtorben.“
Ungeheure Verwirrung entſtand. Hals über Kopf
ſtürzten die Leute ins Gemach des alten Herrn. Er ruhte
im Seſſel, Wladimir ſelber hatte ihn dorthin getragen;
die rechte Hand hing auf den Fußboden hinab, das
Haupt war auf die Bruſt geſunken — kein Lebenszeichen
war mehr in dieſem Körper, der noch nicht erkaltet,
aber ſchon durch den Tod entſtellt war. Die Jego—
romna ſchluchzte laut auf, die Diener aber machten ſich
eilfertig am Leichnam, der jetzt ihrer Obhut anvertraut
war, zu ſchaffen — fie wuſchen ihn, fie zogen ihm jene
Uniform an, die noch im Jahre 1797 genäht worden
war, und betteten ihn dann auf den gleichen Tiſch, an dem
ſie ſo lange Jahre hindurch ihren Herrn bedient hatten.
P. I 11
161
Dubromsfij
Sünftes Kapitel
Drei Tage danach fand die Beerdigung ſtatt. Der
Körper des armen Greiſes lag von vielen Kerzen um:
geben im Sarge, über ihm ein Bahrtuch. Im Speiſe⸗
zimmer drängte ſich das Geſinde, bereit, der Leiche das
Geleit zu geben. Wladimir und die Bedienten hoben
den Sarg auf. An der Spitze des Zuges ſchritt der
Prieſter und hinter ihm ein Meßner, der Begräbnis⸗
geſänge fang. Der Hausherr von Kiſtenjowka verließ
zum letzten Male die Schwelle ſeines Hauſes. Der
Sarg wurde durch das kleine Wäldchen getragen,
hinter dem ſich die Kirche befand. Der Tag war klar
und kalt; von den Bäumen hatte der Herbſt ſchon
viele Blätter geweht. Als ſie das Wäldchen verließen,
wurde die Holzkirche von Kiſtenjowka ſichtbar und der
von alten Linden beſchattete Friedhof. Dort ruhte be⸗
reits Wladimirs Mutter; neben ihrem Grabe war am
Tage vorher ein friſches Grab gegraben worden. Die
Kirche war ganz angefüllt von Bauern aus Kiſten⸗
jowka, die hierher gekommen waren, ihrem verſtorbenen
Herrn die letzte Ehre zu erweiſen. Der junge Dubrowskij
ſtand neben dem Chor; weder weinte er, noch betete
er; der Ausdruck ſeines Geſichtes war furchtbar. Die
Trauerzeremonie war zu Ende. Wladimir ſchritt als
erſter vom Leichnam Abſchied nehmen, hinter ihm
drängte ſich das ganze Hofgeſinde; gleich darauf
wurde der Sargdeckel her beigetragen und aufgenagelt.
162
1 — ac 83 u
Dubromsfij
Die Weiber heulten laut, doch auch die Bauern wiſchten
ſich mit den Заийеп nicht ſelten Tränen aus den Augen.
Geleitet vom ganzen Dorf trugen Wladimir und die
gleichen drei Bedienten den Sarg auf den Friedhof. Der
Sarg wurde ins Grab geſenkt, jeder der Anweſenden
warf ihm eine Handvoll Erde nach, die Grube wurde
zugeſchaufelt, eine letzte Verbeugung und gleich darauf
verteilte ſich die Menge. Wladimir entfernte ſich eilig, er
überholte die andern und verſchwand im Wäldchen.
Die Jegorowna lud den Prieſter und alle zu ihm
Gehörigen in Wladimirs Namen zum Begräbnismahl
ein, wobei ſie die Mitteilung machte, daß der junge
gnädige Herr nicht beabſichtige, dem Eſſen beizu⸗
wohnen. Und ſomit begaben ſich Hochwürden
Aniſſim, ſeine Frau Fedotowna und der Meßner zu
Fuß zum Herrenhauſe, unterwegs plauderten ſie mit
der Jegorowna über die Tugenden des Verſtorbenen,
aber auch darüber, was wohl ſeinem Nachfolger in
allernächſter Zeit augenſcheinlich bevorſtehen mochte.
(Trojekurows Ankunft und der Empfang, der ihm
zuteil geworden, waren bereits dem ganzen Kreiſe be⸗
kannt und die dortigen Politiker prophezeiten, daß es
zu ernſthaften Folgen kommen würde.)
„Was geſchehen ſoll, wird geſchehen,“ meinte die
Frau des Prieſters: „Trotzdem wäre es bedauerlich,
wenn ein anderer als Wladimir Andrejewitſch unſer
Herr würde. Man kann nicht anders urteilen, als daß
er ein vortrefflicher junger Herr iſt.“
163
Dubromsfij
„Wer außer ihm hätte das Recht, unfer Herr zu
ſein?“ fiel die Jegorowna ein: „Kirila Petrowitſch
gibt ſich vergebens die viele Mühe — er hat es mit
keinem Zaghaften zu tun; mein Falke wird ſchon ſeinen
Mann ſtellen, und wenn Gott will, werden ihn auch
feine Wohltäter nicht im Stiche laſſen. Wie Боф:
mütig Kirila Petrowitſch auch ſei, er hat dennoch den
Schwanz eingezogen, als mein Griſcha ihm zurief:
Hinaus, alter Hund! fort vom Hof!“
„Ach ja, Jegorowna,“ ſagte der Meßner: „Trotzdem =
jedoch würde ich es ſicherlich lieber mit dem Satan zu
tun haben, als mich gefrauen, Kirila Petrowiſch ſcheel
anzuſehen. Wenn man ihn nur anſchaut — Schau⸗
dern und Entſetzen befällt einen augenblicks! Und der 1
Rücken krümmt ſich ganz von ſelber, wahrhaftig ganz
von ſelber ...“
„Es iſt alles eitel!“ ſagte der Prieſter: „Auch Kirila 1
Petrowitſch wird man einſt zur ewigen Ruhe tragen,
wie wir es heute mit Andrej Gawrilowitſch getan
haben; zwar wird ſeine Beerdigung möglicherweiſe
prunkvoller ſein und es werden mehr Gäſte zugegen
ſein, aber iſt das nicht vor Gott alles gleich?“
„Ach, Väterchen! auch wir beabſichtigten freilich den
ganzen Kreis einzuladen, aber Wladimir Andrejewitſch
hat es nicht zugelaſſen. Wir hätten ja genug dagehabt,
um alle zu bewirten ... aber da war nichts zu wollen.
Zum mindeſten kann ich jetzt, da keine andern Gäſte da
ſind, euch prächtig bewirten, meine teuern Gäſte.“
164
Dubrowsk 1
Dieſes liebenswürdige Verſprechen und die Hoff:
nung, eine ſchmackhafte Paſtete vorzufinden, beflügel:
ten die Schritte der Plaudernden und wohlbehalten
langten ſie bald darauf vor dem herrſchaftlichen Hauſe
an, in dem der Tiſch ſchon gedeckt und der Schnaps
ſchon bereit ſtand.
Derweilen drang Wladimir immer tiefer ins Ge:
hölz ein, denn es war ſeine Abſicht, den Kummer
ſeiner Seele durch die Bewegung und die hierdurch
hervorgerufene Müdigkeit zu erſticken. Er ging, ohne
auf den Weg zu achten; unabläſſig ſtellten ſich ihm
Zweige in den Weg und zerkratzten ihn, unabläſſig
gerieten feine Füße in Sumpfboden — er beachtete es
nicht. Endlich gelangte er an eine freiliegende Senkung,
die rings von dichtem Walde umgeben war; durch die
Bäume, die der Herbſt ſchon halb entblättert hatte,
rieſelte ſtill ein kleines Bächlein. Wladimir blieb ſtehen,
ſetzte ſich auf den kalten Raſen und verfiel in Nach⸗
ſinnen, dunkle Gedanken drängten ſich in ſeiner Seele
... Wie ſehr fühlte er hier feine Einſamkeit, wie dro⸗
hend ſchien ihm ſeine Zukunft von finſteren Wolken
verhängt. Die Feindſchaft mit Trojekurow war ein
Anzeichen neuen Kummers. Sein ſowieſo ſchon ge—
ringes Vermögen konnte am Ende in andere Hände
geraten: und war es nicht in dieſem Falle Armut,
was ihm bevorſtand? Lange ſaß er regungslos auf
dem gleichen Fleck und beobachtete den ſtillen Lauf des
Baches, der die welken Blätter davontrug, und leb:
165
Dubromsfij
haft erinnerte ihn dies an das Leben —, ja es ſchien
ihm ein getreues und allgemein gültiges Abbild des
Lebens zu ſein. Aber ſchließlich bemerkte er, daß die
Dämmerung angebrochen warz er erhob ſich und ſuchte
den Weg nach Hauſe, doch mußte er noch lange durch
den unbekannten Wald irren, ehe er einen kleinen Fuß⸗
pfad fand, der ihn geradewegs zu ſeinem eigenen
Haustor führte.
Als er heimkehrte, traten ſoeben der Prieſter und
ſeine Angehörigen aus dem Hauſe. Bei ihrem Anblick
ſchoß ihm der Gedanke an ſchlimme Vorbedeutung
durch den Kopf. Unwillkürlich hielt er ſich abſeits und
verbarg ſich hinter den Bäumen. Sie bemerkten ihn
nicht und unterhielten ſich mit großem Eifer: „Meide
das Böſe und tue Gutes,“ ſagte der Prieſter zu ſeiner
Frau: „Wir wollen nicht länger hierbleiben, es geht
uns nichts an, wie die Sache auch zu Ende ginge.“
Die Frau entgegnete etwas, aber Wladimir konnte
ihre Worte nicht mehr verſtehen.
Als er ſich dem Hauſe näherte, gewahrte er dort
viel Volk: auf dem Gutshof drängten ſich Bauern ſo⸗
wohl als auch das Hofgeſinde. Schon in der Ferne
hatte Wladimir ungewöhnlichen Lärm und lautes
Sprechen gehört. Vor dem Speicher hielten zwei Drei⸗
geſpanne. Einige fremde Männer in Uniform unter⸗
hielten ſich auf der Freitreppe. „Was ſoll das be-
deuten?“ fragte er zornig Anton, der ihm entgegen—
gelaufen kam: „wer find dieſe und was wollen пе?“ —
166
Dubromstij
„Ach, Väterchen, Wladimir Andrejewitſch,“ entgeg⸗
nete Anton atemlos: „Es iſt das Gericht, das ge—
kommen iſt. Man will uns Trojekurow übereignen,
man will uns dir fortnehmen! ...“
Wladimir ſenkte den Kopf; die Diener umringten
ihren unglücklichen Herrn. „Väterchen, unſer Väter⸗
chen,“ ſchrieen ſie und küßten ihm die Hände: „Wir
wollen keinen andern Herrn als dich. Lieber ſterben,
als dich verlaſſen. Befiehls nur, Herr, mit dem Ge⸗
richt werden wir ſchon fertig werden.“ — Wladimir
blickte ſie an, bewegt von finſteren Gefühlen. „Haltet
ftill,“ ſprach er zu ihnen: „ich will ſelber mit den Зе:
amten ſprechen.“ — „Ja, [реф nur, Väterchen,“ rief
man ihm aus der Menge zu: „und rede den Ver—
dammten ins Gewiſſen.“ Wladimir näherte ſich den
Beamten. Stolz aufgerichtet ſtand dort Schabaſchkin,
die Uniformmütze auf dem Kopf, und blickte ſich body:
mütig im Kreiſe um. Der Polizeileutnant, ein hoch—
gewachſener und dicker Mann von etwa fünfzig Jahren
mit gerötetem Geſicht und langem Schnurrbart, гаи:
ſperte ſich, als er bemerkte, daß Dubrowskij ſich näherte,
und ſprach mit heiſerer Stimme: „Ich wiederhole euch
mithin, was ich euch bereits geſagt habe: Laut Urteil
des s ſchen Kreisgerichtes gehört ihr jetzt Kirila
Petrowitſch Trojekurow, deſſen Perſon hier von Herrn
Schabaſchkin vertreten wird. Ihr habt jedem ſeiner
Befehle Folge zu leiſten; ihr aber, Weiber, ſollt ihn
lieben und ehren, denn er iſt ein großer Freund von
167
Dubromsfij
euch.“ Der Polizeileutnant mußte über feinen eigenen
pikanten Scherz laut lachen. Schabaſchkin und die
übrigen Beamten ſekundierten ihm. Wladimir kochte
vor Unwillen. „Darf ich mir die Frage erlauben, was
das zu bedeuten hat?“ fragte er mit gekünſtelter Kalt⸗
blütigkeit den heiteren Polizeileutnant. „Das ſoll nichts
anderes bedeuten,“ entgegnete der ſcherzhafte Beamte:
„als daß wir gekommen find, Kirila Petrowitſch Зло:
jekurow in ſein Beſitztum einzuführen und daß wir
allen andern Perſonen raten wollen, gutwillig ihres
Weges zu gehen.“
„Mir will jedoch ſcheinen, daß Sie, bevor Sie ſich
an meine Bauern wandten, eigentlich gut getan hätten,
ſich zunächſt mit mir zu verſtändigen, und dem Guts⸗
beſitzer Mitteilung davon zu machen, daß ihm feine
Gewalt genommen wird.
„Andrej Gawrilowitſch Dubrowskiß der vormalige
Beſitzer dieſes Gutes, iſt nach Gottes Ratſchluß ge⸗
ſtorben; wer biſt denn du?“ warf Schabaſchkin mit
einem dreiſten Blick hin: „Wir kennen Sie nicht und
wollen Sie auch gar nicht erſt kennen.“
„Euer Wohlgeboren, das iſt unſer junger Herr,“
rief eine Stimme aus der Menge.
„Wer wagt dort, das Maul aufzureißen!“ ſchrie
ſtreng der Polizeileutnant: „Was da, Herr? Euer
Herr ift Kirila Petrowitſch Trojekurow ... habt ihrs
gehört, ihr Schalksnarren?“
„Was du nicht ſagſt!“ rief die gleiche Stimme.
168
Dubromsfij
„Das ift Aufruhr!“ ſchrie der Polizeileutnant:
„Heda, Dorfälteſter, hierher!“
Der Dorfälteſte trat zögernd vor.
„Augenblicks finde mir den, der es gewagt hat, mit
mir zu ſprechen; dem will ichs beſorgen! ...“
Der Dorfälteſte wandte ſich zur Menge und fragte,
wer geſprochen hätte? Alle ſchwiegen. Aber gleich
darauf begann in den hinteren Reihen ein Gemurmel,
das immer lauter wurde und ſchon nach einer Minute
zum gräßlichſten Geſchrei ausartete. Der Polizeileut⸗
nant dämpfte die Stimme, um den Leuten gut zuzu⸗
reden ... „Was gaffen wir noch?“ ſchrie das Hof:
geſinde: „Vorwärts, Kinder, packt ihn!“ Die Menge
rückte vor. Schabaſchkin und die Beamten des Land—
gerichtes flohen ins Haus und ſperrten die Türe zu.
„Drauf los, Kinder!“ ſchrie immer noch die gleiche
Stimme und ſogleich drang die Menge auf die Türe
ein. „Haltet!“ ſchrie Dubrowskij: „Ihr Narren, was
tut ihr? Ihr wollt wohl euch und mich zugrunde
richten; geht nach Hauſe und laßt mich in Ruhe. Habt
keine Angſt, der Kaiſer iſt gnädig: ich werde zu ihm
gehen und ihn bitten — er wird nicht geſtatten, daß
wir gekränkt werden — wir find ja alle feine Kinder;
wie aber könnte er für euch eintreten, wenn ihr euch
wie Aufrührer und Räuber gebärdet?“
Die Worte des jungen Dubrowskij, ſeine ſchallende
Stimme und ſein imponierendes Auftreten erzielten
alsbald die gewünſchte Wirkung. Das Volk ver⸗
169
Dubromwsfij
ſtummte und zerſtreute ſich; der Hof leerte ſich, aber
immer noch ſaßen die Beamten eingeſperrt im Hauſe.
Traurig ſchritt Wladimir die Freitreppe hinan. Scha⸗
baſchkin öffnete die Türe und dankte Dubrowskij mit
einer tiefen Verbeugung für ſein gnädiges Einſchreiten.
Verächtlich hörte ihn Wladimir an und entgegnete
nichts. „Wir haben beſchloſſen,“ fuhr der Beiſitzer
fort: „mit Ihrer Erlaubnis hier zu übernachten; es
iſt nämlich ſchon dunkel und Ihre Bauern könnten uns
leicht unterwegs überfallen. Erweiſen Sie uns die
Güte, befehlen Sie, ein wenig Heu im Wohnzimmer
aufzuſchütten; ſobald es Tag wird, werden wir unſeres
Weges gehen.“
„Tun Sie, was Sie mögen,“ entgegnete Du:
bromstij trocken: „Ich bin hier nicht mehr der Haus⸗
herr.“
Mit dieſen Worten entfernte er ſich in das Zimmer
ſeines Vaters und ſchloß hinter ſich die Türe.
Sechſtes Kapitel
„Nun iſt alſo alles aus!“ ſprach Wladimir zu ſich
ſelber, „noch heute morgen hatte ich meinen warmen
Winkel und mein Stück Brot; morgen aber muß ich
das Haus, in dem ich geboren bin, verlaſſen. Sogar
der Leichnam meines Vaters und die Erde, in der er
ruht, werden dem Verhaßten gehören, der an ſeinem
Tod und an meiner Armut ſchuld iſt! ...“ Wladimir
knirſchte mit den Zähnen, ſtarr hafteten ſeine Augen
170
Dubrowskij
an dem Bildnis ſeiner Mutter. Der Maler hatte ſie
in einem weißen Morgengewande, eine Roſe in den
Haaren, an einem Treppengeländer lehnend dargeſtellt.
„Auch dieſes Bildnis wird dem Feinde meines Ge:
ſchlechtes zufallen,“ dachte Wladimir, „er wird es
mitſamt den zerbrochenen Stühlen auf den Speicher
ſtellen, oder wird es ins Vorzimmer hängen, wo es
zum ſtändigen Gegenſtand des Spottes und höhniſcher
Bemerkungen ſeiner Hundeknechte werden dürfte; in
ihrem Schlafgemach aber, im Zimmer, in dem mein
Vater geſtorben ift, wird ſicherlich nunmehr der Ver⸗
walter leben, oder gar deſſen Harem. Nein, nein!
nicht ſoll dieſes trauervolle Haus, aus dem man mich
jetzt hinausjagt, ſein eigen werden.“ Und wieder
knirſchte Wladimir mit den Zähnen; ſchreckliche Фе:
danken waren in ſeinem Kopf. Die Stimmen der Be⸗
amten drangen an ſein Ohr; ſie benahmen ſich wie
die Herren des Hauſes und forderten bald dieſes und
bald jenes und ſtörten ihn peinlich in ſeinen traurigen
Überlegungen. Aber nach einiger Zeit wurde alles ſtill.
Wladimir öffnete die Kommoden und Käſten und
machte ſich daran, die Papiere des Verſlorbenen zu
ordnen. Sie beſtanden größtenteils aus Rechnungen
und Wirtſchaftspapieren, doch war auch der eine und
der andere Briefwechſel darunter. Wladimir zerriß
alles, ohne es erſt zu leſen. Plötzlich fiel ihm ein
Paket mit der Aufſchrift: Briefe meiner Frau, in die
Hände. Mit lebhafteſter Erregung machte ſich Wla—
171
Dubromsfij
dimir an die Lektüre: die Briefe waren zu der Zeit
des Türkenfeldzuges geſchrieben und aus Kiſtenjowka
in die Armee geſchickt worden. Sie ſchilderte ihm
darin ihr Leben auf dem Gutshof und ihre Haus:
haltungsſorgen; voller Zärtlichkeit beklagte ſie die
Trennung und rief ihn nach Hauſe zurück, da die
Arme ſeiner liebenden Gefährtin ihn längſt erwarteten.
In einem der Briefe äußerte ſie ſich beunruhigt über
die Geſundheit des kleinen Wladimir; in einem andern
ſprach ſie erfreut von ſeinen frühen Begabungen und
prophezeite ihm eine glückliche und glänzende Zukunft.
Wladimir las und las und vergaß alles auf der Welt,
ſo ſehr war ſeine Seele in der kleinen Welt häus⸗
lichen Glückes aufgegangen, er bemerkte nicht einmal,
daß die Zeit verſtrich: plötzlich ſchlug eine Wanduhr
die elfte Stunde. Wladimir ſteckte die Briefe in die
Taſche, nahm eine Kerze und verließ das Kabinett.
Die Beamten ſchliefen im Saal auf dem Fußboden.
Leere Gläſer ſtanden auf dem Tiſch und ein ſtarker
Rumduft wehte durchs Zimmer. Nicht ohne Abſcheu
ſchritt Wladimir an ihnen vorüber ins Vorzimmer.
Dort war es dunkel. Als er mit dem Licht hereintrat,
flüchtete jemand in eine Ecke. Wladimir folgte ihm
mit der Kerze und erkannte den Schmied Archip.
„Was ſuchſt du hier?“ fragte er überraſcht.
„Ich wollte .. ich kam nur, um zu ſchauen, ob alle
zu Hauſe ſind?“ entgegnete Archip leiſe und ſtockend.
„Und wozu haſt du das Beil bei dir?“
172
—
u
— —
Dubromsfij
„Das Beil? Ja, kann man denn heute überhaupt
ohne Beil ausgehen? Dieſe Beamten da, das ſind ſolche
Halunken, da muß man ſich vorſehen ...“
„Du biſt beſoffen; laß das Beil und leg dich
ſchlafen.“ $
„Ich befoffen? Väterchen, Wladimir Andrejewitſch,
Gott iſt mein Zeuge, daß ich keinen einzigen Tropfen
zu mir genommen Бабе... wer könnte jetzt auch an
Schnaps denken? Hat man je [© was gehört? Be:
amte wollen über uns herrſchen, Beamte jagen unſere
Herrſchaft aus dem Haufe ... Hör nur, wie fie
ſchnarchen, die Verdammten; wenn man ſie alle mit
einem Male umbringen könnte, kein Menſch würde
was davon merken.“
Dubrowskijs Geſicht verfinſterte ſich.
„Hör mal, Archip,“ meinte er nach einer kleinen
Paufe: „Laß dieſe Gedanken; die Beamten find keines⸗
wegs ſchuld. Zünd lieber deine Laterne an und folge
mir.“
Archip nahm die Kerze aus der Hand ſeines Herrn,
zog hinter dem Ofen die Laterne hervor und ſteckte
das Licht darein, gleich darauf ſchritten die beiden
ſtumm die Freitreppe hinab und über den Hof. Der
Wächter klopfte auf ſein Brett aus Gußeiſen; die
Hunde ſchlugen an. „Wer hat die Wache?“ fragte
Dubrowskij. — „Wir, Väterchen,“ entgegnete ein
dünnes Stimmchen, „Waſſiliſſa und Lukerja.“ —
„Geht nach Hauſe,“ ſagte Dubrowskij, „ihr werdet
173
Dubromsfij
nicht mehr benötigt.“ — „Feierabend,“ fügte Archip
hinzu. — „Vielen Dank, Wohltäter,“ entgegneten
die Weiber und begaben ſich ſogleich nach Hauſe.
Dubrowskij ging weiter. Zwei Männer kamen ihm
entgegen; ſie riefen ihn an; Dubrowskij erkannte An⸗
tons und Griſchas Stimmen. „Warum ſchlaft ihr
nicht?“ fragte er ſie. „Wir finden keinen Schlaf,“
entgegnete Anton, „was wir jetzt erleben müſſen, wer
hätte das wohl gedacht ...“
„Still,“ unterbrach ihn Dubrowskij, „wo iſt die
Jegorowna?“ a
„Im Herrenhauſe, in ihrer Kammer,“ entgegnete
Griſcha.
„Geh, hol ſie her und hol auch alle andern der
Unſrigen aus dem Hauſe, nicht eine einzige Menſchen⸗
ſeele, außer den Beamten, ſoll drinbleiben; du aber,
Anton, ſpann derweil den Wagen an.“
Griſcha entfernte ſich; eine Minute darauf erſchien
er mit ſeiner Mutter auf dem Hof. Die Alte hatte
ſich gar nicht erſt zur Nacht ausgezogen; außer den
Beamten hatte noch keiner ein Auge zugetan.
„Sind alle hier?“ fragte Dubrowskij, „iſt keiner
mehr im Hauſe?“
„Keiner, außer den Beamten,“ entgegnete Griſcha.
„Dann gebt mir Heu oder Stroh her,“ {ад Фи
browskij. |
Die Leute liefen zum Pferdeftall und kehrten mit
großen Heubündeln zurück.
174
Dubromsfij
„Schüttet Пе unter der Freitreppe aus; ſo iſt's
recht. Und nun, Kinder, Feuer her!“
Archip öffnete ſeine Laterne, Dubrowskij ſetzte einen
Kienſpan in Brand.
„Schau mal nach,“ ſagte er zu Archip, „ich glaube,
daß ich in der Haft die Türe zum Vorzimmer ab:
geſchloſſen habe, lauf hin und ſchließ ſie auf.“
Archip lief zum Flur, die Tür war geöffnet. Archip
verſchloß ſie, wobei er halblaut murmelte: „Was du
nicht ſagſt, ſchließ fie auf, worauf er zu Dubrowskij
zurückkehrte.
Dubrowskij näherte den Kienſpan dem Heu, es
geriet in Brand, die Flamme ſchlug nach oben und
erleuchtete den ganzen Hof.
„Herrje!“ ſchrie die Jegorowna wimmernd, „was
tuſt du da, Wladimir Andrejewitſch!“
„Schweig!“ ſagte Dubrowskij, „und nun, Kinder,
lebt denn wohl, ich gehe, wohin Gott mich führt;
werdet glücklich unter eurer neuen Herrſchaft!“
„Väterchen, Wohltäter,“ ſchrieen ſeine Leute, „eher
ſterben, als dich verlaſſen, wir folgen dir, wohin du
auch gehſt.“
Die Pferde warteten bereits. Dubrowskij nahm
mit Griſcha im Wagen Platz; Anton knallte mit der
Peitſche und ſo fuhren ſie vom Hof.
Die Flamme hatte in wenigen Augenblicken das
ganze Haus ergriffen. Die Fußböden krachten und
ſtürzten ein, brennende Balken fielen zu Boden; roter
175
DubromwsEij
Rauch ftand über dem Dach und alsbald wurde auch
ein jämmerliches Schreien und Heulen vernehmbar:
„Hilfe, zu Hilfe!“ — „Was du nicht ſagſt,“ meinte
Archip und ſchaute mit boshaftem Lächeln auf die
Brandſtätte. — „Archip, Lieber,“ rief ihm die Jego⸗
romna zu: „Rette die Verdammten, Gott wird dich
dafür belohnen.“ „Was du nicht ſagſt,“ entgegnete
der Schmied. In dieſem Augenblick wurden die Ge—
ſichter der Beamten im Fenſter ſichtbar, ſie verſuchten
vergebens den doppelten Fenſterrahmen aufzubrechen.
Gleichzeitig aber ſtürzte das Dach mit lautem Krachen
ein — und das Geſchrei verſtummte.
Wenige Augenblicke darauf ſtrömte das ganze Guts⸗
geſinde auf den Hof. Schreiend beeilten ſich die Weiber,
ihre Habſeligkeiten zu retten, die Kinder ſprangen luſtig
herum und freuten ſich über das helle Brennen. Die
Funken flogen wie ein Feuerſturm und ſetzten die nebenan
liegenden Hütten in Brand. „So iſts recht!“ meinte
Archip, „ſchön brennts, was? Das kann man auch
in Pokrowskoje gut ſehen.“ Aber ſogleich zog eine
neue Erſcheinung ſeine Aufmerkſamkeit an: eine Katze
lief über das Dach des brennenden Speichers und
wußte nicht, wohin ſie ſich retten ſollte. Die Flammen
umgaben ſie bereits von allen Seiten. Mit kläglichem
Miauen bat das arme Tier um Hilfe; die Buben auf
dem Hof ſtarben Гай vor Lachen, als fie die Verzweif—
lung des Tieres bemerkten. „Was gibts da zu lachen,
ihr Teufelsbrut?“ rief zornig der Schmied, „gottlos
176
Dubromsfij
feid ihr, da geht ет Gefchöpf Gottes zugrunde und
ihr lacht in eurer Torheit darüber!“ Er ſetzte eine Leiter
an das Dach, das ſchon zu brennen begonnen hatte,
und kletterte hinauf, um die Katze herunterzuholen;
ſie begriff ſeine Abſicht und krallte ſich mit einer haſtigen
und dankbaren Bewegung an ſeinen Armel. Halb ver⸗
brannt kehrte der Schmied mit ſeiner Beute nach unten
zurück. „Nun, Kinder, lebt alle wohl,“ ſagte er zu dem
verwirrten Hofgeſinde, „ich habe hier weiter nichts
mehr zu ſchaffen, ich wünſche euch viel Glück und
bitte, nicht ſchlecht von mir zu denken.“ Der Schmied
entfernte ſich; der Brand wütete noch einige Zeit, aber
nach und nach ſank er in ſich zuſammen und fchließ-
lich leuchteten nur noch glühende Kohlenhaufen ohne
Flammen durch die dunkle Nacht; und vor dieſen ſtanden
die abgebrannten Bewohner von Kiſtenjowka.
Siebentes Kapitel
Schon am andern Tage wußte man im ganzen
Umkreiſe von der Feuersbrunſt. Die verſchiedenſten
Vermutungen wurden laut. Einige beteuerten, es
könnten nur die Leute Dubrowskijs geweſen ſein, die
ſich beim Leichenſchmauſe angetrunken und aus Un:
vorſichtigkeit das Haus angeſteckt hätten, andere be-
ſchuldigten die Beamten, den Beſitzwechſel zu ſehr
gefeiert zu haben. Freilich waren auch manche dar:
unter, die die Wahrheit errieten und verkündeten, nur
Dubrowskij ſelber könnte der Urheber der entſetzlichen
P. 1 12
177
Du bro wsk i]
Tat ſein; viele behaupteten, daß er ſelber mitſamt
dem Gericht und ſeinem Hofgeſinde verbrannt wäre.
Trojekurow beſuchte tags darauf die Brandſtätte
und nahm ſelber die Unterſuchung vor. Es ſtellte ſich
heraus, daß der Polizeileutnant, der Beiſitzer des Land⸗
gerichtes, der Anwalt und der Schreiber, aber ebenſo
auch Wladimir Dubrowskij, die Kinderfrau Jego⸗
romna, der Diener Grigorij, der Kutſcher Anton und
der Schmied Archip ſpurlos verſchwunden waren. Das
Hofgeſinde ſagte aus, daß die Beamten beim Einſturz
des Daches verbrannt wären. Ihre verkohlten Knochen
wurden ausgegraben. Die Weiber Waſſiliſſa und Lu:
kerja erzählten, daß ſie wenige Augenblicke vor dem
Entſtehen des Feuers den jungen Dubrowskij und
Archip, den Schmied, geſehen hätten. Der Schmied
Archip war, wie alle einſtimmig ausſagten, noch am
Leben und vermutlich der Haupt- wenn nicht gar der
einzige Urheber des Feuerſchadens. Aber auch auf
Dubrowskij ruhte begründeter Verdacht. Kirila Pe⸗
trowitſch ſchickte dem Gouverneur eine genaue Schil⸗
derung des ganzen Vorfalls, und es entſpann ſich ein
neuer Prozeß.
Bald darauf kamen andere Nachrichten, die der
Neugierde und den Gerüchten friſche Nahrung gaben.
Eine Räuberbande war aufgetaucht und trug all⸗
gemeines Entſetzen durch das ganze Land. Die Maß⸗
nahmen, die gegen ſie ergriffen worden waren, ſtellten
ſich als völlig ungenügend heraus. Eine Plünderung
178
Dubromstij
folgte der andern. Und eine war immer bemerkens⸗
werter als die andere. Überall lauerte die Gefahr,
auf den Straßen ſowohl als auch in den Dörfern
ſelber. Die Räuber fuhren in mehreren Dreigeſpannen
tagsüber durch das Gouvernement und hielten die
Reiſenden an und ebenſo auch die Poft, allein ſie
drangen ſogar in die Dörfer, plünderten die Häuſer
der Gutsbeſitzer und ſetzten ſie ſchließlich in Brand.
Der Befehlshaber der Bande zeichnete ſich durch Ver⸗
ſtand, Verwegenheit und einen beſonderen Edelmuf
aus. Wunderdinge wurden von ihm erzählt. Du⸗
browskijs Name war auf allen Lippen; ganz all⸗
gemein war man davon überzeugt, daß er und kein
anderer der Befehlshaber dieſer tollkühnen Böſewichte
ſei. Und nur über das eine konnte man ſich nicht ge⸗
nug wundern: Trojekurows Beſitzungen blieben рег:
ſchont; nicht ein einziger ſeiner Speicher wurde von
den Räubern geplündert, nicht eine einzige ſeiner
Fuhren von ihnen angehalten. Trojekurow ſchrieb
dieſe Ausnahme freilich mit ſeinem gewöhnlichen Hoch⸗
mut dem Schrecken zu, den er dem ganzen Gouverne—
ment einzuflößen verſtanden, und ein wenig noch der
ausgezeichneten Polizei, die er auf ſeinen Beſitzungen
eingeführt hatte. Zwar lachten die Nachbarn anfangs
über Trojekurows Prahlerei, denn ein jeder erwartete,
daß die ungebetenen Gäſte eines Tages dennoch nach
Pokrowskoje kommen würden, wo fie Beute genug
finden dürften, aber ſchließlich ſahen ſie ſich gezwungen,
179
Dubromsfij
dasſelbe zu ſagen und einzuſehen, daß die Räuber
einen unerklärlichen Reſpekt vor ihm hatten. Troje⸗
kurow triumphierte und ſpottete bei jeder Nachricht
von einer neuen Plünderung, die Dubrowskij ins
Werk geſetzt hatte, weidlich über den Gouverneur,
die Polizeileutnants und die Kompagniechefs, deren
Nachſtellung ſich Dubrowskij bisher immer noch ип:
beſchadet entzogen hatte.
Unterdeſſen kam der erſte Oktober heran, der Tag,
an dem auf Trojekurows Beſitzungen das Feſt der
Kirchweihe gefeiert wurde. Doch ehe wir uns an
die Schilderung der weiteren Begebenheiten machen,
müſſen wir den Leſer mit Perſonen bekannt machen,
die ihm noch unbekannt ſind, oder mit ſolchen, die wir
am Anfang unſerer Erzählung nur kurz geſtreift haben.
Achtes Kapitel
Vermutlich wird der Leſer bereits erraten haben,
daß Kirila Petrowilſchs Tochter, von der wir bisher
nur wenig ſagen konnten, die eigentliche Heldin unſerer
Erzählung iſt. Zu der Zeit, die wir hier ſchildern,
war ſie ſiebzehn Jahre alt, ihre Schönheit ſtand in
voller Blüte. Ihr Vater liebte ſie beſinnungslos, aber
er behandelte fie mit der ihm angeborenen Launen—
haftigkeit, denn zuweilen erfüllte er ihr jeden Wunſch,
erſchreckte ſie jedoch zuweilen wieder durch rauhe und
manchmal ſogar grauſame Umgangsformen. Er war
von ihrer Anhänglichkeit überzeugt, doch gelang es
180
Dubrowsk ij
ihm niemals, ihr Zutrauen zu erlangen. Sie hatte es
ſich zur Gewohnheit gemacht, ihre Gefühle und Фе:
danken vor ihm zu verbergen, da ſie ja niemals genau
wußte, wie er ihre Worte auffaſſen würde. Sie hatte
keine Freundinnen und wuchs in der Einſamkeit auf.
Es kam nämlich nur ſelten vor, daß die Nachbarn
ihre Frauen oder Töchter zu Kirila Petrowitſch mit⸗
nahmen, da feine üblichen Unterhaltungen und Ber:
gnügungen wohl die Geſellſchaft von Männern er:
forderten, nicht aber die Anweſenheit von Damen.
Unſere junge Schöne zeigte ſich nur ſelten im Schwarm
der Gäſte, die bei Kirila Petrowitſch tafelten. Die
rieſige Bibliothek, die in der Hauptſache aus Schriften
franzöſiſcher Verfaſſer des 18. Jahrhunderts beſtand,
wurde eifrig von ihr benutzt. Da ihr Vater niemals
etwas anderes außer der „Vollkommenen Köchin“
las, konnte er ihr in der Auswahl der Lektüre nicht
an die Hand gehen, und darum verfiel Maſcha, nach—
dem ſie Schriften jeder Art durchblättert hatte, ſelbſt—
verſtändlich auf Romane. Auf dieſe Art vollendete ſie
eine Erziehung, die ſeinerzeit unter der Aufſicht der
Mamſell Michaud begonnen, einer Perſon, der Kirila
Petrowitſch das größte Vertrauen und Wohlwollen
ſo lange entgegengebracht hatte, bis er ſich eines Tages
gezwungen ſah, ſie in aller Stille auf eine entfernter
liegende Beſitzung ſchaffen zu laſſen, da die Folgen
der Freundſchaft nur allzuſehr an den Tag traten.
Mamſell Michaud hatte ein angenehmes Andenken
181
Dubromstijf
hinterlaſſen. Sie war ein gutherziges Mädchen де:
weſen und hatte niemals den Einfluß, den ſie offenbar
auf Kirila Petrowitſch ausübte, mißbraucht, ein Um⸗
ſtand, der ſie von ſeinen anderen Freundinnen, die
allaugenblick wechſelten, ſehr unterſchied. Es machte
den Eindruck, daß Kirila Petrowitſch ſie lieber hatte
als alle jene andern. Und zudem wurde ja auch ein
ſchwarzäugiger Bub, ein Schelm von neun Jahren,
deſſen Geſicht an die mittäglichen Züge der Mamſell
Michaud erinnerte, in ſeinem Hauſe erzogen und war
von ihm ſogar als Sohn anerkannt worden, un⸗
geachtet deſſen, daß ein Haufen barfüßiger Kinder,
die Kirila Petrowitſch ſo ähnlich ſahen wie ein
Tropfen Waſſer dem andern, ſich ſtändig vor den
Fenſtern herumtrieb und dennoch nur zum Hofgeſinde
gezählt wurde. Kirila Petrowitſch ließ ſich für ſeinen
kleinen Saſcha einen franzöſiſchen Lehrer aus Moskau
kommen, der um die gleiche Zeit in Pokrowskoje ein⸗
traf, in der die Begebniſſe vorfielen, die wir nunmehr
zu ſchildern gedenken.
Dieſer Lehrer gefiel Kirila Petrowitſch durch ſein
angenehmes Außere und ſeine ſchlichten Umgangs⸗
formen. Er überbrachte Kirila Petrowitſch verſchie⸗
dene Zeugniſſe, unter anderem aber auch den Brief
eines Verwandten von Trojekurow, in deſſen Hauſe
er vier Jahre als Erzieher zugebracht hatte. Kirila
Petrowitſch ſah die Papiere durch und war zufrieden,
nur die Jugend unſeres Franzoſen ſchien ihm nicht
182
rr r
=. -
Dubrowskij
recht zuſagen zu wollen, allein nicht etwa aus dem
Grunde, weil er angenommen hätte, daß dieſer liebens⸗
würdige Fehler unvereinbar ſei mit der Geduld und
der Erfahrung, die für den unglückſeligen Beruf des
Lehrers unumgänglich ſind, nein, ſondern er hatte
ſeine eigenen Zweifel, und war ſogleich entſchloſſen,
ſie ihm zu verſtehen zu geben. Zu dieſem Zweck ließ
er Maſcha holen. (Da Kirila Petrowitſch die fran⸗
zöſiſche Sprache nicht beherrſchte, diente ſie ihm als
Dolmetſcherin.) „Komm Бег, Maſcha, und ſag dieſem
Musje, daß alles in Ordnung iſt und daß ich ihn ап:
ſtelle, doch nur unter einer Bedingung: er ſoll es nicht
wagen, jemals meinen Mädchen nachzuſtellen, ſonſt
werde ich ihn, den Hundeſohn ... überſetz ihm das,
Maſcha.“
Maſcha errötete und ſagte zum Lehrer auf fran—
zöſiſch, daß ihr Vater auf ſeine Beſcheidenheit und
ſeine anſtändige Aufführung rechne.
Der Franzoſe verneigte ſich und entgegnete, daß er
feinerfeits ſich Reſpekt zu erringen hoffe, ſelbſt wenn
man ihm jedes Wohlwollen zu verſagen gedächte.
Dieſe Antwort überſetzte Maſcha Wort für Wort.
„Gut, ſchon gut,“ meinte Kirila Petrowitſch, „wozu
redet er von Wohlwollen oder von Reſpekt? Seine
Sache iſt es, Saſcha zu beaufſichtigen und ihn in
Grammatik und Geographie zu unterrichten ... über⸗
ſetz ihm das.“
Marja Kirilowna überſetzte die groben Worte ihres
183
Du bro ws ki
Vaters weſentlich gemildert. Kirila Petrowitſch be⸗
fahl darauf, dem Franzoſen den Weg zum Flügel zu
weiſen, wo man ihm ein Zimmer eingerichtet hatte.
Auf Maſcha hatte der junge Franzoſe nicht den
geringſten Eindruck gemacht. Da fie in den Bor:
urteilen der Ariſtokratie aufgewachſen war, ſtellte
ihr ein Lehrer nicht anders dar als etwas in der Art
eines Bedienten oder Handwerkers, ein Bedienter aber
oder Handwerker waren für ſie keine Männer. Somit
bemerkte ſie natürlich auch den Eindruck nicht, den ſie
auf Monſieur Deforges gemacht hatte, weder ſeine
Verwirrung, noch daß er erbebte, ja nicht einmal, daß
ſeine Stimme ſich veränderte. Sie begegnete ihm in
den nächſten Tagen ziemlich häufig, aber ſie würdigte
ihn nach wie vor keines Blickes. Auf die unerwartetſte
Weiſe erhielt ſie einen neuen Eindruck von ihm.
Auf Kirila Petrowitſchs Gutshof wurden gewöhn—
lich mehrere junge Bären gehalten, die dem Guts⸗
beſitzer von Pokrowskoje einen Hauptſpaß machten.
Wenn die Bären noch ganz jung waren, wurden ſie
täglich ins Wohnzimmer geführt, und ſtundenlang
konnte ſich Kirila Petrowitſch mit ihnen abgeben, in-
dem er ſie auf Katzen und junge Hunde hetzte. Wenn
ſie dann heranwuchſen, wurden ſie, in Erwartung
einer wirklichen Hetzjagd, an die Kette gelegt. Hie
und da wurden ſie auch vors Herrenhaus geführt,
man rollte ihnen ein leeres Weinfaß, das dicht mit
Nägeln beſpickt war, hin; der Bär beſchnupperte es
184
Dubrowskij
und verſuchte es vorſichtig zu berühren, wobei er ſich
in die Pfoten ſtach, darauf wurde er wütend und ſtieß
heftiger zu und heftiger wurde natürlich auch ſein
Schmerz. Er geriet allmählich in völlige Raſerei und
ſtürzte ſich heulend ſo lange auf das Faß, bis man
dem armen Tier den Gegenſtand ſeiner vergeblichen
Wut fortnahm. Manchmal wieder wurden zwei Bären
vor einen Wagen geſpannt, in welchem Gäſte frei—
willig oder gezwungen Platz nehmen mußten, und
dann gings unaufhaltſam über die Felder dahin.
Am meiſten Vergnügen aber machte Kirila Petro—
witſch folgender Spaß:
Man pflegte einen hungrigen Bären gelegentlich
in ein leeres Zimmer zu ſperren, wo man ihn mit
einem Strick an einen Ring, der in die Wand ge—
ſchraubt war, band. Der Strick war faſt ſo lang
wie das ganze Zimmer, ſo daß einzig die entgegen—
geſetzte Ecke Schutz vor den Angriffen des ſchrecklichen
Tieres bot. Man pflegte dann meiſtens einen Neu—
ling vor die Tür dieſes Zimmers zu bringen, ſtieß
ihn unverhofft zum Bären herein, ſchloß die Türe
und ließ das unſelige Opfer mit dem zottigen Ein:
ſiedler allein. Mit zerriſſenem Rockſchoß und zer:
kratzter Hand fand der arme Gaſt die gefahrloſe Ecke
natürlich bald, aber es konnte geſchehen, daß er dort
eng an die Wand gepreßt drei Stunden lang ſtehen
mußte und die ganze Zeit über das gereizte Tier zwei
Schritt vor ſich ſehen mußte, wie es ſprang, ſich auf-
185
И
richtete, brummte und aus ganzer Kraft beſtrebt war,
ihn zu erreichen. Das waren fo die vornehmen Ber:
gnügungen eines ruſſiſchen hohen Herrn! Wenige
Tage nach der Ankunft des Lehrers erinnerte ſich
Trojekurow an ihn und beſchloß, ihn mit dem Bären⸗
zimmer zu bewirten. Zu dieſem Zwecke ließ er ihn р
eines Morgens holen und führte ihn durch die дип:
kelſten Gänge; plötzlich öffnete ſich eine Seitentüre,
zwei Diener ſtießen den Franzoſen hinein und ſchloſſen
fie hinter ihm. Als der Lehrer feine Geiſtesgegen⸗
wart wieder gewonnen hatte, bemerkte er den an:
gebundenen Bären; das Tier ſchnaufte ſchwer und
ſchnupperte von fern nach dem Gaſt, richtete ſich
dann plötzlich auf ſeinen Hinterpfoten auf und ging
auf ihn los ... Aber der Franzoſe war hierüber nicht
erſchrocken und floh nicht, ſondern erwartete den An:
griff. Der Bär näherte ſich; Deforges zog eine kleine
Piſtole aus der Taſche, ſetzte ſie dem hungrigen Tier
ans Ohr und drückte ab. Der Bär ſtürzte nieder.
Alles eilte herbei, die Türe ging auf und Kirila Petro:
witſch trat ein, ganz erſtaunt über den Ausgang des
Spaßes.
Kirila Petrowitſch wünſchte unbedingt die ganze
Angelegenheit aufgeklärt zu ſehen. Wer mochte es
wohl geweſen ſein, der Deforges von dem Scherz,
der ihn erwartete, Mitteilung gemacht hatte, und wie⸗
ſo kam es, daß ſich in ſeiner Taſche eine geladene
Piſtole befand? Er ließ Maſcha rufen. Maſcha eilte
186
3 —— ——ͤ—ͤ
Dubrowskij
herbei und überſetzte dem Franzoſen die Fragen, die
ihr Vater an ihn richtete.
„Ich habe noch nie zuvor vom Bären gehört,“
entgegnete Deforges: „allein ich trage beſtändig Pi⸗
ſtolen bei mir, denn es iſt nicht meine Art, Krän⸗
kungen hinzunehmen, für die ich in meiner Stellung
keine Genugtuung verlangen kann.“
Erſtaunt blickte ihn Maſcha an und überſetzte
Kirila Petrowitſch dieſe Worte. Kirila Petrowitſch
entgegnete nichts, ſondern befahl bloß, den Bären
hinauszuſchaffen und ihm das Fell abzuziehen; darauf
wandte ег ſich zu feinen Leuten und ſagte: „Wie де:
fällt euch der Burſche? er iſt nicht verzagt, weiß Gott,
er ИЕ nicht verzagt. Und von dieſem Augenblick an
hatte er Deforges lieb und dachte nicht mehr daran,
ihn jemals wieder auf die Probe zu ſtellen.
Auf Marja Kirilowna hatte der Vorfall einen
noch größeren Eindruck gemacht. Ihre Phantaſie Бе:
gann zu arbeiten: ſie ſah den toten Bären vor ſich
und Deforges, der ruhig neben dem Leichnam ſtand
und ſich ruhig mit ihr unterhielt. Sie mußte einſehen,
daß Tapferkeit und ſtolzes Selbſtbewußtſein nicht nur
das ausſchließliche Vorrecht des einen Standes ſeien,
und begann ſeit der Zeit den jungen Lehrer mit einem
Reſpekt zu behandeln, der von Stunde zu Stunde
herzlicher wurde. Zwiſchen den beiden kam es ſogar
zu einer gewiſſen Verbindung. Maſcha hatte eine
herrliche Stimme und verfügte zudem über große
187
Dubromsfij
muſikaliſche Fähigkeiten: Deforges erklärte ſich ſofort
bereit, ihr Stunden zu geben. Und nun wird es dem
Leſer gewiß nicht mehr ſchwer fallen, zu erraten, daß
Maſcha ſich natürlich in ihn verliebte, ohne es noch
ſelber recht zu wiſſen.
Neuntes Kapitel
Der größte Teil der Gäſte kam bereits am Vor⸗
abend des Feſtes nach Pokrowskoje. Einige wurden
im Herrenhauſe und in den Flügeln untergebracht,
andere beim Verwalter, mehrere beim Geiſtlichen und
einige ſchließlich bei den reicheren Bauern; die Pferde:
ſtälle ſtanden voll von Wagenpferden, die Höfe und
die Speicher von den verſchiedenartigſten Wagen. Um
neun Uhr morgens riefen die Glocken zur Meſſe und
alles drängte ſich zur neuen Steinkirche, die Kirila
Petrowitſch erbaut hatte und die er alljährlich weiter
ausſchmückte. Es hatte ſich eine ſo große Anzahl
hochgeſtellter Gottesfürchtiger eingefunden, daß die
einfachen Bauern keinen Platz in der Kirche hatten,
ſondern gezwungen waren, vor der Kirchentür und
innerhalb der Kirchenmauern zu ſtehen. Die Meſſe
hatte noch nicht begonnen: man wartete noch auf
Kirila Petrowitſch. Er fuhr ſchließlich in einem ſechs⸗
ſpännigen Wagen vor und begab ſich, von Marja
Kirilowna geleitet, feierlich auf den ihm zukommenden
Platz. Die Blicke der Männer und der Frauen hingen
an dem jungen Mädchen, — die erſteren ſtaunten
188
Dubromstfij
über ihre Schönheit, die zweiten betrachteten auf:
merkſam ihre Kleidung. Die Meſſe begann; die zu
Hauſe geſchulten Sänger ſangen auf dem Chor, Ki—
rila Petrowitſch brummte mit und betete, ohne nach
rechts oder links zu ſchauen, und verneigte ſich mit
einer ſtolzen Demut bis zur Erde, als der Diakon
ſchallend den Stifter des Tempels erwähnte.
Die Meſſe war zu Ende. Kirila Petrowitſch näherte
fi) dem Kreuz als erfter. Alle folgten ihm; die Бе:
nachbarten Gutsbeſitzer machten ihm ihre Aufwartung,
die Damen hingegen umringten Maſcha. Als Kirila
Petrowitſch die Kirche verließ, lud er alle ein, bei ihm
zu Mittag zu ſpeiſen, ſetzte ſich darauf in ſeinen
Wagen und fuhr nach Hauſe. Sämtliche Anweſende
folgten ihm alsbald. Die Zimmer füllten ſich immer
dichter mit Gäſten; keine Minute verging, ohne daß
neue Perſonen eintraten, die ſich nur mit Mühe
zum Hausherrn durchzudrängen vermochten. Würde⸗
voll nahmen die Damen in einem Halbkreiſe Platz,
und waren auch ihre Gewänder nach veralteter Mode,
und waren ſie auch teils abgetragen, teils überladen,
fo ſtrahlten doch alle Frauen von Perlen und Bril-
lanten; die Männer dagegen drängten ſich um den
Tiſch, auf dem der Kaviar und der Schnaps ſtanden
und unterhielten ſich mit geräuſchvoller Mannigfal—
tigkeit. Im Saal wurde derweil ein Tiſch für achtzig
Perſonen gedeckt; die Bedienten eilten geſchäftig hin
und her, ſtellten Flaſchen und Karaffen auf und [а
189
Dubromsfij
teten die Tiſchdecken. Endlich rief der Haushofmeiſter:
Das Effen iſt ſerviert — worauf ſich Kirila Petro-
witſch als erſter zum Tiſch begab, hinter ihm die
Damen, die mit großem Ernſt Platz nahmen, wobei
ſie eine gewiſſe Altersordnung beobachteten; die jungen
Mädchen drängten ſich ſchüchtern, wie eine ſcheue
Schar von jungen Ziegen, und wählten ihre Plätze
ſo, daß immer eine neben der andern zu ſitzen kam;
ihnen gegenüber ſetzten ſich die Männer; am unteren
Ende der Tafel nahm der Lehrer neben dem kleinen
Saſcha Platz.
Und nun begannen auch die Diener die Teller dem
Rang entſprechend zu ſervieren, wobei ſie ſich in
Zweifelsfällen von den Vermutungen Lavaters leiten
ließen und Гай immer das Richtige trafen. Teller⸗
klappern und Löffelklirren verſchmolz mit dem ge⸗
räuſchvollen Geſpräch der Gäſte. Heiter ſah ſich Ki⸗ |
rila Petrowitſch im Kreiſe um und genoß vollauf |
das Glück des freigebigen Gaſtgebers. In dieſem Augen⸗
blick rollte ein ſechsſpänniger Wagen auf den Hof. „Wer
iſts?“ fragte der Hausherr. „Anton Pafnutjitſch“, |
enfgegneten ihm gleich mehrere. Die Tür öffnete fich
und Anton Pafnutjitſch Spizyn, ein fetter Mann von
etwa fünfzig Jahren mit einem runden und pocken⸗
narbigen Geſicht und einem Kinn mit dreifachem Fett⸗
polſter wälzte ſich lächelnd mit vielen Verbeugungen
in den Saal, wobei er ganz offenſichtlich alle Vor⸗
bereitungen traf, eine Entſchuldigungsrede zu halten.
190
Du browsk 1j
„Ein Gedeck!“ rief Kirila Petrowitſch: „Willkommen,
Anton Pafnutjitſch, nimm Platz und erzähl uns, was
das wohl bedeuten mag: du erſchienſt nicht zur Meſſe
und kommſt ſogar zum Mittageſſen zu ſpät? Das
ſieht dir ganz und gar nicht gleich, du biſt nicht nur
gottesfürchtig, ſondern du liebſt auch ordentlich zu
ſpeiſen.“ — „Entſchuldigung,“ entgegnete Anton
Pafnutjitſch, wobei er die Serviette ins Knopfloch
ſeines erbſenfarbenen Leibrockes knüpfte: „Entſchul⸗
digung, Väterchen, Kirila Petrowitſch, ich habe mich
rechtzeitig auf den Weg gemacht, doch kaum hatte ich
zehn Werſt zurückgelegt, als plötzlich das Eiſen am
Vorderrad entzweiging — was will man da tun?
Zum Glück war ein Dorf in der Nähe, aber bis ich
hinkam und einen Schmied erwiſchte und der Schaden
irgendwie repariert war, vergingen dennoch drei
Stunden, da war nichts zu wollen. Den nächſten
Weg durch den Wald von Kiſtenjowka zu nehmen,
traute ich mich nicht, mithin mußte ich einen Umweg
machen.“ — „Aha!“ unterbrach ihn Kirila Petro—
witſch, „du gehörſt, ſcheints, nicht gerade zur tapferen
Kompanie; wovor fürchteſt du dich eigentlich?“ —
„Wovor ich mich fürchte, Väterchen, Kirila Petro-
witſch? vor dem Dubrowskij fürchte ich mich; wenn
man Pech hat, fällt man ihm eins zwei drei in die
Klauen. Er iſt ein gewandter Junge und läßt ſich ſo
leicht nichts entgehen; mich aber dürfte er unter Шт:
ſtänden gleich zweimal ſchinden wollen.! „Weshalb
191
Dubromsfij
denn dir, Bruder, fo eine Auszeichnung?“ „Weshalb
mir, Väterchen, Kirila Petrowitſch? nun ſehr einfach,
wegen des Prozeſſes des verſtorbenen Andrej Gawri⸗
lowitſch. Habe ich nicht etwa Ihnen zu Gefallen, das
heißt, nach Recht und Gewiſſen ausgeſagt, daß die
Dubrowskijs an dem Beſitz von Kiſtenjowka keinerlei
Recht haben, ſondern alles Ihrer Gnade verdanken,
wofür der Verſtorbene (Gott habe ihn felig!) ver:
ſprochen hat, mit mir kurzen Prozeß zu machen, und
da fürchte ich nun, daß das Söhnchen vielleicht das
Wort des Väterchens wird einlöſen wollen. Bis jetzt
war mir Gott allerdings noch gnädig; er hat alles in
allem nur einen meiner Speicher geplündert, aber
ſchließlich könnte doch noch einmal das Herrſchafts—
haus an die Reihe kommen.“ — „Na, und im Herr⸗
ſchaftshaus wird er ein feines Leben haben,“ meinte
Kirila Petrowitſch: „das rote Schatullchen dürfte bis
an den Rand gefüllt ſein, ſollte ich meinen.“ —
„Schlimm, ſchlimm, Väterchen, Kirila Petrowitſch;
einſt war es freilich voll, aber jetzt iſt es ganz leer ge |
worden!“ — „Warum lügſt du mich an, Anton Paf⸗
nutjitſch? Wir kennen dich doch; was machſt denn
du mit deinem Gelde? Du lebſt in deinem Hauſe wie
ein Schwein, haſt niemals Gäſte, ſchindeſt deine Bauern
— nichts als ſparen tuſt du, das iſt deine ganze Be⸗
ſchäftigung.“ — „Sie belieben immer, Ihre Späßchen
zu machen, Väterchen, Kirila Petrowitſch,“ murmelte
Anton Pafnutjitſch lächelnd, „wir haben uns in letzter
192
Dubrowskij
Zeit, weiß Gott, ruiniert,“ — und hierbei rückte Anton
Pafnutjitſch einer fetten Paſtete zu Leibe, um den Witz
des Hausherrn hinunterzuſchlucken. Kirila Petrowitſch
ließ von ihm ab und wandte ſich zu dem neuen Фо:
lizeileutnant, der zum erſtenmal hier zu Gaſte war und
am untern Ende der Tafel neben dem Lehrer ſaß.
„Nun, mein Herr Polizeileutnant, willſt du uns
nicht deinen Mut zeigen: fang doch mal den Du—
bromstij.“
Der Polizeileutnant wurde verlegen, verneigte fich,
lächelte, ſtotterte und brachte endlich nur dies eine
hervor: „Wir werden uns Mühe geben, Exzellenz.“
„Hm! Mühe geben. Wie lang ſchon gebt ihr euch
Mühe, unſere Gegend von den Räubern zu ſäubern.
Aber keiner verſteht es, das Ding richtig anzupacken.
Ihr habt übrigens recht, wozu auch ihn fangen?
Dubrowskijs Räubertaten ſind ein wahrer Gottes—
ſegen für die Polizei: Dienſtreiſen, Unterſuchungen,
Zuſchüſſe, da fällt einem das Geld ja von ſelber in
die Taſche. Man kann ihn nicht erwiſchen! Wozu
auch einen ſolchen Wohltäter packen? Iſt es nicht
wahr, mein Herr Polizeileutnant?“
„Die reine Wahrheit, Exzellenz,“ entgegnete der
völlig beſtürzte Polizeileutnant.
„So, ſo, na ich ſeh ſchon; ich werde mich ſelber
dahinter machen müſſen, ohne erſt auf die Hilfe der
hieſigen Obrigkeit zu warten.“
Die Gäſte brachen in ein Gelächter aus.
P. 1 13
193 |
Dubromsfij
„Ich lob mir deine Aufrichtigkeit,“ ſprach Kirila
Petrowitſch weiter, „dennoch tut es mir leid, daß der
vormalige Polizeileutnant Taras Alexejewitſch hin iſt;
wenn ſie den nicht verbrannt hätten, würde es jetzt
bei uns mehr Ordnung geben. Was hört man übrigens
Neues von Dubrowskij? Wo hat man ihn zum letzten
Male geſehen?“
„Er war bei mir, Kirila Petrowitſch,“ ſummte die |
Stimme einer dicken Dame, „am vorigen Dienstag
ſpeiſte er bei mir zu Mittag.“ |
Alle Blicke hefteten [14 auf Anna Sſawiſchna Glo⸗
bowa, eine Witwe von ſchlichter Lebensart, die von
allen Leuten ihres gutmütigen und luſtigen Charakters
wegen gern geſehen wurde. Alle warteten voll Neu⸗
gierde auf ihre Erzählung.
„Ich muß zuvor erzählen, daß ich meinen Verwalter
vor drei Wochen mit einem Brief an meinen Wanja
zur Poſt ſchickte. Ich verwöhne zwar meinen Sohn
nicht ſehr und wäre auch, wenn ich es wollte, nicht in
der Lage, ihn zu verwöhnen; aber Sie werden ja
ſelber wiſſen, daß man Gardeoffizieren einen ordent⸗
lichen Zuſchuß geben muß, und ſo teile ich mich denn
mit meinem Wanja in meine Einkünfte, ſo gut ich
eben kann. Ich ſchickte ihm dieſes Mal zweitauſend
Rubel; freilich mußte ich mehrfach an Dubrowskij
denken, aber anderer ſeits dachte ich auch: die Stadt
iſt doch ganz in der Nähe, es ſind ja keine ſieben Werſt
bis dahin, mit Gottes Hilfe wird es vielleicht diesmal
194
Du browsk 1
gehen. Aber was geſchah: am Abend kehrte mein
Verwalter bleich, abgeriſſen und zu Fuß zurück. Ich
ſtöhnte nur: „Was iſt los? Was iſt mit dir geſche⸗
hen?“ Darauf er: „Mütterchen, Anna Sſawiſchna,
die Räuber haben mich geplündert und mich Гай um:
gebracht. Dubrowskij ſelber war mit dabei, er wollte
mich aufhängen, aber ſchließlich tat ich ihm leid und
er ließ mich ziehen. Doch hat er mir alles abgenommen,
ſogar das Pferd und den Wagen.“ Ich wurde ganz
ſtarr vor Schreck. Himmliſcher Vater! Wie wird es
jetzt meinem Wanja ergehen? Allein da ich es nicht
ändern konnte, ſchrieb ich ihm einen zweiten Brief,
in welchem ich ihm alles erzählte und ihm meinen
Segen ohne einen Pfennig Geld ſchickte.
„So verging eine Woche und eine andere. Eines
Tages fährt ein Wagen in meinen Hof. Irgendein
General erſucht mich, ihn zu empfangen; bitte fchön.
Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren tritt ein,
braungebrannt, mit ſchwarzen Haaren, Schnurrbart
und Bart, das genaue Abbild von Kulnjow; er ſtellt
fi) mir als Freund und Dienſtkamerad meines рег:
ſtorbenen Gatten Iwan Andrejewitſch vor; er reiſe
gerade durch dieſe Gegend und hätte es nicht über ſich
bringen können, am Gut der Witwe vorüberzufahren,
denn er wiſſe, daß ich hier lebe. Ich bewirtete ihn,
ſo gut es gehen wollte, plauderte mit ihm von dieſem
und jenem und kam endlich auch auf Dubrowskij zu
ſprechen. Ich klagte ihm mein Leid. Mein General
195
Dubromsfij
ſchaute finſter. „Sonderbar,“ ſagte er: „Ich habe
immer gehört, daß Dubrowskij durchaus nicht jeder⸗
mann überfällt, ſondern immer nur die, die dafür
bekannt ſind, daß ſie reich ſeien, und auch mit denen
teilt er jedesmal redlich und nimmt ihnen nicht etwa
alles weg. Einen Mord aber hat ihm noch niemand
nachgeſagt; könnte es nicht ſein, daß das Ganze nichts
als ein Schwindel iſt? Befehlen Sie doch, den Ver⸗
walter rufen zu laſſen.“ Man holte den Verwalter.
Er erſchien. Kaum ſah er den General, erſtarrte er ö
wie eine Bildſäule. „Erzähl uns mal, Brüderchen,
auf welche Weiſe Dubrowskij dich beraubt hat und
warum er dich aufhängen wollte?“ Mein Verwalter
bebte am ganzen Leibe und fiel dem General zu Füßen.
„Väterchen verzeih mir: die Verſuchung war zu groß
1
. ich habe gelogen.“ — „Wenn dem fo iſt,“ ent⸗
gegnete der General: „Dann erzähl mal der gnädigen
Frau, wie ſich alles zugetragen hat, ich werde zuhören.“
Der Verwalter war immer noch ganz aus dem Häus⸗
chen. „Nun, erzähl doch,“ fuhr der General fort:
„Wo bift du Dubrowskij begegnet?“ — „Bei den
zwei Fichten, Väterchen, bei den zwei Fichten.“ —
„Und was ſagte er zu dir?“ — „Er fragte mich:
Wem gehörſt du, wohin fährſt du und warum?“ —
„Nun und danach?“ — „Und danach forderte er
mir den Brief und das Geld ab. Und natürlich gab
ich ihm Brief und Geld.“ — „Und er?“ — „Nun,
und ег... Väterchen, verzeih mir.“ — „Nun, was
196
Dubromsfij
tat er denn?“ — „Er gab mir das Geld und den
Brief zurück und ſagte: zieh mit Gott und übergib es
der Poſt.“ — „Und weiter!“ — „Väterchen, ver:
zeih mir!!“ — „Ich werde mit dir, mein Täubchen,
kurzen Prozeß machen,“ ſagte der General drohend:
„Befehlen Sie doch, gnädige Frau, den Koffer dieſes
Betrügers zu unterſuchen und überantworten Sie ihn
darauf mir, ich will ihm eine Lehre erteilen. Wiſſen
Sie nicht, daß Dubrowskij ſelber ein Gardeoffizier
war; wie könnte er einen Kameraden ſchädigen wol—
len?“ Ich erriet natürlich alsbald, wer feine Exzellenz
war: ich brauchte ihn nicht erſt deswegen zu befragen.
Die Kutſcher banden den Verwalter an den Kutſch—
bock, und bald darauf fanden wir das Geld; der Ge—
neral ſpeiſte mit mir, fuhr jedoch gleich nach dem
Eſſen fort und nahm den Verwalter mit. Den Ver—
walter fand man am nächſten Tage im Walde ziemlich
zer ſchunden an den Stamm einer Eiche gebunden.“
Stumm hatten alle Anna Sſawiſchnas Erzählung
angehört, zumal die jungen Mädchen. Einige von
ihnen nährten insgeheim eine gewiſſe Neigung für
Dubrowskij, weil fie in ihm einen romantiſchen Helden
ſahen, und ganz beſonders tat das Marja Kirilowna,
dieſe heißblütige Träumerin, aufgewachſen und er—
zogen im Bann der geheimnisvollen Schreckenstaten
in den Romanen der Radcliffe.
„Du nimmſt alſo an, Anna Sſawiſchna, daß Du—
browskij ſelber bei dir war?“ fragte Kirila Petro—
197
Dubromsfij
witſch: „Du täuſchſt dich fehr. Ich weiß freilich nicht,
wer bei dir zu Gaſte war, aber Dubrowskij war es
beſtimmt nicht.“
„Wie, Väterchen, nicht Dubrowskij? Ja, gibt es
denn außer ihm noch jemand, der auf die Landſtraße
geht und die Vorüberfahrenden anhält und durch⸗
ſucht?“
„Das weiß ich nicht, aber Dubrowskij war es be-
ſtimmt nicht. Ich kann mich noch an ihn erinnern,
als er ein Kind war, ich weiß zwar nicht, ob nicht
ſeine Haare inzwiſchen ſchwarz geworden ſind, damals
war er ein Knabe mit einem blonden Lockenkopf;
dieſes eine jedoch weiß ich ganz zuverläſſig, daß Du⸗
browskij nur fünf Jahre älter iſt als meine Maſcha,
und mithin kann er unmöglich fünfunddreißig Jahre
alt ſein, ſondern höchſtens dreiundzwanzig.“
„Stimmt auffällig, Exzellenz,“ warf der Polizei⸗
leutnant ein: „Ich habe das Signalement Wladimir
Dubrowskijs in der Taſche. Darin wird ausdrücklich
vermerkt, daß er dreiundzwanzig Jahre alt iſt.“
„Aha!“ rief Kirila Petrowitſch: „Übrigens, lies
uns doch das Papier vor, wir wollen es hören: es
iſt für uns ganz gut, mit ſeinem Signalement bekannt
zu werden, vielleicht kommt er uns mal unter die
Augen, dann können wir ihn greifen.“
Der Polizeileutnant zog ein ziemlich verſchmiertes
Blatt Papier aus der Taſche, öffnete es würdevoll
und las mit ſingendem Tonfall:
198
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1
Dubrowsk ii
„Dubrowskijs Signalement, zuſammengeſtellt nach
den Ausſagen ſeines vormaligen Gutsgeſindes:
Alter zweiundzwanzig Jahre, Wuchs mittelhoch,
Geſichtsfarbe rein, Bart gefchoren, Augen braun,
Haare blond, Naſe gerade. Beſondere Kennzeichen:
nicht vorhanden.“
„Iſt das alles?“ fragte Kirila Petrowitſch.
„Das iſt alles, antwortete der Polizeileutnant,
das Papier zuſammenfaltend.
„Gratuliere, mein Herr Polizeileutnant. Ein aus—
gezeichnetes Papier! Nach dieſem Signalement wird
es euch ſicherlich nicht ſchwer fallen, Dubrowskij zu
finden! Gibt es denn überhaupt einen, der nicht
mittelhoch iſt, nicht blondes Haar hat, eine gerade
Naſe und braune Augen? Ich wette mit dir, was
du willſt: drei Stunden lang wirſt du dich mit
dem Dubrowskij unterhalten und nicht erraten,
mit wem Gott dich zuſammengeführt hat. Ja,
man kann wohl ſagen, geſcheite Köpfe haben die
Beamten!“
Der Polizeileutnant ſteckte demütig ſein Papier in
die Taſche und machte ſich an die Gans mit Kraut;
die Diener hatten derweil ſchon mehrere Male die
Runde gemacht und jedem Gaſt mehrfach das Glas
gefüllt. Nun erſchienen auch einige Flaſchen ruſſiſchen
Schaumweins, die mit vielem Geräuſch entkorkt und
wohlwollend unter der Bezeichnung Champagner be—
grüßt wurden; die Geſichter röteten ſich bereits, die
199
Dubromsfij
Geſpräche wurden lauter und luſtiger und verloren
nach und nach den Zuſammenhang.
„Wahrhaftig,“ fuhr Kirila Petrowitſch fort, „einen
ſolchen Polizeileutnant wie den verſtorbenen Taras
Alexejewitſch werden wir nicht ſo bald wieder haben!
Der ſchoß keinen Bock und Maulaffen hielt er auch
nicht feil. Zu ſchade, daß der brave Junge verbrannt р
ift, der hätte keinen aus der ganzen Bande ausgelaſſen.
Der hätte fie alle gepackt, und auch Dubrowskij felber =
wäre ihm nicht entkommen. Freilich hätte Taras Alexe⸗
jewitſch ruhig Geld von ihm genommen, hätte ihn
aber trotzdem nicht freigelaſſen, das war fo die Art
des Verſtorbenen. Aber ich ſehe, es iſt nichts dran zu
ändern; ich ſeh, daß ich ſelber dieſe Sache anpacken
und mit meinem Hausgeſinde gegen die Räuber ins
Feld ziehen muß. Zunächſt will ich einmal zwanzig
meiner Burſchen abkommandieren, damit ſie das Diebe: =
wäldchen ſäubern; meine Jungens ſind nicht verzagt,
von denen geht jeder einzeln auf einen Bären los, da
wird er wohl auch vor einem Räuber nicht zurück⸗
ſchrecken.“ 2
„Wie geht es denn Ihrem Bären, Väterchen, Kir
rila Petromitfch?“ fragte Anton Pafnutjitſch, der fi о —
bei dieſen Worten an ſeinen zottigen Bekannten und $
einige Späße erinnerte, deren Opfer er ſeinerzeit ge-
worden war. *
„Miſcha wünſcht 3 zu leben,“ entgegnete Ki⸗
rila Petrowitſch, „er ſelber ſtarb eines ruhmvollen
200
Du browskij
Todes von der Hand des Gegners. Dort ſitzt fein Be:
zwinger!“ Kirila Petrowitſch zeigte bei dieſen Worten
auf den franzöſiſchen Lehrer. „Er hat deinen ..
mit Erlaubnis geſagt ... gerächt; erinnerſt du dich
noch?“
„Wie ſollte ich das wohl vergeſſen?“ meinte Anton
Pafnutjitſch und kratzte ſich: „freilich denk ich noch
ſehr daran. Miſcha iſt alſo geſtorben — ſchade um
Miſcha, bei Gott, ſchade! So ſpaßhaft war er! So
geſcheit! So einen Bären gibts nicht ſo bald wieder.
Und warum hat der Musje ihn denn getötet?“
Mit ungemeiner Genugtuung verbreitete ſich Kirila
Petrowitſch alsbald über die ruhmvolle Tat feines
Franzoſen, war ihm doch die glückliche Eigenſchaft
im hohen Grade zu eigen, mit allem, was ihn umgab,
zu prahlen. Aufmerkſam hörten die Gäſte die Er—
zählung von Miſchas Tod an und ſchauten erſtaunt
zu Deforges hin, der gar nicht zu ahnen ſchien, daß
ſich das Geſpräch ſeiner Tapferkeit zugewandt hatte,
ſondern ruhig auf feinem Platz {аб und feinem тип:
teren Zögling moraliſche Vorhaltungen machte.
Nachdem es drei Stunden gedauert hatte, ging
auch dieſes Mittageſſen zu Ende; der Hausherr legte
ſeine Serviette auf den Tiſch, man erhob ſich und ging
ins Wohnzimmer, in dem bereits der Kaffee und die
Karten warteten, aber auch die Fortſetzung des Trink—
gelages, das ſo ruhmvoll im Speiſezimmer begonnen
worden war. |
201
Dubromsfij
Zehntes Kapitel
Einige der Gäſte beabſichtigten, bereits um fieben
Uhr abends abzureiſen, allein der Hausherr, den der
Punſch in heiterſte Stimmung gebracht hatte, befahl,
die Tore zu ſchließen, und erklärte, daß er keinem bis
zum folgenden Morgen geſtatte, den Gutshof zu ver-
laſſen. Bald darauf erſchallte Muſik, es öffneten ſich
die Türen zum Saal und der Ball begann. Der Haus⸗
herr und die ihm Näherſtehenden ſaßen in einer Ecke,
leerten Glas um Glas und freuten ſich am Vergnügen,
das die Jugend empfand. Die alten Frauen ſpielten
Karten. Wie überall, wo nicht etwa zufällig eine
Ulanenbrigade ihre Quartiere aufgeſchlagen hat, gab
es auch hier weniger Kavaliere als Damen; darum
wurden alle Männer, die einigermaßen als Tänzer
tauglich erſchienen, dazu kommandiert. Aus ihrer Schar
ſtach der Lehrer hervor; die jungen Damen wählten
immer nur ihn und meinten, daß es ſich mit ihm am
beſten walzen laſſe. Einige Male wirbelte er auch
mit Marja Kirilowna durch den Saal und dann
folgten dem Paare ſpöttiſch die Augen der anderen
Fräulein. Es ging bereits gegen Mitternacht, als
der ſchläfrige Hausherr den Tanz abbrach und den
Befehl gab, das Abendeſſen zu ſervieren; er ſelber
begab ſich zur Ruhe.
Kirila Petrowitſchs Abweſenheit verlieh der ganzen
Geſellſchaft mehr Freiheit und Leben; die Kavaliere
202
Dubromsfij
wagten es, ſich neben die Damen zu ſetzen; die jungen
Damen lachten und flüſterten mit ihren Nachbarn;
dagegen unterhielten ſich die älteren Damen laut über
den Tiſch hinüber. Die Männer tranken, ſtritten mit⸗
einander und lachten; kurzum, das Abendeſſen verlief
außergewöhnlich heiter und ließ eine Menge von ver—
gnügten Erinnerungen zurück.
Nur ein einziger Menſch nahm nicht ап der all:
gemeinen Luſtigkeit teil. Finſter und ſchweigſam ſaß
Anton Pafnutjitſch auf feinem Platz, er aß zerſtreut
und machte einen ungewöhnlich beunruhigten Eindruck.
Die Geſpräche über das Räuberunweſen hatten ihn
ungemein aufgeregt. Wir werden bald ſehen, daß er
allerdings Grund genug hatte, ſie zu fürchten.
Als Anton Pafnutjitſch Gott zum Zeugen dafür ап:
gerufen hatte, daß die rote Schatulle tatſächlich leer ſei,
log er nicht und ließ ſich keine Sünde zuſchulden kommen;
denn freilich war die rote Schatulle leer: die vormals
in ihr aufbewahrten Banknoten waren in eine Leder—
taſche gewandert, die er jetzt unter dem Hemde auf
ſeiner Bruſt trug. Nur durch dieſe Vorſichtsmaßregel
konnte er ſeine ewige Furcht und ſein Mißtrauen
gegen alle ein wenig lindern. Da er ſich heute де:
zwungen ſah, in einem fremden Hauſe zu übernachten,
fürchtete er, daß ihm ſein Nachtlager vielleicht in
einem abgelegenen Zimmer angewieſen werden würde,
wohin leicht Diebe dringen konnten; ſeine Augen
ſuchten nach einem zuverläſſigen Schlafgeſellen und
203
Dubromsfij
wählten endlich Deforges aus. Sein Außeres, das
von Kraft ſprach, aber noch mehr ſeine Tapferkeit,
die er bei der Begegnung mit dem Bären bewieſen
hatte, an welchen der arme Anton Pafnufjitfch nicht
ohne Erſchauern denken konnte, waren bei dieſer
Wahl maßgebend geweſen. Als man vom Tiſch auf—
ſtand, begann Anton Pafnutjitſch Kreiſe um den jungen
Franzoſen zu ziehen, räuſperte ſich, hüſtelte und wandte
ſich ſchließlich mit folgender Erklärung an ihn.
„Hm hm! wäre es nicht möglich, Musje, in Ihrem
Zimmer zu übernachten, denn ſiehſt du mal ...“
„Que desire, monsieur?* fragte Deforges mit einer
höflichen Verbeugung. %
„Ach, du Schwerenot, du verſtehſt ja noch nicht
ruſſiſch, Musje. Schö wö mua (фе wu kuſche, ver-
ſtehſt du mich.“
„Monsieur, tres volontier,“ antwortete Deforges;
„veuillez donner des ordres en conséquence.“
Sehr befriedigt von ſeiner Kenntnis der franzöſiſchen
Sprache eilte Anton Pafnutjitſch fort, um die not⸗
wendigen Anordnungen zu treffen.
Die Gäſte ſagten einander Lebewohl und ein jeder
begab ſich darauf in das Zimmer, das ihm angewieſen
worden war; Anton Pafnutjitſch dagegen folgte dem
Lehrer zum Flügel. Die Nacht war dunkel. Deforges
wies ihm mit einer Laterne den Weg; Anton Paf:
nutjitſch folgte ihm ziemlich tapfer und preßte nur
zuweilen die Hand an die Bruſt, um ſich zu über⸗
204
Dubromsfij
zeugen, daß das Täſchchen mit dem Gelde noch рог:
handen war. |
Als fie im Flügel angelangt waren, zündete der
Lehrer eine Kerze an und ſie zogen ſich aus; Anton
Pafnutjitſch ging dabei im Zimmer auf und ab, prüfte
die Schlöſſer und die Fenſter und ſchüttelte den Kopf,
da die Beſichtigung ihm nur wenig troſtreich erſchien.
Die Türe war nämlich nur durch einen Riegel зи рег:
ſperren und die Fenſter hatten nicht einmal doppelte
Rahmen. Er verſuchte, Deforges ſein Leid zu klagen,
doch reichte ſeine Kenntnis der franzöſiſchen Sprache
bei weitem nicht aus, etwas ſo Kompliziertes zu er—
klären. Der Franzoſe verſtand ihn nicht und Anton
Pafnutjitſch mußte wohl oder übel ſein Jammern
einſtellen. Die Betten ſtanden einander gegenüber;
die beiden legten ſich nieder und der Lehrer löſchte das
Licht aus.
„Purkua wu tuſche, purkua wu tuſche?“ rief Anton
Pafnutjitſch, indem er nicht ohne Mühe das ruſſiſche
Verbum für auslöſchen auf franzöſiſche Art konju—
gierte: „Ich kann nicht dormir im Dunkeln.“
Aber Deforges begriff ihn nicht und wünſchte ihm
lediglich eine geruhſame Nacht.
„Verdammter Heide!“ brummte Spizyn, ſich feſt
in die Decke wickelnd: „Wozu war es nötig, die Kerze
auszulöſchen? Er wird wenig Freude davon haben.
Ich kann doch nicht ohne Licht ſchlafen. Musje,
Musje,“ fuhr er fort: „Schö wö awek wu parle.“
205
Dubromsfij
Allein der Franzoſe gab keine Antwort und begann
bald darauf zu ſchnarchen.
„Da ſchnarcht er ſchon, Beſtie von einem ran:
zofen —“ überlegte Anton Pafnutjitſch, — „und bei
mir iſt kein Gedanke an Schlafen: eins, zwei, drei
könnten Diebe durch die offene Türe eindringen oder
durchs Fenſter ſteigen, ihn aber, dieſe Beſtie, weckt
man nicht einmal mit Kanonen auf. Musje, he
Musje! — hol dich doch der Teufel.“
Anton Pafnutjitſch verſtummte, Müdigkeit und
Weindünſte überwältigten nach und nach feine Элай:
lichkeit; er nickte ein und bald darauf überwältigte ihn
ein tiefer Schlaf.
Ein ſeltſames Erwachen ſtand ihm bevor. Er fühlte
noch im Schlaf, daß jemand leiſe ſeinen Hemdkragen zu⸗
rück ſchlug. Anton Pafnutjitſch öffnete die Augen und ſah
beim bleichen Licht des Herbſtmorgens Deforges vor ſich
ſtehen: in der einen Hand hielt der Franzoſe die Taſchen⸗
piſtole, während er mit der andern das verheißungsvolle
Täſchchen abknöpfte. Anton Pafnutjitſch war ſtarr.
„Keß kö fe, Musje, keß kö fe?“ rief er mit bebender
Stimme. — „Still! Schweigen!“ entgegnete der Lehrer
und ſprach auf einmal das reinſte Ruſſiſch: „Schweigen!
oder Sie find verloren. Ich bin Dubrowskij.“
Elftes Kapitel
Es wird nunmehr für uns Zeit, den Leſer um Er:
laubnis zu bitten, die letzten Vorfälle in unſerer Er⸗
206
Dubromsfij
zählung durch vorhergegangene Umſtände erklären
zu dürfen, die zu berichten wir noch nicht in der Lage
waren.
Auf der Station“ ſaß im Haufe des Poſthalters,
von dem bereits die Rede war, in ſeiner Ecke ein Vor⸗
überreiſender, ſein Ausſehen war ſtill und geduldig,
ſo daß man in ihm ſogleich eine Zivilperſon oder den
Ausländer erkennen mußte, das heißt, einen Menſchen,
deſſen Stimme auf der Poſt nicht beachtet wird. Sein
Wägelchen ſtand auf dem Hof, es mußte friſch ge—
ſchmiert werden. Ein kleines Köfferchen ruhte darin,
der magere Beweis für ein durchaus nicht genügendes
Vermögen. Der Reiſende verlangte weder Tee noch
Kaffee, ſondern ſchaute durchs Fenſter und pfiff zum
gewaltigen Mißvergnügen der Poſthaltersfrau, die
hinter einer ſpaniſchen Wand ſaß, vor ſich hin.
„Da hat uns Gott einen Pfiffikus geſchickt,“ ſagte
ſie halblaut: „Wie der pfeift! möge er doch platzen,
der verdammte Heide.“
„Warum denn?“ meinte der Poſthalter: „Was
machts denn? Mag er doch pfeifen.“
„Was es macht?“ entgegnete geärgert feine Gat:
tin: „Iſt dir denn die ſchlimme Vorbedeutung etwa
unbekannt?“
„Welche Vorbedeutung? Daß man mit Pfeifen
das Geld aus dem Hauſe treibt? Ei, Pachomowna!
bei uns kann man pfeifen, wie lange man Luſt hat,
Geld gibts doch keins.“
207
Dubromsfij
„Laß ihn doch endlich abfahren, Sſidorytſch. Macht
es dir vielleicht Spaß, ihn noch lange hier zu Бе:
halten? Gib ihm endlich Pferde und mag er ſich zum
Teufel ſcheren.“
„Der kann noch gut warten, Pachomowna; im
Stall hab ich nur drei Dreigeſpanne, das vierte ruht
gerade aus. Wer weiß, ob nicht am Ende noch wich⸗
tige Reiſende kommen; ich will wegen dieſes Franzoſen
nicht meinen Hals riskieren. Horch nur! So iſt es
auch! da kommt ſchon wer! Oho! und wie ſchnell!
am Ende gar ein General?“
Der Wagen hielt vor der Tür. Ein Diener ſprang
vom Bock, öffnete die Wagentür und gleich darauf
trat ein junger Mann im Militärmantel und weißer
Uniformmütze in das Zimmer des Poſthalters; der
Diener folgte ihm, er trug eine Schatulle und ſtellte
ſie aufs Fenſterbrett.
„Pferde!“ rief der Offizier gebieteriſch.
„Sofort!“ entgegnete der Poſthalter: „Darf ich 0
um die Reiſeordre bitten.“
„Ich habe keine Reiſeordre. Ich reife für mich ...
Erkennſt du mich vielleicht nicht?“
Der Poſthalter hatte es eilig und lief zum Stall,
um die Kutſcher anzutreiben. Der junge Mann ging
im Zimmer auf und ab und trat auch hinter die Гра:
niſche Wand, wo er die Poſthaltersfrau leiſe fragte:
„Wer iſt der andere Reiſende?“
„Weiß Gott,“ entgegnete die Poſthaltersfrau: „Ir⸗
208
Dubromsfij
gendein Französchen; jetzt wartet er bereits ſeit fünf
Stunden auf Pferde und pfeift in einem fort. Ich
hab ihn ſatt, den verdammten Kerl.“
Der junge Mann begann gleich darauf, ſich mit
dem Reiſenden in franzöſiſcher Sprache zu unterhalten.
„Wohin belieben Sie zu reiſen?“ fragte er ihn.
„Zur nächſten Stadt,“ antwortete der Franzoſe:
„Von dort muß ich zu einem Gutsbeſitzer, der mich,
ohne mich je geſehen zu haben, als Lehrer angeſtellt
hat. Ich glaubte eigentlich, daß ich bereits heute den
Ort erreichen würde, aber der Herr Poſthalter hat es
ſcheinbar anders entſchieden. In dieſem Land, mein
Herr Offizier, iſt es ſehr ſchwierig, Pferde zu be⸗
kommen.“
„Und bei welchem von unſern Gutsbeſitzern treten
Sie in Stellung?“ fragte der Offizier.
„Bei Trojekurow,“ erwiderte der Franzoſe.
„Bei Trojekurow? Wer iſt denn dieſer Troje-
kurow?“
„Ma foi, monsieur, ich habe wenig Gutes von ihm
gehört. Man ſagt, er ſei ein hochmütiger und eigen—
artiger Herr, der ſeine Hausgenoſſen grauſam be—
handelt, ſo daß keiner es lange bei ihm aushält, denn
alle zittern, wenn ſie nur ſeinen Namen hören und
mit den Lehrern (avec les outchitels) macht er ſchon
gar keine Umſtände.“
„Geſtatten Sie mal! und trotzdem entſchloſſen Sie
ſich, bei dieſem Ungeheuer Stellung zu nehmen?“
P. 1
14
209
Dubromsfijf
„Was tun, mein Herr Offizier? Er gibt mir einen
guten Gehalt, dreitauſend Rubel im Jahr beifreiem Auf:
enthalt. Es könnte ja möglich ſein, daß ich mehr Glück
habe als die anderen. Ich habe eine alte Mutter: die
Hälfte meines Gehaltes ſchicke ich ihr, damit ſie leben
kann; der Reſt genügt mir, um mir in fünf Jahren
ein kleines Kapital zu ſparen, das hinreichend groß
iſt, mir für ſpäterhin die Unabhängigkeit zu ſichern,
und dann bon soir, dann fahre ich nach Paris und
fange einen kleinen Handel an.“
„Kennt Sie jemand im Haufe Trojekurows?“
fragte der Offizier.
„Niemand,“ entgegnete der Lehrer: „Er hat mich
engeftellt, weil einer feiner Moskauer Freunde, deſſen
Koch mein Landsmann iſt, mich ihm empfohlen hat.
Ich muß Ihnen geſtehen, daß ich eigentlich nicht die
Abſicht hatte, Lehrer zu werden, urſprünglich wollte
ich Konditor werden, aber man ſagte mir, daß in
Ihrem Vaterland der Beruf des Lehrers unvergleich-
lich viel vorteilhafter wäre ...“
Der Offizier ſchien etwas zu überlegen. „Hören
Sie mal,“ unterbrach er den Franzoſen: „Was wür—
den Sie dazu ſagen, wenn man Ihnen ſtatt dieſer
ungewiſſen Zukunft zehntauſend Rubel in barer Münze
verſprechen würde, mit der einzigen Bedingung, daß
Sie ſich augenblicks nach Paris zurückbegeben?“
Erſtaunt blickte der Franzoſe den Offizier an und
lächelte nur kopfſchüttelnd.
210
Dubromsfij
„Die Pferde ſtehen bereit,“ rief der eintretende
Poſthalter.
Der Diener beſtätigte gleich darauf die Nachricht.
„Schon gut,“ entgegnete der Offizier: „Verlaßt
uns auf einen Augenblick.“ (Der Poſthalter und der
Diener entfernten ſich.) „Es iſt kein Scherz,“ fuhr er
darauf in franzöſiſcher Sprache fort: „Die zehntauſend
Rubel kann ich Ihnen geben; ich verlange nichts weiter
als Ihre Abreiſe und Ihre Papiere.“
Er öffnete bei dieſen Worten ſeine Schatulle und
nahm mehrere Stöße von Banknoten heraus.
Der Franzoſe ſtarrte ihn an. Er wußte nicht recht,
was er denken ſollte.
„Meine Abreiſe ... meine Papiere,“ wiederholte
er erſtaunt: „da find meine Papiere ... aber Sie
ſcherzen doch wohl? Was wollen Sie mit meinen
Papieren?“
„Das geht Sie gar nichts an. Ich frage, ob Sie
einverſtanden ſind, ja oder nein?“
Der Franzoſe, der immer noch nicht ſeinen Ohren
trauen wollte, reichte die Papiere dem jungen Offizier,
der ſie haſtig durchſah.
„Ihr Paß ... ſehr gut; der Empfehlungsbrief ...
wir wollen ſehen; der Geburtsſchein ... vortrefflich.
Da haben Sie Ihr Geld, fahren Sie heim. Leben
Sie wohl.“
Der Franzoſe ſtand da, als wäre er eingewurzelt.
Der Offizier kehrte noch einmal zurück.
211
Dubrowski f
„Ich habe das Wichtigſte vergeſſen: geben Sie mir
Ihr Ehrenwort, daß dieſer Handel ganz unter uns
beiden bleibt ... Ihr Ehrenwort darauf.“
„Mein Ehrenwort,“ entgegnete der Franzoſe ...
„Aber meine Papiere? Was ſoll ich ohne die be—
ginnen?“
„Sagen Sie in der erſtbeſten Stadt, durch die Sie
kommen, daß Dubrowskij Sie beraubt habe, man
wird Ihnen Glauben ſchenken und Ihnen die nötigen
Dokumente ausſtellen. Leben Sie wohl; Gott helfe
Ihnen, möglichſt ſchnell nach Paris zu kommen und
Ihr Mütterchen in guter Geſundheit anzutreffen.“
Dubrowskij verließ das Zimmer, ſprang in ſeinen
Wagen und jagte davon.
Der Poſthalter ſchaute durchs Fenſter und wandte |
ſich, als der Wagen verſchwunden war, zu feiner
Frau mit folgenden Worten: „Pachomowna, weißt
du? das war ja Dubrowskij.“
Hals über Kopf ſtürzte die Poſthaltersfrau ans |
Senfter, aber es war ſchon zu ſpät: Dubrowskij war
bereits fern. Sie ſchalt auf ihren Mann: „Du Gott⸗
loſer, warum haſt du mir das nicht früher geſagt,
damit ich mir den Dubrowskij wenigſtens hätte an:
ſehen können, jetzt kann es lange dauern, ehe er wieder
hier vorbeikommt. Gewiſſenlos biſt du, wahrhaftig,
ganz und gar gewiſſenlos!“
Immer noch ſtand der Franzoſe wie angewurzelt.
Das Abkommen mit dem Offizier und das viele Geld
212
Dubromstij
— es war ihm alles wie ет Traumgeſicht. Aber die
Banknotenſtöße waren da, ſie ſtaken in ſeiner Taſche
und ſprachen bedeutſam von der Wirklichkeit dieſer
erſtaunlichen Begebenheit.
Endlich entſchloß er ſich, Pferde zu nehmen, um
zur nächſten Stadt zu fahren. Der Kutſcher fuhr ihn
im Schritt und ſo kamen ſie erſt nachts in die Nähe
der Stadt.
Noch ehe ſie die Stadtgrenzen erreicht hatten, an
der an der Stelle eines Wachtpoſtens nichts als ein
zerfallenes Schilderhäuschen ſtand, befahl der Fran—
zoſe dem Kutſcher haltzumachen, kletterte aus dem
Wägelchen und ging, nachdem er dem Kutſcher durch
Zeichen zu verſtehen gegeben hatte, daß er ihm das
Wägelchen nebſt dem Köfferchen als Trinkgeld ſchenke,
zu Fuß weiter. Der Kutſcher war über dieſe Freigebig—
keit genau ſo erſtaunt wie vor kurzem der Franzoſe
über Dubrowskijs Vorſchlag. Doch da er aus allem
nur den einen Schluß ziehen konnte, daß der Franzoſe
plötzlich verrückt geworden ſei, bedankte er ſich mit
eifrigen Verbeugungen und fuhr, weil er es nicht für
wohlgetan hielt, ſich in der Stadt zu zeigen, zu einem
ihm hinreichend bekannten Vergnügungsetabliſſement,
deſſen Beſitzer ſein Freund war. Dort verbrachte er
die ganze Nacht und begab ſich erſt am Morgen des
anderen Tages auf dem Dreigeſpann, aber ohne Köf—
ferchen und Wägelchen mit gedunſenem Antlitz und
rot unterlaufenen Augen nach Hauſe.
213
Dubromsfij
Dubrowskij hingegen fuhr, nachdem er ſich, wie A
wir gefehen haben, auf diefe Weiſe in den Beſitz der
Papiere des Franzoſen geſetzt hatte, dreiſt zu Troje⸗
kurow und ließ ſich in deſſen Hauſe nieder. Welcher й
Art auch feine geheimen Abſichten waren (wir werden
von ihnen weiterhin hören), in ſeinem Verhalten war
nicht das geringſte Anſtößige zu gewahren. Zwar be⸗
faßte er ſich wenig mit der Erziehung des jungen |
Saſcha, er ließ ihm volle Freiheit, dumme Streiche zu
machen, und nahm es auch nicht zu genau mit den
Aufgaben, die er ihm mehr der Form halber auf- ;
alege, dafür aber verfolgte er mit um fo größerer |
Aufmerkſamkeit die muſikaliſchen Erfolge feiner Schü⸗
lerin und konnte oft ganze Stunden mit ihr am Klavier р
verbringen. Alle im Haufe liebten den jungen Lehrer.
Kirila Petrowitſch liebte ihn, weil er ſo kühn und
geſchickt auf der Jagd war, Marja Kirilowna liebte
ihn, weil er grenzenlos eifrig war und ihr ſklaviſch N
ergeben, Saſcha — weil er ſich nachſichtig зи all
feinen Schelmenſtreichen verhielt, und das Geſinde,
weil er von einer Freigebigkeit war, die augenſchein⸗
lich nicht recht mit ſeinem Vermögen übereinſtimmte.
Es machte allen den Eindruck, daß auch er der Familie
ſehr zugetan ſei und ſich bereits als Mitglied derſelben
betrachte.
Seit dem Tage ſeines Eintrittes in den Lehrerberuf
bis zu jenem bemerkenswerten Feſt war etwa ein
Mongat verſtrichen, und noch ahnte niemand, daß
214
Dubrowsk ij
hinter dem beſcheidenen jungen Franzoſen der grau—
ſame Räuber ſteckte, deſſen Namen allein ſchon ge—
nügte, um alle Gutsbeſitzer im Umkreiſe zu erſchrecken.
Dubrowskij weilte während dieſer ganzen Zeit beftän-
dig in Pokrowskoje, trotzdem aber wollte, genährt
von der erfinderiſchen Phantaſie der Dorfbewohner,
das Gerücht über feine Räubertaten nicht verſtummen;
es war freilich auch möglich, daß ſeine Bande trotz
der Abweſenheit ihres Führers ihr Unweſen fortſetzte.
Diesmal freilich, da er gezwungen war, mit einem
Mann, den er für ſeinen perſönlichen Feind und
einen der Hauptſchuldigen an all dem Jammer, der
ihn betroffen, halten mußte, im gleichen Zimmer
zu übernachten, konnte Dubrowskij der Verſuchung
nicht länger widerſtehen. Das Vorhandenſein der
Geldtaſche war ihm bekannt geworden und ſo be—
ſchloß er, ihrer habhaft zu werden. Und wir ſahen
ja bereits, in welchen Schrecken er den armen Anton
Pafnutjitſch durch ſeine unerwartete Verwandlung
aus dem Lehrer in den Räuber verſetzt hatte.
Zwölftes Kapitel
Am Morgen erſchienen die Gäſte, die in Pokrows—
koje übernachtet hatten, gegen neun Uhr im Wohn:
zimmer, in welchem ſchon der Sſamowar rauchte;
Marja Kirilowna ſaß dort im Morgengewande und
Kirila Petrowitſch trank bereits in Filzrock und Pan⸗
toffeln ſeinen Tee aus ſeiner geräumigen Taſſe, die
215
Du bro wsk ij
an einen Spülnapf erinnerte. Anton Pafnutjitfch
kam als letzter, er war ſo blaß und ſchien ſo ver—
ſtimmt zu ſein, daß ſein Ausſehen alle geradezu über—
raſchte, Kirila Petrowitſch erkundigte ſich ſogar nach
ſeinem Befinden. Spizyn gab etwas zur Antwort,
das gar keinen Sinn hatte, und blickte dabei entſetzt
den Lehrer an, der dortſelbſt mit der unſchuldigſten
Miene der Welt ſaß. Wenige Minuten darauf trat $
ein Diener ein und teilte Spizyn mit, daß fein Wagen
vorgefahren wäre. Anton Pafnutjitſch ſchien es eilig
zu haben, Abſchied zu nehmen, denn haſtig verließ er
trotz aller Vorhaltungen des Hausherrn das Gemach
und fuhr ſpornſtreichs fort. Der Hausherr und die
Gäſte konnten nicht faſſen, was mit ihm geſchehen
ſei. Und darum entſchied Kirila Petrowitſch die Frage
dahin, daß jener ſich wohl überfreſſen habe! Nach
dem Tee und dem Abſchiedsfrühſtück fuhren auch die
übrigen Gäſte fort und bald darauf lag Pokrowskoje
wieder verödet da und alles nahm ſeinen gewöhnlichen
Gang. Einige Tage verſtrichen, doch trug ſich nichts
irgendwie Bemerkenswertes zu. Das Leben in Po:
krowskoje war ziemlich einſam. Kirila Petrowitſch ritt
täglich auf die Jagd, Marja Kirilowna dagegen Бе:
ſchäftigte ſich mit Lektüre, Spaziergängen und ihren
Muſikſtunden und mit dieſen letzteren freilich ganz
beſonders. Sie lernte nach und nach ihr eigenes Herz
verſtehen und geſtand ſich mit unwillkürlicher Erbitte—
rung, daß es gegen die Vorzüge des jungen Franzoſen
216
Dubromsfij
nicht mehr gleichgültig war. Er ſeinerſeits überſchritt
freilich niemals die Grenzen des Reſpektes und des
ſtrengſten Anſtandes und beruhigte hierdurch ihren
Stolz und ihre angſterfüllten Zweifel ein wenig. Mit
immer größerem Zutrauen gab ſie ſich dieſer anziehen—
den Gewohnheit hin. Sie langweilte ſich ohne De:
forges; und war er zugegen, ſo mußte ſie ſich jede
Minute an ihn wenden, fie гид ihn nach feiner Mei⸗
nung über die verſchiedenſten Dinge und war immer
mit feiner Anſicht einverftanden. Es iſt möglich, daß
fie noch nicht verliebt war; aber der erſte Schickſals—
ſchlag oder das erſte zufällige Hindernis hätten де:
nügt, in ihrem Herzen die Flammen der N EEE
auflodern zu laſſen.
Als ſie eines Tages den Salon betrat, in welchem
der Lehrer auf ſie wartete, bemerkte Marja Kirilowna
erſtaunt, daß eine gewiſſe Verwirrung auf ſeinem
blaſſen Geſicht zu leſen war. Sie öffnete das Klavier
und fang einige Noten; Dubrowskij entſchuldigte ſich
jedoch plötzlich unter dem Vorwande, daß ihm der
Kopf weh täte, unterbrach die Stunde und ſteckte ihr,
während er die Noten ſchloß, heimlich ein Billett zu.
Marja Kirilowna nahm es, ohne ſich recht zu über—
legen, was ſie tat, in Empfang und bedauerte es
nach einem Augenblick; allein Dubrowskij hatte bereits
den Salon verlaſſen. Marja Kirilowna begab ſich
in ihr Zimmer, erbrach das Billett und las folgende
Zeilen:
217
Dubromsfij
„Finden Sie fich heute um fieben Uhr in der Laube
am Bach ein: ich muß unbedingt mit Ihnen ſprechen.“
Ihre Neugierde war aufs heftigſte erregt. Sie war
längſt darauf vorbereitet, ſein Geſtändnis zu hören,
und wünſchte es und fürchtete es doch gleichzeitig.
Es wäre ihr angenehm geweſen, die Beſtätigung deſſen
zu vernehmen, was ſie ſelber ſchon ahnte; und doch
fühlte ſie, daß es für ſie nicht recht anginge, ein
ſolches Geſtändnis von einem Menſchen zu hören,
der, ſeiner Stellung nach, keineswegs die Hoffnung
hegen durfte, jemals ihre Hand zu erlangen. Sie war
entſchloſſen, zu der Zuſammenkunft zu gehen. Und
nur in einem ſchwankte ſie noch: mit welcher Miene
ſie wohl das Geſtändnis des Lehrers anhören ſollte:
ob mit ariſtokratiſchem Unwillen, oder mit Freund⸗
ſchaftsbeteuerung, mit luſtigen Späßen, oder mit
ſchweigſamer Teilnahme? Dennoch konnte ſie es nicht
unterlaſſen, in der Zwiſchenzeit jeden Augenblick auf
die Uhr zu ſchauen. Es dämmerte; die Bedienten
brachten die Kerzen; Kirila Petrowitſch nahm am
Kartentiſch Platz, um mit einigen Nachbarn, die zu
Beſuch gekommen waren, Boſton zu ſpielen; die Saal⸗
uhr ſchlug dreiviertel auf ſieben, da ſchlich Marja
Kirilowna leiſe zur Freitreppe, ſchaute ſich nach allen
Seiten um und lief in den Garten.
Die Nacht war dunkel, Wolken bedeckten den
Himmel, man konnte keine zwei Schritt weit ſehen;
doch fand fi) Marja Kirilowna trotz der Finſternis
218
Dubrowsk ij
auf den bekannten Wegen zurecht und ſtand ſchon
nach einer Minute vor der Laube; ſie blieb dort ſtehen,
um Atem zu ſchöpfen, damit ſie gleichgültig und ruhig
vor Deforges treten könnte. Allein da rc Deforges
bereits vor ihr.
„Ich danke Ihnen,“ ſprach er mit ſtiller und trau⸗
riger Stimme: „daß Sie meine Bitte nicht abgeſchlagen
haben. Ich wäre in Verzweiflung geraten, wenn Sie
nicht gekommen wären.“
Marja Kirilowna entgegnete mit einer ſchon vor:
her zurecht gelegten Phraſe: „Ich hoffe, Sie werden
mich nicht veranlaſſen, meine Herablaſſung zu bereuen.“
Er ſchwieg und es machte den Eindruck, als рег:
ſuche er, ſich zu ſammeln. „Die Verhältniſſe verlangen
5... ich muß Sie verlaſſen,“ ſagte er ſchließlich: „es
kann ſein, daß Sie ſchon bald von mir hören werden
allein ich kann nicht anders, ich muß Ihnen vor
der Trennung noch einiges ſagen.“
Marja Kirilowna entgegnete nichts. Sie ſah in
ſeinen Worten nur eine Art Einleitung zu dem er—
warteten Geſtändnis.
„Ich bin nicht der, den Sie in mir ſehen,“ fuhr er
fort und ſenkte den Kopf: „ich bin nicht der Franzoſe
Deforges — ich bin Dubrowskij.“
Marja Kirilowna ſchrie leiſe auf.
„Um Gottes willen, fürchten Sie ſich nicht vor
mir; Sie brauchen meinen Namen nicht zu fürchten.
Ja, ich bin es, ich bin jener Unglückliche, den Ihr
219
Dubromsfij
Vater, nachdem er ihm das letzte Stück Brot ge:
nommen, aus dem väterlichen Hauſe als Räuber auf
die Landſtraße jagte, aber Sie brauchen mich nicht
zu fürchten, denn ich werde weder Ihnen noch ihm
etwas antun. Es iſt alles aus ... ich habe ihm рег:
ziehn; Sie haben ihn gerettet. Es war urſprünglich
meine Abſicht, ihn zum Opfer meiner erſten Bluttat
zu machen. Ich ſtrich um dieſes Haus herum und
beſtimmte gerade, wo das Feuer angelegt werden und
durch welchen Eingang man in ſein Schlafzimmer
dringen ſollte, um ihm alle Möglichkeiten zur Flucht
zu nehmen; in dem Augenblick aber ſchritten Sie wie
eine himmliſche Erſcheinung an mir vorüber und mein
Herz kam zur Ruhe. Ich begriff, daß ein Haus, das
Sie bewohnen, geheiligt iſt und daß es nicht in meiner
Macht ſteht, irgendein Geſchöpf, das mit Ihnen durch
die Bande des Blutes verbunden ift, jemals zu ver:
dammen. Ich verzichtete auf meine Rache, als wäre
ſie nichts als Wahnſinn. Tagelang ſtreifte ich durch
die Gärten von Pokrowskoje und hoffte immer, Ihr
weißes Gewand von ferne zu gewahren. Wenn Sie
Ihre unvorſichtigen Spaziergänge machten, folgte ich
Ihnen, von Buſch zu Buſch ſchlüpfend, glückſelig im
Gedanken, daß es dort, wo ich heimlich anweſend war,
keinerlei Gefahr für Sie gäbe. Endlich winkte mir der
erſehnte Zufall ... es gelang mir, in Ihr Haus zu
kommen. Dieſe drei Wochen waren lauter Tage des
Glückes für mich; es wird die höchſte Freude meines
220
F ͤUépb ß)
Du bro wsk ij
betrübten Lebens fein, mich ewig daran zu erinnern ...
Heute erhielt ich eine Nachricht, die es mir unmöglich
macht, länger hier zu bleiben. Ich muß von Ihnen
noch heute ſcheiden, ja ſogar ſofort ... Allein zuvor
mußte ich mich Ihnen enthüllen, damit Sie mich nicht
verdammen, damit Sie mich nicht verachten. Denken
Sie zuweilen an Dubrowskij zurück und denken Sie
daran, daß mir eigentlich ein anderes Los beſchieden
war, daß meine Seele wohl verſtanden hätte, Sie zu
lieben, und daß niemals ...“
In dem Augenblick ertönte ein lautes Pfeifen und
Dubrowskij verſtummte. Er ergriff ihre Hand und
preßte ſie an ſeine heißen Lippen. Das Pfeifen wieder⸗
holte ſich. „Leben Sie wohl,“ ſagte Dubrowskij: „man
ruft nach mir; ſchon der nächſte Augenblick kann mein
Verderben bedeuten.“ Er entfernte ſich ein wenig ...
Marja Kirilowna ſtand noch immer regungslos. Du—
browskij kehrte zurück und ergriff aufs neue ihre Hand.
„Sollte es irgendeinmal geſchehen, daß Sie ein Leid
träfe und Sie niemand hätten, von dem Sie Schutz
oder Hilfe erwarten könnten, verſprechen Sie mir, ſich
dann an mich zu wenden und von mir all das zu рег:
langen, was zu Ihrer Rettung notwendig iſt? Ver—
ſprechen Sie mir, meine Ergebenheit nicht abzulehnen?“
Marja Kirilowna weinte ſtumm. Das Pfeifen
ertönte zum dritten Male.
„Sie ſtürzen mich ins Verderben!“ rief Dubrows—
kij: „Ich geh nicht von hier fort, bevor Sie mir
221
Dubromsfij
die Antwort geben: wollen Sie mirs verſprechen,
oder nicht?“
„Ich verſpreche!“ flüſterte das arme ſchöne Mädchen.
Noch erregt von der Zuſammenkunft mit Dubrows⸗
kij kehrte Marja Kirilowna aus dem Garten zurück.
Schon von ferne ſchien ihr, daß viele Menſchen
auf dem Hof waren, vor der Freitreppe hielt ein
Dreigeſpann, Diener liefen hin und her, das ganze
Haus war in Bewegung geraten; ſie hörte Kirila
Petrowitſchs Stimme und eilte ins Haus, da ſie fürch⸗
tete, daß man am Ende ihre Abweſenheit bemerkt
hätte. Kirila Petrowitſch eilte ihr entgegen; im Salon
ſtand der Polizeileutnant, unſer Bekannter, umgeben
von einer Schar von Gäſten, die ihn mit Fragen
geradezu überſchütteten. Der Polizeileutnant war im
Reiſeanzug und ſtarrte vom Fuß bis zum Kopf von
Waffen, er antwortete auf alle Fragen mit einer ge:
heimnisvollen und beſchäftigten Miene. „Wo ſteckteſt
du nur, Maſcha?“ fragte Kirila Petrowitſch: „biſt
du vielleicht Monſieur Deforges begegnet?! Maſcha
hatte kaum die Kraft, die Frage verneinend zu Бе:
antworten. „Stell dir nur vor,“ fuhr Kirila Petro⸗
witſch fort: „der Polizeileutnant iſt hier, um ihn zu
verhaften, und beteuert, daß er der geſuchte Фи:
browskij wäre.“ — „Allen Anzeichen nach, Exzel⸗
lenz,“ meinte ehrfurchtsvoll der Polizeileutnant. „Ach,
Brüderchen,“ unterbrach ihn Kirila Petrowitſch: „ſcher
dich, du weißt ſchon wohin, mit deinen Anzeichen. Ich
222
Dubromsfij
geb dir meinen Franzoſen nicht heraus, bevor ich die
Sache nicht ſelber unterſucht habe. Wie kann man
nur dem Anton Pafnutjitſch ſo aufs Wort glauben,
er iſt nichts als ein Feigling und ein Bauer: er hat
ſicher nur im Traum geſehen, daß der Lehrer ihn be⸗
rauben wollte. Warum hat er denn mir gegenüber
nicht am gleichen Morgen ſchon ein Wörtchen darüber
fallen laſſen ..“ — „Der Franzoſe hat ihn ein:
geſchüchtert, entgegnete der Polizeileutnant: „er hatte
ihm ſogar einen Schwur abgenommen, zu ſchwei⸗
gen.“ — „Nichts als Unſinn,“ meinte Kirila Petro—
witſch: „das bring ich euch im Handumdrehen ins
reine. Wo bleibt denn der Lehrer?“ fragte er einen
eintretenden Diener. „Nirgends zu finden,“ entgeg—
nete der Bediente. „Dann ſucht weiter!“ ſchrie Troje—
kurow, dem nach und nach Zweifel aufſtiegen. „Zeig
mir doch mal dein berühmtes Signalement her,“
ſagte er zum Polizeileutnant, der nicht verſäumte,
ihm augenblicks die Papiere zu überreichen. „Hm!
hm! dreiundzwanzig Jahre alt und dergleichen. Das
ſtimmt ja, aber das beweiſt noch gar nichts. Was iſt
denn mit dem Lehrer?“ — „Nicht zu finden,“ wurde
ihm wieder zur Antwort. Kirila Petrowitſch wurde
unruhig; Marja Kirilowna war faſt wie von Sinnen.
„Du biſt ſo blaß, Maſcha,“ bemerkte der Vater:
„hat man dich ſehr erſchreckt?“ — „Nein, Papa,“ ent:
gegnete Maſcha: „mir tut nur der Kopf weh.“ —
„Geh lieber in dein Zimmer, Maſcha, und ſorge dich
223
Dubromsfij
nicht weiter.“ Mafcha küßte feine Hand und eilte fo
ſchnell ſie konnte in ihr Zimmer; dort warf ſie ſich
aufs Bett und fiel in ein hyſteriſches Schluchzen. Die
Zofen eilten herbei, kleideten ſie aus und vermochten
nur mit Müh und Not ſie durch kaltes Waſſer und
alle möglichen Einreibungen zu beruhigen; man brachte
ſie darauf zu Bett und nach und nach ſchlummerte
ſie ein.
Der Franzoſe wurde nicht gefunden. Kirila Petro-
witſch ſchritt im Zimmer auf und ab und pfiff laut
„Siegesdonner ſoll erſchallen“. Die Gäſte flüſterten;
der Polizeileutnant ſchien genarrt worden zu ſein;
der Franzoſe war nicht zu finden. Es war ihm рег:
mutlich gelungen, zu fliehen, gewiß hatte ihn jemand
gewarnt. Aber wer nur und wie? dies war allen
ein Rätſel.
Die elfte Stunde ſchlug, und noch dachte keiner
ans Schlafengehen. Kirila Petrowitſch fuhr ſchließlich
den Polizeileutnant zornig an: „Nun, was denn noch?
Willſt du vielleicht bis zum Morgen hier bleiben;
mein Haus iſt keine Schenke. Mit deiner Gewandt⸗
heit, Brüderchen, fängt man keinen Dubrowskij, wenn
es in der Tat Dubrowskij war. Zieh deines Weges und
ſei in Zukunft flinker. Und auch für euch iſt es längſt
Zeit, nach Hauſe zu fahren,“ fuhr er ſeine Gäſte an:
„Befehlt anzuſpannen, ich will ſchlafen.“
Auf dieſe ungnädige Art und Weiſe trennte ſich
Trojekurow von ſeinen Gäſten.
224
Du browsk lj
Dreizehntes Kapitel
Einige Zeit verſtrich, ohne daß es zu irgendwelchen
bemerkenswerten Vorfällen gekommen wäre. Doch
als das folgende Jahr anbrach, kam es zu manchen
Veränderungen in Kirila Petrowitſchs Familie.
Dreißig Werſt von der ſeinen entfernt befand ſich
die reiche Beſitzung des Fürſten Werejskij. Der Fürſt
hatte ſich lange Zeit hindurch im Auslande aufgehalten.
Seine Beſitzung wurde von einem verabſchiedeten
Major verwaltet und während der Zeit gab es keinerlei
Verbindungen zwiſchen Pokrowskoje und Arbatowo.
Allein gegen Ende Mai kehrte der Fürſt aus dem Aus:
lande zurück und kam auf ſein Gut, das er noch nie
geſehen hatte. Da er an ein abwechſlungsreiches
Leben gewöhnt war, konnte er die Einſamkeit nicht
vertragen und begab ſich daher bereits am dritten
Tage nach ſeiner Ankunft zu Trojekurow, mit dem
er vormals bekannt geweſen war.
Der Fürſt mochte etwa fünfzig Jahre alt ſein, ſah
aber bedeutend älter aus. Vergnügungen mancherlei
Art hatten ſeine Geſundheit untergraben und ihm
ihren unauslöſchlichen Stempel aufgedrückt. Dennoch
war ſein Außeres immer noch angenehm zu nennen
und ſogar merkwürdig, und die Gewohnheit, immer
in Geſellſchaft zu ſein, hatte bewirkt, daß er zumal
mit Frauen beſonders liebenswürdig war. Er hatte
einen unſtillbaren Drang nach Zerſtreuung und lang-
P. 1 15
225
DubromsPij
weilte ſich beſtändig. Kirila Petrowitſch empfand eine
außerordentliche Genugtuung über ſeinen Beſuch, denn
er erblickte darin ein Zeichen des Reſpektes von einem
Menſchen, der die Welt mehr als genügend kannte.
Er führte ihn nach ſeiner Gewohnheit überall herum
und brachte ihn ſchließlich auch zum Hundezwinger.
Allein der Fürſt wäre faſt in der Hundeatmoſphäre
erſtickt und beeilte ſich, ein mit Wohlgerüchen be⸗
ſprengtes Tuch vor die Naſe haltend, ins Freie zu Я
kommen. Der altertümliche Garten mit feinen ge-
ſtutzten Linden, dem viereckigen Teich und den regel⸗
mäßigen Alleen gefiel ihm ebenfalls nicht; engliſche
Parke konnte er nicht ausſtehen und ebenſowenig die |
ſogenannte Natur, er lobte aber trotzdem alles und
ſchien entzückt zu ſein. Ein Bedienter erſchien mit 1
der Meldung, daß das Eſſen ſerviert ſei. Sie begaben
ſich zu Tiſch. Der Fürſt lahmte ein wenig, ermüdet
von dem Spaziergang, und war ſchon drauf und
dran, ſeinen Beſuch zu bereuen.
Allein da ſah er Marja Kirilowna im Salon —
und wie überraſcht war der alte Frauenjäger von р
ihrer Schönheit! Trojekurow ließ den Gaft ап ihrer
Seite Platz nehmen. Ihre Gegenwart brachte neues
Leben in den Fürſten, er wurde aufgeräumt und es
gelang ihm mehrere Male, mit feinen ſpaßhaften
Erzählungen ihre Aufmerkſamkeit anzuziehen. Nach
dem Mittageſſen machte Kirila Petrowitſch den Vor⸗ |
ſchlag, ет wenig zu reiten, aber der Fürſt entſchul⸗
226
nn ̃—
Dubromstijf
digte ſich, indem er auf feine Sammetſtiefel wies und
über fein Podagra ſcherzte. Er machte den Gegen:
vorſchlag, eine Spazierfahrt zu unternehmen, denn
es war ſein Wunſch, ſich nicht von ſeiner liebens⸗
würdigen Nachbarin trennen zu müſſen. Der Wagen
wurde angeſpannt. Die alten Herren und das ſchöne
Mädchen nahmen Platz und fuhren. Die Unterhal⸗
tung brach nicht ab. Marja Kirilowna lauſchte mit
Vergnügen den ſchmeichelhaften und luſtigen Dingen,
die der Weltmann vorzubringen hatte, plötzlich aber
fragte Werejskij, zu Kirila Petrowitſch gewandt, was
wohl jenes abgebrannte Gebäude zu bedeuten hätte
und ob es ihm gehöre? Kirila Petrowitſchs Geſicht
wurde finſter: die Erinnerung, die der abgebrannte
Gutshof in ihm hervorrief, war ihm unangenehm.
Er entgegnete nichts als dies, daß jener Landſtreifen jetzt
ihm gehöre, vormals aber im Beſitz von Dubrowskij
geweſen ſei. „Dubrowskij?“ wiederholte Werejskij:
„Wie, jener berühmte Räuber?“ — „Sein Vater,“
entgegnete Trojekurow: „doch auch ſein Vater war
mir ein gehöriger Räuber.“
„Wo ſteckt denn jetzt unſer Rinaldo? Hat man
ihn erwiſcht, und iſt er überhaupt noch am Leben?“
„Er lebt und iſt frei. Solange unſere Polizei aus
nichts als Böſewichten und Dieben beſteht, wird er
nicht ergriffen werden. Wie iſt es übrigens, Fürſt!
War nicht Dubrowskij auch bei dir in Arbatowo?“
„Ja, mir ſcheint, daß er im vorigen Jahr dort
227
Dubrowsk 11
irgendetwas angezündet oder geplündert hat. Nicht |
wahr, Marja Kirilowna, es müßte doch ficher inter-
eſſant ſein, mit dieſem romantiſchen Helden näher I
bekannt zu werden?“
„Was da, intereſſant!“ bemerkte Trojekurow: „Sie
kannte ihn nur zu gut. Ganze drei Wochen hindurch
erteilte er ihr Muſikunterricht, doch hat er, Gott
ſei Dank, für ſeine Stunden nichts erhalten.“ Und
nun begann Kirila Petrowitſch die Geſchichte von
dem vermeintlichen franzöſiſchen Lehrer zu erzählen,
Marja Kirilowna ſaß derweilen wie auf Nadeln. We⸗
rejskij hörte mit tiefer Aufmerkſamkeit zu, er fand
das Ganze ſehr ſonderbar und fing ein neues Ge⸗
ſpräch an. Als fie zurückkehrten, befahl er, ſeinen
Wagen anzuſpannen, und fuhr, trotzdem Kirila Petro⸗
witſch ihn aufs inſtändigſte darum erſuchte, bei ihm
zu übernachten, ſogleich nach dem Tee fort; vorher
jedoch bat er Kirila Petrowitſch, ihn doch mit Marja
Kirilowna zu beſuchen, und der hochmütige Troje⸗
kurow verſprach es ihm; denn da jener den Fürſten⸗
titel hatte, zwei Sterne und auf ſeinem Erbgut drei⸗
tauſend Seelen, hielt er den Fürſten Werejskij in ge⸗
wiſſem Sinne für ebenbürtig. f
Vierzehntes Kapitel
Zwei Tage nach dieſem Beſuch begab ſich Kirila N N
Petrowitſch mit feiner Tochter zum Fürſten Werejskij.
Als ſie ſich Arbatowo näherten, konnte er ſich an den
228
Du bro ws k i]
reinlichen und luftigen Bauernhäuſern nicht ſatt ſehen
und ebenſo an dem ſteinernen Herrenhauſe, das in
der Art der engliſchen Schlöſſer gebaut war. Vor
dem Hauſe breitete ſich eine tiefgrüne Wieſe, auf der
Schweizer Kühe weideten und mit ihren Glöckchen
luſtig klingelten. Das Haus war von allen Seiten
von einem geräumigen Park umgeben. Der Haus⸗
herr begrüßte die Gäſte auf der Freitreppe und reichte
der jungen Schönen ſeinen Arm. Sie traten in einen
prunkvollen Saal, in welchem der Tiſch für drei Per:
ſonen gedeckt war. Der Fürſt führte die Gäſte zum
Fenſter, von wo ſich ihnen ein prächtiger Blick dar—
bot. Die Wolga ſtrömte vor den Fenſtern; ſchwer—
beladene Barken glitten ſegelgeſchwellt auf der Flut
und hier und dort kreuzten die Boote der Fiſcher, die
ſo eindrucksvoll Seelenverkäufer genannt worden ſind.
Auf der anderen Seite des Fluſſes zogen ſich Hügel
und Felder hin; einige Dörfer belebten die Gegend.
Man ſchickte ſich darauf an, die Bildergalerie zu be—
trachten, die der Fürſt im Auslande zuſammengebracht
hatte. Der Fürſt erklärte Marja Kirilowna die Vor—
züge der Bilder, ſchilderte ihren Inhalt und erzählte
die Geſchichte ihrer Maler; er wies auf die Fehler
und auf die Schönheiten hin. Und er ſprach von
ſeinen Bildern nicht etwa in der bedingten Sprache
des pädagogifchen Kenners, ſondern mit Gefühl und
mit Phantaſie. Marja Kirilowna hörte ihm nur zu
gerne zu. Man ging zu Tiſch. Trojekurow ließ den
229
Dubromsfij
Weinen und der Kunſt des Koches Amphytrion volle
Genugtuung widerfahren, Marja Kirilowna dagegen
empfand in der Unterhaltung mit einem Menſchen,
den ſie ſoeben zum zweiten Male in ihrem Leben ſah,
nicht die geringſte Verwirrung noch Gezwungenheit.
Nach dem Eſſen ſchlug der Hausherr feinen Gäſten
vor, in den Garten zu gehen. Den Kaffee nahmen
fie in der Laube am Ufer eines breiten Sees, in dem
viele kleine Inſeln lagen. Plötzlich erſchallte Horn:
muſik, ein Boot mit ſechs Rudern legte neben der
Laube an. Sie fuhren über den See, umkreiſten die
Inſeln und betraten einige ſogar; auf einer fanden
ſie eine Marmorſtatue, auf der anderen eine einſame
Höhle und auf der dritten ein Denkmal mit einer
rätſelhaften Inſchrift, die natürlich Marja Kirilownas
mädchenhafte Neugierde erweckte, allein es gelang ihr
nicht, dem Fürſten hierüber mehr als einige höfliche
nichtsſagende Phraſen zu entlocken. Die Zeit verging
unmerklich. Es begann zu dämmern. Der Fürſt be⸗
eilte ſich unter dem Vorwande, daß es kühl würde,
nach Haufe zurückzukehren; der Sſamowar brodelte
ſchon, als ſie das Haus betraten. Der Fürſt bat Marja
Kirilowna, in ſeinem Junggeſellenheim die Hausfrauen⸗
rolle ſpielen zu wollen. Sie ſchenkte den Tee ein und
lauſchte dabei den unerſchöpflichen Erzählungen des
liebenswürdigen Schwätzers. Plötzlich gab es einen
Knall — eine Rakete erhellte den Himmel ... Der
Fürſt hüllte Marja Kirilowna in den Shawl und bat
230
Dubromsfij
fie und Trojekurow, ihm auf die Teraſſe zu folgen.
In der Dunkelheit, die ſich vor dem Hauſe breitete,
glühten vielfarbige Feuer auf, drehten ſich, erhoben
ſich als Strahlenbündel, fluteten wie Fontänen, ſtürzten
als Sternenregen nieder, erloſchen und glühten aufs
neue auf. Marja Kirilowna freute ſich wie ein Kind.
Ihre Entzückung heiterte den Fürſten Werejskij auf
und auch Trojekurow war außerordentlich zufrieden,
denn er betrachtete tous les frais des Fürſten als Zeichen
des Reſpektes und als Wunſch, ihm zu gefallen.
Das Abendeſſen ſtand dem Mittageſſen hinſichtlich
der Güte in nichts nach. Die Säfte begaben ſich ſchließ⸗
lich auf die Zimmer, die man für ſie hergerichtet hatte,
und trennten ſich von ihrem liebenswürdigen Wirt
erſt am Morgen des anderen Tages, indem man
einander das Verſprechen gab, ſich ſobald als möglich
wieder zu ſehen.
Fünfzehntes Kapitel
Marja Kirilowna ſaß in ihrem Zimmer am offenen
Fenſter vor dem Stickrahmen. Sie irrte ſich nicht in der
Farbe der Seide, wie jene Geliebte Konrads, die in ihrer
verliebten Zerſtreutheit einſt eine Roſe aus grüner Seide
geſtickt hatte. Fehlerlos wiederholte ihre Nadel auf dem
Canevas die Linien der Vorlage; trotzdem aber waren
ihre Gedanken nicht bei der Arbeit, ſie flatterten ins Weite.
Plötzlich ſchob ſich eine Hand ſtill durchs Fenſter,
jemand legte einen Brief auf den Stickrahmen und
231
Dubromsfij
verſchwand, noch ehe es e Kirilowna recht zum
Bewußtſein gekommen war. Im ſelben Augenblick
trat ein Bedienter ein und rief fie zu Kirila Petro⸗
witſch. Nicht ohne ein gewiſſes Zittern verbarg ſie
den Brief an ihrer Bruſt und eilte zum Vater.
Kirila Petrowitſch war nicht allein. Der Fürſt We⸗
rejskij befand ſich bei ihm. Bei Marja Kirilownas
Eintritt erhob ſich der Fürſt und verneigte ſich ſtumm
mit einer Verwirrung, die bei ihm ungewöhnlich war.
„Komm näher, Maſcha,“ {ад Kirila Petrowitſch:
„Ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen, die dich, wie
ich hoffe, erfreuen wird. Hier iſt ein Bräutigam für
dich; der Fürſt freit um deine Hand.“
Maſcha erſtarrte; Todesbläſſe bedeckte ihr Antlitz.
Sie ſchwieg. Der би näherte ſich ihr, ergriff ihre
Hand und fragte mit gerührter Miene, ob ſie damit
einverſtanden wäre, das Glück ſeines Lebens zu ſein?
Maſcha ſchwieg.
„Natürlich iſt fie einverſtanden,“ ſagte Kirila Petro—
witſch: „Aber weißt du, Fürſt, es fällt den Mädchen
ſchwer, dieſes Wort auszuſprechen. Nun, Kinder,
dann gebt euch alſo einen Kuß und werdet glücklich.“
Maſcha verharrte in ihrer regungsloſen Stellung,
der alte Fürſt küßte ihre Hand; aber mit einem Male
war ihr blaſſes Geſicht ganz von Tränen überſtrömt.
Der Fürſt runzelte ein wenig die Augenbrauen.
„Geh! geh! geh!“ ſagte Kirila Petrowitſch. „Trockne
erſt deine Tränen und kehr luſtig zu uns zurück. Sie
232
Dubrowsk ij
weinen immer, wenn ſie ſich verloben,“ fuhr er zu
Werejskij gewendet fort: „das iſt nun einmal ſo her⸗
gebracht bei ihnen. Und jetzt, Fürſt, laß uns vom
Geſchãft ſprechen, das heißt von der Mitgift.“
Marja Kirilowna machte ſich die Erlaubnis, das
Zimmer zu verlaſſen, ſogleich zunutze. Sie eilte in
ihr Gemach, ſchloß ſich dort ein und gab ihren Tränen
freien Lauf, denn ſie ſah ſich bereits als Gattin des
alten Fürſten; und wie widerlich war er ihr auf ein⸗
mal geworden, wie verächtlich... Die Ehe mit ihm
ſchreckte ſie, wie der Gang zur Richtſtätte, wie das
Grab! ... „Nein! Nein!“ wiederholte fie verzweifelt:
„lieber ins Kloſter, lieber will ich Dubrowskij hei⸗
raten .. Allein da erinnerte fie ſich plötzlich an den
Brief und ſchickte ſich haſtig an, ihn zu leſen, denn eine
Ahnung ſagte ihr, daß er nur von ihm ſein konnte.
So war es auch in der Tat, der Brief war von ihm
geſchrieben und beſtand aus folgenden Worten:
„Abends, um zehn Uhr, an der alten Stelle.“
Der Mond ſchien; die ländliche Nacht war ſtill;
nur ſelten wehte ein ſanfter Wind, dann lief ein
leiſes Rauſchen durch den ganzen Garten.
Unſere junge Schöne näherte ſich wie ein leichter
Schatten dem Ort der Zuſammenkunft. Noch war
niemand dort zu ſehen, aber plötzlich trat Dubrowskij
hinter der Laube hervor. „Ich weiß alles,“ ſagte er
mit ſtiller und trauriger Stimme: „gedenken Sie Ihres
Ver ſprechens!⸗
233
Dubromsfij
„Sie bieten mir Ihren Schutz an?“ entgegnete
Maſcha: „Aber zürnen Sie mir nicht: Ihre Hilfe er⸗
ſchreckt mich. Auf welche Weiſe wollen Sie mir helfen?“
„Ich könnte Sie von dem verhaßten Menſchen be⸗
freien.“
„Um Gottes willen, rühren Sie ihn nicht an.
Wagen Sie es nicht, ihm etwas zu tun, wenn Sie
mich wirklich lieben: ich will keine Schuld an irgend⸗
einem Unglück tragen ...“
„Gut, ich werde ihm nichts tun, Ihr Wunſch iſt
mir heilig. Er verdankt Ihnen ſein Leben. Nie⸗
mals darf eine Miſſetat in Ihrem Namen vollzogen
werden. Sie müſſen rein bleiben, ſogar in meinen
Verbrechen. Doch auf welche Weiſe könnte ich Sie
vor Ihrem grauſamen Vater retten?“
„Es gibt noch eine Hoffnung: ich glaube noch
immer daran, daß es mir gelingen wird, ihn mit
meinen Tränen und meiner Verzweiflung zu rühren.
Er iſt eigenwillig, aber er liebt mich ja.“
„Hoffen Sie nicht umſonſt: dieſe Tränen werden
ihm nur wie gewöhnliche Zaghaftigkeit vorkommen
und wie der Abſcheu, der allen jungen Mädchen eigen
iſt, die nicht aus Liebe heiraten, ſondern aus Erwä⸗
gungen des Verſtandes; wie aber, wenn er ſich feſt
vorgenommen hätte, Ihr Glück gegen Ihren eigenen
Willen zu machen? Wie, wenn er Sie gewaltſam zum
Altare ziehen wollte, um Ihr Schickſal auf ewig mit
dem des ſiechen Gemahles zu verbinden? ...“
234
м АА ↄ VTVPPPPGPPGPGPGPGGPGGTGTGTGPTPTPTGTPTPGGGTGTGTGTPTPGTGTGTGTGTGGGTGGCGGTGTGTTT—T——TT— DEUTET
—
Du bro wsk ij
„Dann, dann bleibt mir nichts anderes mehr А
kommen Sie dann — dann will ich Ihre Gattin
werden.“
Dubrowskij erbebte; purpurne Röte überſtrömte
ſein blaſſes Antlitz, jedoch ſchon nach einem Augenblick
war es noch blaſſer als vorhin. Lange ſchwieg er, den
Kopf geſenkt.
„Faſſen Sie alle Ihre Kraft zuſammen, flehen Sie
Ihren Vater an und werfen Sie ſich ihm zu Füßen;
ſtellen Sie ihm das ganze Grauen Ihrer Zukunft vor
und Ihre Jugend, die neben einem ſiechen und laſter⸗
haften Greiſe verwelken muß; ſagen Sie ihm, daß
Reichtum Ihnen nicht eine glückliche Minute ver—
ſchaffen kann; Pracht ſei nur für Bettler ein kurzer
Troſt und auch für dieſe nur auf einen Augenblick;
laſſen Sie nicht ab von ihm, fürchten Sie weder ſeinen
Zorn noch ſeine Drohung, ſolange noch ein Schatten
von Hoffnung vorhanden iſt; ich beſchwöre Sie in
Gottes Namen, nicht müde zu werden. Wenn aber
kein anderes Mittel mehr vorhanden ſein ſollte —
dann entſchließen Sie ſich, ihm eine grauſame Eröff:
nung zu machen: ſagen Sie ihm, daß, wenn er un⸗
erbittlich fein ſollte, daß Sie... daß Sie dann einen
ſchrecklichen Schützer finden würden ...“
Dubrowskij verbarg ſein Geſicht in den Händen;
es war, als fehle ihm der Atem. Maſcha пение...
„Oh, mein armes, mein erbärmliches Los!“ ſagte
er bitter ſeufzend. „Ich hätte für Sie gerne mein
235
Dubromstfij
Leben hingegeben; Sie von ferne erblicken zu dürfen,
Ihre Hand berühren zu können, wäre der höchſte
Rauſch für mich geweſen; jetzt aber, da ſich mir
die Möglichkeit bietet, Sie an mein bewegtes Herz
zu drücken und Ihnen zu ſagen: dein auf ewig, —
jetzt muß ich Armer ſelber der Seligkeit entſagen und
muß Sie aus ganzer Kraft von mir ſtoßen! Ich darf
nicht wagen, vor Ihren Füßen niederzuſtürzen und
dem Himmel für dieſe unverſtändliche und unverdiente
Gnade zu danken. Oh! wie müßte ich jenen haſſen,
der . .. aber ich weiß ja, daß jetzt in meinem Herzen
kein Platz mehr für Haß iſt!“
Sanft umfing er ihren ſchlanken Leib und ſanft zog er
ſie an ſein Herz. Zutraulich legte ſie ihr Köpfchen auf die
Schulter des jungen Räubers — beide ſchwiegen ...
Die Zeit flog. „Es iſt Zeit“, ſprach endlich Maſcha.
Dubrowskij erwachte wie aus einem tiefen Schlummer.
Er ergriff ihre Hand und ſtreifte einen Ring an ihren
Finger. „Wenn Sie den Entſchluß faſſen ſollten, meine
Hilfe anzurufen,“ ſagte er: „dann tragen Sie dieſen
Ring hierher, legen Sie ihn in die Höhlung dieſer
Eiche; ich werde dann wiſſen, was ich zu tun habe.“
Dubrowskij küßte ihre Hand und verſchwand
zwiſchen den Bäumen.
Sechzehntes Kapitel
Die Verlobung des Fürſten Werejskij blieb den
Nachbarn nicht lange verborgen. Kirila Petrowitſch
236
9
5
2
5
Е
4
|
}
Du browsk i]
ließ es ſich ſogar gefallen, Glückwünſche entgegen—
zunehmen, und ſchon wurden die Vorbereitungen zur
Hochzeit getroffen. Tag für Tag verſchob Maſcha
die entſcheidende Auseinanderſetzung. Ihr Verhalten
gegen den alten Bräutigam war kalt und gezwungen.
Allein das rührte den Fürſten wenig: er kümmerte
ſich nicht viel um ihre Liebe, ihr ſchweigendes Ein-
verſtändnis war ihm genug.
Die Zeit eilte. Maſcha entſchloß ſich endlich zu
handeln und ſchrieb dem Fürſten Werejskij einen
Brief. Sie gab ſich darin Mühe, das Gefühl des
Großmuts in ſeinem Herzen zu erwecken; ſie geſtand
ihm freimütig, daß ſie nicht die geringſte Neigung zu
ihm verſpüre; ſie flehte ihn an, auf ihre Hand zu ver⸗
zichten, und bat ihn ſogar, ihr zu helfen, wenn der
Vater fie zwingen wollte. Heimlich übergab fie We-
rejskij dieſen Brief. Er las ihn für ſich, doch bewegte
ihn die Offenheit ſeiner Verlobten nicht im mindeſten.
Im Gegenteil, er ſah jetzt die Notwendigkeit auf:
ſteigen, die Hochzeit zu beſchleunigen, und hielt es
daher für angebracht, den Brief ſeinem zukünftigen
Schwiegervater zu zeigen.
Kirila Petrowitſch geriet ganz aus dem Häuschen;
nur mit Mühe und Not gelang es dem Fürſten, ihn
zu überreden, es Maſcha nicht merken zu laſſen, daß
der Brief ihm bekannt ſei. Kirila Petrowitſch ging
darauf ein, ihr nichts davon zu ſagen, beſchloß aber,
keine Zeit mehr zu verlieren, und ſetzte daher die Hoch—
237
| DubromsfPij
zeit für den nächſten Tag feſt. Der Fürſt fand das
ſehr verſtändlich und ging zu ſeiner Braut, um ihr
zu ſagen, daß ihr Brief ihn ſehr betrübt hätte, aber
daß er dennoch hoffe, ihre Neigung mit der Zeit zu
erringen; daß der Gedanke, ihr zu entſagen, für ihn
zu ſchwer ſei und daß er nicht die Kraft habe, ſein
eigenes Todesurteil zu unterzeichnen. Hierauf küßte
er ihr ehrfurchtsvoll die Hand und fuhr fort, ohne
ihr ein Wort von Kirila Petrowitſchs Entſchluß ge⸗
ſagt zu haben.
Kaum hatte ſein Wagen den Gutshof verlaſſen,
da trat der Vater in ihr Gemach und befahl ihr kurz
und bündig, ſich für den morgigen Tag bereit zu
halten. Noch erregt von den Mitteilungen des Fürſten
Werejskij, brach Marja Kirilowna in Tränen aus
und warf ſich dem Vater zu Füßen. „Papachen!“
rief ſie mit kläglicher Stimme: „Papachen! ſtoßen
Sie mich nicht ins Verderben; ich liebe den Fürſten
nicht und will um nichts in der Welt ſeine Gemahlin
werden.“
„Was ſoll das heißen?“ ſagte drohend Kirila Petro⸗
witſch: „Bis jetzt haſt du geſchwiegen und warſt mit
allem einverſtanden, nun aber, da alles entſchieden
iſt, kommt es dir in den Kopf, Launen zu zeigen und
auf einmal nicht mehr zu wollen. Keine Torheiten, bitte;
auf dieſe Weiſe kannſt du nichts bei mir gewinnen.“
„Stoßen Sie mich nicht ins Verderben!“ wieder⸗
holte die arme Maſcha: „Warum ſtoßen Sie mich
238
Du browsk ij
von ſich fort und wollen mich einem ungeliebten Mann
geben? Bin ich Ihnen wirklich ſo zuwider geworden?
Ich will ja nichts, als bei Ihnen bleiben, Papachen!
Sie werden es traurig ohne mich haben; und noch
trauriger, weil Sie wiſſen werden, daß ich unglücklich
bin. Papachen, zwingen Sie mich nicht: ich will ja
noch gar nicht heiraten.“
Zwar war Kirila Petrowitſch gerührt, allein er
verbarg ſeine Verwirrung und ſtieß die Tochter fort,
indem er rauh hinzufügte: |
„Nichts als Unſinn, hörſt du? Ich weiß beſſer
als du, was du zu deinem Glücke brauchſt. Deine
Tränen werden dir nicht helfen; übermorgen iſt die
Hochzeit!“ |
„Übermorgen!“ ſchrie Maſcha: „Mein Gott! Nein,
nein, unmöglich, das darf nicht geſchehen! Hören Sie,
Papa: wenn Sie ſchon entſchloſſen ſind, mich elend
zu machen, dann werde ich einen Beſchützer finden,
an den Sie bisher nicht gedacht haben; Sie werden
ſehen und ſich entſetzen, wohin Sie mich gebracht
haben.“
„Was? was?“ ſagte Trojekurow: „Drohungen!
mir Drohungen! Freche Dirne! Ja, weißt du denn
auch, daß ich mit dir machen kann, was du nicht für
möglich hältſt? Du wagſt es, mir zu drohen, du Ци:
ſinnige! Laß mal hören, wer dich beſchützen wird.“
„Wladimir Dubrowskij!“ rief Maſcha verzweifelt.
Kirila Petrowitſch dachte nicht anders, als daß ſie
239
ХФ ибо {|}.
von Sinnen fei, er blickte fie erſtaunt an. „Schon
gut!“ meinte er darauf nach einem kleinen Schweigen!
„Wart du nur auf welchen Beſchützer du immer willſt,
inzwiſchen aber wirſt du in dieſem Zimmer bleiben und
wirſt es bis zur Hochzeit nicht mehr verlaſſen.“ Mit
dieſen Worten verließ Kirila Petrowitſch das Gemach
und riegelte die Türe hinter ſich zu.
Lange weinte das arme Mädchen, denn ihr war
klar geworden, was ſie erwartete; die ſtürmiſche Aus⸗
einanderſetzung hatte ihr ein wenig das Herz erleich—
tert, und ſie vermochte jetzt ruhiger an ihr Los und
an das, was ihr bevorſtand, zu denken. Das Wichtigſte
für ſie war, die verhaßte Heirat unmöglich zu machen;
Gattin eines Räubers zu werden ſchien ihr ет Фа:
radies im Vergleich zu dem Loſe, das man ihr Бе:
ſtimmt hatte. Sie betrachtete den Ring, den Du⸗
browskij ihr gegeben hatte. Flammend ſtieg der
Wunſch in ihr auf, ihn heimlich wiederzuſehen und
noch einmal vor der entſcheidenden Minute mit ihm
lange zu beraten. Eine Vorahnung flüſterte ihr zu,
daß ſie Dubrowskij abends im Garten bei der Laube
ſehen würde; ſie entſchloß ſich, ihn dort zu erwarten.
Als die Dämmerung hereinbrach, traf Maſcha ihre
Vorbereitungen; allein die Türe war feſt verſperrt;
die Zofe rief ihr hinter der Türe zu, daß Kirila Petro
witſch befohlen hätte, ſie nicht herauszulaſſen. Sie
war gefangen. Tief verletzt nahm ſie vor dem Fenſter
Platz und ſaß ſo bis in die tiefe Nacht hinein, ohne
240
ELEGANZ NE ZEIGE LET
—
nn
Dubrowsk i!
ſich auszukleiden, unbeweglich blickte ſie den dunklen
Himmel an. Als es Morgen wurde, nickte ſie ein;
aber ihr leiſer Schlaf war voll von traurigen Traum—⸗
geſichten und bereits die erſten Strahlen der auf—
gehenden Sonne weckten ſie vollends auf.
Siebzehntes Kapitel
Sie erwachte, allein ſchon ihr erſter Gedanke galt
dem ganzen Grauen ihrer Lage. Sie läutete, die Zofe
trat ein und antwortete ihr auf ihre Frage, daß Kirila
Petrowitſch noch geſtern abend nach Arbatowo ge—
fahren und ſpät zurückgekommen ſeiz daß er den ſtrengen
Befehl erteilt habe, ſie nicht aus ihrem Zimmer zu
laſſen und darauf acht zu geben, daß niemand mit
ihr ſpreche; und endlich, daß freilich noch keinerlei
Zurüſtungen zur Hochzeit getroffen worden ſeien,
außer dieſer einen, daß dem Prieſter befohlen wurde,
unter gar keinen Umſtänden den Ort zu verlaſſen.
Nachdem ſie dieſes berichtet hatte, verließ die Zofe
Marja Kirilownas Zimmer und riegelte die Türe
hinter ſich zu.
Ihre Worte erbitterten die junge Gefangene. Ihr
Kopf kochte, ihr Blut erhitzte ſich; ſie war jetzt feſt
entſchloſſen, Dubrowskij Nachricht zukommen zu laſſen
und ſuchte nur noch nach einem Mittel, den Ring in
die Höhlung der bekannten Eiche zu verſenken. In
dieſem Augenblick ſchlug ein kleiner Stein gegen ihr
Fenſter, das Glas klirrte und Marja Kirilowna blickte
P. 1 16
241
Dubromsfij
hinaus: auf dem Hof gewahrte fie den kleinen
Saſcha, der ihr zuwinkte. Sie wußte, wie zugetan
er ihr war, und freute ſich. „Guten Morgen, Saſcha;
warum rufſt du mich?“ — „Schweſterchen, ich kam,
um zu erfahren, ob Sie mich nicht vielleicht brauchen.
Papachen iſt böſe und hat allen Bedienten verboten,
Ihnen zu gehorchen; mir aber können Sie befehlen,
was Sie wollen, ich werde alles für Sie tun.“
„Ich danke dir, mein lieber Saſcha. Hör mal,
kennſt du die alte Eiche, die neben der Laube ſteht? “
„Freilich, Schweſterchen.“
„Wenn du mich liebſt, lauf ſchnell dorthin und leg р
diefen Ring in die Höhlung; und ſieh zu, daß niemand
dich dabei ertappt!“
Mit dieſen Worten warf ſie ihm den Ring zu und v
Schloß das Fenſter.
Der Knabe hob den Ring auf und lief ſo ſchnell |
ег konnte fort, fo daß er ſchon nach drei Minuten
vor dem Baum war. Dort blieb er atemlos ſtehen,
ſchaute ſich um und legte darauf den Ring in die |
Höhlung. Nachdem er dieſes Werk glücklich voll⸗
bracht, war es eigentlich feine Abſicht, Marja Kiri⸗
lowna augenblicks davon zu benachrichtigen; aber
plötzlich tauchte ein rothaariger und abgeriſſener
Burſche hinter der Laube auf, ſprang auf die Eiche
zu und ſteckte die Hand in die Höhlung. Schneller
als ein Eichkätzchen ſtürzte ſich Saſcha auf ihn und
klammerte ſich mit beiden Armen feſt.
242
Dh
e
Dubromstij
„Was fuft du hier?“ fragte er ihn drohend.
„Was geht dich das an?“ entgegnete der Bub
und bemühte ſich, von ihm loszukommen.
„Laß den Ring liegen, Roter,“ ſchrie Saſcha:
„oder ich will es dir zeigen.“
Aber zur Antwort ſchlug jener ihn mit der Fauſt
ins Geſicht; Saſcha ließ ihn trotzdem nicht los und
ſchrie ſo laut er konnte: „Diebe! Diebe! hierher!
hierher!“
Der Bub tat, was er konnte, um frei zu kommen.
Er war etwa zwei Jahre älter als Saſcha und mithin
ſtärker; allein Saſcha war gewandter. So kämpften
ſie einige Minuten; endlich bekam der rote Bub die
Oberhand. Er warf Saſcha auf die Erde und packte
ihn an der Gurgel. Aber im ſelben Augenblick griff
eine ſtarke Fauſt in ſeine roten und borſtigen Haare
und der Gärtner Stepan hob ihn in die Höhe.
„Ach, du rote Beſtie,“ ſagte der Gärtner: „wie
unterſtehſt du dich, den jungen Herrn zu hauen?“
Saſcha ſprang auf und ordnete ſeine Kleidung.
„Du haſt mich mit einem falſchen Griff gepackt,“
rief er: „ſonſt hätteſt du mich nie unterbekommen.
Gib jetzt den Ring her, und mach, daß du fortkommſt.“
„Was du nicht ſagſt,“ entgegnete der Rote, drehte
ſich geſchwind um und befreite ſeine Borſten aus den
Händen Stepans.
Er lief ſchnurſtracks davon, aber Saſcha kam ihm
zuvor, ſtieß ihn in den Rücken und der Bub fiel im
243
Dubromsfij
vollen Lauf hin, und wieder packte ihn der Gärtner,
doch feſſelte er ihn dieſes Mal mit einem Gurt.
„Den Ring her!“ ſchrie Saſcha.
„Halt, junger Herr,“ meinte Stepan: „wir wollen
ihn zum Verwalter bringen, der wird mit ihm ſchon
fertig werden.“
Der Gärtner führte den Gefangenen auf den Guts =
hof und Saſcha ging mit, beſorgt betrachtete er ſeine
zerriſſenen und vom Graſe beſchmutzten Hoſen. Plötz⸗
lich ſtanden die drei vor Kirila Petrowitſch, der gerade
dabei war, die Pferde zu beſichtigen. |
„Was foll das?“ fragte er Stepan.
Mit wenigen Worten berichtete ihm Stepan über
den Vorfall.
Aufmerkſam hörte ihn Kirila Petrowitſch an.
„Du Leichtfuß,“ ſagte er, indem er ſich zu Saſcha
wendete, „aus welchem Grunde haſt du mit ihm ge—
rauft?“
„Er hat doch den Ring aus der Eiche geſtohlen, За:
pachen; befehlen Sie ihm, den Ring herauszugeben.“
„Was für einen Ring? Und aus was für einer
Eiche?“ |
„Den mir Marja Kirilowna ... ja, den Ring
doch...“
Saſcha geriet in Verlegenheit und ſtockte verwirrt.
Kirila Petrowitſchs Geſicht verfinſterte ſich, er ſagte
kopfſchüttelnd: |
„Marja Kirilowna ſteckt alfo hinter dieſer Sache.
244
Dubrowsk ij
Geſteh mir alles, oder du ſollſt die Rute zu ſchmecken
bekommen, daß du nicht mehr wiſſen wirſt, wer du
БИ!“ Kurz
„Aber bei Gott, Papachen ... ich, Papachen .
Marja Kirilowna hat mir nichts aufgetragen, Pa—
pachen.“ |
„Stepan! geh und ſchneid mir hübſche friſche
Birkenruten.“
„Halt, Papachen, ich will Ihnen alles erzählen.
Ich lief heute über den Hof, da öffnete mein Schwe—
ſterchen Marja Kirilowna ihr Fenſter und ich lief
herbei und das Schweſterchen ließ ganz ohne Abſicht
den Ring fallen und ich verſteckte ihn in der Eiche
und ... und... dieſer rote Bub da wollte den Ring
ſtehlen.“
. „Ließ ihn ohne Abſicht fallen, und du wollteſt ihn
verſtecken ... Stepan! hol die Ruten.“
„Papachen, warten Sie doch, ich will alles er:
zählen. Schweſterchen Marja Kirilowna befahl mir,
zur Eiche zu laufen und den Ring in die Höhlung zu
ſtecken; ſo lief ich denn hin und verſteckte den Ring,
aber dieſer ſchlimme Bub da ...“
Kirila Petrowitſch wendete ſich nunmehr dem
ſchlimmen Bub zu und fragte ihn drohend: „Wem
gehörſt du?“
„Ich bin vom Gutsgeſinde der Herren Dubrowskij,“
entgegnete dieſer.
Kirila Petrowitſchs Miene verdüſterte ſich.
245
Dubromsfij
„Du erkennſt mich, ſcheints, nicht als deinen Herrn
an — ſchon gut. Und was tateſt du in meinem
Garten?“
„Himbeeren tat ich ſtehlen.“
„Aha! der Herr wie der Knecht; wie der Prieſter,
ſo iſt auch das Kirchſpiel; aber ſeit wann wachſen
denn bei mir die Himbeeren auf den Nn e Haſt du
ſchon ſo was gehört?“
Der Bub hatte nichts zu entgegnen.
„Papachen, befehlen Sie ihm doch, den Ring
herauszugeben,“ meinte Saſcha.
„Schweig, Saſcha!“ erwiderte Kirila Petrowitſch:
„Vergiß nicht, daß ich auch mit dir noch ein Wörtchen
zu ſprechen habe. Geh jetzt in dein Zimmer. Du,
Schielender, du ſcheinſt mir ein flinker Burſche zu ſein;
wenn du mir jetzt alles geſtehen willſt, werde ich dich
nicht prügeln laſſen, ſondern dir ſogar einen Fünfer
geben, damit du dir Nüſſe kaufen kannſt. Gib den
Ring her, dann kannſt du gehen.“ Der Bub öffnete
die Fauſt und zeigte, daß ſich nichts in ſeiner Hand
befand. „Aber wenn du das nicht tun wirſt, dann
ſoll dir etwas geſchehen, was du nicht erwarteſt.
Nun!“
Jedoch der Bub entgegnete immer noch nichts, er
ließ nur den Kopf hängen und gab ſich das Ausſehen
eines völligen Narren.
„Schon gut!“ ſagte Kirila Petrowitſch: „Man
ſperre ihn irgendwo ein und paſſe gut auf, daß er
246
DubromsPfij
uns nicht entwiſcht, fonft laſſe ich dem ganzen Haufe
die Haut abſchinden.“
Stepan brachte den Buben zum Taubenſchlag,
ſperrte ihn dort ein und befahl der alten Vogelwär⸗
terin Agafja, auf ihn acht zu geben.
„Kein Zweifel mehr: fie unterhält noch immer Зе:
ziehungen zu dieſem verwünſchten Dubrowskij. Wenn
ſie ihn aber in der Tat um Hilfe gebeten hätte,“ über⸗
legte Petrowitſch, während er in ſeinem Zimmer auf
und ab {фей und wütend „Siegesdonner ſoll er:
ſchallen“ vor ſich hinpfiff, „dann werde ich zum min:
deſten jetzt auf ſeine warme Spur geraten und er wird
mir nicht mehr entſchlüpfen. Wir wollen uns dieſen
Zufall zunutze machen ... Horch! ein Glöckchen; Gott
fei Dank, der Polizeileutnant. Man führe den er:
tappten Burſchen vor.“
Unterdeſſen rollte der Wagen in den Hof und
völlig beſtaubt trat der uns bereits bekannte Polizei:
leutnant ins Zimmer.
„Eine prächtige Nachricht!“ ſagte Kirila Petro—
witſch: „Ich habe Dubrowskij gefangen.“
„Gott ſei Dank, Exzellenz!“ meinte der Polizei⸗
leutnant ſichtlich erfreut. „Wo iſt er denn?“
„Das heißt, eigentlich nicht Dubrowskij, ſondern
nur einen aus ſeiner Bande. Man wird ihn gleich
vorführen. Er kann uns behilflich fein, den Räuber:
hauptmann zu fangen. Da iſt er ſchon.“
Allein wie erſtaunte der Polizeileutnant, der einen
247
Dubromsfij
wilden Räuber зи ſehen erwartet hatte, als er nichts
als einen dreizehnjährigen ziemlich ſchwächlichen Bur⸗
ſchen erblickte. Verwundert drehte er ſich zu Kirila —
Petrowitſch um und wartete auf die Erklärung. Ki⸗
rila Petrowitſch erzählte ihm den morgendlichen Vor⸗
fall, ohne freilich Marja Kirilowna dabei zu erwähnen.
Auf merkſam hörte der Polizeileutnant zu und ſchaute
unabläſſig den kleinen Taugenichts an, der immer noch
weiter den Narren ſpielte und ſcheinbar nichts von
alledem, was ſich rings um ihn zutrug, beachtete. 1
„Geſtatten Sie mir, Exzellenz, mit Ihnen unter
vier Augen zu ſprechen,“ ſagte ſchließlich der Polizei⸗
leutnant. f
Kirila Petrowitſch führte ihn in ein Nebenzimmer
und ſchloß die Türe.
Sie betraten erſt nach einer halben Stunde den
Saal, in dem der Gefangene das Urteil erwartete,
das man über ihn gefällt hatte.
„Der gnädige Herr wollte dich eigentlich in das
Stadtgefängnis werfen,“ ſprach der Polizeileutnant
zu ihm, „er wollte dich auspeitſchen laſſen und dich
nach Sibirien ſchicken, allein ich trat für dich ein und
habe deine Begnadigung erwirkt. Man binde ihn N
Der Bub wurde losgebunden.
„Bedank dich beim gnädigen Herrn,“ ſagte der
Polizeileutnant. |
Der Knabe näherte ſich Kirila Petrowitſch und
küßte ihm die Hand. f
248
Du bro wsk i]
„Marſch nach Haufe,“ Гаде ihm Kirila Petro:
witſch, „und ſtiehl mir in Zukunft keine Himbeeren
mehr aus hohlen Eichenſtämmen.“
Der Knabe verließ das Gemach, ſprang luſtig die
Freitreppe hinunter und lief, was er laufen konnte,
ohne ſich lange umzuſchauen, übers Feld nach Kiſten—
jowka. Als er zum Dorf kam, blieb er vor einer halb:
verfallenen Hütte ſtehen und klopfte ans Fenſter. Das
Fenſter öffnete ſich und das Antlitz einer Greiſin er—
ſchien darin.
„Brot, Großmütterchen!“ ſagte der Bub: „Vom
Morgen an habe ich nichts gegeſſen, ich ſterbe faſt
vor Hunger.“
„Ach! du biſt es, Mitja; wo ſteckteſt du dan du
junger Teufel?“ entgegnete die Alte.
„Ich erzähls dir ſpäter, Großmütterchen; jetzt gib
mir um Gottes willen Brot!“
„Komm doch wenigſtens ins Haus.“
„Keine Zeit, Großmütterchen: ich muß gleich wieder
fortlaufen. Brot, um Chriſti willen, Brot!“
„Kein Sitzfleiſch,“ knurrte die Alte. „Da Бай du
einen Happen Schwarzbrot.“
Gierig biß der Bub hinein und ging kauend fort.
Es begann zu dämmern; durch Gräben und über
Felder ſchlich Mitja zu dem Wäldchen von Kiſten—
jowka. Als er zu den zwei Fichten gekommen war,
blieb er ſtehen, ſchaute ſich vorſichtig um und pfiff
dann kurz mit durchdringendem Zone; ein leiſes, aber
249
Dubromsfij
langanhaltendes Pfeifen kam zur Antwort: jemand
trat aus dem Wäldchen und näherte ſich ihm.
Achtzehntes Kapitel
Auf und ab ſchritt Kirila Petrowitſch im Saal und
pfiff ſein Lied noch lauter als ſonſt. Das ganze Haus
war in Aufregung; die Bedienten liefen hin und her
und ebenſo die Mägde. Auf dem Gutshof drängte
ſich das Volk. Im Ankleidezimmer des Fräuleins
ſchmückte eine von Zofen umringte Dame vor dem
Spiegel die bleiche, unbewegliche Marja Kirilowna;
ſchwermütig neigte dieſe ihren Kopf unter der Laſt
der Brillanten; ſie fuhr nur leicht zuſammen, wenn
eine unvorſichtige Hand ſie aus Verſehen mit der
Nadel ſtach, aber ſie ſchwieg und ſchaute gedankenlos
in den Spiegel. „Wirds bald?“ ſchallte Kirila Petro⸗
witſchs Stimme durch die Tür. — „Im Augenblick!“
erwiderte die Dame: „Stehen Sie jetzt auf, Marja
Kirilowna, und betrachten Sie ſich, ob alles auch
recht ſitzt? “ Marja Kirilowna erhob ſich, allein ſie
ſchwieg noch immer. Die Tür öffnete ſich. „Die Braut
iſt angezogen,“ meldete die Dame Kirila Petrowitſch.
„Befehlen Sie, daß der Wagen vorfährt.“ — „Mit
Gott!“ entgegnete Kirila Petrowitſch und nahm ein
Heiligenbild vom Tiſch: „Komm jetzt zu mir, Maſcha,“
ſagte er darauf mit gerührter Stimme: „Ich will dich
ſegnen ...“ Das arme Mädchen fiel vor ihm nieder
und ſchluchzte: „Papachen ... Papachen ...“ ſprach
250
ä
DubromsPij
fie mit tränenerſtickter und ſchon verſagender Stimme.
Kirila Petrowitſch beeilte ſich, fie zu ſegnen; man
richtete ſie auf und trug ſie zum Wagen. Mit ihr
ſtieg die Dame ein, die bei der Trauung ihre Mutter
zu vertreten hatte, und ferner eine der Zofen. Sie
fuhren zur Kirche. Der Bräutigam erwartete ſie be⸗
reits. Er eilte der Braut entgegen und war von ihrer
Bläſſe und ihrem ſonderbaren Ausſehen nicht wenig
überraſcht. Sie betraten zuſammen die kalte Kirche;
die Türe wurde hinter ihnen verriegelt. Der Prieſter
trat zum Altar und begann alsbald mit der feier⸗
lichen Handlung. Marja Kirilowna ſah und hörte
nichts; nur ein Gedanke verfolgte ſie ſeit dem frühen
Morgen: ſie wartete auf Dubrowskij; die Hoffnung,
ihn zu ſehen, verließ ſie keine Minute. Auch als gleich
darauf der Prieſter ſich mit der üblichen Frage an ſie
wandte, erſchauerte ſie und war faſt wie von Sinnen,
allein ſie zögerte noch immer, denn noch immer war⸗
tete ſie. Jedoch da ſprach der Prieſter, ohne erſt auf
ihre Antwort zu warten, bereits die unwiderruflichen
Worte.
Die Feierlichkeit war zu Ende. Sie fühlte auf ihren
Lippen den kalten Kuß des ungeliebten Gatten; ſie
hörte die ſchmeichleriſchen Glückwünſche der Anweſen—
den und konnte noch immer nicht glauben, daß nun
ihr Leben auf ewig in Feſſeln liege und daß Du—
browskij nicht herbeigeflogen war, fie zu befreien. Mit
zärtlichen Worten redete der Fürſt ſie an — aber ſie
231
Dubromsfij
konnte keines davon begreifen; fie verließen die Kirche;
vor der Kirchentüre drängten ſich die Bauern aus
Pokrowskoje. Flüchtig glitt ihr Blick über die Menge
und erſtarrte dann wieder in der früheren Gefühls-
loſigkeit. Das neue Paar nahm im Wagen Platz
und fuhr nach Arbatowo, wohin ſich Kirila Petrowitſch
bereits begeben hatte, um dort die Jungvermählten
zu begrüßen. Der Fürſt, der nun mit ſeiner jungen
Gattin allein war, ſchien keineswegs durch ihre kalte
Miene in Verwirrung zu geraten. Er langweilte ſie
nicht mit erheuchelten Geſtändniſſen und lächerlicher
Seligkeit; ſeine Worte waren einfach und verlangten
keine Antwort. Auf dieſe Weiſe legten ſie zehn Werſt
zurück; ſchnell eilten die Pferde über die Landwege
und der Wagen, der auf engliſchen Federn ruhte,
rollte ſanft dahin. Plötzlich ertönten Schreie hinter
ihnen, als ob jemand ſie verfolge; der Wagen hielt
und wurde augenblicks von einer Schar bewaffneter
Leute umringt. Ein Mann in einer Halbmaske öffnete
die Wagentüre auf der Seite der jungen Fürſtin und
rief ihr zu: „Sie ſind frei! ſteigen Sie aus.“ —
„Was ſoll das heißen?“ ſchrie der Fürſt: „Wer biſt
du? . .. — „Es ИЕ Dubrowskij,“ entgegnete die
Fürſtin. Der Fürſt verlor keineswegs ſeine Geiſtes⸗
gegenwart, er zog eine Reiſepiſtole aus der Seiten⸗
taſche und ſchoß ſie auf den Räuber in der Maske
ab. Die Fürſtin ſchrie auf und ſchlug entſetzt beide
Hände vors Geſicht. Dubrowskijs Schulter war рег:
252
*
ne
Du browsk ij
wundet worden; fein Blut ſtrömte reichlich. Ohne Zeit
zu verlieren, ergriff der Fürſt eine zweite Piſtole. Aber
man erlaubte ihm nicht, fie abzudrücken, die Wagen—
türen öffneten ſich, einige ſtarke Arme riſſen ihn aus
dem Wagen und entriſſen ihm die Piſtole. Und ſchon
blitzten über ihm die Dolche. „Rührt ihn nicht an!“
ſchrie Dubrowskij und ſogleich traten ſeine finſtern
Mitverſchworenen beiſeite. „Sie ſind frei!“ fuhr
Dubrowskij zur blaſſen Fürſtin gewendet fort. —
„Nein,“ entgegnete ſie, „es iſt zu ſpät! ich bin ge—
traut worden, ich bin die Gattin des Fürſten We⸗
rejskij.“ — „Was ſagen Sie da!“ ſchrie Dubrowskij
verzweifelt. „Nein, keineswegs ſind Sie ſeine Ge—
mahlin, man hat Sie gezwungen, Sie haben Ihre
Zuſtimmung nicht freiwillig gegeben ...“ — „Ich
gab meine Einwilligung und habe es beſchworen,“
entgegnete ſie feſt: „Der Fürſt iſt mein Gatte; befehlen
Sie, ihn freizulaſſen, und verlaſſen Sie uns. Ich habe
Sie nicht betrogen. Ich habe bis zur letzten Minute
auf Sie gewartet ... jetzt aber, ich ſagte es Ihnen
ſchon, jetzt iſt es zu ſpät. Verlaſſen Sie uns.“ Allein
Dubrowskij hörte es nicht mehr; die ſchmerzende
Wunde und die heftigen Gemütserregungen hatten
ihm das Bewußtſein geraubt. Er ſtürzte neben dem
Wagen nieder; die Räuber umringten ihn. Er war
noch gerade imſtande, ihnen einige Worte zuzuflüſtern;
ſie ſetzten ihn aufs Pferd, zwei von ihnen ſtützten ihn,
ein dritter führte das Pferd am Zaum und ſo zogen
233
Dubromsfij
fie fort, während der Wagen mit den gefeſſelten Leuten
und ausgeſpannten Pferden mitten auf der Landſtraße
ſtehen blieb; es war nichts geplündert worden und das
gefloſſene Blut des Häuptlings war durch keinen
fremden Blutstropfen gerächt worden.
Neunzehntes Kapitel
Auf der ſchmalen Lichtung mitten im dichten Walde
erhob ſich eine kleine Befeſtigung, die aus nicht viel
mehr als Wall und Graben beſtand, hinter denen
ſich einige Zelte und Erdhütten befanden. Viele Leute,
die man nach der Verſchiedenheit ihrer Kleider und
der allgemeinen Bewaffnung auf den erſten Blick
für Räuber halten konnte, ſpeiſten dort friedlich, mit
unbedeckten Häuptern daſitzend, zu Mittag aus einem
brüderlichen Keſſel. Auf dem Wall ſaß neben der
kleinen Kanone ein Wachtpoſten mit gekreuzten Beinen.
Er ſetzte gerade einen Flicken auf einen gewiſſen Be⸗
ſtandteil ſeiner Kleidung und handhabte die Nadel
mit ſolcher Kunſt, daß man augenblicks erraten konnte,
daß er ein Schneider war; er ſpähte dabei unabläſſig
nach allen Seiten.
Obwohl eine gewiſſe Schale ſchon mehrfach die
Runde von Hand zu Hand gemacht hatte, herrſchte
ein ſonderbares Schweigen in der Schar; als die
Räuber mit dem Mittageſſen fertig waren, erhob ſich
einer nach dem andern und verrichtete ſein Gebet;
einige gingen in ihre Zelte, die andern aber zerſtreuten
254
Dubromsfij
ſich im Walde, oder ſtreckten ſich nach ruffifcher Фе:
wohnheit aus, um zu ſchlafen.
Der Wachtpoſten beendigte ſeine Arbeit, er ſchüt—
telte die Fetzen von ſich, betrachtete zufrieden das ge⸗
flickte Kleidungsſtück, ſteckte die Nadel in den Armel,
ſetzte ſich rittlings auf die Kanone und ſtimmte aus
voller Kehle das alte melancholiſche Volkslied an:
V„5V Rauſche nicht, o Mütterchen, du grüner Eichen⸗
wald.“
Im ſelben Augenblick aber öffnete ſich eines der
Zelte und eine alte, ſorgfältig, ja Гай peinlich ап:
gezogene Frau in einer weißen Haube erſchien auf
der Schwelle. „Laß das, Stjopka,“ rief ſie ärgerlich.
„Der Herr ſchlummert, und du brüllſt: gewiſſenlos
feid ihr alle und ohne Mitgefühl.“ — „Verzeih, Pe:
trowna,“ entgegnete Stjopka: „Schon gut, ich tus
nicht mehr, mag unſer Väterchen nur ruhen und ве:
ſund werden.“ Die Alte verſchwand, und Stjopka
begann auf dem Wall auf und ab zu gehen.
Im Zelt, in dem die Alte verſchwunden war, ruhte
hinter einer ſpaniſchen Wand auf ſeiner einfachen
Bettſtatt der verwundete Dubrowskij. Neben ihm
lagen auf einem kleinen Tiſch ſeine Piſtolen, ihm zu
Häupten hing der Säbel. Reiche Teppiche bedeckten
den Boden und hingen an den Wänden; in der einen
Ecke ſtanden Toilettengegenſtände aus Silber, die
nur für eine Frau beſtimmt geweſen ſein konnten,
dortſelbſt ragte ein hoher Spiegel. In Dubrowskijs
255
DubromsPij
Hand lag ein offenes Buch, allein er hielt die Augen
geſchloſſen, und darum konnte die Alte, die den Kopf
hinter die ſpaniſche Wand ſteckte, um nach ihm zu
ſchauen, nicht erraten, ob er eingeſchlafen war, oder
ob er nur nachdachte.
Plötzlich erbebte Dubrowskij. Lärm ſchallte inner⸗
halb der Befeſtigung und gleich darauf ſteckte Stjopka
den Kopf durch die Offnung. „Väterchen, Wladimir
Andrejewitſch!“ ſchrie er, „die Unſrigen geben das
Signal: man ſucht uns.“ Dubrowskij ſprang aus
dem Bett, griff nach ſeinen Waffen und trat aus dem
Zelt. Draußen drängten ſich geräuſchvoll die Räuber;
als er erſchien, entſtand ein tiefes Schweigen. „Alle
zur Stelle?“ fragte Dubrowskij. — „Alle, außer den
Spähern,“ wurde ihm zur Antwort. — „Auf eure
Plätze!“ ſchrie Dubrowskij, und alsbald nahm ein
jeder der Räuber den Platz ein, der ihm angewieſen
worden war. Im gleichen Augenblick näherten ſich
im ſchnellen Laufe bereits die drei Späher. Du⸗
browskij ging ihnen entgegen. „Was gibts?“ fragte
er. — „Soldaten im Walde,“ entgegneten jene: „Sie
umzingeln uns.“ Dubrowskij befahl, die Pforte zu
ſchließen, und eilte, die Kanone zu beſichtigen. Schon
wurden Stimmen im Walde hörbar, die ſich immer
mehr näherten. Stumm warteten die Räuber. Plötz⸗
lich traten drei oder vier Soldaten aus dem Walde
und fuhren ſogleich zurück. Sie ſchoſſen ihre Gewehre
ab, um ihre Kameraden zu benachrichtigen. „Fertig
236
. TE, je abe
ee
Du browsk ij
zum Kampf!“ ſagte Dubrowskij; ein leiſes Geräuſch
ſtieg auf, aber gleich darauf herrſchte wieder die alte
Stille. Sie hörten den Lärm der heranmarſchierenden
Truppe; ſchon blitzten Gewehrläufe zwiſchen den Bäu⸗
men auf; einige anderthalbhundert Soldaten ſtrömten
aus dem Walde und liefen ſchreiend auf den Wall zu.
Dubrowskij ſetzte die Lunte an: der Schuß war gut
gezielt — er riß dem einen den Kopf ab und рег:
wundete zwei andere. Die Soldaten gerieten in Ver—
wirrung, allein ihr Offizier ſtürmte vorwärts und da
folgten ihm die Soldaten und waren bereits im Graben.
Die Räuber ſchoſſen ihre Flinten und Piſtolen auf ſie
ab und ſchickten ſich darauf an, mit ihren Beilen den
Wall zu verteidigen, den die gereizten Soldaten, die
im Graben einige zwanzig verwundete Kameraden
zurückgelaſſen hatten, haſtig erſtiegen. Es kam zu
einem Handgemenge. Die Soldaten waren bereits
auf dem Wall — die Räuber begannen zu weichen;
da näherte ſich Dubrowskij dem Offizier, ſetzte ihm
die Piſtole auf die Bruſt und drückte ab. Der Offizier
ſtürzte rücklings zu Boden, einige Soldaten hoben
ihn auf und trugen ihn eilig zum Wald zurück; die
übrigen blieben, als ſie ihren Befehlshaber verloren
hatten, unſchlüſſig ſtehen. Dieſen Augenblick des Zwei⸗
fels benutzten die ermutigten Räuber und trieben ſie
vom Wall hinunter und ſtießen ſie in den Graben;
die Belagerer flohen; ſie wurden mit wildem Geſchrei
von den Räubern verfolgt. Der Sieg war entſchieden.
P. I 17
257 f |
Dubromsfij
Da Dubrowskij eine vollkommene Niederlage des
Feindes annehmen konnte, ſammelte er die Seinigen
und ſchloß ſich in der Befeſtigung ein. Er verdoppelte
die Wachtpoſten, befahl aufs ſtrengſte, daß niemand
fortdürfe, und befahl ferner, die Verwundeten herbei⸗
zuſchaffen.
Dieſe Begebenheit bewirkte, daß die Obrigkeit ſich
nunmehr im Ernſte mit Dubrowskijs dreiſten Räuber⸗
taten befaßte. Man ſammelte Nachrichten über ſeinen
Aufenthalt. Schließlich wurde eine Kompagnie Gol:
daten entſandt, um ihn, tot oder lebend, in die Hände
zu bekommen. Aber man erwiſchte nichts als einige
Leute aus ſeiner Bande und erfuhr von dieſen, daß
Dubrowskij ſchon ſeit geraumer Zeit nicht mehr in ihrer
Schar weile, denn einige Tage nach dem geſchilderten
Vorfall hatte er alle ſeine Genoſſen verſammelt und
ihnen mitgeteilt, daß es ſeine Abſicht ſei, ſie auf immer
zu verlaſſen, und daß er auch ihnen riete, ihre Lebens⸗
weiſe nunmehr zu ändern. „Ihr ſeid unter meinem
Kommando wohlhabend geworden, ein jeder von euch
hat die notwendigen Papiere, mit denen er ungefährdet
in ein entferntes Gouvernement gelangen kann, um
den Reſt ſeines Lebens in ehrlicher Arbeit und ſogar
im Überfluß zu verbringen. Aber ihr ſeid freilich alle
Gauner und werdet vermutlich wenig Luft verſpüren,
euer Handwerk zu laſſen.“ Nachdem er dieſes ge⸗
ſprochen, war er von ihnen gegangen und hatte einzig
mit ſich genommen. Niemand wußte, wohin er
258
Dubromsfij
fi) gewendet hatte. Zwar wurde die Aufrichtigkeit
dieſer Geſtändniſſe anfangs bezweifelt, denn es war
ja bekannt, wie ſehr die Räuber an ihrem Hauptmann
hingen: man nahm an, daß ihre Ausſagen lediglich
bezwecken ſollten, ihn zu retten; allein die Folge gab
ihnen recht. Die ſchreckhaften Heimſuchungen, die
Brandſtiftungen und Plünderungen ließen nach, die
Landſtraßen waren wieder gefahrlos geworden. Aus
andern Berichten erfuhr man einige Zeit darauf, daß
Dubrowskij ins Ausland geflüchtet war.
Pique Dame
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I
Brach der Abend herein
Fanden alle ſich ein
Immer;
Setzten Fünfzig und mehr,
Bogen Hunderter Бег...
Himmel!
Den Verluſt und Gewinn
Schrieb mit Kreide man hin
Flüchtig;
So erwies ſich fürwahr
Noch ein jeder der Schar
Tüchtig.
K. Rylejew
Bei Narumow, einem Offizier des Gardekavallerie⸗
regiments, wurde Karten geſpielt. Die lange Winter:
nacht verging faſt unbemerkt; erſt um die fünfte Stunde
des Morgens ſetzte man ſich zum Eſſen. Jene, die де:
wonnen hatten, aßen mit großem Appetit, die anderen
ſaßen gedankenvoll vor ihren unberührten Gedecken.
Doch der Champagner kam, das Geſpräch wurde [еБ:
haft, und alle nahmen daran teil.
„Nun, und du, Sſurin?“ fragte der Hausherr.
„Verloren, wie gewöhnlich. Ich muß ſagen, ich
habe kein Glück: trotzdem ich ſtets Mirandole ſpiele,
trotzdem ich mich nie aufrege und mich durch nichts
aus der Faſſung bringen laſſe, verliere ich dennoch
immer!“
„Und du haſt dich wirklich nie hinreißen laſſen? Nie
263
Pique Dame
auf Route geſetzt? ... Eine Feſtigkeit, die mir Er⸗
ſtaunen einflößt! “ 5
„Was ſagt ihr da erſt zu Hermann!“ warf einer der
Gäſte ein, indem er auf den jungen Genieoffizier wies:
„er hat überhaupt noch nie Karten in die Hand де:
nommen, noch nie in ſeinem Leben ein Paroli gebogen
und dennoch ſitzt er bis fünf Uhr hier mit uns und
ſchaut unſerem Spiel zu.“
„Kartenſpiel intereſſiert mich ſehr,“ entgegnete Her⸗
mann, „aber ich bin leider nicht in der Lage, der Hoff⸗
nung Überflüſſiges zu gewinnen das Unentbehrliche
zu opfern.“
„Er iſt ein Deutſcher, der Hermann: er verſteht zu
rechnen — das erklärt alles!“ bemerkte Tomskij. —
„Wen ich jedoch abſolut nicht begreifen kann, das iſt
meine Großmutter, Gräfin Anna Fedotowna.“
Die anderen riefen „wie?“ und „warum?“
„Mir iſt unbegreiflich,“ fuhr Tomskij fort, „aus
welchem Grunde meine Großmutter nicht pointiert.“
„Das nennſt du unbegreiflich,“ verſetzte Narumow,
„wenn eine achtzigjährige Greiſin nicht pointiert?“
„Dann habt ihr wohl noch nichts von ihr gehört?“
„Nie! wahrhaftig nichts!“
„Nun, dann hört mal zu! Vor einigen ſechzig Jahren,
müßt ihr wiſſen, reiſte meine Großmutter nach Paris
und war dort bald in großer Mode. Man drängte
fi), um la Vénus moseovite zu ſehen; ja, Richelieu
ſelber machte ihr den Hof und die Großmutter Бе:
264
Pique Dame
teuert, er hätte ſich ihrer Unnahbarkeit wegen bald
das Leben genommen. Damals war das Pharaoſpiel
bei den Damen ſehr beliebt. Nun, und einmal verlor
ſie bei Hofe gegen den Herzog von Orleans irgendwie
ſehr viel und zwar auf Ehrenwort. Nach Haufe зи:
rückgekehrt, teilte ſie dem Großvater, während ſie die
Mouchen von ihrem Geſicht löſte und den Reifrock
losſchnürte, die Höhe ihres Spielverluſtes mit und
ordnete an, es müßte gezahlt werden. Der verſtorbene
Großvater war, wenn ich mich recht erinnere, für ſie
immer fo etwas wie ет Haushofmeiſter. Er fürchtete
ſie wie Feuer: als er jedoch von dieſer enormen
Spielſchuld vernahm, geriet er außer ſich, brachte
ſeine Aufzeichnungen herbei und rechnete ihr vor, daß
ſie in einem halben Jahr eine halbe Million verbraucht
hätten, und daß ſie bei Paris nicht ihre Moskauer und
ihre Sſaratower Dörfer liegen hätten, und zum Schluß
weigerte er ſich ſchlechterdings zu zahlen. Die Groß—
mutter gab ihm eine Ohrfeige und ging zum Zeichen
ihrer Ungnade allein zu Bett. Am nächſten Morgen
ließ ſie ihn rufen, ſie hoffte nämlich, daß die häusliche
Züchtigung bereits gewirkt hätte, aber ſie fand ihn
unerbittlich. Es blieb ihr nichts übrig, als ſich zum
erſten Male in ihrem Leben zu Erklärungen herbei—
zulaſſen und mit ihm zu unterhandeln; fie ermahnte
ihn, ſie erläuterte ihm herablaſſend, daß die einen
Schulden nicht wie die anderen ſeien und daß doch
wohl ein gewiſſer Unterſchied zwiſchen einem Prinzen
265
Pique Dame
und einem Kutſchmacher beſtünde. Umſonſt! der
Großvater meuterte. Nein und nein! Die Großmutter
wußte nicht mehr, was tun? Nun war ſie mit einem
ſehr merkwürdigen Manne gut bekannt. Ihr habt
gewiß alle vom Grafen von Saint-Germain gehört,
von dem ſoviel Sonderbares erzählt wird. Ihr wißt
ſicher, daß er ſich für den ewigen Juden ausgab, daß
er behauptete, das Lebenselixier entdeckt und den Stein
der Weiſen gefunden zu haben, und dergleichen mehr.
Man hielt ihn für einen Charlatan und lachte über
ihn, andererſeits aber erzählt Caſanova in ſeinen
Memoiren, er ſei ein Spion geweſen; übrigens hatte
Saint⸗Germain trotz ſeiner Geheimniskrämerei ein
Ehrfurcht erweckendes Außeres und galt allgemein als
ſehr liebenswürdig. Meine Großmutter iſt noch heute
von ihm hingeriſſen, und kann ſich ſehr darüber ärgern,
wenn man irgendwie wegwerfend von ihm ſpricht.
Der Großmutter war bekannt, daß Saint⸗Germain
große Geldmittel zur Verfügung ſtanden. Sie ent⸗
ſchloß ſich, ſeine Hilfe anzurufen, und ſchickte ihm
ein Billett, in welchem ſie ihn aufforderte, ſie ſofort
zu beſuchen. Der alte Sonderling erſchien unmittelbar
darauf und traf ſie in ſchrecklichen Sorgen an. Sie
ſchilderte ihm die Barbarei ihres Gemahls in den
ſchwärzeſten Farben und ſagte ſchließlich, ſie ſetze ihre
ganze Hoffnung auf ſeine Freundſchaft und ſeine
Liebenswürdigkeit. Saint-Germain verſank in Nach:
denken. Ich kann Ihnen mit dieſer Summe aus⸗
266
Pique Dame
helfen,‘ ſagte er endlich: ‚aber ich weiß, es wird Ihnen
keine Ruhe laſſen, eh Sie nicht die Schuld beglichen
haben, und ich möchte Ihnen nicht neue Verdrießlich⸗
keiten machen. Es gibt ein anderes Mittel: das Ver⸗
lorene im Spiel zurückgewinnen.“ — ‚Aber, befter
Graf,‘ entgegnete ihm die Großmutter, „ſagte ich
Ihnen nicht bereits, daß wir ganz ohne Geld ſeien?“
— Man braucht dazu kein Geld,‘ erwiderte Saint⸗
Germain: ‚ich bitte Sie, mich anzuhören.“ Und da
war es, daß er ihr ein Geheimnis eröffnete, für
das wohl ein jeder von uns gern teuer bezahlen
würde..“
Die jugendlichen Spieler verdoppelten ihre Auf:
merkſamkeit. Tomskij ſteckte ſeine Pfeife an, rauchte
einige Züge und ſetzte dann ſeine Erzählung fort:
„Und am ſelben Abend erſchien meine Großmutter
in Verſailles au jeu de la reine. Die Bank hielt der
Herzog von Orleans; die Großmutter entſchuldigte
ſich leichthin, daß ſie die Spielſchuld nicht mitgebracht
hätte, und erzählte zur Rechtfertigung irgendetwas,
was ihr gerade einfiel, und pointierte darauf gegen den
Herzog. Sie wählte drei Karten und ſetzte eine nach
der anderen: und alle drei gewannen, und ſo hatte die
Großmutter ihren Verluſt wieder hereingebracht.“
„Zufall!“ ſagte einer der Gäſte.
„Ein Märchen!“ bemerkte Hermann.
„Vielleicht waren die Karten markiert!“ warf ein
Dritter ein.
267
Pique Dame
„Undenkbar,“ entgegnete Tomskij ernſt.
„Wie!“ rief Narumow, „du Бай eine Großmama,
die gleich drei Karten hintereinander errät und biſt f
bis jetzt noch nicht im Beſitz ihrer Kabbaliſtik?“
„Der Teufel!“ entgegnete Tomskij, „vier Söhne
hatte fie, darunter war auch mein Vater; alle vier —
verzweifelte Kartenſpieler und dennoch hat ſie es keinem
anvertraut, obwohl alle und auch ich es gut brauchen
könnten. Aber hört noch, was Graf Iwan Iljitſch, mein
Onkel, erzählte; er gab fein Ehrenwort, daß die Ge⸗
ſchichte wahr ſei. Der verſtorbene Tſchaplitzkij, der: N
felbe, der, nachdem er Millionen verſchleudert, in ent
feglicher Armut umkam, hatte einmal, als er noch jung
war, an die dreimalhunderttauſend verſpielt und zwar $
— ich entſinne mich — ап Sſoritſch. Er war in Ver⸗
zweiflung. Meiner Großmutter nun, die ſonſt im alle —
gemeinen leichtſinnige Streiche junger Leute ſtreng ver⸗
urteilte, tat Tſchaplitzkij irgendwarum leid. Sie nannte
ihm die drei Karten, die er eine nach der andern ſetzen
ſollte, er mußte ihr jedoch gleichzeitig ſein Ehrenwort
geben, nie wieder zu ſpielen. Tſchaplitzkij forderte von
feinem glücklichen Partner Revanche: fie ſetzten ſich
zum Spiel. Tſchaplitzkij ſetzte fünfzigtauſend auf die
erſte Karte und gewann, darauf bog er ein Paroli
und ein Paroli⸗pé und gewann beide und alles zurück
und noch etwas dazu ...“
„Aber es iſt Zeit, ſchlafen zu gehen: es iſt ſchon
ein Viertel vor ſechs.“
268
—
=.
Pique Dame
Und in der Tat, der Morgen dämmerfe: die jungen
Leute tranken ihren Wein aus und fuhren nach Haufe.
II
II parait, que monsieur est
décidément pour les suivantes.
Que voulez- vous, madame?
Elles sont plus fraiches.
Ein Geſpräch
Die alte Gräfin“ ®® {аб in ihrem Ankleidezimmer
vor dem Spiegel. Drei Kammerzofen umringten
ſie. Die eine hielt die Büchſe mit der Schminke, eine
Schachtel mit Haarnadeln die andere, und die dritte
eine hohe, mit Bändern aus Flammenfarbe verzierte
Haube. Die Gräfin konnte nicht den geringſten An:
ſpruch mehr auf Schönheit erheben, die war längſt
dahin, allein ſie hielt ſich noch immer an die Gewohn—
heiten ihrer Jugend und befolgte aufs genaueſte die
Mode der ſiebziger Jahre, ſie zog ſich noch genau
fo lange und ganz fo forgfältig an wie ſechzig Jahre
zuvor. Am Fenſter ſaß vor einem Stickrahmen ihre
Pflegetochter, das Fräulein.
VVvS,F Guten Morgen, Grand' maman,“ rief eintretend
ein junger Offizier. „Bonjour, Mademoiſelle Life.
Grand' maman, ich habe eine Bitte.“
„Und die iſt, Paul?“
„Erlauben Sie mir, Ihnen einen meiner Freunde
vorzuſtellen und ihn am Freitag auf Ihren Ball zu
bringen.“
269
Pique Dame
„Bring ihn auf den Ball und ſtelle ihn mir dort
рог. За du übrigens geſtern Бе! деп ® ® ®9«
„Freilich! es war ſehr luſtig; wir tanzten bis um
fünf. Die Jelezkaja ſah wieder reizend aus!“
„Ih, mein Lieber! Was iſt ſchon an ihr? Da war
ihre Großmutter, die Fürſtin Darja Petrowna, doch
ganz anders... Übrigens, ich meine, fie muß ſehr
gealtert haben, die Fürſtin Darja Petrowna?“ |
„Gealtert?“ entgegnete Tomskij zerſtreut, „ſie iſt
doch ſchon ſeit ſieben Jahren tot.“ 1
Das Fräulein hob den Kopf und machte dem jungen И
Mann ein Zeichen. Er biß ſich auf die Lippen, denn
jetzt erſt erinnerte er ſich, daß man der alten Gräfin Ni
den Tod ihrer Altersgenoſſinnen verheimlichte. Aber
die Gräfin nahm dieſe neue Nachricht mit völligem 4
Gleichmut auf. 5
„Tot!“ ſagte ſie nur: „und ich wußte es nicht ein⸗ |
mal! Wir wurden gleichzeitig zu Hofdamen ernannt,
und als wir uns darauf bei Hofe vorſtellten, ſagte die
Kaiſerin ...“ р $
Und zum hundertſten Male erzählte die Pro |
ihrem Enkel dieſe Anekdote.
„Und nun, Paul,“ ſagte ſie zum Schluß, „jetzt Bit
du mir, mich aufrichten. Liebe Liſa, wo eme Fr |
tiere?“ |
Geleitet von ihren Kammerjungfern, verſihwanz N
die Gräfin hinter einem Wandſchirm, um ihre Toi⸗
lette zu beenden. Tomskij blieb mit dem Fräulein allein.
270
Pique Dame
„Wer iſt es, den Sie vorſtellen wollen?“ fragte
Liſaweta Iwanowna leiſe.
„Narumow. Kennen Sie ihn?“
„Nein! Iſt er ein Militär oder ein Ziviliſt?“
„Militär.“
„Genieoffizier?“
„Nein! er iſt bei der Kavallerie. Und warum dachten
Sie, er wäre Genieoffizier?“ Das Fräulein lachte,
aber ſie erwiderte kein Wort.
„Paul!“ rief die Gräfin hinter ihrem Wandſchirm
hervor. „Schick mir doch irgendeinen neuen Roman
herüber, aber bitte keinen von den modernen.“
„Was verſtehen Sie darunter, Grand'maman?“
„Alſo keinen von den Romanen, in denen der Held
ſeinen Vater oder ſeine Mutter erwürgt und auch
keinen, wo Ertrunkene drin vorkommen. Ich fürchte
mich fo vor Ertrunkenen.“
„Dieſe Romane gibt es jetzt überhaupt nicht mehr.
Oder wollen Sie vielleicht etwas Ruſſiſches?“
„Gibts denn überhaupt ruſſiſche Romane? ... Ach
bitte, mein Freund, ſchick mir doch einen herüber.“
„Leben Sie wohl, Grand' maman: ich eile.
Leben Sie wohl, Liſaweta Jwanowna! Wie kamen
Sie auf die Idee, daß Narumow Genieoffizier ſei?“
Tomskij verließ das Ankleidezimmer.
Liſaweta Iwanowna blieb allein zurück; fie ließ
ihre Arbeit ſinken und blickte durchs Fenſter. Und
gleich darauf bog auf der einen Seite der Straße ein
271
Pique Dame
junger Offizier um die Ecke. Ihre Wangen färbten
ſich; ſie machte ſich wieder an ihre Arbeit, tief beugte
ſich der Kopf über das Stickmuſter. Und da kam auch
ſchon die Gräfin, fertig angezogen.
„Liſa,“ ſagte ſie, „der Kutſcher ſoll anſpannen,
wir wollen ſpazieren fahren.“
Liſa erhob ſich von ihrem Stickrahmen und begann
ihre Arbeit fortzuräumen.
„Was ſoll das, meine Beſte! Du biſt wohl taub,
was?“ ſchrie die Gräfin ſie an, „ſofort gehſt du an⸗
ſpannen laſſen.“
„Ja!“ entgegnete ſtill das Fräulein und lief ins
Vorzimmer. ]
Ein Diener kam und brachte der Gräfin Bücher
vom Fürſten.
„Es iſt gut! ich laſſe danken“, ſagte die Gräfin.
„Liſa, aber Liſa, wohin läufſt du denn ſchon wieder?“
„Mich anziehen.“
„Dazu findeſt du immer noch Zeit, meine Liebe.
Setz dich her. Mach mal den erſten Band auf und
lies рог...“
Das Fräulein nahm das Buch und las einige Zeilen.
„Lauter!“ befahl die Gräfin, „was haſt du, meine
Зе? Die Stimme verloren.. was? .. Wart
mal. . . rück mir den Fußſchemel näher . näher ..
endlich!“ Liſaweta Iwanowna las noch zwei Seiten.
Die Gräfin gähnte.
„Laß das Buch,“ ſagte fie: „Iauter Unfinn! Schick
272
р
Pique Dame
es dem Fürſten Paul zurück, ich ließe danken.
Wo bleibt der Wagen?.
„Der Wagen iſt vorgefahren“, ſagte Liſaweta
Iwanowna, indem fie auf die Straße hinausſah.
„Und du biſt noch nicht angezogen?“ murrte die
Gräfin, „immer muß man auf dich warten. Das iſt
nicht mehr zum Aushalten, meine Beſte!“
Lei.iſa lief in ihr Zimmer. Keine zwei Minuten waren
vergangen, da begann die Gräfin aus Leibeskräften
zu klingeln. Die drei Zofen flogen durch die eine Türe
herein, und der Kammerdiener durch die andere.
„Wo bleibt ihr fo lange, wenn ich klingle?“ herrſchte
die Gräfin fie an. „Man melde Liſaweta Jwanowna,
daß ich ſie erwarte.“
Allein da trat Liſaweta Iwanowna ſchon in Hut
und Mantel ein.
„Endlich, meine Beſte!“ ſagte die Gräfin. „Was für
ein Aufzug! Wozu das? ... wen will man betören? ..
Wie ИЕ das Wetter? ſcheinbar windig“
„Nein, Ew. Durchlaucht! kein Wind!“ entgegnete
der Kammerdiener.
V Ihr ſchwatzt immer ins Blaue hinein! Das Fenſter
öffnen! Dacht ichs doch: Wind! und dazu ein eiſig—
kalter! Der Wagen wird ausgeſpannt! Liſa, wir
fahren nicht: es war unnütz, ſich zu putzen.“
„Und das iſt nun mein Leben!“ dachte Liſaweta
Iwanowna. In der Tat, Liſaweta Iwanowna war
ein äußerſt unglückliches Geſchöpf. Bitter iſt бет:
P. 1 18
273
Zr
Pique Dame
des Brot, ſagt Dante, und Пей die Stufen fremden |
Hauſes; wer aber kannte die Bitternis der Abhängig: |
keit beſſer als die arme Pflegetochter der alten Ari:
ſtokratin? Die Gräfin“ war gewiß kein böſer
Menſch, aber ſie war wie jede von der Welt verwöhnte
Frau ſehr launiſch; außerdem war ſie geizig und von
jenem kalten Egoismus, wie ihn alle alten Leute, die ihre |
Zeit genoſſen und der gegenwärtigen fremd geworden
find, haben. Dennoch nahm fie an allen Feſten der vor: |
nehmen Geſellſchaft teil; ſie ſchleppte ſich auf alle Bälle
und [аб dort geſchminkt und nach alter Mode auf:
geputzt wie eine groteske, aber irgendwie unumgäng⸗ |
liche Ausſtaffierung des Saales in einer Ecke; die
Gäfte traten, als wärs eine vorgeſchriebene Zeremonie,
mit tiefen Verbeugungen an ſie heran, um ſich nach⸗
her überhaupt nicht mehr um ſie zu kümmern. In
ihrem eigenen Hauſe empfing ſie die ganze Welt,
ſie hielt auf ſtrengſte Etikette, erkannte aber keinen
Menſchen. Ihr zahlreiches Geſinde, in den Vorzim⸗
mern und Mägdekammern fett und grau geworden,
machte, was es wollte, und beſtahl die abſterbende
Greiſin unabläſſig. In dieſem Haufe war Liſaweta
Iwanowna eine Märtyrerin. Sie ſchenkte den Tee
aus und ſteckte die Vorwürfe wegen zu viel Verbrauch
von Zucker ein; ſie mußte Romane vorleſen — und
war Schuld an jedem Fehler des Verfaſſers; fie ber —
gleitete die Gräfin auf den Spazierfahrten und war
nicht nur für das Wetter verantwortlich, nein, auch
274
Pique Dame
für das Straßenpflaſter. Einen Gehalt follte fie wohl
bekommen, aber er wurde ihr nie ausbezahlt; trotzdem
jedoch wurde von ihr gefordert, daß ſie wie alle an⸗
gezogen ſein ſolle, das heißt, wie ſehr wenige. Die
Rolle, die ſie in der Geſellſchaft ſpielte, war kläglich.
Obwohl alle fie kannten, wurde fie von niemand Бе:
merkt; auf den Bällen kam ſie nur dann zum Tanzen,
wenn irgendwo ein Vis⸗a⸗vis fehlte, und die Damen
nahmen ihren Arm, wenn ſie in die Garderobe mußten,
um an ihren Kleidern irgendetwas zu richten. Эа:
bei war ihr Charakter ſelbſtändig und ſtolz und
wußte Beſcheid über ihre Lage: nichts ringsum ent⸗
ging ihr, und voller Ungeduld erwartete ſie einen Be⸗
freier; aber keiner der jungen Männer, die trotz ihrem
leichtſinnigen Hochmut ſo berechnend waren, ſchenkte
ihr Aufmerkſamkeit, war auch Liſaweta Iwanowna
gewiß hundertmal anziehender als jene frechen und
kalten Bräute, die ſo begehrt waren. Wie oft verließ
ſie insgeheim den prunkvollen, aber langweiligen Salon,
um in ihrem armen Zimmer zu weinen, in ihrem Zim⸗
mer, in welchem billige, mit Tapeten beklebte Wand⸗
ſchirme ſtanden, eine Kommode, ein kleiner Spiegel
und das angeſtrichene Bett und wo in einem Leuchter
aus Meſſing ein Talglicht düſter brannte.
Einmal — es war zwei Tage nach jenem Abend,
den wir zu Beginn unſerer Erzählung ſchilderten, und
eine Woche vor der Szene, in der wir ſtecken geblieben
ſind — Liſaweta Iwanowna, die wie immer am
275
Pique Dame
Senfter vor ihrem Stickrahmen ſaß, blickte einmal un:
willkürlich auf die Straße hinaus und erblickte dort
einen jungen Genieoffizier; er ſtand regungslos da und
ſchaute ſie unverwandt durchs Fenſter an. Sie ſenkte
den Kopf und machte ſich von neuem an ihre Arbeit; nach
fünf Minuten ſah ſie wieder auf — der junge Offi⸗
zier ſtand immer noch auf demſelben Fleck. Da es
nicht ihre Gewohnheit war, mit den vorübergehenden
Offizieren zu kokettieren, ſah ſie nicht mehr hinaus
und nähte an die zwei Stunden, ohne den Kopf da⸗
bei zu erheben. Es wurde zu Tiſch gerufen. Sie erhob
ſich und begann ihre Arbeit fortzuräumen, als ſie aber
dabei zufällig auf die Straße ſchaute, erblickte ſie
wiederum den Offizier. Das berührte ſie ziemlich merk⸗
würdig. Nach dem Mittageſſen trat ſie mit dem Ge—
fühl einer gewiſſen Unruhe aufs neue ans Fenſter,
doch da war kein Offizier mehr zu ſehen — und fo
vergaß fie ihn...
Zwei Tage vergingen, fie ſchickte ſich gerade an, $
mit der Gräfin in den Wagen zu ſteigen, да fah ſie
ihn wieder. Er ſtand an der Auffahrt, ein Biberkragen
hielt ſein Geſicht verdeckt, und nur ſeine ſchwarzen |.
Augen funkelten unter dem Hut. Liſaweta Jwanowna
erſchrak und wußte ſelber nicht worüber, fie ſetzte
ſich mit einem unerklärlichen Beben in die Kutſche.
Kaum war ſie wieder zu Hauſe, da lief ſie zum Fenſter | ’
— der Offizier ſtand auf dem gleichen Fleck und rich:
tete ſeine Augen auf ſie: ſie wich zurück, aber nun kam
276
Pique Dame
die Neugierde über fie und ein Gefühl, das ihr völlig
neu таг.
Und nun verging kein Tag, an dem der junge Mann
zu der bewußten Stunde nicht vor den Fenſtern des
Hauſes erſchienen wäre. Zwiſchen ihm und ihr kam es
zu einem unvereinbarten Einverſtändnis. Sie ſaß auf
ihrem Platz an der Arbeit und fühlte ſein Kommen —
ſie hob den Kopf und blickte ihn mit jedem Tage
länger und länger an. Und es ſchien, der junge Mann
war ihr dankbar dafür: mit dem ſcharfen Blick der
Jugend bemerkte ſie, wie jedesmal, wenn ihre Blicke
ſich begegneten, eine flüchtige Röte feine bleichen Wan:
gen bedeckte. Doch als eine Woche vergangen war,
lächelte ſie ihm zu. |
Das Herz des armen Mädchens klopfte, als Tomskij
um die Erlaubnis bat, der Gräfin einen feiner Freunde
vorſtellen zu dürfen. Allein als ſie erfuhr, daß Narumow
kein Genieoffizier ſei, ſondern von der Gardekavallerie,
bedauerte ſie, mit ihrer unüberlegten Frage dem leicht⸗
ſinnigen Tomskij ihr Geheimnis verraten zu haben.
Hermann war der Sohn eines in Rußland anfäffig
gewordenen Deutſchen und hatte von ſeinem Vater
eine kleine Geldſumme geerbt. Hermann, deſſen Ab—
ſicht es war, ſich die völlige Unabhängigkeit zu erringen,
berührte indeſſen nicht einmal die Zinſen dieſer Erbſchaft,
ſondern lebte von ſeinem Offiziersgehalt und erlaubte
ſich nichts darüber. Da er übrigens äußerſt verſchloſſen
und ehrgeizig war, kamen ſeine Kameraden ſelten in
277
Pique Dame
die Lage, ihn feiner übermäßigen Sparſamkeit wegen
auslachen zu können. Sein Temperament war von
Haus aus leidenſchaftlich und ſeine Phantaſie voll
Feuer; nur die Feſtigkeit ſeines Charakters konnte ihn
vor den üblichen Verirrungen der jungen Jahre be⸗
wahren. Um es an einem Beiſpiel zu erläutern: er
war eigentlich eine Spielernatur und rührte trotzdem
keine Karte an, denn er hatte ſich ausgerechnet, daß
fein Vermögen (wie er ſagte) ihm nicht geſtatte, „der
Hoffnung, Überflüſſiges zu gewinnen, das Unentbehr⸗
liche zu opfern,“ — aber am Kartentiſch zu ſitzen
und mit fieberhafter Erregung die verſchiedenen Phaſen
des Spiels zu beobachten, war ihm keine Nacht zu lang.
Die Anekdote von den drei Karten hatte merkwür⸗
dig ſlark auf ihn gewirkt, er mußte die ganze Nacht
über daran denken. — „Wie“ — dachte er, als er
am nächſten Abend durch die Straßen Petersburgs
wanderte — „wie, wenn nun die alte Gräfin mir das
Geheimnis entdeckt? oder mir die drei ſicheren Karten
nennt! Warum ſoll ich mein Glück nicht verſuchen?
Ich könnte mich ihr vorſtellen laſſen, ihre Neigung er⸗
ringen; ſchlimmſtenfalls ihren Liebhaber ſpielen; aber
dazu gehört eit und Пе iſt bereits ſiebenundachtzig Jahre
alt; ſie kann ſchon nach einer Woche ſterben, ja, nach zwei
Tagen!... Und außerdem dieſe Anekdote? . Kann man
ihr überhaupt glauben? ... Nein, und nein! Vernunft,
Mäßigkeit und Arbeit, das find meine drei ſicheren Kar:
ten, ſie werden mein Kapital verdreifachen, ſie werden
278
Pique Dame
es verſiebenfachen und mir Ruhe und Unabhängigkeit
ver ſchaffen! ( Mit ſolchen Gedanken beſchäftigt, ge:
riet er in eine der Hauptſtraßen Petersburgs und ſtand
plötzlich vor einem altertümlich gebauten Hauſe. Die
Straße war voll von Equipagen; ein Wagen nach
dem andern fuhr vor dem hellerleuchteten Portale
por. Und bald war es das ſchlanke Füßchen einer
jugendlichen Schönen, das aus der Kutſche hervorkam,
bald ein knarrender Militärſtiefel, bald Strumpf und
Lackſchuh eines Diplomaten. An dem majeſtätiſchen
Portier wirbelten die Pelze und Mäntel nur fo vorüber.
„Wem gehört das Haus?“ fragte er den Wächter
an der Ecke.
„Der Gräfin ® , antwortete dieſer.
Hermann überlief's. Und wieder kam ihm die er⸗
ſtaunliche Anekdote in den Sinn. Er umkreiſte das
Haus, unabläffig an die Beſitzerin und an ihre wunder—
bare Gabe denkend. Erſt ſpät kehrte er in feine fried-
liche Behauſung zurück; lange konnte er nicht ein⸗
ſchlafen, und als endlich die Müdigkeit ihn bezwang,
ſah er noch im Traume Karten und Ballen von Bank⸗
noten und Laſten von Goldſtücken. Er ſetzte Karte
auf Karte, bog das Paroli mit Entſchiedenheit, де:
wann unabläſſig, ſchaufelte das Gold zu ſich und
ſtopfte die Banknoten in die Taſche. Spät erwacht,
konnte er einen Seufzer über den verſchwundenen
Reichtum ſeines Traumes nicht unterdrücken und wieder
hielt er vor dem Haufe der Gräfin“ . Es war, als
279
Pique Dame
zöge ihn eine unſichtbare Macht dorthin. Er blieb
ſtehen und ſchaute in die Fenſter. An einem Fenſter
erblickte er ein dunkles Köpfchen, das offenbar über
ein Buch oder über eine Arbeit geſenkt war. Es rich⸗
tete ſich auf. Hermann ſah ein blühendes Geſichtchen
und ſchwarze Augen. Dieſe Minute entſchied über ſein
Schickſal.
III
Vous m’ecrivez, mon ange, des lettres de
quatre pages plus vite que je ne puis les lire.
Ein Briefwechſel
Liſaweta Jwanowna hatte Hut und Mantel kaum
abgelegt, als die Gräfin ſie wieder holen ließ und
aufs neue befahl, den Wagen vorfahren zu laſſen. In
dem Augenblick, als die zwei Diener die Greiſin auf:
hoben und in das Innere des Wagens ſchoben, er:
blickte Liſaweta Iwanowna denſelben Genieoffizier
ganz in ihrer Nähe; er ergriff ihre Hand; ſie war wie
gelähmt vor Schreck, doch der junge Mann war Бе:
reits verſchwunden, und nur ein Brief blieb in ihrer
Hand zurück. Sie verbarg ihn im Handſchuh und
war während der ganzen Fahrt geiſtesabweſend.
Dabei hatte die Gräfin die Angewohnheit, jede Mi:
nute eine neue Frage zu ſtellen: wer war das, der uns
grüßte? wie heißt die Brücke? was ſteht auf jenem
Schild? Aber Liſaweta Jwanowna antwortete dieſes
Mal auf gut Glück und häufig nicht das Rechte, und
die Gräfin wurde ärgerlich.
280
Pique Dame
„Was haſt denn du, meine Befte! Haft du den
Starrkrampf, was? Oder hörſt du mich nicht, oder
kannſt du mich nicht verſtehen? ... Gott ſei Dank,
ich ſchnarre nicht und verrückt bin ich auch noch nicht!“
Aber Liſaweta Iwanowna hörte nicht. Zu Hauſe
angekommen lief ſie in ihr Zimmer und nahm den
Brief aus ihrem Handſchuh; er war nicht verſiegelt.
Liſaweta Iwanowna las. Der Brief war eine Liebes:
erklärung: zärtlich und ehrfurchtsvoll und Wort für
Wort einem deutſchen Roman entnommen. Aber Liſa⸗
weta Iwanowna, die kein deutſches Buch kannte, war
mit dem Brief ſehr zufrieden.
Immerhin beunruhigte der empfangene Brief ſie
außerordentlich. Sie trat zum erſten Male in heim—
liche und nahe Beziehungen zu einem jungen Manne.
Seine Dreiſtigkeit erſchreckte ſie. Sie machte ſich
Vorwürfe, daß ſie unüberlegt gehandelt habe, und
eigentlich wußte ſie nicht, was jetzt tun: nicht mehr am
Fenſter ſitzen und dem jungen Offizier durch Nicht:
beachtung die Luſt zu weiteren Schritten nehmen?
oder den Brief zurückgeben? oder kalt und energiſch
antworten? Niemand war da, der ihr raten konnte:
ſie hatte keine Freundin, keinen Menſchen, deſſen
Erfahrung fie ſich anvertrauen konnte. Und Liſa⸗
weta Iwanowna entſchloß ſich, den Brief zu beant⸗
worten.
Sie ſetzte ſich an den Schreibtiſch, legte Papier zu⸗
recht und nahm die Feder zur Hand, — und verſank in
281
Pique Dame
Gedanken. Einige Male fing fie an — aber immer
wieder zerriß fie das Geſchriebene: bald war es viel
zu freundlich, bald viel zu hartherzig. Endlich ge⸗
langen ihr einige Zeilen, die ſie befriedigten. „Ich
bin überzeugt,“ — ſchrieb fie — „daß Ihre Ab:
ſichten ehrenhaft find und daß Sie durch Ihren ип:
bedachten Schritt mich nicht beleidigen wollten; allein
es geht nicht an, daß unſere Bekanntſchaft auf dieſem
Wege anfängt. Hier iſt Ihr Brief zurück und ich hoffe,
ich werde fürder keinen Grund haben, mich über ип:
verdiente Mißachtung beklagen zu müſſen.“
Als Liſaweta Iwanowna am Tage darauf den
vorübergehenden Hermann erblickte, ſtand ſie von ihrem
Stickrahmen auf, ging in den nebenan liegenden Salon,
öffnete dort ein Fenſter und warf den Brief im Ver⸗
trauen auf die Gewandtheit des jungen Offiziers auf
die Straße. Und ſchon war Hermann da und hatte
ihn aufgehoben und verſchwand in einem Konditor⸗
laden. Er erbrach das Siegel und erblickte ſeinen
Brief und ihre Antwort. Mehr konnte er nicht ег:
warten, und ganz in die geſchickt angeknüpfte Intrige
vertieft kehrte er heim.
Drei Tage darauf brachte ein jung und verſchmitzt
ausſehendes Ladenfräulein ein Billett aus einer Mode⸗
handlung für Liſaweta Jwanowna. Dieſe öffnete es
ein wenig beſorgt, denn fie erwartete eine Geldfor de⸗
rung vorzufinden, — aber da hatte ſie auch ſchon
Hermanns Handſchrift erkannt.
282
Pique Dame
„Es ift ein Irrtum, meine Liebe,“ fagte fie, „das
Billett iſt nicht für mich.“
„Nein, es iſt ganz ſicher für Sie!“ entgegnete das
dreiſte Mädchen und lächelte durchtrieben. „Bitte,
leſen Sie nur!“ |
Liſaweta überflog das Papier. Hermann bat um
eine Zuſammenkunft.
»Unmöglich,“ ſagte Liſaweta IJwanowna, ſowohl
von der ÜUbereiltheit dieſes Verlangens als auch von
der Art und Weiſe der Übermittlung erſchreckt, „ der
Brief iſt beſtimmt nicht für mich.“
Und ſie zerriß ihn in kleine Stücke.
„Wenn der Brief nicht für Sie war, warum haben
Sie ihn dann zerriſſen?“ entgegnete das Mädchen,
„ich hätte ihn ja dem, der ihn geſchickt hat, zurück⸗
geben können.“
Liſaweta Iwanowna wurde feuerrot. „Liebes Kind,
bringen Sie mir weiterhin keine ſolchen Briefe. Und
dem, der Sie hergeſchickt hat, ſagen Sie, er ſolle ſich
ſchämen.“
Doch Hermann gab keine Ruh. Jeden Tag erhielt
Liſaweta Iwanowna bald auf dieſem, bald auf jenem
Wege Briefe von ihm. Und jetzt waren es ſchon keine
Überfegungen mehr aus dem Deutſchen. Hermann
ſchrieb, was Leidenſchaft ihm diktierte, und ſchrieb es
mit ſeiner eigenen Sprache: dieſe Briefe waren erfüllt
von der Unbeugſamkeit feiner Wünſche und der Zer—
fahrenheit feiner ungezügelten Phantaſie. Und Lifa:
283
Pique Dame
weta Iwanowna dachte nicht mehr daran, fie zurück⸗
zuſchicken: ſie berauſchte ſich an ihnen, ja, ſie ant⸗
wortete ſogar, und mit jedem Male wurden ihre
Briefe länger und inniger. Und endlich warf ſie ihm
durchs Fenſter folgenden Brief zu:
„Heute ИЕ der Ball beim ***fchen Geſandten. Die
Gräfin wird dort ſein. Wir bleiben bis zwei Uhr
nachts. Dies gibt eine Gelegenheit, mich allein anzu⸗
treffen. Sobald die Gräfin fort iſt, wird ſicher die
Dienerſchaft ausgehen; nur der Portier bleibt da, aber
auch er zieht ſich gewöhnlich in ſeine Kammer zurück.
Kommen Sie um halb zwölf. Gehen Sie die Treppe
hinauf. Wenn jemand im Vorraum iſt, fragen Sie,
ob die Gräfin zu Hauſe ſei. Man wird Ihnen ant⸗
worten, ſie ſei nicht zu Hauſe — und dann bleibt
Ihnen nichts übrig, als wieder umzukehren. Wahr⸗
ſcheinlich jedoch wird Ihnen niemand begegnen. Die
Kammerzofen halten ſich um dieſe Zeit alle in ihrem
Zimmer auf. Aus dem Vorzimmer geht es nach links,
und dann gehen Sie geradeaus bis zum Schlafzimmer
der Gräfin. Im Schlafzimmer werden Sie hinter den
Wandſchirmen zwei niedrige Türen erblicken: die rechter
Hand führt in das Kabinett, das die Gräfin niemals
betritt; die linker Hand aber in einen Gang, dortſelbſt
iſt eine ſchmale Wendeltreppe: und dieſe bringt Sie in
mein Zimmer.“
Den angeſetzten Zeitpunkt erwartend, bebte Her⸗
mann am ganzen Körper wie ein Tiger. Schon um
284
Pique Dame
zehn Uhr abends ſtand er vor dem Haufe der Gräfin.
Es war ein greuliches Wetter: der Wind heulte, in
ſchweren Flocken wirbelte naſſer Schnee; die La⸗
ternen brannten trübe; die Straßen waren leer. Hie
und da ſchleppte ſich von einem mageren Gaul gezogen
eine Droſchke vorbei, deren Kutſcher auf der Lauer
nach verſpäteten Fahrgäſten lag. Obwohl Hermann
nur im Rock daſtand, ſpürte er weder Wind noch
Schnee. Endlich fuhr der Wagen der Gräfin vor.
Hermann ſah, wie die Diener die in einen Zobelpelz
gewickelte ganz zuſammengeſchrumpfte Gräfin in den
Wagen hoben, ihr folgte in einem leichten Mäntel—
chen, friſche Blumen im Haar, ihr Pflegekind. Der
Wagenſchlag fiel zu. Schwerfällig ſetzte ſich auf dem
lockeren Schnee die Kutſche in Bewegung. Der Portier
ſchloß die Türe. In den Fenſtern wurde es dunkel.
Vor dem leergewordenen Hauſe ſchritt Hermann auf
und ab; endlich blieb er vor einer Laterne ſtehen und
ſah auf die Uhr: es war zwanzig Minuten nach elf.
Er blieb dort unter der Laterne ſtehen, die Augen auf
den Uhrzeiger geheftet, um die noch übrig bleibenden
Minuten abzuzählen. Punkt halb zwölf ſtieg er die
Stufen zum Eingang empor und trat in den hell—
erleuchteten Vorraum. Der Portier war nicht zu
ſehen. Hermann flog die Treppe hinauf, öffnete die
Tür zum Vorzimmer und erblickte dort einen Diener,
der vor einer Lampe in einem altertümlichen, ziemlich
ſchäbigen Lehnſtuhl ſchlief. Mit leichtem, aber feſtem
285
Pique Dame
Schritt ging Hermann ап ihm vorbei. Der Salon
und das Empfangszimmer waren dunkel. Die Lampe
aus dem Vorzimmer gab nur ſpärliche Beleuchtung.
Und dann kam das Schlafzimmer. Vor dem ganz
mit alten Heiligenbildern angefüllten Schrein brannte
ein goldenes Lämpchen. In einer trauervollen Sym⸗
metrie ſtanden an den mit chineſiſchen Tapeten be⸗
ſpannten Wänden die Seſſel mit ihren verblichenen
Überzügen und die Sofas mit ihren Flaumkiſſen und
der abgeſchabten Goldpolitur. An der Wand hingen
zwei von Madame Lebrun in Paris gemalte Porträts.
Das eine ſtellte einen Herrn von etwa vierzig Jahren
in einem hellgrünen Uniformrock dar, auf ſeiner Bruſt
glänzte ein Stern, ſein Geſicht war gerötet und voll;
das andere — eine junge Schöne mit kühn geſchwun⸗
gener Naſe, die Schläfen frei und eine Roſe im ge—
puderten Haar. Überall ſtanden und lagen Porzellan⸗
ſchäferinnen, kleine Tiſchuhren, vom berühmten Leroy
gefertigt, Schächtelchen, Fächer und alle jene verſchie⸗
denen Damenbijouterien, die das Ende des achtzehnten
Jahrhunderts gleichzeitig mit dem Ballon des Mont⸗
golfier und dem Mesmerſchen Magnetismus uns ge⸗
bracht hat. Hermann ſchaute hinter die Wandſchirme.
Dort war ein kleines Eiſenbett und rechts die Tür, die
zum Kabinett führte und links die andere zum Korridor.
Hermannöffnete dieſe und ſahdieſchmale Wendeltreppe,
die zum Zimmer der armen Pflegetochter führte..
Allein er kehrte um und betrat das dunkle Kabinett.
286
Pique Dame
Die Zeit ging ungeheuer langſam. Im Haufe war
alles ſtill. Eine Uhr im Empfangszimmer ſchlug zwölf:
mal und eine nach der anderen ſchlugen die Uhren
im ganzen Hauſe die zwölfte Stunde — darauf war
wieder Ruhe. Hermann ſtand an den kalten Ofen
gelehnt. Er war ſehr ruhig; ſein Herzſchlag war feſt
wie der eines Menſchen, der auf eine gefahrvolle, aber
notwendige Sache losgeht. Die Uhren ſchlugen die
erſte Stunde und ſchlugen die zweite Stunde, und dann
kam von ferne das Raſſeln des Wagens. Eine un:
willkürliche Erregung packte ihn. Der Wagen fuhr
vor und hielt. Er hörte, wie man den Wagentritt
herabließ. Im Hauſe wurde es unruhig. Schritte
liefen, Stimmen klangen und es wurde hell. Drei
alte Zimmermädchen eilten ins Schlafzimmer, halb:
tot folgte ihnen die Gräfin und ließ ſich in einen
tiefen Armſeſſel ſinken. Durch eine kleine Türſpalte
konnte Hermann alles beobachten. Liſaweta Iwa—
nomna glitt vorüber. Hermann hörte, wie fie eilig die
Wendeltreppe hinauflief. In ſeinem Innern regte ſich
etwas wie Gewiſſensbiſſe, ließ aber ſofort nach. Er
war ſteinern.
Die Gräfin wurde vor dem Spiegel ausgezogen.
Man nahm ihr die mit Roſen geſchmückte Haube ab;
man nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen,
faſt kahlgeſchorenen Schädel. Es war ein Regen von
Stecknadeln. Das gelbe, mit Silber verbrämte Seiden⸗
kleid fiel zu ihren angeſchwollenen Füßen. Hermann
287
PIq ue Dame
wurde zum Zeugen all der widerlichen Geheimniſſe
ihrer Toilette; endlich aber war ſie in Schlafrock und
Nachthaube und in dieſem Aufzug, der mehr ihrem
Alter entſprach, fand er Mi ie weniger abſcheulich und
abftoßend.
Die Gräfin litt, wie alle alten Leute überhaupt, an
Schlafloſigkeit. Nachdem ſie ausgekleidet war, ſetzte
ſie ſich in den tiefen Lehnſtuhl am Fenſter und entließ
die Zofen. Die Kerzen wurden hinausgetragen, und
wieder beleuchtete nur das eine Lämpchen das Zimmer.
Die Gräfin ſaß in ihrem Lehnſtuhl, ſie war ganz gelb,
ihre herabhängenden Lippen bewegten ſich ſtumm und
ihr Oberkörper ſchwankte bald nach rechts, bald nach
links. Aus ihren trüben Augen ſprach kein Schimmer
eines Gedankens; bei ihrem Anblick konnte man leicht
auf die Vermutung kommen, es ſtammten die Be⸗
wegungen der greulichen Alten nicht aus ihrem Willen
her, ſondern von der Einwirkung einer verborgenen
galvaniſchen Kraft.
Plötzlich jedoch veränderte ſich das tote Geſicht un⸗
beſchreiblich. Die Lippen hörten auf, ſich zu bewegen,
Leben trat in die Augen: ein unbekannter Mann ſtand
vor der Gräfin.
„Erſchrecken Sie nicht, um Gottes willen, keine
Furcht!“ ſprach er mit deutlicher, aber leiſer Stimme:
„Ich kam nicht mit der Abſicht, Ihnen zu ſchaden;
ich kam, um Sie um eine Gnade anzuflehen.“
Die Alte ſah ihn ſtumm an, und es war, als hätte
288
Pique Dame
fie nichts gehört. Hermann dachte, fie könnte vielleicht
ſchwerhörig ſein; er beugte ſich zu ihrem Ohr und
wiederholte die gleichen Worte. Die Alte ſchwieg wie
zuvor.
„Sie können“, ſprach Hermann weiter,, mich glück⸗
lich machen und es wird Sie nichts koſten: ich weiß,
Sie haben die Fähigkeit, drei aufeinanderfolgende
Karten zu erraten ..“
Hermann hielt ein. Es ſchien, die Gräfin hatte be⸗
griffen, was er wollte; es ſchien, ſie ſuche nach Worten,
um ihm zu antworten.
„Nur ein Scherz,“ ſagte ſie endlich: „ich ſchwörs,
es war nur ein Scherz!“
„Damit ſcherzt man nicht,“ entgegnete Hermann
aufgebracht: „Denken Sie an Tſchaplitzkij und wie
Sie ihm geholfen haben, ſeinen Spielverluſt wieder
zurückzugewinnen.“
Die Gräfin war ſichtbar beſtürzt. Ihre Züge ver-
rieten eine ſtarke Gemütsbewegung; aber nicht lange
und fie fiel wieder in ihren vorigen Zuſtand der Ge:
fühlloſigkeit.
„Könnten Sie“, fuhr Hermann fort, „mir nicht
dieſe drei Gewinnkarten bezeichnen?“
Die Gräfin ſchwieg; Hermann ſprach weiter:
„Für wen hüten Sie dieſes Geheimnis? Für Ihre
Enkel etwa? Die ſind ſowieſo reich, ſie kennen nicht
einmal den Wert des Geldes. Einem Verſchwender
helfen Ihre drei Karten nicht. Wer nicht einmal das
P. 1 19
289
Pique Dame
väterliche Erbe zu wahren verſteht, wird, mögen ihm
auch Dämonen Hilfe leiſten, ſowieſo in Armut um⸗
kommen. Ich dagegen bin kein Verſchwender; ich
kenne den Wert des Geldes. Bei mir ſind Ihre drei
Karten wohl angewandt. Sagen Sie ſie! ...“
Er verſtummte und wartete bebend auf ihre Ant—
wort. Die Gräfin ſchwieg; Hermann fiel vor ihr auf
die Kniee.
„Wenn jemals,“ ſprach er, „wenn Ihr Herz je⸗
mals das Gefühl der Liebe erfuhr, wenn Sie die Selig⸗
keiten, die ſie ſchenkt, erkannten, wenn Sie beim An⸗
blick Ihres neugeborenen Sohnes auch nur einmal
gelächelt haben, wenn jemals eine menſchliche Regung
in Ihrer Bruſt pochte, fo flehe ich Sie an, fo Ве:
ſchwöre ich Sie bei den Gefühlen der Frau, der Ge-
liebten, der Mutter, ja, bei allem, was im Leben heilig
iſt, ſchlagen Sie mir dieſe Bitte nicht ab, ſagen Sie mir
Ihr Geheimnis, was kannes Ihnen noch bedeuten? ...
Hängt es vielleicht mit einem furchtbaren Frevel zu—
ſammen, mit dem Verluſte der ewigen Seligkeit, einem
Bund mit dem Teufel? ... Bedenken Sie: Sie find
alt; Sie haben nicht mehr lange zu leben — ich aber
bin bereit, Ihre Sünde auf meine Seele zu nehmen.
Nur eröffnen Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie,
in Ihrer Hand liegt das Glück eines Menſchen; Бе:
denken Sie, nicht nur ich, auch meine Kinder, meine
Enkel, meine Urenkel werden Sie ſegnen und werden
Ihr Angedenken ehren, wie man ет Heiligtum ehrt...“
290
e
Pique Dame
Aber die Alte entgegnete kein Wort. Hermann er:
hob ſich. „Hexe!“ ſprach er zähneknirſchend, „alte
Hexel fo will ich Dich zwingen, mir zu antworten ...“
Mit dieſen Worten zog er eine Piſtole aus der Taſche.
Beim Anblick der Piſtole zeigte die Gräfin zum
zweiten Male eine außerordentliche Erregung. Ihr
Kopf geriet in Bewegung, ſie erhob die Hand, als
wolle fie den Schuß abwehren ... dann ſank fie nach
vorn . . . und regte ſich nicht mehr.
„Keine Kindereien,“ ſagte Hermann und ergriff
ihre Hand. „Ich frage Sie zum letztenmal: wollen
Sie mir Ihre drei Karten bezeichnen? ja oder nein?“
Die Gräfin gab keine Antwort. Hermann bemerkte,
daß ſie tot war.
IV
(7. Mai 18**) Homme sans moeurs et sans religion!
Ein Briefwechſel
Noch immer in ihrem Ballkleide {ав Liſaweta Iwa⸗
nowna tief in Gedanken verſunken in ihrem Zim—
mer. Nach Hauſe gekommen war es ihr erſtes, die
verſchlafene Zofe, die ihr ſowieſo nur ungern behilf—
lich war, mit den Worten, fie wolle ſich allein aus⸗
kleiden, fortzuſchicken und darauf zitternd in ihr Zim⸗
mer zu eilen, wo ſie Hermann vorzufinden hoffte und
eigentlich nicht vorzufinden wünſchte. Schon der erſte
Blick zeigte ihr, daß er nicht da war, und ſie dankte
ihrem Schickſal für das Hindernis, das dieſe Zuſam—
291
Pique Dame
menkunft vereitelt hatte. Sie ſetzte ſich, ohne ſich aus—
zukleiden, und dachte ап all die Ereigniffe, die in fo kurzer
Zeit Пе jo weit geführt hatten Noch waren keine drei
Wochen ſeit jenem Tage vergangen, an dem ſie zum
erſten Male den jungen Mann durchs Fenſter erblickt
hatte — und ſchon ſtand ſie mit ihm nicht nur im
Briefwechſel, nein, fie hatte ihm ſogar eine nächt⸗
liche Zuſammenkunft bewilligt! Sein Name war
ihr bekannt, weil er einige ſeiner Briefe unterzeichnet
hatte; aber noch nie hatte ſie mit ihm geſprochen, nie
ſeine Stimme gehört, ja, noch nie von ihm ſprechen
gehört... nie, bis zum heutigen Abend. Wie ſonder⸗
bar! Tomskij hatte ſich an dieſem Abend auf dem
Ball über die Fürſtin Pauline ®®® geärgert, die, ent⸗
gegen ihrer ſonſtigen Gewohnheit, diesmal nicht mit
ihm kokettierte, und beſchloß, ſich zu rächen und den
Gleichgültigen zu fpielen: er bat Liſaweta Iwanowna
um einen Tanz und ſo tanzten ſie eine jener endloſen
Maſurkas. Er neckte ſie mit ihrer Vorliebe für Genie⸗
offiziere, er beteuerte, er wiſſe viel mehr, als fie ап: | |
nehmen könnte, und einige feiner Scherze waren ſo
geſchickt gezielt, daß Liſaweta Iwanowna einige Male
tatſächlich glaubte, ihr Geheimnis ſei ihm bekannt.
„Wer hat Ihnen das alles geſagt?“ fragte fie
lachend. |
„Ein Freund jener Ihnen bekannten Perſon,“ ent:
gegnete Tomskij, „ein ſehr merkwürdiger Menſch!“
„Und wer iſt dieſer merkwürdige Menſch?“
292
Dique Dame
„Er heißt Hermann.“
Liſaweta Iwanowna antwortete nichts, aber ihre
Hände und Füße wurden zu Eis...
„Dieſer Hermann“, fuhr Tomskij fort, „iſt beſtimmt
eine Romanfigur: ſein Profil erinnert an Napoleon
und Mephiſto iſt er in ſeinem Innern. Ich denke, er
hat mindeſtens drei Untaten auf ſeinem Gewiſſen.
Aber wie blaß Sie geworden ſind! ...“
„Ich habe Kopfweh ... Und was ſagte Ihnen
denn dieſer Hermann ... oder wie nannten Sie ihn
doch ...“
„Hermann iſt mit ſeinem Freunde gar nicht zu—
frieden: er hätte an ſeiner Stelle ganz anders ge—
handelt, ſagt ег... Ich nehme fogar an, daß Her:
mann ebenfalls Abſichten auf Sie hat; zum mindeſten
iſt es ihm unmöglich, die verliebten Redensarten ſeines
Freundes ruhig anzuhören.“
„Wo hat er mich denn geſehen?“
„In der Kirche, beim Spazierengehen, was weiß
ich! ... vielleicht ſogar in Ihrem Zimmer, während
Sie ſchliefen: ich traue ihm alles зи...“
Das Geſpräch wurde an dieſer Stelle von drei
Damen, die mit der Frage „oubli ou regret!“ heran⸗
traten, unterbrochen, ein Geſpräch, das für Liſaweta
Iwanowna {о quälend intereſſant geworden war.
Tomskij hatte ſich als Dame die Fürſtin Pauline ss
erwählt. Sie tanzten einmal um den Saal und ſchon
war die Verſtändigung da. Als Tomskij zu ſeinem
293
Pique Dame
Platz zurückkehrte, dachte er weder an Hermann, noch
an Liſaweta IJwanowna. Dieſe wollte allerdings das
unterbrochene Geſpräch wieder aufnehmen, aber da
war die Maſurka zu Ende, und bald darauf brach die
alte Gräfin auf.
Die Worte Tomskijs waren nichts als ein Geſchwätz
beim Tanz; aber tief ſanken ſie in die Seele der jungen
Träumerin. Das Porträt, das Tomskij ſkizziert hatte,
ähnelte ſo ſehr jenem Bilde, das ſie ſich ſelbſt gemacht
hatte, daß ſie, dank der Lektüre der neueſten Romane,
vor dieſem eigentlich ganz gewöhnlichen Geſicht Furcht
empfand, zumal es ihre Phantaſie ſtark beſchäftigte.
So ſaß ſie gedankenverloren da, die nackten Arme ge⸗
kreuzt und den noch immer mit Blumen geſchmückten
Kopf auf die entblößte Bruſt geſenkt ... Plötzlich ging
die Türe auf und Hermann trat ein. Sie erſchauerte.
„Wo ſteckten Sie denn?“ flüſterte ſie erſchreckt.
„Im Schlafzimmer der alten Gräfin,“ antwortete
Hermann. „Ich komme eben von dort. Die Gräfin
iſt tot.“
„Um Gottes willen! ... tot, ſagen Sie? ...“
„Und es ſcheint,“ fuhr Hermann fort, „daß ich
die Urſache ihres Todes bin.“
Liſaweta Iwanowna ſah ihn ſchärfer an und fie
erinnerte ſich an die Worte Tomskijs: Dieſer Menſch
hat mindeſtens drei Untaten auf dem Ge:
wiſſen! Hermann ſetzte ſich auf das Fenſterbrett
und begann, ihr alles zu erzählen.
294
Pique Dame
Schaudernd vernahm Liſaweta Iwanowna feinen
Bericht. Alſo waren dieſe leidenſchaftlichen Briefe,
dieſe flammenden Wünſche, dieſe dreiſte, dieſe beharr—
liche Verfolgung — all das war nicht Liebe geweſen!
Nur Geld! — danach nur lechzte ſeine Seele! Nicht
ſie war es, die ſein Verlangen ſtillen, die ihm das
Glück geben konnte! Das arme Pflegekind war nichts
anderes als die blinde Verbündete eines Räubers,
des Mörders ihrer Wohltäterin! ... In ſpäter, in
quälender Reue ſchluchzte fie bitter. Schweigend blickte
Hermann ſie an: auch in ſeinem Herzen war Qual;
aber weder die Tränen des armen Mädchens noch
die wunderbare Schönheit ihres Kummers bewegten
ſeine harte Seele. Er fühlte beim Gedanken an
die tote Alte keine Gewiſſensbiſſe. Nur das eine
entſetzte ihn: daß nun jenes Geheimnis, von dem
er Reichtum erwartet hatte, unwiederbringlich ver—
loren war.
„Sie ſind ein Ungeheuer!“ vermochte Liſaweta
Iwanownc endlich hervorzubringen.
„Ich habe ihren Tod nicht gewollt,“ erwiderte Her⸗
mann, „meine Piſtole war nicht einmal geladen.“
Und ſie verſtummten beide.
Der Morgen kam. Liſaweta Iwanowna löſchte
die völlig heruntergebrannte Kerze aus: bleich drang
das Licht ins Zimmer. Sie trocknete die verweinten
Augen und blickte Hermann an: er ſaß auf dem Fenſter⸗
brett, die Arme gekreuzt und die Stirn düſter gerunzelt.
295
Pique Dame
In dieſer Stellung war feine Ahnlichkeit mit dem
Porträt Napoleons überraſchend.
„Wie kommen Sie aus dem Haufe?“ fagte Liſa⸗
weta Iwanowna endlich. „Ich wollte Sie eigentlich
über die geheime Treppe führen, aber um zu ihr zu
gelangen, muß man am Schlafzimmer vorbei und ich
fürchte mich.“
„Erklären Sie mir nur, wie ich dieſe geheime
Treppe finde; ich komme dann ſchon allein hinaus.“
Liſaweta Iwanowna ſtand auf und holte einen
Schlüſſel aus ihrer Kommode, ſie gab ihn Hermann
und ſchilderte ihm, wie er hinaus könnte. Hermann
nahm ihre Hand, die kalt war und leblos, und
drückte einen Kuß auf ihr geſenktes Haupt; dann
ging er.
Er ſchritt die Wendeltreppe hinab und trat aufs
neue in das Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Gräfin
ſaß noch in der gleichen Stellung, regungslos wie
Stein; ihr Antlitz drückte die tiefſte Ruhe aus. Her⸗
mann blieb vor ihr ſtehen und ſah ſie lange an, als
wollte er ſich von der ſchrecklichen Wahrheit über⸗
zeugen; darauf betrat er das Kabinett, taſtete hinter der
Tapete nach der Geheimtür und ſtieg von ſonderbaren
Gefühlen erregt die Treppe hinab. „Auf dieſer ſelben
Treppe“ — dachte er — „ ſchlich vielleicht vor ſechzig
Jahren um die gleiche Stunde in reichem Gewande,
friſiert A l’oiseau royal, den Dreimaſter an die Bruſt
gedrückt, ein junger Glückspilz, der ſchon längſt im
296
Se a ти
Pique Dame
Sarge vermodert ift, zu dieſem felben Schlafzimmer;
das Herz aber ſeiner uralten Geliebten hat heute auf—
gehört зи ſchlagen ...“
Beim Ausgang der Treppe fand Hermann die
Tür, zu der er den Schlüſſel erhalten hatte, und ſtieß
auf einen Durchgang, der ihn auf die Straße führte.
у
In dieſer Nacht erſchien mir die verſtorbene
Baroneſſe von W“. Sie war ganz in Weiß
und ſprach zu mir: „Guten Abend, Herr Rat!“
Swedenborg
Drei Tage nach jener Schickſalsnacht begab ſich
Hermann um neun Uhr morgens zum 5 ſchen
Kloſter, in deſſen Kapelle das Totenamt für die ver:
ſtorbene Gräfin ſtattfinden ſollte. Wenn er auch keine
Reue empfand, dennoch konnte er die Stimme des
Gewiſſens, die ihm unaufhörlich zuraunte: der Mör—
der der Alten biſt du! nicht völlig erſticken. Es war
wenig lebendiger Glauben in ihm, dafür jedoch viel
Aberglauben. So glaubte er zum Beiſpiel, daß die
tote Gräfin einen verderblichen Einfluß auf fein mei:
teres Leben haben könnte, und entſchloß ſich, zu ihrer
Beerdigung zu gehen, um womöglich durch dieſe Tat
ihre Verzeihung zu erlangen!
Die Kirche war überfüllt. Nur mit großer Mühe
gelang es Hermann, durch die Menſchenmenge nach
vorn zu kommen. Der Sarg ſtand auf einem reich—
geſchmückten Katafalk unter einem Baldachin aus
297
Pique Dame
Samt. Die Verſtorbene lag darin, die Hände über
der Bruſt gefaltet; man hatte ſie mit einer Spitzen⸗
haube und einem weißen Atlasgewand bekleidet. Rings⸗
um ſtanden die Hausgenoſſen: in ſchwarzen Leibröcken,
mit breiten Wappenbändern über der Schulter und
Kerzen in der Hand die Diener; und in tiefer Trauer⸗
kleidung die Angehörigen, die Kinder, Enkel und Ur⸗
enkel. Keines weinte; Tränen wären ja hier nur une
affectation geweſen. Die Gräfin war ſo ungeheuer
alt geworden, daß niemand von ihrem Tode erſchüttert
wurde, hatten doch ihre Verwandten ſie ſchon lang
als etwas Überlebtes angeſehen. Die Grabrede hielt ein
junger Biſchof. In einfachen und rührenden Worten
ſchilderte er den friedevollen Hingang der Gottſeligen,
deren lange Lebensjahre nur eine ſtille, nur eine troſt—
volle Vorbereitung auf das Ende einer Chriſtin де:
weſen ſeien. „Und ſo betrat ſie der Engel des Todes,“
ſchloß der Redner, „wachend in gottgefälligen Gedanken
und erwartend den Bräutigam, der da kommet von
Mitternacht.“ Der Gottesdienſt ging mit trauervoller
Würde zu Ende. Die Verwandten nahmen als erſte
von der Leiche Abſchied. Dann traten all die vielen
Bekannten heran, die gekommen waren, jener, die ſo
lange an ihren eitlen Vergnügungen teilgenommen,
die letzte Ehre zu erweiſen. Danach kamen die Haus⸗
genoſſen. Endlich näherte ſich auch eine uralte Kammer⸗
frau dem Sarge, eine Altersgenoſſin der Verſtorbenen.
Sie wurde von zwei Mädchen geführt. Sie hatte nicht
298
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Е:
Pique Dame
die Kraft mehr, die vorgeſchriebene Verbeugung bis
zur Erde zu machen — aber ſie war die einzige, die
einige Tränen vergoß, als ſie die kalte Hand ihrer
Herrin mit den Lippen berührte. Hermann entſchloß
ſich, nach ihr an den Sarg zu treten. Er verbeugte
ſich bis zur Erde und lag einige Minuten auf dem
kalten mit Tannenreiſig beſtreuten Fußboden; er
erhob ſich, bleich wie die Tote, ſchritt die Stufen des
Katafalks langſam hinauf und verneigte fi)... Und
da war ihm, die Tote blinzele ihm mit einem Auge zu
und lächele ſpöttiſch. Hermann wich haſtig zurück,
trat fehl und ſtürzte rücklings hin. Er mußte aufge⸗
hoben werden. Gleichzeitig wurde auch die in Ohn—
macht liegende Liſaweta Iwanowna hinausgetragen.
Die Feierlichkeit der düſteren Zeremonie wurde durch
dieſen Zwiſchenfall auf kurze Zeit unterbrochen. Unter
den Anweſenden erhob ſich ein verhaltenes Murmeln
und ein magerer Kammerherr, ein naher Verwandter
der Verſtorbenen, flüſterte einem neben ihm ſtehenden
Engländer ins Ohr, der junge Offizier ſei ein unehe—
liches Kind der Gräfin, worauf der Engländer trocken
und kalt nur erwiderte: Oh?
Den ganzen Tag über war Hermann außergemöhn:
lich verſtimmt. Zu Mittag ſpeiſte er in einem abge—
legenen Reſtaurant und trank, da er hoffte, es würde
ihm gelingen, ſeiner inneren Aufregung Herr zu wer—
den, gegen ſeine Gewohnheit unmäßig. Aber der Wein
entzündete ſeine Einbildungskraft nur noch viel mehr.
299
Pique Dame
Nach Haufe gekommen warf er fich, ohne fich aus⸗
zuziehen, aufs Bett und ſchlief ſofort ein.
Mitten in der Nacht wachte er auf: der Mond
ſchien in ſein Zimmer. Er blickte auf die Uhr: es war
ein Viertel vor drei. Der Schlaf war ihm vergangen;
er richtete ſich im Bett auf und dachte an die Beerdi-
gung der alten Gräfin.
Da blickte plötzlich jemand von der Straße durchs
Fenſter und verſchwand. Hermann beachtete es nicht.
Darauf hörte er, wie jemand die Tür zum Vorzimmer
aufſchloß. Er dachte, es ſei der Diener, der, betrunken
wie gewöhnlich, von einem nächtlichen Ausflug heim:
kehre. Aber da vernahm er auch ſchon einen Gang,
der ihm unbekannt war: es war, als ſchlurfe jemand
in Pantoffeln. Die Tür flog auf: eine Frau, ganz
weiß gekleidet, trat ein. Hermann hielt ſie für ſeine
alte Kinderfrau und wunderte ſich, was ſie um eine
ſolche Stunde wohl hertreiben könnte? Aber die weiße
Frau glitt heran und ſtand plötzlich dicht vor ihm —
und da erſt erkannte Hermann die Gräfin!
„Gegen meinen Willen komme ich zu dir,“ ſprach ſie
mit feſter Stimme, „mir wurde befohlen, deine Bitte
zu erfüllen. Drei, Sieben und Aß gewinnen eine nach
der andern, wenn du täglich nicht mehr als eine Karte
ſetzeſt; nie wieder jedoch darfſt du ſpielen. Ich ver⸗
zeihe dir meinen Tod, wenn du mein Pflegekind
Liſaweta Iwanowna heirateſt ...“
Nach dieſen Worten drehte ſie ſich unhörbar um,
300
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Pique Dame
glitt zur Tür und verſchwand, mit den Pantoffeln
ſchlurfend. Hermann hörte noch, wie die Haustür zu—
geſchlagen wurde, und ſah noch, wie jemand durchs
Fenſter hereinſah.
Es dauerte lange, bevor er zur Beſinnung kam. Er
ging ins Nebenzimmer. Dort ſchlief ſein Diener auf
dem Fußboden; Hermann hatte Mühe, ihn aufzu—
wecken. Der Diener war betrunken wie immer, und
es war unmöglich, von ihm etwas zu erfahren. Die
Haustür war verſchloſſen. Hermann kehrte in ſein
Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und brachte das
Erlebnis zu Papier.
VI
In der geiſtigen Welt können zwei fixe Ideen nicht
nebeneinander beſtehen, genau fo, wie in der phy:
ſiſchen Welt zwei Körper nicht gleichzeitig den gleichen
Raum ausfüllen können. Das Bild der toten Alten
wurde in Hermanns Phantaſie ſehr bald von Drei,
Sieben und Aß verdrängt. Drei, Sieben und Aß, das
wich ihm nicht aus dem Kopf und nicht von den Lippen.
Sah er ein junges Mädchen, fo ſagte er: „Wie ſchlank
ſie iſt! ganz wie Coeur — Drei.“ Fragte man ihn:
„Wie ſpät iſt es?“ entgegnete er: „Fünf Minuten
vor der Sieben.“ In jedem Dickwanſt ſah er das Aß.
Noch bis in den Traum hinein verfolgten ſie ihn, die
Drei, Sieben und Aß und nahmen alle möglichen
Geſtalten an; die Drei erblühte als eine phantaſtiſche
301
Pique Dame
Wunderblume, die Sieben erinnerte an ет gotiſches
Portal, aber das Aß kam dann als eine ungeheure
Spinne. In all ſeinen Gedanken war nur das eine —
das Geheimnis ausnutzen, das ihm ſo teuer zu ſtehen
gekommen war. Er gedachte den Abſchied zu nehmen
und auf Reiſen zu gehn. In den öffentlichen Spiel⸗
klubs von Paris wollte er der verzauberten Fortung
den Schatz entreißen. Ein Zufall erſparte ihm die
Mühe.
Unter dem Vorſitz des famoſen Tſchekalinskij, der
ſein ganzes Leben mit den Karten verbracht und ſchon
Millionen erworben hatte, indem er bares Geld рег:
lor, aber Wechſel gewann, — unter ſeinem Vorſitz
alſo wurde in Moskau eine Geſellſchaft reicher Spieler
gegründet. Seine langjährigen Erfahrungen ſicherten
ihm das Vertrauen ſeiner Geſellſchafter, ſein offenes
Haus jedoch, ſein glänzender Koch und ſeine perſönliche
Liebenswürdigkeit und Luſtigkeit verſchafften ihm die
Gunſt des Publikums. Er kam nach Petersburg. Die
ganze Jugend ſtrömte ihm zu, man vergaß über den
Karten die Bälle und zog den Betörungen jeder Liebelei
die Verführungen des Pharaos vor. Und hierher
wurde Hermann von Narumow gebracht.
Sie ſchritten durch eine Reihe prächtiger Gemächer,
überall ſtanden gut geſchulte Lakaien. Die Räume waren
überfüllt. Mehrere Generäle und Geheimräte ver—
gnügten ſich am Whiſt; die Jugend ſaß auf weichen
Diwans, man rauchte ſeine Pfeife und aß Eis. Im
302
Pique Dame
Salon faß der Hausherr an einem langen Tiſch, um
den ſich einige zwanzig Spieler drängten, und hielt
die Bank. Er mochte etwa ſechzig Jahre alt ſein und
ſah ſehr würdig aus; ſilberweißes Haar bedeckte ſein
Haupt, aus ſeinem vollen und friſchen Geſicht ſprach
Gutmütigkeit, ſeine glänzenden Augen lächelten ſtets.
Narumow ſtellte ihm Hermann vor. Freundſchaftlich
drückte Tſchekalinskij ihm die Hand, bat ihn, ſich ganz
wie zu Hauſe zu fühlen, und fuhr fort, die Bank zu
halten.
Die Taille wollte nicht enden. Mehr als dreißig
Karten lagen auf dem Tiſch. Nach jedem Spiel machte
Tſchekalinskij eine kleine Pauſe, um den Spielern Zeit
zur Überlegung zu geben, er notierte die Verluſte,
hörte höflich jeden Wunſch an und entfernte noch höf—
licher eine überflüſſig umgebogene Kartenecke, die
von zerſtreuter Hand gebogen worden war. Endlich
war die Taille zu Ende. Tſchekalinskij miſchte die
Karten und machte Anſtalten, mit einer neuen zu Бе:
ginnen.
„Iſt es erlaubt, eine Karte zu ſetzen?“ fragte Her:
mann und ſtreckte die Hand hinter einem dicken Herrn,
der ebenfalls pointierte, hervor.
Tſchekalinskij lächelte nur und verbeugte ſich ſchwei⸗
gend, zum Zeichen des Einverſtändniſſes. Narumow
beglückwünſchte Hermann zur endlichen Entſcheidung
nach ſo langem Faſten und prophezeite ihm glücklichen
Beginn.
303
Pique Dame
„Einverſtanden!“ ſagte Hermann und ſchrieb mit
Kreide die Summe auf ſeine Karte.
„Wie hoch?“ fragte, die Augen zuſammenkneifend,
der Bankhalter. „Vergebung, ich kann es nicht ent⸗
ziffern.“
„Siebenundvierzigtauſend,“ antwortete Hermann.
Bei dieſen Worten fuhren im Augenblick alle Köpfe
herum und alle Augen richteten ſich auf Hermann.
„Er iſt toll!“ dachte Narumow.
„Geſtatten Sie mir die Bemerkung,“ warf Tſcheka⸗
linskij mit ſeinem unveränderten Lächeln ein. „Ihr
Spiel iſt hoch; es iſt hier noch nie höher als zwei⸗
hundertfünfundſiebzig ſimple geſetzt worden.“
„Nun, und?“ erwiderte Hermann. „Nehmen Sie
das Spiel an oder nicht?“
Tſchekalinskij verneigte ſich mit dem Ausdruck des
gleichen friedfertigen Einverſtändniſſes.
„Ich muß Sie nur noch auf eines aufmerkſam
machen,“ ſagte er, „daß, da ich das Vertrauen meiner
Geſellſchafter genieße, ich nicht anders ſpielen darf
als gegen bares Geld. Ich meinerſeits bin natürlich
vollkommen davon überzeugt, daß Ihr Wort genügt,
muß Sie aber dennoch der Ordnung des Spieles
und der Abrechnung halber erſuchen, Ihren Einſatz
auf Ihre Karte zu legen.“
Hermann nahm ein Bankbillett aus der Taſche und
gab es Tſchekalinskij, dieſer ſah es flüchtig an und legte
es dann auf Hermanns Karte.
304
Pique Dame
Die Karten fielen. Rechts neun, links drei.
„Gewonnen!“ ſagte Hermann und wies ſeine Karte
vor. Ein Gemurmel erhob ſich rings. Tſchekalinskij
runzelte die Stirn; aber gleich war fein Lächeln mie-
der da.
„Wollen Sie die Summe ausbezahlt?“ fragte er
Hermann. a
„Tun Sie mir den Gefallen.“
Tſchekalinskij entnahm ſeiner Taſche einige Bank⸗
noten und zählte die Summe ab. Hermann empfing
das Geld und verließ den Tiſch. Narumow war völlig
faſſungslos. Hermann trank ein Glas Limonade und
ging nach Hauſe. f
Am Abend des andern Tags erſchien er wieder
bei Tſchekalinskij. Der Hausherr hielt die Bank. Her⸗
mann trat an den Tiſch, man machte ihm ſofort Platz.
Tſchekalinskij begrüßte ihn liebenswürdig.
Hermann wartete auf die neue Taille, dann ſetzte
er ſeine Karte und legte ſeine ſiebenundvierzigtauſend
und den geſtrigen Gewinn darauf.
Tſchekalinskij gab aus. Rechts fiel ein Bube, die
Sieben — links.
Hermann zeigte eine Sieben.
Ein Ausruf rings. Tſchekalinskij war ſichtlich ver⸗
ſtört. Er zählte vierundneunzigtauſend ab und über:
gab ſie Hermann. Kaltblütig nahm Hermann das
Geld entgegen und ging ſofort weg.
Und am folgenden Abend erſchien Hermann wieder.
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305
Pique Dame
Alles erwartete ihn; die Generäle und die Geheimräte
verließen fogar ihren Whiſt, um ein fo ungemwöhn:
liches Spiel mitanzuſehen. Die jungen Offiziere ſpran⸗
gen von ihren Diwans, ja, ſelbſt die Lakaien drängten
ſich in den Salon. Alles ſcharte ſich um Hermann.
Die übrigen Spieler ließen ihre Karten und waren
voll Ungeduld, wie das enden würde. Hermann ſtand
am Tiſch und traf Anſtalt, ganz allein gegen den
bleichgewordenen Tſchekalinskij zu pointieren. Jeder
von beiden öffnete ein Spiel neuer Karten. Tſcheka⸗
linskij miſchte. Hermann hob ab und ſetzte dann ſeine
Karte, die von einem Berg von Banknoten bedeckt
wurde. Es war faſt wie ein Zweikampf. Tiefes Schwei⸗
gen war ringsum.
Tſchekalinskijs Hände zitterten, als er ausſpielte.
Rechts lag die Dame, links — das Aß.
„Aß hat gewonnen!“ ſagte Hermann und wies
ſeine Karte.
„Ihre Dame hat verloren,“ entgegnete ihm Tſcheka⸗
linskij.
Hermann erſchauerte: und tatſächlich, er hielt an
Stelle eines Aſſes in ſeiner Hand die Pique Dame. Er
wollte ſeinen Augen nicht trauen, er konnte nicht be⸗
greifen, wie es möglich geweſen war, daß er ſo fehl⸗
greifen konnte.
Plötzlich war ihm, als hätte die Pique Dame ihm
zugezwinkert und gelächelt. Die ungewöhnliche Ahn⸗
lichkeit kam ihm zum Bewußtſein .
306
Pique Dame
„Die Alte!“ ſchrie er entſetzt.
Ts chekalinskij ſtrich den Gewinn ein. Hermann ſtand
regungslos. Als er den Tiſch verließ, wurde das Ge⸗
ſpräch laut. „Vortrefflich geſpielt!“ meinten die Spie⸗
ler. Tſchekalinskij miſchte von neuem: das Spiel nahm
ſeinen Lauf.
Zum Beſchluß
Hermann wurde geiſtesgeſtört. Er wurde im Obu⸗
chowſchen Krankenhaus, Nummer ſiebzehn, unter⸗
gebracht; er antwortet auf keine Frage, aber unauf:
hörlich murmelt er ungewöhnlich ſchnell vor ſich hin:
„Drei, Sieben, Aß! Drei, Sieben, Dame! ...“
Liſaweta IJwanowna hat einen ſehr angenehmen
jungen Mann geheiratet; er iſt irgendwo in Staats—
dienſten und beſitzt ein hübfches Vermögen: er ift der
Sohn eines ehemaligen Angeſtellten der alten Gräfin,
eines Verwalters. Liſaweta Iwanowna hat eine arme
Verwandte als Pflegekind in ihr Haus genommen.
Und Tomskij avancierte zum Rittmeiſter und hat
ſich mit der Fürſtin Pauline verheiratet.
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Graf Alexej N. Tolſtoi
Höllenfahrt
Roman. Deutſch von Alexander Eliasberg
Mit Einband zeichnung von E. Preetorius
In Halbleinen M 6.—, in Halbleder IN 8.—
„Höllenfahrt“ iſt der Roman des Niedergangs des ruſſiſchen Reiches,
die erſte und bedeutende dichteriſche Geſtaltung des tragiſchen welt⸗
geſchichtlichen Stoffes, und der Roman des Niedergangs, der Dekadenz
überhaupt, daher von übergeſchichtlichem Wert. Mannheimer Tag⸗
blatt. — „Dieſes Werk des jüngeren Tolſtoi muß als einer der groß⸗
zügigſten, eindrucksvollen Verſuche gewertet werden, Weltgeſchichte im
Brennſpiegel tiefften künſtleriſchen Erlebens und Geſtaltens einzufangen
und in blendender Leuchtkraft hinaus ins Weite zu werfen ... Dieſe
Bilder von der trügeriſch ſchillernden Kultur der ruſſiſchen Intelligenz
zeigen eine Meiſterſchaft, die ihresgleichen ſucht.“ Dresdener Nach⸗
richten. — „Es tritt uns in der feurigen und ſtrengen Daſcha mit
dem ſtolzen kindlichen Mund ein moderner Frauentypus entgegen, wie
wir ihn ſo in der ruſſiſchen Literatur nicht angetroffen haben. Daſcha,
von einer vibrierenden Raſchheit des Empfindens, greift nach dem Apfel,
ſie kämpft um ſich mit dem Verſucher, ſie fordert ihn heraus und horcht
ſchaudernd auf das Kreatürliche in ſich hinab. Es iſt eine ſchöpferiſche
Empfindung, an welcher ſie zu ſich ſelber erwacht. Sie iſt an Kummer
und Ekel reif geworden und auch tief beruhigt: es kann ihr nichts ge⸗
ſchehen. Sie faltet ſich noch einmal wie die kaum verletzte Blume zu⸗
ſammen, um ſich dann ſtrahlend feierlich wieder zu öffnen zu einem
Triumphgeſang auf die rechtmäßige Liebe. Dieſe Daſcha vergeſſen wir
Tolſtoi nicht.“ Martha Charlotte Nagel (Berliner Börſenzeitung).
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München
9 $
Ruſſiſche Literaturgeſchichte
von Alexander Eliasberg
Mit 16 Bildniſſen
Gebunden M 6.—
„Das Bedürfnis nach einer gemeinverſtändlichen Darſtellung der ruſ⸗
ſiſchen Literatur war groß und wird nun durch Eliasberg in einer
Weiſe erfüllt, für die er wohl Dank verdient. Seine Darſtellung iſt
ſehr lebendig, kurz und gediegen, geht überall aufs Lebendige, gibt ſich
nicht mit Kleinigkeiten ab und zeigt die großen Linien und die Höhe⸗
punkte dafür um ſo kräftiger. Eine ernſthafte, gründliche Kenntnis der
ruſſiſchen Dichtung und Sprache liegt zugrunde, und fein perſönliches,
lebendiges Verhältnis zu ihr. Überall zeigt Eliasberg nicht nur Kenner⸗
ſchaft und Streben nach gerechtem Urteil, ſondern auch Liebe und Hin⸗
gabe für ſeinen Stoff, der freilich einer der wunderbarſten iſt, über
die man nur ſchreiben kann. Denn was gäbe es in unſerer geiſtigen
Welt Schöneres, Lebendigeres, Mächtigeres als die ruſſiſche Dichtung
ſeit hundert Jahren!“ Hermann Heſſe. — „In ſeiner großen Fähig⸗
keit der Zuſammenfaſſung hat Eliasberg nur die weſentlichen Er⸗
ſcheinungen, die prominenten Figuren in ſcharfen Charakteriſtiken neben⸗
einander geſtellt: alles, was nur mitfördernd zwiſchen den Gewaltigen
gewirkt hat, deutet er bloß mit kurzen Strichen, ſo daß wir niemals
eine langweilige Literaturhiſtorie haben, ſondern lebendige Lebensbilder,
die auf das glücklichſte von ausgezeichneten Porträts der größten ruſ⸗
ſichen Maler begleitet ſind. Zum allererſten Male kann ſich der Deutſche
hier ein klares Bild der geiſtigen Aufeinanderfolge in der ruſſiſchen
Literatur machen und auch dem Vertrauten wird die ausgezeichnete
Analyſe, die bibliographiſchen Tabellen von ungemeinem Vorteil ſein.“
Stefan Zweig (Wiener Neue Freie Preſſe).
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München
2
Oſtliches Chriſtentum
Dokumente
Herausgegeben mit N. v. Bubnoff von Hans Ehrenberg
I. Politik
Geheftet M 4.50, gebunden M 7.—
Inhalt: Tſchaadajew, Philoſophiſche Briefe / Akſakow,
Memorandum an Alexander II. Auffäge aus: Das Gericht / Chom-
jakow, Ausgewählte theologiſche Schriften: Einige Worte eines
orthodoxen Chriſten. Zwei Briefe an Akſakow: Leiden und Gebet;
Gebet und Wunder / Sektiererfragmente: Fragmente aus der Hand-
ſchrift „Der Spiegel für den inneren Menſchen“; Auszug aus der
Heiligen Schrift über den Antichrift (Peter der Große) / Leontjew,
Tempel und Kirche. Die Nationalpolitik als Werkzeug der Welt⸗
revolution Solowje w, Jjdiſche und chriſtliche Theokratie /
Nachwort des Herausgebers: Die Europäiſierung Rußlands.
„Ehrenberg will ein geſchloſſenes Bild von dem öſtlichen Chriſtentum
vermitteln und zwar aus den Dokumenten des chriſtlichen Oſtens unter
Beſchränkung auf die ruſſiſchen Dokumente, von denen die meiſten erſt⸗
malig in deutſcher Sprache und zwar in einer außerordentlich an⸗
ſprechenden Überſetzung erſcheinen ... Nicht nur die lebendige Form,
natürliche Sprache, Friſche der geiſtigen Schauung reißt uns beim
Leſen dieſer Dokumente hin, ſondern die energiſche Betonung ihres
Chriſtentums ſtellt uns vor die Frage, ob nicht Europa nur durch das
Chriſtentum und zwar durch das um das öſtliche Chriſtentum ver⸗
größerte und wieder hergeſtellte Chriſtentum gerettet werden kann.“
Prof. D. Grütz macher (Theologie der Gegenwart).
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München
3
Rußland
in dichteriſchen Dokumenten
Herausgegeben von
A. Eliasberg und J. v. Guenther
Einband zeichnung von Benno Eggert. In drei Bänden.
Band I: Rußland, wie es ward. 335 Seiten mit 8 Bildern.
Geb. M 8.—. Band II: Rußland, wie es ſich darſtellt.
376 Seiten mit 8 Bildern. Geb. M 8.—. Band III: Ruß⸗
land, wie es fühlt. 420 Seiten mit 8 Bildern. Geb. Mg —.
Bd. I-III in ſchöner Kaſſette M 25.—. Soeben erſchienen
In dieſem dreibändigen Werke unternehmen es die beiden vorzüglichſten
Kenner und Überſetzer ruſſiſcher Literatur nach ſachkundiger Auswahl
und Zuſammenſtellung der ſtoffreichſten, charakteriſtiſchſten und farbigſten
Stücke der erzählenden Literatur Rußlands ein umfaſſendes und ebenſo
getreues, wie lebendiges Kulturbild zu komponieren. Der erſte Band zeigt
uns feſſelnde Bilder aus der Geſchichte Rußlands, der zweite führt uns
in das ruſſiſche Privatleben ein und der dritte erſchließt dem Leſer das
Innerſte des Ruſſen, ſein religidjes Leben. Beſtimmend für die Auf-
nahme der einzelnen Geſchichten war deren kulturgeſchichtlicher Gehalt.
Gleichwohl ergibt ſich, da ſelbſtverſtändlich nur die bedeutenden echten
Schriftſteller ihres Landes in Betracht kamen, ein nahezu umſpannendes
und äußerſt reichhaltiges Bild der ruſſiſchen Literatur. Es iſt ein über⸗
aus fruchtbarer Gedanke, mit Hilfe der Erzähler die mannigfaltigen
Lebensformen des heiligen Rußland uns anſchaulich nahekommenzu laſſen.
Nicht bloß ein Schmuck, ſondern ein weſentliches Mittel zur weiteren
Verlebendigung des Gebotenen ſind die den drei Bänden beigegebenen
24 Illuſtrationen. Sie zeigen Porträts von Zaren, Miniſtern, hervor⸗
ragenden Perſönlichkeiten Rußlands und Szenen aus dem intimen Leben
der Familie und des Privatlebens. Auch das religiöſe Leben der Ruſſen
mit ſeinen Prieſtern, Prozeſſionen, Kulten wird im Bilde dargeſtellt.
Das illuſtrative Material iſt hervorragenden ruſſiſchen, zeitgenöſſiſchen
Malern entnommen. |
C. H. Зе [фе Verlagsbuchhandlung München
C. H. Beckſche Buchdruckerei in Nördlingen
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Novellen. Deutsch von Johannes v. Guenther.
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