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Full text of "Novellen"

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Alexander Puſchkin 


Novellen 


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Novellen 


Deutſch von Johannes v. Guenther 


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München 
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung 
Dskar Beck 


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Thomas Mann 
dem tiefen Kenner ruſſiſcher Dichtung 
in Dankbarkeit und Bewunderung 


gewidmet vom Überfeger 


Inhalt 


Die Erzählungen Bjelkins. 1 


110 
Der Schneeſtum .. 33 
Der Sargmacher 56 
Der Pofthalter .. .. 70 


Das Fräulein als Bäuerin 93 
Dubromslij .. .. 129 
Pique Dame .... ... 261 


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Bom Herausgeber 


. wir die Herausgabe der Erzählungen J. P. 
Bjelkins auf uns nahmen, die hier dem Publikum рог: 
gelegt werden, hegten wir gleichzeitig den Wunſch, 
eine wenn auch nur kurze Lebensbeſchreibung des 
verſtorbenen Verfaſſers beifügen zu können, um 
hiermit die gerechte Neugier der Liebhaber unſerer 
ruſſiſchen Schriftkunſt zu befriedigen. Wir wandten 
uns zu dieſem Zwecke an Marja Alexejewna Trafi— 
lina, die nächſte Anverwandte und Erbin Iwan Petro⸗ 
witſch Bjelkins; allein zu ihrem Bedauern war es ihr 
unmöglich, uns Nachrichten von ihm zu übermitteln, 
da der Verſtorbene ihr völlig fremd geblieben war. 
Sie riet uns aber, uns in dieſer Angelegenheit an 
einen ehrenwerten Herrn zu wenden, der mit Iwan 
Petrowitſch in freundſchaftlichen Beziehungen ge— 
ſtanden hatte. Wir befolgten dieſen Rat und erhielten 
auf unſer Schreiben die gewünſchte unten folgende 
Antwort. Wir drucken ſie hier ohne die geringſte Ver⸗ 
änderung und ohne Anmerkungen ab, als ein koſt— 
bares Denkmal edler Geſinnung und rührender Freund— 
ſchaft, gleichzeitig aber auch als eine durchaus befriedi⸗ 


gende biographiſche Nachricht. 


Mein ſehr geehrter Herr 
Ihr verehrliches Schreiben vom 15. dieſes Monats 
hatte ich die Ehre am 23. dieſes Monats zu erhalten, 


3 


Die Erzählungen Bjelkins 


darin Sie den Wunſch äußern, von mir genaue 
Nachrichten über den Geburts- und Todestag, als 
auch über die Dienſtzeit, die häuslichen Umſtände, die 
Beſchäftigungen und den Charakter des verſtorbenen 
Iwan Petrowitſch Bjelkin, meines aufrichtigen Freun⸗ 
des und Gutsnachbarn, zu erhalten. Mit großer Ge⸗ 
nugtuung komme ich dieſem Ihren Verlangen nach 
und übermittele Ihnen, mein ſehr geehrter Herr, bei- 
folgend alles, was ich aus Geſprächen mit ihm ent⸗ 
nommen und aus eigenen Beobachtungen geſchöpft 
habe. 5 

Iwan Petrowitſch Bjelkin wurde als Sohn acht⸗ 
barer und edler Eltern im Jahre 1798 auf dem Gute 
Gorochino geboren. Sein verſtorbener Vater, der Ge: 
kundmajor Pjotr Iwanowitſch Bjelkin, verehelichte 
ſich mit der Jungfrau Pelageja Gawrilowna aus dem 


Hauſe Trafilin. Er war nicht wohlhabend, aber mäßig 


und in allen wirtſchaftlichen Dingen ſehr bewandert. 
Der Sohn erhielt den erſten Unterricht vom Dorf— 
küſter. Dieſem verehrungswürdigen Manne verdankt 
er offenbar ſeine Luſt am Leſen und an der Beſchäf— 
tigung mit der ruſſiſchen Schriftkunde. Im Jahre 
1815 trat er in ein Infanterie-Jägerregiment (an die 
Nummer kann ich mich nicht mehr erinnern) und ег: 
blieb in dieſem bis zum Jahre 1823. Der faſt gleich⸗ 
zeitig erfolgende Tod ſeiner beiden Eltern nötigte ihn, 
den Abſchied zu nehmen und ſich auf dem Gut Goro— 
chino, ſeiner Geburtsſtätte, niederzulaſſen. 


4 


Bom Serausgeber 


Als Iwan Petrowitſch die Verwaltung des Gutes 
übernahm, brachte er die wirtſchaftlichen Verhältniſſe 
infolge der ihm mangelnden Kenntniſſe und ſeiner 
Weichherzigkeit bald herunter und vernachläſſigte die 
ſtrenge Ordnung, die ſein verſtorbener Vater ein— 
geführt hatte. Er ſetzte den zuverläſſigen und де: 
ſchickten Dorfälteſten ab, da die Bauern (wie das ſo 
ihre Gewohnheit iſt) mit dieſem unzufrieden waren, und 
ließ das Dorf von ſeiner alten Beſchließerin verwalten, 
die durch ihre Kunſt, Geſchichten zu erzählen, ſein 
volles Vertrauen gewonnen hatte. Dieſe törichte Alte 
war nicht einmal imſtande, einen Fünfundzwanzig— 
Rubelſchein von einem Fünfzig⸗Rubelſchein zu unter⸗ 
ſcheiden; die Bauern, zu deren jedem ſie in gevatter— 
lichen Beziehungen ſtand, hatten nicht den geringſten 
Reſpekt vor ihr; der Alteſte aber, den ſie ſich erwählt 
hatten, war ſo nachſichtig gegen ſie und gleichzeitig ſo 
betrügeriſch, daß Iwan Petrowitſch ſich bald ge— 
zwungen ſah, den Frondienſt aufzuheben und den 
Bauern ſehr mäßige Abgaben aufzuerlegen; aber auch 
hier verſtanden es die Bauern, im erſten Jahre eine 
ſehr willkürliche Milderung herbeizuführen zund zahlten 
in den folgenden mehr als zwei Drittel der Abgabe in 
Nüſſen, Preiſelbeeren und ähnlichem; und ſelbſt hier— 
bei gab es noch beträchtliche Rückſtände. 

Da ich ein Freund von Iwan Petrowitſchs ver— 
ſtorbenem Vater war, hielt ich es für meine Pflicht, 
auch dem Sohn mit meinem Rat beizuſtehen, und bot 


5 


Die Erzählungen Bjelkins 


mich mehrfach an, die vormaligen, nunmehr in Un⸗ 
ordnung geratenen Zuſtände wiederherzuſtellen. Eines 
Tages beſuchte ich ihn zu dieſem Zweck und ließ mir 
die Haushaltungsbücher vorlegen, wobei ich gleich— 
zeitig den betrügeriſchen Alteſten kommen ließ, und 
begann in Iwan Petrowitſchs Anweſenheit die Bücher 
durchzuſehen. Der junge Hausherr wohnte anfangs 
mit großer Aufmerkſamkeit und vielem Eifer der Unter⸗ 
ſuchung bei; als ſich aber dann nach den Berechnungen 
herausſtellte, daß in den letzten zwei Jahren die Zahl 
der Bauern ſich vergrößert, die Zahl des Geflügels 
jedoch und des Viehs wie mit einer gewiſſen Abſicht 
ſich verringert hatten, war Iwan Petrowitſch von der 
erſten Mitteilung bereits ſcheinbar voll und ganz Бе: 
friedigt und hörte mir gar nicht erſt weiter zu, denn im 
gleichen Augenblick, als ich durch mein Nachforſchen 


und das ſtrenge Verhör den betrügeriſchen Alteſten 


in äußerſte Verwirrung und zu völligem Schweigen 
gebracht hatte, mußte ich zu meinem gewaltigen Arger 
wahrnehmen, daß Iwan Petrowitſch auf ſeinem Stuhl 
ſitzend kräftig ſchnarchte. Seit jener Zeit unterließ ich es, 
mich jemals wieder um feine Haushaltungsangelegen⸗ 
heiten zu kümmern, und überantwortete ſeine Sache 
(wie er ſelber es tat) dem Willen des Höchſten. 
Dieſer Umſtand beeinträchtigte unſere freundſchaft— 
lichen Beziehungen nicht im mindeſten; denn trotzdem 
ich die Schwäche und die verderbliche Fahrläſſigkeit 
Iwan pPetrowitſchs, die eine Eigenſchaft unſeres ganzen 


6 


Vom Herausgeber 


jungen Adels iſt, ſehr bedauerte, hatte ich ihn dennoch 
aufrichtig gern; es wäre auch unmöglich geweſen, 
einen fo ſanften und ehrlichen Menſchen nicht lieb zu 
haben. Seinerſeits reſpektierte Iwan Petrowitſch meine 
Jahre und zeigte eine herzliche Neigung zu mir. Er 
ſuchte mich faſt jeden Tag bis zu ſeinem Verſcheiden 
auf und ſchätzte die einfache Unterhaltung mit mir, 
gingen wir auch in unſeren Gewohnheiten, unſerer 
Denkart und unſeren Sitten in den meiſten Fällen weit 
auseinander. 

Iwan Petrowitſch führte das allergeordnetſte Leben 
und vermied jedes Übermaß ; ich habe ihn niemals an⸗ 
geheitert geſehen (was man in unſerem Lande als ein 
unerhörtes Wunder betrachten kann); er hatte für das 
andere Geſchlecht eine große Neigung, doch war er 
dabei von einer Гай mädchenhaften Schamhaftigkeit. 1 

Außer den Erzählungen, von denen Sie in Ihrem 
gefälligen Schreiben ſprechen, hat Iwan Petrowitſch 
noch eine Menge von Handſchriften hinterlaſſen, die 
ſich zum Teil in meinem Beſitz befinden, zum Teil von 
ſeiner Beſchließerin für allerlei Haushaltungsdinge 
verwendet worden ſind. So hat ſie zum Beiſpiel im 
vergangenen Winter die Fenſterrahmen in ihrem 
Flügel mit dem erſten Teil eines Romanes verklebt, 


1 Hier folgt eine Anekdote, die wir nicht einrücken, da wir ſie 
für überflüſſig halten, doch beeilen wir uns, den Leſer zu benach- 
richtigen, daß in ihr nichts enthalten №, was das Andenken Jwan 
Petrowitſch Bjelkins irgendwie zu ſchmälern geeignet wäre. (An⸗ 
merkung des Verfaſſers.) 


Die Erzählungen Bjelkins 


den er nicht zu Ende geführt hat. Die oben erwähnten 
Erzählungen waren, wie mir ſcheint, ſeine erſten Ver— 
ſuche. Sie ſind, wie Iwan Petrowitſch zu ſagen pflegte, 
größtenteils wahrheitsgemäß und nach Berichten ver⸗ 
ſchiedener Perſonen aufgezeichnet.! Freilich ſind alle 
Namen in den Erzählungen immer von ihm felber er: 
funden, die Namen der Dörfer und Güter ſtammen 
dagegen aus unſerer Gegend, wieſo es denn auch 
kommt, daß an einer Stelle ſogar mein Gut erwähntiſt. 

Im Herbſt des Jahres 1828 zeigten ſich bei Iwan 
Petrowitſch Erkältungserſcheinungen, die in ein hitziges 
Fieber übergingen, an dem er ſchließlich ſtarb, trotz 
aller unermüdlichen Bemühungen unſeres Kreisarztes, 
eines, zumal in der Heilung eingewurzelter Krank— 
heiten, wie zum Beiſpiel Hühneraugen und dergleichen, 
ſehr geſchickten Mannes. Er war dreißig Jahre alt 
geworden, als er in meinen Armen ſtarb, ſeine Ruhe⸗ 
ſtätte fand er in der Dorfkirche von Gorochino neben 
ſeinen verſtorbenen Eltern. 

Iwan Petrowitſch war mittelgroß, ſeine Augen⸗ 
farbe war grau, die Haare blond, die Naſe gerade; 
ſein Antlitz war blaß und hager. 


1 In der Tat НЕ in den Handſchriften des Herrn Belkin unter 
jeder Erzählung eine Notiz von der Hand des Verfaſſers: Ver⸗ 
nommen von der und der Perſon (folgen Titel oder Rang und die 
Initialen des Namens). Wir laſſen fie hier folgen, um die Neugier 
von Intereſſierten zu befriedigen; Der Poſthalter wurde erzählt von 
dem Titularrat A. P. N., der Schuß vom Oberſtleutnant J. P. L., 
der Sargmacher vom Kommiß B. W., der Schneeſturm und das 
Fräulein vom Fräulein K. J. T. (Anmerkung der Verfaſſers.) 


8 


Vom Herausgeber 


Das, mein ſehr geehrter Herr, iſt alles, was ich 
von der Lebensart, den Beſchäftigungen, den Sitten 
und dem Äußeren meines verflorbenen Nachbarn und 
Freundes weiß. Für den Fall, daß Sie es für richtig 
befinden ſollten, meinen Brief in irgendeiner Form zu 
benutzen, bitte ich Sie allerergebenſt, meinen Namen 
unter keinen Umſtänden erwähnen zu wollen, denn, 
wenn ich auch den Stand der Schriftſteller außer: 
ordentlich achte und reſpektiere, halte ich es doch für 
überflüſſig, mir dieſen Titel anzueignen, und ſogar für 
unziemlich in meinen Jahren. 

Ich verbleibe mit aufrichtiger Eigebenheie uſw. 

Den 16. November 1830, Gut Nenaradowo. 


# 


Wir halten es für unfere Pflicht, den Willen des 
verehrten Freundes unſeres Verfaſſers zu reſpektieren, 
ſprechen ihm jedoch gleichzeitig unſeren tiefſten Dank 
für die uns übermittelten Nachrichten aus, und hoffen, 
daß das Publikum ihre Aufrichtigkeit und ſchöne Ge: 
ſinnung zu ſchätzen wiſſen wird. 

A. P. 


Der Schuß 


Wir ſchoſſen uns. 
Baratynskij 


Ich ſchwor, ihn nach den Geſetzen 
des Duells niederzuſchießen (ich 
bin ihm noch einen Schuß ſchuldig 
geblieben). 

Ein Abend im Biwak 


1 


Wir lagen in der Ortſchaft ?“. Ein jeder kennt 
das Leben eines Armeeoffiziers. Am Vormittag exer⸗ 
zieren und auf die Manege; zum Mittag beim Re: 
gimentskommandanten oder in der jüdiſchen Kneipe; 
abends Punſch und Karten. In ®®® gab es kein ет: 
ziges gaſtfreies Haus, ja nicht einmal ein einziges 
Mädchen, das man hätte verehren können; ſo ver— 
ſammelten wir uns denn immer einer beim andern und 
bekamen nie etwas anderes zu Geſicht außer unſeren 
Uniformen. | 
Lediglich ein einziger Menſch, der kein Militär war, 
gehörte zu unſerer Geſellſchaft. Er mochte fünfund- 
dreißig Jahre alt ſein, und wir zählten ihn aus dieſem 
Grunde bereits zu den Greiſen. Seine Erfahrung gab 
ihm vor uns mancherlei Vorzüge; und ſowohl ſeine 
gewöhnliche finſtere Verſchloſſenheit, als auch ſeine 
ſchroffe Art und ſeine böſe Zunge übten auf unſere 
jungen Köpfe einen gewaltigen Einfluß aus. Etwas 
Rätſelhaftes lag in feinem Schickſal; er ſchien zwar 


10 


Der Schu ß | 


ein Ruſſe zu fein, doch klang fein Name ausländiſch. 
Er hatte in früherer Zeit bei den Huſaren gedient und 
ſogar Erfolg gehabt; doch kannte keiner die Urſache, 
die ihn bewogen hatte, ſeinen Abſchied zu nehmen und 
ſich in dieſer armen Ortſchaft niederzulaſſen, in der er 
ein gleichzeitig armſeliges und verſchwenderiſches Da⸗ 
ſein führte: man ſah ihn nie anders als zu Fuß in 
einem längſt abgetragenen ſchwarzen Leibrock, und деп: 
noch war ſein Tiſch ſtets für alle Offiziere unſeres 
Regimentes gedeckt. Beſtand auch das Mittageſſen 
тей nur aus zwei oder drei Gängen, die ein verab— 
ſchiedeter Soldat zubereitete, ſo floß doch der Cham⸗ 
pagner dazu in Strömen. Niemand wußte Beſcheid 
über ſein Vermögen oder über ſeine Einkünfte und 
kein einziger hätte je gewagt, ihn danach zu fragen. 
Er beſaß mehrere Bücher, die zum größten Teil mili⸗ 
täriſchen Inhaltes waren, freilich waren auch Romane 
darunter. Er lieh ſie gern aus, wenn man ſie leſen 
wollte, und verlangte ſie nie zurück; dafür jedoch gab 
auch er niemals ein Buch zurück, das er entliehen 
hatte. Seine Hauptbeſchäftigung beſtand im Piſtolen— 
ſchießen. Die Wände ſeines Zimmers waren mit 

Kugeln geradezu beſpickt und voller Löcher, ſo daß 
ſie Honigwaben ähnlich ſahen. Der einzige Luxus in 
der ärmlichen Behauſung, in der er lebte, war eine 
reiche Piſtolenſammlung. Die Fertigkeit, die er erreicht 
hatte, war ſo außergewöhnlich, daß, wenn er ſich hätte 
anſchicken wollen, mit der Kugel eine Birne von der 


11 


Die Erzählungen Bjelkins 


Mütze eines von uns herabzuſchießen, keiner aus un⸗ 
ſerem Regiment auch nur einen Augenblick gezaudert 
hätte, ihm den eigenen Kopf darzubieten. Unſere Ge— 
ſpräche berührten häufig das Thema der Zweikämpfe; 
allein Sylvio (ſo will ich ihn nennen) beteiligte ſich 
niemals an ſolchen Unterhaltungen. Fragte man ihn, 
ob er ſich jemals duelliert habe, dann pflegte er trocken 
zu antworten, er habe ſich duelliert, aber er vermied 
dabei, auf Einzelheiten einzugehen, und es war nur 
zu offenſichtlich, daß ſolche Fragen ihm unangenehm 
waren. Wir nahmen darum an, daß irgendein un⸗ 
ſeliges Opfer ſeiner furchtbaren Geſchicklichkeit ſein 
Gewiſſen belaſte. Übrigens wollte es keinem von uns 
jemals in den Kopf, in ihm etwas, das vielleicht nach 
Feigheit ausſehen mochte, auch nur zu vermuten. Es 
gibt Menſchen, deren Äußeres allein bereits jeden 
ſolchen Verdacht widerlegt. Ein unerwarteter Vorfall 
ſetzte uns darum alle in Erſtaunen. 

Einmal ſpeiſten wir Offiziere bei Sylvio, zehn 
Köpfe hoch. Wir tranken wie immer, das heißt mit 
anderen Worten, wie immer ſehr viel; nach dem Eſſen 
überredeten wir den Hausherrn, die Bank zu halten. 
Er lehnte es anfangs beharrlich ab, denn er ſpielte 
faſt nie; ſchließlich jedoch befahl er, Karten herbei⸗ 
zubringen, warf ein halbes Hundert Goldſtücke auf 
den Tiſch und nahm Platz. Wir ſcharten uns um ihn, 
und das Spiel begann. Es war Sylvios Gewohn⸗ 
heit, beim Spiel völliges Schweigen zu beobachten, 


12 


Der Schu ß 


er ſtritt nie und ließ ſich auch niemals auf irgendwelche 
Erklärungen ein. Wenn einer der Spieler ſich ver: 
rechnet hatte, ſo zahlte er entweder ſogleich den Reſt 
aus, oder er ſchrieb die Differenz auf. Das kannten 
wir bereits und darum hinderte ihn keiner von uns je, 
auf ſeine Art zu ſchalten; dieſes Mal doch befand ſich 
ein Offizier in unſerer Mitte, der erſt vor kurzem zu 
uns verſetzt worden war. Er ſpielte gleichfalls und 
bog aus Zerſtreutheit bei einer Karte eine Ecke zu viel 
um. Sylvio nahm die Kreide und glich nach ſeiner 
Gewohnheit die Rechnung aus. Da der Offizier dachte, 
daß jener ſich geirrt hätte, wollte er ſich auf eine Aus⸗ 
einanderſetzung einlaſſen. Stumm jedoch fuhr Sylvio 
fort, die Bank zu halten. Der Offizier verlor die Ge⸗ 
duld, ergriff eine Bürſte und wiſchte das, was ihm 
als überflüſſig vorkam, fort. Sylvio dagegen nahm 
aufs neue die Kreide und ſchrieb es wieder auf. Da 
der Offizier, erhitzt vom Wein, vom Spiel und vom 
Gelächter der Kameraden, ſich hierdurch bitter be— 
leidigt empfand, packte er im Zorn einen auf dem Tiſch 
ſtehenden kupfernen Leuchter und warf ihn ſo heftig 
auf Sylvio, daß dieſer kaum imſtande war, dem 
Schlag auszuweichen. Wir alle waren beſtürzt. Sylvio 
erhob ſich, bleich vor Zorn, und ſprach mit funkeln— 
den Augen: „Mein Herr, haben Sie die Güte, uns 
zu perlaſſen und danken Sie Gott, daß dies in meinem 
Hauſe geſchehen iſt.“ 


Wir waren nicht einen Augenblick im Zweifel, was 


13 


Die Erzählungen Bjelkins 


jetzt geſchehen würde, und ſahen unſeren neuen Kame— 
raden bereits für tot an. Der Offizier verließ das 
Haus, indem er hinzufügte, daß er bereit wäre, für 
die Beleidigung jede Genugtuung, die dem Herrn 
Bankhalter erwünſcht wäre, zu geben. Das Spiel 
wurde nur noch einige Minuten fortgeſetzt: da wir 
nur zu gut fühlten, daß dem Hausherrn der Sinn 
jetzt nicht danach ſtand, gab einer nach dem andern 
die Sache auf, und ſo gingen wir denn bald darauf 
heim, indem wir uns über die neue Vakanz unterhielten. 

Als wir uns am nächſten Tage in der Manege ver— 
ſammelten, wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob 
wohl der neue Leutnant noch am Leben ſei, doch da 
trat er auch ſchon ſelber in unſere Mitte; wir richteten 
mithin die gleiche Frage an ihn. Er entgegnete, daß 
er von Sylvio noch nicht die geringſte Nachricht er: 
halten hätte. Wir wunderten uns darüber. Wir gingen 
bald darauf zu Sylvio und fanden ihn auf ſeinem 
Hof damit beſchäftigt, eine Kugel nach der andern in 
ein Aß zu ſchießen, das er ans Tor geklebt hatte. Er 
empfing uns wie gewöhnlich, doch fiel kein Wort über 
den geſtrigen Vorfall. Auf dieſe Weiſe vergingen drei 
Tage, und der Leutnant war immer noch am Leben. 
Erſtaunt fragten wir uns, ob es möglich ſei, daß 
Sylvio ſich nicht duellieren wolle? Und freilich duel⸗ 
lierte ſich Sylvio nicht. Er begnügte ſich mit einer ge⸗ 
ringen Erklärung und ſchloß Frieden. 

Diefer Umſtand ſchadete ihm anfangs bei uns jungen 


14 


Der Schu ß 


Leuten ſehr. Junge Leute, die gewöhnlich in der Tapfer— 
keit den Gipfel der menſchlichen Tugenden und die 
Entſchuldigung für alle nur erdenklichen Laſter finden, 
verzeihen am wenigſten einen Mangel an Verwegen— 
heit. Nach und nach aber geriet auch dieſes in Ver— 
geſſenheit, und Sylvio gewann ſeinen früheren Ein— 
fluß zurück. 

Einzig ich konnte nicht mehr die früheren Beziehungen 
zu ihm gewinnen. Da ich von Hauſe aus über eine 
romantiſche Einbildungskraft verfügte, hatte ich mich 
an dieſen Menſchen noch näher als die andern an— 
geſchloſſen, denn ſein Leben war rätſelhaft und er 
kam mir wie der Held einer geheimnisvollen Geſchichte 
vor. Er hatte mich ſehr gern; zum mindeſten ließ er 
einzig vor mir ſeine gewohnheitsmäßig beißende Bos⸗ 
heit fahren und wußte auch von anderen Dingen ſehr 
einfach und ungewöhnlich angenehm zu reden. Nach 
dem unglückſeligen Abend aber wollte der Gedanke, 
daß ſeine Ehre befleckt und trotzdem nicht durch eigenen 
Antrieb reingewaſchen worden ſei, dieſer Gedanke 
wollte mir nicht aus dem Kopf und hinderte mich daran, 
mit ihm ſo zu ſein, wie ich vormals geweſen war; ja, 
mir war es jetzt ſogar läſtig, ihn anzuſchauen. Sylvio 
hingegen war viel zu klug und zu erfahren, um das 
bemerkend, nicht auch ſogleich den Grund zu erraten. 
Es ſchien ihn ſogar zu bekümmern, zum mindeſten 
bemerkte ich zweimal den Wunſch bei ihm, mit mir 
darüber zu ſprechen; da ich jedoch eine jede ſolche 


15 


Die Erzählungen Bjelkins 


Möglichkeit vermied, ließ Sylvio ſchließlich von mir 
ab. Seit jener Zeit ſah ich ihn nur noch, wenn wir 
im Kreiſe meiner Kameraden waren, und unſere 
vormaligen offenherzigen Unterredungen hatten ein 
Ende. 

Die ewig abgelenkten Bewohner der Hauptſtadt 
können ſich keinen Begriff von mancherlei Empfin⸗ 
dungen machen, die den Bewohnern der Dörfer oder 
kleinen Städtchen nur zu gut bekannt ſind, wie zum 
Beiſpiel das Warten auf den Poſttag: am Dienstag 
und am Freitag war unſere Regimentskanzlei immer 
voll von Offizieren; der eine erwartete Geld, jener 
Briefe, ein dritter Zeitungen. Die Pakete wurden meiſt 
an Ort und Stelle erbrochen, man teilte ſich die Neuig⸗ 
keiten mit und an dieſen Tagen bot die Kanzlei das 
belebteſte Bild. Die Briefe, die Sylvio erhielt, waren 
an unſer Regiment adreſſiert und darum war er ge— 
wöhnlich auch da. Eines Tages erhielt er eine Sen— 
dung, von der er ſogleich mit dem Ausdruck der größten 
Ungeduld das Siegel herunterriß. Er überflog den 
Brief und ſeine Augen blitzten. Die Offiziere, deren 
jeder mit feinen eigenen Briefen beſchäftigt war, be- 
merkten nichts. „Meine Herren,“ ſprach Sylvio zu 
ihnen, „die Umſtände erfordern meine unverzügliche 
Abreiſe; ich reiſe noch heute nacht; ich hoffe, ſie wer⸗ 
den es mir nicht abſchlagen, zum letztenmal bei mir 
zu ſpeiſen. Ich erwarte auch Sie,“ fuhr er, zu mir 
gewendet, fort, „ich erwarte Sie beſtimmt.“ Mit dieſen 


16 


Der S ch u 5 


Worten verließ er uns eilig; und auch wir gingen, 
nachdem wir beſchloſſen hatten, uns bei Sylvio wieder 
zu ſehen, ein jeder in ſeiner Richtung. 

Ich kam um die feſtgeſetzte Stunde zu Sylvio und 
fand bei ihm faſt das ganze Regiment vor. Sein Hab 
und Gut war bereits gepackt; nicht viel mehr als 
die nackten zerſchoſſenen Wände war zurückgeblieben. 
Wir ſetzten uns zu Tiſch; der Hausherr war außer— 
gewöhnlich gut gelaunt, ſeine Heiterkeit ſteckte bald die 
andern an; jede Minute knallte ein Pfropfen, unab⸗ 
läſſig ſchäumten die Gläſer, und mit allem nur erdenk— 
lichen Eifer wünſchten wir dem Abreiſenden eine glück— 
liche Reiſe und alles mögliche Gute. Als wir uns vom 
Tiſch erhoben, war es bereits ſpät am Abend. Wäh— 
rend wir nach unſeren Mützen ſuchten, hielt Sylvio, 
der derweilen von den anderen Abſchied genommen 
hatte, mich in dem Augenblick, als ich mich anſchickte 
fortzugehen, am Arm zurück. „Ich habe noch mit 
Ihnen zu ſprechen“, ſagte er leiſe. So blieb ich denn. 

Die Файе verſchwanden; wir waren zu zweit, wir 
nahmen einander gegenüber Platz und ſetzten ſchweig⸗ 
ſam unſere Pfeifen in Brand. Sylvio ſchien bedrückt 
zu ſein; von der früheren ein wenig krampfhaften 
Heiterkeit war nichts mehr zu bemerken. Seine finſtere 
Bläſſe, die funkelnden Augen und die dicken Rauch- 
wolken, die ſeinem Munde entſtrömten, verliehen ihm 
das Ausſehen eines wirklichen Dämons. Es vergingen 
einige Minuten, bevor Sylvio ſein Schweigen unter⸗ 


P. 1 2 
17 


Die Erzählungen Bjelkins 
brach. „Es könnte ſein, daß wir uns nicht mehr wieder 
ſehen, ſagte er ſchließlich: „Bevor wir uns jetzt trennen, 
möchte ich Ihnen daher einige Erklärungen geben. 


Sie konnten wahrnehmen, wie gering ich die Anſichten 


der anderen einſchätze: Sie jedoch habe ich gern, und 
ich fühle es, daß es mir peinlich ſein würde, in Ihrem 
Geiſt eine ungerechte Anſicht über mich zurückzulaſſen.“ 

Er hielt ein und ſtopfte ſich ſeine ausgebrannte Pfeife 
von neuem; ich ſchwieg mit niedergeſchlagenen Augen. 


„Es iſt Ihnen ſeltſam vorgekommen,“ fuhr er fort, 


„daß ich von dieſem Wirrkopf R. .. keine Genug: 
tuung verlangt habe. Sie werden mir zuſtimmen, daß, 


da ich das Recht der Waffenwahl hatte, ſein Leben 


in meiner Hand lag, das meinige dagegen ſo gut wie 
ungefährdet war. Es wäre mir ein leichtes, dieſe meine 
Mäßigung durch Großmut zu erklären. Aber ich will 
nicht lügen. Wäre es in meiner Macht geweſen, R.. 
zu züchtigen, ohne im geringſten mein Leben dabei aufs 
Spiel zu ſetzen, ſo hätte ich ihm unter keinen Um⸗ 
ſtänden Verzeihung gewährt.“ \ 

Erſtaunt blickte ich Sylvio an. Diefes Geſtändnis 
brachte mich vollends in Verwirrung. Sylvio fuhr fort. 

„So iſt es: ich habe kein Recht, mein Leben aufs 
Spiel zu ſetzen. Vor ſechs Jahren erhielt ich eine Ohr⸗ 
feige, mein Feind aber iſt noch immer am Leben.“ 

Meine Neugierde war aufs äußerſte beſchäftigt. 
„Und Sie ſchlugen ſich nicht mit ihm?“ fragte ich. 
„Vermutlich haben die Umſtände Sie getrennt?“ 


18 


— zei 


er Sch u ß 


„Ich ſchlug mich allerdings mit ihm“, entgegnete 
Sylvio. „Und hier ИЕ das Andenken an unferen тре: 
kampf.“ 

Sylvio erhob ſich und entnahm einer Schachtel eine 
rote Mütze mit goldener Troddel und einer Treſſe 
(die Franzoſen nennen das bonnet de police); er ſetzte 
ſie auf; ſie war einen Zoll über der Stirn von einer 
Kugel durchlöchert. 

„Sie werden ſich erinnern,“ fuhr Sylvio fort, „daß 
ich im ... ſchen Huſarenregiment gedient habe. Meine 
Charaktereigenſchaften ſind Ihnen ebenfalls nicht un— 
bekannt: ich bin daran gewöhnt, der erſte zu ſein, 
und dieſer Trieb war, als ich noch jung war, geradezu 
eine Leidenſchaft in mir. Zu unſerer Zeit waren Toll⸗ 
heiten die große Mode: und ich war der tollſte Burſche 
in der ganzen Armee. Wir prahlten mit unſerer Trink⸗ 
fähigkeit: ich habe ſogar den berühmten Burzow, den 
noch Denis Dawydow beſungen hat, unter den Tiſch 
getrunken. All' Augenblick gab es in unſerem Regiment 
irgendein Duell. Und bei jedem war ich entweder als 
Sekundant zugegen oder als handelnde Perſon. Meine 
Kameraden vergötterten mich, dagegen ſahen mich die 
Regimentskommandeure, die ununterbrochen wechſel— 
ten, wie ein unvermeidliches Übel an. 

Ich ließ mir dieſen Ruf ruhig (oder unruhig) ge— 
fallen, als eines Tages ein junger Mann aus einer 
reichen und berühmten Familie (ich will ſeinen Namen 
nicht nennen) zu uns verſetzt wurde. Ich war noch 


19 


Die Erzählungen Blelkins 


nie in meinem Leben einem ſo glänzenden Glückspilz 
begegnet! Denken Sie ſich Jugend, Verſtand, Schön⸗ 
heit, wildeſte Luſtigkeit und ſorgloſeſte Tapferkeit ver⸗ 
eint mit einem klingenden Namen und Geldern, die er 
im Überfluß beſaß, und die ihm niemals fehlten, und 
ſtellen Sie ſich dazu vor, welchen Eindruck er auf unſere 
Schar machen mußte. Meine führende Stellung war 
erſchüttert. Zwar ſuchte er anfangs, von meinem Ruf 
verlockt, meine Freundſchaft, da ich ihm aber kalt be⸗ 
gegnete, zog er ſich, ohne den geringſten Kummer zu 
empfinden, von mir zurück. Ich begann ihn zu haſſen. 
Seine Erfolge im Regiment und bei den Frauen brachten 
mich völlig zur Verzweiflung. Ich ſuchte Streit mit 
ihm; aber er antwortete auf meine Spottverſe mit. 
Spottverſen, die mir immer viel unerwarteter und 
treffender vorkamen als die meinigen, und die пай: 
lich ganz unvergleichlich viel luſtiger waren: er ſcherzte 
ja nur, ich aber, ich wütete. Und als ich ſchließlich 
eines Abends auf einem Ball bei einem polniſchen 
Gutsbeſitzer ſehen mußte, daß nur er der Gegenſtand 
der Aufmerkſamkeit aller Damen war und zumal der 
Hausfrau ſelber, mit der ich damals in Verbindung 
ſtand, nahm ich die Gelegenheit wahr und ſagte ihm 
irgendeine platte Grobheit ins Ohr. Er flammte auf 
und gab mir eine Ohrfeige. Wir ſtürzten zu den Sä⸗ 
beln; die Damen fielen in Ohnmacht; man zerrte uns 
auseinander, und noch in der gleichen Nacht begaben 
wir uns an den Ort, an dem wir uns duellieren ſollten. 


20 


Der Schu ß 


Es war um die Zeit der Dämmerung. Ich ſtand 
mit meinen drei Sekundanten an der verabredeten 
Stelle. Mit einer unſagbaren Ungeduld wartete ich 
auf meinen Gegner. Die Frühlingsſonne ging auf, 
und es wurde allmählich heiß. Endlich wurden wir 
ſeiner gewahr. Er kam zu Fuß, von einem einzigen 
Sekundanten begleitet und hatte ſeinen Uniformsrock 
an den Säbel gehängt. Wir ſchritten ihm entgegen. 
Er näherte ſich uns, in der Hand die Mütze, die voll 
von Kirſchen war. Unſere Sekundanten ſchritten die 
zwölf Schritte ab. Ich hatte als erſter zu ſchießen; 
da mich aber die Wut noch immer ſo heftig ſchüttelte, 
daß ich mich nicht auf die Sicherheit meiner Hand 
verlaſſen konnte, trat ich, um mir Zeit zu laſſen, kühler 
zu werden, ihm den erſten Schuß ab; allein mein 
Gegner ging darauf nicht ein. Es wurde beſtimmt, 
das Los entſcheiden zu laſſen: und der erſte Schuß fiel 
ihm, dem ewigen Liebling des Glückes, zu. Er zielte 
und durchlöcherte meine Mütze. Die Reihe war an 
mir. Nun lag ſein Leben endlich in meiner Hand; 
gierig hing ich an ſeinem Geſicht, beſtrebt, wenigſtens 
einen Schatten von Unruhe darin zu erblicken. Aber 
er ſuchte, trotzdem meine Piſtole auf ihn gerichtet war, 
gleichmütig die reifſten Kirſchen aus ſeiner Mütze und 
ſpuckte ruhig die Kerne aus, die faſt bis zu mir rollten. 
Sein Gleichmut brachte mich nur noch mehr auf. Was 
nützt es, mußte ich denken, ihm jetzt das Leben zu 
nehmen, das ihm noch nicht einmal teuer geworden 


21 


Die Erzählungen Bjelkins 


iſt? Ein boshafter Gedanke ſchoß durch meinen Kopf, 
Ich ließ die Piftole ſinken. Sie ſcheinen jetzt noch 
nicht auf Tod eingeſtellt zu fein,‘ Гаде ich zu ihm: 
„Sie belieben noch zu frühſtücken; ich will Sie dabei 
nicht ftören.‘ — , Sie ſtören mich nicht im mindeſten, 
entgegnete er: ‚fchießen Sie nur; im übrigen ſteht es 
Ihnen frei, zu handeln wie Sie wollen: Ihr Schuß 
ſoll Ihnen verbleiben; ich ſtehe Ihnen jederzeit zur 
Verfügung.“ Ich wendete mich darauf zu den Ge: 
kundanten und erklärte ihnen, daß ich gegenwärtig 
nicht die Abſicht hätte, zu ſchießen, womit zunächſt 
unſer Zweikampf zu Ende war.. 

„Ich nahm den Abſchied und begab mich an dieſen 
Ort. Aber kein Tag iſt ſeit jener Zeit vergangen, an 
dem ich nicht an meine Rache gedacht hätte. Und jetzt 
iſt meine Stunde gekommen ...“ 

Hierbei zog Sylvio den Brief aus ſeiner Taſche, 
den er am Morgen bekommen hatte, und gab ihn mir 
zu leſen. Jemand (es ſchien ſein Bevollmächtigter zu 
ſein) ſchrieb ihm aus Moskau, daß die bewußte Per⸗ 
ſon in kurzer Zeit mit einem jungen und ſchönen Mäd⸗ 
chen in den Stand der Ehe zu treten beabſichtige. 

„Sie erraten,“ ſagte Sylvio: „wer die bewußte 
Perſon iſt. Ich reiſe nach Moskau. Ich will doch 
ſehen, ob er kurz vor der Hochzeit genau ſo gleichgültig 
ſeinen Tod erwarten wird, wie er es ſeinerzeit tat, 
als er die Kirſchen aß!“ 

Bei dieſen Worten erhob ſich Sylvio, warf die Mütze 


22 


Der Schu ß 


zu Boden und ſchritt im Zimmer erregt auf und ab, 
als wäre er ein Tiger in ſeinem Käfig. Regungslos 
hatte ich ihm zugehört; ſonderbare und auffällig ein— 
ander widerſprechende Gefühle hatten mich während 
ſeiner Erzählung bewegt. 

Der Bediente trat ein und meldete die Pferde. Sylvio 
drückte mir kräftig die Hand; wir küßten einander zum 
Abſchied. Er ſtieg in den Wagen, in welchem zwei 
Käſten bereit lagen, der eine mit den Piſtolen, der andere 
mit ſeinen Habſeligkeiten. Wir nahmen noch einmal 
Abſchied, dann zogen die Pferde an. 


II 


Einige Jahre vergingen, häusliche Umſtände zwan— 
gen mich, mich auf einem ärmlichen Gütchen, das im 
N. . . ſchen Kreiſe lag, niederzulaſſen. Ich mußte mich 
viel mit wirtſchaftlichen Fragen abgeben, hörte aber 
in der Stille nicht auf, meinem früheren geräuſch— 
vollen und ſorgloſen Leben nachzuſeufzen. Am ſchwer— 
ſten waren mir die Frühlings- und Winterabende in 
dieſer völligen Einſamkeit. Bis zum Mittageſſen konnte 
ich mir noch irgendwie die Zeit vertreiben, indem ich 
mit dem Dorfälteſten ſchwatzte, die Feldarbeiten be— 
ſichtigte oder mich zu den Neubauten begab. Sobald es 
aber zu dämmern begann, wußte ich überhaupt nicht 
mehr, wohin mit mir. Die wenigen Bücher, die ich unter 
den Schränken und in der Voratskammer fand, kannte 
ich bald auswendig. Die Märchen, an die ſich meine 


23 


Die Erzählungen Bjelkins 


alte Beſchließerin Kirillowna erinnern konnte, waren 
bald erzählt; die Lieder der Weiber machten mich ſtets 
traurig. Ich machte mich an die ungeſüßten Frucht⸗ 
ſchnäpſe, aber ſie verurſachten mir nur Kopfweh; zu⸗ 
dem, ich geſtehe es, fürchtete ich, ein Säufer aus Ver⸗ 
ztpeiflung zu werden, die ja die allerverzweifeltſten 
Säufer find; Beiſpiele hierfür hatte ich in unſerem Kreiſe 
mehr als genügend zu Geſicht bekommen. 

In meiner Nähe lebten keine Nachbarn, mit Aus⸗ 
nahme eben von zwei oder drei dieſer Verzweifelten, 
deren Geſpräch hauptſüchlich aus Aufſtoßen und Auf— 
feufzen beſtand. Da war die Einſamkeit noch erträg— 
licher. So beſchloß ich denn, mich ſo früh als möglich 
zu Bett zu begeben und ſo ſpät als möglich zu ſpeiſen; 
auf dieſe Weiſe verkürzte ich den Abend und verlängerte 
ich den Tag, und ich ſah, daß es ſehr gut war. 

Vier Werſt von mir befand ſich ein reiches Gut, 
das der Gräfin B. .. gehörte; freilich lebte dort 
nur der Verwalter, denn die Gräfin hatte ihre Зе: 
ſitzung nur einmal, im erſten Jahr ihrer Ehe, beſucht 
und war nicht länger als einen Monat dort geblieben. 
Plötzlich jedoch entſtand im zweiten Frühling meines 
Einſiedlerdaſeins das Gerücht, die Gräfin käme mit 
ihrem Gatten aufs Gut, um dort den Sommer zu ver⸗ 
bringen. Und ſo war es auch, die beiden trafen im 
Anfang des Juni ein. 

Die Ankunft eines reichen Nachbarn bildet ſtets für 
die Dorfbewohner eine wichtige Epoche. Die Фив: 


24 


Der Schu ß 


beſitzer und ihr Hausgeſinde ſchwatzen ſchon zwei 
Monate zuvor darüber und noch drei Jahre nachher. 
Was mich felber betrifft, fo berührte, ich muß es де: 
ſtehen, die Nachricht von der Ankunft der jungen und 
ſchönen Nachbarin mich ſtark; ich brannte vor Цпде: 
duld, ſie zu ſehen, und begab mich darum bereits am 
erſten Sonntag nach ihrer Ankunft nach Tiſch zum 
Dorf““, um mich ſeiner und ihrer Durchlaucht als 
nächſten Nachbarn und ergebenſten Diener vorzuſtellen. 

Ein Kammerdiener führte mich ins Kabinett des 
Grafen und verließ mich, um mich anzumelden. Das 
geräumige Kabinett war mit aller nur erdenklichen 
Pracht ausgeſtattet; an den Wänden ſtanden Schränke 
mit Büchern und auf jedem ragte eine bronzene Büſte; 
über dem marmornen Kamin hing ein breiter Spiegel. 
Der Boden war mit grünem Tuch beſpannt, auf dem 
viele Teppiche lagen. Da ich in meiner ärmlichen Be- 
hauſung mich längſt von aller Pracht entwöhnt und 
ſchon lange keinen fremden Reichtum mehr geſehen 
hatte, machte dieſer Anblick mich faſt ſchüchtern, und 
ich erwartete den Grafen mit genau der gleichen Auf— 
regung, mit der ein Bittſteller aus der Provinz das 
Erſcheinen des Miniſters erharrt. Die Tür ging auf, 
und ein ſchöner Mann von zweiunddreißig Jahren 
trat ein. Der Graf näherte ſich mir mit offener und 
freundſchaftlicher Miene; ich gab mir Mühe, mich zu 
faſſen, und wollte damit beginnen, mich vorzuſtellen, 
aber er kam mir zuvor. Wir nahmen Platz. Seine freie 


25 


Die Erzählungen Bjelkins 


und liebenswürdige Unterhaltung bewirkte bald, daß 
ich meine verwilderte Verlegenheit ablegte. Ich war 
bereits im Begriff, meine gewöhnliche Laune wieder⸗ 
zugewinnen, als plötzlich die Gräfin eintrat, und meine 
Verwirrung noch größer wurde als zuvor. In der 
Tat, ſie war ſehr ſchön. Der Graf ſtellte mich vor; 
ich wollte ungezwungen erſcheinen, aber je mehr Mühe 
ich mir gab, dieſen Eindruck zu machen, um ſo ver⸗ 
legener wurde ich. Um mir Zeit zu laſſen, mich zu 
faſſen und mich an die neuen Bekannten zu ge: 
wöhnen, plauderten die beiden miteinander, wobei ſie 
mit mir wie mit einem guten Nachbarn ohne alle 
Steifheit umgingen. Ich ſchritt derweilen auf und ab 
und betrachtete die Bücher und die Bilder. Ich bin 
kein Kenner von Bildern, doch zog eines von ihnen 
ſogleich meine Aufmerkſamkeit an. Es ſtellte irgendeine 
Schweizerlandſchaft dar; aber es war nicht die Malerei, 
die mich überraſchte, ſondern der Umſtand, daß das 
Bild von zwei Kugeln durchbohrt war, von denen 
die eine auf der andern ſaß. „Ein trefflicher Schuß“, 
meinte ich zum Grafen. — „Allerdings,“ entgegnete 
er: „ein ſehr bemerkenswerter Schuß. Wie iſt es, 
ſchießen Sie gut?“ fuhr er fort. — „Beſſer als der 
Durchſchnitt“, entgegnete ich, erfreut, daß das Geſpräch 
endlich einen mir vertrauten Gegenſtand berührte. „Ich 
fehle auf dreißig Schritt keine Karte, freilich nur aus 
einer Piſtole, mit der ich bereits geſchoſſen habe.“ — 
„Wirklich?“ fragte die Gräfin mit großer Aufmerk⸗ 


26 


Der Schuß 


ſamkeit: „Und du, mein Freund, kannſt du wohl eine 
Karte auf dreißig Schritt treffen?“ — „Wir wollen 
es einmal ſpäterhin verſuchen,“ entgegnete der Graf: 
„ ſeinerzeit ſchoß ich nicht ſchlecht; aber es find jetzt vier 
Jahre her, daß ich keine Piſtole mehr in die Hand ge— 
nommen habe.“ — „Oh, in dieſem Falle möchte ich 
wetten,“ warf ich ein: „daß Erlaucht auch auf zwanzig 
Schritte keine Karte treffen würde: die Piſtole erfor— 
dert tägliche Uebung. Das weiß ich aus Erfahrung. 
In unſerem Regiment galt ich als einer der beſten 
Schützen. Einmal jedoch traf es ſich, daß ich einen 
ganzen Monat hindurch keine Piſtole zur Hand nahm: 
die meinigen befanden ſich in Reparatur; und was 
denken Sie wohl, Erlaucht? Als ich das erſtemal 
wieder ſchoß, fehlte ich viermal nacheinander eine 
Flaſche auf zwanzig Schritt. Bei uns war damals 
ein Rittmeiſter, ein luſtiger und witziger Kerl; er war 
zugegen, als das geſchah, und ſagte: ‚Da ſieht man's, 
Bruder, du kannſt deine Hand gegen keine Flaſche 
erheben.“ — Nein, Erlaucht, dieſe Beſchäftigung ſoll 
man nicht vernachläſſigen, ſonſt kommt man ſofort 
aus der Übung. Der beſte Schütze, dem ich jemals 
begegnet bin, pflegte jeden Tag zum mindeſten drei: 
mal vor dem Mittageſſen zu ſchießen. Das war ſo 
ſeine Gewohnheit, wie ein Schnaps vor dem Eſſen.“ 
Der Graf und Gräfin freuten ſich, daß ich geſprächig 
geworden war. „Und wie ſchoß er denn?“ fragte 
mich der Graf. — „Das kann ich Ihnen ſagen, Er— 


27 


Die Erzählungen Bjelkins 


laucht: wenn er zum Beiſpiel bemerkte, daß auf der 
Wand eine Fliege ſaß ... Sie lachen, Gräfin? Weiß 
Gott, es ИЕ wahr ... Wenn er fo eine Fliege ſah, rief 
er auch ſchon: ‚Kuſjka, meine Piftole!‘ — und Kuſjka 
brachte ihm augenblicks die geladene Piſtole. Ein Knall, 
und die Fliege [аб tief in der Wand!“ — „Erjtaun: 
lich!“ meinte der Graf: „Und wie hieß er denn?“ — 
„Sylvio, Erlaucht.“ — „Sylvio!“ rief der Graf und 
ſprang von ſeinem Platz auf: „Kannten Sie Sylvio?“ 
„Wie ſollte ich ihn nicht kennen, Erlaucht, wir waren 
ja Freunde; er war von meinem Regiment wie einer 
unſeresgleichen aufgenommen worden; allerdings iſt 
es bereits fünf Jahre her, daß ich nicht die geringſte 
Nachricht von ihm habe. Ich darf wohl mithin an— 
nehmen, daß auch Sie, Erlaucht, ihn kannten?“ — 
„Ich kannte ihn ſehr genau. Hat er Ihnen niemals 
von einem ſehr ſonderbaren Vorfall erzählt?“ — 
„Meinen Sie etwa die Ohrfeige, Erlaucht, die ihm 
auf irgendeinem Ball von einem Tollkopf verſetzt 
wurde?“ — „Und hat er Ihnen nicht ben Namen 
dieſes Tollkopfes geſagt?“ — „Nein, Erlaucht, den 
hat er mir nicht geſagt ... Ach, Erlaucht!“ fuhr ich 
fort, denn ich erriet die Wahrheit: „Verzeihen Sie .. 
ich wußte nicht .. waren Sie es am Ende?“ — „Ich 
war es“, entgegnete der Graf mit einer außergemöhn: 
lich verſtimmten Miene: „Und das zerſchoſſene Bild 
dort НЕ ein Andenken an unſere letzte Begegnung.“ — 
„Ach, Liebſter,“ rief die Gräfin, „um Gottes Willen, 


28 


Der Schuß 


erzähle es nicht, es iſt mir ſchrecklich, davon zu 
hören.“ — „Nein, ich muß es erzählen“, erwiderte 
der Graf: „Er weiß, auf welche Weiſe ich ſeinen 
Freund gekränkt habe, ſo ſoll er denn auch wiſſen, wie 
Sylvio ſich an mir gerächt hat.! Der Graf rückte mir 
einen Seſſel heran, und mit lebhafteſter Spannung 
lauſchte ich folgender Erzählung. 

„Ich heiratete vor fünf Jahren. Den erſten Monat, 
the honeymoon, verbrachte ich hier auf dieſem Dorf. 
Ich verdanke dieſem Hauſe die ſchönſten Minuten 
meines Lebens und gleichzeitig eine der allerſchwerſten 
Erinnerungen. 

Eines Abends ritten wir beide aus; das Pferd meiner 
Frau bockte: es hatte ſich über irgendetwas erſchreckt; 
ſie gab mir die Zügel und ging zu Fuß nach Hauſe. 
Ich ritt voran. Auf dem Hofe erblickte ich einen Reiſe⸗ 
wagen; man teilte mir mit, in meinem Kabinett ſäße 
ein Menſch, der ſeinen Namen nicht geſagt, ſondern 
einfach erklärt hätte, daß ihn ein Anliegen zu mir führe. 
Ich trat in dieſes Zimmer hier ein und erblickte in der 
Dunkelheit einen von Reiſeſtaub bedeckten bärtigen 
Mannz er ſtand hier an dieſer Stelle vor dem Kamin. 
Ich näherte mich ihm und verſuchte vergeblich, mich 
ап fein Geſicht zu erinnern. ‚Du erkennſt mich nicht, 
Graf?‘ fragte er, und feine Stimme bebte. —, Sylvio! 
rief ich, und ich muß geſtehen, ich fühlte, wie mir die 
Haare plötzlich zu Berge ftiegen. — ‚Sch bin es‘, fuhr 
er fort: Ich habe noch einen Schuß gut und reiſte Бег, 


29 


Die Erzählungen Bjelkins 


um meine Piſtole abzuſchießen; biſt du bereit?“ Ich 
bemerkte jetzt erſt, daß aus ſeiner Seitentaſche eine 
Piſtole hervorſchaute. Ich maß zwölf Schritte ab und 
ſtellte mich dorthin in die Ecke, wobei ich ihn bat, mög⸗ 
lichſt ſchnell zu ſchießen, ehe meine Frau zurückkäme. 
Er zauderte; ſchließlich bat er um Licht. Die Kerzen 
kamen, ich ſchloß die Türe und gab den Befehl, 
niemand hereinzulaſſen, darauf bat ich ihn aufs neue, 
doch endlich zu ſchießen. Er zog die Piſtole aus der 
Taſche und zielte ... Ich zählte die Sekunden ... Ich 
dachte nur an meine Frau... Die Minute war furcht⸗ 
bar! Sylvio ſenkte den Arm. ‚Ich muß bedauern, 
ſagte er: ‚daß die Piſtole nicht mit Kirſchkernen де: 
laden iſt ... die Kugel ИЕ zu ſchwer. Es will mir 
ſcheinen, daß es kein Duell iſt, das hier ſtattfindet, 
ſondern ein Totſchlag: ich bin nicht imſtande, auf 
einen Unbewaffneten zu ſchießen. Fangen wir von 
neuem an; laſſen wir das Los entſcheiden, wer als 
erſter ſchießen fol.‘ Mein Kopf drehte ſich ... ich 
glaube, daß ich mich zunächſt nicht damit einverſtan⸗ 
den erklärte ... Aber endlich wurde noch eine Piſtole 
geladen; zwei Papiere wurden gefaltet, und er tat 
dieſe in ſeine Mütze, die ich einſt durchlöchert hatte; 
ich zog das erſte Los. ‚Du haft ein teufliſches Glück, 
Graf‘, ſagte er mit einem höhniſchen Lächeln, das 
ich niemals vergeſſen werde. Ich kann freilich auch 
heute noch nicht verſtehen, was damals mit mir 
geſchehen war und auf welche Weiſe er mich dazu 


30 


Der Schu ß 


brachte ... immerhin ich ſchoß und traf das Bild 
hier.“ (Der Graf wies bei dieſen Worten auf das 
zer ſchoſſene Bild; fein Geſicht brannte wie Feuer, die 
Gräfin war blaſſer als ihr Tuch; ich ſtieß einen Aus⸗ 
ruf aus.) | 

„So ſchoß ich denn“, fuhr der Graf fort: „und traf, 
Gott fei Dank, nicht; und nun begann Sylvio ... 
(und in dieſem Augenblick war er wahrhaft furchtbar), 
Sylvio begann auf mich zu zielen. Plötzlich öffnet ſich 
die Türe, Maſcha fliegt herein und ſtürzt mir mit 
einem Wimmern um den Hals. Ihre Anweſenheit gab 
mir die Geiſtesgegenwart zurück. Liebſte,“ ſprach ich 
zu ihr: ‚ſiehſt du denn nicht, daß wir nur Spaß 
machen? Wie du dich erſchreckt haſt! Geh, trink ein 
Glas Waſſer und komm darauf wieder zu uns; ich 
will dir dann auch meinen alten Freund und Kame— 
raden vorſtellen.“ Aber Maſcha wollte nicht daran 
glauben. ‚Sagen Sie, ſpricht mein Mann die Wahr: 
beit?‘ fragte fie, indem fie ſich zum drohenden Sylvio 
wandte: ‚ft es wahr, daß Sie nur Spaß treiben?“ — 
‚Er, Gräfin, treibt immer feinen Spaß“, entgegnete 
Sylvio: ‚Er gab mir einmal aus Spaß eine Ohrfeige, 
aus Spaß durchlöcherte er mir dieſe Mütze hier, noch 
ГоеБеп ſchoß er aus Spaß an mir vorbei; fo iſt denn 
auch mir die Luft gekommen, einmal zu ſpaßen ... 
Und bei dieſen Worten wollte er wieder auf mich 
zielen .. trotz ihrer Anweſenheit. Maſcha lag zu feinen 


Füßen. ‚Steh auf, Maſcha, und ſchäm dich!“ ſchrie 
31 


Die Erzählungen Bjelkins 


ich, faſt toll vor Wut: ‚Und Sie, mein Herr, wollen 
Sie wohl aufhören, eine arme Frau zu verhöhnen? 
Werden Sie jetzt ſchießen oder nicht?“ — Ich will 
nicht, entgegnete Sylvio: ‚ich bin befriedigt: ſah ich 
doch deine Verwirrung und deine Zaghaftigkeit; iſt es 
mir doch ſogar gelungen, dich zu veranlaſſen, auf mich 
zu ſchießen. Das genügt mir. Du wirſt an mich denken. 
Ich überlaſſe dich deinem eigenen Gewiſſen.“ Mit 
dieſen Worten wandte er ſich, um hinauszugehen, 
machte jedoch in der Türe halt, blickte das zerſchoſſene 
Bild an und ſchoß darauf, faſt ohne zu zielen, worauf 
er verſchwand. Meine Frau lag in tiefer Ohnmacht. 
Meine Leute wagten nicht, ihn aufzuhalten, und 
ſahen ihm voll Entſetzen nach; er trat vors Haus, rief 
ſeinem Kutſcher und fuhr fort, noch eh ich recht meine 
Geiſtesgegenwart wiedererlangt hatte.“ 

Der Graf verſtummte. Dies alſo war das Ende 
einer Geſchichte, deren Anfang mich einſtmals ſo ſehr 
überraſcht hatte. Ihrem Helden bin ich nicht mehr be⸗ 
gegnet. Man hat mir ſpäter erzählt, daß Sylvio zur 
Zeit des Aufſtandes Alexander Ypſilantis eine Ab⸗ 
teilung der Heteriſten befehligte und in der Schlacht 
bei Skulleni gefallen ſei. 


Der Schneeſturm 


Durch den wildverwehten Schnee 
Meine Roſſe jagen .. 

Seitlings von der Straße ſeh 
Ich die Kirche ragen. 


Plötzlich brauſt ein Schneeſturm her; 

Dichte Flocken ſchütten; 

Schwärzlich ſchwingt ein Rabe ſchwer 

Über meinem Schlitten; 

Was er krächzt iſt nichts als Leid! 

Meine Roſſe ſchauen 

Achtſam in die Dunkelheit, 

Faſt erſtarrt vor Grauen 
Schukowskij 


Gegen Ende des 181 ften Jahres, in jener Epoche 
alſo, die für uns ſo denkwürdig geworden iſt, lebte 
auf ſeiner Beſitzung Nenaradowo der brave Gaw— 
rila Gawrilowitſch R... Seine Gaſtfreundſchaft und 
Freigebigkeit waren im ganzen Umkreiſe bekannt, und 
es verging kein Tag, an dem nicht die Nachbarn ihn 
beſuchten, um bei ihm zu eſſen und zu trinken oder 
mit feiner Frau Praskowja Petrowna um fünf Ko: 
peken Boſton zu ſpielen, oder ſchließlich um die Tochter 
der beiden, Marja Gawrilowna, anzuſchauen, ein 
ſchlankes, blaſſes, ſiebzehnjähriges Mädchen. Sie galt 
allgemein als ein reiches Bräutchen, und viele kamen 
mit der Abſicht hin, ſie heimzuführen oder für ihre 
Söhne um ſie zu werben. 


P. 1 3 
33 


Die Erzählungen Bjelkins 


Marja Gawrilownas Erziehung ſtand unter dem 
Einfluß franzöſiſcher Romane, und daher war es kein 
Wunder, daß ſie verliebt war. Ihr Erkorener war ein 
armer Armeeleutnant, der ſich derzeit auf Urlaub Бе: 
fand und ſein Gütchen bewirtſchaftete. Es verſteht ſich 
von ſelber, daß der junge Mann von gleicher Leiden: 
ſchaft verzehrt wurde, und daß die Eltern ſeiner Lieb⸗ 
ſten dieſe beiderſeitige Neigung bald bemerkten und 
ihrer Tochter unterſagten, an ihn auch nur zu denken; 
er wurde in ihrem Hauſe von da ab unfreundlicher 
als etwa der geringſte verabſchiedete Beiſitzer auf: 
genommen. 

Unſere Liebenden ſtanden in ſtändigem Briefwechſel 
miteinander und hatten täglich heimliche Zuſammen— 
künfte in einem Fichtenwäldchen oder bei der alten 
Kapelle. Dort ſchworen ſie einander ewige Liebe, dort 
haderten ſie mit dem Schickſal und ſchmiedeten die 
verſchiedenſten Pläne. Brieflich und mündlich kamen 
fie (mie es immer geht) auf dieſe Weiſe nach und nach 
zu folgender Überlegung: da wir ohne einander nicht 
mehr atmen können, der Wille unſerer grauſamen 
Eltern jedoch unſerem Glück entgegenſteht, wäre es 
nicht vielleicht denkbar, daß wir ſchließlich auf dieſe 
verzichten könnten? Es iſt klar, daß dieſer glückliche 
Gedanke zunächſt im Kopfe des jungen Mannes ent⸗ 
ſtand, und daß er der romantiſchen Phantaſie Marja 
Gawrilownas außergewöhnlich zuſagen mußte. 

Der Winter brach an und machte ihren Zuſammen⸗ 


34 


Der Shneefturm 


fünften ein Ende; um fo lebhafter wurde nunmehr ihr 
Briefwechſel. In jedem Briefe flehte Wladimir Niko⸗ 
lajewitſch ſie an, endlich die Seine zu werden und ſich 
heimlich mit ihm trauen zu laffen; er ſchwor ihr, daß 
ſie, nachdem ſie ſich einige Zeit hindurch verborgen ge— 
halten, ſich zu den Füßen der Eltern niederwerfen woll— 
ten, und verſicherte ihr, daß dieſe ſchließlich, von der 
heroiſchen Beſtändigkeit und dem Ungemach der 
Liebenden gerührt, ihnen zweifellos ſagen würden: 
„Kinder! Kommt in unſere Arme.“ 

Marja Gawrilowna zauderte lange; ſie verwarf 
immer wieder die verſchiedenſten Pläne, auf welche 
Weiſe die Flucht zu bewerkſtelligen wäre. Aber end— 
lich gab ſie ihre Einwilligung: ſie ſollte an dem feſt— 
geſetzten Tage auf das Abendeſſen verzichten und ſich 
unter dem Vorwand heftigen Kopfwehs in ihre Ge— 
mächer zurückziehen. Ihre Kammerjungfer war in 
alles eingeweiht worden; die beiden ſollten durch die 
Hintertüre in den Garten, hinter dieſem würden ſie 
einen Schlitten finden, in dem ſie Platz zu nehmen und 
auf ihm die fünf Werſt zwiſchen Nenaradowo und 
dem Dorf Schadrino zurückzulegen hätten; dort an- 
gelangt, ſollten ſie geradewegs vor die Kirche fahren, 
in welcher Wladimir ſie bereits erwarten wollte. 

Am Vorabend des entſcheidenden Tages fand Marja 
Gawrilowna während der ganzen Nacht keinen Schlaf; 
ſie packte ihre Sachen, ſie legte ihre Wäſche und ihre 
Kleider zuſammen und ſchrieb ſchließlich einen langen 


„| 98 


Die Erzählungen Bjelfins 


Brief an ihre Freundin, die ein ſehr empfindſames 
Fräulein war, und einen zweiten Brief an ihre Eltern. 
In den allerrührendſten Ausdrücken nahm ſie von 
dieſen Abſchied, ſie entſchuldigte ihr Vergehen mit dem 
unüberwindlichen Trieb ihrer Leidenſchaft und ſchloß 
damit, daß ſie jene Minute für die glücklichſte ihres 
Lebens anſehen wolle, da ihr erlaubt würde, ſich zu 
den Füßen ihrer teuerſten Eltern Vergebung zu er— 
flehen. Nachdem ſie die beiden Briefe mit ihrem Siegel 
tulaſcher Arbeit, auf dem zwei lodernde Herzen mit 
einer geziemenden Überſchrift verſehen abgebildet 
waren, verſiegelt hatte, warf ſie ſich kurz vor der 
Morgendämmerung aufs Bett und nickte ein; aber ſie 
fand auch jetzt keinen Schlaf, denn furchtbare Traum: 
geſichter weckten ſie unabläſſig auf. Bald war es ihr, 
als hielte ihr Vater ſie im gleichen Augenblick, da ſie 
in den Schlitten einſteigen wollte, um zur Trauung 
zu fahren, zurück und zöge ſie mit einer qualvollen 
Schnelligkeit über den Schnee und ſtieße ſie in ein 
dunkles, bodenloſes Erdgewölbe ... und als flöge fie 
Hals über Kopf mit einem unerklärlichen Erſterben 
des Herzens herab; bald wieder ſah ſie ihren Wladimir 
bleich und blutüberſtrömt auf dem Graſe liegen. Ster⸗ 
bend flehte er ſie mit einer durchdringenden Stimme 
an, ſich doch in größter Eile mit ihm trauen zu laſſen 
. . aber es waren auch noch andere grauenhafte und 
ſinnloſe Erſcheinungen, die an ihr vorüberglitten. Noch 
blaſſer als ſonſt erhob fie ſich endlich mit einem ſchreck⸗ 


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Der Schneeſturm 


lichen, völlig ungekünſtelten Kopfweh. Der Vater und 
die Mutter bemerkten ihre Unruhe; ihre zärtliche Auf— 
merkſamkeit und ihre immer wiederkehrenden Fragen: 
„Was haſt du, Maſcha? Biſt du nicht krank, Maſcha?“ 
zerriſſen ihr faſt das Herz. Sie gab ſich Mühe, ſie zu 
beruhigen und heiter zu erſcheinen, jedoch es gelang 
ihr nicht. Der Abend brach an. Der Gedanke, daß 
ſie heute zum letzten Male im Kreiſe ihrer Familie 
wäre, wollte ihr faſt das Herz abdrücken. Sie war 
wie leblos; insgeheim nahm ſie von allen Perſonen 
und allen Gegenſtänden, die ſie umgaben, Abſchied. 
Es kam die Stunde des Abendeſſens; ihr Herz klopfte 
heftig. Mit bebender Stimme ſagte ſie, ſie wolle nicht 
eſſen, und begann darauf, ſich von Vater und Mutter 
zu verabfchieden. Dieſe küßten fie und ſegneten fie, wie 
ſie es immer taten; das Mädchen konnte nur mit Mühe 
ihre Tränen zurückhalten. Als ſie endlich in ihrem 
eigenen Zimmer war, warf ſie ſich in einen Seſſel und 
brach in Schluchzen aus. Die Jungfer redete ihr zu, 
ſich doch zu beruhigen und Mut zu faſſen. Alles war 
bereit. Nach einer halben Stunde ſollte Maſcha auf 
immer ihr Elternhaus verlaſſen, ihre Stube und ihr 
ſtilles Mädchenleben ... Draußen wütete ein Schnee— 
ſturm; der Wind heulte, die Fenſterläden lärmten und 
klapperten; wie eine Drohung erſchien ihr das und 
wie eine traurige Vorbedeutung. Nach kurzer Zeit 
verſtummte das ganze Haus in tiefem Schlaf. Maſcha 
hüllte ſich in ihren Shawl, warf einen warmen Mantel 


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Die Erzählungen Bjelkins 


über, nahm ihre Schatulle und ging durch die Hinter— 
türe aus dem Hauſe. Die Jungfer trug die zwei Ge⸗ 
päckſtücke. So kamen ſie in den Garten. Der Schnee⸗ 
ſturm hatte keineswegs nachgelaſſen; der Wind blies 
ihr ins Geſicht, als wäre es ſeine Abſicht, die junge 
Sünderin aufzuhalten. Mit Müh und Not erreichten 
fie die Gartenpforte. Der Schlitten erwartete fie Бе: 
reits. Die frierenden Pferde wollten nicht länger ruhig 
ſtehen; Wladimirs Kutſcher mußte ſich unabläſſig an 
der Deichſel zu ſchaffen machen, um die unruhigen 
Tiere zurückzuhalten. Er half dem Fräulein und ihrer 
Jungfer einſteigen und brachte auch das Gepäck und 
die Schatulle unter, dann faßte er die Zügel, und in 
einem Nu flogen die Pferde dahin. — Wir aber wollen, 
nachdem wir das Fräulein der Führung des Schickſals 
und der Kunſt Tereſchkas, des Kutſchers, anvertraut 
haben, uns nunmehr unſerem jugendlichen Liebhaber 
zuwenden. 

Wladimir war den ganzen Tag über unterwegs. 
Am Morgen war er zum Prieſter von Schadrino де: 
fahren und hatte dieſen nur mit großer Mühe zu 
überreden vermocht; darauf begab er ſich zu den bee 
nachbarten Gutsbeſitzern auf die Suche nach Trau⸗ 
zeugen. Der erſte, zu dem er kam, der verabſchiedete 
vierzigjährige Kornett Drawin, willigte mit Vergnügen 
ein. Er beteuerte, daß dieſes Abenteuer ihn an frühere 
Zeiten und Huſarenſtreiche erinnere. Er überredete 
Wladimir, bei ihm zu Mittag zu ſpeiſen, und erklärte 


38 


Der Shneefturm 


ihm, daß es ein Leichtes fein würde, die zwei übrigen 
Zeugen herbeizuſchaffen. Und in der Tat, ſogleich 
nach dem Mittageſſen erſchien, ſchnurrbärtig und 
ſporenklirrend, der Feldmeſſer Schmitt, mit ihm kam 
der Sohn des Kreishauptmanns, ein ſechzehnjähriger 
Burſche, der erſt vor kurzem zu den Lllanen gekommen 
war. Dieſe nahmen nicht nur alsbald Wladimirs An 
erbieten an, ſondern ſchworen ihm ſogar ihre Bereit⸗ 
willigkeit zu, für ihn ihr Leben zu laſſen. Wladimir 
umarmte ſie begeiſtert und fuhr nach Hauſe, um ſeine 
Vorbereitungen zu treffen. | 
Die Abenddämmerung war längft hereingebrochen. 
Er entſandte ſeinen zuverläſſigen Tereſchka mit der 
Troika nach Nenaradowo und gab ihm die genaueſten 
und eingehendſten Verhaltungsmaßregeln mit, für ſich 
ſelber aber ließ er den kleinen einpferdigen Schlitten an⸗ 
ſpannen und begab ſich allein und ohne Kutſcher nach 
Schadrino, da Marja Gawrilowna nach zwei Stunden 
dort eintreffen mußte. Die Straße war ihm wohlbekannt, 
er hatte nicht mehr als zwanzig Minuten zu fahren. 
Allein kaum war Wladimir aus dem Dorf ins Freie 
gekommen, als der Sturm ſich erhob und ein ſolches 
Schneetreiben begann, daß er nichts mehr im Umkreiſe 
erblicken konnte. Nach einer Minute war die Straße 
pöllig verweht; die Umgebung verſchwand im trüben 
gelblichbleichen Dunkel, durch welches unabläſſig die 
weißen Schneeflocken fegten; Erde und Himmel waren 
eines; Wladimir befand ſich gleich darauf auf offenem 


39 


Die Erzählungen Bjelkins 


Felde und gab ſich vergebens Mühe, die Straße wieder 
zu gewinnen; das Pferd taſtete ſich auf Gutglück vor: 
wärts und mußte bald über Anhöhen klettern, bald 
wieder ſtolperte es in eine Grube. Keine Minute verging, 
ohne daß nicht der Schlitten umſtürzte. Wladimirs 
einzige Sorge war nur, die Richtung nicht zu verlieren. 
Doch ſchon war mehr als eine halbe Stunde verſtrichen, 
und er hatte immer noch nicht das Gehölz von Scha— 
drino erreicht. Weitere zehn Minuten vergingen — 
und noch immer war nichts vom Gehölz zu ſehen. 
Wladimir fuhr jetzt über ein Feld, das von tiefen 
Gräben durchfurcht war. Der Schneeſturm ließ nicht 
nach, und auch der Himmel wollte ſich nicht aufklären. 
Sein Pferd ermattete nach und nach, und auch er war 
bereits von Schweiß durchnäßt, trotzdem er unabläſſig 
bis an den Gürtel im Schnee ſtak. 

Endlich mußte er erkennen, daß er in der falſchen 
Richtung fuhr. Wladimir hielt an: er überlegte hin 
und her und kam ſchließlich zur Überzeugung, daß er 
mehr nach rechts halten müßte. So fuhr er denn 
nach rechts. Sein Pferd wollte kaum mehr weiter. 
Er war bereits mehr als eine Stunde unterwegs. 
Schadrino mußte ganz in der Nähe ſein. Aber immer 
noch ging es weiter und weiter, und das Feld wollte 
nicht enden. Immer noch nichts als Gräben und 
Schneewächten; unabläſſig ſchlug der Schlitten um, 
und unabläſſig mußte er ihn aufrichten. Die Zeit ver⸗ 
ging; Wladimir war in großer Unruhe. 


1165 


Der Schneeſturm 


Endlich trat auf einer Seite etwas Dunkles hervor. 
Wladimir lenkte dorthin. Als er näher kam, ſah ег * 
ein Gehölz. Gott ſei Dank, dachte er, jetzt iſt es ganz 
nah. Er fuhr längs des Gehölzes, denn er wußte, daß 
er entweder ſogleich auf die bekannte Straße kommen, 
oder aber um das Gehölz herumfahren mußte, denn 
Schadrino lag gleich dahinter. Bald darauf fand er 
die Straße und fuhr in das Dunkel der Bäume, die 
der Winter entblättert hatte. Hier konnte der Sturm 
nicht ſo wüten, darum war auch die Straße leichter 
fahrbar; das Pferd wurde munterer, und auch 
Wladimir beruhigte ſich. 

Aber er fuhr und fuhr, und kein Schadrino zeigte 
ſich; das Gehölz nahm kein Ende. Mit Schaudern 
bemerkte Wladimir, daß er in einen unbekannten Wald 
geraten war. Er war ganz verzweifelt. Er ſchlug aufs 
Pferd ein; das arme Geſchöpf verſuchte, ſich in Trab 
zu ſetzen, aber nicht lange, und es verſagte, und nach 
einer Viertelſtunde ging es trotz aller Anſtrengungen 
des unglücklichen Wladimir nur mehr im Schritt. 

Endlich lichteten ſich die Bäume, und Wladimir ließ 
den Wald hinter ſich, aber vor ihm lag kein Schadrino. 
Es mußte bereits gegen Mitternacht ſein. Die Tränen 
fprangen ihm aus den Augen; er fuhr jetzt nur noch 
aufs Geratewohl dahin. Das Unwetter ließ nach, die 
Wolken teilten ſich; vor ſeinen Augen breitete ſich eine 
von einem weißen, ſchöngewellten Teppich bedeckte 
Ebene. Die Nacht war ziemlich klar. Er gewahrte 


41 


Die Erzählungen Bjelkins 


ein Dörfchen in der Nähe, das aus vier oder fünf Ge⸗ 
bäuden beſtand. Wladimir fuhr hin. Kaum hatte er 
die erſte Hütte erreicht, da ſprang er aus dem Schlitten, 
eilte zum Fenſter und begann zu klopfen. Nach eini⸗ 
gen Minuten wurde der hölzerne Fenſterladen auf— 
gemacht, und in der Öffnung zeigte ſich ein alter 
Mann mit grauem Bart. „Was willſt du?“ — „Iſt 
es noch weit bis Schadrino? ! — „ОБ es noch weit bis 
Schadrino iſt? “ — „Freilich! Ob es noch weit iſt? — 
„Nicht ſchlimm: an die zehn Werſt.“ Als Wladimir 
dieſe Antwort hörte, raufte er ſich die Haare und ſtand 
regungslos da wie ein zum Tode Verurteilter. 

„Von wo kommſt du?“ fuhr der Alte fort. Wladi⸗ 
mir war es nicht danach, jetzt auf Fragen zu antworten. 
„Sag mal, Alter,“ ſagte er, „kannſt du mir Pferde 
verſchaffen, um nach Schadrino zu kommen?“ — 
„Was da, Pferde bei uns“, entgegnete der Bauer. — 
„Könnte ich wenigſtens einen Führer bekommen? Ich 
zahle wieviel er verlangt.“ — „Wart' mal,“ meinte 
der Alte, den Fenſterladen zuſchlagend, „ich ſchick dir 
meinen Sohn, er wird dich führen.“ Wladimir wartete. 
Noch war keine Minute verſtrichen, da klopfte er aufs 
neue. Der Fenſterladen ging auf, und der Bart kam 
aufs neue zum Vorſchein. „Was willſt du?“ — „Nun, 
und dein Sohn?“ — „Kommt gleich, zieht ſich nur 
die Stiefel an. Wenn du kalt haſt, komm herein, 
wärm dich.“ „Danke; ſchick mir nur ſchneller deinen 
Sohn heraus.“ 


42 


Der Schneeſtu rm 


Die Pforte knarrte; ein Burſche mit einem Knüppel 
trat heraus und ging voran; er wies den Weg und 
fand ihn immer, obwohl die Schneewächten ihn oft 
verſteckten. „Wie ſpät iſt es?“ fragte Wladimir. — 
„Es wird bald dämmern“ , entgegnete der junge Bauer. 
Wladimir vermochte kein Wort mehr zu ſagen. 

Die Hähne krähten, und es war bereits hell, als 
ſie Schadrino erreichten. Die Kirche war verſchloſſen. 
Wladimir entlohnte den Führer und fuhr zum Haus 
des Prieſters. Sein Dreigeſpann ſtand nicht auf dem 
Hof. Und welch eine Nachricht erwartete ihn! 

Doch kehren wir wieder zu unſeren braven Nena— 
radowſchen Gutsbeſitzern zurück, und ſchauen wir, was 
ſich inzwiſchen bei ihnen ereignet hat. 

Eigentlich nichts von Belang. 

Nachdem die Eltern erwacht waren, gingen ſie wie 
immer ins Speiſezimmer, Gawrila Gawrilowitſch in 
ſeiner Nachtmütze und warmen Joppe, Praſkowja 
Petrowna dagegen im wattierten Schlafrock. Der 
Sſamowar kam, und Gawrila Gawrilowitſch ſchickte 
die Jungfer, zu erfahren, wie Marja Gawrilowna 
fi) befände und wie fie geruht hätte. Die Jungfer 
kehrte zurück und meldete, daß das Fräulein ſehr ſchlecht 
geſchlafen hätte, doch daß es ihr jetzt beſſer ginge und 
daß ſie gleich erſcheinen würde. Und in der Tat öffnete 
ſich alsbald die Türe, und Marja Gawrilowna trat 
ein, um Vater und Mutter zu begrüßen. 

„Was macht dein Kopf, Maſcha?“ fragte Gawrila 


43 


Die Erzählungen Bjelkins 


Gawrilowitſch. — „Schon beſſer, Papa“, entgegnete 
Maſcha. — „Du haſt ſicher geſtern zu viel Ofendunſt 
eingeatmet, Maſcha“, meinte Praſkowja Petrowna.— 
„Kann ſein, Mama“, entgegnete Maſcha. 

Ruhig verging der Tag, zur Nacht aber wurde 
Maſcha ſehr krank. Man ſchickte in die Stadt nach 
dem Doktor. Er traf ein, als die Kranke bereits im 
hohen Fieber lag. Es war ein heftiger Fieberanfall, 
und zwei Wochen lang ſchwebte die arme Kranke am 
Rande des Grabes. 

Niemand im Hauſe wußte auch nur das geringſte 
von der beabſichtigten Flucht. Die Briefe, tags zu⸗ 
vor geſchrieben, waren längſt verbrannt, und die Zofe 
ſprach zu keinem Menſchen ein Sterbenswörtchen, 
da ſie den Zorn ihrer Herrſchaft fürchten mußte. 
Der Priefter, der verabſchiedete Kornett, der ſchnurr⸗ 
bärtige Landmeſſer und der kleine Ulan waren zurück⸗ 
haltend und hatten wohl auch Grund dazu. Te⸗ 
reſchka, der Kutſcher, hingegen ſprach niemals ein 
übriges Wort, nicht einmal, wenn er betrunken war. 
Auf dieſe Weiſe wurde das Geheimnis bewahrt, ob— 
wohl die Zahl der Verſchworenen ein halbes Dutzend 
überſtieg. Zwar verriet Marja Gawrilowna in ihren 
unabläſſigen Fieberreden ſelber ihr Geheimnis. Doch 
da ihre Worte völlig unwahrſcheinlich klangen, ent⸗ 
nahm die Mutter, die nicht von dem Krankenlager 
wich, ihnen nur, daß ihre Tochter ſterblich in Wladi⸗ 
mir Nikolajewitſch verliebt fei, und daß aller Wahr: 


44 


Der Shneefturm 


ſcheinlichkeit nach die Urſache dieſer Krankheit Liebe 
fei. Sie beriet ſich mit ihrem Gatten und einigen Nach: 
barn, und ſchließlich wurde einſtimmig befchloffen, dies 
wäre augenſcheinlich Marja Gawrilownas Schickſal, 
und man könnte dem Erkorenen nicht einmal zu Pferde 
entrinnen, Armut ſei kein Laſter, und man habe nicht 
mit dem Reichtum, ſondern mit dem Menſchen zu 
leben und dergleichen mehr. Dieſe moraliſchen Redens⸗ 
arten können in Fällen, in denen wir ſelber nichts Rechtes 
zu unſerer Rechtfertigung erſinnen können, manchmal 
von erſtaunlichem Nutzen ſein. 

Derweilen genas das Fräulein nach und nach. 
Wladimir hatte ſich im Hauſe Gawrila Gawrilowitſchs 
lange nicht mehr blicken laſſen. Der Empfang, den er 
dort immer gefunden, hatte ihn wohl abgeſchreckt. So 
wurde denn beſchloſſen, ihn holen zu laſſen, um ihm 
das unerwartete Glück mitzuteilen, daß man ihm die 
Einwilligung zur Ehe nicht länger vorenthalte. Wie 
groß jedoch war das Erſtaunen der Nenaradowſchen 
Gutsbeſitzer, als ſie einen halb tollen Brief von ihm 
als Antwort auf ihre Einladung erhielten! Er erklärte 
ihnen darin, daß ſein Fuß niemals wieder ihr Haus 
betreten würde, und bat, den Unſeligen zu vergeſſen, 
dem als einzige Hoffnung nur noch der Tod geblieben 
ſei. Wenige Tage darauf erfuhren ſie, daß Wladimir 
zur Armee abgereiſt wäre. Dies alles geſchah im 
Jahre 1812. 

Noch lange danach wagte es keiner, dieſen Umſtand 


45 


Die Erzählungen Bjelkins 


der geneſenden Maſcha mitzuteilen. Sie ſelber er— 
wähnte Wladimirs Namen niemals. Aber einige No: 
nate darauf fiel ſie, als ſie ſeinen Namen unter der 
Zahl derjenigen fand, die ſich bei Borodino ausge⸗ 
zeichnet hatten und ſchwer verwundet worden waren, 
in Ohnmacht, und man fürchtete, das Fieber könnte 
ſie aufs neue packen. Allein die Ohnmacht hatte, 
Gott ſei dank, keine üblen Folgen. 

Dagegen ſuchte ein anderer Kummer ſie heim: Gaw⸗ 
rila Gawrilowitſch ſtarb und ließ ſie als Erbin ſeiner 
Beſitztümer zurück. Aber das Erbe war ihr kein Troſt: 
ſie teilte den bitteren Kummer der armen Praſkowja 
Petrowna und ſchwur, ſich niemals von ihr trennen 
zu wollen; beide verließen Nenaradowo, den Ort ſo 
vieler trauriger Erinnerungen, und begaben ſich auf 
das . .. ſche Gut, um fürderhin dort zu leben. 

Allein auch dort gab es viele Bewerber, die das 
liebenswürdige und reiche Bräutchen umſchwirrten; 
doch gab ſie keinem einzigen von dieſen jemals auch nur 
zur geringſten Hoffnung Anlaß. Die Mutter redete 
ihr zwar gelegentlich zu, ſich doch nach einem Kamera— 
den umzuſehen, aber Marja Gawrilowna ſchüttelte 
ſtets den Kopf und wurde nachdenklich. Wladimir war 
längſt nicht mehr am Leben; er war kurz vor dem 
Einzug der Franzoſen in Moskau geſtorben. Sein 
Andenken ſchien Marja heilig zu ſein; ſie hatte alles, 
was an ihn erinnern konnte, ſorgfältig aufgehoben: 
die Bücher, die er einſtmals geleſen, ſeine Zeichnungen, 


46 


Der Schneeſtur m 


aber auch die Noten und die Gedichte, die er für ſie 
abgeſchrieben hatte. Die Nachbarn, die natürlich alles 
wußten, wunderten ſich über eine ſo große Beſtändig⸗ 
keit und erwarteten voll Neugierde jenen Helden, der 
ſchließlich und endlich über die traurige Treue der 
jungfräulichen Artemis obſiegen mußte. 

Der Krieg war unterdeſſen ruhmreich zu Ende ge— 
führt worden. Unſere Regimenter kehrten aus dem 
Ausland zurück. Das Volk ſtrömte ihnen entgegen. 
Die Muſik ſpielte die während des Feldzuges erlernten 
neuen Lieder: Vive Henri- Quatre, Tiroler Walzer und 
Arien aus der Joconde. Die Offiziere, die zu Beginn 
des Krieges noch faſt als Jünglinge ins Feld gezogen 
waren, kehrten, in der Luft des Kampfes zu Männern 
gereift, mit Orden geziert, zurück. Heiter plauderten 
die Soldaten miteinander und mengten unabläſſig in 
ihre Rede deutſche und franzöſiſche Worte. Unver— 
geßliche Zeit! Zeit des Ruhmes und des Rauſches! 
Wie ſtark pochte das ruſſiſche Herz beim Namen Bater: 
land! Wie ſüß waren die Tränen des Wiederſehens! 
Mit welcher Eintracht verbanden wir damals das Ge: 
fühl des Nationalſtolzes mit der Liebe zum Herrſcher! 
Und für dieſen ſelber — welch eine Minute für ihn! 

Die Frauen, die ruſſiſchen Frauen, waren damals 
unvergleichlich. Ihre gewöhnliche Kühle war ver— 
ſchwunden. Ihre Begeiſterung war wahrhaft berau⸗ 
ſchend, zumal als ſie, die Sieger begrüßend, hurra riefen 

„Und in die Luft die Hauben warfen“. 


47 


Die Erzählungen Bjelkins 


Iſt wohl einer unter den damaligen Offizieren, der 
nicht geſtehen wollte, daß er ſeine beſte, ſeine köſtlichſte 
Belohnung von der ruſſiſchen Frau erhielt? 

In jener glanzvollen Periode lebte Marja Gawri⸗ 
lowna mit ihrer Mutter im ... Gouvernement und 
ſah wenig davon, wie die beiden Hauptſtädte die Rück⸗ 
kehr der Heere feierten. Freilich war die allgemeine 
Begeiſterung in den Landkreiſen und Dörfern vielleicht 
noch ſtärker. Wenn nämlich ein Offizier an dieſen 
Orten erſchien, ſo war es ein wahrhafter Triumph⸗ 
zug für ihn, und ſchlecht ging es in feiner Nachbar: 
ſchaft dem Liebhaber im Frack. 

Wir erwähnten bereits, daß Marja Gawrilowna 
trotz ihrer Kälte nach wie vor von Bewerbern um— 
ringt wurde. Aber ſie alle mußten abtreten, als der 
verwundete Oberſt Burmin mit dem Georg im Knopf: 
loch in ihrem Palais auftauchte; er war, wie die 
dortigen Fräuleins ſich ausdrückten, von einer beſon⸗ 
ders intereſſanten Bläſſe. Er mochte gegen ſechs— 
undzwanzig Jahre alt ſein. Er war auf ſeine Güter 
beurlaubt, die in der Nachbarſchaft von Marja 
Gawrilownas Beſitzung lagen. Marja Gawrilowna 
zeichnete ihn ſehr aus. Ihre gewöhnliche Verſonnen⸗ 
heit belebte ſich ein wenig, wenn er in ihrer Nähe war. 
Man konnte nicht ſagen, daß ſie mit ihm kokettiert 
hätte; doch wäre ein Dichter, ihr Benehmen gewahrend, 
ſicherlich in folgende Worte ausgebrochen: 

Se amor non 6, che dunche?... 


48 


Der Schneeſtur m 


Burmin war in der Tat ein ſehr liebenswürdiger 
junger Mann. Er verfügte über jenen Geiſt, der den 
Frauen ſo gut gefällt: der Geiſt des Anſtandes und 
der Aufmerkſamkeit, niemals fordernd und ewig forg: 
los ſpöttiſch. Sein Verhalten Marja Gawrilowna 
gegenüber war frei und einfach; allein, was immer 
dieſe auch ſagen oder tun mochte, ſeine Seele und ſeine 
Blicke folgten ihr hartnäckig. Er ſchien von ſtiller und 
beſcheidener Gemütsart zu ſein, obwohl ihm das Ge⸗ 
rücht nachſagte, daß er vormals ein ſchrecklicher Tauge⸗ 
nichts geweſen, doch ſchadete ihm dieſer Umſtand bei 
Marja Gawrilowna nicht im mindeſten, denn dieſe 
wie überhaupt alle jungen Damen entſchuldigte mit 
Vergnügen all die Schelmereien, die von Verwegen— 
heit ſprachen und von einem leichtentflammbaren Cha- 
rakter. 

Am meiſten jedoch ... (und zwar mehr als feine 
Zartheit, mehr als ſeine angenehme Unterhaltung, 
mehr als ſeine intereſſante Bläſſe, ja mehr noch als 
ſein verbundener Arm) — am heftigſten wurden ihre 
Neugierde und ihre Phantaſie von der Schweigſam— 
keit des jungen Huſaren angeregt. Sie konnte es ſich 
nicht länger verhehlen, daß ſie ihm außergewöhnlich 
gut gefiel; und vermutlich hatte auch er bei ſeinem 
Verſtande und ſeiner Erfahrung bereits die Beobach— 
tung machen können, daß ſie ihn auszeichnete; wie 
alſo kam es, daß ſie ihn immer noch nicht zu ihren 
Füßen erblickt und noch immer nicht ſein Geſtändnis 


P. I 4 
49 


Die Erzählungen Bjelkins 


zu Ohren bekommen hatte? Was hielt ihn wohl 
zurück? War es die Scheu, die unzertrennbar von 
wahrer Liebe iſt, war es Stolz oder gar nur das Spiel 
eines ſchlauen Wüſtlings? Dies war ein Rätſel für 
ſie. Nachdem ſie ſich den Fall gehörig überlegt hatte, 
kam ſie zum Eutſchluß, daß der einzige Grund hierzu 
ſeine Scheu war, und beſchloß darum, ihn durch noch 


größere Aufmerkſamkeit, ja, wenn die Gelegenheit es 


ergeben ſollte, ihn ſogar durch Zärtlichkeit aufzumun⸗ 
tern. Sie war auf die allerunwahrſcheinlichſte Löſung 
des Geheimniſſes gefaßt und erwartete voll Ungeduld 
die Minute feiner romantiſchen Erklärung. Jedes Фе: 
heimnis, es ſei wie es wolle, laſtet immer auf dem 
weiblichen Herzen. Ihre Strategie hatte den ge— 
wünſchten Erfolg: Burmin wurde zum mindeſten ſo 
ungemein nachdenklich und heftete ſeine ſchwarzen 
Augen mit ſolchem Feuer auf Marja Gawrilowna, 
daß es den Anſchein erwecken mußte, die entſcheidende 
Minute ſei bereits ſehr nahe herangerückt. Die Nach⸗ 
barn ſprachen ſchon von der Hochzeit, als von einer 
beſchloſſenen Tatſache, und die gute Praskowja Pe- 
trowna freute ſich, daß ihre Tochter endlich einen 
Bräutigam gefunden, der ihrer würdig war. 

Die alte Dame ſaß eines Tages im Wohnzimmer 
und legte eine Grande-Patience, als Burmin das Ge: 
mach betrat und ſich ſogleich nach Marja Gawrilowna 
erkundigte. „Sie iſt im Garten,“ entgegnete die Alte, 
„gehen Sie nur zu ihr, ich werde derweilen hier auf 


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Tr 


Der Shneefturm 


Sie warten.“ Burmin verließ fie, die Alte aber Бе: 
kreuzigte ſich und dachte: vielleicht geht die Sache 
heute zu Ende! 

Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, wo ſie 
in ihrem weißen Tuch, ein Buch in der Hand, unter einer 
Weide wie eine wirkliche Romanheldin ſtand. Nach— 
dem die erſten Fragen beantwortet waren, unterließ es 
Marja Gawrilowna mit einer gewiſſen Abſicht, das 
Geſpräch weiter im Gang zu halten, und verſtärkte 
hierdurch die beiderſeitige Verwirrung nur noch mehr, 
ſo daß, um ſie zu löſen, nur noch eine plötzliche und 
entſcheidende Erklärung möglich war. Das geſchah 
auch: Burmin, der die ganze Schwierigkeit ſeiner Lage 
empfand, teilte ihr mit, daß er ſchon längſt nach einer 
Gelegenheit geſucht hätte, ihr ſein Herz zu enthüllen, 
und bat um eine Minute der Aufmerkſamkeit. Marja 
Gawrilowna ſchloß das Buch und ſchlug zum Zeichen 
des Einverſtändniſſes die Augen nieder. 

„Ich liebe Sie“, ſagte Burmin: „Ich liebe Sie mit 
aller Leidenſchaft ...“ (Marja Gawrilowna errötete 
und ſenkte den Kopf noch ein wenig tiefer.) „Ich 
handelte unvorſichtig, als ich mich der lieben Gewohn— 
heit hingab, der Gewohnheit, Sie täglich zu ſehen und 
zu hören ..“ (Marja Gawrilowna mußte hierbei an 
den erſten Brief des St. Preux denken.) „Es iſt be— 
reits zu fpäf, mich meinem Schickſal zu widerſetzen; 
die Erinnerung an Sie, Ihr liebliches und unvergleich— 
liches Bildnis wird von nun ab die Qual und die 


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Die Erzählungen Bjelkins 


Freude meines Lebens ſein; und ſo bleibt mir jetzt nur 
noch das eine, Ihnen zur Erfüllung einer ſchrecklichen 
Pflicht ein gräßliches Geheimnis zu enthüllen und 
zwiſchen uns beiden eine unüberwindliche Schranke auf⸗ 
zurichten ...“ — „Die hat immer ſchon beſtanden“, 
unterbrach ihn Marja Gawrilowna lebhaft: „Ich 
hätte niemals Ihre Frau werden können ...“ — 
„Ich weiß es“, entgegnete er ſtill: „Ich weiß, daß Sie 
einmal geliebt haben, aber der Tod und drei Jahre 
der Klage ... Teure Geliebte, Marja Gawrilowna, 
nehmen Sie mir nicht den letzten Troſt: den Gedanken, 
daß Sie vielleicht einverſtanden geweſen wären, mein 
Glück zu teilen, wenn ...“ — „Schweigen Sie, um 
Gottes willen, ſchweigen Sie. Sie peinigen mich.“ — 
„Ja, ich weiß es, ich fühle es, daß Sie die Meine 
hätten werden können, aber — ich bin das unſeligſte 
Geſchöpf ... ich bin verheiratet.“ 

Marja Gawrilowna blickte ihn überraſcht an. 

„Verheiratet bin ich“, fuhr Burmin fort: „Ich bin 
bereits das vierte Jahr verheiratet und weiß nicht, wer 
meine Frau iſt und wo ſie weilt und ob es mir jemals 
befchieden fein wird, mit ihr zuſammenzutreffen!“ 

„Was ſagen Sie da?“ rief Marja Gawrilowna: 
„Wie ſeltſam das iſt! Aber fahren Sie fort; ich muß 
Ihnen nachher etwas erzählen ... fahren Sie fort, 
ſeien Sie ſo gut.“ 

„Es war zu Beginn des 1812 ten Jahres“, erzählte 
Burmin: „Ich eilte gerade nach Wilna, wo ſich да: 


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Der Schneeſtur m 


mals mein Regiment befand. Eines Abends langte ich 
auf einer Poſtſtation ſpät an und erteilte gerade 
den Befehl, die friſchen Pferde möglichſt ſchnell an— 
zuſpannen, als ſich plötzlich ein furchtbarer Schnee— 
ſturm erhob und der Aufſeher und die Kutſcher mir 
ſogleich rieten, noch ein wenig zu warten. Ich ließ 
mich überreden, obwohl eine unerklärliche Unruhe von 
mir Beſitz ergriff; mir war, als würde ich von ци: 
ſichtbarer Hand auf etwas zugeſtoßen. Das Wüten 
des Schneeſturms draußen ließ nicht nach; ſchließlich 
hielt ich es nicht länger aus und befahl aufs neue an⸗ 
zuſpannen und fuhr mitten im Sturm davon. Mein 
Kutſcher faßte den Entſchluß, über den Fluß zu fahren, 
was unſeren Weg um drei Werſt verkürzen mußte. 
Da die Ufer völlig verſchneit waren, fuhr der Kutſcher 
an der Stelle, auf der man ſonſt abbiegt, um wieder 
die Straße zu gewinnen, vorbei, und unverhofft be- 
fanden wir uns plötzlich in einer unbekannten Gegend. 
Der Sturm wollte immer noch nicht nachlaſſen; da 
ſah ich ein Licht und befahl dem Kutſcher, darauflos 
zu fahren. Wir kamen bald danach in ein Dorf; in 
der Dorfkirche war Licht. Die Kirchentür ſtand offen; 
hinter der Kirchenmauer hielten mehrere Schlitten; 
unter dem Portal bewegten ſich einige Menſchen. 
„Hierher! Hierher!“ riefen Stimmen. Ich befahl dem 
Kutſcher, dorthin zu fahren. „Ich bitte dich, wo warſt 
du ſo lange?“ redete mich jemand an: „Die Braut 
liegt in tiefer Ohnmacht; der Prieſter weiß nicht mehr, 


33 


Die Erzählungen Bjelkins 


was tun; wir waren ſchon drauf und dran heim⸗ 
zufahren. Komm ſchnell.“ Stumm ſprang ich aus 
dem Schlitten und trat in die Kirche, die von zwei 
oder drei Kerzen düſter erleuchtet war. Auf einer Bank 
in einer dunklen Kirchenecke ſaß ein Mädchen; eine 
andere rieb ihr die Schläfen. „Gott ſei Dank!“ ſprach 
dieſe: „Endlich ſind Sie gekommen. Sie hätten faſt 
unſer Fräulein getötet.“ Und ſchon näherte ſich mir 
der bejahrte Prieſter mit der Frage: „Belieben Sie, 
daß wir beginnen?“ — „Beginnen Sie nur, beginnen 
Sie, Hochwürden“, entgegnete ich zerſtreut. Man 
richtete das Mädchen auf. Sie ſchien mir hübſch zu 
fein ... Unbegreiflicher, unverzeihlicher Leichtſinn ... 
ich ſtellte mich neben ſie vor den Altar: der Prieſter 
hatte große Eile; die drei Männer und die Jungfer 
ſtützten die Braut, und waren lediglich mit ihr be— 
ſchäftigt. So wurden wir getraut. „Jetzt müßt ihr 
euch küſſen“, ſagte jemand. Meine Gemahlin wendete 
mir ihr bleiches Geſicht zu. Ich wollte fie küſſen ... 
Da ſchrie ſie: „O weh, es iſt nicht er! Nicht er iſt's!“ 
und ſtürzte beſinnungslos nieder. Die erſchreckten 
Augen der Zeugen lagen auf mir. Ich drehte mich 
um, verließ unbehindert die Kirche, ſprang in den 
Wagen und ſchrie: „Vorwärts!“ 

„Mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna: Na Sie 
wiſſen alſo nicht, was aus Ihrer armen Gemahlin 
geworden ИЕ?“ 

„Ich weiß nichts von ihr,“ entgegnete Burmin, „ich 


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Der Schneeſtur m 


weiß nicht einmal, wie das Dorf heißt, in dem ich 
getraut wurde, und erinnere mich auch nicht, welche 
Poſtſtation es war, von der ich abfuhr. Zu jener 
Zeit legte ich meinem verbrecheriſchen Streich ſo wenig 
Bedeutung bei, daß ich ſogar, gleich nachdem die Kirche 
hinter mir lag, eingeſchlafen bin und erſt am nächſten 
Morgen erwachte, als wir bereits die dritte Pofthalte: 
ſtelle erreicht hatten. Der Diener, den ich damals bei 
mir hatte, fiel während des Feldzuges, ſo daß ich nicht 
die geringſte Hoffnung mehr habe, jene wiederzufinden, 
der ich ſo grauſam mitgeſpielt habe, und die jetzt ſo 
grauſam an mir gerächt iſt.“ 

„Mein Gott, mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna 
und ergriff ſeine Hände: „Sie alſo waren es! und 
Sie erkennen mich nicht?“ 

Burmin erblaßte ... und lag zu ihren Füßen. 


Der Öargmakder 


Sehn wir nicht Särge jedes Jahr 
Wie welken Weltalls graue Haare? 
Derſchawin 
Des Sargmachers Adrian Prochorow letztes Hab 
und Gut wurde auf den Leichenwagen geſtapelt, 
und die zwei dürren Klepper ſchleppten ſich zum 
pierfenmal von der Basmannaja nach der Nikitskaja, 
denn nach dorthin zog der Sargmacher mitſamt 
feinem ganzen Haufe um. Er ſchloß den Laden und Бе: 
gab ſich, nachdem er zuvor an das Haus eine Bekannt⸗ 
machung genagelt hatte, es wäre zu verkaufen oder zu 
vermieten, zu Fuß nach ſeiner neuen Behauſung. Aber 
als er ſich dem gelben kleinen Hauſe, das ſchon ſo lange 
ſeine Einbildung verlockt und das er ſchließlich für 
eine anſtändige Summe erworben hatte, näherte, da 
fühlte der alte Sargmacher plötzlich nicht ohne Ver— 
wunderung, daß in ſeinem Herzen keine Freude war. 
Und als er gar die noch ungewohnte Schwelle über: 
ſchritt und in ſeiner neuen Wohnung nichts als Wirr⸗ 
warr vorfand, da ſeufzte er faſt ſeinem verwitterten 
Häuschen nach, denn im Laufe von achtzehn Jahren 
hatte dort die allerſtrengſte Ordnung geherrſcht; er 
begann auf ſeine zwei Töchter und die Bedienerin 
ihrer Saumſeligkeit wegen zu ſchelten und legte ſelber 
mit Hand an. Die Ordnung war bald hergeſtellt; 
der Schrein mit den Heiligenbildern, der Geſchirr⸗ 


56 


Der SGargmadhıer 


ſchrank, ЗИФ, Sofa und Bett ftanden in den gehö— 
rigen Ecken des hinteren Zimmers; Küche aber und 
Wohnzimmer wurden von den Erzeugniſſen des Haus— 
herrn gefüllt: Särge in den mannigfaltigſten Farben 
und in jeder Größe, ebenſo aber Schränke, voll von 
Trauerhüten, Trauergewändern und Fackeln. Über 
dem Haustor prangte ein Schild, auf dem ein Amor 
dargeſtellt war, in der Hand eine zur Erde geſenkte 
Fackel, die Unterſchrift aber lautete: „Särge, einfache 
und angeſtrichene, werden hier verkauft und tapeziert, 
auch verliehen, und alte werden wieder neu hergerichtet.“ 
Die Mädchen gingen in ihr Zimmer; Adrian aber 
ſchritt durch ſeine ganze Behauſung, endlich nahm er 
am Fenſter Platz und befahl, den Sſamowar aufzu: 
tragen. 

Der aufgeklärte Leſer weiß, daß ſowohl Shake⸗ 
ſpeare wie auch Walter Scott ihre Grabgräber als 
luſtige und ſchelmiſche Menſchen ſchilderten, um unſere 
Phantaſie durch dieſen Kontraſt nur noch heftiger zu 
treffen. Wir jedoch wollen aus Reſpekt vor der Wahr⸗ 
heit ihrem Beiſpiel nicht folgen und ſind gezwungen, 
zu bekennen, daß die Lebensart unſeres Sargmachers 
ſeinem düſteren Gewerbe völlig entſprach. Adrian 
Prochorow war meiſtens finſter und nachdenklich. 
Sein Schweigen unterbrach er eigentlich nur, um 
auf ſeine Töchter zu pochen, wenn er ſah, daß ſie 
untätig durchs Fenſter auf die Vorübergehenden 
guckten, oder um für ſeine Erzeugniſſe jenen, die das 


57 


Die Erzählungen Bjelkins 


Unglück (oder auch zuweilen das Vergnügen) hatten, 
ihrer zu benötigen, geſalzene Preiſe abzufordern. Und 
ſo ſaß denn Adrian am Fenſter und trank, wie es 
ſeine Gewohnheit war, die ſiebente Taſſe Tee, ganz ver⸗ 
ſunken in ſeine ſorgenvolln Gedanken. Er dachte an 
den Platzregen, der, eine Woche war es her, alle Per: 
ſonen, die zur Beerdigung des verabſchiedeten Bri⸗ 
gadiers gekommen waren, noch vor dem Schlagbaum 
überraſcht hatte. Viele Gewänder waren nachher ein⸗ 
geſchrumpft, und viele Hüte hatten Krümmungen be⸗ 
kommen. Er ſah unvermeidbare Ausgaben bevor, 
denn fein uralter Vorrat an Gewändern zu Leichen: 
begängniſſen geriet allmählich in einen kläglichen Zu: 
ſtand. Freilich hoffte er, dieſen Verluſt durch die alte 
Kaufmannsfrau Trjuchinga wieder hereinzubringen, 
denn dieſe lag bereits ſeit Jahresfriſt im Sterben. 
Aber es war ein entferntes Stadtviertel, in dem die 
Trjuchina ihrem Ableben entgegenſah, und Prochorow 
fürchtete, daß die Erben, entgegen ihrem Verſprechen, 
zu läſſig ſein würden, ihn aus einer ſolchen Ent⸗ 
fernung holen zu laſſen, und daß ſie am Ende mit 
einem näher wohnenden Lieferanten handelseins wer⸗ 
den könnten. 

Dieſe Gedanken wurden unverſehens durch ein 
dreimaliges freimaureriſches Klopfen unterbrochen. 
„Wer da?“ fragte der Sargmacher. Die Tür ging 
auf, und mit fröhlicher Miene trat ein Mann, dem 
man bereits auf den erſten Blick den deutſchen 


58 


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Der Sargmadher 


Handwerker anſah, ins Zimmer und näherte ſich dem 
Sargmacher. „Um Vergebung, mein werter Herr 
Nachbar,“ ſagte er mit einer Ausſprache des Ruſ— 
ſiſchen, die wir auch heute noch nicht, ohne lachen zu 
müffen, hören können. „Um Vergebung, daß ich Sie 
ſtöre ... ich beeilte mich, Ihre Bekanntſchaft zu 
machen. Ich bin ein Schuſter meines Gewerbes und 
heiße Gottlieb Schulz, ich wohne auf der anderen 
Seite der Straße in jenem Häuschen, das Ihren 
Fenſtern gerade gegenüberliegt. Und morgen, da 
feiere ich meine Silberhochzeit, und wollte Sie und 
Ihre Töchter gebeten haben, bei mir Ihre Mittags⸗ 
mahlzeit einzunehmen.“ Dieſe Einladung wurde wohl— 
wollend angenommen. Der Sargmacher forderte den 
Schuſter auf, Platz zu nehmen und eine Taſſe Tee 
zu trinken, und ſchon bald darauf war, dank Gottlieb 
Schulzens offenherzigem Weſen, ein freundſchaftliches 
Geſpräch im Gange. „Wie ſteht es mit dem Handel 
von Euer Liebden?“ fragte Adrian. — „Hm,“ ent⸗ 
gegnete Schulz, „fo fo, ich kann nicht klagen. Aller: 
dings hält meine Ware keinen Vergleich mit der Ihrigen 
aus: der Lebende kann auf Stiefel verzichten, der Tote 
aber kann nicht ohne Sarg ableben.“ — „Wahr, 
wahr,“ warf Adrian ein, „doch wenn der Lebende 
kein Geld hat, um ſich Stiefel zu kaufen, dann iſt das 
nicht zu ändern, dann geht er eben barfuß; der Tote 
aber, der nichts hat, der nimmt ſich eben ſemen Sarg 
ohne Bezahlung.“ Und auf dieſe Weiſe ſetzte ſich das 


59 


Die Erzählungen Bjelkins 


Geſpräch noch einige Zeit hindurch fort, bis endlich 
der Schuſter aufſtand und vom Sargmacher Abſchied 
nahm, wobei er nicht verſäumte, ſeine Einladung zu 
wiederholen. 

Pünktlich um die zwölfte Stunde des anderen 
Tages ſchritten der Sargmacher und ſeine Töchter 
durch das Pförtchen des neuerworbenen Hauſes und 
begaben ſich zum Nachbarn. Aber weder gedenke ich 
hier Adrian Prochorows ruſſiſchen Kaftan noch Aku— 
[паз und Darjas europäiſierte Kleider zu beſchreiben 
und weiche in dieſem Falle von den zur Gewohnheit 
gewordenen Gepflogenheiten der gegenwärtigen Er: 
zähler ab. Dennoch halte ich es nicht für überflüſſig 
hinzuzufügen, daß die beiden Mädchen gelbe Hüte 
trugen und rote Schuhe angezogen hatten, was von 
ihnen nur bei beſonders feierlichem Anlaß getan wurde. 

Die enge Wohnung des Schuſters war voller Gäfte, 
es waren zum größten Teile deutſche Handwerker, 
die ihre Frauen und ihre Geſellen mitgebracht hatten. 
Die ruſſiſche Beamtenſchaft war durch einen Polizei⸗ 
wächter vertreten, den Finnländer Jurko, der, un⸗ 
geachtet ſeiner beſcheidenen Stellung, es dennoch ver⸗ 
ftanden hatte, das beſondere Wohlwollen des Haus: 
herrn zu erringen. Mit Treu und Glauben, wie jener 
Poſtillon des Pogorjelskij, verſah er ſchon fünf: 
undzwanzig Jahre lang ſeinen Poſten. Als die Feuers⸗ 
brunſt des Jahres 1812 die Hauptſtadt vernichtete, 
ging auch ſein erbärmliches Hüttchen mit drauf. Aber 


50 


Der Sargmacher 


als der Feind vertrieben worden war, erſtand auf der 
gleichen Stelle ein neues Häuschen, grau mit weißen 
Kolonnen im doriſchen Stile, und ausgerüſtet mit 
feiner „Hellebarde“ und dem „Panzer aus Bauern: 
tuch“ ſchritt Jurko wiederum auf und ab davor. Die 
meiſten Deutſchen, die in der Nähe des Nikitatores 
wohnten, kannten ihn: manch einem von ihnen war 
es bereits zugeſtoßen, die Nacht vom Sonntag auf 
Montag bei Jurko verbringen zu müſſen. Adrian 
ſchloß mit ihm, als mit einem Manne, den man früher 
oder fpäfer doch nötig haben würde, ſogleich nähere 
Bekanntſchaft, und ſetzte ſich, als die Gäſte darauf zu 
Tiſch gebeten wurden, neben ihn. Herr und Frau 
Schulz und ihre Tochter, das ſiebzehnjährige Lottchen, 
ſpeiſten mit ihren Gäſten am gleichen Tiſche, bewir— 
teten ſie eifrig und halfen gleichzeitig der Köchin auf— 
tragen. Bier floß in Strömen. Jurko aß für vier, 
und Adrian ſtand ihm in nichts nach, ſeine Töchter 
jedoch zierten ſich; das in der Hauptſache deutſch ge— 
führte Geſpräch wurde von Stunde zu Stunde ge— 
räuſchvoller. Plötzlich bat der Hausherr um Auf— 
merkſamkeit und rief, einer gut verſiegelten Flaſche 
den Hals brechend, laut und in ruſſiſcher Sprache: 
„Auf die Geſundheit meiner guten Luiſe!“ Der Halb— 
champagner ſchäumte. Zärtlich drückte der Hausherr 
einen Kuß auf das friſche Geſicht ſeiner vierzigjährigen 
Freundin, und geräuſchvoll tranken die Gäſte auf die 
Geſundheit der guten Luiſe. „Auf die Geſundheit 


61 


Die Erzählungen Bjelkins 


meiner lieben Gäſte!“ rief der Hausherr und öffnete 
die zweite Flaſche — und die Gäſte bedankten ſich, 
indem ſie aufs neue ihre Becher leerten. Und nun 
folgte eine Geſundheit der anderen; man trank auf 
das Wohl eines jeden einzelnen der Gäſte, man trank 
auf das Wohl Moskaus und eines ganzen Dutzends 
deutſcher Städtchen, man trank auf das Wohl ſämt⸗ 
licher Innungen im allgemeinen und einer jeden ein— 
zelnen im beſonderen, und man trank auf die Meiſter 
und auf ihre Geſellen. Adrian trank mit großem Eifer 
und war ſchließlich ſo luſtig geworden, daß er ſelber 
einen ſcherzhaften Trinkſpruch ausbrachte. Zuguter⸗ 
letzt ſchwenkte einer der Gäſte, ein dicker Bäcker, ſeinen 
Becher und ſchrie: „Die Geſundheit derer, für die wir 
arbeiten, unſerer Kundleute!“ Freudig und einmütig, 
wie alle zuvor, wurde auch dieſer Vorſchlag auf— 
genommen. Die Gäſte verbeugten ſich voreinander, 
der Schneider vor dem Schuſter, der Schuſter vor 
dem Schneider, der Bäcker vor beiden, und alle anderen 
vor dem Bäcker, und ſo ging es weiter. Und durch 
den Wirbel dieſer allgemeinen Verbeugungen ſchrie 
Jurko, ſich zu ſeinem Nachbarn wendend: „Nun, 
und du? trink, Väterchen, auf die Geſundheit deiner 
Toten!“ Die anderen brachen in ein Gelächter aus, 
aber der Sargmacher, der ſich für gekränkt hielt, run⸗ 
zelte die Brauen. Allein niemand bemerkte es, die Gäſte 
fuhren fort zu zechen, und erſt als die Abendglocken 
zu läuten begannen, erhob man ſich vom Tiſch. 


62 


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Der Sargmacher 


Es war ſchon ſpät, als die Gäfte gingen; die meiften 
von ihnen waren angeheitert. Jurko wurde von dem 
dicken Bäcker und einem Buchbinder, deſſen Antlitz 
rötlich wie ein Saffianeinband glühte, unter den Armen 
gefaßt und zu ſeinem Häuschen geſchleppt, wobei ſie 
in die ſem Falle die Weisheit des ruſſiſchen Sprichwortes 
befolgten: Schulden werden ſchön, wenn man ſie zahlt. 
Betrunken und ärgerlich kam der Sargmacher nach 
Hauſe. „Was ſoll das, wahrhaftig?“ ſprach er laut. 
„Worin iſt mein Gewerbe weniger ehrenhaft als das 
der anderen? Oder iſt der Sargmacher etwa ein Bru— 
der des Henkers? Worüber lachten die Heiden? Es 
war meine Abſicht, ſie zur Einweihung der neuen 
Wohnung einzuladen und ein großes Gelage zu ver— 
anſtalten, aber nichts dergleichen jetzt! Ich will die 
einladen, für die ich arbeite: die rechtgläubigen Toten 
will ich einladen.“ — „Was ſoll das, Väterchen?“ 
unterbrach ihn die Bedienerin, die ihm derweilen die 
Stiefel auszog: „Was ſchwatzeſt du da? Bekreuzige 
dich! Tote zur Einweihung der neuen Wohnung zu 
laden! Hat man fo was gehört!“ — „So wahr mir 
Gott helfe, ich will ſie einladen,“ fuhr Adrian ſort, 
„und zwar ſchon auf morgen. Erweiſt mir die Ehre, 
meine Wohltäter, und kommt morgen mich beſuchen; 
ich will euch vorſetzen, was Gott beſcheert hat.“ Nach: 
dem er dieſe Worte geſprochen, warf ſich der Sarg— 
macher auf ſein Bett und ſchnarchte bald darauf. 
Draußen war es noch ſtockdunkel, da wurde Adrian 


2 


63 


Die Erzählungen Bjelfins 


bereits wieder geweckt. Die Kaufmannsfrau Trju⸗ 
china war in der Nacht geſtorben, und ein Eilbote 
ihres Verwalters überbrachte Adrian dieſe Nachricht. 
Der Sargmacher gab ihm ein Zehnkopekenſtück als 
Trinkgeld, zog ſich in aller Eile an, nahm eine Droſchke 
und begab ſich dorthin. Vor dem Tore hielt die Po- 
lizei Wache, und wie Krähen, die einen Leichnam 
ſpüren, ſchritten Händler auf und ab davor. Gelb wie 
Wachs, wenn auch noch nicht von der Verweſung ver— 
unſtaltet, lag der Körper der Verſtorbenen auf einem 
Tiſch aufgebahrt. Die Verwandten, die Nachbarn 
und das Geſinde ſcharten ſich im Kreiſe. Alle Fenſter 
waren geöffnet, Kerzen flackerten, und Prieſter ſprachen 
ihre Gebete. Adrian näherte ſich dem Neffen der Trju⸗ 
china, einem jungen Kaufmann in einem eleganten 
Gehrock nach der Mode, und benachrichtigte ihn, daß 
der Sarg, die Kerzen, der Überzug und all die anderen 
zum Leichenbegängnis notwendigen Gegenſtände von 
ihm ſogleich, und zwar mit der peinlichſten Genauig⸗ 
keit, herbeigeſchafft werden würden. Der Erbe dankte 
ihm ein wenig zerſtreut und warf hin, daß er wegen des 
Preiſes nicht feilſchen wolle, ſondern daß er ſich in allem 
auf ſeine Rechtſchaffenheit verlaſſe. Der Sargmacher 
rief daraufhin, wie er dies immer tat, Gott zum Zeu⸗ 
gen an, daß er nichts Überflüffiges berechnen würde, 
tauſchte aber gleichzeitig einen bedeutungsvollen Blick 
mit dem Verwalter und eilte dann fort, alles zu be⸗ 
ſorgen. Der ganze Tag verging, indem er raſtlos 


64 


Der Sargmader 


von jenem Stadtteil zur Nikitapforte hin und her fuhr, 
gegen Abend aber war endlich alles erledigt, und er 
begab ſich, nachdem er den Kutſcher bezahlt, zu Fuß 
nach Hauſe. Die Nacht war mondhell. Ungefährdet 
erreichte der Sargmacher das Nikitator. An der 
Himmelfahrtskirche rief ihn der uns bereits bekannte 
Jurko an, aber als er den Sargmacher erkannte, 
wünſchte er ihm nur eine geruhſame Nacht. Es war 
ſchon ziemlich ſpät. Der Sargmacher näherte ſich be- 
reits ſeinem Hauſe, da war ihm plötzlich, als ſähe er 
jemand durch das Tor treten, die Türe öffnen und im 
Innern verſchwinden. „Was ſoll denn das nun 
wieder?“ überlegte Adrian. „Hat ſchon wieder jemand 
etwas von mir nötig? Oder ſchlich ſich ein Dieb ein? 
Oder am Ende Galane, die ſich zu meinen När⸗ 
rinnen ſtehlen? Jedenfalls nichts Gutes!“ Und ſchon 
wollte der Sargmacher ſeinen Freund Jurko zu Hilfe 
rufen. Aber in dem Augenblick näherte ſich wieder 
einer dem Tor und ſchickte ſich an, hineinzugehen, 
blieb jedoch, als er den herbeieilenden Hausherrn 
wahrnahm, ſtehen und lüftete den Dreiſpitz. Das Ge⸗ 
ſicht kam Adrian bekannt vor, obwohl er in ſeiner 
Haſt unterließ, ſich die Züge genauer anzuſehen. „Sie 
geruhten, mich aufzuſuchen,“ ſtieß Adrian noch atem— 
los hervor, „erweiſen Sie mir doch die Ehre und 
treten Sie näher.“ — „Keine Umſtände, mein Väter⸗ 
chen“, erwiderte jener dumpf. „Geh nur voran und 
zeige den Gäſten den Weg!“ Adrian hatte auch gar 
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Die Erzählungen Bjelkins 


nicht die Abſicht, Umſtände zu machen. Die Tür ſtand 
offen, er ſchritt die paar Stufen hinan, und jener 
folgte ihm. Adrian ſchien es dabei, als höre er Men⸗ 
ſchen in ſeiner Wohnung auf und ab gehen. „Was 
für ein Teufelsſpuk!“ dachte er und beeilte ſich einzu⸗ 
treten ... aber da verſagten ihm die Beine den Dienſt. 
Das Zimmer war voll von Toten. Der Mond ſchien 
durchs Fenſter auf gelbe und bläuliche Geſichter, er 
zeigte klaffende Münder, gebrochene Augen und ſpitzige 
Naſen ... Und mit Entſetzen erkannte Adrian eben 
jene in ihnen, die vermittels feiner Bemühungen Бе: 
erdigt worden waren; der Gaſt aber, der mit ihm 
gleichzeitig eingetreten, war jener Brigadier, der 
während des Platzregens beſtattet worden war. Mit 
Verbeugungen und Begrüßungen umringten ſie alle, 
Frauen ſowohl wie Männer, den Sargmacher, und 
nur ein allerärmſter, der kürzlich umſonſt beerdigt 
worden war, ſtand zerknirſcht und ſich ſeines Hemdes 
ſchämend, demütig in einer Ecke und näherte ſich nicht. 
Die anderen waren alle mit großem Anſtand gekleidet: 
die Frauenleichname trugen Häubchen und Bänder, die 
verſtorbenen Beamten hatten ihre Uniform an, freilich 
waren ihre Bärte ungepflegt, die toten Kaufleute aber 
wandelten in ihren Feiertagskaftanen. „Siehſt du, 
Prochorow,“ redete ihn der Brigadier im Namen der 
ganzen reſpektablen Geſellſchaft an, „auf deine Ein⸗ 
ladung hin ſind wir alle gekommen, und nur die ſind 
zu Hauſe geblieben, die ſchon gar nicht mehr konnten, 


«66 


Der Gargmader 


die ſchon ganz und gar zerfallen find, und jene, die 
nur noch aus Gerippe ohne Haut beſtehen; aber auch 
von dieſen wollte einer nicht ſtill halten — ſo ſehr 
verlangte es ihn danach, bei dir zu ſein ..“ Und in 
dieſem Augenblick drängte ſich ein kleines Skelett durch 
die Schar und näherte ſich Adrian. Sein Schädel grinſte 
den Sargmacher liebenswürdig an. Fetzen hellgrünen 
und roten Tuches und morſcher Leinwand baumelten 
an ihm wie an einem Gerüſt, und die Beinknochen 
ſchlotterten in den viel zu weiten Stulpenſtiefeln wie 
eine Keule im Mörſer. „Du erkennſt mich nicht mehr, 
Prochorow“, ſagte das Skelett. „Aber erinnerſt du 
dich nicht an den verabſchiedeten Gardeſergeanten Pjotr 
Petrowitſch Kurilkin, an jenen, dem du noch im 179 er 
Jahre deinen erſten Sarg verkaufteſt — und dazu 
noch einen aus Fichtenholz ſtatt aus Eiche?“ Und mit 
dieſen Worten wollte ihn der Tote in ſeine knöcherne 
Umarmung ſchließen, aber da nahm Adrian all ſeine 
Kraft zuſammen, ſchrie auf und ſtieß ihn fort. Pjotr 
Petrowitſch taumelte, fiel und war auf einmal ganz 
und gar zerfallen. Ein unwilliges Gemurmel erhob 
ſich unter den Toten; alle traten für die Ehre ihres 
Kameraden ein, und rückten Adrian mit Scheltworten 
und Drohungen zu Leibe, der arme Hausherr aber, 
betäubt von ihrem Schreien und faſt zerquetſcht, 
war wie von Sinnen, fiel über die Knochen des 
verabſchiedeten Gardeſergeanten und verlor das Зе: 
wußtſein. 


67 


Die Erzählungen Bjelkins 


Die Sonne ſchien ſchon lange auf das Bett, in dem 
unſer Sargmacher lag. Endlich öffnete er die Augen 
und erblickte die Bedienerin vor ſich, die damit be- 
ſchäftigt war, den Sſamowar anzufachen. Voller 
Grauen gedachte Adrian der geſtrigen Erlebniffe. 
Dunkel kam ihm die Erinnerung an die Trjuchina, 
an den Brigadier und an Kurilkin, den Sergeanten. 
Er ſchwieg und wartete darauf, daß die Bedienerin 
zu ſprechen anfange und ihm von den Folgen des 
nächtlichen Abenteuers erzähle. 

„Väterchen Adrian Prochorowitſch, du haſt dich 
aber verſchlafen“, ſagte Axinja und reichte ihm feinen 
Schlafrock. „Der Nachbar, der Schneider, kam vorüber, 
und der Polizeiwächter kam mit der Nachricht, daß 
heute der Namenstag des Revier aufſehers ſei, aber 
du ſchliefſt in einem fort, und wir wollten dich nicht 
wecken.“ 

„Und von der verſtorbenen Trjuchina, iſt da jemand 
gekommen?“ 

„Von der verſtorbenen? Ja, iſt ſie denn geſtorben?“ 

„Närrin! Als ob nicht du mir geſtern geholfen hätteſt, 
alles zu ihrer Beerdigung vorzubereiten?“ 

„Was ſoll denn das, Väterchen, haſt du wohl gar 
den Verſtand verloren, oder iſt der geſtrige Rauſch 
immer noch nicht vergangen? Was für eine Beerdi⸗ 
gung war denn geſtern? Den ganzen Tag über zechteſt 
du bei dem Deutſchen, kamſt betrunken nach Hauſe 
und fielſt geradezu ins Bett und haſt bis zu dieſer 


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Der Sargmader 


Stunde durchgeſchlafen, da doch ſchon die Glocken 
das Ende des Mittagsgottesdienſtes geläutet haben.“ 
„Was du nicht ſagſt!“ meinte erfreut der Sarg⸗ 
macher. 
„Freilich, freilich“, entgegnete die Bedienerin. 
„Nun, wenn ſich das ſo verhält, dann ſchneller her 
mit dem Tee und ruf meine Töchter.“ 


Der Poſthalter 


Zwar nur Kollegienregiſtrator, 
Doch in der Poſtſtation Diktator. 
Fürſt Wjaſemskij 

Wer von uns hat noch nie die Poſthalter ver— 
wünſcht, wer von uns noch nie mit ihnen gehadert? 
Wer von uns hat in den Augenblicken des Зог: 
nes ihnen noch nicht jenes ſchickſalvolle Buch ab⸗ 
gefordert, um feine völlig nußlofe Klage über aller⸗ 
hand Bedrückungen, Grobheit und Unzuverläſſigkeit 
hineinzuſchreiben? Und wer endlich hat ſie nicht für 
den Abſchaum des Menſchengeſchlechtes gehalten, zu 
vergleichen nur den Amtsſchreibern der alten Zeit, 
oder zum mindeften den Räubern aus Murom? Allein 
ſeien wir dieſes Mal gerecht und bemühen wir uns, 
in ihre Lage einzudringen, um darauf ein bedeutend 
gemäßigteres Urteil zu fällen. Was ſtellt eigentlich ſo 
ein Poſthalter vor? Wahrhaftig, er iſt der Märtyrer 
der vierzehnten Beamtenrangklaſſe, den ſein Titel 
eigentlich vor nichts als vor Prügeln bewahrt, und 
auch dieſes nicht einmal immer. (Ich appelliere hier⸗ 
bei an das Gewiſſen meiner Leſer.) Und welches iſt 
wohl das Amt dieſes Diktators, wie ihn der Fürſt 

Wjaſemskij zum Scherz benannt hat? Wahr und 
wahrhaftig, iſt es nicht etwas in der Art eines Zucht⸗ 
hauſes? Keine Ruhe, weder bei Tag noch bei Nacht. 
Aller Arger, der ſich im Reiſenden während der Dauer 


70 


Der Poſthalter 


des langweiligen Wagenfahrens aufgefpeichert hat, 
wird an dem Poſthalter ausgelaſſen. Ob das Wetter 
ſchlecht, die Wege abſcheulich, der Kutſcher eigenſinnig, 
oder ob die Pferde nicht laufen wollen — ſchuld an 
allem ift der Poſthalter. Der Reiſende, der die dürf— 
tige Behauſung betritt, ſieht ihn als ſeinen Feind an; 
es ИЕ ein Glück für ihn, wenn es ihm gelingt, den ип: 
gebetenen Gaſt ſchnell los zu werden; wie aber, wenn 
er zufällig keine Pferde hat? .. Oh Gott! welche Be⸗ 
ſchimpfungen, welche Bedrohungen hageln dann auf 
ſein Haupt herab! Trotz Regen und kotigen Straßen 
iſt er gezwungen, von Hof zu Hof zu laufen; und 
wie oft pflegt er bei Sturm oder beim tollſten Froſt 
auf den Flur hinauszugehen, um nur vor den Schreien 
und den Püffen des erbitterten Eindringlings Ruhe 
zu haben. Und wenn erſt ein General kommt; zit⸗ 
ternd überläßt ihm der Poſthalter ſeine zwei letzten 
Dreigeſpanne und darunter womöglich ſogar das für 
die Kuriere beſtimmte. Der General reiſt ab, ohne ſich 
zu bedanken. Nach fünf Minuten aber — Schlitten⸗ 
glöckchen! ... und ſchon tritt ein Feldjäger herein, 
der ihm feine Reiſeordre auf den Tiſch haut! ... 
Überlegen wir ung das einmal gehörig und ſtatt Un— 
willen zu empfinden, werden unſere Herzen ihn voll 
aufrichtigen Mitgefühles beklagen. Noch einige Worte: 
im Verlauf der letzten zwanzig Jahre durchſtreifte 
ich Rußland nach allen Richtungen; faſt alle Poft: 
ſtraßen habe ich befahren; mehrere Geſchlechter von 


71 


Die Erzählungen Bjelkins 


Kutſchern ſind mir bekannt geworden; es dürfte nur 
wenige Poſthalter geben, die ich nicht geſehen, nur 
wenige, mit denen ich nicht zu tun gehabt hätte; den 
erſtaunlichen Vorrat meiner Reiſeerinnerungen hoffe 
ich in abſehbarer Zeit herausgeben zu können; für 
dieſes Mal will ich mich darauf beſchränken zu ſagen, 
daß bisher das Amt des Poſthalters der Allgemein⸗ 
heit völlig verkehrt geſchildert worden iſt. Denn dieſe 
ſo verleumdeten Poſthalter ſind durchweg friedliche 
Menſchen, von Haus aus dienſtfertig, menſchenliebend, 
beſcheiden in ihrem Ehrgeiz und keineswegs zu hab⸗ 
gierig. Aus ihrer Unterhaltung (die ſo häufig von 
den Herren Durchreiſenden gering geſchätzt wird) kann 
man viel Merkwürdiges und Belehrendes ſchöpfen. 
Was mich perſönlich anbelangt, ſo muß ich geſtehen, 
daß ich die Unterhaltung mit ihnen durchaus dem Ge⸗ 
ſpräch mit irgendeinem Beamten der ſechſten Rang⸗ 


klaſſe, der in Staatsdienſten reiſt, vorzuziehen ge⸗ 


neigt bin. | 

Ein jeder kann leicht erraten, daß ich unter dieſem 
allerehrenwerten Stande der Poſthalter einige Freunde 
habe. Und in der Tat, ſo iſt es, das Andenken eines 
von ihnen iſt mir auf immer teuer. Die Umſtände 
brachten uns einmal zuſammen, und ich habe jetzt die 
Abſicht, den freundlichen Leſern von ihm zu erzählen. 

Es war im Jahre 1816 im Monat Mal, als ich 
im .. . ſchen Gouvernement auf einer Poſtſtraße, die 
heuer aufgelaſſen worden iſt, zu fahren hatte. Ich 


72 


Der Poſt halter 


war damals ein kleiner Beamter, benutzte die gewöhn⸗ 
liche Poſt und konnte für nicht mehr als für zwei 
Pferde zahlen. Die Poſthalter kümmerten ſich infolge— 
deſſen nicht ſehr um mich, und wie häufig mußte ich 
mir mit den Fäuſten das erkämpfen, was mir meiner 
Anſicht nach mit Recht und Billigkeit zuſtand. Da 
ich damals noch jung und leicht erregbar war, ſchalt 
ich häufig über die Niedrigkeit und Engherzigkeit des 
Poſthalters, wenn dieſer letztere das für mich bereif: 
geſtellte Dreigeſpann vor den Wagen eines höheren 
Beamten ſpannen ließ. Freilich hat es ebenſolange 
gedauert, ehe ich mich daran zu gewöhnen vermochte, 
daß ein allzu wähleriſcher Diener mich während des 
Diners beim Gouverneur bei einem Gang überging. 
Jetzt allerdings ſcheint mir ſowohl das eine wie das 
andere in der Natur der Sache zu liegen. Denn in 
der Tat, was würde wohl aus uns werden, wenn 
ſtatt der allgemeinen und bequemen Regel: der höhere 
Rang hat den Vorrang, etwa ein anderes zum all— 
gemeinen Gebrauch erhoben würde, wie zum Beiſpiel: 
der größere Verſtand hat den Vorrang? Welche Strei— 
tigkeiten müßten hieraus entſtehen! Und bei wem 
würden wohl die Diener mit dem Servieren beginnen? 
Aber ich wende mich wieder meiner Erzählung zu. 

Es war ein heißer Tag. Wir hatten noch drei Werft 
bis zur Station“ , als es zu tröpfeln begann, und 
nach einer weiteren Minute hatte mich ein Platzregen 
bereits durch und durch durchnäßt. Als wir endlich 


73 


Die Erzählungen Bjelkins 


. anlangfen, war es mein erſtes, mich möglichſt ſchnell 
umzuziehen, darauf beſtellte ich mir einen Tee. „He, 
Dunja!“ ſchrie der Poſthalter: „Schnell den ©{а: 
mowar her, und hol Rahm.“ Bei dieſen Worten trat 
ein vierzehnjähriges Mädchen hinter der ſpaniſchen 
Wand hervor und lief auf den Flur. Ihre Schönheit 
überraſchte mich. „Iſt das deine Tochter?“ fragte 

ich den Poſthalter. — „Freilich iſt es meine Tochter,“ 
erwiderte er mit der Miene zufriedenen Selbſtgefühles: 
„Und ſo verſtändig iſt ſie, ſo flink, ganz wie die ver⸗ 
ftorbene Mutter.“ Er machte ſich daran, meine Reife: 
ordre in ſein Buch zu ſchreiben, ich aber beſchäftigte 
mich derweilen mit dem Betrachten der Bilder, die 
ſeine beſcheidene, aber ſaubere Behauſung ſchmückten. 
Sie ſtellten die Geſchichte des verlorenen Sohnes dar; 
auf dem erſten Bild ſah man einen ehrwürdigen Greis 
mit Schlafrock und Schlafmütze den ruheloſen Jüng⸗ 
ling ziehen laſſen, der nur noch in aller Eile den väter⸗ 
lichen Segen und den Beutel mit dem Golde entgegen⸗ 
nahm. Das zweite Bild ſtellte in grellen Farben das 
laſterhafte Verhalten des jungen Menſchen dar; er 
tafelte, umgeben von lügneriſchen Freunden und ſcham⸗ 
loſen Weibern. Auf einem weiteren Bilde war zu ſehen, 
wie der ruinierte Jüngling in grober Gewandung, 
einen Dreiſpitz auf dem Haupt, die Schweine hütete 
und das Futter mit ihnen teilte; tiefe Trauer und Reue 
waren auf ſeinem Geſicht zu leſen. Und ſchließlich gab 
es dann noch die Rückkunft zu ſeinem Vater: immer 


74 


Der Poſthalter 


noch in der gleichen Nachtmütze und vom gleichen 
Schlafrock bekleidet, eilte der gute Alte ihm entgegen; 
der verlorene Sohn lag auf den Knien; auf dem 
Hintergrunde des Bildes ſah man den Koch ein ge— 
mäftetes Kalb ſchlachten und den älteſten Bruder die 
Diener über die Urſache des Freudenfeſtes befragen. 
Unter einem jeden der Bilder las ich die dazu paffen: 
den deutſchen Verſe. Bis zum heutigen Tage hat ſich 
dieſes in meiner Erinnerung erhalten, genau ſo wie die 
Blumentöpfe mit den Balſaminen, und das Bett mit 
dem bunten Vorhang und all die übrigen Gegenſtände, 
die mich damals umgaben. Und als wäre es heute, 
ſehe ich immer noch den Hausherrn vor mir, einen 
Mann von fünfzig Jahren, friſch und rüſtig, im 
langen grünen Leibrock mit den drei Medaillen an den 
verblichenen Ordensbändchen. 

Ich hatte meine Rechnung mit meinem alten Kutſcher 
noch nicht ausgeglichen, da kehrte Dunja bereits mit 
dem Sſamowar zurück. Die kleine Kokette bemerkte 
ſchon beim zweiten Blick den Eindruck, den ſie auf 
mich gemacht hatte; ſie ſchlug die großen blauen Augen 
nieder; ich zog fie ins Gefpräch; fie antwortete mir wie 
ein Mädchen, das ſchon aller hand von der Welt де: 
ſehen hat, ohne jede Scheu. Ich machte ihrem Vater 
den Vorſchlag, ein Glas Punſch mit mir zu trinken; 
Dunja dagegen bot ich eine Taſſe Tee an, und ſo 
kamen wir nach und nach zu dritt ins Geſpräch, als 
wären wir bereits ſeit Ewigkeit bekannt. 


75 


Die Erzählungen Bjelkins 


Längſt warteten die Pferde auf mich, aber immer 
noch wollte ich mich vom Poſthalter und ſeiner Tochter 
nicht trennen. Endlich ſchieden wir. Der Vater wünſchte 
mir eine gute Reiſe und die Tochter wollte mir bis 
zum Wagen das Geleit geben. Ich blieb auf dem Flur 
ſtehen und bat um Erlaubnis, ihr einen Kuß geben 
zu dürfen; Dunja willigte ein... Wie viele Küſſe 
könnte ich aufzählen, 

„(ей ich mit derlei mich befaſſe“, 
doch hat nicht einer von allen eine ſo lange und ſo 
angenehme Erinnerung in mir zurückgelaſſen. 

Einige Jahre vergingen, und wieder einmal führten 
mich die Umſtände auf der gleichen Poſtſtraße durch 
die gleichen Ortſchaften. Ich gedachte der Tochter des 
alten Poſthalters und freute mich bei dem Gedanken, 
ſie wiederzuſehen. Freilich — dachte ich — kann es 
leicht möglich ſein, daß der alte Poſthalter bereits ab⸗ 
geſetzt iſt, und vermutlich hat ſich Dunja derweilen 
verheiratet. Auch ſchoß mir der Gedanke an den Tod 
des einen oder des andern durch den Kopf, und frau: 
rige Vorgefühle waren es, mit denen ich mich der 
Poſtſtation näherte. Endlich hielten meine Pferde vor 
dem Poſthäuschen. Als ich das Zimmer betrat, er— 
kannte ich ſogleich die Bilder, welche die Geſchichte des 
verlorenen Sohnes darſtellten, wieder; der Tiſch und 
das Bett befanden ſich immer noch am gleichen Platz, 
aber keine Blumen ſchmückten mehr die Fenſter, und 
ringsum ſprach alles von Hinfälligkeit und Unacht⸗ 


76 


ntpſsiĩ tts — r h 


Der Poftbalter 


ſamkeit Der Poſthalter ſchlief, von ſeinem Schafspelz 
zugedeckt; meine Ankunft weckte ihn und er erhob 
ſich ... Ja, es war Sſimeon Wyrin, aber wie ſehr 
hatte er inzwiſchen gealtert! Während er ſich anſchickte, 
meine Reiſeordre zu kopieren, betrachtete ich ſein graues 
Haar, die tiefen Runzeln auf dem ſchon ſeit langer Zeit 
nicht mehr raſierten Geſicht und den gebückten Rücken 
— ich konnte mich nicht genugſam darüber wun— 
dern, wie ſchnell die drei, vier Jahre vermocht hatten, 
den rüſtigen Mann in einen ſiechen Greis umzuwan— 
deln. „Haſt du mich nicht wieder erkannt?“ fragte ich 
ihn: „Wir beide find doch alte Bekannte.“ — „Kann 
fein,“ entgegnete er rauh: „Dies iſt eine große Straße; 
viele Durchreiſende find hier ſchon vorüber gekom— 
men.“ — „Und deine Dunja, ift Пе geſund?“ fuhr 
ich fort. Das Geſicht des Alten verfinſterte ſich. „Gott 
weiß,“ entgegnete er. — „Dann hat ſie ſich wohl 
verheiratet?“ meinte ich. Aber der Alte gab ſich den 
Anſchein, meine Frage überhört zu haben, und fuhr 
murmelnd fort, meine Reiſeordre zu entziffern. Ich 
ſtellte mein Fragen ein und bat um Tee. Die Neu— 
gierde plagte mich ſehr, und ich hoffte nur das eine, 
daß vielleicht der Punſch die Zunge meines alten Be— 
kannten löſen würde. 

Ich täuſchte mich nicht: der Alte lehnte das an— 
gebotene Glas nicht ab. Ich konnte nur zu bald be— 
merken, daß der Rum ſeine Finſterkeit ſchwinden 
machte. Bereits beim zweiten Glaſe wurde er ge— 


77 


Die Erzählungen Bjelkins 


ſprächig und jetzt erinnerte er ſich auch meiner, oder 
gab ſich zum mindeſten den Anſchein, ſich meiner zu 
erinnern, und ſo erfuhr ich denn von ihm jene Ge⸗ 
ſchichte, die mich damals ungewöhnlich beſchäftigte 
und rührte. 

„Sie haben alſo meine Dunja gekannt?“ begann 
er: „Wer hat ſie nicht gekannt. Ach, Dunja, Dunja! 
War das ein Mädel! Wer immer hier des Weges 
vorüber kam, ein jeder lobte, keiner tadelte. Die Damen 
ſchenkten ihr Spitzentücher und Ohrringe. Die durch— 
reiſenden Herren aber machten unter dem Vorwande, 
zu Mittag oder zu Abend ſpeiſen zu wollen, häufig 
halt, geſchah es auch meiſt nur aus dem Grunde, um 
meine Tochter länger anſchauen zu können. Und 
wie zornig manch einer der Herren manchmal auch 
war, er wurde, wenn er ſie erblickte, ſtill und ſprach 
mit mir im gnädigſten Tone. Ob Sie es glauben oder 
nicht: ſogar die Kuriere und Feldjäger verplauderten 
oft halbe Stunden mit ihr. Sie war die Stütze des 
Hauſes; was auch zu richten und zu machen war, ihr 
ging alles von der Hand. Und ich alter Narr konnte 
mich nicht ſatt an ihr ſehen, nicht ſatt freuen konnte 
ich mich an ihr; hab ich meine Dunja etwa nicht ge⸗ 
nügend gern gehabt, hab ich mein Kindchen vielleicht 
zu wenig verwöhnt, war es vielleicht kein gutes Leben, 
das ſie bei mir hatte? Aber nein, man ſoll das Un⸗ 
glück nicht ver ſchwören: was fein ſoll, dem entrinnt 
keiner.“ Und nun erzählte er mir die Geſchichte ſeines 


78 


— » > rt ларибик — 


Der Poſthalter 


Kummers mit allen Einzelheiten. Es mochte drei Jahre 
her fein, da fuhr an einem Winterabend, als der Рой: 
halter ſich gerade ein neues Buch zurecht linierte und 
ſeine Tochter ſich hinter der ſpaniſchen Wand ein Kleid 
nähte, ein Dreigeſpann vor, und ein Reiſender im 
Militärmantel, eine tſcherkeſſiſche Mütze auf dem Kopf, 
trat, vom Shawl dicht verhüllt, ins Zimmer und ver⸗ 
langte Pferde. Aber alle Pferde waren unterwegs. 
Der Reiſende erhob bei dieſer Auskunft nicht nur ſeine 
Stimme, ſondern auch ſeine Peitſche; Dunja aber, 
die an dergleichen Auftritte gewöhnt war, eilte aus 
ihrem Verſchlag und wandte ſich mit der freundlichen 
Frage an ihn: „Ob es ihm nicht beliebe, irgend etwas 
zu ſpeiſen?“ Dunjas Erſcheinen übte die gewohnte 
Wirkung aus. Der Zorn des Reiſenden verflog; er 
erklärte ſich einverſtanden, auf die Pferde zu warten, 
und beſtellte ein Abendeſſen. Er warf ſeine naſſe zottige 
Mütze ab, wickelte ſich aus dem Shawl und ſtreifte 
den Mantel ab, und plötzlich kam ein junger ſchlanker 
Huſar mit einem ſchwarzen Schnurrbärtchen zum 
Vorſchein. Er richtete ſich beim Poſthalter häuslich 
ein und begann mit ihm und ſeiner Tochter ein heiteres 
Geſpräch. Bald darauf kam das Abendeſſen. In: 
zwiſchen kehrten auch die Pferde wieder heim, und der 
Poſthalter befahl, ſie augenblicks, ohne ihnen erſt Futter 
zu geben, an den Wagen des Reiſenden zu ſpannen; 
als er aber wieder ins Haus trat, ſah er den jungen 
Mann faſt beſinnungslos auf einer Bank Педей: ihm 


79 


Die Erzählungen Bjelkins 


war übel, der Kopf tat ihm weh, und in dieſem Зи: 
ſtand weiterzureiſen, war für ihn unmöglich... Was 
tun! Der Poſthalter trat ihm das eigene Bett ab und 
es wurde beſchloſſen, daß man, wenn es dem Kranken 
nicht beſſer ginge, am Morgen des andern Tages 
nach ©... ſchicken wollte, um den Arzt von dort 
zu holen. 
Tags darauf fühlte ſich der Huſar ſchlechter. Sein 
Diener ritt zur Stadt, den Arzt zu holen. Dunja wickelte 
ihm ein mit Eſſig getränktes Tuch um den Kopf und 
nahm mit ihrer Näharbeit neben ſeinem Lager Platz. 
Wenn der Poſthalter zugegen war, ſtöhnte der Kranke 
beträchtlich und konnte kaum ein Wort hervorbringen, 
trank aber zum Frühſtück zwei Schalen Kaffee und 
beſtellte ſich ächzend das Mittageſſen. Dunja wich nicht 
von ſeiner Seite. Es verging keine Minute, in der er 
ſie nicht darum gebeten hätte, ihm zu trinken zu geben, 
und jedesmal brachte ihm Dunja den Krug mit der 
Limonade, die ſie für ihn zubereitet hatte. Der Kranke 
benetzte die Lippen und drückte, wenn ег den Krug zu: ` 
rückgab, zum Zeichen der Dankbarkeit mit ſchwacher 
Hand Dunjas Hand. Als die Stunde des Mittag⸗ 
eſſens herankam, erſchien der Arzt. Er fühlte dem 
Kranken den Puls und fprach darauf einige Zeit hin⸗ 
durch in deutſcher Sprache mit ihm. Ruſſiſch fügte er 
hinzu, daß ihm nichts als Ruhe not täte, und daß er 
ſich nach zwei Tagen bereits wieder auf den Weg 
machen könnte. Der Huſar händigte ihm für den 


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Der Poſthalter 


Krankenbeſuch fünfundzwanzig Rubel ein und lud ihn 
ein, mit ihm zu Mittag zu ſpeiſen. Der Arzt willigte ein; 
beide ſpeiſten mit großem Appetit, tranken eine Flaſche 
Wein und ſchieden im beſten Einvernehmen voneinander. 

Ein weiterer Tag verging, und unſer Huſar wurde 
immer lebendiger. Seine Laune war außergewöhn— 
lich gut, er ſcherzte ohne Unterlaß bald mit Dunja 
und bald wieder mit dem Poſthalter. Er pfiff, er 
unterhielt ſich mit den Durchreiſenden, er trug ihre 
Reiſeordres in das Poſtbuch ein und ſtahl ſich der⸗ 
maßen in das Herz des rechtſchaffenen Poſthalters, daß 
es dieſem am dritten Morgen geradezu leid tat, ſich 
von dem liebenswerten Gaſt zu trennen. Es war ein 
Sonntag; Dunja ging gerade zur Meſſe. Der 
Wagen des Huſaren fuhr vor. Er nahm vom Poſt— 
halter Abſchied, nachdem er ihn zuvor für Aufenthalt 
und Verköſtigung reich entlohnt hatte. Als er von 
Dunja Abſchied nahm, ſchlug er ihr vor, ſie bis zur 
Kirche zu fahren, die ſich am äußerſten Rande des 
Dörfchens befand. Dunja war unſchlüſſig ... „Wo⸗ 
vor fürchteſt du dich?“ fragte der Vater. „Seine 
Hochwohlgeboren iſt doch kein Wolf und wird dich 
nicht freſſen; fahr du nur ruhig mit ihm zur Kirche.“ 
Dunja nahm im Wagen neben dem Huſaren Platz, 
der Diener ſprang auf den Bock, der Kutſcher pfiff 
und die Pferde zogen an. 

Der arme Poſthalter konnte nicht begreifen, wie es 


möglich geweſen, daß er ſelber ſeiner Dunja erlaubt 


P. 1 6 
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Die Erzählungen Bjelkins 


hatte, mit dem Huſaren zu fahren, und aus welchem 
Anlaß er ſo mit Blindheit geſchlagen worden war, 
und was damals wohl mit ſeinem Verſtande geſchehen 
fei? Es verging keine halbe Stunde, da fing es in feinem 
Herzen zu bohren an und nach und nach ergriff Unruhe 
ſo ſehr Beſitz von ihm, daß er es nicht länger aushielt 
und ſelber in die Meſſe lief. Als er ſich der Kirche 
näherte, bemerkte er, daß alle Leute bereits fortg ingen, 
Dunja aber war weder innerhalb der Kirchenmauern 
noch vor der Kirche zu erblicken. Er eilte in die Kirche: 
der Prieſter verließ gerade den Altar, der Mesner 
blies die Kerzen aus; zwei alte Frauen beteten in einer 
Ecke, allein Dunja war auch in der Kirche nicht zu 
gewahren; der arme Vater brachte es über ſich, den 
Mesner zu fragen, ob fie wohl zur Meſſe gekommen 
ſei? Der Mesner antwortete, fie fei nicht dageweſen. 
Halbtot kam der Poſthalter nach Hauſe. Eine einzige 
Hoffnung war ihm geblieben: es konnte immerhin 
möglich ſein, daß Dunja aus jugendlichem Leichtſinn 
beſchloſſen hatte, bis zur nächſten Poſtſtation mitzu⸗ 
fahren, wo ihre Taufpatin lebte. In qualvoller Er⸗ 
regung erwartete er die Zurückkunft des Dreigeſpanns, 
mit dem er ſie hatte fortfahren laſſen. Aber der Kutſcher 
wollte und wollte nicht wiederkommen. Endlich, als 
es ſchon Abend geworden war, kehrte er allein und 
betrunken zurück und überbrachte ihm die tödliche 
Mitteilung: „Dunja iſt von jener Poſtſtation aus 
mit dem Huſaren weitergefahren.“ 


82 


Der Poſthalter 


Die ſer Schlag war für den Alten zu ſchwer: er 
mußte ſich auf der Stelle ins Bett legen, und zwar 
in das gleiche Bett, in dem noch in der Nacht zuvor 
der junge Betrüger gelegen hatte. Jetzt erſt erriet der 
Poſthalter, nachdem er alle Umſtände im Geiſt an ſich 
vorüberziehen ließ, daß jene Krankheit nur erheuchelt 
war. Lange lag der Armſte an heftigem Fieber dar⸗ 
nieder: man transportierte ihn nach © ..., an feine 
Stelle trat zeitweilig ein anderer. Zufällig kurierte ihn 
der gleiche Arzt, der zu dem Huſaren gerufen worden 
war. Er beteuerte dem Poſthalter, der junge Mann 
ſei damals ganz geſund geweſen, er, der Arzt, hätte 
freilich ſchon damals feine böswillige Abſicht erraten 
und nur aus Furcht vor der Knute geſchwiegen. Ob 
nun der Deutſche die Wahrheit ſprach, oder ob er 
nur mit ſeiner Weitſichtigkeit prahlte, auf jeden Fall 
konnte ſeine Mitteilung dem armen Kranken keinen 
Troſt bringen. Kaum daß er von ſeiner Krankheit 
geneſen war, erbat ſich der Poſthalter von ſeinem 
Vorgeſetzten einen achtwöchigen Urlaub und begab 
ſich, ohne auch nur ein Wörtchen über ſeine Abſicht 
zu verlieren, zu Fuß auf den Weg, um ſeine Tochter 
wiederzufinden. Aus der Reiſeordre hatte er erſehen, 
daß der Rittmeiſter Minskij von Smolensk nach Peters⸗ 
burg gereiſt war. Der Kutſcher, der ihn gefahren, hatte 
ausgeſagt, Dunja habe den ganzen Weg über geweint, 
obwohl es keineswegs den Eindruck gemacht hätte, daß 
ſie nicht aus eigenem Antriebe mitführe. „Vielleicht,“ 


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Die Erzählungen Bjelkins 


dachte der Poſthalter, „vielleicht bringe ich mein ver⸗ 
irrtes Schäfchen dennoch wieder heim.“ Mit dieſem 
Gedanken kam er in Petersburg an und fand Unter⸗ 
kunft im Hauſe eines verabſchiedeten Unteroffiziers, 
der ſein alter Regimentskamerad war; von hier aus 
machte er ſich auf die Suche. Er erfuhr nach kurzer 
Zeit, daß der Rittmeiſter Minskij in Petersburg weile 
und im Wirtshaus von Demuth wohne. Der Poft: 
halter entſchloß ſich, ihn aufzuſuchen. 

Es war eine frühe Morgenſtunde, als er das Bor: 
zimmer betrat und die Bitte ausſprach, man möge 
Seiner Hochwohlgeboren melden, ein alter Soldat 
bäte darum, von ihm empfangen zu werden. Der 
Burſche, der gerade die auf Leiſten geſchlagenen Stie⸗ 
fel putzte, erwiderte, daß ſein Herr noch ſchlafe, und 
daß er vor elf Uhr niemand empfangen könnte. Der 
Poſthalter ging fort und kehrte um die angegebene 
Zeit wieder zurück. Und dieſes Mal kam Minskij im 
Schlafrock und roter Mütze ſelber zu ihm heraus. 
„Was willſt du, Bruder?“ fragte er. Das Herz des 
alten Mannes kochte, Tränen traten ihm in die Augen, 
und mit bebender Stimme rief er nichts als dies: „Euer 
Hochwohlgeboren! ... erweiſen Sie mir die himmliſche 
Gnade! ... Minskij ſah ihn flüchtig an, errötete tief, 
packte ihn am Arm und zog ihn in ſein Kabinett, deſſen 
Türe er hinter ſich ſchloß. „Euer Hochwohlgeboren!“ 
fuhr der Alte fort: „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen; 


aber geben Sie mir wenigſtens meine arme Dunja 


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Der Poſthalter 


wieder zurück. Sie haben ja genugſam Ihre Luſt an 
ihr gehabt; ſtoßen Sie ſie nicht völlig ins Verderben.“ 
— „Was geſchehen ift, kann man nicht wieder rüd- 
gängig machen,“ erwiderte der junge Mann in äußer⸗ 
ſter Verwirrung: „Ich trage eine große Schuld vor 
dir und bin bereit, dich um Verzeihung zu bitten, aber 
denke ja nicht, daß ich Dunja je verlaſſen könnte: ich 
verſpreche dir mit meinem Ehrenwort, ſie glücklich zu 
machen. Was willſt du von ihr? Sie liebt mich; ſie 
wird ſich nie mehr in ihre vorherige Lage zurüͤckfinden 
können. Und weder du noch ſie, keines von euch wird 
je vergeſſen können, was geſchehen iſt.“ Er ſtopfte ihm 
darauf etwas hinter den Armelaufſchlag, öffnete die Tür 
und ſogleich befand ſich der Poſthalter, er wußte ſelber 
nicht wie, auf der Straße. 

Lange ſtand er dort regungslos. Endlich bemerkte 
er zuſammengefaltetes Papier in ſeinem Armelauf⸗ 
ſchlag; er nahm es heraus, glättete es und erkannte 
einige zerknüllte Fünfzig⸗Rubelſcheine. Tränen traten 
wiederum in ſeine Augen, freilich dieſes Mal Tränen 
des Unwillens! Er ballte die Papiere in ſeiner Fauſt 
zuſammen, warf fie zu Boden, ſtampfte mit dem Ab⸗ 
Гав darauf und ging weiter ... Aber er ging nur 
wenige Schritte, dann blieb er aufs neue ſtehen und 
überlegte ... und kehrte zurück ... doch da waren 
die Scheine bereits nicht mehr da. Ein gutgekleideter 
junger Mann lief, als er ihn erblickte, zu einer 
Droſchke, ſprang haſtig hinein und ſchrie: „Vor— 


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Die Erzählungen Bjelkins 


wärts! ...“ Der Poſthalter dachte nicht daran, ihn 
zu verfolgen. Er faßte den Entſchluß, wieder zu 
ſeiner Poſtſtation heimzukehren, allerdings wollte er 
vorher noch einmal ſeine arme Dunja wiederſehen. 
Zu dieſem Zwecke ſuchte er nach zwei Tagen Minskij 
noch einmal auf; doch deſſen Burſche ſagte ihm rauh, 
daß ſein Herr niemand empfange, und drängte ihn 
aus dem Vorzimmer, worauf er ihm die Türe vor 
der Naſe zuſchlug. Der Poſthalter ſtand einige Zeit 
vor der Türe und ging dann ſeines Weges. 

Am Abend des gleichen Tages ſchritt er, nachdem er 
einem Gottesdienſt in der „Aller-Betrübten: Zuflucht“ 
Kirche beigewohnt hatte, die Litejnajaſtraße entlang. 
Plötzlich jagte eine elegante Equipage an ihm vor— 
über, in welcher der Poſthalter Minskij ſitzen ſah. 
Die Equipage hielt vor dem Eingang eines dreiſtöckigen 
Hauſes, der Huſar eilte die Freitreppe hinan. Dem 
Poſthalter kam ein glücklicher Gedanke. Er ſchritt 
zurück und fragte den Kutſcher: „Weſſen Pferd iſt 
das, Bruder?“ und fuhr fort: „Iſt es nicht Minskijs 
Pferd?“ — „Freilich,“ entgegnete der Kutſcher: 
„Willſt du was von ihm?“ — „Hör mal: dein Herr 
hat mir befohlen, ſeiner Dunja ein Billett zu bringen, 
und ich habe ganz vergeſſen, wo dieſe Dunja eigentlich 
wohnt.“ — „Na hier doch, im zweiten Stock. Du 
kommſt mit deinem Billett zu ſpät, Bruder; er iſt be- 
reits bei ihr.“ — „Macht nichts,“ entgegnete der 
Poſthalter, während ſein Herz unbeſchreiblich pochte: 


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Der Poſthalter 


„Ich danke dir, daß du es mir geſagt Бай, ich will 
trotzdem meinen Auftrag ausführen.“ Er ſchritt mit 
dieſen Worten die Treppe hinan. 

Die Tür war verſchloſſen; er läutete. Einige Se— 
kunden verſtrichen in qualvoller Erwartung. Endlich 
klirrte der Schlüſſel, man öffnete ihm. „Wohnt hier 
Amdotja Sſimeonowna?“ fragte er. — „Sie wohnt 
hier“, entgegnete eine jugendliche Zofe: „Was willſt 
du von ihr?! Der Poſthalter ſprach kein Wort, ſondern 
betrat ſtumm den Salon. „Das geht nicht; aus: 
geſchloſſen!“ rief ihm die Zofe nach. „Awdotja Sfi: 
meonorona hat Beſuch.“ Jedoch der Poſthalter hörte 
nicht auf ſie, ſondern ſchritt ruhig weiter. Die beiden 
erſten Zimmer waren dunkel, das dritte war er— 
leuchtet. Er näherte ſich einer geöffneten Türe und 
blieb ſtehen. Nachdenklich {аб Minskij in einem präch- 
tig eingerichteten Gemach, Dunja aber ſaß, nach der 
letzten Mode gekleidet, auf der Armlehne ſeines Seſſels, 
wie eine Reiterin auf dem engliſchen Sattel. Ihre 
Blicke ruhten voll Zärtlichkeit auf Minskij, und ſie 
wickelte ſeine ſchwarzen Locken um ihre ſchimmernden 
Finger. Armer Poſthalter! Noch niemals war ihm 
feine Tochter fo ſchön erſchienen; er blieb unmillfür- 
lich ſtehen, um den Anblick recht zu genießen. „Iſt 
dort jemand?“ fragte ſie, ohne aufzuſehen. Er ſchwieg 
noch immer. Dunja ſchaute, da ſie keine Antwort er— 
hielt, auf .. . und fiel mit einem Schrei auf den Tep— 
pich nieder. Der erſchreckte Minskij ſprang auf, um 


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Die Erzählungen Bjelkins 


ſie aufzuheben, doch ließ er, als er den in der Türe 
ſtehenden alten Poſthalter bemerkte, Dunja ſein und 
trat zornbebend an ihn heran. „Was willſt du noch?“ 
ſprach er und knirſchte mit den Zähnen: „Warum 
ſchleichſt du mir wie ein Räuber nach? Willſt du mich 
vielleicht umbringen? Mach, daß du hinauskommſt!“ 
Mit dieſen Worten packte er den alten Mann mit ſtar⸗ 
Вет Arm am Kragen undſtieß ihn auf die Treppe hinaus. 

Der Alte kam wieder in ſein Abſteigequartier. Der 
Freund riet ihm, Klage zu führen, aber der Poſthalter 
überlegte lange und entſchloß ſich zuletzt, es nicht 
zu tun. Zwei Tage danach verließ er Petersburg und 
kehrte wieder zu ſeiner Poſtſtation zurück, um dort 
ſeine Tätigkeit von neuem aufzunehmen. „Es iſt jetzt 
das dritte Jahr,“ mit dieſen Worten beſchloß er ſeine 
Erzählung, „daß ich hier ohne Dunja lebe und von 
ihr keinerlei Nachricht habe, Gott allein weiß, ob ſie 
noch am Leben iſt. Es iſt alles möglich. Sie iſt nicht 
die erſte und wird nicht die letzte ſein, die ſo ein durch⸗ 
reiſender Taugenichts verführt und mit ſich nimmt 
und zum Schluß verſtößt. Viele ſolcher junger När⸗ 
rinnen gibt es in Petersburg. Heute gehen ſie in 
Atlas und Samt, aber ſchon morgen kehren ſie die 
Straße gemeinſam mit dem Abſchaum aus den Kneipen. 
Und wenn ich dann zuweilen denke, daß auch Dunja 
vielleicht auf die gleiche Weiſe zugrunde gehn wird, 
begehe ich unwillkürlich die Sünde, ihr lieber das Grab 
zu wünſchen ...“ 


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Der Poſthalter 


Dies war die Erzählung meines Freundes, des alten 
Poſthalters, eine Erzählung gelegentlich von Tränen 
unterbrochen, die er, wie der getreue Terentjitſch in 
der ſchönen Ballade von Dmitrijew, maleriſch mit 
ſeinem Rockſchoß trocknete. Zum Teil mochte aller— 
dings wohl auch der Punſch an dieſen Tränen ſchuld 
ſein, von dem er im Verlauf der Erzählung fünf 
Gläſer zu ſich nahm; wie dem aber immer ſei, ſie 
rührten mein Herz. Und als ich mich von ihm 
trennte, konnte ich den alten Poſthalter lange nicht 
vergeſſen und dachte noch lange an die arme Dunja 
zurück 

Kürzlich kam ich wieder einmal durch jenes Drt- 
chen . .. und gedachte aufs neue meines Freundes; 
aber man teilte mir mit, daß die Poſtſtation, auf der 
er regiert hatte, jetzt aufgelaſſen worden ſei. Auf 
meine Frage, ob der alte Poſthalter noch am Leben 
ſei, konnte ich keine befriedigende Auskunft erhalten. 
So beſchloß ich denn, die mir wohlbekannte Gegend 
aufzuſuchen, mietete Pferde und begab mich zum 
Dorf N. 

Es war im Herbſt. Blaßgraue Wolken zogen am 
Himmel; über die abgemähten Felder fegte ein kalter 
Wind, der die roten und gelben Blätter von den 
Bäumen ſchüttelte. Ich kam erſt um Gonnenunter- 
gang im Dorf an und ſtieg im Poſthäuschen ab. Im 
Flur (wo mich einſtmals die arme Dunja geküßt hatte) 
kam mir ein dickes Weib entgegen und antwortete auf 


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Die Erzählungen Bjelkins 


meine Frage, es ſei ſchon über ein Jahr her, daß der 
alte Poſthalter geſtorben, und jetzt lebe ein Bierbrauer 
in dem Haufe und fie ſelber wäre die Frau des ег: 
brauers. Mir tat leid, daß meine Fahrt vergebens 
geweſen, und daß ich ſieben Rubel zwecklos aus⸗ 
gegeben hatte. „Woran iſt er denn geſtorben?“ fragte 
ich die Frau des Bierbrauers. — „Am Trunk, Vä⸗ 
terchen,“ entgegnete fie. — „Und wo hat man ihn 
begraben?“ — „Hier ſelbſt auf dem Friedhof, neben 
ſeiner verſtorbenen Frau.“ — „Wäre es möglich, 
daß mich jemand zu dem Grabe führt?“ — „War: 
um denn nicht? He, Wanjka! laß jetzt endlich die 
Katze. Führ den gnädigen Herrn zum Friedhof und 
zeig ihm das Grab des Poſthalters.“ 

Bei dieſen Worten lief ein abgeriſſener, rothaariger 
und einäugiger Bub aus dem Zimmer und führte 
mich ſchnurſtracks zum Friedhof. 

„Haſt du den Verſtorbenen noch gekannt?“ fragte 
ich ihn, während wir zum Friedhof gingen. 

„Ob ich ihn gekannt habe! Er hat mich doch де: 
lehrt, Rohrpfeifen ſchnitzen. Wenn er (Gott habe ihn 
felig!) manchmal aus der Schenke kam, liefen wir 
hinter ihm her und ſchrien: Großväterchen, Groß⸗ 
väterchen! Nüſſe!“ und immer ſchenkte er uns dann 
Nüſſe. Immer ſpielte er mit uns.“ 

„Erinnern ſich eigentlich die Reiſenden noch ſeiner?“ 

„Jetzt gibt es wenig Reiſende; nur hier und da 
kommt es vor, daß der Beiſitzer bei uns einkehrt, aber 


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Der Poſthalter 


der kümmert ſich nicht um Tote. Neulich im Sommer 
reiſte hier freilich eine Dame durch, die fragte nach 
dem alten Poſthalter und hat dann auch ſein Grab 
beſucht.“ 

„Was war das für eine Dame?“ fragte ich neugierig. 

„Eine ſchöne Dame war es“, entgegnete der Bub: 
„Sie reiſte in einem ſechsſpännigen Wagen, und drei 
junge Herrchen und eine Amme und ein ſchwarzes 
Hündchen waren mit ihr, doch als man ihr ſagte, daß 
der alte Poſthalter geſtorben ſei, brach ſie in Tränen 
aus und ſprach zu den Kindern: „Bleibt jetzt hier, 
ich will derweilen zum Friedhof gehen.“ Ich wollte ſie 
eigentlich hinführen, aber die Dame ſagte: „Ich kenne 
den Weg.“ Und gab mir einen ſilbernen Fünfer ... 
So eine gute Dame war das!“ 

Wir kamen zum Friedhof. Es war ein freier, von 
keiner Mauer eingezäunter, von keinem Baum be— 
ſchatteter Platz mit unzähligen Holzkreuzen. Noch nie 
in meinem Leben hatte ich einen ſo traurigen Friedhof 
geſehen. 

„Hier iſt das Grab des alten Poſthalters“, ſagte 
der Bub und ſprang auf einen Sandhügel, auf dem 
ein ſchwarzes Kreuz mit einem kupfernen Heiligen: 
bilde ragte. 

„Und die Dame, kam ſie hierher?“ fragte ich. 

„Sie kam hierher“, entgegnete Wanjka: „Ich be— 
obachtete ſie von fern. Sie warf ſich nieder und blieb 
lange liegen. Kurze Zeit danach ging die Dame ins 


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Die Erzählungen Bjelkins 


Dorf, ließ den Prieſter holen und gab ihm Geld, und 
dann fuhr ſie fort, nür aber hat ſie einen ſilbernen 
Fünfer gegeben ... es war eine ausgezeichnete Dame!“ 

Auch ich gab dem Buben einen Fünfer und be⸗ 
dauerte nicht mehr, daß ich die Fahrt gemacht, noch 
die ſieben Rubel, die ich dabei ausgegeben hatte. 


Das Fräulein als Bäuerin 


In allen Kleidungen gefällſt du, Seelchen, mir. 
Bogdanowitſch у 
а Petrowitſch Bereſtows Beſitzung lag in einem 
der entfernteſten Gouvernements unferes Reiches. Er 
war in feiner Jugend Gardeoffizier geweſen, hatte 
zu Beginn des Jahres 1797 ſeinen Abſchied ge— 
nommen und ſich ſogleich auf fein Dorf begeben, 
von wo er ſeit der Zeit nicht wieder fortgekommen 
war. Er hatte ein armes Edelfräulein geheiratet, 
die bald darauf und gerade zu einer Zeit, da er 
auf der Jagd war, im Wochenbette ſtarb. Die Be⸗ 
wirtſchaftung ſeines Gutes tröſtete ihn bald. Er er⸗ 
baute ſich ein Haus nach ſeinen eigenen Plänen, 
errichtete eine Tuchfabrik, vermehrte feine Ein: 
künfte und hielt ſich wahrhaftig für den klügſten 
Menſchen im ganzen Ulmkreiſe, und feine Nachbarn, 
die zu ihm reiſten und oft mit ihren ganzen Familien, 
ja fogar mit ihren Hunden bei ihm logierfen, wider— 
ſprachen ihm hierin nicht. An Wochentagen trug 
er eine Plüfchjoppe, an Feiertagen zog er dagegen 
einen Rock, der aus hausgefertigtem Tuch war, an, 
und ſchrieb eigenhändig alle Ausgaben ins Buch ein; 
außer den Senatsnachrichten kannte er keinerlei Lek⸗ 
türe. Man hatte ihn, obwohl er für ſtolz galt, all—⸗ 
gemein recht gern. Und nur Grigorij Iwanowitſch 


95 


Die Erzählungen Bjelfins 


Muromskij, fein nächſter Nachbar, lebte ewig in Un⸗ 
frieden mit ihm. Dieſer war ein wahrhaft ruſſiſcher 
Edelmann. Nachdem er in Moskau den größten Teil 
ſeines Beſitztums verſchleudert hatte und zuguterletzt 
Witwer geworden war, begab er ſich auf das letzte 
Dorf, das ihm verblieben, und fuhr dort fort, Unfug 
zu treiben, allerdings auf neue Weiſe. Er legte einen 
engliſchen Garten an, der faſt ſeine geſamten ihm noch 
verbliebenen Einkünfte verſchlang. Seine Stallknechte 
kleidete er durchweg in der Art der engliſchen Jockeis. 
Für feine Tochter engagierte er eine engliſche Haus: 
dame. Seine Felder ließ er nach engliſcher Methode 
bearbeiten, 
„doch auf die fremde Art gedeiht kein Korn 
in Rußland“, 

und fo kam es denn, daß Grigorij Jwanowitſchs Ein: 
künfte trotz der bedeutenden Verringerung der Aug: 
gaben keineswegs zunahmen; er fand ſogar noch in 
der Einöde neue Wege, um neue Schulden zu machen; 
und dennoch galt er trotz alledem als ein keineswegs 
dummer Menſch, war er doch der erſte aus der Schar 
der Gutsbeſitzer dieſes Gouvernements geweſen, der 
auf die Idee gekommen war, ſeine Beſitzung beim 
Vormundſchaftsgericht zu verpfänden, was eine Sache 
war, die zu der damaligen Zeit noch als außerordent⸗ 
lich verwickelt und verwegen galt. Freilich gab es auch 
Menſchen, die ihn deswegen verurteilten, und unter 
dieſen war Bereſtow wohl der ſtrengſte. Ein Haupt⸗ 


94 


Das Fräulein als Bäuerin 


zug feines Charakters war nämlich fein Haß gegen 
alle Neuerungen. Es war ihm unmöglich, ſich der 
Anglomanie ſeines Nachbarn gleichgültig gegenüber⸗ 
zuſtellen. Darum fand er in allem und jedem eine 
Gelegenheit, jenen zu kritiſieren. So pflegte er zum 
Beiſpiel, wenn er irgendeinem Gaſt ſeine Beſitzungen 
zeigte, als Antwort auf das Lob, mit dem dieſer ſeine 
wirtſchaftlichen Anordnungen bedachte, nicht ohne ein 
liſtiges und ſpöttiſches Lächeln zu ſprechen: „Ja, ja! 
es ИЕ bei mir anders als bei meinem Nachbarn Gri⸗ 
gorij Iwanowitſch. Warum ſich auf englifche Art 
zugrunde richten! Wenn man auf ruſſiſche ſatt werden 
kann.“ Dieſe und ähnliche Späße kamen, dank dem 
Eifer der Nachbarn, Grigorij Iwanowitſch mit aller: 
hand Ergänzungen und Erläuterungen zu Ohren. Der 
Anglomane konnte genau ſo wenig Kritik ertragen 
wie unſere Zeitungsſchreiber. Er wurde wütend und 
nannte ſeinen Zoilus einen Bären und einen Finſter⸗ 
ling aus der Provinz. 

Wie man ſieht, waren die Beziehungen zwiſchen 
den beiden Gutsbeſitzern zugeſpitzt, da kam Bereſtows 
Sohn zu ihm aufs Gut. Er hatte die... ſche Uni⸗ 
verſität abſolviert und beabſichtigte eigentlich, zum 
Militär zu gehen; allein ſein Vater erlaubte ihm das 
nicht. In Staatsdienſte zu treten behagte dem jungen 
Mann nicht, denn hierfür fühlte er ſich völlig untaug⸗ 
lich. Keiner von beiden wollte dem andern nachgeben, 
und ſo lebte denn unſer junger Alexej zunächſt das 


95 


Die Erzählungen Bjelkins 


Leben eines Landedelmanns, ließ ſich jedoch für alle 
Fälle bereits einen Schnurrbart wachſen. 

Alexej war wahrhaftig ein braver Junge. Es wäre 
in der Tat ſchade darum geweſen, wenn ſein ſchlanker 
Körper niemals von einem Waffenrock eingeſchnürt 
worden wäre, oder wenn er, ſtatt maleriſch hoch zu 
Roß zu ſitzen, ſeine Jugend hätte über Kanzleipapieren 
gebückt verbringen müſſen. Einſtimmig meinten auch 
die Nachbarn, als ſie ihn auf den Treibjagden immer 
als erſten voranſprengen ſahen, daß aus ihm niemals 
ein brauchbarer Tiſchvorſteher werden könnte. Die 
jungen Mädchen ſchauten ihm nach und verſchauten 
ſich wohl auch an ihm: doch da Alexej wenig Auf: 
merkſamkeit für fie hatte, entſchieden fie, daß der Grund 
zu dieſer Gefühlloſigkeit offenbar in einer Liebes ſache 
zu ſuchen ſei. Und allerdings ging die Abſchrift einer 
Adreſſe von Hand zu Hand, die man auf einem ſeiner 
Briefe gelefen hatte: „An Akulina Petrowna Фито: 
kina zu Moskau, gegenüber dem Alexejewſchen Kloſter 
im Hauſe des Kupferſchmiedes Sſaweljew, mit der 
gehorſamſten Bitte, dieſen Brief zu übermitteln 
an A. N. R.“ 

Keiner meiner Leſer, der nicht auf Gütern gelebt 
hat, kann ſich jemals vorſtellen, wie hinreißend dieſe 
Landfräulein find! Aufgewachſen in friſcher Luft, ег: 
blüht im Schatten der Apfelbäume in ihren Gärten, 
ſchöpfen ſie ihre Kenntniſſe der Welt und ihr Wiſſen 
vom Leben einzig aus Büchern. Einſamkeit, Unge⸗ 


96 


Das Fräulein als Bäuerin 


zwungenheit und Lektüre entwickeln ſchon zeitig jene 
Gefühle und Leidenſchaften in ihnen, die unſeren zer: 
ſtreuten Schönen ewig unbekannt bleiben. Für ſolch 
ein Fräulein iſt der Ton eines Glöckchens bereits ein 
Ereignis; eine Reiſe in die nächſte Stadt wird als 
Epoche des Lebens angeſehen, und der Beſuch eines 
Gaſtes bleibt in langer und zuweilen auch in ewiger 
Erinnerung. Es ſei freilich einem jeden unbenom— 
men, über gewiſſe ihrer Eigenheiten zu ſpotten; aber 
der Spott des oberflächlichen Beobachters, wie könnte 
er je ihre weſentlichſten Vorzüge ſchmälern, von 
denen die ins Auge fallendſten gewiß die Eigenart des 
Charakters und die Selbſtändigkeit ſind (individualité), 
ohne welche nach der Anſicht Jean Pauls keine menſch— 
liche Würde beſtehen kann. Es mag ſein, daß die 
Frauen der Hauptſtadt eine beſſere Erziehung genießen; 
allein wie raſch ſchleifen die Gewohnheiten der Welt 
den Charakter ab und bewirken, daß die Seelen genau 
fo einförmig werden wie etwa der jeweilige Kopfputz. 
Nicht zum Tadel ſagen wir das und nicht als Ver— 
urteilung, jedoch nota nostra manet, um einen alter⸗ 
tümlichen Kommentator zu zitieren. 

Es iſt ein leichtes, ſich vorzuſtellen, welchen Eindruck 
Alexej im Kreiſe dieſer Fräuleins machen mußte. Er 
war der erſte, der mit einer düſteren Miene als ein 
Enttäuſchter vor ſie trat; er als erſter ſprach ihnen 
von verlorenen Freuden und von ſeiner hingewelkten 
Jugend; und trug er nicht überdies noch einen ſchwar— 


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97 


Die Erzählungen Bjelkins 


zen Ring mit der Abbildung eines Totenkopfes? All 
das war in jenem Gouvernement noch unerhört neu. 
Die jungen Damen waren von ihm hingeriſſen. 

Am meiſten aber beſchäftigte er die Phantaſie der 
Tochter unſeres Anglomanen, die Liſa hieß (oder Betſy, 
wie fie von Grigorij Iwanowitſch meiſt genannt wurde). 
Da die Vater einander nicht zu beſuchen pflegten, hatte 
ſie Alexej noch nicht geſehen, obwohl all ihre jungen 
Nachbarinnen über nichts anderes ſprachen als ewig 
von ihm. Sie war ſiebzehn Jahre alt. Schwarze 
Augen belebten ihr bräunliches und außerordentlich 
reizendes Geſicht. Sie war das einzige Kind und in: 
folgedeſſen ſehr verwöhnt. Ihre Munterkeit und ihre 
nie ausſetzenden Streiche entzückten ihren Vater und 
brachten die Hausdame, Miß Jackſon, zur Verzweif⸗ 
lung; letztere war eine vierzigjährige prüde alte Yung: 
fer, ſie ſchminkte ſich, färbte ſich die Augenbrauen, las 
zweimal im Jahr die Pamela, erhielt hierfür zwei⸗ 
tauſend Rubel und ſtarb in dieſem barbarif chen Ruß: 
land vor Langeweile. 

Liſa wurde von einer Zofe namens Naſtja bedient; 
dieſe war ein wenig älter und ebenſo unbeſtändig wie 
ihr Fräulein. Liſa hatte ſie ſehr gern, weihte ſie in 
alle ihre Geheimniſſe ein und machte ſie zur Mitver⸗ 
ſchworenen all ihrer Streiche; mit einem Wort, auf 
dem Gut Prilutſchino ſpielte Naſtja eine bedeutend 
weſentlichere Rolle, als jede beliebige Vertraute in 
einer franzöſiſchen Tragödie. 


98 


Das Fräulein als Bäuerin 


„Darf ich heute ausgehen, um einen Beſuch zu 
machen“, bat eines Tages Naſtja, während ſie das 
Fräulein ankleidete. 

„Schon gut; wohin gehſt du?“ 

„Nach Tugilowo, zu den Bereſtows. Die Frau 
des Kochs feiert ihren Namenstag und kam geſtern 
her, uns zum Mittageſſen einzuladen.“ 

„Da ſieht mans!“ ſagte Liſa: „Die Herrſchaft 
liegt im Streit, aber die Bedienten bewirten einander.“ 

„Was geht denn uns die Herrſchaft an!“ entgeg⸗ 
nete Naſtja: „Zudem gehöre ich doch Ihnen und nicht 
dem Herrn Papa. Und Sie haben ſich ja mit dem 
jungen Bereſtow noch gar nicht gezankt; mögen ſich 
die Alten meinetwegen prügeln, wenn ihnen das Ver⸗ 
gnügen macht.“ 

„Sieh zu, Naſtja, daß du Alexej Bereſtow zu Ge: 
ſicht bekommſt, und erzähl mir dann auf das genaueſte, 
wie er ausſieht, und was er für ein Menſch iſt.“ 

Naſtja verſprachs, und voller Ungeduld wartete 
Liſa den ganzen Tag über auf ihre Rückkehr. Naſtja 
kam abends zurück. 

„Alſo, Liſaweta Grigorjewna,“ ſagte ſie, als ſie 
das Zimmer betrat: „ich habe den jungen Bereſtow 
geſehen; ich habe ihn zur Genüge betrachten können; 
wir waren den ganzen Tag beiſammen.“ 

„Wie das? Erzähl doch, erzähl alles der Reihe nach.“ 

„Mit Vergnügen: wir gingen alſo, ich, Anisja 
Jegorowna, Nenila, Dunjka ...“ 


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Die Erzählungen Bjelkins 


„Schon gut, weiß ich: was weiter?“ 

„Aber bitte, laſſen Sie mich doch der Reihe nach 
erzählen. Wir kamen gerade zum Mittageſſen. Das 
Zimmer war ganz voll von Menſchen. Die Kol— 
binſchen waren da, die Sacharjewſchen, und zwar 
die Verwaltersfrau mit ihren Töchtern, die Chlu— 
pinſchen ...“ 

„Nun, und Bereſtow?“ 

„Geduld. Wir ſetzten uns zu Tiſch, die Verwalters⸗ 
frau bekam den Ehrenplatz, und ich wurde neben ſie 
geſetzt ... ihre Töchter ärgerten ſich zwar darüber, 
aber darauf ſpuck ich ...“ 

„Ach, Naſtja, mit deinen ewigen Einzelheiten lang— 
weilſt du mich!“ 

„Wie ungeduldig Sie find! Na, alſo, endlich ver 
ließen wir den Tiſch ... drei Stunden lang hatte es 
gedauert, und das Mittageſſen war prachtvoll; eine 
ſüße Speiſe gab es, ein blancmanger, blau, rot und 
geſtreift ... Wir ſtanden alſo vom Tiſch auf und 
gingen in den Garten, um Haſchen zu ſpielen, und da 
kam der junge Herr.“ 

„Nun, und? Iſt es wirklich wahr, daß er ſo 
{Фот ИЕ?“ 

„Erſtaunlich ſchön iſt er; ein ſchöner Mann, das kann 
man ruhig ſagen. Schlank, hoch, die Wangen rot...“ 

„Wahrhaftig? Und ich dachte, daß ſein Geſicht blaß 
wäre. Nun, und? Wie kam er dir vor? War er traurig 
oder nachdenklich?“ 


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Das Fräulein als Bäuerin 


„Warum denn? Mein Lebtag habe ich noch keinen 
1 Tollkopf geſehen. Es kam ihm ſogar in den 
Kopf, mit uns Haſchen zu ſpielen.“ 

„Mit euch Haſchen zu ſpielen? Ausgeſchloſſenle 

„En nicht gar. Und was er fich dabei alles aus: - 
dachte! Wenn er eine fing, küßte er fie gleich!“ 

„Wie du willſt, Naſtja, aber jetzt lügſt du.“ 

„Wie Sie wollen, aber ich lüge nicht. Nur mit 
großer Mühe habe ich mich von ihm losgemacht. Auf 
dieſe Weiſe verbrachte er den ganzen Tag mit uns.“ 

„Aber warum erzählt man dann, daß er verliebt 
ſei und kein einziges Mädchen anſchaue?“ 

„Das weiß ich nicht, aber auf mich hat er feſt де: 
ſchaut und auch auf Tanja, die Tochter des Verwal⸗ 
ters, und auch auf Paſcha aus Kolbino, und über⸗ 
haupt hat er keine einzige zurückgeſetzt, der Schelm, der!“ 

„Erſtaunlich! Und was ſpricht man im Hauſe 
von ihm?“ 

„Ein vortrefflicher Sar, ſagt man, ſei er: und 
immer ſo gut und ſo luſtig. Und nur das eine ſei nicht 
ganz in der Ordnung, daß er nämlich den Mädchen 
zu heftig nachſtelle. Doch das iſt, meiner Anſicht nach, 
kein Unglück. Er wird mit der Zeit ſchon brav werden.“ 

„Ach, wie ſehr wünſchte ich doch, ihn zu erblicken!“ 
meinte Liſa mit einem Seufzer. 

„Was iſt denn da dabei? Tugilowo iſt ja ganz in 
der Nähe — nur drei Werſt trennen uns: gehen Sie 
doch einmal in jener Richtung ſpazieren, oder reiten 


101 


Die Erzählungen Bjelkins 


Sie aus; Sie werden ihm beſtimmt begegnen. Jeden 
Tag begibt er ſich frühmorgens mit dem Gewehr auf 
die Jagd.“ 

„Nein, das gefällt mir nicht. Er könnte annehmen, daß 
ich ihm nachlaufe. Und da unſere Väter nicht gut auf- 
einander zu ſprechen find, fo iſt es auch für mich unmög⸗ 
lich, mit ihm bekannt zu werden ... Aber, Naſtja, weißt 
du was! Ich werde mich als Bäuerin verkleiden!“ 

„Sehr gut, wahrhaftig: ziehen Sie ein grobes Hemd 
an und einen Sſarafan und gehen Sie dreiſt nach 
Tugilowo; ich wette mit Ihnen, daß Bereſtow Sie 
beſtimmt ins Auge faſſen wird.“ 

„Und überdies ſpreche ich ausgezeichnet nach der 
hieſigen Mundart. Ach, Naſtja, liebſte Naſtja! Welch 
ein herrlicher Gedanke!“ — Als Lifa zu Bett ging, 
hatte ſie bereits den feſten Entſchluß gefaßt, ihren 
luſtigen Vorſatz beſtimmt auszuführen. Sie machte 
ſich ſchon am nächſten Tage daran, den Plan zu ver⸗ 
wirklichen, ſchickte zum Markt und ließ grobe Lein⸗ 
wand, blauen Nanking und Kupferknöpfe beſorgen; 
mit Naſtjas Hilfe ſchnitt ſie ſich ein Hemd und einen 
Sſarafan zurecht, an denen die ganze Mägdeſchar 
nähen mußte, ſo daß zum Abend alles fertig war. 
Als Liſa ihr neues Gewand anprobierte, mußte ſie ſich 
vor dem Spiegel geſtehen, daß ſie ſich noch nie ſo nett 
vorgekommen war. Eifrig ſtudierte ſie ihre Rolle ein. 
Sie machte beim Gehen eine tiefe Verbeugung und 
nickte dann einige Male mit dem Kopf, genau ſo wie 


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Das Fräulein als Bäuerin 


es die Kater aus Ton fun; fie ſprach mit bäuriſchem 
Dialekt, lachte, indem ſie ihr Geſicht mit dem Armel 
verdeckte, und errang ſich ſchließlich Naſtjas volle An⸗ 
erkennung. Nur eines war ihr zu ſchwer: ſie verſuchte 
nämlich, barfuß über den Hof zu gehen, aber der 
Raſen zerſchnitt ihre zarten Fußſohlen, und der Sand 
und die kleinen Steinchen bereiteten ihr unerträgliche 
Schmerzen. Doch Naſtja wußte auch hierfür einen 
Ausweg: ſie nahm Liſa Maß und lief geſchwind ins 
Feld zu Trofim, dem Hirten, und beſtellte bei dieſem 
nach dem vorhandenen Maß ein Paar Baſtſchuhe. 
Liſa erwachte bereits in der früheſten Frühe des an— 
dern Tages. Noch ſchlief das ganze Haus. Naſtja 
wartete am Tor auf den Hirten. Die Schalmei er- 
tönte und die Dorfherde trappelte am Gutshof рог: 
über. Als Trofim Naſtja ſah, übergab er ihr die 
kleinen bunten Baſtſchuhe und erhielt von ihr als Be⸗ 
lohnung einen halben Rubel. Und nun zog Liſa ſich 
in aller Stille als Bäuerin an, gab Naſtja flüſternd 
Anweiſungen, wie fie ſich gegen Miß Jackſon zu ver: 
halten habe, ſchlupfte durch die Hintertür und lief durch 
den Gemüſegarten ins Feld. 

Im Oſten ſchimmerte die Morgenröte, es machte 
den Eindruck, als erwarteten die goldenen Wolkenzeilen 
die Sonne, genau ſo wie Höflinge auf ihren Herrſcher 
warten; der klare Himmel, die Friſche des Morgens, 
der Tau, der ſanfte Wind und das Zwitſchern der 
Vögel erfüllten Liſas Herz mit junger Heiterkeit; da 


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Die Erzählungen Bjelkins 


ſie befürchten mußte, irgend welchen Bekannten zu be⸗ 
gegnen, war ihr Gang kein Gehen mehr zu nennen, 
ſondern faſt ein beflügeltes Schweben. Erſt als Liſa 
ſich dem Gehölz näherte, das ſich an der Grenze des 
väterlichen Beſitztums befand, wurde ihr Gang etwas 
langſamer. Es war ihre Abſicht, hier auf Alexej zu 
warten. Ihr Herz klopfte ſehr, doch wußte ſie wirklich 
nicht, warum; aber iſt die Angſt, die ſtändige Beglei⸗ 
terin unſerer Jugendſtreiche, nicht auch gleichzeitig ihr 
Hauptreiz? Liſa trat in die Dämmerung des Wäld⸗ 
chens. Ein tiefes hallendes Rauſchen ſchlug dem Mäd⸗ 
chen entgegen. Ihre Heiterkeit wurde gedämpfter. 
Nach und nach gab ſie ſich ſüßen Träumereien hin. 
Sie dachte ... jedoch wer will es unternehmen, genau 
feſtzuſtellen, woran ein ſiebzehnjähriges Fräulein denkt, 
das an einem Frühlingsmorgen um ſechs Uhr ſich 
allein in einem Wald befindet? So ſchritt ſie dahin, 
ſchritt nachdenklich auf dem Pfade, der von beiden 
Seiten von hohen Bäumen beſchattet wurde, als ſie 
plötzlich vom Gebell eines wunderſchönen Jagdhundes 
geſtellt wurde. Liſa erſchrak und ſchrie unwillkürlich 
auf. Gleichzeitig ertönte eine Stimme: „Tout beau, 
Sbogar, iei“... und ein junger Jäger trat hinter dem 
Gebüſch hervor. — „Keine Angſt, mein Kind!“ ſagte 
er zu Liſa: „Mein Hund beißt nicht.“ — Liſa hatte 
ſich bereits von ihrem Schreck erholt und wußte un⸗ 
verzüglich die Umſtände auszunutzen: „Nein, nein, 
gnädiger Herr!“ ſagte ſie, und nahm dabei eine halb 


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Das Fräulein als Bäuerin 


erſchreckte, halb verlegene Miene an: „Ich fürcht 
mich dennoch, er ſcheint ſo böſe zu ſein; der geht gewiß 
wieder auf mich los.“ Alexej (daß er es war, weiß 
der Leſer wohl ſchon) muſterte unterdeſſen die Bäuerin 
eingehend. — „Wenn du dich fürchteſt, will ich dich 
gern begleiten“, ſagte er zu ihr: „Erlaubſt du mir, 
neben dir zu gehen?“ — „Keiner hindert dich dran!“ 
entgegnete Liſa. „Jeder ſoll tun, was er mag, und die 
Straße iſt für alle da.“ — „Woher biſt du?“ — 
„Aus Prilutſchino; ich bin die Tochter des Schmie— 
des Waſſilij, und kam her, um Pilze zu ſammeln.“ 
(Liſa trug an einem Schnürchen einen kleinen Korb.) 
„Und du, gnädiger Herr? Biſt du der Tugilowſche? 
Was?“ — „So iſt es!“ entgegnete Alexej: „Ich bin 
der Kammerdiener des jungen Herrn.“ — Alexej 
wollte hierdurch den Unterſchied zwiſchen ſich und ihr 
geringer machen, aber Liſa blickte ihn nur an und 
lachte: „Schwindle nicht!“ ſagte ſie. „Du haſt keine 
Nãrrin vor dir. Ich ſehs ja, daß du felber der gnädige 
Herr biſt.“ — „Warum denkſt du das?“ — „Das 
ſeh ich doch aus allem. — „Zum Beiſpiel?“ — „Wie 
ſollte ich den Herrn nicht vom Diener unter ſcheiden? 
Du biſt weder ſo gekleidet, noch redeſt du wie ein 
Diener und ſogar den Hund haſt du nicht in unſerer 
Sprache gerufen.“ Von Minute zu Minute machte 
Liſa unſerem Alexej einen ſtärkeren Eindruck. Da es 
ſeine Gewohnheit war, mit hübſchen Bauernmädchen 
nicht erſt lange Umſtände zu machen, wollte er ſie 


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Die Erzählungen Bjelkins 


umarmen. Aber Liſa entzog ſich ihm und nahm plötz⸗ 
lich eine ſo ſtrenge und kühle Miene an, daß Alexej 
zwar lachen mußte, aber von allen weiteren Verſuchen 
Abſtand nahm. „Wenn Sie wollen, daß wir in Зи: 
kunft gute Freunde bleiben,“ ſagte ſie nicht ohne Würde: 
„dann belieben Sie, bitte, ſich nicht mehr zu vergeſſen.“ 
— „Wer hat dich denn dieſe Weisheiten gelehrt?“ 
fragte Alexej laut lachend: „Am Ende gar Naſtja, 
meine gute Bekannte, die Zofe Eures Fräuleins? Schau 
mir doch einer an, auf welchen Wegen die Aufklärung 
verbreitet wird!! — Liſa hatte ein wenig den Eindruck, 
daß ſie aus ihrer Rolle gefallen war, und gab ſich 
darum Mühe, den Fehler wieder zu verbeſſern. 
„Glaubſt du wohl,“ ſagte ſie: „daß ich nie auf dem 
Gutshof geweſen bin? Keine Sorge. Ich habe alles 
gehört und alles geſehen. Allein, fuhr Пе fort: „während 
ich mit dir ſchwatze, ſammle ich keine Pilze. Darum 
geh du, gnädiger Herr, lieber deines Weges und laß 
mich meines Weges gehen. Ich bitt um Verzeihung ...“ 
На wollte ſich entfernen; Alexej ergriff ihre Hand. — 
„Wie heißt du denn, mein Seelchen?“ — „Akulina“, 
entgegnete Liſa, vergeblich bemüht, ihre Finger aus 
Alexejs Hand zu ziehen: „Und jetzt laß mich gehn, 
gnädiger Herr, es ИЕ Zeit für mich nach Hauſe.“ — 
„Alſo hör denn, beſte Akulina, ich werde beſtimmt 
deinen Vater, Waffılij, den Schmied, beſuchen.“ — 
„Was ſagſt du da?“ entgegnete Liſa: „Um Chriſti 
willen, tu das nicht. Wenn man zu Hauſe erfährt, 


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Das Fräulein als Bäuerin 


daß ich allein mit dem gnädigen Herrn im Wäldchen 
geplaudert habe, wird es mir ſchlecht gehen; mein Vater, 
Waſſilij, der Schmied, wird mich zu Tode prügeln.“ — 
„Aber ich will dich unbedingt wiederſehen.“ — „Biel: 
leicht komme ich wieder einmal her, Pilze ſammeln.“ 
— „Wann denn?“ — „Meinetwegen morgen.“ — 
„Liebſte Akulina, wie gern würde ich dich jetzt küſſen, 
aber ich trau mich nicht. Morgen alfo, um die gleiche 
Zeit, nicht wahr?“ — „Schon gut.“ — „Und du 
wirſt mich nicht betrügen?“ — „Ich werds nicht.“ — 
„Schwöre!“ — „Alfo beim heiligen Freitag, ich 
komm.“ | 

Die jungen Leute trennten ſich. Lifa verließ den 
Wald, ſchlich durchs Feld, ſchlüpfte durch den Garten 
und eilte Hals über Kopf in die Meierei, in der Naſtja 
ſchon lange auf fie wartete. Sie kleidete ſich um, mo: 
bei ſie auf die Fragen ihrer ungeduldigen Vertrauten 
nur zerſtreute Antworten gab, und lief ins Speiſe⸗ 
zimmer. Dort ſtand der Tiſch gedeckt, das Frühſtück 
war fertig, und Miß Jackſon, ſchon geſchminkt und 
mit einer ſo dünnen Taille, daß ſie an ein Weinglas 
erinnerte, ſchnitt gerade dünne Brotſcheiben. Der Vater 
lobte ſie, daß ſie ſo früh ſpazieren gegangen war. 
„Nichts iſt geſünder als dieſes,“ ſagte er: „um die 
Morgendämmerung aufſtehen.“ Und natürlich wußte 
er hierbei verſchiedene Beiſpiele menſchlicher Lang— 
lebigkeit anzuführen, die er aus engliſchen Zeitſchriften 
geſchöpft hatte. Es ſchien ihm ebenfalls angebracht, 


107 


Die Erzählungen Bjelkins 


zu bemerken, daß alle Menſchen, die länger als hundert 
Jahre gelebt, nie Schnaps getrunken hätten und im 
Winter ſowohl als auch im Sommer ſtets um die Zeit 
der Morgendämmerung aufgeſtanden wären. Aber 
Liſa hörte nicht darauf. In Gedanken wiederholte ſie 
alle Einzelheiten der Zuſammenkunft dieſes Morgens, 
das ganze Geſpräch Akulinas mit dem jungen Jäger, 
und nach und nach begann ihr Gewiſſen zu ſchlagen. 


Hieran änderte auch nichts, daß fie ſich ſagte, das Ge- 


ſpräch hätte keineswegs die Grenzen des Anſtandes 


überſchritten, und daß dieſer Streich überhaupt keine 


Folgen haben könnte — die Sprache des Gewiſſens 
war lauter als die Stimme ihres Verſtandes. Am 
meiſten beunruhigte ſie jenes Verſprechen, das ſie 
für morgen gegeben hatte; ja, ſie war ſchon halb 


und halb entſchloſſen, ihren feierlichen Schwur nicht 


zu halten. Wie aber, wenn Alexej, nachdem er ſie ver⸗ 
geblich erwartet, ins Dorf ginge, um die Tochter des 
Schmiedes Waſſilij, die richtige Akulina, ein feiſtes 
pockennarbiges Mädchen, aufzuſuchen und auf dieſe 
Weiſe hinter ihren leichtſinnigen Schritt käme? Dieſer 
Gedanke machte Liſa große Sorgen, und darum ent⸗ 
ſchloß ſie ſich, am nächſten Morgen wieder als Akulina 
im Gehölz zu erſcheinen. 


Alexej war in heller Begeiſterung; den ganzen Wag 


über dachte er an nichts als an ſeine neue Bekannte; 
das Bild der Schönen mit dem bräunlichen Geſicht 
verfolgte ſeine Einbildungskraft ſogar noch nachts 


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Das Fräulein als Bäuerin 


im Traume. Es dämmerte kaum, da war er Бе: 
reits angezogen. Ohne ſich erſt Zeit zu nehmen, ſein 
Gewehr zu laden, eilte er mit ſeinem treuen Sbogar 
ins Feld und lief zum Orte der beſprochenen Zu— 
ſammenkunft. In einem für ihn faſt unerträglichen 
Harren verſtrich eine halbe Stunde; endlich gewahrte 
er zwiſchen den Büſchen das Flattern des blauen 
Sſarafans und ſtürzte ſeiner lieben Akulina entgegen. 
Als ſie den Rauſch ſeiner Dankbarkeit wahrnahm, 
mußte ſie lächeln; aber Alexej bemerkte ſogleich auf ihrem 
Antlitz Spuren der Verſtimmung und der Unruhe. 
Er wollte die Urſache erfahren. Liſa geſtand ihm, daß 
ſie ihren Schritt für leichtfertig halte, ja, daß ſie ihn 
bereits bereue, und daß ſie freilich dieſes Mal noch 
das Wort, das ſie gegeben, hätte halten wollen, aber 
daß dieſe Zuſammenkunft allerdings die letzte ſein 
müßte, und daß ſie ihn bäte, die Bekanntſchaft abzu— 
brechen, die für beide zu nichts Gutem führen könnte. 
Es verſteht ſich von ſelber, daß ſie dies alles in der 
Mundart der Landbevölkerung ſprach; aber dennoch 
wurde Alexej von dieſen Gedanken und Gefühlen, die 
für ein einfaches Bauernmädchen ungewöhnlich waren, 
ſehr überraſcht. Er gebrauchte, um Akulina von ihrer 
Abſicht abzubringen, ſeine ganze Beredſamkeit; er 
beteuerte die Unſchuld ſeiner Wünſche, er verſprach 
ihr, ihr nie auch nur die geringſte Urſache zur Reue 
zu geben und ſtets in allem folgſam zu ſein, und er 


beſchwor ſie ſchließlich, ihm nicht ſeine einzige Freude 


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Die Erzählungen Bjelkins 


zu nehmen — ſie allein zu ſehen, und ſei es auch nur 
jeden anderen Tag, oder gar nur zweimal in der Woche. 
Seine Sprache war die der aufrichtigſten Leidenſchaft, 
man konnte ihn in dieſem Augenblick wahrhaftig 
als verliebt bezeichnen. Liſa hörte ihn ſtumm an. 
„Verſprich mir,“ ſagte ſie ſchließlich: „daß du mich 
niemals im Dorf aufſuchen oder irgendjemand nach 
mir fragen willſt. Ver ſprich mir, nie andere Zuſammen⸗ 
künfte mit mir herbeiführen zu wollen außer jenen, 
die ich ſelber beſtimmen werde.“ Alexej wollte ihr das 
beim heiligen Freitag beſchwören, aber lächelnd hielt 
ſie ihn davon ab. „Ich brauche keinen Schwur,“ ſagte 
Liſa: „mir genügt, wenn du es mir verſprichſt.“ Sie 
plauderten darauf, im Walde auf- und abgehend, auf 
das freundſchaftlichſte, bis endlich Liſa ihm ſagte, daß 
es für ſie Zeit ſei. Sie trennten ſich, doch konnte Alexej, 
als er wieder allein war, gar nicht faſſen, auf welche 
Weiſe dieſes einfache Bauernmädchen es in nur zwei 
Zuſammenkünften vermocht hatte, dieſe große Gewalt 
über ihn zu gewinnen. Seine Beziehungen zu Akulina 
hatten für ihn den Reiz der Neuheit, und wenn ihn 
auch die Vorſchriften des ſeltſamen Bauernmädchens 
bedrückten, ſo kam ihm doch der Gedanke überhaupt 
nicht in den Kopf, ſein Wort etwa nicht zu halten. 
Denn Alexej war trotz des verhängnisvollen Ringes 
und ungeachtet ſeiner geheimnisvollen Korreſpondenz 
und der enttäuſchten Düſterkeit ſeiner Miene ein braver 
und heißblütiger Burſche und hatte das reinſte Herz, 


110 


2 


———— дико 


Das Fräulein als Bäuerin 


das durchaus noch fähig war, unſchuldige Entzückungen 
zu empfinden. 

Wenn ich jetzt nur darauf hören wollte, was mir 
Vergnügen bereitet, würde ich beſtimmt und mit aller 
Genauigkeit die Zuſammenkünfte der jungen Leute be⸗ 
ſchreiben, ihre anſchwellende gegenſeitige Neigung, 
ihr Zutrauen, ihre Beſchäftigungen und ihre Geſpräche; 
allein ich weiß nur zu gut, daß der größte Teil meiner 
Leſer nicht gewillt ſein dürfte, dieſes Vergnügen mit 
mir zu teilen. Solche Einzelheiten können überhaupt 
leicht einen zu ſüßlichen Eindruck machen, und ſo laſſe 
ich ſie denn aus, indem ich nur in aller Kürze hinzu⸗ 
füge, daß keine zwei Monate vergingen, und mein 
Alexej bereits toll verliebt war, aber auch Liſa war 
nicht viel gleichgültiger als er, obwohl ſie viel ſchweig⸗ 
ſamer war. Beide waren glücklich über die Gegen- 
wart und dachten wenig an die Zukunft. 

Ziemlich häufig war jedem von beiden bereits der 
Gedanke an eine unauflösliche Verbindung gekommen; 
aber noch nie hatte eines von ihnen den Mut gefaßt, 
hierüber mit dem andern zu ſprechen. Der Grund lag 
auf der Hand: war auch Alexej feiner lieben Akulina 
ungemein zugetan, ſo mußte er doch immer an den 
Abſtand denken, der zwiſchen ihm und der armen 
Bäuerin beſtand; Liſa hingegen war nur zu gut be— 
kannt, wie ſehr die beiderſeitigen Väter einander haßten, 
und ſie wagte nicht zu hoffen, daß es zu einem Friedens⸗ 
ſchluß kommen würde. Zudem wurde ihre Eigenliebe 


111 


SER Bjelkins 


insgeheim von der dunklen und romantiſchen Hoffnung 
aufgeſtachelt, den Tugilowſchen Gutsbeſitzer endlich 
zu Füßen der Schmiedstochter aus Prilutſchind zu 
ſehen. Plötzlich jedoch trat ein wichtiges Ereignis ein, 
das ihre Beziehungen faſt völlig verändert hätte. 
Iwan Petrowitſch Bereſtow ritt an einem klaren 
und kalten Morgen (einem jener Morgen, an denen 
unſer ruſſiſcher Herbſt fo reich ift) ſpazieren und nahm 
für jeden Fall drei Windhundkoppeln, einen Reitknecht 
und einige Buben aus dem Gutshof mit, die gegebenen⸗ 
falls zu klappern hatten. Um die gleiche Zeit befahl, 
vom ſchönen Wetter verlockt, Grigorij Iwanowitſch 
Muromskij die Stute mit dem geſtutzten Schweif zu 
ſatteln und ritt im Trabe durch feine angliſierten Be: 
ſitzungen. Als er ſich dem Walde näherte, erblickte er 
feinen Nachbarn, der in feinem mit Fuchspelz gefüt⸗ 
terten Jagdrock ſtolz zu Pferde ſaß und auf einen 
Haſen wartete, den die Buben mit Schreien und 
Klappern ſoeben aus dem Gebüſch aufſcheuchten. 
Hätte Grigorij Jwanowitſch die Begegnung voraus⸗ 
geſehen, er wäre ſicherlich vorher beiſeite geritten; ſo 
aber ſtieß er völlig unverhofft auf Bereſtow und hielt 
plötzlich in der kleinen Entfernung eines Piſtolenſchuſſes 
vor ihm. Da war nichts zu machen. Ulm ſich als де: 
bildeten Europäer zu zeigen, ritt Muromskij an ſeinen 
Gegner heran und begrüßte ihn höflich. Und Bereſtow 
erwiderte die Begrüßung mit dem gleichen Eifer, mit 
dem ein an die Kette gelegter Bär, der Weiſung ſeines 


112 


Das Fräulein als Bäuerin 


Führers gehorchend, die anweſenden Herrſchaften Бе: 
grüßt. Im gleichen Augenblick aber ſprang der Haſe 
aus dem Walde und ſtrich übers Feld. Bereſtow und 
der Reitknecht ſchrien laut auf, ließen die Hunde frei 
und jagten auf feiner Spur übers Feld. Muromskijs 
Pferd, das noch nie auf einer Jagd geweſen war, er- 
ſchrak darüber und ging durch. Da Muromskij ſich 
immer gerühmt hatte, ein ausgezeichneter Reiter zu 
ſein, ließ er dem Pferd die Zügel und war ſogar 
innerlich über den Zufall erfreut, der ihn von einer un⸗ 
angenehmen Unterhaltung befreite. Allein ſein Pferd 
flog, als es plötzlich auf einen Abhang, den es zuvor 
nicht bemerkt hatte, zuſchoß, jählings zur Seite und 
Muromskij vermochte nicht, ſich dabei im Sattel zu 
halten. Er fiel ziemlich ſchwer auf die hartgefrorene 
Erde und blieb liegen, wobei er in Gedanken ſeine 
kupierte Stute verwünſchte, dieſe aber blieb, ganz als 
wäre fie augenblicks, da fie ſich ohne Reiter fühlte, zur 
Beſinnung gekommen, ſogleich neben ihm ſtehen. Iwan 
Petrowitſch ſprengte heran und erkundigte ſich, ob er 
ſich nicht weh getan hätte. Unterdeſſen führte der Reit⸗ 
knecht das Pferd, das an dem Sturz ſchuld war, am 
Zaum herbei. Er half Muromskij in den Sattel ſteigen 
und Bereſtow lud ihn ein, in ſein Haus zu kommen. 
Muromskij konnte es nicht gut ablehnen, denn er 
fühlte ſich ihm verpflichtet, und ſo kam es alſo, daß 
Bereſtow in vollem Triumph nach Hauſe zurückkehren 
konnte, denn er hatte nicht nur einen Haſen erlegt, 


P. 1 8 
113 


Die Erzählungen Bijelktins 


ſondern führte auch ſeinen Gegner verwundet und 
faſt als eine Art von Kriegsgefangenen mit ſich. 

Beim Frühſtück kam es zwiſchen den beiden Mad): 
barn zu einem ziemlich freundſchaftlichen Geſpräch. 
Muromskij bat Bereſtow um ſeinen Wagen, denn er 
mußte geſtehen, daß er ſich infolge des Sturzes nicht 
imſtande fühlte, nach Haufe zu reiten. Bereſtow 
begleitete ihn bis vors Haus und Muromskij fuhr 
nicht eher fort, bevor er ihm nicht das Ehrenwort 
abgenommen, bereits am nächſten Tage in Begleitung 
feines Sohnes Alexej nach Prilutſchino zu kommen, 
um dort auf Freundesart zu Mittag zu ſpeiſen. Es 
machte ſomit den Eindruck, daß die alte und tief ver⸗ 
wurzelte Feindſchaft infolge des Scheuens einer Фи: 
pierten Stute auf dem Punkt angelangt war, bei⸗ 
gelegt zu werden. 

Liſa eilte Grigorij Iwanowitſch entgegen. „Was 
iſt geſchehen, Papa?“ fragte ſie erſtaunt: „Sie hinken 
ja? Und wo iſt Ihr Pferd? Und wem gehört dieſer 
Wagen?“ — „Das würdeſt du nie erraten, my dear“, 
entgegnete ihr Grigorij Iwanowitſch und teilte ihr 
alles mit, was ſich ereignet hatte. Liſa wollte ihren 
Ohren nicht trauen. Aber Grigorij Iwanowitſch gab 
ihr nicht erſt lange Zeit, ſich zu ſammeln, ſondern 
ſagte, daß die beiden Bereſtows morgen bei ihm zu 
Mittag ſpeiſen würden. „Was Sie ſagen!“ rief ſie 
und erblaßte: „Die Bereſtows, Vater und Sohn! 
Morgen bei uns zu Mittag! Nein, Papa, tun Sie, 


114 


Das Fräulein als Bäuerin 


was Sie wollen; ich komme um keinen Preis zu Tiſch.“ 
— „Du bift wohl verrückt geworden?“ erwiderte der 
Vater: „Seit wann biſt denn du ſo ſchüchtern, oder 
nährſt du am Ende, wie eine romantiſche Heldin, einen 
erblichen Haß gegen die beiden. Laß doch die Dumm⸗ 
heiten ..“ — „Nein, Papa, um nichts in der Welt, 
um keine Schätze der Erde zeige ich mich den Bere— 
ſtows.“ Grigorij Iwanowitſch zuckte die Achſeln und 
ſtritt nicht länger mit ihr, denn er wußte, daß man bei 
ihr durch Widerreden nichts erreichen konnte, er ging 
darum lieber ins Haus, um ſich von ſeinem bemerkens⸗ 
werten Spazierritt zu erholen. 

Liſaweta Grigorjewna eilte in ihr Zimmer und rief 
Naſtja. Beide berieten lange über den Beſuch, der 
morgen kommen ſollte. Was wohl Alexej ſagen würde, 
wenn er in dem wohlerzogenen Fräulein ſeine Akulina 
erkennen ſollte? Und was würde er wohl über ihr 
Betragen denken, ihre Anſtandsregeln, und was müßte 
er von ihrer Vernunft halten? Andererſeits reizte es 
Liſa natürlich außerordentlich, zu ſehen, welch einen 
Eindruck dieſe unerwartete Begegnung auf ihn machen 
würde ... Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie teilte 
ihn Naſtja mit; beide freuten ſich darüber und Бе: 
ſchloſſen, das Vorhaben beſtimmt auszuführen. 

Am Tage darauf fragte Grigorij Iwanowitſch 
ſeine Tochter beim Frühſtück, ob ſie immer noch die 
Abſicht habe, ſich vor den Bereſtows zu verſtecken. 
„Lieber Papa,“ entgegnete Liſa: „wenn es Ihnen be- 


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Die Erzählungen Bjelkins 


liebt, ſo will ich ſie empfangen, allein ich ſtelle eine 
Bedingung: wie immer ich auch vor ihnen erſcheinen 
ſollte, und was immer ich tun werde, Sie dürfen mich 
deswegen nicht ſchelten und keinerlei Zeichen des Er⸗ 
ſtaunens oder des Unwillens äußern.“ — „Sicherlich 
wieder irgendeiner deiner Streiche!“ ſagte Grigorij 
Iwanowitſch lachend: „Gut, ſchon gut: ich bin ein⸗ 
verſtanden, tu was du magſt, mein ſchwarzäugiger 
Schelm.“ Er küßte ſie bei dieſen Worten auf die Stirn 
und Liſa eilte, ihre Vorbereitungen zu treffen. 
Pünktlich um zwei Uhr rollte eine ſechsſpännige, 
zu Hauſe gebaute Kutſche auf den Hof und bog 
um den dicht mit Gras bewachſenen grünen Rafen- 
platz. Der alte Bereſtow ſtieg, unterſtützt von zwei 
liprierten Dienern Muromskijs, die Freitreppe herauf. 
Sein Sohn folgte ihm, und beide betraten gleich⸗ 
zeitig das Speiſezimmer, in welchem der Tiſch bereits 
gedeckt war. Muromskij empfing ſeine Gäſte auf das 
zuvorkommendſte, er ſchlug ihnen vor, noch vor dem 
Mittageſſen den Garten und den Raubtier zwinger zu 
beſichtigen, und führte ſie auf Wegen, die ſorgfältig 
geſäubert und mit feinem Kiesſand beſtreut waren. 
Zwar wurmte es den alten Bereſtow innerlich, daß 
fo viel Zeit und Arbeit an fo nutzloſe Spielereien рег: 
ſchwendet worden war, doch er war höflich und ſchwieg. 
Sein Sohn teilte weder die Unzufriedenheit des berech- 
nenden Gutsbeſitzers noch die Begeiſterung des alten 
Anglomanen; ungeduldig wartete er auf das Er— 


116 


Das Fräulein als Bäuerin 


ſcheinen der Haustochter, von der man ihm bereits 
ſo viel erzählt hatte; denn war auch ſein Herz, wie 
uns bekannt iſt, bereits beſetzt, ſo vermochte doch jede 
junge Schöne immer noch Platz in ſeiner Phantaſie 
zu gewinnen. 

Als ſie wieder ins Speiſezimmer zurückgekehrt waren, 
nahmen ſie zu dritt am Tiſch Platz: die alten Herren 
gedachten der früheren Zeit und tauſchten Anekdoten 
über ihre Dienſtjahre aus, Alexej dagegen überlegte 
derweilen, welche Rolle er wohl ſpielen wollte, wenn 
Liſa erſchiene. Er entſchied ſich dahin, daß kalte 
Zerſtreutheit in jedem Falle das Angemeſſenſte ſein 
dürfte, und traf infolgedeſſen ſeine Vorbereitungen 
hierzu. Die Türe öffnete ſich, und mit ſolchem Gleich—⸗ 
mut und mit einer ſo ſtolzen Nachläſſigkeit wandte 
er feinen Kopf hin, daß ſogar das Herz der aller- 
erfahrenſten Koketten unbedingt hätte erzittern müſſen. 
Aber zum Leidweſen trat ſtatt der erwarteten Liſa nur 
die alte geſchminkte und geſchnürte Miß Jackſon mit 
niedergeſchlagenen Augen und einem kleinen Knicks ein 
und ſo fiel die vortreffliche militäriſche Taktik Alexejs 
in nichts zuſammen. Noch hatte er nicht Zeit gefunden, 
ſich aufs neue zu ſammeln, da öffnete ſich wiederum 
die Türe, und dieſes Mal trat Liſa ein. Alle erhoben 
ſich; ihr Vater wollte ihr die Gäſte vorſtellen, aber 
plötzlich hielt er inne und biß fich ſchnell auf die Lippen . 
Liſa, ſeine braune Liſa war geſchminkt bis an die Ohren, 
noch viel ſchlimmer geſchminkt als etwa Miß Jackſon; 


117 


Die Erzählungen Bjelkins 


die falſchen Locken, die viel heller waren als ihre echten 
Haare, waren zu einer Perücke der Zeiten Ludwigs XIV. 
aufgetürmt; die Ärmel & l’imbeeille ragten fteif wie 
höchſtens ein Reifrock der Madame de Pompadour; 
die Taille war ſo eng zuſammengeſchnürt, daß die 
Geſtalt dem Buchſtaben X glich und an ihren Fingern, 
ihrem Halſe und an den Ohren ſchimmerten alle Bril⸗ 
lanten ihrer Mutter, die noch nicht verſetzt oder ver— 
pfündet waren. Alexej konnte natürlich in dieſem lächer⸗ 
lichen und prunkvollen Fräulein keineswegs ſeine Aku⸗ 
lina erkennen. Sein Vater trat heran, um ihr das 
Händchen zu küſſen, und ärgerlich mußte er es ihm 
nachtun; als er mit den Lippen ihre weißen Fingerchen 
berührte, ſchien ihm, daß dieſe leiſe erbebten. Und gleich⸗ 
zeitig bemerkte er ein Füßchen, das mit Abſicht ein 
wenig hervorſchaute, und mit aller nur möglichen 
Koketterie beſchuht war. Dieſer Umſtand verſöhnte 
ihn ein wenig mit ihrem übrigen Aufzuge. Was {тей 
lich die Schminke und den Puder betraf, ſo bemerkte 
er, offen geſtanden, dieſe in der Einfalt ſeines Herzens 
auf den erſten Blick zunächſt nicht und ſchöpfte hin⸗ 
ſichtlich ihrer auch ſpäterhin keinen Verdacht. Grigorij 
Iwanowitſch gedachte feines Verſprechens und gab 
ſich alle Mühe, nicht kundzugeben, wie ſehr er erſtaunt 
war; doch amüſierte ihn die Schelmerei ſeiner Tochter 
ſo ſehr, daß er nur mit großer Anſtrengung das Lachen 
verbeißen konnte. Aber gar nicht nach Lachen war der 
affektierten Engländerin zumute. Sie erriet, daß die 


118 


Das Fräulein als Bäuerin 


Schminke ſowohl als auch der Puder aus ihrer Kom: 
mode ſtammten, und purpurne Röte des Argers brach 
alsbald durch die künſtliche Bläſſe ihres Geſichts. 
Flammenblicke ſchleuderte fie auf die junge Miſſe— 
täterin, dieſe jedoch ſtellte ſich, als bemerke ſie nichts, 
denn ihr lag daran, alle Auseinanderſetzungen auf 
einen fpäferen Zeitraum zu verſchieben. 

Man ging zu Tiſch. Alexej fuhr fort, die Rolle 
des Zerſtreuten und Nachdenklichen zu ſpielen. Liſa 
zierte ſich und ſprach mit einem ſingenden Ton durch 
die Zähne, und zwar gebrauchte ſie nur die franzöſiſche 
Sprache. Der Vater ſah unentwegt ſeine Tochter an, 
er begriff zwar nicht, welche Abſicht ſie mit ihrem 
Spiel verfolge, aber er fand es ſehr ergötzlich. Die 
Engländerin wütete und ſchwieg. Und nur Iwan 
Petrowitſch fühlte ſich wie zu Hauſe: er aß für zwei, 
er trank ſein gewöhnliches Maß, er lachte über ſeine 
eigenen Späße und unterhielt ſich von Stunde zu 
Stunde freundſchaftlicher. 

Endlich erhob man ſich vom Tiſch; die Gäſte reiften 
ab und nun konnte Grigorij Iwan ſeinem Gelächter 
und ſeinen Fragen Luft machen. „Warum fiel es dir 
eigentlich ein, ſie zum Narren zu halten?“ fragte er 
Liſa: „Und überhaupt, weißt du was? Die weiße 
Schminke ſteht dir ausgezeichnet; ich will nicht in die 
Geheimniſſe des Damenputzes eindringen, aber an 
deiner Stelle würde ich mich häufiger ſchminken; nicht 
übertrieben natürlich, ſondern nur ein wenig.“ Liſa 


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Die Erzählungen Bjelkins 


war über ihren Einfall entzückt. Sie umarmte den 
Vater, verſprach ihm, über ſeinen Rat nachzudenken, 
und eilte, die erzürnte Miß Jackſon zu beſänftigen; 
fie konnte fie freilich nur mit großer Mühe dazu be⸗ 
wegen, die Türe zu öffnen und ihre Rechtfertigungen 
anzuhören. Liſa ſagte, daß es ihr peinlich geweſen 
ſei, vor den Gäſten mit ihrem bräunlichen Teint zu 
erſcheinen; ſie ſagte, daß ſie nicht gewagt hätte, darum 
zu bitten ... doch daß fie überzeugt geweſen wäre, 
daß die gute, liebe Miß Jackſon ihr verzeihen würde 
. . . und ähnliches mehr. Als Miß Jackſon zur Über- 
zeugung gekommen war, daß Liſa nicht etwa die Ab- 
ſicht gehabt hätte, ſie lächerlich zu machen, beruhigte 
ſie ſich, küßte Liſa und ſchenkte ihr als Friedenspfand 
ein Töpfchen mit engliſcher Schminke, welches von 
Liſa mit dem Ausdruck der aufrichtigſten Dankbarkeit 
in Empfang genommen wurde. 

Der Leſer wird leicht erraten, daß Liſa nicht ver⸗ 
ſäumte, am Morgen des nächſten Tages im Wäldchen 
der Zuſammenkünfte zu erſcheinen. „Gnädiger Herr, 
warſt du geſtern bei unſerer Herrſchaft?“ fragte ſie 
als erſtes: „Und wie gefiel dir unſer Fräulein?“ 
Alexej entgegnete, daß er ſie kaum bemerkt hätte. 
„Schade“, entgegnete Ца. — „Warum denn?“ fragte 
Alexej. — „Weil ich dich gerne gefragt hätte, ob es 
wahr iſt, was man ſagt ...“ — „Was ſagt man 
denn?“ — „Ob es wohl wahr iſt, was man ſagt, ich 
ſähe unſerem Fräulein ähnlich?“ — „Welch ein Ци: 


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Das Fräulein als Bäuerin 


ſinn! Mit dir verglichen iſt fie das ſcheußlichſte Scheu⸗ 
ſal.“ — „Ach, gnädiger Herr, ſchämſt du dich nicht, 
fo zu ſprechen; unſer Fräulein hat ет fo weißes Фе: 
ſichtchen und iſt ſo ſchön geputzt! Wie könnte man 
mich je mit ihr vergleichen!“ Aber Alexej ſchwor ihr, 
daß fie viel ſchöner {её als alle nur immer erdenk⸗ 
baren weißen Fräulein, und begann, um ſie vollends 
zu beruhigen, ihre Herrſchaft mit ſo lächerlichen Zügen 
zu ſchildern, daß Liſa herzlich lachen mußte. „Immer⸗ 
hin,“ ſprach ſie darauf mit einem Seufzer: „wenn 
auch unſer Fräulein möglicherweiſe komiſch iſt, ſo bin 
ich doch im Vergleich mit ihr nichts als eine ungebil— 
dete Närrin.“ — „Ih!“ meinte Alexej: „Das brauchſt 
du dir nicht zu Herzen zu nehmen! Und übrigens, 
wenn du willſt, ich kann dich leicht leſen und ſchreiben 
lehren.“ — „Wahrhaftig,“ meinte Liſa, „ob man es 
nicht in der Tat verſuchen ſollte?“ — „Schon recht, 
Liebſte; fangen wir meinetwegen ſogleich an.“ Sie 
ſetzten ſich. Alexej zog einen Bleiſtift und ein Notizbuch 
aus der Taſche und erſtaunlich ſchnell lernte Akulina das 
Alphabet. Alexej konnte ſich über ihre Auffaſſungs— 
gabe nicht genug wundern. Bereits am nächſten Nor: 
gen äußerte ſie den Wunſch, es mit dem Schreiben zu 
verſuchen; und wollte auch anfangs der Bleiſtift (Фет: 
bar nicht recht gehorchen, ſo wußte ſie doch bereits 
nach wenigen Minuten ziemlich hübſch die Buchſtaben 
zu malen. „Ein Wunder!“ rief Alexej: „Bei uns geht 
ja der Unterricht noch ſchneller als nach dem Lancaſter— 


121 


Die Erzählungen Bjelkins 


ſyſtem.“ Und tatſächlich vermochte Akulina bereits 
im Verlaufe der dritten Unterrichtsſtunde „Natalja, 
die Bojarentochter“ zu buchſtabieren, wobei fie die 
Lektüre in einem fort mit Bemerkungen unterbrach, 
die Alexej in das aufrichtigſte Erſtaunen verſetzten. 
Sie kritzelte außerdem ein großes Blatt mit Apho— 
rismen voll, die aus der gleichen Erzählung ſtammten. 

Noch war keine Woche vergangen, da ſtanden die 
beiden bereits im Briefwechſel. Als Poſtbureau diente 
ihnen ein Hohlraum im Stamm einer alten Eiche. 
Naſtja hatte in aller Stille das Amt des Briefträgers 
übernommen. Alexej trug ſeine mit großen Zügen 
geſchriebenen Briefe dorthin und fand ſtets die auf 
einfaches blaues Papier gekritzelten Krähenfüßchen 
ſeiner Angebeteten vor. Es war erſtaunlich, wie ſchnell 
ſich Зита an die feinere Ausdrucksweiſe gewöhnte 
und wie offenſichtlich ihr Verſtand ſich entwickelte 
und bildete. 

Die Bekanntſchaft zwiſchen Iwan Petrowitſch Be: 
reſtow und Grigorij Jwanowitſch Muromskij wuchs 
derweilen immer kräftiger an und verwandelte ſich in 
Kürze ſogar in Freundſchaft, und zwar aus folgendem 
Grunde. Muromskij dachte häufig daran, daß nach 
dem Tode Iwan Petrowitſchs all deſſen Beſitzungen 
Alexej Iwanowitſch zufallen würden, und daß in 
dieſem Falle Alexej Iwanowitſch wohl einer der 
reichſten Gutsbeſitzer ſeines Gouvernements werden 
dürfte, und daß mithin keinerlei Grund vorliege, 


122 


Das Fräulein als Bäuerin 


warum ег Liſa etwa nicht heiraten ſollte. Der alte 
Bereſtow hingegen leugnete keineswegs die vielen vor⸗ 
trefflichen Eigenſchaften ſeines Nachbarn, wie zum 
Beiſpiel ſeine außergewöhnliche Tüchtigkeit, war er 
auch immer noch der Anſicht, daß Muromskij ein 
wenig verrückt ſei (oder wie er es nannte, an der eng⸗ 
liſchen Narrheit litt); Grigorij Iwanowitſch war zu: 
dem ein naher Verwandter des Grafen Pronskij, der 
ein bedeutender und einflußreicher Mann war; dieſer 
Graf konnte unter Umſtänden Alexej von großem 
Nutzen werden, außerdem durfte Muromskij (fo re: 
nigſtens dachte Iwan Petrowitſch) ſicherlich über die 
Gelegenheit erfreut ſein, ſeine Tochter gut zu ver— 
heiraten. Und ſo lange überlegten die alten Herren 
dieſen Plan ein jeder für ſich allein, bis ſie ihn ſchließ⸗ 
lich miteinander beſprachen, worauf ſie ſich umarmten 
und einander das Wort gaben, die Angelegenheit ge— 
hörig zu betreiben; ein jeder machte ſich nun daran, 
ſeinerſeits die notwendigen Schritte zu unternehmen. 
Muromskij ſtand eine ſchwere Aufgabe bevor: mußte 
er doch ſeine Betſy überreden, näher mit Alexej, den 
ſie ſeit dem bemerkenswerten Mittageſſen nicht wieder— 
geſehen hatte, bekannt zu werden. Es hatte ihm den 
Eindruck gemacht, als hätten ſie einander nicht ſehr ge— 
fallen; zum mindeſten hatte Alexej keinerlei Abſicht де: 
zeigt, wieder einmal nach Prilutſchino zu fahren, Liſa 
aber ſchloß ſich jedesmal, wenn Iwan Petrowitſch ihnen 
die Ehre ſeines Beſuches erwies, in ihrem Zimmer 


123 


Die Erzählungen Bjelfins 


ein. Wenn aber Alexej — dies waren die Gedanken 
Grigorij Iwanowitſchs — erſt täglich in meinem 
Hauſe verkehren wird, dann wird Betſy ſich beſtimmt 
in ihn verlieben. Das liegt in der Natur der Sache. 
Die Zeit wird es ſchon machen. 

Iwan Petrowitſch war über den Erfolg ſeines 
Vorhabens bedeutend weniger beunruhigt. Noch am 
gleichen Abend befahl er ſeinen Sohn zu ſich ins 
Kabinett, ſteckte die Pfeife an und meinte nach einem 
kurzen Schweigen: „Wie iſt denn das, Aljoſcha, du 
ſprichſt ſchon lange nicht mehr vom Militärdienſt? Oder 
ſollte wirklich die Huſarenuniform dich nicht mehr ver⸗ 
locken?“ — „Nein, Papa!“ entgegnete Alexej reſpekt⸗ 
voll: „Ich merke doch, daß es Ihnen nicht erwünſcht 
iſt, daß ich Huſar werde; und es iſt meine Pflicht, 
Ihnen zu gehorchen.“ — „Schon gut!“ entgegnete 
Iwan Petrowitſch: „Ich ſehe, daß du ein gehorſamer 
Sohn biſt; das tröſtet mich ſehr; ſo will ich denn auch 
meinerſeits dich zu nichts zwingen: ich will dich nicht 
veranlaſſen ... ſogleich ... in den Staatsdienſt zu 
treten; ich habe zunächſt einmal die Abſicht, dich zu 
verheiraten.“ 

„Mit wem denn, Papa?“ fragte Alexej überraſcht. 

„Mit Liſaweta Grigorjewna Muromskaja“, ent⸗ 
gegnete Iwan Petrowitſch: „Ein vortreffliches Bräut⸗ 
chen, nicht wahr?“ 

„Aber, Papa, ich habe noch gar nicht ans Heiraten 
gedacht.“ 


124 


B EN ERLERNEN Ze 2 


A ru ы бий . 


Das Sräulein als Bäuerin 


„Du nicht; darum habe ich für dich gedacht und 
alles zu Ende gedacht.“ 

„Wie Sie wollen, aber Liſa Muromskaja gefällt 
mir ganz und gar nicht.“ 

„Sie wird dir ſchon gefallen, Gewohnheit bringt 
Liebe.“ 

„Aber ich fühle mich durchaus nicht befähigt, ſie 
glücklich zu machen.“ 

„Was geht dich ihr Glück an? Wie? Befolgſt du 
ſo meinen väterlichen Willen? Sehr gut!“ 

„Wie Sie wollen, aber ich will nicht heiraten und 
werde nicht heiraten.“ 

„Du wirſt heiraten, oder ich werde dich verdammen, 
und mein Gut — fo wahr Gott lebt — verkaufen und 
verſchleudern, ſo daß dir auch nicht ein roter Heller 
bleiben wird. Ich gebe dir drei Tage zur Überlegung, 
wage es nicht, mir bis dahin unter die Augen zu treten.“ 

Alexej wußte nur zu gut, daß, wenn ſein Vater ſich 
etwas in den Kopf geſetzt hatte, man es ihm, wie 
Taras Skotinin ſagt, nicht einmal mehr mit einem 
Nagel aus dem Kopf hauen konnte; aber Alexej war 
darin wie ſein Vater, und es war genau ſo ſchwierig, 
ihn zur Räſon zu bringen. Er ſchloß ſich in ſein 
Zimmer ein und dachte tief über die Grenzen der väter⸗ 
lichen Gewalt nach, aber auch über Liſaweta Grigor: 
jewna, über das feierliche Verſprechen des Vaters, 
ihn zum Bettler zu machen, und dachte nicht zuletzt 
auch an Akulina. Jetzt, zum erſten Male, erkannte 


125 


Die Erzählungen Blelkins 


er auf das allerdeutlichſte, daß er ſie leidenſchaftlich 
liebte; ihm ſchoß der romantiſche Gedanke durch den 
Kopf, die Bäuerin zu heiraten und von ſeiner eigenen 
Hände Arbeit zu leben, und je länger er ап dieſen ent: 
ſcheidenden Schritt dachte, deſto mehr Vernunft fand 
er in ihm. Die Zuſammenkünfte im Wäldchen waren 
infolge des regneriſchen Wetters ſeit einiger Zeit unter⸗ 
brochen worden. Er ſchrieb daher mit der allerfau- 
berſten Handſchrift und dem allerraſendſten Stil einen 
Brief an Akulina, in welchem er ihr von dem Ver⸗ 
derben, das ihnen beiden drohte, Mitteilung machte, 
und ihr aufs neue ſeine Hand antrug. Ohne Zeit zu 
verſäumen, brachte er den Brief zur Poſt, nämlich 
zu dem Hohlraum im Baum, und begab ſich erſt dann, 
zufrieden mit ſich ſelber, zu Bett. 

Tags darauf ritt Alexej, treu ſeinem Entſchluß, 
оп am frühen Morgen zu Muromskij, um ſich 
offenherzig mit ihm auseinanderzuſetzen. Er gedachte 
an ſeine Großmut zu appellieren, und hoffte, ihn für 
fi) zu gewinnen. „ЭЙ Grigorij Iwanowitſch zu 
Hauſe?“ fragte er, nachdem er ſein Pferd vor der 
Freitreppe des Schloſſes von Prilutſchino zum Stehen 
gebracht hatte. „Der Herr iſt nicht zu Hauſe,“ ent⸗ 
gegnefe der Diener: „Grigorij Jwanowitſch beliebte 
es, bereits am frühen Morgen auszureiten.“ — Wie 
ärgerlich! dachte Alexej. „Iſt wenigſtens Liſaweta 
Grigorjewna zu Haufe?“ — „Das Fräulein find zu 
Hauſe.“ Alexej ſprang ſogleich vom Pferd, warf dem 


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Das Fräulein als Bäuerin 


Diener die Zügel zu und trat ein, ohne ſich erft melden 
zu laſſen. 

Nun wird ſich alles entſcheiden — dachte er, als 
er ſich dem Wohnzimmer näherte —, ich werde mit 
ihr ſelber ſprechen. Er trat ein ... und erſtarrte zu 
einer Bildſäule: На... nein doch, Akulina, die liebe 
bräunliche Akulina, ſaß dort zwar nicht im Sſarafan, 
aber im weißen Morgenkleide am Fenſter und las 
ſeinen Brief; ſie war ſo ſehr damit beſchäftigt, daß 
ſie nicht gehört hatte, wie er eintrat. Alexej war nicht 
imſtande, einen Freudenſchrei zu unterdrücken. Liſa 
erbebte, hob den Kopf, ſchrie auf und wollte davon. 
Er eilte ihr nach. „Akulina, Akulina! ...“ Liſa рег: 
ſuchte vergebens, ſich aus feinen Armen zu winden ... 
„Mais laissez-moi done, Monsieur, mais etes-vous 
fou?“ rief fie in einem fort, 14 von ihm abwendend. 
„Akulinal Geliebte, Akulina!“ ſtammelte er, ihre Hände 
küſſend. Miß Jackſon, die dieſer Szene als Zeugin 
beiwohnte, wußte nicht, was ſie denken ſollte. In dieſem 
Augenblick öffnete ſich die Tür und Grigorij Iwano⸗ 
witſch trat ein. 

„Aha!“ meinte Muromskij: „Na, die Sache ſcheint 
ja von euch bereits in Ordnung gebracht worden zu 
ет...“ 

Die Leſer werden es mir gewiß erfparen, die übri- 
gen Einzelheiten der Löſung zu ſchildern. 


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Erſtes Kapitel 


Es iſt mehrere Jahre her, da lebte auf einer ſeiner 
Beſitzungen der ruſſiſche Edelmann alten Schlages 
Kirila Petrowitſch Trojekurow. Sein Reichtum, ſein 
vornehmer Stand und ſeine Verbindungen verliehen 
ihm in dem Gouvernement, in dem ſich fein Gut Бе: 
fand, ein großes Anſehen. Da er von allen, die ſich 
in ſeiner Umgebung befanden, überaus verwöhnt 
wurde, war es ihm zur Gewohnheit geworden, einer 
jeden Regung ſeines feurigen Charakters nachzugeben, 
ebenfo aber auch allen Launen feines ziemlich beſchränk⸗ 
ten Verſtandes. Seine Nachbarn waren beglückt, wenn 
fie feinem kleinſten Wunſch genügen konnten; die Gou— 
bernementsbeamten dagegen zitterten, wenn fie nur 
ſeinen Namen hörten. Kirila Petrowitſch nahm alle 
dieſe Beweiſe der Unterwürfigkeit wie einen ihm zu⸗ 
ſtehenden Tribut entgegen. Sein Haus war immer 
voller Gäfte, die nur darauf lauerten, feinen adeligen 
Müßiggang zu ergötzen, indem ſie ſtets bereit waren, 
die lärmenden und zuweilen wohl auch wilden Ber: 
gnügungen zu teilen. Keiner wagte je, eine Einladung 
von ihm abzulehnen, oder etwa an den bewußten 
Tagen nicht mit dem gehörigen Reſpekt im Dorf 
Pokrowskoje zu erſcheinen. Kirila Petrowitſch war 
durch und durch gaſtfrei und litt, trotz ſeiner unge— 
wöhnlichen phyſiſchen Kräfte, regelmäßig zweimal 
in der Woche an den Folgen des Überfreffens, es 


131 


Dubrowskij 


verging außerdem kein Abend, an dem er nicht be- 
rauſcht war. 

(Es gab nur wenige Mägde unter feinem Hof: 
geſinde, die den wollüſtigen Angriffen des Fünfzig⸗ 
jährigen entgangen waren. Außerdem lebten in einem 
der Flügel des Gutsgebäudes ſechzehn Zofen, die mit 
nichts anderem als den ihrem Geſchlecht zuſtehenden 
Handarbeiten beſchäftigt waren. Vor den Fenſtern 
dieſes Flügels waren Holzgitter; die Eingangstüre war 


beftändig verſchloſſen und der Schlüſſel befand ſich in 


Verwahrung bei Kirila Petrowitſch. Die jugendlichen 
Einſiedlerinnen durften nur zu beſtimmten Stunden 
in den Garten und ergingen ſich dort ſtets unter der 


Aufſicht zweier alter Frauen. Von Zeit zu Zeit ver: | 
heiratete Kirila Petrowitſch einige von ihnen, dann 


traten Neue an ihre Stellen. Mit den Bauern und 
dem Hofgeſinde verfuhr er ſtreng und eigenwillig; trotz⸗ 


dem aber waren ihm alle ſehr ergeben: ſie prahlten 1 


шй dem Reichtum und dem Ruhm ihres Herrn und 


nahmen ſich ihrerſeits viele Freiheiten gegen ihre Nach⸗ 4 
Баги heraus, да fie auf den ſtarken Schutz ihres Ge- — 


bieters bauten.)! 


Trojekurows einzige und ſtändige Beſchäftigung 
beſtand im Grunde nur aus Spazierritten, die ihn 
durch ſeine ausgedehnten Beſitzungen führten, aus 
endloſen Gelagen und aus allerhand Streichen, die 


täglich neu erſonnen wurden und deren Opfer gewöhn⸗ 


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Das in Klammern Stehende iſt im Ntanuſkript durchgeſtrichen. 


132 


Dubromsfij 


lich irgendeiner feiner neuen Bekannten war, obwohl 
auch ſeine älteren Freunde nicht immer ungerupft 
davonkamen; die einzige Ausnahme hiervon bildete 
Andrej Gawrilowitſch Dubrowskij. Dieſer Dubrows⸗ 
kij, ein verabſchiedeter Gardeleutnant, war fein паф: 
ſter Nachbar und beſaß nicht mehr als ſiebzig Seelen. 
Doch Trojekurow, der ſich ſogar gegen Perſonen von 
allerhöͤchſter Herkunft hochmütig benahm, hatte vor 
Dubrowskij trotz deſſen geringem Vermögen den 
größten Reſpekt. Sie hatten vor Zeiten im gleichen 
Regiment gedient und Trojekurow war der ungedul: 
dige und entſchloſſene Charakter ſeines Nachbarn wohl 
bekannt. Das ruhmreiche Jahr 1762 hatte die beiden 
auf lange getrennt. Trojekurow, der ein Verwandter 
der Fürſtin Daſchkow war, machte eine glänzende 
Karriere; Dubrowskij hingegen, deſſen Vermögen ſich 
in einem verwahrloſten Zuſtande befand, ſah ſich ge⸗ 
zwungen, den Abſchied zu nehmen und ſich auf ſeine letzte 
Beſitzung zurückzuziehen. Als dieſer Umſtand Kirila 
Petrowitſch zu Ohren kam, trug er dem Freunde ſeine 
Unterſtützung an; Dubrowskij lehnte jedoch dankend 
ab, denn er zog es vor, arm, aber unabhängig zu ſein. 
Einige Jahre darauf ließ ſich auch Trojekurow, der 
als General en chef den Abſchied genommen hatte, auf 
ſeinem Gut nieder; die Freunde ſahen ſich wieder und 
empfanden große Freude darüber. Seit jener Zeit war 
kein Tag vergangen, an dem ſie nicht zuſammen— 
gekommen wären, und Kirila Petrowitſch, der noch 


133 


Dubromsfij 


niemals jemand die Ehre feines Beſuches erwieſen 
hatte, kehrte häufig im Häuschen ſeines alten Kame⸗ 
raden ein. (Da ſie gleichalterig waren, dem gleichen 
Stande entſtammten und ähnlich erzogen worden 
waren, ähnelten ſich zum Teil auch ihre Charaktere 
und Neigungen; ja, man konnte ſogar ſagen, auch) t 
ihr Schickſal ſah ſich einigermaßen gleich: beide hatten 
aus Liebe geheiratet, beide waren früh Witwer де: 
worden und jeder von den beiden hatte aus ſeiner 
Ehe ein einziges Kind. Dubrowskijs Sohn wurde in 
Petersburg erzogen, Kirila Petrowitſchs Tochter da— 
gegen wuchs unter den Augen ihres Erzeugers heran, 
und oft pflegte Trojekurow zu Dubrowskij zu ſprechen: 
„Hör mal, Bruder Andrej Gawrilowitſch, wenn dein 
Wladimir einmal ſeinen Weg gemacht haben wird, 
ſoll er meine Maſcha kriegen, gleichviel, ob er auch 
der ärmſte Schlucker ſei.“ Aber Andrej Gawrilowitſch 
ſchüttelte dazu nur den Kopf und antwortete gemöhn: 
lich: „Nein, Kirila Petrowitſch, mein Wladimir iſt 
kein Mann für Marja Kirilowna. Ein armer Edel: 
mann, wie er einer iſt, tut beſſer daran, ein armes 
Edelfräulein zu heiraten, damit er in ſeinem Hauſe das 
Haupt ſei, ſtatt der Verwalter eines verwöhnten Weib⸗ 
chens zu werden.“ 

Das Einverſtändnis, das zwiſchen dem aufgebla— 
ſenen Trojekurow und ſeinem armen Nachbarn be— 
ſtand, war der Gegenſtand des Neides aller und manch 


Das in Klammern Stehende iſt im Manuſkript durchgeſtrichen. 


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Dubromsfij 


einer wunderte ſich über den Mut Dubrowskijs, wenn 
er am Tiſch Kirila Petrowitſchs freimütig ſeine Mei⸗ 
nung gerade heraus äußerte, ohne ſich lange darum 
zu kümmern, ob dieſe nicht am Ende der Anſicht des 
Hausherrn widerſpräche. Der eine und der andere 
verſuchte ſogar, es ihm nachzutun und die Grenzen 
des geziemenden Reſpektes zu überſchreiten; Kirila 
Petrowitſch aber wußte in dieſen Fällen allen ſolche 
Angſt zu machen, daß ihnen auf immer die Luſt 
zu ähnlichen Unternehmungen verging; Dubrowskij 
war und blieb der einzige, der außerhalb des all— 
gemeinen Geſetzes ſtand. Jedoch ein unverhoffter 
Zufall änderte das und brachte alles aus dem Gleich— 
gewicht. 

Eines Tages, es war im frühen Herbſt, begab ſich 
Kirila Petrowitſch auf die Jagd. Die Hundewärter 
und Pferdeknechte hatten ſchon am Abend vorher den 
Befehl erhalten, um fünf Uhr früh bereit zu ſein. 
Zelt und Feldküche befanden ſich bereits an Ort und 
Stelle, nämlich dort, wo Kirila Petrowitſch zu Mittag 
ſpeiſen wollte. Der Hausherr und ſeine Gäſte begaben 
ſich auf den Hundehof, auf welchem mehr als fünf— 
hundert Jagd- und Windhunde zufrieden und gut 
lebten und Kirila Petrowitſchs Freigebigkeit immerzu 
in ihrer Hundeſprache prieſen. Dortſelbſt befand ſich 
auch ein Lazarett für die kranken Hunde, das unter 
der Aufſicht des „Stabsarztes“ Timoſchka ſtand, und 
ferner eine Abteilung, in der die Hündinnen ihre 


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Dubromsfij 


Jungen warfen und ſpäterhin die Welpen ſäugten. 
Dieſe trefflich eingerichteten Anſtalten waren Kirila 
Petrowitſchs ganzer Stolz. Und er verſäumte keine 
Gelegenheit, vor ſeinen Gäſten damit zu prahlen, 
wenn auch ein jeder von dieſen die Baulichkeiten min⸗ 
deſtens zwanzigmal bereits geſehen hatte. Umgeben 
von ſeinen Gäſten und geleitet von Timoſchka und 
den Haupthundewärtern ging er auf dem Hundehofe 
auf und ab und blieb gelegentlich vor einigen Zwingern 
ſtehen, wobei er bald nach der Geſundheit der Er— 
krankten fragte, bald wieder mehr oder weniger ſtrenge 
und gerechte Anordnungen traf; die Hunde, die er ет: 
kannte, rief er heran und unterhielt ſich zärtlich mit 
ihnen. Die Gäſte hielten es für ihre Pflicht, in den 
Ausdrücken des Entzückens von Kirila Petrowitſchs 
Hundehof zu ſprechen. Nur Dubrowskij ſchwieg finſter; 
er war ein leidenſchaftlicher Jäger, aber der Zuſtand 
ſeines Vermögens erlaubte ihm nicht, mehr als zwei 
Jagdhunde und eine Windhündin zu halten, und darum 
konnte er ſich beim Anblick dieſer wahrhaft großartigen 
Zucht eines gewiſſen Neides nicht enthalten. „Warum 
ſchauſt du fo finfter, Bruder?“ fragte Kirila Petro— 
witſch, „gefällt dir am Ende mein Zwinger nicht?“ — 
„Nein,“ entgegnete Dubrowskij rauh, „der Zwinger 
НЕ großartig; aber ich bezweifle, ob alle Ihre Leib⸗ 
eigenen ein ſolches Leben haben wie Ihre Hunde.“ 
Dieſe Worte kränkten einen der Hundeknechte. „Dank 
Gott und unferem Herrn“, ſagte er, „können wir über 


136 


Dubromsfij 


unfer Leben nicht klagen; aber die Wahrheit zu fagen, 
würde es manchem Edelmann vielleicht nur zum Vor— 
teil gereichen, ſeinen Gutshof gegen eine beliebige der 
Hundehütten hier zu verfaufchen; er hätte es hier nicht 
nur wärmer, ſondern würde auch beſſer genährt 
werden.“ Die freche Bemerkung ſeines Leibeigenen 
zwang Kirila Petrowitſch ein lautes Lachen ab, was 
zur Folge hatte, daß auch die Gäſte in ein Gelächter 
ausbrachen, wenn auch manche von ihnen ſich des Ge: 
fühles nicht ganz erwehren konnten, daß der Scherz 
des Hundeknechtes ſich eigentlich auch auf ſie hätte 
beziehen können. Dubrowskij erbleichte und entgeg— 
nete kein Wort. In dieſem Augenblick wurde Kirila 
Petrowitſch ein Wurf junger Hunde in einem Körb— 
chen gebracht; er beſchäftigte ſich mit ihnen und 
wählte zwei von ihnen aus, die anderen befahl er, zu 
erfäufen. Derweilen jedoch war Andrej Gawrilo— 
witſch verſchwunden, ohne daß irgendjemand es Бе: 
merkt hätte. 

Bald darauf verließ Kirila Petrowitſch, gefolgt von 
ſeinen Gäſten, den Hundehof und begab ſich zum 
Abendeſſen, und hier erſt merkte er, als er Dubrowskij 
nirgends ſah, daß dieſer verſchwunden war. Die 
Diener teilten ihm mit, daß Andrej Gawrilowitſch 
nach Haufe gefahren ſei. Trojekurow befahl fogleich, 
ihm nachzujagen und ihn unter allen Umſtänden zu— 
rückzubringen. Es war noch nie vorgekommen, daß 
er ohne Dubrowskij auf die Jagd gegangen wäre, 


137 


Dubromsfij 


denn dieſer war ein erfahrener und vortrefflicher 
Kenner aller Hundeeigenſchaften und in allen nur er— 
denkbaren Jagdͤſtreitigkeiten war feine Entſcheidung 
immer die einzig richtige. Allein der Diener, der ihm 
nachgeſchickt worden war, kehrte zurück, während alles 
noch bei Tiſch ſaß, und meldete ſeinem Herrn, Andrej 
Gawrilowitſch hätte nicht Folge geleiſtet und beab— 
ſichtige nicht zurückzukehren. Wie immer erhitzt vom 
Fruchtſchnaps, ärgerte ſich Kirila Petrowitſch ſehr 
und ſchickte den gleichen Diener noch einmal Andrej 
Gawrilowitſch nach und ließ ihm ſagen, daß, wenn 
er nicht augenblicks nach Pokrowskoje zurückkäme, 
um daſelbſt zu übernachten, er, Trojekurow, ſich auf 
ewig mit ihm verzanken würde. Der Diener ſprengte 
aufs neue fort. Kirila Petrowitſch hob die Tafel auf, 
ließ die Gäſte gehen und begab ſich ſelber zu Bett. 
Am Tage darauf war ſeine erſte Frage: „Iſt 
Andrej Gawrilowitſch da?“ Man überreichte ihm 
einen in Form eines Dreiecks zuſammengefalteten Brief. 
Kirila Petrowitſch befahl ſeinem Schreiber, das Billet 
laut vorzuleſen, und bekam folgendes zu hören: 
„Mein allerwerteſter Herr! 

Ich beabſichtige nach Pokrowskoje ſolange nicht 
zu kommen, bis Sie mir nicht den Hundewärter 
Paramoſchka geſchickt haben, damit dieſer ſich 
vor mir entſchuldige; und wird es in meinem Be- 
lieben ſtehen, ihn zu beſtrafen oder zu begna— 
digen; Späße von Ihren Leibeigenen werde ich 


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Dubromsfij 


mir keineswegs gefallen laffen und auch von 

Ihnen gedenke ich nichts dergleichen zu erdulden, 

denn ich bin kein Narr, ſondern ein Edelmann 

aus altem Hauſe. Inzwiſchen verbleibe ich als 

Ihr zu jedem Dienſt bereiter 

Andrej Dubrowskij.“ 

Nach den heutigen Anſtandsbegriffen wäre dieſer 
Brief als durchaus ungehörig zu bezeichnen; Kirila 
Petrowitſch dagegen war weniger über den ſonder— 
baren Stil und die Ausdrucksweiſe verletzt als über 
den Inhalt. „Wie?“ ſchrie Trojekurow und ſprang 
barfuß aus dem Bett: „Meine Leute zu ihm ſchicken, 
damit ſie ſich entſchuldigen! Er will ſich die Freiheit 
nehmen, ſie zu ſtrafen oder zu begnadigen! Ja, was 
fällt ihm denn eigentlich ein? Weiß er wohl, mit wem 
er es zu tun hat? Ich werd ihm! der ſoll mir noch 
klein werden! Er ſoll mir erfahren, was es heißt, 
mit Trojekurow zu ſtreiten.“ 

Trotzdem jedoch zog ſich Kirila Petrowitſch an und 
ritt mit dem gewöhnlichen Prunk auf die Jagd. Aber 
die Jagd war erfolglos; den ganzen Tag bekam man 
nichts als einen einzigen Haſen zu Geſicht und auch 
der wurde gefehlt; das Mittageſſen im Zelt war eben- 
falls nicht geglückt oder zum mindeſten Kirila Petro— 
witſch nicht nach dem Sinn, denn er prügelte den Koch, 
beſchimpfte die Gäſte und nahm darauf mit ſeinem 
ganzen Gefolge den Heimweg abſichtlich über die Fel— 
der Dubrowskijs. 


139 


Du browskij 


Zweites Kapitel 


Einige Tage vergingen, doch wurde die Feindſchaft 
zwiſchen den beiden Nachbarn deswegen nicht geringer. 
Andrej Gawrilowitſch zeigte ſich nicht mehr in Фо: 
krowskoje, Kirila Petrowitſch langweilte ſich ohne ihn 
und äußerte ſeinen Mißmut in den allerverletzendſten 
Ausdrücken, die natürlich, dank dem Eifer der dort 
anweſenden Edelleute, Dubrowskij ergänzt und Бе: 
richtigt zu Ohren kamen. Ein weiterer Umſtand ver: 
nichtete ſchließlich auch die letzte Hoffnung auf einen 
Friedensſchluß. 

Eines Tages ritt Dubrowskij durch feine kleine Be: 
ſitzung; er hörte, als er ſich einem Birkenwäldchen 
näherte, Beilſchläge und gleich darauf den Lärm eines 
zu Boden ſtürzenden Baumes; er ritt dorthin und 
überraſchte Bauern aus Pokrowskoje, die in ſeinem 
Gehölz Waldfrevel trieben. Als ſie ihn ſahen, machten 
ſie ſich auf die Flucht; allein Dubrowskij erwiſchte 
mit der Hilfe ſeines Kutſchers einen von ihnen und 
ſchleppte ihn gefeſſelt mit ſich zurück; außerdem waren 
dem Sieger noch zwei der feindlichen Pferde als Beute 
zugefallen. Dubrowskij war wütend; vor dieſem Tage 
war es noch nie geſchehen, daß Trojekurows Leib⸗ 
eigene, die bekannte Räuber waren, es gewagt hätten, 
innerhalb ſeiner Beſitzung ihr Unweſen zu treiben, 
denn alle kannten ja ſeine nahe Freundſchaft mit ihrem 
Herrn; jetzt aber mußte Dubrowskij bemerken, daß 


140 


Dubromsfßij 


fie das Zerwürfnis zwiſchen ihm und feinem Nach: 
Баги ſich zu Nutzen machten, und daher entſchloß er 
ſich, entgegen allen Regeln des Kriegsbrauches, ſeinen 
Gefangenen mit eben den gleichen Ruten zu züchtigen, 
die er im Gehölz geſtohlen hatte, die Pferde aber zur 
Arbeit zu verwenden und ſie dem herrſchaftlichen 
Pferdebeſtand zuzuteilen. 

Das Gerücht hiervon drang noch am gleichen Tage 
zu Kirila Petrowitſch. Er geriet außer ſich und wollte 
im erſten Augenblick der Wut mit ſeinem ganzen Hof— 
geſinde Kiſtenjowka überfallen (ſo hieß die Beſitzung 
feines Nachbarn), alles in Grund und Boden рег: 
wüſten und den Beſitzer ſelber in ſeinem Gutshaus 
belagern; Heldentaten dieſer Art waren für ihn nichts 
Rares; doch nahmen ſeine Gedanken bald eine andere 
Wendung. Während er mit ſchweren Schritten im 
Zimmer auf und ab ging, blickte er zufällig durchs 
Fenſter und bemerkte vor dem Tore ein Dreigeſpann. 
Ein Mann in Ledermütze und Friesmantel ſprang aus 
dem Wagen und begab ſich zum Flügel, in dem der 
Verwalter wohnte. Trojekurow erkannte in ihm den 
Beiſitzer Schabaſchkin und ließ ihn rufen. Nach weni⸗ 
gen Augenblicken ſtand Schabaſchkin vor Kirila Petro⸗ 
witſch und konnte ſich nicht genug an Verbeugungen 
tun, er wartete andächtig darauf, was jener ihm zu 
ſagen hätte. 

„Guten Tag ... wie heißt du doch gleich?“ fragte 
Trojekurow: „Warum biſt du hier?“ 


141 


Dubromsfij 


„Ich fahre gerade zur Stadt, Eure hohe Exzellenz,“ 
entgegnete Schabaſchkin, „und wollte Iwan Dem⸗ 
janow nur fragen, ob nicht irgendetwas erledigt 
werden könnte.“ 

„Du Бай recht getan, hier einzukehren ... wie 
heißt du doch gleich? Ich brauch dich nämlich; da 
haſt du einen Schnaps und jetzt hör mal zu.“ 

Dieſer liebenswürdige Empfang war eine ange— 
nehme Überrafchung für den Beiſitzer; er lehnte den 
Schnaps ab und hörte mit dem allerer denkbarſten Eifer 
Kirila Petrowitſch zu. 

„Ich habe einen Nachbarn,“ ſagte Trojekurow, 
„einen Grobian mit wenig Land; dem will ich ſeine 
Beſitzung nehmen . . . Was hältſt du davon?“ 

„Eure hohe Exzellenz, gibt es vielleicht irgend⸗ 
welche Dokumente? ... 

„Schwatz nicht, Bruder, was da Dokumente? Da⸗ 
für gibt es Geſetze. Das iſt es ja, ich will ihm näm⸗ 
lich ſein Gut ohne jedes Recht nehmen.“ 

„Schwer, Eure hohe Exzellenz ...“ 

„Wart mal! Dieſes Gut hat nämlich vormals uns 
gehört, es wurde von einem gewiſſen Spizyn gekauft 
und ſpäterhin an Dubrowskijs Vater verkauft. Könnte 
man nicht vielleicht dieſen Umſtand verwerten?“ 

„Schwer, Eure hohe Exzellenz; dieſer Verkauf 
wurde doch gewiß mit allen geſetzlichen Formalitäten 
betätigt. 

„Alſo denk mal nach, Bruder, ſtreng dich an.“ 


142 


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Dubrowsk i] 


„Wie wäre es, Eure hohe Exzellenz, wenn Sie, zum 
Beiſpiel, es möglich machen könnten, das Schriftſtück, 
kraft deſſen er ſein Gut beſitzt, von dem Nachbarn 
zu erhalten, denn dann ...“ 

„Verſteh ſchon, aber es hat einen Haken: während 
eines Feuerſchadens ſind alle ſeine Papiere verbrannt.“ 

„Wie, Eure hohe Exzellenz, feine Papiere find ver- 
brannt? Ja, was wollen Sie denn noch mehr? In 
dem Fall können Sie ſogar auf dem Wege des Ge— 
ſetzes gegen ihn vorgehen: Sie werden ohne Zweifel 
volle Genugtuung erhalten.“ 

„Glaubſt du? Alſo, ſchau mal zu, ich verlaſſe mich 
auf deinen Eifer, an meiner Dankbarkeit ſoll es nicht 
fehlen.“ 

Schabaſchkin verbeugte ſich faſt bis zur Erde, 
ging hinaus und begann noch am gleichen Tage, 
ſich um die beſprochene Angelegenheit zu kümmern. 
Dank dem Eifer, mit dem er die Sache betrieb, erhielt 
Dubrowskij ſchon nach zwei Wochen eine Aufforde— 
rung aus der Stadt, unverzüglich die notwendigen 
Papiere einzureichen, da beim Gericht ein Geſuch des 
Generals en chef Trojekurow eingelaufen ſei, des In⸗ 
haltes, daß der Beſitztitel auf das Dörfchen Kiſten— 
jowka ungeſetzmäßig wäre. 

Voller Unwillen über dieſe unerwartete Anfrage 
ſchrieb Andrej Gawrilowitſch noch am gleichen Tage 
eine ziemlich grobe Antwort, in der er auseinander⸗ 
ſetzte, daß das Dorf Kiſtenjowka nach dem Tode ſeines 


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DubromsPij 


verſtorbenen Erzeugers ihm zugefallen fei und daß ег 
es nach dem Rechte der Erbſchaft beſitze, er ſchrieb 
ferner, daß die ganze Angelegenheit Trojekurow ganz 
und gar nichts anginge, und daß jeder Anſpruch 
auf dieſe ſeine Beſitzung nichts als Verleumdung und 
Betrug ſei. Dubrowskij hatte nicht die geringſte Er⸗ 
fahrung in Gerichtsſachen. Er ließ ſich in den meiſten 
Fällen von ſeinem geſunden Verſtande leiten, aber 
es muß geſagt werden, daß dieſe Leitung nur ſelten 
die rechte und faſt immer ungenügend iſt. 

Dies Schreiben machte auf den Beiſitzer Schabaſch⸗ 
kin den allerangenehmſten Eindruck; denn erſtens erſah 
er daraus, daß Dubrowskij nur wenig von ſolchen 
Geſchäften verſtünde; zweitens aber machte er die Be⸗ 
merkung, daß es ein leichtes ſein müßte, einen ſo heiß⸗ 
blütigen und unvorſichtigen Menſchen bald in die 
allerungünſtigſte Lage zu bringen. 

Als Andrej Gawrilowitſch einige Zeit darauf die an 
ihn gerichtete Anfrage mit größerer Kaltblütigkeit 
überdachte, erkannte er, daß es unumgänglich not⸗ 
wendig war, eingehender zu antworten; er ſetzte daher 
ein neues und ziemlich ſachliches Schreiben auf, aber 
auch dieſes wurde in der Folge als ungenügend an⸗ 
geſehen. 

Die Sache zog ſich hin. Andrej Gawrilowiſch war 
von ſeinem Recht ſo ſehr überzeugt, daß er ſich ihrer 
wenig annahm, außerdem hatte er weder Luſt noch 
Möglichkeit, mit Geldern um ſich zu ſtreuen, er ſpottete 


144 


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Dubromwsfij 


über die Verkäuflichkeit der Gewiſſen des Tinten: 
geſchlechtes und es kam ihm überhaupt nicht einmal 
der Gedanke, daß er möglicherweiſe ein Opfer dieſer 
Hinterliſt werden könnte. Seinerſeits dachte Troje- 
kurow ebenſowenig daran, ob er als Sieger aus der 
begonnenen Sache hervorgehen würde: für ihn arbeitete 
ja Schabaſchkin, der in ſeinem Namen wirkte, die 
Richter kaufte und einſchüchterte und alle möglichen 
Geſetze und Verfügungen auf jede erdenkbare Art 
auszulegen beſtrebt war. Wie dem aber auch ſei, am 
9. Februar des Jahres 18.. erhielt Dubrowskij 
durch die Stadtpolizei die Aufforderung, vor dem 
Landgericht зи ®® zu erſcheinen, um den Entſcheid in 
der Streitſache zu hören, die zwiſchen ihm, dem Leut⸗ 
nant Dubrowskij, und dem General en chef Зто]е: 
kurow hinſichtlich der fraglichen Beſitzung entſtanden 
ſei, und um mit ſeiner Unterſchrift zu bekunden, daß 
er den Entſcheid annehme, oder dagegen Berufung 
einlege. Noch am gleichen Tage begab ſich Dubrowskij 
zur Stadt; Trojekurow überholte ihn unterwegs; hoch⸗ 
mütig blickten die beiden einander an und Dubrowskij 
bemerkte ein boshaftes Lächeln auf dem Antlitz ſeines 
Gegners. 

Andrej Gawrilowitſch wohnte in der Stadt ſtets 
bei einem Kaufmann, mit dem er bekannt war, er 
übernachtete auch diesmal bei ihm und begab ſich in 
der Frühe des nächſten Tages zum Gerichtshof. Nie⸗ 
mand ſchenkte ihm Beachtung. Bald nach ihm kam 


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145 


Dubromsfij 


Kirila Petrowitſch. Die Schreiber ſprangen auf und 
ſteckten ihre Federn hinters Ohr; die Richter empfingen 
ihn mit Ausdrücken der tiefſten Ergebenheit und rückten 
ihm aus Reſpekt vor ſeinem Rang, ſeinen Jahren und 
ſeiner Abſtammung ſogar einen Seſſel herbei; er ſetzte 
ſich; Andrej Gawrilowitſch dagegen ſtand, wobei er 
ſich an die Wand lehnte. Eine tiefe Stille brach an 
und alsbald begann der Sekretär mit ſchallender 
Stimme den Entſcheid des Gerichtes vorzuleſen. Wir 
rücken ihn hier in vollem Umfange ein, da wir ап: 
nehmen, daß es einen jeden intereſſieren dürfte, eine 
der Methoden kennen zu lernen, dank welcher wir in 
Rußland ein Beſitztum verlieren können, auf deſſen 
Beſitz wir unbeſtreitbare Rechte haben. .. 1 

Der Sekretär verſtummte: der Beiſitzer erhob ſich 
und forderte Trojekurow mit einer tiefen Verbeugung 
auf, das vorliegende Papier zu unterſchreiben. Tri⸗ 
umphierend nahm Trojekurow die Feder aus ſeiner 
Hand und ſchrieb unter die Gerichtsentſcheidung ſein 
völliges Einverſtändnis. 

Nun war die Reihe an Dubrowskij. Der Sekretär 
trat auch an ihn mit dem Papier heran, aber Зи: 
browskij verharrte regungslos und mit geſenktem 
Kopf in der gleichen Stellung. Der Sekretär wieder— 


holte die Aufforderung: „Entweder voll und ganz 
1 Puſchkin hatte eigentlich die Abficht, hier die authentiſche Ent⸗ 
ſcheidung des Koslowſchen Landgerichts in Sachen Krjukow gegen 


Muratow beizulegen, indem er nur die Namen zu verändern ge- 
dachte. 


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Dubrowsk 1 


zuzuſtimmen, oder aber ſeinem Nichteinverſtändnis, 
ſollte ſein Gewiſſen ihm wider Erwarten ſagen, daß 
ſeine Sache gerecht ſei, aufs deutlichſte Ausdruck zu 
geben, wenn er nämlich die Abſicht hätte, während 
der vom Geſetz vorgeſchriebenen Friſt gehörigen Ortes 
Berufung einzulegen.“ 

Dubrowskij ſchwieg noch immer ... Aber plötzlich 
fuhr ſein Kopf in die Höhe, ſeine Augen funkelten, 
er ſtampfte mit dem Fuß auf und ſtieß den Sekretär 
mit ſolcher Kraft von ſich, daß dieſer zu Boden ſtürzte, 
darauf packte Dubrowskij das Tintenfaß, ſchleuderte 
es auf den Beiſitzer und ſchrie mit der wildeſten Stimme: 
„Wie, ihr achtet Gottes Gebote nicht! Packt euch hin⸗ 
aus, ihr Geſchlecht von Lakaien!“ Er wandte ſich Мег: 
auf zu Kirila Petrowitſch: „ЭЙ es nicht unerhört, 
Exzellenz, daß die Hundeknechte ihre Windhunde in die 
Kirche Gottes bringen!“ und fuhr fort: „Jetzt laufen 
die Hunde bereits in der Kirche herum! Ich wills ihnen 
ſchon zeigen!“ Alles geriet in Entſetzen. Die Gerichts: 
diener hörten den Lärm, liefen herbei und konnten den 
Raſenden nur mit großer Mühe überwältigen. Man 
führte ihn hinaus und brachte ihn in ſeinem Schlitten 
unter. Trojekurow folgte, vom ganzen Gerichtshof 
geleitet; Dubrowskijs plötzlich ausgebrochener Wahn⸗ 
ſinn hatte einen heftigen Eindruck auf ihn gemacht; 
er würdigte die Richter, die ſich große Hoffnungen auf 
ſeine Dankbarkeit gemacht hatten, keines einzigen 
freundlichen Wortes; insgeheim von ſeinem Gewiſſen 


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Dubromsfij 


gequält, begab er fich ſchleunigſt nach Pokrowskoje 
und man kann nicht ſagen, daß der Triumph, den fein 
Haß erzielt hatte, ihn ſehr befriedigte. Dubrowskij aber 
mußte derweilen das Bett hüten; ein Kreisarzt (der 
übrigens kein völliger Dummkopf war) ließ ihn zur 
Ader und ſetzte ihm Blutegel an und ſpaniſche Fliegen; 
abends fühlte er ſich ein wenig beſſer und konnte be⸗ 
reits am nächſten Tage nach Kiſtenjowka gebracht 
werden, das ihm eigentlich ſchon faſt nicht mehr gehörte. 


Drittes Kapitel 


Einige Zeit verging, doch ſtand es mit der Gefund- 
heit des kranken Dubrowskij immer noch ſchlimm. Die 
Wahnſinnsanfälle wiederholten ſich freilich nicht mehr, 
doch nahmen ſeine Kräfte merklich ab. Seine vor— 
maligen Beſchäftigungen hatte er vergeſſen, ſein 
Zimmer verließ er nur noch ſelten, aber tagelang 
konnte er daſitzen und grübeln. Jegorowna, eine gute 
Alte, die vormals ſeinen Sohn betreut hatte, war jetzt 
ſeine Wärterin geworden. Sie pflegte ihn, wie man 
ein Kind pflegt, ſie erinnerte ihn, wenn es Zeit war 
zu eſſen oder zu trinken, ja, ſie fütterte ihn ſogar und 
brachte ihn zu Bett. Andrej Gawrilowitſch folgte ihr 
in allem, denn ſie war überhaupt der einzige Menſch, 
den er in dieſer Zeit ſah. Er war nicht mehr fähig, 
an feine Geſchäfte zu denken oder wirtſchaftliche An— 
ordnungen zu treffen, und darum hielt es die Jegorowna 
für unumgänglich notwendig, den jungen Dubrowskij, 


148 


Dubromsfij 


der in einem Gardeinfanterieregiment diente, das zu 
jener Zeit in Petersburg ftand, von allem zu Бепаф: 
richtigen. Zu dieſem Zweck riß ſie ein Blatt aus dem 
Wirtſchaftsbuch und diktierte dem Koch Chariton, dem 
einzigen Schriftkundigen in Kiſtenjowka, einen Brief, 
der noch am gleichen Tage auf der Poſt in der Stadt 
aufgegeben wurde. 

Allein es wird allmählich Zeit, den Leſer mit 
dem eigentlichen Helden unſerer Erzählung bekannt 
zu machen. 

Wladimir Dubrowskij hatte feine Erziehung im 
Kadettenkorps genoſſen, von wo er als Kornett zur 
Garde kam. Sein Vater gab alles her, damit er dort 
anſtändig leben konnte, und darum erhielt der junge 
Mann von zu Hauſe weit mehr, als er eigentlich hätte 
erwarten dürfen. Da er ehrgeizig und von feuriger 
Gemütsart war, gewöhnte er ſich bald an allerhand 
koſtſpielige Neigungen; er ſpielte gern Karten und 
machte Schulden, kurz, er kümmerte ſich wenig um die 
Zukunft, und wenn er gelegentlich an ſie dachte, ſo fiel 
ihm nichts weiter ein, als daß er früher oder ſpäter 
ein reiches Bräutchen ſuchen müßte. 

Eines Abends ſaßen einige Offiziere bequem aus: 
geſtreckt in ſeiner Wohnung und rauchten aus ſeinen 
Bernſteinpfeifen, da trat Griſcha, ſein Kammerdiener, 
ein und überreichte ihm einen Brief, deſſen Aufſchrift und 
Siegel den jungen Mann aufs äußerſte überraſchen 
mußten. Haſtig erbrach er den Brief und las folgendes: 


149 


Dubromsfij 


„Wladimir Andrejewitſch, gnädiger Herr, ich, 
deine alte Amme, erdreiſte mich, dir eine Nachricht 
über das Befinden deines Papachens zukommen zu 
laſſen. Es ſteht ſehr ſchlecht mit ihm, er weiß oft 
gar nicht mehr, was er ſpricht, und ſitzt den ganzen 
Tag über wie ein töricht Kind da — Leben und 
Tod ſtehen zwar in Gottes Hand, aber dennoch 
ſollteſt du, unſer hübſcher Falke, kommen und wir 
wollen dir auch Pferde nach Peſſotſchnoje entgegen⸗ 
ſchicken. Man ſpricht hier davon, das Landgericht 
würde demnächſt zu uns kommen, um uns an Kirila 
Petrowitſch Trojekurow abzutreten, weil wir dem 
gehören ſollen, aber wir gehören doch euch und 
haben nie etwas anderes gehört. Könnteſt du nicht, 
da du doch in Petersburg lebſt, dem Väterchen 
Zaren hierüber berichten, damit er nicht zuläßt, daß 
wir gekränkt würden. Und bei uns regnet es jetzt 
ſchon die zweite Woche und der Hirt Rodja iſt vor 
kurzem geftorben. Griſcha fende ich meinen müffer: 
lichen Segen. Biſt du mit ihm zufrieden? Ich ver— 
bleibe als deine treue Dienerin und Amme 

Arina Jegorowna Buſyrjowa.“ 
Erregt las Wladimir Dubrowskij dieſe ziemlich kon⸗ 


fuſen Zeilen einige Male durch. Er hatte ſchon in 
früheſter Kindheit ſeine Mutter verloren und war, ehe 
er noch ſeinen Vater recht kennen gelernt hatte, mit 
acht Jahren nach Petersburg gebracht worden. Schon 
aus dieſem Grunde hatte er eine romantiſche Neigung 


130 


Dubromsfij 


für feinen Vater und war um fo mehr für das Samilien: 
leben eingenommen, als er ja noch Гай nie die Mög: 
lichkeit gehabt hatte, ſich an deſſen ftillen Freuden zu 
ergößen. | 

Qual voll drang ihm der Gedanke, daß er vielleicht den 
Vater verlieren könnte, ins Herz, und ſchaudern machte 
ihn die Lage des armen Kranken, die er aus dem Brief der 
Amme eerriet. Lebhaft malte er ſich das Bild des Vaters 
im einſamen Dorf aus, umgeben von einer törichten 
Greiſin und dem übrigen Hofgeſinde ... und zu alle: 
dem bedroht von irgendeinem Ungemach, und in Эна: 
len des Leibes und der Seele ohne jedwede Hilfe hin— 
welkend ... Wladimir Andrejewitſch machte ſich jetzt 
bittere Vorwürfe über ſeine ſträfliche Nachläſſigkeit. 
Er hatte ſchon geraume Zeit über keine Nachricht von 
ſeinem Vater erhalten, aber dennoch hatte ihn dieſer 
Umſtand nicht bewogen, ſich nach ihm zu erkundigen, 
denn er war der Anſicht, daß der Vater auf Reiſen 
ſei oder von wirtſchaftlichen Fragen völlig in Anſpruch 
genommen. 

Darum faßte er jetzt ſogleich den Entſchluß, hin— 
zufahren und ſogar, falls der kränkliche Zuſtand des 
Vaters ſeine immerwährende Anweſenheit erfordere, 
den Abſchied zu nehmen. Die Kameraden bemerkten 
ſeine Unruhe und verließen ihn. Als Wladimir allein 
war, ſchrieb er alsbald das Urlaubsgeſuch, ſteckte ſeine 
Pfeife an und verſank in tiefes Nachdenken. 


— — — — — — — — — — — — 


Dubromsfij 


Wladimir Andrejewitſchs Wagen näherte fich der 
Poſtſtation, von der aus es nach Kiſtenjowka ging. 
Sein Herz war voll trüber Vorahnungen: er fürchtete, 
den Vater nicht mehr am Leben anzutreffen; und nur 
ungern ſtellte er ſich das traurige Leben vor, das ihn 
im Dorf erwartete: Einöde, Menſchenleere, Armut 
und immerwährende Geſchäfte, von denen er auch nicht 
das geringfte verſtand. Als er das Poſtgebäude Бе: 
trat, eilte er ſogleich zum Poſthalter und fragte, ob 
Pferde da wären. Der Poſthalter erkundigte ſich, wo⸗ 
hin er reiſe, und teilte ihm darauf mit, daß die Pferde 
aus Kiſtenjowka ihn bereits ſeit vier Tagen erwarteten. 
Bald darauf erſchien auch der alte Kutſcher Anton, 
der ihn einſt durch die Stallungen geführt und die 
Obhut über ſein kleines Pferdchen gehabt hatte. Als 
Anton ihn erblickte, kamen ihm gleich die Tränen, er 
verneigte ſich vor ihm tief und meldete, daß der alte 
Herr noch am Leben ſei, darauf eilte er, die Pferde 
anzuſpannen. Wladimir Andrejewitſch ſchlug das an⸗ 
gebotene Frühſtück aus, denn es trieb ihn, weiter zu⸗ 
kommen. Während Anton ihn auf Nebenſtraßen nach 
Hauſe fuhr, entſpann ſich zwiſchen den beiden folgen⸗ 
des Geſpräch: 

„Sag mal, Anton, was iſt das für eine Sache, die 
mein Vater mit Trojekurow hat?“ 

„Gott allein weiß es, Väterchen Wladimir Andre⸗ 
jewitſch; der gnädige Herr iſt, wie man ſagt, im Un⸗ 
frieden von Kirila Petrowitſch gegangen und dieſer 


152 


Dubromsfij 


hat ihn verklagt, obwohl es fonft feine Gewohnheit 
iſt, ſtets ſelber den Richter zu ſpielen. Aber es iſt nicht 
an uns, den Bedienten, darüber zu urteilen, was die 
Herrſchaften für richtig halten; trotzdem jedoch iſt es, 
weiß Gott, überflüſſig, daß Ihr Väterchen gegen 
Kirila Petrowitſch zu Felde gezogen iſt: wer kann mit 
einer Peitſche gegen ein Beil aufkommen?“ 

„Mithin macht dieſer Kirila Petrowitſch ſcheinbar 
bei euch alles, was ihm in den Kopf kommt?“ 

„Freilich, Herr: man ſagt, daß der Beiſitzer ihm 
keinen Groſchen wert ſei, den Polizeileutnant aber ge⸗ 
brauche er für Botengänge; und die ganzen Herr— 
ſchaften aus der Umgebung kommen ja zu ihm, um 
ihm ihren Reſpekt zu erweiſen, und überhaupt muß 
man ſagen, wo ein Trog iſt, da finden ſich immer die 
Schweine.“ 

„Und iſt es wahr, daß er uns unſer Gut nehmen 
will?“ 

„Ach, Herr, wir haben auch ſo was gehört. Noch 
vor einigen Tagen ſagte der Küſter von Pokrows⸗ 
koje bei der Kindstaufe zu unſerem Dorfälteſten: ihr 
habt jetzt die längſte Zeit dem Müßiggang gefrönt; 
jetzt werdet ihr in die Hände von Kirila Petrowitſch 
kommen; Mikita, der Schmied, aber entgegnete ihm: 
laß das, Sſaweljitſch, wozu den Gevatter betrüben 
und die Gäſte verwirren. Kirila Petrowitſch iſt eines 
und Andrej Gawrilowitſch iſt ein anderes; und wir 
gehören Gott und dem Zaren; aber trotzdem iſt es 


153 


Du browsk ij 


immer ſchwierig, einen Knopf auf einen fremden Mund 
zu nähen.“ 

„Mit anderen Worten, ihr habt keine große Luſt, 
zu Trojekurow zu kommen?“ 

„Zu Trojekurow zu kommen! Der Herr behüte 
und bewahre uns davor! Seinen eigenen Leuten geht 
es ja ſchlecht genug, wie ſoll es erſt werden, wenn er 
nun noch fremde dazu bekommt? Denen wird er nicht 
nur die Haut, fondern auch gleich das Fleiſch mit ab: 
ſchinden. Nein, пет, ſchenke Gott Andrej Gawrilowitſch 
ein langes Leben; aber ſollte es in Gottes Willen ſtehen, 
ihn fortzunehmen, ſo brauchen wir niemand außer 
dir, unſer Ernährer. Wenn du uns nur nicht preis: 
gibſt, wir werden ſchon zu dir halten.“ 

Anton ſchwang bei dieſen Worten mächtig feine 
еше, zog die Zügel an und brachte die Pferde in 
ſchnellen Trab. 

Gerührt von der Anhänglichkeit des alten Kutſchers, 
verſtummte Dubrowskij und gab fich völlig feinen 
Gedanken hin. So verging mehr als eine Stunde; 
plötzlich weckte ihn Griſcha mit dem Ruf: „Da iſt 
Pokrowskoje!“ Dubrowskij ſchaute auf. Sie fuhren 
am Ufer eines breiten Sees, aus dem ein Flüßchen 
ſtrömte, das ſich weiterhin zwiſchen den Hügeln ver: 
lor. Auf einem von dieſen ragte, vom dichten Grün 
eines Haines faſt verdeckt, das grüne Dach und das 
Belvedere eines rieſigen Steinhauſes, dort befand ſich 
ferner ein Kirchlein mit fünf Kuppeln und ein alter: 


154 


Dubromsfij 


tümlicher Glockenturm; in der Umgebung wurden die 
Dorfhütten mit ihren Gemüſegärten und Ziehbrunnen 
ſichtbar. Dubrowskij erkannte die Gegend ſofort 
wieder; er erinnerte ſich ſogar daran, daß er auf 
dieſem ſelben Hügel mit der kleinen Maſcha Troje— 
kurowa geſpielt hatte, die zwei Jahre jünger war als 
er und ſchon damals eine kleine Schönheit zu werden 
verfprach. Er verſpürte den Wunſch, ſich bei Anton 
nach ihr zu erkundigen, doch hielt ihn irgendeine Scheu 
in ſeinem Innern davon ab. 

Als ſie ſich dem Herrenhauſe näherten, gewahrte 
er zwiſchen den Bäumen des Parks ein weißes Ge⸗ 
wand. Aber gleichzeitig ſchlug Anton heftig auf die 
Pferde ein und fegte, dem allgemeinen Ehrgeiz fol— 
gend, der ſowohl den Dorfkutſchern als auch den 
Stadtkutſchern eigen ift, über die Brücke und am Park 
vorbei. Ihr Weg führte, nachdem ſie das Dorf im 
Rücken gelaſſen hatten, bergauf, kurze Zeit darauf 
ſah Wladimir bereits das Birkenwäldchen und links 
davon auf einem freien Platz das graue Häuschen mit 
dem roten Dach; ſein Herz pochte: Kiſtenjowka lag 
vor ihm und das arme Haus ſeines Vaters. 

Zehn Minuten danach fuhr er bereits auf den 
Gutshof. Mit unbeſchreiblicher Erregung blickte er 
ſich um: es war mehr als zwölf Jahre her, daß er die 
Heimat nicht mehr geſehen. Die kleinen Birken, die 
man noch zu ſeiner Zeit längs des Zaunes gepflanzt 
hatte, waren jetzt emporgeſchoſſen und hohe dicht— 


155 


Dubromsfij 


belaubte Bäume geworden. Der Gutshof, deſſen 
Zierde vormals drei regelmäßige Blumenbeete ge: 
weſen waren, zwiſchen denen ein breiter, ſauber де: 
haltener Weg führte, hatte ſich jetzt in eine ungemähte 
Wieſe verwandelt, auf der ein gekoppeltes Pferd wei⸗ 
dete. Die Hunde bellten, aber ſie verſtummten ſogleich, 
als ſie Anton erkannten, und wedelten mit ihren 
buſchigen Ruten. Das Hofgeſinde ſtrömte aus den 
Geſindehäuſern hervor und umringte den jungen 
Herrn mit lärmenden Freudenkundgebungen. Nur 
mit Mühe konnte er ſich durch die eifrige Schar zwängen 
und flog die morſche Freitreppe hinauf; die Jego— 


rowna empfing ihn im Hausflur und umarmte ihren 
einſtmaligen Zögling weinend. — „Guten Tag, 


Kinderfrau, guten Tag,“ ſagte er und drückte die 
wackere Alte ans Herz: „Was macht der Vater, wo 
iſt er? Wie geht es ihm?“ In dieſem Augenblick 
trat, mühſam die Beine ſchleppend, ein hochgewach⸗ 
ſener, blaſſer und magerer Greis im Schlafrock, die 
Nachtmütze auf dem Kopf, in den Saal. „Wo iſt Wla⸗ 
dimir?“ fragte er mit ſchwacher Stimme und feurig 
umarmte Wladimir ſeinen Vater. Allein dieſe Freude 
war eine zu heftige Erregung für den Kranken, mit 
einem Male wurde er ganz ſchwach, die Beine ver⸗ 
ſagten ihm den Dienſt, und er wäre gewiß hingeſtürzt, 
wenn der Sohn ihn nicht gehalten hätte. „Warum 
biſt du nur aufgeſtanden?“ meinte die Jegorowna, 
„er hält ſich nur mit Mühe auf den Beinen und will 


156 


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Dubromstfij 


doch immer dorthin, wo die andern Menſchen find.“ 
Man trug den Alten in ſein Schlafzimmer. Er gab 
ſich die größte Mühe, mit Wladimir zu ſprechen, aber 
ſeine Gedanken waren zu wirr und ſeine Worte ganz 
ohne Zuſammenhang. Nach und nach verſtummte er 
und nickte ſchließlich ein. Sein Zuſtand verſetzte Wla- 
dimir in Schrecken. Er ließ ſein Bett im Schlafzimmer 
aufſchlagen und bat, daß man ihn mit dem Vater 
allein laſſe. Das Hausgeſinde gehorchte und wandte 
ſich nunmehr Griſcha zu, der alsbald ins Leutezimmer 
geführt wurde, wo man ihn nach Dorfſitte mit aller nur 
erdenklichen Gaſtfreundſchaft bewirtete und ihn gleich- 
zeitig mit Fragen und Begrüßungen faſt zu Tode quälte. 


Viertes Kapitel 


Wo Prunk einſt war, ſteht jetzt ein Sarg. 

Nachdem einige Tage verſtrichen waren, beabſich— 
tigte der junge Dubrowskij eigentlich, ſich mit den 
laufenden Geſchäften zu befaſſen, aber ſein Vater war 
nicht in der Lage, ihm die nötigen Aufklärungen zu 
geben, zudem hatte Andrej Gawrilowitſch keinen Be: 
vollmächtigten. Wladimir verſuchte die Papiere durch- 
zuſehen, fand jedoch nur den erſten Brief des Beiſitzers 
und den erſten Entwurf einer Antwort auf dieſes 
Schreiben. Er vermochte nicht, ſich hieraus ein klares 
Bild über den Gang des Prozeſſes zu machen, und 
entſchloß ſich daher, im Vertrauen auf die gerechte 
Sache, alles Weitere abzuwarten. 


157 


Dubromwesfij 


Andrej Gawrilowitſchs Befinden verſchlimmerte ſich 
derweilen von Stunde zu Stunde. Wladimir ſah den 
baldigen Tod voraus und wich nicht vom Lager des 
Alten, der ſchon völlig kindiſch geworden war. 

Inzwiſchen war aber die geſetzliche Friſt verſtrichen 
und keine Berufung war eingelegt worden. Kiften: 
jowka gehörte mithin Trojekurow. Schabaſchkin eilte 
zu ihm mit Glückwünſchen und Ergebenheitsbeweiſen 
und bat um Anordnungen: „Wann es wohl Troje— 
kurow belieben würde, den Beſitz des neu erworbenen 
Gutes anzutreten, und ob er das ſelber zu tun wünſche, 
oder ob er irgendjemand hierzu bevollmächtigen wolle?“ 
Kirila Petrowitſch geriet in eine gewiſſe Verlegenheit. 
Er war durchaus nicht habgierig; ſein Verlangen nach 
Rache hatte ihn ſichtlich zu weit geführt; ſein Gewiſſen 
murrte. Zudem war ihm ja bekannt, in welcher Ber: 
faſſung ſich ſein Gegner, ſein alter Jugendfreund be— 
fand, und ſo war ihm der Sieg, den er errungen, 
keineswegs nach dem Herzen. Drohend blickte er 
Schabaſchkin an und ſuchte nach einem Grund, um 
ihn beſchimpfen zu können, beſchränkte ſich jedoch, da 
er keinen genügenden Vorwand fand, darauf, ihm 
wütend zuzurufen: „Pack dich; ich will dich nicht länger 
ſehen!““ Da Schabaſchkin ſah, daß jener keineswegs 
guter Laune war, verbeugte er ſich und machte ſich 
ſchleunigſt davon, Kirila Petrowitſch dagegen begann, 
als er allein war, heftig im Zimmer auf und ab zu 
marſchieren, wobei er „Siegesdonner ſoll erſchallen“ 


138 


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Dubrowskij 


laut vor ſich hinpfiff, was ein Beweis dafür war, daß 
in ſeinem Innern eine ungewöhnliche Bewegung vor 
ſich ging. 

Es endete ſchließlich damit, daß er den Befehl 
gab, den leichten Wagen anzuſpannen, er kleidete ſich 
warm an (es war bereits Ende September) und fuhr 
vom Hof, wobei er ſelber kutſchierte. 

Bald darauf lag Andrej Gawrilowitſchs Häuschen 
vor ihm. Widerſtrebende Gefühle erfüllten ſeine Bruſt. 
Befriedigte Rache und Herrſchſucht hatten bisher bis 
zu einem gewiſſen Grade die edleren Gefühle in ihm 
erſtickt, endlich aber triumphierten die letzteren dennoch. 
Er war jetzt feſt entſchloſſen, ſich mit ſeinem alten 
Nachbarn auszuſöhnen, und indem er ihm ſeine Be— 
ſitzung zurückgab, die letzten Spuren jeden Zwiſtes 
auszurotten. Dieſe gute Abſicht machte ihm die Bruſt 
wieder frei, und nun fuhr Kirila Petrowitſch im Trab 
dem Gute ſeines Nachbarn zu und fuhr ſchnurſtracks 
auf den Gutshof. 

Um die gleiche Zeit Гав der Kranke in feinem Schlaf— 
gemach am Fenſter. Eine furchtbare Verwirrung ver— 
ſtörte ſein Geſicht, als er Kirila Petrowitſch erkannte: 
die gewöhnliche Bläſſe wich einer tiefen Röte, die 
Augen funkelten und unverſtändliche Laute drangen 
aus ſeinem Munde. Sein Sohn, der neben ihm ſaß 
und ſich gerade mit den Wirtſchaftsbüchern befaßte, 
blickte auf und war von ſeinem Anblick überraſcht. 
Mit der Miene des tiefſten Entſetzens und des Zornes 


159 


DubromsfPij 


wies der Kranke mit dem Finger auf den Hof. Im 
ſelben Augenblick ertönten die Stimme und die ſchweren 
Schritte der Jegorowna: „Herr, gnädiger Herr! 
Kirila Petrowitſch iſt da, Kirila Petrowitſch ſteht vor 
der Tür!“ Die Jegorowna ſtöhnte: „Herr mein Gott! 
was ſoll das nur? Was geſchieht mit ihm?“ Der 
Alte verſuchte, ſich aus ſeinem Schlafrock zu wickeln 
und vom Seſſel aufzuſtehen. Er erhob ſich ſogar, doch 
ſchlug er gleich darauf hin. Der Sohn eilte auf ihn 
zu; aber ſchon lag der Vater beſinnungslos auf dem 
Fußboden und atmete nicht mehr: ein Schlaganfall 
hatte ihn getroffen. „Schnell, ſchnell zur Stadt, einen 
Arzt!“ ſchrie Wladimir. — „Kirila Petrowitſch läßt 
fragen, ob Sie ihn empfangen wollen,“ meldete gleich⸗ 
zeitig ein Diener. Wladimir warf ihm einen furcht⸗ 
baren Blick zu. „Sage Kirila Petrowitſch, daß er ſich 
ſo ſchnell als möglich zum Teufel ſcheren ſoll, bevor 
ich den Befehl gebe, ihn vom Hofe zu jagen .. marſch!“ 
Freudig eilte der Diener, die Anordnung ſeines Herrn 
auszuführen. Die Jegorowna ſchlug die Hände зи: 
ſammen. „Lieber gnädiger Herr,“ ſagte ſie mit weiner⸗ 
licher Stimme: „Du ſtürzſt dich in dein Verderben! 
Kirila Petrowitſch wird uns jetzt auffreſſen.“ — 
„Schweig, Kinderfrau,“ ſagte Wladimir zornig: „An⸗ 
ton ſoll gleich in die Stadt, um einen Arzt zu holen.“ 
Die Jegorowna verließ das Zimmer. Im Vorzimmer 
war kein Menſch: alles war auf den Hof geeilt, um 
Kirila Petrowitſch anzuſchauen. Sie ging auf die Frei⸗ 


160 


Dubrowskij 


treppe hinaus und hörte den Diener die Antwort des 
jungen Herrn überbringen. Kirila Petrowitſch hörte 
ihn im Wagen ſitzend ſtumm ап; fein Geſicht wurde 
finſterer als die Nacht; er lächelte verächtlich, ſtreifte 
das Gutsgeſinde mit einem drohenden Blick und fuhr 
im Schritt vom Hof. Er ſchaute auch ins Fenſter hin— 
ein, in dem er noch vor einem Augenblick Andrej 
Gawrilowitſchs Geſicht geſehen hatte, aber er konnte 
ihn nicht mehr erblicken. Die Amme ſtand noch immer 
auf der Freitreppe, ſie hatte den Befehl ihres jungen 
Herrn ganz und gar vergeſſen. Lärmend unterhielt 
ſich das Geſinde über den unerhörten Vorfall. Тов: 
lich trat Wladimir unter ſeine Leute und ſagte mit 
unſicherer Stimme: „Wir brauchen keinen Arzt mehr 
— mein Vater iſt geſtorben.“ 

Ungeheure Verwirrung entſtand. Hals über Kopf 
ſtürzten die Leute ins Gemach des alten Herrn. Er ruhte 
im Seſſel, Wladimir ſelber hatte ihn dorthin getragen; 
die rechte Hand hing auf den Fußboden hinab, das 
Haupt war auf die Bruſt geſunken — kein Lebenszeichen 
war mehr in dieſem Körper, der noch nicht erkaltet, 
aber ſchon durch den Tod entſtellt war. Die Jego— 
romna ſchluchzte laut auf, die Diener aber machten ſich 
eilfertig am Leichnam, der jetzt ihrer Obhut anvertraut 
war, zu ſchaffen — fie wuſchen ihn, fie zogen ihm jene 
Uniform an, die noch im Jahre 1797 genäht worden 
war, und betteten ihn dann auf den gleichen Tiſch, an dem 
ſie ſo lange Jahre hindurch ihren Herrn bedient hatten. 


P. I 11 
161 


Dubromsfij 


Sünftes Kapitel 


Drei Tage danach fand die Beerdigung ſtatt. Der 
Körper des armen Greiſes lag von vielen Kerzen um: 
geben im Sarge, über ihm ein Bahrtuch. Im Speiſe⸗ 
zimmer drängte ſich das Geſinde, bereit, der Leiche das 
Geleit zu geben. Wladimir und die Bedienten hoben 
den Sarg auf. An der Spitze des Zuges ſchritt der 
Prieſter und hinter ihm ein Meßner, der Begräbnis⸗ 
geſänge fang. Der Hausherr von Kiſtenjowka verließ 
zum letzten Male die Schwelle ſeines Hauſes. Der 
Sarg wurde durch das kleine Wäldchen getragen, 
hinter dem ſich die Kirche befand. Der Tag war klar 
und kalt; von den Bäumen hatte der Herbſt ſchon 
viele Blätter geweht. Als ſie das Wäldchen verließen, 
wurde die Holzkirche von Kiſtenjowka ſichtbar und der 
von alten Linden beſchattete Friedhof. Dort ruhte be⸗ 
reits Wladimirs Mutter; neben ihrem Grabe war am 
Tage vorher ein friſches Grab gegraben worden. Die 
Kirche war ganz angefüllt von Bauern aus Kiſten⸗ 
jowka, die hierher gekommen waren, ihrem verſtorbenen 
Herrn die letzte Ehre zu erweiſen. Der junge Dubrowskij 
ſtand neben dem Chor; weder weinte er, noch betete 
er; der Ausdruck ſeines Geſichtes war furchtbar. Die 
Trauerzeremonie war zu Ende. Wladimir ſchritt als 
erſter vom Leichnam Abſchied nehmen, hinter ihm 
drängte ſich das ganze Hofgeſinde; gleich darauf 
wurde der Sargdeckel her beigetragen und aufgenagelt. 


162 


1 — ac 83 u 


Dubromsfij 


Die Weiber heulten laut, doch auch die Bauern wiſchten 


ſich mit den Заийеп nicht ſelten Tränen aus den Augen. 
Geleitet vom ganzen Dorf trugen Wladimir und die 
gleichen drei Bedienten den Sarg auf den Friedhof. Der 
Sarg wurde ins Grab geſenkt, jeder der Anweſenden 
warf ihm eine Handvoll Erde nach, die Grube wurde 
zugeſchaufelt, eine letzte Verbeugung und gleich darauf 


verteilte ſich die Menge. Wladimir entfernte ſich eilig, er 


überholte die andern und verſchwand im Wäldchen. 
Die Jegorowna lud den Prieſter und alle zu ihm 
Gehörigen in Wladimirs Namen zum Begräbnismahl 
ein, wobei ſie die Mitteilung machte, daß der junge 
gnädige Herr nicht beabſichtige, dem Eſſen beizu⸗ 
wohnen. Und ſomit begaben ſich Hochwürden 
Aniſſim, ſeine Frau Fedotowna und der Meßner zu 
Fuß zum Herrenhauſe, unterwegs plauderten ſie mit 
der Jegorowna über die Tugenden des Verſtorbenen, 
aber auch darüber, was wohl ſeinem Nachfolger in 


allernächſter Zeit augenſcheinlich bevorſtehen mochte. 


(Trojekurows Ankunft und der Empfang, der ihm 
zuteil geworden, waren bereits dem ganzen Kreiſe be⸗ 
kannt und die dortigen Politiker prophezeiten, daß es 


zu ernſthaften Folgen kommen würde.) 


„Was geſchehen ſoll, wird geſchehen,“ meinte die 
Frau des Prieſters: „Trotzdem wäre es bedauerlich, 
wenn ein anderer als Wladimir Andrejewitſch unſer 
Herr würde. Man kann nicht anders urteilen, als daß 
er ein vortrefflicher junger Herr iſt.“ 


163 


Dubromsfij 


„Wer außer ihm hätte das Recht, unfer Herr zu 
ſein?“ fiel die Jegorowna ein: „Kirila Petrowitſch 
gibt ſich vergebens die viele Mühe — er hat es mit 
keinem Zaghaften zu tun; mein Falke wird ſchon ſeinen 
Mann ſtellen, und wenn Gott will, werden ihn auch 
feine Wohltäter nicht im Stiche laſſen. Wie Боф: 
mütig Kirila Petrowitſch auch ſei, er hat dennoch den 
Schwanz eingezogen, als mein Griſcha ihm zurief: 
Hinaus, alter Hund! fort vom Hof!“ 


„Ach ja, Jegorowna,“ ſagte der Meßner: „Trotzdem = 


jedoch würde ich es ſicherlich lieber mit dem Satan zu 


tun haben, als mich gefrauen, Kirila Petrowiſch ſcheel 


anzuſehen. Wenn man ihn nur anſchaut — Schau⸗ 


dern und Entſetzen befällt einen augenblicks! Und der 1 


Rücken krümmt ſich ganz von ſelber, wahrhaftig ganz 
von ſelber ...“ 


„Es iſt alles eitel!“ ſagte der Prieſter: „Auch Kirila 1 
Petrowitſch wird man einſt zur ewigen Ruhe tragen, 


wie wir es heute mit Andrej Gawrilowitſch getan 
haben; zwar wird ſeine Beerdigung möglicherweiſe 
prunkvoller ſein und es werden mehr Gäſte zugegen 
ſein, aber iſt das nicht vor Gott alles gleich?“ 


„Ach, Väterchen! auch wir beabſichtigten freilich den 


ganzen Kreis einzuladen, aber Wladimir Andrejewitſch 


hat es nicht zugelaſſen. Wir hätten ja genug dagehabt, 


um alle zu bewirten ... aber da war nichts zu wollen. 
Zum mindeſten kann ich jetzt, da keine andern Gäſte da 
ſind, euch prächtig bewirten, meine teuern Gäſte.“ 


164 


Dubrowsk 1 


Dieſes liebenswürdige Verſprechen und die Hoff: 
nung, eine ſchmackhafte Paſtete vorzufinden, beflügel: 
ten die Schritte der Plaudernden und wohlbehalten 
langten ſie bald darauf vor dem herrſchaftlichen Hauſe 
an, in dem der Tiſch ſchon gedeckt und der Schnaps 
ſchon bereit ſtand. 

Derweilen drang Wladimir immer tiefer ins Ge: 
hölz ein, denn es war ſeine Abſicht, den Kummer 
ſeiner Seele durch die Bewegung und die hierdurch 
hervorgerufene Müdigkeit zu erſticken. Er ging, ohne 
auf den Weg zu achten; unabläſſig ſtellten ſich ihm 
Zweige in den Weg und zerkratzten ihn, unabläſſig 
gerieten feine Füße in Sumpfboden — er beachtete es 
nicht. Endlich gelangte er an eine freiliegende Senkung, 
die rings von dichtem Walde umgeben war; durch die 
Bäume, die der Herbſt ſchon halb entblättert hatte, 
rieſelte ſtill ein kleines Bächlein. Wladimir blieb ſtehen, 
ſetzte ſich auf den kalten Raſen und verfiel in Nach⸗ 
ſinnen, dunkle Gedanken drängten ſich in ſeiner Seele 
... Wie ſehr fühlte er hier feine Einſamkeit, wie dro⸗ 
hend ſchien ihm ſeine Zukunft von finſteren Wolken 
verhängt. Die Feindſchaft mit Trojekurow war ein 
Anzeichen neuen Kummers. Sein ſowieſo ſchon ge— 
ringes Vermögen konnte am Ende in andere Hände 
geraten: und war es nicht in dieſem Falle Armut, 
was ihm bevorſtand? Lange ſaß er regungslos auf 
dem gleichen Fleck und beobachtete den ſtillen Lauf des 
Baches, der die welken Blätter davontrug, und leb: 


165 


Dubromsfij 


haft erinnerte ihn dies an das Leben —, ja es ſchien 
ihm ein getreues und allgemein gültiges Abbild des 
Lebens zu ſein. Aber ſchließlich bemerkte er, daß die 
Dämmerung angebrochen warz er erhob ſich und ſuchte 
den Weg nach Hauſe, doch mußte er noch lange durch 
den unbekannten Wald irren, ehe er einen kleinen Fuß⸗ 
pfad fand, der ihn geradewegs zu ſeinem eigenen 
Haustor führte. 

Als er heimkehrte, traten ſoeben der Prieſter und 
ſeine Angehörigen aus dem Hauſe. Bei ihrem Anblick 
ſchoß ihm der Gedanke an ſchlimme Vorbedeutung 
durch den Kopf. Unwillkürlich hielt er ſich abſeits und 
verbarg ſich hinter den Bäumen. Sie bemerkten ihn 
nicht und unterhielten ſich mit großem Eifer: „Meide 
das Böſe und tue Gutes,“ ſagte der Prieſter zu ſeiner 
Frau: „Wir wollen nicht länger hierbleiben, es geht 
uns nichts an, wie die Sache auch zu Ende ginge.“ 
Die Frau entgegnete etwas, aber Wladimir konnte 
ihre Worte nicht mehr verſtehen. 


Als er ſich dem Hauſe näherte, gewahrte er dort 


viel Volk: auf dem Gutshof drängten ſich Bauern ſo⸗ 
wohl als auch das Hofgeſinde. Schon in der Ferne 
hatte Wladimir ungewöhnlichen Lärm und lautes 
Sprechen gehört. Vor dem Speicher hielten zwei Drei⸗ 
geſpanne. Einige fremde Männer in Uniform unter⸗ 
hielten ſich auf der Freitreppe. „Was ſoll das be- 
deuten?“ fragte er zornig Anton, der ihm entgegen— 
gelaufen kam: „wer find dieſe und was wollen пе?“ — 


166 


Dubromstij 


„Ach, Väterchen, Wladimir Andrejewitſch,“ entgeg⸗ 
nete Anton atemlos: „Es iſt das Gericht, das ge— 
kommen iſt. Man will uns Trojekurow übereignen, 
man will uns dir fortnehmen! ...“ 

Wladimir ſenkte den Kopf; die Diener umringten 
ihren unglücklichen Herrn. „Väterchen, unſer Väter⸗ 
chen,“ ſchrieen ſie und küßten ihm die Hände: „Wir 
wollen keinen andern Herrn als dich. Lieber ſterben, 
als dich verlaſſen. Befiehls nur, Herr, mit dem Ge⸗ 
richt werden wir ſchon fertig werden.“ — Wladimir 
blickte ſie an, bewegt von finſteren Gefühlen. „Haltet 
ftill,“ ſprach er zu ihnen: „ich will ſelber mit den Зе: 
amten ſprechen.“ — „Ja, [реф nur, Väterchen,“ rief 
man ihm aus der Menge zu: „und rede den Ver— 
dammten ins Gewiſſen.“ Wladimir näherte ſich den 
Beamten. Stolz aufgerichtet ſtand dort Schabaſchkin, 
die Uniformmütze auf dem Kopf, und blickte ſich body: 
mütig im Kreiſe um. Der Polizeileutnant, ein hoch— 
gewachſener und dicker Mann von etwa fünfzig Jahren 
mit gerötetem Geſicht und langem Schnurrbart, гаи: 
ſperte ſich, als er bemerkte, daß Dubrowskij ſich näherte, 
und ſprach mit heiſerer Stimme: „Ich wiederhole euch 
mithin, was ich euch bereits geſagt habe: Laut Urteil 
des s ſchen Kreisgerichtes gehört ihr jetzt Kirila 
Petrowitſch Trojekurow, deſſen Perſon hier von Herrn 
Schabaſchkin vertreten wird. Ihr habt jedem ſeiner 
Befehle Folge zu leiſten; ihr aber, Weiber, ſollt ihn 
lieben und ehren, denn er iſt ein großer Freund von 


167 


Dubromsfij 


euch.“ Der Polizeileutnant mußte über feinen eigenen 
pikanten Scherz laut lachen. Schabaſchkin und die 
übrigen Beamten ſekundierten ihm. Wladimir kochte 
vor Unwillen. „Darf ich mir die Frage erlauben, was 
das zu bedeuten hat?“ fragte er mit gekünſtelter Kalt⸗ 
blütigkeit den heiteren Polizeileutnant. „Das ſoll nichts 
anderes bedeuten,“ entgegnete der ſcherzhafte Beamte: 
„als daß wir gekommen find, Kirila Petrowitſch Зло: 
jekurow in ſein Beſitztum einzuführen und daß wir 
allen andern Perſonen raten wollen, gutwillig ihres 
Weges zu gehen.“ 

„Mir will jedoch ſcheinen, daß Sie, bevor Sie ſich 
an meine Bauern wandten, eigentlich gut getan hätten, 
ſich zunächſt mit mir zu verſtändigen, und dem Guts⸗ 
beſitzer Mitteilung davon zu machen, daß ihm feine 
Gewalt genommen wird. 

„Andrej Gawrilowitſch Dubrowskiß der vormalige 
Beſitzer dieſes Gutes, iſt nach Gottes Ratſchluß ge⸗ 
ſtorben; wer biſt denn du?“ warf Schabaſchkin mit 
einem dreiſten Blick hin: „Wir kennen Sie nicht und 
wollen Sie auch gar nicht erſt kennen.“ 

„Euer Wohlgeboren, das iſt unſer junger Herr,“ 
rief eine Stimme aus der Menge. 

„Wer wagt dort, das Maul aufzureißen!“ ſchrie 
ſtreng der Polizeileutnant: „Was da, Herr? Euer 
Herr ift Kirila Petrowitſch Trojekurow ... habt ihrs 
gehört, ihr Schalksnarren?“ 

„Was du nicht ſagſt!“ rief die gleiche Stimme. 


168 


Dubromsfij 


„Das ift Aufruhr!“ ſchrie der Polizeileutnant: 
„Heda, Dorfälteſter, hierher!“ 

Der Dorfälteſte trat zögernd vor. 

„Augenblicks finde mir den, der es gewagt hat, mit 
mir zu ſprechen; dem will ichs beſorgen! ...“ 

Der Dorfälteſte wandte ſich zur Menge und fragte, 
wer geſprochen hätte? Alle ſchwiegen. Aber gleich 
darauf begann in den hinteren Reihen ein Gemurmel, 
das immer lauter wurde und ſchon nach einer Minute 
zum gräßlichſten Geſchrei ausartete. Der Polizeileut⸗ 
nant dämpfte die Stimme, um den Leuten gut zuzu⸗ 
reden ... „Was gaffen wir noch?“ ſchrie das Hof: 
geſinde: „Vorwärts, Kinder, packt ihn!“ Die Menge 
rückte vor. Schabaſchkin und die Beamten des Land— 
gerichtes flohen ins Haus und ſperrten die Türe zu. 
„Drauf los, Kinder!“ ſchrie immer noch die gleiche 
Stimme und ſogleich drang die Menge auf die Türe 
ein. „Haltet!“ ſchrie Dubrowskij: „Ihr Narren, was 
tut ihr? Ihr wollt wohl euch und mich zugrunde 
richten; geht nach Hauſe und laßt mich in Ruhe. Habt 
keine Angſt, der Kaiſer iſt gnädig: ich werde zu ihm 
gehen und ihn bitten — er wird nicht geſtatten, daß 
wir gekränkt werden — wir find ja alle feine Kinder; 
wie aber könnte er für euch eintreten, wenn ihr euch 
wie Aufrührer und Räuber gebärdet?“ 

Die Worte des jungen Dubrowskij, ſeine ſchallende 
Stimme und ſein imponierendes Auftreten erzielten 
alsbald die gewünſchte Wirkung. Das Volk ver⸗ 


169 


Dubromwsfij 


ſtummte und zerſtreute ſich; der Hof leerte ſich, aber 
immer noch ſaßen die Beamten eingeſperrt im Hauſe. 


Traurig ſchritt Wladimir die Freitreppe hinan. Scha⸗ 


baſchkin öffnete die Türe und dankte Dubrowskij mit 
einer tiefen Verbeugung für ſein gnädiges Einſchreiten. 

Verächtlich hörte ihn Wladimir an und entgegnete 
nichts. „Wir haben beſchloſſen,“ fuhr der Beiſitzer 
fort: „mit Ihrer Erlaubnis hier zu übernachten; es 
iſt nämlich ſchon dunkel und Ihre Bauern könnten uns 
leicht unterwegs überfallen. Erweiſen Sie uns die 
Güte, befehlen Sie, ein wenig Heu im Wohnzimmer 
aufzuſchütten; ſobald es Tag wird, werden wir unſeres 
Weges gehen.“ 

„Tun Sie, was Sie mögen,“ entgegnete Du: 
bromstij trocken: „Ich bin hier nicht mehr der Haus⸗ 
herr.“ 

Mit dieſen Worten entfernte er ſich in das Zimmer 
ſeines Vaters und ſchloß hinter ſich die Türe. 


Sechſtes Kapitel 


„Nun iſt alſo alles aus!“ ſprach Wladimir zu ſich 
ſelber, „noch heute morgen hatte ich meinen warmen 
Winkel und mein Stück Brot; morgen aber muß ich 
das Haus, in dem ich geboren bin, verlaſſen. Sogar 
der Leichnam meines Vaters und die Erde, in der er 
ruht, werden dem Verhaßten gehören, der an ſeinem 
Tod und an meiner Armut ſchuld iſt! ...“ Wladimir 
knirſchte mit den Zähnen, ſtarr hafteten ſeine Augen 


170 


Dubrowskij 


an dem Bildnis ſeiner Mutter. Der Maler hatte ſie 
in einem weißen Morgengewande, eine Roſe in den 
Haaren, an einem Treppengeländer lehnend dargeſtellt. 
„Auch dieſes Bildnis wird dem Feinde meines Ge: 
ſchlechtes zufallen,“ dachte Wladimir, „er wird es 
mitſamt den zerbrochenen Stühlen auf den Speicher 
ſtellen, oder wird es ins Vorzimmer hängen, wo es 
zum ſtändigen Gegenſtand des Spottes und höhniſcher 
Bemerkungen ſeiner Hundeknechte werden dürfte; in 
ihrem Schlafgemach aber, im Zimmer, in dem mein 
Vater geſtorben ift, wird ſicherlich nunmehr der Ver⸗ 
walter leben, oder gar deſſen Harem. Nein, nein! 
nicht ſoll dieſes trauervolle Haus, aus dem man mich 
jetzt hinausjagt, ſein eigen werden.“ Und wieder 
knirſchte Wladimir mit den Zähnen; ſchreckliche Фе: 
danken waren in ſeinem Kopf. Die Stimmen der Be⸗ 
amten drangen an ſein Ohr; ſie benahmen ſich wie 
die Herren des Hauſes und forderten bald dieſes und 
bald jenes und ſtörten ihn peinlich in ſeinen traurigen 
Überlegungen. Aber nach einiger Zeit wurde alles ſtill. 

Wladimir öffnete die Kommoden und Käſten und 
machte ſich daran, die Papiere des Verſlorbenen zu 
ordnen. Sie beſtanden größtenteils aus Rechnungen 
und Wirtſchaftspapieren, doch war auch der eine und 
der andere Briefwechſel darunter. Wladimir zerriß 
alles, ohne es erſt zu leſen. Plötzlich fiel ihm ein 
Paket mit der Aufſchrift: Briefe meiner Frau, in die 
Hände. Mit lebhafteſter Erregung machte ſich Wla— 


171 


Dubromsfij 


dimir an die Lektüre: die Briefe waren zu der Zeit 
des Türkenfeldzuges geſchrieben und aus Kiſtenjowka 
in die Armee geſchickt worden. Sie ſchilderte ihm 
darin ihr Leben auf dem Gutshof und ihre Haus: 
haltungsſorgen; voller Zärtlichkeit beklagte ſie die 
Trennung und rief ihn nach Hauſe zurück, da die 
Arme ſeiner liebenden Gefährtin ihn längſt erwarteten. 
In einem der Briefe äußerte ſie ſich beunruhigt über 
die Geſundheit des kleinen Wladimir; in einem andern 
ſprach ſie erfreut von ſeinen frühen Begabungen und 
prophezeite ihm eine glückliche und glänzende Zukunft. 
Wladimir las und las und vergaß alles auf der Welt, 
ſo ſehr war ſeine Seele in der kleinen Welt häus⸗ 
lichen Glückes aufgegangen, er bemerkte nicht einmal, 
daß die Zeit verſtrich: plötzlich ſchlug eine Wanduhr 
die elfte Stunde. Wladimir ſteckte die Briefe in die 
Taſche, nahm eine Kerze und verließ das Kabinett. 
Die Beamten ſchliefen im Saal auf dem Fußboden. 
Leere Gläſer ſtanden auf dem Tiſch und ein ſtarker 
Rumduft wehte durchs Zimmer. Nicht ohne Abſcheu 
ſchritt Wladimir an ihnen vorüber ins Vorzimmer. 
Dort war es dunkel. Als er mit dem Licht hereintrat, 
flüchtete jemand in eine Ecke. Wladimir folgte ihm 
mit der Kerze und erkannte den Schmied Archip. 
„Was ſuchſt du hier?“ fragte er überraſcht. 
„Ich wollte .. ich kam nur, um zu ſchauen, ob alle 
zu Hauſe ſind?“ entgegnete Archip leiſe und ſtockend. 
„Und wozu haſt du das Beil bei dir?“ 


172 


— 


u 
— — 


Dubromsfij 


„Das Beil? Ja, kann man denn heute überhaupt 
ohne Beil ausgehen? Dieſe Beamten da, das ſind ſolche 
Halunken, da muß man ſich vorſehen ...“ 

„Du biſt beſoffen; laß das Beil und leg dich 
ſchlafen.“ $ 

„Ich befoffen? Väterchen, Wladimir Andrejewitſch, 
Gott iſt mein Zeuge, daß ich keinen einzigen Tropfen 
zu mir genommen Бабе... wer könnte jetzt auch an 
Schnaps denken? Hat man je [© was gehört? Be: 
amte wollen über uns herrſchen, Beamte jagen unſere 
Herrſchaft aus dem Haufe ... Hör nur, wie fie 
ſchnarchen, die Verdammten; wenn man ſie alle mit 
einem Male umbringen könnte, kein Menſch würde 
was davon merken.“ 

Dubrowskijs Geſicht verfinſterte ſich. 

„Hör mal, Archip,“ meinte er nach einer kleinen 
Paufe: „Laß dieſe Gedanken; die Beamten find keines⸗ 
wegs ſchuld. Zünd lieber deine Laterne an und folge 
mir.“ 

Archip nahm die Kerze aus der Hand ſeines Herrn, 
zog hinter dem Ofen die Laterne hervor und ſteckte 
das Licht darein, gleich darauf ſchritten die beiden 
ſtumm die Freitreppe hinab und über den Hof. Der 
Wächter klopfte auf ſein Brett aus Gußeiſen; die 
Hunde ſchlugen an. „Wer hat die Wache?“ fragte 
Dubrowskij. — „Wir, Väterchen,“ entgegnete ein 
dünnes Stimmchen, „Waſſiliſſa und Lukerja.“ — 
„Geht nach Hauſe,“ ſagte Dubrowskij, „ihr werdet 


173 


Dubromsfij 


nicht mehr benötigt.“ — „Feierabend,“ fügte Archip 
hinzu. — „Vielen Dank, Wohltäter,“ entgegneten 
die Weiber und begaben ſich ſogleich nach Hauſe. 

Dubrowskij ging weiter. Zwei Männer kamen ihm 
entgegen; ſie riefen ihn an; Dubrowskij erkannte An⸗ 
tons und Griſchas Stimmen. „Warum ſchlaft ihr 
nicht?“ fragte er ſie. „Wir finden keinen Schlaf,“ 
entgegnete Anton, „was wir jetzt erleben müſſen, wer 
hätte das wohl gedacht ...“ 

„Still,“ unterbrach ihn Dubrowskij, „wo iſt die 
Jegorowna?“ a 

„Im Herrenhauſe, in ihrer Kammer,“ entgegnete 
Griſcha. 

„Geh, hol ſie her und hol auch alle andern der 
Unſrigen aus dem Hauſe, nicht eine einzige Menſchen⸗ 
ſeele, außer den Beamten, ſoll drinbleiben; du aber, 
Anton, ſpann derweil den Wagen an.“ 

Griſcha entfernte ſich; eine Minute darauf erſchien 
er mit ſeiner Mutter auf dem Hof. Die Alte hatte 
ſich gar nicht erſt zur Nacht ausgezogen; außer den 
Beamten hatte noch keiner ein Auge zugetan. 

„Sind alle hier?“ fragte Dubrowskij, „iſt keiner 
mehr im Hauſe?“ 

„Keiner, außer den Beamten,“ entgegnete Griſcha. 

„Dann gebt mir Heu oder Stroh her,“ {ад Фи 
browskij. | 

Die Leute liefen zum Pferdeftall und kehrten mit 
großen Heubündeln zurück. 


174 


Dubromsfij 


„Schüttet Пе unter der Freitreppe aus; ſo iſt's 
recht. Und nun, Kinder, Feuer her!“ 

Archip öffnete ſeine Laterne, Dubrowskij ſetzte einen 
Kienſpan in Brand. 

„Schau mal nach,“ ſagte er zu Archip, „ich glaube, 
daß ich in der Haft die Türe zum Vorzimmer ab: 
geſchloſſen habe, lauf hin und ſchließ ſie auf.“ 

Archip lief zum Flur, die Tür war geöffnet. Archip 
verſchloß ſie, wobei er halblaut murmelte: „Was du 
nicht ſagſt, ſchließ fie auf, worauf er zu Dubrowskij 
zurückkehrte. 

Dubrowskij näherte den Kienſpan dem Heu, es 
geriet in Brand, die Flamme ſchlug nach oben und 
erleuchtete den ganzen Hof. 

„Herrje!“ ſchrie die Jegorowna wimmernd, „was 
tuſt du da, Wladimir Andrejewitſch!“ 

„Schweig!“ ſagte Dubrowskij, „und nun, Kinder, 
lebt denn wohl, ich gehe, wohin Gott mich führt; 
werdet glücklich unter eurer neuen Herrſchaft!“ 

„Väterchen, Wohltäter,“ ſchrieen ſeine Leute, „eher 
ſterben, als dich verlaſſen, wir folgen dir, wohin du 
auch gehſt.“ 

Die Pferde warteten bereits. Dubrowskij nahm 
mit Griſcha im Wagen Platz; Anton knallte mit der 
Peitſche und ſo fuhren ſie vom Hof. 

Die Flamme hatte in wenigen Augenblicken das 
ganze Haus ergriffen. Die Fußböden krachten und 
ſtürzten ein, brennende Balken fielen zu Boden; roter 


175 


DubromwsEij 


Rauch ftand über dem Dach und alsbald wurde auch 
ein jämmerliches Schreien und Heulen vernehmbar: 
„Hilfe, zu Hilfe!“ — „Was du nicht ſagſt,“ meinte 
Archip und ſchaute mit boshaftem Lächeln auf die 
Brandſtätte. — „Archip, Lieber,“ rief ihm die Jego⸗ 
romna zu: „Rette die Verdammten, Gott wird dich 
dafür belohnen.“ „Was du nicht ſagſt,“ entgegnete 
der Schmied. In dieſem Augenblick wurden die Ge— 
ſichter der Beamten im Fenſter ſichtbar, ſie verſuchten 
vergebens den doppelten Fenſterrahmen aufzubrechen. 
Gleichzeitig aber ſtürzte das Dach mit lautem Krachen 
ein — und das Geſchrei verſtummte. 

Wenige Augenblicke darauf ſtrömte das ganze Guts⸗ 
geſinde auf den Hof. Schreiend beeilten ſich die Weiber, 
ihre Habſeligkeiten zu retten, die Kinder ſprangen luſtig 
herum und freuten ſich über das helle Brennen. Die 
Funken flogen wie ein Feuerſturm und ſetzten die nebenan 
liegenden Hütten in Brand. „So iſts recht!“ meinte 
Archip, „ſchön brennts, was? Das kann man auch 
in Pokrowskoje gut ſehen.“ Aber ſogleich zog eine 
neue Erſcheinung ſeine Aufmerkſamkeit an: eine Katze 
lief über das Dach des brennenden Speichers und 
wußte nicht, wohin ſie ſich retten ſollte. Die Flammen 
umgaben ſie bereits von allen Seiten. Mit kläglichem 
Miauen bat das arme Tier um Hilfe; die Buben auf 
dem Hof ſtarben Гай vor Lachen, als fie die Verzweif— 
lung des Tieres bemerkten. „Was gibts da zu lachen, 
ihr Teufelsbrut?“ rief zornig der Schmied, „gottlos 


176 


Dubromsfij 


feid ihr, da geht ет Gefchöpf Gottes zugrunde und 
ihr lacht in eurer Torheit darüber!“ Er ſetzte eine Leiter 
an das Dach, das ſchon zu brennen begonnen hatte, 
und kletterte hinauf, um die Katze herunterzuholen; 
ſie begriff ſeine Abſicht und krallte ſich mit einer haſtigen 
und dankbaren Bewegung an ſeinen Armel. Halb ver⸗ 
brannt kehrte der Schmied mit ſeiner Beute nach unten 
zurück. „Nun, Kinder, lebt alle wohl,“ ſagte er zu dem 
verwirrten Hofgeſinde, „ich habe hier weiter nichts 
mehr zu ſchaffen, ich wünſche euch viel Glück und 
bitte, nicht ſchlecht von mir zu denken.“ Der Schmied 
entfernte ſich; der Brand wütete noch einige Zeit, aber 
nach und nach ſank er in ſich zuſammen und fchließ- 
lich leuchteten nur noch glühende Kohlenhaufen ohne 
Flammen durch die dunkle Nacht; und vor dieſen ſtanden 
die abgebrannten Bewohner von Kiſtenjowka. 


Siebentes Kapitel 


Schon am andern Tage wußte man im ganzen 
Umkreiſe von der Feuersbrunſt. Die verſchiedenſten 
Vermutungen wurden laut. Einige beteuerten, es 
könnten nur die Leute Dubrowskijs geweſen ſein, die 
ſich beim Leichenſchmauſe angetrunken und aus Un: 
vorſichtigkeit das Haus angeſteckt hätten, andere be- 
ſchuldigten die Beamten, den Beſitzwechſel zu ſehr 
gefeiert zu haben. Freilich waren auch manche dar: 
unter, die die Wahrheit errieten und verkündeten, nur 
Dubrowskij ſelber könnte der Urheber der entſetzlichen 


P. 1 12 
177 


Du bro wsk i] 


Tat ſein; viele behaupteten, daß er ſelber mitſamt 
dem Gericht und ſeinem Hofgeſinde verbrannt wäre. 
Trojekurow beſuchte tags darauf die Brandſtätte 
und nahm ſelber die Unterſuchung vor. Es ſtellte ſich 
heraus, daß der Polizeileutnant, der Beiſitzer des Land⸗ 
gerichtes, der Anwalt und der Schreiber, aber ebenſo 
auch Wladimir Dubrowskij, die Kinderfrau Jego⸗ 
romna, der Diener Grigorij, der Kutſcher Anton und 
der Schmied Archip ſpurlos verſchwunden waren. Das 
Hofgeſinde ſagte aus, daß die Beamten beim Einſturz 
des Daches verbrannt wären. Ihre verkohlten Knochen 
wurden ausgegraben. Die Weiber Waſſiliſſa und Lu: 
kerja erzählten, daß ſie wenige Augenblicke vor dem 
Entſtehen des Feuers den jungen Dubrowskij und 
Archip, den Schmied, geſehen hätten. Der Schmied 
Archip war, wie alle einſtimmig ausſagten, noch am 
Leben und vermutlich der Haupt- wenn nicht gar der 
einzige Urheber des Feuerſchadens. Aber auch auf 


Dubrowskij ruhte begründeter Verdacht. Kirila Pe⸗ 


trowitſch ſchickte dem Gouverneur eine genaue Schil⸗ 
derung des ganzen Vorfalls, und es entſpann ſich ein 
neuer Prozeß. 

Bald darauf kamen andere Nachrichten, die der 
Neugierde und den Gerüchten friſche Nahrung gaben. 
Eine Räuberbande war aufgetaucht und trug all⸗ 
gemeines Entſetzen durch das ganze Land. Die Maß⸗ 
nahmen, die gegen ſie ergriffen worden waren, ſtellten 
ſich als völlig ungenügend heraus. Eine Plünderung 


178 


Dubromstij 


folgte der andern. Und eine war immer bemerkens⸗ 
werter als die andere. Überall lauerte die Gefahr, 
auf den Straßen ſowohl als auch in den Dörfern 
ſelber. Die Räuber fuhren in mehreren Dreigeſpannen 
tagsüber durch das Gouvernement und hielten die 
Reiſenden an und ebenſo auch die Poft, allein ſie 
drangen ſogar in die Dörfer, plünderten die Häuſer 
der Gutsbeſitzer und ſetzten ſie ſchließlich in Brand. 
Der Befehlshaber der Bande zeichnete ſich durch Ver⸗ 
ſtand, Verwegenheit und einen beſonderen Edelmuf 
aus. Wunderdinge wurden von ihm erzählt. Du⸗ 
browskijs Name war auf allen Lippen; ganz all⸗ 
gemein war man davon überzeugt, daß er und kein 
anderer der Befehlshaber dieſer tollkühnen Böſewichte 
ſei. Und nur über das eine konnte man ſich nicht ge⸗ 
nug wundern: Trojekurows Beſitzungen blieben рег: 
ſchont; nicht ein einziger ſeiner Speicher wurde von 
den Räubern geplündert, nicht eine einzige ſeiner 
Fuhren von ihnen angehalten. Trojekurow ſchrieb 
dieſe Ausnahme freilich mit ſeinem gewöhnlichen Hoch⸗ 
mut dem Schrecken zu, den er dem ganzen Gouverne— 
ment einzuflößen verſtanden, und ein wenig noch der 
ausgezeichneten Polizei, die er auf ſeinen Beſitzungen 
eingeführt hatte. Zwar lachten die Nachbarn anfangs 
über Trojekurows Prahlerei, denn ein jeder erwartete, 
daß die ungebetenen Gäſte eines Tages dennoch nach 
Pokrowskoje kommen würden, wo fie Beute genug 


finden dürften, aber ſchließlich ſahen ſie ſich gezwungen, 


179 


Dubromsfij 


dasſelbe zu ſagen und einzuſehen, daß die Räuber 
einen unerklärlichen Reſpekt vor ihm hatten. Troje⸗ 
kurow triumphierte und ſpottete bei jeder Nachricht 
von einer neuen Plünderung, die Dubrowskij ins 
Werk geſetzt hatte, weidlich über den Gouverneur, 
die Polizeileutnants und die Kompagniechefs, deren 
Nachſtellung ſich Dubrowskij bisher immer noch ип: 
beſchadet entzogen hatte. 

Unterdeſſen kam der erſte Oktober heran, der Tag, 
an dem auf Trojekurows Beſitzungen das Feſt der 
Kirchweihe gefeiert wurde. Doch ehe wir uns an 
die Schilderung der weiteren Begebenheiten machen, 
müſſen wir den Leſer mit Perſonen bekannt machen, 
die ihm noch unbekannt ſind, oder mit ſolchen, die wir 
am Anfang unſerer Erzählung nur kurz geſtreift haben. 


Achtes Kapitel 


Vermutlich wird der Leſer bereits erraten haben, 
daß Kirila Petrowilſchs Tochter, von der wir bisher 
nur wenig ſagen konnten, die eigentliche Heldin unſerer 
Erzählung iſt. Zu der Zeit, die wir hier ſchildern, 
war ſie ſiebzehn Jahre alt, ihre Schönheit ſtand in 
voller Blüte. Ihr Vater liebte ſie beſinnungslos, aber 
er behandelte fie mit der ihm angeborenen Launen— 
haftigkeit, denn zuweilen erfüllte er ihr jeden Wunſch, 
erſchreckte ſie jedoch zuweilen wieder durch rauhe und 
manchmal ſogar grauſame Umgangsformen. Er war 
von ihrer Anhänglichkeit überzeugt, doch gelang es 


180 


Dubrowsk ij 


ihm niemals, ihr Zutrauen zu erlangen. Sie hatte es 
ſich zur Gewohnheit gemacht, ihre Gefühle und Фе: 
danken vor ihm zu verbergen, da ſie ja niemals genau 
wußte, wie er ihre Worte auffaſſen würde. Sie hatte 
keine Freundinnen und wuchs in der Einſamkeit auf. 
Es kam nämlich nur ſelten vor, daß die Nachbarn 
ihre Frauen oder Töchter zu Kirila Petrowitſch mit⸗ 
nahmen, da feine üblichen Unterhaltungen und Ber: 
gnügungen wohl die Geſellſchaft von Männern er: 
forderten, nicht aber die Anweſenheit von Damen. 
Unſere junge Schöne zeigte ſich nur ſelten im Schwarm 
der Gäſte, die bei Kirila Petrowitſch tafelten. Die 
rieſige Bibliothek, die in der Hauptſache aus Schriften 
franzöſiſcher Verfaſſer des 18. Jahrhunderts beſtand, 
wurde eifrig von ihr benutzt. Da ihr Vater niemals 
etwas anderes außer der „Vollkommenen Köchin“ 
las, konnte er ihr in der Auswahl der Lektüre nicht 
an die Hand gehen, und darum verfiel Maſcha, nach— 
dem ſie Schriften jeder Art durchblättert hatte, ſelbſt— 
verſtändlich auf Romane. Auf dieſe Art vollendete ſie 
eine Erziehung, die ſeinerzeit unter der Aufſicht der 
Mamſell Michaud begonnen, einer Perſon, der Kirila 
Petrowitſch das größte Vertrauen und Wohlwollen 
ſo lange entgegengebracht hatte, bis er ſich eines Tages 
gezwungen ſah, ſie in aller Stille auf eine entfernter 
liegende Beſitzung ſchaffen zu laſſen, da die Folgen 
der Freundſchaft nur allzuſehr an den Tag traten. 
Mamſell Michaud hatte ein angenehmes Andenken 


181 


Dubromstijf 


hinterlaſſen. Sie war ein gutherziges Mädchen де: 
weſen und hatte niemals den Einfluß, den ſie offenbar 
auf Kirila Petrowitſch ausübte, mißbraucht, ein Um⸗ 
ſtand, der ſie von ſeinen anderen Freundinnen, die 
allaugenblick wechſelten, ſehr unterſchied. Es machte 
den Eindruck, daß Kirila Petrowitſch ſie lieber hatte 
als alle jene andern. Und zudem wurde ja auch ein 
ſchwarzäugiger Bub, ein Schelm von neun Jahren, 
deſſen Geſicht an die mittäglichen Züge der Mamſell 
Michaud erinnerte, in ſeinem Hauſe erzogen und war 
von ihm ſogar als Sohn anerkannt worden, un⸗ 
geachtet deſſen, daß ein Haufen barfüßiger Kinder, 
die Kirila Petrowitſch ſo ähnlich ſahen wie ein 
Tropfen Waſſer dem andern, ſich ſtändig vor den 


Fenſtern herumtrieb und dennoch nur zum Hofgeſinde 


gezählt wurde. Kirila Petrowitſch ließ ſich für ſeinen 
kleinen Saſcha einen franzöſiſchen Lehrer aus Moskau 
kommen, der um die gleiche Zeit in Pokrowskoje ein⸗ 
traf, in der die Begebniſſe vorfielen, die wir nunmehr 
zu ſchildern gedenken. 

Dieſer Lehrer gefiel Kirila Petrowitſch durch ſein 
angenehmes Außere und ſeine ſchlichten Umgangs⸗ 
formen. Er überbrachte Kirila Petrowitſch verſchie⸗ 
dene Zeugniſſe, unter anderem aber auch den Brief 
eines Verwandten von Trojekurow, in deſſen Hauſe 
er vier Jahre als Erzieher zugebracht hatte. Kirila 
Petrowitſch ſah die Papiere durch und war zufrieden, 
nur die Jugend unſeres Franzoſen ſchien ihm nicht 


182 


rr r 
=. - 


Dubrowskij 


recht zuſagen zu wollen, allein nicht etwa aus dem 
Grunde, weil er angenommen hätte, daß dieſer liebens⸗ 
würdige Fehler unvereinbar ſei mit der Geduld und 
der Erfahrung, die für den unglückſeligen Beruf des 
Lehrers unumgänglich ſind, nein, ſondern er hatte 
ſeine eigenen Zweifel, und war ſogleich entſchloſſen, 
ſie ihm zu verſtehen zu geben. Zu dieſem Zweck ließ 
er Maſcha holen. (Da Kirila Petrowitſch die fran⸗ 
zöſiſche Sprache nicht beherrſchte, diente ſie ihm als 
Dolmetſcherin.) „Komm Бег, Maſcha, und ſag dieſem 
Musje, daß alles in Ordnung iſt und daß ich ihn ап: 
ſtelle, doch nur unter einer Bedingung: er ſoll es nicht 
wagen, jemals meinen Mädchen nachzuſtellen, ſonſt 
werde ich ihn, den Hundeſohn ... überſetz ihm das, 
Maſcha.“ 

Maſcha errötete und ſagte zum Lehrer auf fran— 
zöſiſch, daß ihr Vater auf ſeine Beſcheidenheit und 
ſeine anſtändige Aufführung rechne. 

Der Franzoſe verneigte ſich und entgegnete, daß er 
feinerfeits ſich Reſpekt zu erringen hoffe, ſelbſt wenn 
man ihm jedes Wohlwollen zu verſagen gedächte. 

Dieſe Antwort überſetzte Maſcha Wort für Wort. 

„Gut, ſchon gut,“ meinte Kirila Petrowitſch, „wozu 
redet er von Wohlwollen oder von Reſpekt? Seine 
Sache iſt es, Saſcha zu beaufſichtigen und ihn in 
Grammatik und Geographie zu unterrichten ... über⸗ 
ſetz ihm das.“ 

Marja Kirilowna überſetzte die groben Worte ihres 


183 


Du bro ws ki 


Vaters weſentlich gemildert. Kirila Petrowitſch be⸗ 
fahl darauf, dem Franzoſen den Weg zum Flügel zu 
weiſen, wo man ihm ein Zimmer eingerichtet hatte. 

Auf Maſcha hatte der junge Franzoſe nicht den 
geringſten Eindruck gemacht. Da fie in den Bor: 
urteilen der Ariſtokratie aufgewachſen war, ſtellte 
ihr ein Lehrer nicht anders dar als etwas in der Art 
eines Bedienten oder Handwerkers, ein Bedienter aber 
oder Handwerker waren für ſie keine Männer. Somit 
bemerkte ſie natürlich auch den Eindruck nicht, den ſie 
auf Monſieur Deforges gemacht hatte, weder ſeine 
Verwirrung, noch daß er erbebte, ja nicht einmal, daß 
ſeine Stimme ſich veränderte. Sie begegnete ihm in 
den nächſten Tagen ziemlich häufig, aber ſie würdigte 
ihn nach wie vor keines Blickes. Auf die unerwartetſte 
Weiſe erhielt ſie einen neuen Eindruck von ihm. 

Auf Kirila Petrowitſchs Gutshof wurden gewöhn— 
lich mehrere junge Bären gehalten, die dem Guts⸗ 
beſitzer von Pokrowskoje einen Hauptſpaß machten. 
Wenn die Bären noch ganz jung waren, wurden ſie 
täglich ins Wohnzimmer geführt, und ſtundenlang 
konnte ſich Kirila Petrowitſch mit ihnen abgeben, in- 
dem er ſie auf Katzen und junge Hunde hetzte. Wenn 
ſie dann heranwuchſen, wurden ſie, in Erwartung 
einer wirklichen Hetzjagd, an die Kette gelegt. Hie 
und da wurden ſie auch vors Herrenhaus geführt, 
man rollte ihnen ein leeres Weinfaß, das dicht mit 
Nägeln beſpickt war, hin; der Bär beſchnupperte es 


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Dubrowskij 


und verſuchte es vorſichtig zu berühren, wobei er ſich 
in die Pfoten ſtach, darauf wurde er wütend und ſtieß 
heftiger zu und heftiger wurde natürlich auch ſein 
Schmerz. Er geriet allmählich in völlige Raſerei und 
ſtürzte ſich heulend ſo lange auf das Faß, bis man 
dem armen Tier den Gegenſtand ſeiner vergeblichen 
Wut fortnahm. Manchmal wieder wurden zwei Bären 
vor einen Wagen geſpannt, in welchem Gäſte frei— 
willig oder gezwungen Platz nehmen mußten, und 
dann gings unaufhaltſam über die Felder dahin. 
Am meiſten Vergnügen aber machte Kirila Petro— 
witſch folgender Spaß: 

Man pflegte einen hungrigen Bären gelegentlich 
in ein leeres Zimmer zu ſperren, wo man ihn mit 
einem Strick an einen Ring, der in die Wand ge— 
ſchraubt war, band. Der Strick war faſt ſo lang 
wie das ganze Zimmer, ſo daß einzig die entgegen— 
geſetzte Ecke Schutz vor den Angriffen des ſchrecklichen 
Tieres bot. Man pflegte dann meiſtens einen Neu— 
ling vor die Tür dieſes Zimmers zu bringen, ſtieß 
ihn unverhofft zum Bären herein, ſchloß die Türe 
und ließ das unſelige Opfer mit dem zottigen Ein: 
ſiedler allein. Mit zerriſſenem Rockſchoß und zer: 
kratzter Hand fand der arme Gaſt die gefahrloſe Ecke 
natürlich bald, aber es konnte geſchehen, daß er dort 
eng an die Wand gepreßt drei Stunden lang ſtehen 
mußte und die ganze Zeit über das gereizte Tier zwei 
Schritt vor ſich ſehen mußte, wie es ſprang, ſich auf- 


185 


И 


richtete, brummte und aus ganzer Kraft beſtrebt war, 
ihn zu erreichen. Das waren fo die vornehmen Ber: 
gnügungen eines ruſſiſchen hohen Herrn! Wenige 
Tage nach der Ankunft des Lehrers erinnerte ſich 
Trojekurow an ihn und beſchloß, ihn mit dem Bären⸗ 


zimmer zu bewirten. Zu dieſem Zwecke ließ er ihn р 


eines Morgens holen und führte ihn durch die дип: 
kelſten Gänge; plötzlich öffnete ſich eine Seitentüre, 
zwei Diener ſtießen den Franzoſen hinein und ſchloſſen 
fie hinter ihm. Als der Lehrer feine Geiſtesgegen⸗ 
wart wieder gewonnen hatte, bemerkte er den an: 
gebundenen Bären; das Tier ſchnaufte ſchwer und 
ſchnupperte von fern nach dem Gaſt, richtete ſich 
dann plötzlich auf ſeinen Hinterpfoten auf und ging 
auf ihn los ... Aber der Franzoſe war hierüber nicht 
erſchrocken und floh nicht, ſondern erwartete den An: 
griff. Der Bär näherte ſich; Deforges zog eine kleine 
Piſtole aus der Taſche, ſetzte ſie dem hungrigen Tier 
ans Ohr und drückte ab. Der Bär ſtürzte nieder. 
Alles eilte herbei, die Türe ging auf und Kirila Petro: 
witſch trat ein, ganz erſtaunt über den Ausgang des 
Spaßes. 

Kirila Petrowitſch wünſchte unbedingt die ganze 
Angelegenheit aufgeklärt zu ſehen. Wer mochte es 
wohl geweſen ſein, der Deforges von dem Scherz, 
der ihn erwartete, Mitteilung gemacht hatte, und wie⸗ 
ſo kam es, daß ſich in ſeiner Taſche eine geladene 
Piſtole befand? Er ließ Maſcha rufen. Maſcha eilte 


186 


3 —— ——ͤ—ͤ 


Dubrowskij 


herbei und überſetzte dem Franzoſen die Fragen, die 
ihr Vater an ihn richtete. 

„Ich habe noch nie zuvor vom Bären gehört,“ 
entgegnete Deforges: „allein ich trage beſtändig Pi⸗ 
ſtolen bei mir, denn es iſt nicht meine Art, Krän⸗ 
kungen hinzunehmen, für die ich in meiner Stellung 
keine Genugtuung verlangen kann.“ 

Erſtaunt blickte ihn Maſcha an und überſetzte 
Kirila Petrowitſch dieſe Worte. Kirila Petrowitſch 
entgegnete nichts, ſondern befahl bloß, den Bären 
hinauszuſchaffen und ihm das Fell abzuziehen; darauf 
wandte ег ſich zu feinen Leuten und ſagte: „Wie де: 
fällt euch der Burſche? er iſt nicht verzagt, weiß Gott, 
er ИЕ nicht verzagt. Und von dieſem Augenblick an 
hatte er Deforges lieb und dachte nicht mehr daran, 
ihn jemals wieder auf die Probe zu ſtellen. 

Auf Marja Kirilowna hatte der Vorfall einen 
noch größeren Eindruck gemacht. Ihre Phantaſie Бе: 
gann zu arbeiten: ſie ſah den toten Bären vor ſich 
und Deforges, der ruhig neben dem Leichnam ſtand 
und ſich ruhig mit ihr unterhielt. Sie mußte einſehen, 
daß Tapferkeit und ſtolzes Selbſtbewußtſein nicht nur 
das ausſchließliche Vorrecht des einen Standes ſeien, 
und begann ſeit der Zeit den jungen Lehrer mit einem 
Reſpekt zu behandeln, der von Stunde zu Stunde 
herzlicher wurde. Zwiſchen den beiden kam es ſogar 
zu einer gewiſſen Verbindung. Maſcha hatte eine 
herrliche Stimme und verfügte zudem über große 


187 


Dubromsfij 


muſikaliſche Fähigkeiten: Deforges erklärte ſich ſofort 
bereit, ihr Stunden zu geben. Und nun wird es dem 
Leſer gewiß nicht mehr ſchwer fallen, zu erraten, daß 
Maſcha ſich natürlich in ihn verliebte, ohne es noch 
ſelber recht zu wiſſen. 


Neuntes Kapitel 


Der größte Teil der Gäſte kam bereits am Vor⸗ 
abend des Feſtes nach Pokrowskoje. Einige wurden 
im Herrenhauſe und in den Flügeln untergebracht, 
andere beim Verwalter, mehrere beim Geiſtlichen und 
einige ſchließlich bei den reicheren Bauern; die Pferde: 
ſtälle ſtanden voll von Wagenpferden, die Höfe und 
die Speicher von den verſchiedenartigſten Wagen. Um 
neun Uhr morgens riefen die Glocken zur Meſſe und 
alles drängte ſich zur neuen Steinkirche, die Kirila 
Petrowitſch erbaut hatte und die er alljährlich weiter 
ausſchmückte. Es hatte ſich eine ſo große Anzahl 
hochgeſtellter Gottesfürchtiger eingefunden, daß die 
einfachen Bauern keinen Platz in der Kirche hatten, 
ſondern gezwungen waren, vor der Kirchentür und 
innerhalb der Kirchenmauern zu ſtehen. Die Meſſe 
hatte noch nicht begonnen: man wartete noch auf 
Kirila Petrowitſch. Er fuhr ſchließlich in einem ſechs⸗ 
ſpännigen Wagen vor und begab ſich, von Marja 
Kirilowna geleitet, feierlich auf den ihm zukommenden 
Platz. Die Blicke der Männer und der Frauen hingen 
an dem jungen Mädchen, — die erſteren ſtaunten 


188 


Dubromstfij 


über ihre Schönheit, die zweiten betrachteten auf: 
merkſam ihre Kleidung. Die Meſſe begann; die zu 
Hauſe geſchulten Sänger ſangen auf dem Chor, Ki— 
rila Petrowitſch brummte mit und betete, ohne nach 
rechts oder links zu ſchauen, und verneigte ſich mit 
einer ſtolzen Demut bis zur Erde, als der Diakon 
ſchallend den Stifter des Tempels erwähnte. 

Die Meſſe war zu Ende. Kirila Petrowitſch näherte 
fi) dem Kreuz als erfter. Alle folgten ihm; die Бе: 
nachbarten Gutsbeſitzer machten ihm ihre Aufwartung, 
die Damen hingegen umringten Maſcha. Als Kirila 
Petrowitſch die Kirche verließ, lud er alle ein, bei ihm 
zu Mittag zu ſpeiſen, ſetzte ſich darauf in ſeinen 
Wagen und fuhr nach Hauſe. Sämtliche Anweſende 
folgten ihm alsbald. Die Zimmer füllten ſich immer 
dichter mit Gäſten; keine Minute verging, ohne daß 
neue Perſonen eintraten, die ſich nur mit Mühe 
zum Hausherrn durchzudrängen vermochten. Würde⸗ 
voll nahmen die Damen in einem Halbkreiſe Platz, 
und waren auch ihre Gewänder nach veralteter Mode, 
und waren ſie auch teils abgetragen, teils überladen, 
fo ſtrahlten doch alle Frauen von Perlen und Bril- 
lanten; die Männer dagegen drängten ſich um den 
Tiſch, auf dem der Kaviar und der Schnaps ſtanden 
und unterhielten ſich mit geräuſchvoller Mannigfal— 
tigkeit. Im Saal wurde derweil ein Tiſch für achtzig 
Perſonen gedeckt; die Bedienten eilten geſchäftig hin 
und her, ſtellten Flaſchen und Karaffen auf und [а 


189 


Dubromsfij 


teten die Tiſchdecken. Endlich rief der Haushofmeiſter: 
Das Effen iſt ſerviert — worauf ſich Kirila Petro- 
witſch als erſter zum Tiſch begab, hinter ihm die 
Damen, die mit großem Ernſt Platz nahmen, wobei 
ſie eine gewiſſe Altersordnung beobachteten; die jungen 


Mädchen drängten ſich ſchüchtern, wie eine ſcheue 


Schar von jungen Ziegen, und wählten ihre Plätze 
ſo, daß immer eine neben der andern zu ſitzen kam; 


ihnen gegenüber ſetzten ſich die Männer; am unteren 


Ende der Tafel nahm der Lehrer neben dem kleinen 


Saſcha Platz. 


Und nun begannen auch die Diener die Teller dem 


Rang entſprechend zu ſervieren, wobei ſie ſich in 


Zweifelsfällen von den Vermutungen Lavaters leiten 
ließen und Гай immer das Richtige trafen. Teller⸗ 
klappern und Löffelklirren verſchmolz mit dem ge⸗ 


räuſchvollen Geſpräch der Gäſte. Heiter ſah ſich Ki⸗ | 
rila Petrowitſch im Kreiſe um und genoß vollauf | 
das Glück des freigebigen Gaſtgebers. In dieſem Augen⸗ 


blick rollte ein ſechsſpänniger Wagen auf den Hof. „Wer 


iſts?“ fragte der Hausherr. „Anton Pafnutjitſch“, | 


enfgegneten ihm gleich mehrere. Die Tür öffnete fich 


und Anton Pafnutjitſch Spizyn, ein fetter Mann von 


etwa fünfzig Jahren mit einem runden und pocken⸗ 


narbigen Geſicht und einem Kinn mit dreifachem Fett⸗ 


polſter wälzte ſich lächelnd mit vielen Verbeugungen 
in den Saal, wobei er ganz offenſichtlich alle Vor⸗ 
bereitungen traf, eine Entſchuldigungsrede zu halten. 


190 


Du browsk 1j 


„Ein Gedeck!“ rief Kirila Petrowitſch: „Willkommen, 
Anton Pafnutjitſch, nimm Platz und erzähl uns, was 
das wohl bedeuten mag: du erſchienſt nicht zur Meſſe 
und kommſt ſogar zum Mittageſſen zu ſpät? Das 
ſieht dir ganz und gar nicht gleich, du biſt nicht nur 
gottesfürchtig, ſondern du liebſt auch ordentlich zu 
ſpeiſen.“ — „Entſchuldigung,“ entgegnete Anton 
Pafnutjitſch, wobei er die Serviette ins Knopfloch 
ſeines erbſenfarbenen Leibrockes knüpfte: „Entſchul⸗ 
digung, Väterchen, Kirila Petrowitſch, ich habe mich 
rechtzeitig auf den Weg gemacht, doch kaum hatte ich 
zehn Werſt zurückgelegt, als plötzlich das Eiſen am 
Vorderrad entzweiging — was will man da tun? 
Zum Glück war ein Dorf in der Nähe, aber bis ich 
hinkam und einen Schmied erwiſchte und der Schaden 
irgendwie repariert war, vergingen dennoch drei 
Stunden, da war nichts zu wollen. Den nächſten 
Weg durch den Wald von Kiſtenjowka zu nehmen, 
traute ich mich nicht, mithin mußte ich einen Umweg 
machen.“ — „Aha!“ unterbrach ihn Kirila Petro— 
witſch, „du gehörſt, ſcheints, nicht gerade zur tapferen 
Kompanie; wovor fürchteſt du dich eigentlich?“ — 
„Wovor ich mich fürchte, Väterchen, Kirila Petro- 
witſch? vor dem Dubrowskij fürchte ich mich; wenn 
man Pech hat, fällt man ihm eins zwei drei in die 
Klauen. Er iſt ein gewandter Junge und läßt ſich ſo 
leicht nichts entgehen; mich aber dürfte er unter Шт: 
ſtänden gleich zweimal ſchinden wollen.! „Weshalb 


191 


Dubromsfij 


denn dir, Bruder, fo eine Auszeichnung?“ „Weshalb 
mir, Väterchen, Kirila Petrowitſch? nun ſehr einfach, 
wegen des Prozeſſes des verſtorbenen Andrej Gawri⸗ 
lowitſch. Habe ich nicht etwa Ihnen zu Gefallen, das 
heißt, nach Recht und Gewiſſen ausgeſagt, daß die 
Dubrowskijs an dem Beſitz von Kiſtenjowka keinerlei 


Recht haben, ſondern alles Ihrer Gnade verdanken, 


wofür der Verſtorbene (Gott habe ihn felig!) ver: 
ſprochen hat, mit mir kurzen Prozeß zu machen, und 
da fürchte ich nun, daß das Söhnchen vielleicht das 
Wort des Väterchens wird einlöſen wollen. Bis jetzt 
war mir Gott allerdings noch gnädig; er hat alles in 
allem nur einen meiner Speicher geplündert, aber 
ſchließlich könnte doch noch einmal das Herrſchafts— 
haus an die Reihe kommen.“ — „Na, und im Herr⸗ 
ſchaftshaus wird er ein feines Leben haben,“ meinte 
Kirila Petrowitſch: „das rote Schatullchen dürfte bis 
an den Rand gefüllt ſein, ſollte ich meinen.“ — 


„Schlimm, ſchlimm, Väterchen, Kirila Petrowitſch; 


einſt war es freilich voll, aber jetzt iſt es ganz leer ge | 


worden!“ — „Warum lügſt du mich an, Anton Paf⸗ 
nutjitſch? Wir kennen dich doch; was machſt denn 
du mit deinem Gelde? Du lebſt in deinem Hauſe wie 


ein Schwein, haſt niemals Gäſte, ſchindeſt deine Bauern 


— nichts als ſparen tuſt du, das iſt deine ganze Be⸗ 
ſchäftigung.“ — „Sie belieben immer, Ihre Späßchen 
zu machen, Väterchen, Kirila Petrowitſch,“ murmelte 
Anton Pafnutjitſch lächelnd, „wir haben uns in letzter 


192 


Dubrowskij 


Zeit, weiß Gott, ruiniert,“ — und hierbei rückte Anton 
Pafnutjitſch einer fetten Paſtete zu Leibe, um den Witz 
des Hausherrn hinunterzuſchlucken. Kirila Petrowitſch 
ließ von ihm ab und wandte ſich zu dem neuen Фо: 
lizeileutnant, der zum erſtenmal hier zu Gaſte war und 
am untern Ende der Tafel neben dem Lehrer ſaß. 

„Nun, mein Herr Polizeileutnant, willſt du uns 
nicht deinen Mut zeigen: fang doch mal den Du— 
bromstij.“ 

Der Polizeileutnant wurde verlegen, verneigte fich, 
lächelte, ſtotterte und brachte endlich nur dies eine 
hervor: „Wir werden uns Mühe geben, Exzellenz.“ 

„Hm! Mühe geben. Wie lang ſchon gebt ihr euch 
Mühe, unſere Gegend von den Räubern zu ſäubern. 
Aber keiner verſteht es, das Ding richtig anzupacken. 
Ihr habt übrigens recht, wozu auch ihn fangen? 
Dubrowskijs Räubertaten ſind ein wahrer Gottes— 
ſegen für die Polizei: Dienſtreiſen, Unterſuchungen, 
Zuſchüſſe, da fällt einem das Geld ja von ſelber in 
die Taſche. Man kann ihn nicht erwiſchen! Wozu 
auch einen ſolchen Wohltäter packen? Iſt es nicht 
wahr, mein Herr Polizeileutnant?“ 

„Die reine Wahrheit, Exzellenz,“ entgegnete der 
völlig beſtürzte Polizeileutnant. 

„So, ſo, na ich ſeh ſchon; ich werde mich ſelber 
dahinter machen müſſen, ohne erſt auf die Hilfe der 
hieſigen Obrigkeit zu warten.“ 

Die Gäſte brachen in ein Gelächter aus. 


P. 1 13 
193 | 


Dubromsfij 


„Ich lob mir deine Aufrichtigkeit,“ ſprach Kirila 
Petrowitſch weiter, „dennoch tut es mir leid, daß der 
vormalige Polizeileutnant Taras Alexejewitſch hin iſt; 
wenn ſie den nicht verbrannt hätten, würde es jetzt 
bei uns mehr Ordnung geben. Was hört man übrigens 
Neues von Dubrowskij? Wo hat man ihn zum letzten 
Male geſehen?“ 

„Er war bei mir, Kirila Petrowitſch,“ ſummte die | 
Stimme einer dicken Dame, „am vorigen Dienstag 
ſpeiſte er bei mir zu Mittag.“ | 

Alle Blicke hefteten [14 auf Anna Sſawiſchna Glo⸗ 
bowa, eine Witwe von ſchlichter Lebensart, die von 
allen Leuten ihres gutmütigen und luſtigen Charakters 
wegen gern geſehen wurde. Alle warteten voll Neu⸗ 
gierde auf ihre Erzählung. 

„Ich muß zuvor erzählen, daß ich meinen Verwalter 
vor drei Wochen mit einem Brief an meinen Wanja 
zur Poſt ſchickte. Ich verwöhne zwar meinen Sohn 
nicht ſehr und wäre auch, wenn ich es wollte, nicht in 
der Lage, ihn zu verwöhnen; aber Sie werden ja 
ſelber wiſſen, daß man Gardeoffizieren einen ordent⸗ 
lichen Zuſchuß geben muß, und ſo teile ich mich denn 
mit meinem Wanja in meine Einkünfte, ſo gut ich 
eben kann. Ich ſchickte ihm dieſes Mal zweitauſend 
Rubel; freilich mußte ich mehrfach an Dubrowskij 
denken, aber anderer ſeits dachte ich auch: die Stadt 
iſt doch ganz in der Nähe, es ſind ja keine ſieben Werſt 
bis dahin, mit Gottes Hilfe wird es vielleicht diesmal 


194 


Du browsk 1 


gehen. Aber was geſchah: am Abend kehrte mein 
Verwalter bleich, abgeriſſen und zu Fuß zurück. Ich 
ſtöhnte nur: „Was iſt los? Was iſt mit dir geſche⸗ 
hen?“ Darauf er: „Mütterchen, Anna Sſawiſchna, 
die Räuber haben mich geplündert und mich Гай um: 
gebracht. Dubrowskij ſelber war mit dabei, er wollte 
mich aufhängen, aber ſchließlich tat ich ihm leid und 
er ließ mich ziehen. Doch hat er mir alles abgenommen, 
ſogar das Pferd und den Wagen.“ Ich wurde ganz 
ſtarr vor Schreck. Himmliſcher Vater! Wie wird es 
jetzt meinem Wanja ergehen? Allein da ich es nicht 
ändern konnte, ſchrieb ich ihm einen zweiten Brief, 
in welchem ich ihm alles erzählte und ihm meinen 
Segen ohne einen Pfennig Geld ſchickte. 

„So verging eine Woche und eine andere. Eines 
Tages fährt ein Wagen in meinen Hof. Irgendein 
General erſucht mich, ihn zu empfangen; bitte fchön. 
Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren tritt ein, 
braungebrannt, mit ſchwarzen Haaren, Schnurrbart 
und Bart, das genaue Abbild von Kulnjow; er ſtellt 
fi) mir als Freund und Dienſtkamerad meines рег: 
ſtorbenen Gatten Iwan Andrejewitſch vor; er reiſe 
gerade durch dieſe Gegend und hätte es nicht über ſich 
bringen können, am Gut der Witwe vorüberzufahren, 
denn er wiſſe, daß ich hier lebe. Ich bewirtete ihn, 
ſo gut es gehen wollte, plauderte mit ihm von dieſem 
und jenem und kam endlich auch auf Dubrowskij zu 
ſprechen. Ich klagte ihm mein Leid. Mein General 


195 


Dubromsfij 


ſchaute finſter. „Sonderbar,“ ſagte er: „Ich habe 
immer gehört, daß Dubrowskij durchaus nicht jeder⸗ 
mann überfällt, ſondern immer nur die, die dafür 
bekannt ſind, daß ſie reich ſeien, und auch mit denen 


teilt er jedesmal redlich und nimmt ihnen nicht etwa 


alles weg. Einen Mord aber hat ihm noch niemand 


nachgeſagt; könnte es nicht ſein, daß das Ganze nichts 


als ein Schwindel iſt? Befehlen Sie doch, den Ver⸗ 


walter rufen zu laſſen.“ Man holte den Verwalter. 
Er erſchien. Kaum ſah er den General, erſtarrte er ö 
wie eine Bildſäule. „Erzähl uns mal, Brüderchen, 
auf welche Weiſe Dubrowskij dich beraubt hat und 
warum er dich aufhängen wollte?“ Mein Verwalter 
bebte am ganzen Leibe und fiel dem General zu Füßen. 
„Väterchen verzeih mir: die Verſuchung war zu groß 


1 


. ich habe gelogen.“ — „Wenn dem fo iſt,“ ent⸗ 
gegnete der General: „Dann erzähl mal der gnädigen 
Frau, wie ſich alles zugetragen hat, ich werde zuhören.“ 
Der Verwalter war immer noch ganz aus dem Häus⸗ 


chen. „Nun, erzähl doch,“ fuhr der General fort: 


„Wo bift du Dubrowskij begegnet?“ — „Bei den 


zwei Fichten, Väterchen, bei den zwei Fichten.“ — 
„Und was ſagte er zu dir?“ — „Er fragte mich: 
Wem gehörſt du, wohin fährſt du und warum?“ — 
„Nun und danach?“ — „Und danach forderte er 
mir den Brief und das Geld ab. Und natürlich gab 
ich ihm Brief und Geld.“ — „Und er?“ — „Nun, 
und ег... Väterchen, verzeih mir.“ — „Nun, was 


196 


Dubromsfij 


tat er denn?“ — „Er gab mir das Geld und den 
Brief zurück und ſagte: zieh mit Gott und übergib es 
der Poſt.“ — „Und weiter!“ — „Väterchen, ver: 
zeih mir!!“ — „Ich werde mit dir, mein Täubchen, 
kurzen Prozeß machen,“ ſagte der General drohend: 
„Befehlen Sie doch, gnädige Frau, den Koffer dieſes 
Betrügers zu unterſuchen und überantworten Sie ihn 
darauf mir, ich will ihm eine Lehre erteilen. Wiſſen 
Sie nicht, daß Dubrowskij ſelber ein Gardeoffizier 
war; wie könnte er einen Kameraden ſchädigen wol— 
len?“ Ich erriet natürlich alsbald, wer feine Exzellenz 
war: ich brauchte ihn nicht erſt deswegen zu befragen. 
Die Kutſcher banden den Verwalter an den Kutſch— 
bock, und bald darauf fanden wir das Geld; der Ge— 
neral ſpeiſte mit mir, fuhr jedoch gleich nach dem 
Eſſen fort und nahm den Verwalter mit. Den Ver— 
walter fand man am nächſten Tage im Walde ziemlich 
zer ſchunden an den Stamm einer Eiche gebunden.“ 

Stumm hatten alle Anna Sſawiſchnas Erzählung 
angehört, zumal die jungen Mädchen. Einige von 
ihnen nährten insgeheim eine gewiſſe Neigung für 
Dubrowskij, weil fie in ihm einen romantiſchen Helden 
ſahen, und ganz beſonders tat das Marja Kirilowna, 
dieſe heißblütige Träumerin, aufgewachſen und er— 
zogen im Bann der geheimnisvollen Schreckenstaten 
in den Romanen der Radcliffe. 

„Du nimmſt alſo an, Anna Sſawiſchna, daß Du— 
browskij ſelber bei dir war?“ fragte Kirila Petro— 


197 


Dubromsfij 


witſch: „Du täuſchſt dich fehr. Ich weiß freilich nicht, 
wer bei dir zu Gaſte war, aber Dubrowskij war es 
beſtimmt nicht.“ 

„Wie, Väterchen, nicht Dubrowskij? Ja, gibt es 
denn außer ihm noch jemand, der auf die Landſtraße 
geht und die Vorüberfahrenden anhält und durch⸗ 
ſucht?“ 

„Das weiß ich nicht, aber Dubrowskij war es be- 
ſtimmt nicht. Ich kann mich noch an ihn erinnern, 
als er ein Kind war, ich weiß zwar nicht, ob nicht 
ſeine Haare inzwiſchen ſchwarz geworden ſind, damals 
war er ein Knabe mit einem blonden Lockenkopf; 
dieſes eine jedoch weiß ich ganz zuverläſſig, daß Du⸗ 
browskij nur fünf Jahre älter iſt als meine Maſcha, 
und mithin kann er unmöglich fünfunddreißig Jahre 
alt ſein, ſondern höchſtens dreiundzwanzig.“ 

„Stimmt auffällig, Exzellenz,“ warf der Polizei⸗ 
leutnant ein: „Ich habe das Signalement Wladimir 
Dubrowskijs in der Taſche. Darin wird ausdrücklich 
vermerkt, daß er dreiundzwanzig Jahre alt iſt.“ 

„Aha!“ rief Kirila Petrowitſch: „Übrigens, lies 
uns doch das Papier vor, wir wollen es hören: es 
iſt für uns ganz gut, mit ſeinem Signalement bekannt 
zu werden, vielleicht kommt er uns mal unter die 
Augen, dann können wir ihn greifen.“ 

Der Polizeileutnant zog ein ziemlich verſchmiertes 
Blatt Papier aus der Taſche, öffnete es würdevoll 
und las mit ſingendem Tonfall: 


198 


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Dubrowsk ii 


„Dubrowskijs Signalement, zuſammengeſtellt nach 
den Ausſagen ſeines vormaligen Gutsgeſindes: 

Alter zweiundzwanzig Jahre, Wuchs mittelhoch, 
Geſichtsfarbe rein, Bart gefchoren, Augen braun, 
Haare blond, Naſe gerade. Beſondere Kennzeichen: 
nicht vorhanden.“ 

„Iſt das alles?“ fragte Kirila Petrowitſch. 

„Das iſt alles, antwortete der Polizeileutnant, 
das Papier zuſammenfaltend. 

„Gratuliere, mein Herr Polizeileutnant. Ein aus— 
gezeichnetes Papier! Nach dieſem Signalement wird 
es euch ſicherlich nicht ſchwer fallen, Dubrowskij zu 
finden! Gibt es denn überhaupt einen, der nicht 
mittelhoch iſt, nicht blondes Haar hat, eine gerade 
Naſe und braune Augen? Ich wette mit dir, was 
du willſt: drei Stunden lang wirſt du dich mit 
dem Dubrowskij unterhalten und nicht erraten, 
mit wem Gott dich zuſammengeführt hat. Ja, 
man kann wohl ſagen, geſcheite Köpfe haben die 
Beamten!“ 

Der Polizeileutnant ſteckte demütig ſein Papier in 
die Taſche und machte ſich an die Gans mit Kraut; 
die Diener hatten derweil ſchon mehrere Male die 

Runde gemacht und jedem Gaſt mehrfach das Glas 
gefüllt. Nun erſchienen auch einige Flaſchen ruſſiſchen 
Schaumweins, die mit vielem Geräuſch entkorkt und 
wohlwollend unter der Bezeichnung Champagner be— 
grüßt wurden; die Geſichter röteten ſich bereits, die 


199 


Dubromsfij 


Geſpräche wurden lauter und luſtiger und verloren 
nach und nach den Zuſammenhang. 

„Wahrhaftig,“ fuhr Kirila Petrowitſch fort, „einen 
ſolchen Polizeileutnant wie den verſtorbenen Taras 
Alexejewitſch werden wir nicht ſo bald wieder haben! 
Der ſchoß keinen Bock und Maulaffen hielt er auch 
nicht feil. Zu ſchade, daß der brave Junge verbrannt р 
ift, der hätte keinen aus der ganzen Bande ausgelaſſen. 
Der hätte fie alle gepackt, und auch Dubrowskij felber = 
wäre ihm nicht entkommen. Freilich hätte Taras Alexe⸗ 
jewitſch ruhig Geld von ihm genommen, hätte ihn 
aber trotzdem nicht freigelaſſen, das war fo die Art 
des Verſtorbenen. Aber ich ſehe, es iſt nichts dran zu 
ändern; ich ſeh, daß ich ſelber dieſe Sache anpacken 
und mit meinem Hausgeſinde gegen die Räuber ins 


Feld ziehen muß. Zunächſt will ich einmal zwanzig 
meiner Burſchen abkommandieren, damit ſie das Diebe: = 


wäldchen ſäubern; meine Jungens ſind nicht verzagt, 
von denen geht jeder einzeln auf einen Bären los, da 


wird er wohl auch vor einem Räuber nicht zurück⸗ 


ſchrecken.“ 2 
„Wie geht es denn Ihrem Bären, Väterchen, Kir 
rila Petromitfch?“ fragte Anton Pafnutjitſch, der fi о — 
bei dieſen Worten an ſeinen zottigen Bekannten und $ 
einige Späße erinnerte, deren Opfer er ſeinerzeit ge- 
worden war. * 
„Miſcha wünſcht 3 zu leben,“ entgegnete Ki⸗ 
rila Petrowitſch, „er ſelber ſtarb eines ruhmvollen 


200 


Du browskij 


Todes von der Hand des Gegners. Dort ſitzt fein Be: 
zwinger!“ Kirila Petrowitſch zeigte bei dieſen Worten 
auf den franzöſiſchen Lehrer. „Er hat deinen .. 
mit Erlaubnis geſagt ... gerächt; erinnerſt du dich 
noch?“ 

„Wie ſollte ich das wohl vergeſſen?“ meinte Anton 
Pafnutjitſch und kratzte ſich: „freilich denk ich noch 
ſehr daran. Miſcha iſt alſo geſtorben — ſchade um 
Miſcha, bei Gott, ſchade! So ſpaßhaft war er! So 
geſcheit! So einen Bären gibts nicht ſo bald wieder. 
Und warum hat der Musje ihn denn getötet?“ 

Mit ungemeiner Genugtuung verbreitete ſich Kirila 
Petrowitſch alsbald über die ruhmvolle Tat feines 
Franzoſen, war ihm doch die glückliche Eigenſchaft 
im hohen Grade zu eigen, mit allem, was ihn umgab, 
zu prahlen. Aufmerkſam hörten die Gäſte die Er— 
zählung von Miſchas Tod an und ſchauten erſtaunt 
zu Deforges hin, der gar nicht zu ahnen ſchien, daß 
ſich das Geſpräch ſeiner Tapferkeit zugewandt hatte, 
ſondern ruhig auf feinem Platz {аб und feinem тип: 
teren Zögling moraliſche Vorhaltungen machte. 

Nachdem es drei Stunden gedauert hatte, ging 
auch dieſes Mittageſſen zu Ende; der Hausherr legte 
ſeine Serviette auf den Tiſch, man erhob ſich und ging 
ins Wohnzimmer, in dem bereits der Kaffee und die 
Karten warteten, aber auch die Fortſetzung des Trink— 
gelages, das ſo ruhmvoll im Speiſezimmer begonnen 
worden war. | 


201 


Dubromsfij 


Zehntes Kapitel 


Einige der Gäſte beabſichtigten, bereits um fieben 


Uhr abends abzureiſen, allein der Hausherr, den der 
Punſch in heiterſte Stimmung gebracht hatte, befahl, 
die Tore zu ſchließen, und erklärte, daß er keinem bis 
zum folgenden Morgen geſtatte, den Gutshof zu ver- 
laſſen. Bald darauf erſchallte Muſik, es öffneten ſich 
die Türen zum Saal und der Ball begann. Der Haus⸗ 
herr und die ihm Näherſtehenden ſaßen in einer Ecke, 
leerten Glas um Glas und freuten ſich am Vergnügen, 
das die Jugend empfand. Die alten Frauen ſpielten 
Karten. Wie überall, wo nicht etwa zufällig eine 
Ulanenbrigade ihre Quartiere aufgeſchlagen hat, gab 
es auch hier weniger Kavaliere als Damen; darum 
wurden alle Männer, die einigermaßen als Tänzer 
tauglich erſchienen, dazu kommandiert. Aus ihrer Schar 
ſtach der Lehrer hervor; die jungen Damen wählten 
immer nur ihn und meinten, daß es ſich mit ihm am 
beſten walzen laſſe. Einige Male wirbelte er auch 
mit Marja Kirilowna durch den Saal und dann 
folgten dem Paare ſpöttiſch die Augen der anderen 
Fräulein. Es ging bereits gegen Mitternacht, als 
der ſchläfrige Hausherr den Tanz abbrach und den 
Befehl gab, das Abendeſſen zu ſervieren; er ſelber 
begab ſich zur Ruhe. 

Kirila Petrowitſchs Abweſenheit verlieh der ganzen 
Geſellſchaft mehr Freiheit und Leben; die Kavaliere 


202 


Dubromsfij 


wagten es, ſich neben die Damen zu ſetzen; die jungen 
Damen lachten und flüſterten mit ihren Nachbarn; 
dagegen unterhielten ſich die älteren Damen laut über 
den Tiſch hinüber. Die Männer tranken, ſtritten mit⸗ 
einander und lachten; kurzum, das Abendeſſen verlief 
außergewöhnlich heiter und ließ eine Menge von ver— 
gnügten Erinnerungen zurück. 

Nur ein einziger Menſch nahm nicht ап der all: 
gemeinen Luſtigkeit teil. Finſter und ſchweigſam ſaß 
Anton Pafnutjitſch auf feinem Platz, er aß zerſtreut 
und machte einen ungewöhnlich beunruhigten Eindruck. 
Die Geſpräche über das Räuberunweſen hatten ihn 
ungemein aufgeregt. Wir werden bald ſehen, daß er 
allerdings Grund genug hatte, ſie zu fürchten. 

Als Anton Pafnutjitſch Gott zum Zeugen dafür ап: 
gerufen hatte, daß die rote Schatulle tatſächlich leer ſei, 
log er nicht und ließ ſich keine Sünde zuſchulden kommen; 
denn freilich war die rote Schatulle leer: die vormals 
in ihr aufbewahrten Banknoten waren in eine Leder— 
taſche gewandert, die er jetzt unter dem Hemde auf 
ſeiner Bruſt trug. Nur durch dieſe Vorſichtsmaßregel 
konnte er ſeine ewige Furcht und ſein Mißtrauen 
gegen alle ein wenig lindern. Da er ſich heute де: 
zwungen ſah, in einem fremden Hauſe zu übernachten, 
fürchtete er, daß ihm ſein Nachtlager vielleicht in 
einem abgelegenen Zimmer angewieſen werden würde, 
wohin leicht Diebe dringen konnten; ſeine Augen 
ſuchten nach einem zuverläſſigen Schlafgeſellen und 


203 


Dubromsfij 


wählten endlich Deforges aus. Sein Außeres, das 
von Kraft ſprach, aber noch mehr ſeine Tapferkeit, 
die er bei der Begegnung mit dem Bären bewieſen 
hatte, an welchen der arme Anton Pafnufjitfch nicht 
ohne Erſchauern denken konnte, waren bei dieſer 
Wahl maßgebend geweſen. Als man vom Tiſch auf— 
ſtand, begann Anton Pafnutjitſch Kreiſe um den jungen 
Franzoſen zu ziehen, räuſperte ſich, hüſtelte und wandte 
ſich ſchließlich mit folgender Erklärung an ihn. 

„Hm hm! wäre es nicht möglich, Musje, in Ihrem 
Zimmer zu übernachten, denn ſiehſt du mal ...“ 

„Que desire, monsieur?* fragte Deforges mit einer 
höflichen Verbeugung. % 

„Ach, du Schwerenot, du verſtehſt ja noch nicht 
ruſſiſch, Musje. Schö wö mua (фе wu kuſche, ver- 
ſtehſt du mich.“ 

„Monsieur, tres volontier,“ antwortete Deforges; 
„veuillez donner des ordres en conséquence.“ 

Sehr befriedigt von ſeiner Kenntnis der franzöſiſchen 
Sprache eilte Anton Pafnutjitſch fort, um die not⸗ 
wendigen Anordnungen zu treffen. 

Die Gäſte ſagten einander Lebewohl und ein jeder 
begab ſich darauf in das Zimmer, das ihm angewieſen 
worden war; Anton Pafnutjitſch dagegen folgte dem 
Lehrer zum Flügel. Die Nacht war dunkel. Deforges 
wies ihm mit einer Laterne den Weg; Anton Paf: 
nutjitſch folgte ihm ziemlich tapfer und preßte nur 
zuweilen die Hand an die Bruſt, um ſich zu über⸗ 


204 


Dubromsfij 


zeugen, daß das Täſchchen mit dem Gelde noch рог: 
handen war. | 

Als fie im Flügel angelangt waren, zündete der 
Lehrer eine Kerze an und ſie zogen ſich aus; Anton 
Pafnutjitſch ging dabei im Zimmer auf und ab, prüfte 
die Schlöſſer und die Fenſter und ſchüttelte den Kopf, 
da die Beſichtigung ihm nur wenig troſtreich erſchien. 
Die Türe war nämlich nur durch einen Riegel зи рег: 
ſperren und die Fenſter hatten nicht einmal doppelte 
Rahmen. Er verſuchte, Deforges ſein Leid zu klagen, 
doch reichte ſeine Kenntnis der franzöſiſchen Sprache 
bei weitem nicht aus, etwas ſo Kompliziertes zu er— 
klären. Der Franzoſe verſtand ihn nicht und Anton 
Pafnutjitſch mußte wohl oder übel ſein Jammern 
einſtellen. Die Betten ſtanden einander gegenüber; 
die beiden legten ſich nieder und der Lehrer löſchte das 
Licht aus. 

„Purkua wu tuſche, purkua wu tuſche?“ rief Anton 
Pafnutjitſch, indem er nicht ohne Mühe das ruſſiſche 
Verbum für auslöſchen auf franzöſiſche Art konju— 
gierte: „Ich kann nicht dormir im Dunkeln.“ 

Aber Deforges begriff ihn nicht und wünſchte ihm 
lediglich eine geruhſame Nacht. 

„Verdammter Heide!“ brummte Spizyn, ſich feſt 
in die Decke wickelnd: „Wozu war es nötig, die Kerze 
auszulöſchen? Er wird wenig Freude davon haben. 
Ich kann doch nicht ohne Licht ſchlafen. Musje, 
Musje,“ fuhr er fort: „Schö wö awek wu parle.“ 


205 


Dubromsfij 


Allein der Franzoſe gab keine Antwort und begann 
bald darauf zu ſchnarchen. 

„Da ſchnarcht er ſchon, Beſtie von einem ran: 
zofen —“ überlegte Anton Pafnutjitſch, — „und bei 
mir iſt kein Gedanke an Schlafen: eins, zwei, drei 
könnten Diebe durch die offene Türe eindringen oder 
durchs Fenſter ſteigen, ihn aber, dieſe Beſtie, weckt 
man nicht einmal mit Kanonen auf. Musje, he 
Musje! — hol dich doch der Teufel.“ 

Anton Pafnutjitſch verſtummte, Müdigkeit und 
Weindünſte überwältigten nach und nach feine Элай: 
lichkeit; er nickte ein und bald darauf überwältigte ihn 
ein tiefer Schlaf. 

Ein ſeltſames Erwachen ſtand ihm bevor. Er fühlte 
noch im Schlaf, daß jemand leiſe ſeinen Hemdkragen zu⸗ 
rück ſchlug. Anton Pafnutjitſch öffnete die Augen und ſah 
beim bleichen Licht des Herbſtmorgens Deforges vor ſich 
ſtehen: in der einen Hand hielt der Franzoſe die Taſchen⸗ 
piſtole, während er mit der andern das verheißungsvolle 
Täſchchen abknöpfte. Anton Pafnutjitſch war ſtarr. 


„Keß kö fe, Musje, keß kö fe?“ rief er mit bebender 


Stimme. — „Still! Schweigen!“ entgegnete der Lehrer 
und ſprach auf einmal das reinſte Ruſſiſch: „Schweigen! 
oder Sie find verloren. Ich bin Dubrowskij.“ 


Elftes Kapitel 


Es wird nunmehr für uns Zeit, den Leſer um Er: 
laubnis zu bitten, die letzten Vorfälle in unſerer Er⸗ 


206 


Dubromsfij 


zählung durch vorhergegangene Umſtände erklären 
zu dürfen, die zu berichten wir noch nicht in der Lage 
waren. 

Auf der Station“ ſaß im Haufe des Poſthalters, 
von dem bereits die Rede war, in ſeiner Ecke ein Vor⸗ 
überreiſender, ſein Ausſehen war ſtill und geduldig, 
ſo daß man in ihm ſogleich eine Zivilperſon oder den 
Ausländer erkennen mußte, das heißt, einen Menſchen, 
deſſen Stimme auf der Poſt nicht beachtet wird. Sein 
Wägelchen ſtand auf dem Hof, es mußte friſch ge— 
ſchmiert werden. Ein kleines Köfferchen ruhte darin, 
der magere Beweis für ein durchaus nicht genügendes 
Vermögen. Der Reiſende verlangte weder Tee noch 
Kaffee, ſondern ſchaute durchs Fenſter und pfiff zum 
gewaltigen Mißvergnügen der Poſthaltersfrau, die 
hinter einer ſpaniſchen Wand ſaß, vor ſich hin. 

„Da hat uns Gott einen Pfiffikus geſchickt,“ ſagte 
ſie halblaut: „Wie der pfeift! möge er doch platzen, 
der verdammte Heide.“ 

„Warum denn?“ meinte der Poſthalter: „Was 
machts denn? Mag er doch pfeifen.“ 

„Was es macht?“ entgegnete geärgert feine Gat: 
tin: „Iſt dir denn die ſchlimme Vorbedeutung etwa 
unbekannt?“ 

„Welche Vorbedeutung? Daß man mit Pfeifen 
das Geld aus dem Hauſe treibt? Ei, Pachomowna! 
bei uns kann man pfeifen, wie lange man Luſt hat, 
Geld gibts doch keins.“ 


207 


Dubromsfij 


„Laß ihn doch endlich abfahren, Sſidorytſch. Macht 
es dir vielleicht Spaß, ihn noch lange hier zu Бе: 
halten? Gib ihm endlich Pferde und mag er ſich zum 
Teufel ſcheren.“ 


„Der kann noch gut warten, Pachomowna; im 


Stall hab ich nur drei Dreigeſpanne, das vierte ruht 

gerade aus. Wer weiß, ob nicht am Ende noch wich⸗ 
tige Reiſende kommen; ich will wegen dieſes Franzoſen 
nicht meinen Hals riskieren. Horch nur! So iſt es 
auch! da kommt ſchon wer! Oho! und wie ſchnell! 


am Ende gar ein General?“ 


Der Wagen hielt vor der Tür. Ein Diener ſprang 
vom Bock, öffnete die Wagentür und gleich darauf 
trat ein junger Mann im Militärmantel und weißer 
Uniformmütze in das Zimmer des Poſthalters; der 
Diener folgte ihm, er trug eine Schatulle und ſtellte 


ſie aufs Fenſterbrett. 
„Pferde!“ rief der Offizier gebieteriſch. 


„Sofort!“ entgegnete der Poſthalter: „Darf ich 0 


um die Reiſeordre bitten.“ 

„Ich habe keine Reiſeordre. Ich reife für mich ... 
Erkennſt du mich vielleicht nicht?“ 

Der Poſthalter hatte es eilig und lief zum Stall, 
um die Kutſcher anzutreiben. Der junge Mann ging 
im Zimmer auf und ab und trat auch hinter die Гра: 
niſche Wand, wo er die Poſthaltersfrau leiſe fragte: 
„Wer iſt der andere Reiſende?“ 

„Weiß Gott,“ entgegnete die Poſthaltersfrau: „Ir⸗ 


208 


Dubromsfij 


gendein Französchen; jetzt wartet er bereits ſeit fünf 
Stunden auf Pferde und pfeift in einem fort. Ich 
hab ihn ſatt, den verdammten Kerl.“ 

Der junge Mann begann gleich darauf, ſich mit 
dem Reiſenden in franzöſiſcher Sprache zu unterhalten. 
„Wohin belieben Sie zu reiſen?“ fragte er ihn. 

„Zur nächſten Stadt,“ antwortete der Franzoſe: 
„Von dort muß ich zu einem Gutsbeſitzer, der mich, 
ohne mich je geſehen zu haben, als Lehrer angeſtellt 
hat. Ich glaubte eigentlich, daß ich bereits heute den 
Ort erreichen würde, aber der Herr Poſthalter hat es 
ſcheinbar anders entſchieden. In dieſem Land, mein 
Herr Offizier, iſt es ſehr ſchwierig, Pferde zu be⸗ 
kommen.“ 

„Und bei welchem von unſern Gutsbeſitzern treten 
Sie in Stellung?“ fragte der Offizier. 

„Bei Trojekurow,“ erwiderte der Franzoſe. 

„Bei Trojekurow? Wer iſt denn dieſer Troje- 
kurow?“ 

„Ma foi, monsieur, ich habe wenig Gutes von ihm 
gehört. Man ſagt, er ſei ein hochmütiger und eigen— 
artiger Herr, der ſeine Hausgenoſſen grauſam be— 
handelt, ſo daß keiner es lange bei ihm aushält, denn 
alle zittern, wenn ſie nur ſeinen Namen hören und 
mit den Lehrern (avec les outchitels) macht er ſchon 
gar keine Umſtände.“ 

„Geſtatten Sie mal! und trotzdem entſchloſſen Sie 
ſich, bei dieſem Ungeheuer Stellung zu nehmen?“ 

P. 1 


14 
209 


Dubromsfijf 


„Was tun, mein Herr Offizier? Er gibt mir einen 
guten Gehalt, dreitauſend Rubel im Jahr beifreiem Auf: 
enthalt. Es könnte ja möglich ſein, daß ich mehr Glück 
habe als die anderen. Ich habe eine alte Mutter: die 
Hälfte meines Gehaltes ſchicke ich ihr, damit ſie leben 
kann; der Reſt genügt mir, um mir in fünf Jahren 
ein kleines Kapital zu ſparen, das hinreichend groß 
iſt, mir für ſpäterhin die Unabhängigkeit zu ſichern, 
und dann bon soir, dann fahre ich nach Paris und 
fange einen kleinen Handel an.“ 

„Kennt Sie jemand im Haufe Trojekurows?“ 
fragte der Offizier. 

„Niemand,“ entgegnete der Lehrer: „Er hat mich 
engeftellt, weil einer feiner Moskauer Freunde, deſſen 
Koch mein Landsmann iſt, mich ihm empfohlen hat. 
Ich muß Ihnen geſtehen, daß ich eigentlich nicht die 
Abſicht hatte, Lehrer zu werden, urſprünglich wollte 
ich Konditor werden, aber man ſagte mir, daß in 
Ihrem Vaterland der Beruf des Lehrers unvergleich- 
lich viel vorteilhafter wäre ...“ 

Der Offizier ſchien etwas zu überlegen. „Hören 
Sie mal,“ unterbrach er den Franzoſen: „Was wür— 
den Sie dazu ſagen, wenn man Ihnen ſtatt dieſer 
ungewiſſen Zukunft zehntauſend Rubel in barer Münze 
verſprechen würde, mit der einzigen Bedingung, daß 
Sie ſich augenblicks nach Paris zurückbegeben?“ 

Erſtaunt blickte der Franzoſe den Offizier an und 
lächelte nur kopfſchüttelnd. 


210 


Dubromsfij 


„Die Pferde ſtehen bereit,“ rief der eintretende 
Poſthalter. 

Der Diener beſtätigte gleich darauf die Nachricht. 

„Schon gut,“ entgegnete der Offizier: „Verlaßt 
uns auf einen Augenblick.“ (Der Poſthalter und der 
Diener entfernten ſich.) „Es iſt kein Scherz,“ fuhr er 
darauf in franzöſiſcher Sprache fort: „Die zehntauſend 
Rubel kann ich Ihnen geben; ich verlange nichts weiter 
als Ihre Abreiſe und Ihre Papiere.“ 

Er öffnete bei dieſen Worten ſeine Schatulle und 
nahm mehrere Stöße von Banknoten heraus. 

Der Franzoſe ſtarrte ihn an. Er wußte nicht recht, 
was er denken ſollte. 

„Meine Abreiſe ... meine Papiere,“ wiederholte 
er erſtaunt: „da find meine Papiere ... aber Sie 
ſcherzen doch wohl? Was wollen Sie mit meinen 
Papieren?“ 

„Das geht Sie gar nichts an. Ich frage, ob Sie 
einverſtanden ſind, ja oder nein?“ 

Der Franzoſe, der immer noch nicht ſeinen Ohren 
trauen wollte, reichte die Papiere dem jungen Offizier, 
der ſie haſtig durchſah. 

„Ihr Paß ... ſehr gut; der Empfehlungsbrief ... 
wir wollen ſehen; der Geburtsſchein ... vortrefflich. 
Da haben Sie Ihr Geld, fahren Sie heim. Leben 
Sie wohl.“ 

Der Franzoſe ſtand da, als wäre er eingewurzelt. 
Der Offizier kehrte noch einmal zurück. 


211 


Dubrowski f 


„Ich habe das Wichtigſte vergeſſen: geben Sie mir 


Ihr Ehrenwort, daß dieſer Handel ganz unter uns 
beiden bleibt ... Ihr Ehrenwort darauf.“ 

„Mein Ehrenwort,“ entgegnete der Franzoſe ... 
„Aber meine Papiere? Was ſoll ich ohne die be— 
ginnen?“ 

„Sagen Sie in der erſtbeſten Stadt, durch die Sie 
kommen, daß Dubrowskij Sie beraubt habe, man 
wird Ihnen Glauben ſchenken und Ihnen die nötigen 
Dokumente ausſtellen. Leben Sie wohl; Gott helfe 
Ihnen, möglichſt ſchnell nach Paris zu kommen und 
Ihr Mütterchen in guter Geſundheit anzutreffen.“ 

Dubrowskij verließ das Zimmer, ſprang in ſeinen 
Wagen und jagte davon. 


Der Poſthalter ſchaute durchs Fenſter und wandte | 


ſich, als der Wagen verſchwunden war, zu feiner 


Frau mit folgenden Worten: „Pachomowna, weißt 


du? das war ja Dubrowskij.“ 


Hals über Kopf ſtürzte die Poſthaltersfrau ans | 
Senfter, aber es war ſchon zu ſpät: Dubrowskij war 
bereits fern. Sie ſchalt auf ihren Mann: „Du Gott⸗ 


loſer, warum haſt du mir das nicht früher geſagt, 
damit ich mir den Dubrowskij wenigſtens hätte an: 
ſehen können, jetzt kann es lange dauern, ehe er wieder 
hier vorbeikommt. Gewiſſenlos biſt du, wahrhaftig, 
ganz und gar gewiſſenlos!“ 

Immer noch ſtand der Franzoſe wie angewurzelt. 
Das Abkommen mit dem Offizier und das viele Geld 


212 


Dubromstij 


— es war ihm alles wie ет Traumgeſicht. Aber die 
Banknotenſtöße waren da, ſie ſtaken in ſeiner Taſche 
und ſprachen bedeutſam von der Wirklichkeit dieſer 
erſtaunlichen Begebenheit. 

Endlich entſchloß er ſich, Pferde zu nehmen, um 
zur nächſten Stadt zu fahren. Der Kutſcher fuhr ihn 
im Schritt und ſo kamen ſie erſt nachts in die Nähe 
der Stadt. 

Noch ehe ſie die Stadtgrenzen erreicht hatten, an 
der an der Stelle eines Wachtpoſtens nichts als ein 
zerfallenes Schilderhäuschen ſtand, befahl der Fran— 
zoſe dem Kutſcher haltzumachen, kletterte aus dem 
Wägelchen und ging, nachdem er dem Kutſcher durch 
Zeichen zu verſtehen gegeben hatte, daß er ihm das 
Wägelchen nebſt dem Köfferchen als Trinkgeld ſchenke, 
zu Fuß weiter. Der Kutſcher war über dieſe Freigebig— 
keit genau ſo erſtaunt wie vor kurzem der Franzoſe 
über Dubrowskijs Vorſchlag. Doch da er aus allem 
nur den einen Schluß ziehen konnte, daß der Franzoſe 
plötzlich verrückt geworden ſei, bedankte er ſich mit 
eifrigen Verbeugungen und fuhr, weil er es nicht für 
wohlgetan hielt, ſich in der Stadt zu zeigen, zu einem 
ihm hinreichend bekannten Vergnügungsetabliſſement, 
deſſen Beſitzer ſein Freund war. Dort verbrachte er 
die ganze Nacht und begab ſich erſt am Morgen des 
anderen Tages auf dem Dreigeſpann, aber ohne Köf— 
ferchen und Wägelchen mit gedunſenem Antlitz und 

rot unterlaufenen Augen nach Hauſe. 


213 


Dubromsfij 


Dubrowskij hingegen fuhr, nachdem er ſich, wie A 
wir gefehen haben, auf diefe Weiſe in den Beſitz der 
Papiere des Franzoſen geſetzt hatte, dreiſt zu Troje⸗ 
kurow und ließ ſich in deſſen Hauſe nieder. Welcher й 


Art auch feine geheimen Abſichten waren (wir werden 


von ihnen weiterhin hören), in ſeinem Verhalten war 
nicht das geringſte Anſtößige zu gewahren. Zwar be⸗ 


faßte er ſich wenig mit der Erziehung des jungen | 
Saſcha, er ließ ihm volle Freiheit, dumme Streiche zu 
machen, und nahm es auch nicht zu genau mit den 


Aufgaben, die er ihm mehr der Form halber auf- ; 


alege, dafür aber verfolgte er mit um fo größerer | 


Aufmerkſamkeit die muſikaliſchen Erfolge feiner Schü⸗ 


lerin und konnte oft ganze Stunden mit ihr am Klavier р 


verbringen. Alle im Haufe liebten den jungen Lehrer. 
Kirila Petrowitſch liebte ihn, weil er ſo kühn und 
geſchickt auf der Jagd war, Marja Kirilowna liebte 
ihn, weil er grenzenlos eifrig war und ihr ſklaviſch N 
ergeben, Saſcha — weil er ſich nachſichtig зи all 
feinen Schelmenſtreichen verhielt, und das Geſinde, 
weil er von einer Freigebigkeit war, die augenſchein⸗ 
lich nicht recht mit ſeinem Vermögen übereinſtimmte. 
Es machte allen den Eindruck, daß auch er der Familie 
ſehr zugetan ſei und ſich bereits als Mitglied derſelben 
betrachte. 

Seit dem Tage ſeines Eintrittes in den Lehrerberuf 
bis zu jenem bemerkenswerten Feſt war etwa ein 
Mongat verſtrichen, und noch ahnte niemand, daß 


214 


Dubrowsk ij 


hinter dem beſcheidenen jungen Franzoſen der grau— 
ſame Räuber ſteckte, deſſen Namen allein ſchon ge— 
nügte, um alle Gutsbeſitzer im Umkreiſe zu erſchrecken. 
Dubrowskij weilte während dieſer ganzen Zeit beftän- 
dig in Pokrowskoje, trotzdem aber wollte, genährt 
von der erfinderiſchen Phantaſie der Dorfbewohner, 
das Gerücht über feine Räubertaten nicht verſtummen; 
es war freilich auch möglich, daß ſeine Bande trotz 
der Abweſenheit ihres Führers ihr Unweſen fortſetzte. 
Diesmal freilich, da er gezwungen war, mit einem 
Mann, den er für ſeinen perſönlichen Feind und 
einen der Hauptſchuldigen an all dem Jammer, der 
ihn betroffen, halten mußte, im gleichen Zimmer 
zu übernachten, konnte Dubrowskij der Verſuchung 
nicht länger widerſtehen. Das Vorhandenſein der 
Geldtaſche war ihm bekannt geworden und ſo be— 
ſchloß er, ihrer habhaft zu werden. Und wir ſahen 
ja bereits, in welchen Schrecken er den armen Anton 
Pafnutjitſch durch ſeine unerwartete Verwandlung 
aus dem Lehrer in den Räuber verſetzt hatte. 


Zwölftes Kapitel 


Am Morgen erſchienen die Gäſte, die in Pokrows— 
koje übernachtet hatten, gegen neun Uhr im Wohn: 
zimmer, in welchem ſchon der Sſamowar rauchte; 
Marja Kirilowna ſaß dort im Morgengewande und 
Kirila Petrowitſch trank bereits in Filzrock und Pan⸗ 
toffeln ſeinen Tee aus ſeiner geräumigen Taſſe, die 


215 


Du bro wsk ij 


an einen Spülnapf erinnerte. Anton Pafnutjitfch 
kam als letzter, er war ſo blaß und ſchien ſo ver— 
ſtimmt zu ſein, daß ſein Ausſehen alle geradezu über— 
raſchte, Kirila Petrowitſch erkundigte ſich ſogar nach 
ſeinem Befinden. Spizyn gab etwas zur Antwort, 
das gar keinen Sinn hatte, und blickte dabei entſetzt 
den Lehrer an, der dortſelbſt mit der unſchuldigſten 


Miene der Welt ſaß. Wenige Minuten darauf trat $ 


ein Diener ein und teilte Spizyn mit, daß fein Wagen 
vorgefahren wäre. Anton Pafnutjitſch ſchien es eilig 
zu haben, Abſchied zu nehmen, denn haſtig verließ er 
trotz aller Vorhaltungen des Hausherrn das Gemach 
und fuhr ſpornſtreichs fort. Der Hausherr und die 
Gäſte konnten nicht faſſen, was mit ihm geſchehen 
ſei. Und darum entſchied Kirila Petrowitſch die Frage 


dahin, daß jener ſich wohl überfreſſen habe! Nach 


dem Tee und dem Abſchiedsfrühſtück fuhren auch die 
übrigen Gäſte fort und bald darauf lag Pokrowskoje 
wieder verödet da und alles nahm ſeinen gewöhnlichen 
Gang. Einige Tage verſtrichen, doch trug ſich nichts 
irgendwie Bemerkenswertes zu. Das Leben in Po: 
krowskoje war ziemlich einſam. Kirila Petrowitſch ritt 
täglich auf die Jagd, Marja Kirilowna dagegen Бе: 
ſchäftigte ſich mit Lektüre, Spaziergängen und ihren 
Muſikſtunden und mit dieſen letzteren freilich ganz 
beſonders. Sie lernte nach und nach ihr eigenes Herz 
verſtehen und geſtand ſich mit unwillkürlicher Erbitte— 
rung, daß es gegen die Vorzüge des jungen Franzoſen 


216 


Dubromsfij 


nicht mehr gleichgültig war. Er ſeinerſeits überſchritt 
freilich niemals die Grenzen des Reſpektes und des 
ſtrengſten Anſtandes und beruhigte hierdurch ihren 
Stolz und ihre angſterfüllten Zweifel ein wenig. Mit 
immer größerem Zutrauen gab ſie ſich dieſer anziehen— 
den Gewohnheit hin. Sie langweilte ſich ohne De: 
forges; und war er zugegen, ſo mußte ſie ſich jede 
Minute an ihn wenden, fie гид ihn nach feiner Mei⸗ 
nung über die verſchiedenſten Dinge und war immer 
mit feiner Anſicht einverftanden. Es iſt möglich, daß 
fie noch nicht verliebt war; aber der erſte Schickſals— 
ſchlag oder das erſte zufällige Hindernis hätten де: 
nügt, in ihrem Herzen die Flammen der N EEE 
auflodern zu laſſen. 

Als ſie eines Tages den Salon betrat, in welchem 
der Lehrer auf ſie wartete, bemerkte Marja Kirilowna 
erſtaunt, daß eine gewiſſe Verwirrung auf ſeinem 
blaſſen Geſicht zu leſen war. Sie öffnete das Klavier 
und fang einige Noten; Dubrowskij entſchuldigte ſich 
jedoch plötzlich unter dem Vorwande, daß ihm der 
Kopf weh täte, unterbrach die Stunde und ſteckte ihr, 
während er die Noten ſchloß, heimlich ein Billett zu. 
Marja Kirilowna nahm es, ohne ſich recht zu über— 
legen, was ſie tat, in Empfang und bedauerte es 
nach einem Augenblick; allein Dubrowskij hatte bereits 
den Salon verlaſſen. Marja Kirilowna begab ſich 
in ihr Zimmer, erbrach das Billett und las folgende 
Zeilen: 


217 


Dubromsfij 


„Finden Sie fich heute um fieben Uhr in der Laube 
am Bach ein: ich muß unbedingt mit Ihnen ſprechen.“ 

Ihre Neugierde war aufs heftigſte erregt. Sie war 
längſt darauf vorbereitet, ſein Geſtändnis zu hören, 
und wünſchte es und fürchtete es doch gleichzeitig. 
Es wäre ihr angenehm geweſen, die Beſtätigung deſſen 
zu vernehmen, was ſie ſelber ſchon ahnte; und doch 
fühlte ſie, daß es für ſie nicht recht anginge, ein 
ſolches Geſtändnis von einem Menſchen zu hören, 
der, ſeiner Stellung nach, keineswegs die Hoffnung 
hegen durfte, jemals ihre Hand zu erlangen. Sie war 
entſchloſſen, zu der Zuſammenkunft zu gehen. Und 
nur in einem ſchwankte ſie noch: mit welcher Miene 
ſie wohl das Geſtändnis des Lehrers anhören ſollte: 
ob mit ariſtokratiſchem Unwillen, oder mit Freund⸗ 
ſchaftsbeteuerung, mit luſtigen Späßen, oder mit 
ſchweigſamer Teilnahme? Dennoch konnte ſie es nicht 
unterlaſſen, in der Zwiſchenzeit jeden Augenblick auf 
die Uhr zu ſchauen. Es dämmerte; die Bedienten 
brachten die Kerzen; Kirila Petrowitſch nahm am 
Kartentiſch Platz, um mit einigen Nachbarn, die zu 
Beſuch gekommen waren, Boſton zu ſpielen; die Saal⸗ 
uhr ſchlug dreiviertel auf ſieben, da ſchlich Marja 
Kirilowna leiſe zur Freitreppe, ſchaute ſich nach allen 
Seiten um und lief in den Garten. 

Die Nacht war dunkel, Wolken bedeckten den 
Himmel, man konnte keine zwei Schritt weit ſehen; 
doch fand fi) Marja Kirilowna trotz der Finſternis 


218 


Dubrowsk ij 


auf den bekannten Wegen zurecht und ſtand ſchon 
nach einer Minute vor der Laube; ſie blieb dort ſtehen, 
um Atem zu ſchöpfen, damit ſie gleichgültig und ruhig 
vor Deforges treten könnte. Allein da rc Deforges 
bereits vor ihr. 

„Ich danke Ihnen,“ ſprach er mit ſtiller und trau⸗ 
riger Stimme: „daß Sie meine Bitte nicht abgeſchlagen 
haben. Ich wäre in Verzweiflung geraten, wenn Sie 
nicht gekommen wären.“ 

Marja Kirilowna entgegnete mit einer ſchon vor: 
her zurecht gelegten Phraſe: „Ich hoffe, Sie werden 
mich nicht veranlaſſen, meine Herablaſſung zu bereuen.“ 

Er ſchwieg und es machte den Eindruck, als рег: 
ſuche er, ſich zu ſammeln. „Die Verhältniſſe verlangen 

5... ich muß Sie verlaſſen,“ ſagte er ſchließlich: „es 

kann ſein, daß Sie ſchon bald von mir hören werden 

allein ich kann nicht anders, ich muß Ihnen vor 
der Trennung noch einiges ſagen.“ 

Marja Kirilowna entgegnete nichts. Sie ſah in 
ſeinen Worten nur eine Art Einleitung zu dem er— 
warteten Geſtändnis. 

„Ich bin nicht der, den Sie in mir ſehen,“ fuhr er 
fort und ſenkte den Kopf: „ich bin nicht der Franzoſe 
Deforges — ich bin Dubrowskij.“ 

Marja Kirilowna ſchrie leiſe auf. 

„Um Gottes willen, fürchten Sie ſich nicht vor 
mir; Sie brauchen meinen Namen nicht zu fürchten. 
Ja, ich bin es, ich bin jener Unglückliche, den Ihr 


219 


Dubromsfij 


Vater, nachdem er ihm das letzte Stück Brot ge: 
nommen, aus dem väterlichen Hauſe als Räuber auf 
die Landſtraße jagte, aber Sie brauchen mich nicht 
zu fürchten, denn ich werde weder Ihnen noch ihm 
etwas antun. Es iſt alles aus ... ich habe ihm рег: 
ziehn; Sie haben ihn gerettet. Es war urſprünglich 
meine Abſicht, ihn zum Opfer meiner erſten Bluttat 
zu machen. Ich ſtrich um dieſes Haus herum und 
beſtimmte gerade, wo das Feuer angelegt werden und 
durch welchen Eingang man in ſein Schlafzimmer 
dringen ſollte, um ihm alle Möglichkeiten zur Flucht 
zu nehmen; in dem Augenblick aber ſchritten Sie wie 
eine himmliſche Erſcheinung an mir vorüber und mein 
Herz kam zur Ruhe. Ich begriff, daß ein Haus, das 
Sie bewohnen, geheiligt iſt und daß es nicht in meiner 


Macht ſteht, irgendein Geſchöpf, das mit Ihnen durch 


die Bande des Blutes verbunden ift, jemals zu ver: 
dammen. Ich verzichtete auf meine Rache, als wäre 
ſie nichts als Wahnſinn. Tagelang ſtreifte ich durch 
die Gärten von Pokrowskoje und hoffte immer, Ihr 
weißes Gewand von ferne zu gewahren. Wenn Sie 
Ihre unvorſichtigen Spaziergänge machten, folgte ich 
Ihnen, von Buſch zu Buſch ſchlüpfend, glückſelig im 
Gedanken, daß es dort, wo ich heimlich anweſend war, 
keinerlei Gefahr für Sie gäbe. Endlich winkte mir der 
erſehnte Zufall ... es gelang mir, in Ihr Haus zu 
kommen. Dieſe drei Wochen waren lauter Tage des 
Glückes für mich; es wird die höchſte Freude meines 


220 


F ͤUépb ß) 


Du bro wsk ij 


betrübten Lebens fein, mich ewig daran zu erinnern ... 
Heute erhielt ich eine Nachricht, die es mir unmöglich 
macht, länger hier zu bleiben. Ich muß von Ihnen 
noch heute ſcheiden, ja ſogar ſofort ... Allein zuvor 
mußte ich mich Ihnen enthüllen, damit Sie mich nicht 
verdammen, damit Sie mich nicht verachten. Denken 
Sie zuweilen an Dubrowskij zurück und denken Sie 
daran, daß mir eigentlich ein anderes Los beſchieden 
war, daß meine Seele wohl verſtanden hätte, Sie zu 
lieben, und daß niemals ...“ 

In dem Augenblick ertönte ein lautes Pfeifen und 
Dubrowskij verſtummte. Er ergriff ihre Hand und 
preßte ſie an ſeine heißen Lippen. Das Pfeifen wieder⸗ 
holte ſich. „Leben Sie wohl,“ ſagte Dubrowskij: „man 
ruft nach mir; ſchon der nächſte Augenblick kann mein 
Verderben bedeuten.“ Er entfernte ſich ein wenig ... 
Marja Kirilowna ſtand noch immer regungslos. Du— 
browskij kehrte zurück und ergriff aufs neue ihre Hand. 
„Sollte es irgendeinmal geſchehen, daß Sie ein Leid 
träfe und Sie niemand hätten, von dem Sie Schutz 
oder Hilfe erwarten könnten, verſprechen Sie mir, ſich 
dann an mich zu wenden und von mir all das zu рег: 
langen, was zu Ihrer Rettung notwendig iſt? Ver— 
ſprechen Sie mir, meine Ergebenheit nicht abzulehnen?“ 

Marja Kirilowna weinte ſtumm. Das Pfeifen 
ertönte zum dritten Male. 

„Sie ſtürzen mich ins Verderben!“ rief Dubrows— 
kij: „Ich geh nicht von hier fort, bevor Sie mir 


221 


Dubromsfij 


die Antwort geben: wollen Sie mirs verſprechen, 
oder nicht?“ 

„Ich verſpreche!“ flüſterte das arme ſchöne Mädchen. 

Noch erregt von der Zuſammenkunft mit Dubrows⸗ 
kij kehrte Marja Kirilowna aus dem Garten zurück. 
Schon von ferne ſchien ihr, daß viele Menſchen 
auf dem Hof waren, vor der Freitreppe hielt ein 
Dreigeſpann, Diener liefen hin und her, das ganze 
Haus war in Bewegung geraten; ſie hörte Kirila 
Petrowitſchs Stimme und eilte ins Haus, da ſie fürch⸗ 
tete, daß man am Ende ihre Abweſenheit bemerkt 
hätte. Kirila Petrowitſch eilte ihr entgegen; im Salon 
ſtand der Polizeileutnant, unſer Bekannter, umgeben 
von einer Schar von Gäſten, die ihn mit Fragen 
geradezu überſchütteten. Der Polizeileutnant war im 
Reiſeanzug und ſtarrte vom Fuß bis zum Kopf von 
Waffen, er antwortete auf alle Fragen mit einer ge: 
heimnisvollen und beſchäftigten Miene. „Wo ſteckteſt 
du nur, Maſcha?“ fragte Kirila Petrowitſch: „biſt 
du vielleicht Monſieur Deforges begegnet?! Maſcha 
hatte kaum die Kraft, die Frage verneinend zu Бе: 
antworten. „Stell dir nur vor,“ fuhr Kirila Petro⸗ 
witſch fort: „der Polizeileutnant iſt hier, um ihn zu 
verhaften, und beteuert, daß er der geſuchte Фи: 
browskij wäre.“ — „Allen Anzeichen nach, Exzel⸗ 
lenz,“ meinte ehrfurchtsvoll der Polizeileutnant. „Ach, 
Brüderchen,“ unterbrach ihn Kirila Petrowitſch: „ſcher 
dich, du weißt ſchon wohin, mit deinen Anzeichen. Ich 


222 


Dubromsfij 


geb dir meinen Franzoſen nicht heraus, bevor ich die 
Sache nicht ſelber unterſucht habe. Wie kann man 
nur dem Anton Pafnutjitſch ſo aufs Wort glauben, 
er iſt nichts als ein Feigling und ein Bauer: er hat 
ſicher nur im Traum geſehen, daß der Lehrer ihn be⸗ 
rauben wollte. Warum hat er denn mir gegenüber 
nicht am gleichen Morgen ſchon ein Wörtchen darüber 
fallen laſſen ..“ — „Der Franzoſe hat ihn ein: 
geſchüchtert, entgegnete der Polizeileutnant: „er hatte 
ihm ſogar einen Schwur abgenommen, zu ſchwei⸗ 
gen.“ — „Nichts als Unſinn,“ meinte Kirila Petro— 
witſch: „das bring ich euch im Handumdrehen ins 
reine. Wo bleibt denn der Lehrer?“ fragte er einen 
eintretenden Diener. „Nirgends zu finden,“ entgeg— 
nete der Bediente. „Dann ſucht weiter!“ ſchrie Troje— 
kurow, dem nach und nach Zweifel aufſtiegen. „Zeig 
mir doch mal dein berühmtes Signalement her,“ 
ſagte er zum Polizeileutnant, der nicht verſäumte, 
ihm augenblicks die Papiere zu überreichen. „Hm! 
hm! dreiundzwanzig Jahre alt und dergleichen. Das 
ſtimmt ja, aber das beweiſt noch gar nichts. Was iſt 
denn mit dem Lehrer?“ — „Nicht zu finden,“ wurde 
ihm wieder zur Antwort. Kirila Petrowitſch wurde 
unruhig; Marja Kirilowna war faſt wie von Sinnen. 
„Du biſt ſo blaß, Maſcha,“ bemerkte der Vater: 
„hat man dich ſehr erſchreckt?“ — „Nein, Papa,“ ent: 
gegnete Maſcha: „mir tut nur der Kopf weh.“ — 
„Geh lieber in dein Zimmer, Maſcha, und ſorge dich 


223 


Dubromsfij 


nicht weiter.“ Mafcha küßte feine Hand und eilte fo 
ſchnell ſie konnte in ihr Zimmer; dort warf ſie ſich 
aufs Bett und fiel in ein hyſteriſches Schluchzen. Die 
Zofen eilten herbei, kleideten ſie aus und vermochten 
nur mit Müh und Not ſie durch kaltes Waſſer und 
alle möglichen Einreibungen zu beruhigen; man brachte 
ſie darauf zu Bett und nach und nach ſchlummerte 
ſie ein. 

Der Franzoſe wurde nicht gefunden. Kirila Petro- 
witſch ſchritt im Zimmer auf und ab und pfiff laut 
„Siegesdonner ſoll erſchallen“. Die Gäſte flüſterten; 
der Polizeileutnant ſchien genarrt worden zu ſein; 
der Franzoſe war nicht zu finden. Es war ihm рег: 
mutlich gelungen, zu fliehen, gewiß hatte ihn jemand 
gewarnt. Aber wer nur und wie? dies war allen 
ein Rätſel. 

Die elfte Stunde ſchlug, und noch dachte keiner 
ans Schlafengehen. Kirila Petrowitſch fuhr ſchließlich 
den Polizeileutnant zornig an: „Nun, was denn noch? 
Willſt du vielleicht bis zum Morgen hier bleiben; 
mein Haus iſt keine Schenke. Mit deiner Gewandt⸗ 
heit, Brüderchen, fängt man keinen Dubrowskij, wenn 
es in der Tat Dubrowskij war. Zieh deines Weges und 
ſei in Zukunft flinker. Und auch für euch iſt es längſt 
Zeit, nach Hauſe zu fahren,“ fuhr er ſeine Gäſte an: 
„Befehlt anzuſpannen, ich will ſchlafen.“ 

Auf dieſe ungnädige Art und Weiſe trennte ſich 
Trojekurow von ſeinen Gäſten. 


224 


Du browsk lj 


Dreizehntes Kapitel 


Einige Zeit verſtrich, ohne daß es zu irgendwelchen 
bemerkenswerten Vorfällen gekommen wäre. Doch 
als das folgende Jahr anbrach, kam es zu manchen 
Veränderungen in Kirila Petrowitſchs Familie. 

Dreißig Werſt von der ſeinen entfernt befand ſich 
die reiche Beſitzung des Fürſten Werejskij. Der Fürſt 
hatte ſich lange Zeit hindurch im Auslande aufgehalten. 
Seine Beſitzung wurde von einem verabſchiedeten 
Major verwaltet und während der Zeit gab es keinerlei 
Verbindungen zwiſchen Pokrowskoje und Arbatowo. 
Allein gegen Ende Mai kehrte der Fürſt aus dem Aus: 
lande zurück und kam auf ſein Gut, das er noch nie 
geſehen hatte. Da er an ein abwechſlungsreiches 
Leben gewöhnt war, konnte er die Einſamkeit nicht 
vertragen und begab ſich daher bereits am dritten 
Tage nach ſeiner Ankunft zu Trojekurow, mit dem 
er vormals bekannt geweſen war. 

Der Fürſt mochte etwa fünfzig Jahre alt ſein, ſah 
aber bedeutend älter aus. Vergnügungen mancherlei 
Art hatten ſeine Geſundheit untergraben und ihm 
ihren unauslöſchlichen Stempel aufgedrückt. Dennoch 
war ſein Außeres immer noch angenehm zu nennen 
und ſogar merkwürdig, und die Gewohnheit, immer 
in Geſellſchaft zu ſein, hatte bewirkt, daß er zumal 
mit Frauen beſonders liebenswürdig war. Er hatte 


einen unſtillbaren Drang nach Zerſtreuung und lang- 


P. 1 15 
225 


DubromsPij 


weilte ſich beſtändig. Kirila Petrowitſch empfand eine 
außerordentliche Genugtuung über ſeinen Beſuch, denn 
er erblickte darin ein Zeichen des Reſpektes von einem 
Menſchen, der die Welt mehr als genügend kannte. 
Er führte ihn nach ſeiner Gewohnheit überall herum 


und brachte ihn ſchließlich auch zum Hundezwinger. 
Allein der Fürſt wäre faſt in der Hundeatmoſphäre 
erſtickt und beeilte ſich, ein mit Wohlgerüchen be⸗ 
ſprengtes Tuch vor die Naſe haltend, ins Freie zu Я 
kommen. Der altertümliche Garten mit feinen ge- 
ſtutzten Linden, dem viereckigen Teich und den regel⸗ 


mäßigen Alleen gefiel ihm ebenfalls nicht; engliſche 


Parke konnte er nicht ausſtehen und ebenſowenig die | 


ſogenannte Natur, er lobte aber trotzdem alles und 


ſchien entzückt zu ſein. Ein Bedienter erſchien mit 1 


der Meldung, daß das Eſſen ſerviert ſei. Sie begaben 
ſich zu Tiſch. Der Fürſt lahmte ein wenig, ermüdet 
von dem Spaziergang, und war ſchon drauf und 
dran, ſeinen Beſuch zu bereuen. 


Allein da ſah er Marja Kirilowna im Salon — 
und wie überraſcht war der alte Frauenjäger von р 
ihrer Schönheit! Trojekurow ließ den Gaft ап ihrer 
Seite Platz nehmen. Ihre Gegenwart brachte neues 
Leben in den Fürſten, er wurde aufgeräumt und es 
gelang ihm mehrere Male, mit feinen ſpaßhaften 
Erzählungen ihre Aufmerkſamkeit anzuziehen. Nach 
dem Mittageſſen machte Kirila Petrowitſch den Vor⸗ | 


ſchlag, ет wenig zu reiten, aber der Fürſt entſchul⸗ 


226 


nn ̃— 


Dubromstijf 


digte ſich, indem er auf feine Sammetſtiefel wies und 
über fein Podagra ſcherzte. Er machte den Gegen: 
vorſchlag, eine Spazierfahrt zu unternehmen, denn 
es war ſein Wunſch, ſich nicht von ſeiner liebens⸗ 
würdigen Nachbarin trennen zu müſſen. Der Wagen 
wurde angeſpannt. Die alten Herren und das ſchöne 
Mädchen nahmen Platz und fuhren. Die Unterhal⸗ 
tung brach nicht ab. Marja Kirilowna lauſchte mit 
Vergnügen den ſchmeichelhaften und luſtigen Dingen, 
die der Weltmann vorzubringen hatte, plötzlich aber 
fragte Werejskij, zu Kirila Petrowitſch gewandt, was 
wohl jenes abgebrannte Gebäude zu bedeuten hätte 
und ob es ihm gehöre? Kirila Petrowitſchs Geſicht 
wurde finſter: die Erinnerung, die der abgebrannte 
Gutshof in ihm hervorrief, war ihm unangenehm. 
Er entgegnete nichts als dies, daß jener Landſtreifen jetzt 
ihm gehöre, vormals aber im Beſitz von Dubrowskij 
geweſen ſei. „Dubrowskij?“ wiederholte Werejskij: 
„Wie, jener berühmte Räuber?“ — „Sein Vater,“ 
entgegnete Trojekurow: „doch auch ſein Vater war 
mir ein gehöriger Räuber.“ 

„Wo ſteckt denn jetzt unſer Rinaldo? Hat man 
ihn erwiſcht, und iſt er überhaupt noch am Leben?“ 

„Er lebt und iſt frei. Solange unſere Polizei aus 
nichts als Böſewichten und Dieben beſteht, wird er 
nicht ergriffen werden. Wie iſt es übrigens, Fürſt! 
War nicht Dubrowskij auch bei dir in Arbatowo?“ 

„Ja, mir ſcheint, daß er im vorigen Jahr dort 


227 


Dubrowsk 11 


irgendetwas angezündet oder geplündert hat. Nicht | 


wahr, Marja Kirilowna, es müßte doch ficher inter- 


eſſant ſein, mit dieſem romantiſchen Helden näher I 
bekannt zu werden?“ 


„Was da, intereſſant!“ bemerkte Trojekurow: „Sie 


kannte ihn nur zu gut. Ganze drei Wochen hindurch 

erteilte er ihr Muſikunterricht, doch hat er, Gott 
ſei Dank, für ſeine Stunden nichts erhalten.“ Und 
nun begann Kirila Petrowitſch die Geſchichte von 
dem vermeintlichen franzöſiſchen Lehrer zu erzählen, 
Marja Kirilowna ſaß derweilen wie auf Nadeln. We⸗ 
rejskij hörte mit tiefer Aufmerkſamkeit zu, er fand 
das Ganze ſehr ſonderbar und fing ein neues Ge⸗ 
ſpräch an. Als fie zurückkehrten, befahl er, ſeinen 
Wagen anzuſpannen, und fuhr, trotzdem Kirila Petro⸗ 
witſch ihn aufs inſtändigſte darum erſuchte, bei ihm 
zu übernachten, ſogleich nach dem Tee fort; vorher 

jedoch bat er Kirila Petrowitſch, ihn doch mit Marja 
Kirilowna zu beſuchen, und der hochmütige Troje⸗ 
kurow verſprach es ihm; denn da jener den Fürſten⸗ 
titel hatte, zwei Sterne und auf ſeinem Erbgut drei⸗ 
tauſend Seelen, hielt er den Fürſten Werejskij in ge⸗ 
wiſſem Sinne für ebenbürtig. f 


Vierzehntes Kapitel 


Zwei Tage nach dieſem Beſuch begab ſich Kirila N N 
Petrowitſch mit feiner Tochter zum Fürſten Werejskij. 
Als ſie ſich Arbatowo näherten, konnte er ſich an den 


228 


Du bro ws k i] 


reinlichen und luftigen Bauernhäuſern nicht ſatt ſehen 
und ebenſo an dem ſteinernen Herrenhauſe, das in 
der Art der engliſchen Schlöſſer gebaut war. Vor 
dem Hauſe breitete ſich eine tiefgrüne Wieſe, auf der 
Schweizer Kühe weideten und mit ihren Glöckchen 
luſtig klingelten. Das Haus war von allen Seiten 
von einem geräumigen Park umgeben. Der Haus⸗ 
herr begrüßte die Gäſte auf der Freitreppe und reichte 
der jungen Schönen ſeinen Arm. Sie traten in einen 
prunkvollen Saal, in welchem der Tiſch für drei Per: 
ſonen gedeckt war. Der Fürſt führte die Gäſte zum 
Fenſter, von wo ſich ihnen ein prächtiger Blick dar— 
bot. Die Wolga ſtrömte vor den Fenſtern; ſchwer— 
beladene Barken glitten ſegelgeſchwellt auf der Flut 
und hier und dort kreuzten die Boote der Fiſcher, die 
ſo eindrucksvoll Seelenverkäufer genannt worden ſind. 
Auf der anderen Seite des Fluſſes zogen ſich Hügel 
und Felder hin; einige Dörfer belebten die Gegend. 
Man ſchickte ſich darauf an, die Bildergalerie zu be— 
trachten, die der Fürſt im Auslande zuſammengebracht 
hatte. Der Fürſt erklärte Marja Kirilowna die Vor— 
züge der Bilder, ſchilderte ihren Inhalt und erzählte 
die Geſchichte ihrer Maler; er wies auf die Fehler 
und auf die Schönheiten hin. Und er ſprach von 
ſeinen Bildern nicht etwa in der bedingten Sprache 
des pädagogifchen Kenners, ſondern mit Gefühl und 
mit Phantaſie. Marja Kirilowna hörte ihm nur zu 
gerne zu. Man ging zu Tiſch. Trojekurow ließ den 


229 


Dubromsfij 


Weinen und der Kunſt des Koches Amphytrion volle 
Genugtuung widerfahren, Marja Kirilowna dagegen 
empfand in der Unterhaltung mit einem Menſchen, 
den ſie ſoeben zum zweiten Male in ihrem Leben ſah, 
nicht die geringſte Verwirrung noch Gezwungenheit. 
Nach dem Eſſen ſchlug der Hausherr feinen Gäſten 
vor, in den Garten zu gehen. Den Kaffee nahmen 
fie in der Laube am Ufer eines breiten Sees, in dem 
viele kleine Inſeln lagen. Plötzlich erſchallte Horn: 
muſik, ein Boot mit ſechs Rudern legte neben der 
Laube an. Sie fuhren über den See, umkreiſten die 
Inſeln und betraten einige ſogar; auf einer fanden 
ſie eine Marmorſtatue, auf der anderen eine einſame 
Höhle und auf der dritten ein Denkmal mit einer 
rätſelhaften Inſchrift, die natürlich Marja Kirilownas 
mädchenhafte Neugierde erweckte, allein es gelang ihr 
nicht, dem Fürſten hierüber mehr als einige höfliche 
nichtsſagende Phraſen zu entlocken. Die Zeit verging 
unmerklich. Es begann zu dämmern. Der Fürſt be⸗ 
eilte ſich unter dem Vorwande, daß es kühl würde, 
nach Haufe zurückzukehren; der Sſamowar brodelte 
ſchon, als ſie das Haus betraten. Der Fürſt bat Marja 
Kirilowna, in ſeinem Junggeſellenheim die Hausfrauen⸗ 
rolle ſpielen zu wollen. Sie ſchenkte den Tee ein und 
lauſchte dabei den unerſchöpflichen Erzählungen des 
liebenswürdigen Schwätzers. Plötzlich gab es einen 
Knall — eine Rakete erhellte den Himmel ... Der 
Fürſt hüllte Marja Kirilowna in den Shawl und bat 


230 


Dubromsfij 


fie und Trojekurow, ihm auf die Teraſſe zu folgen. 
In der Dunkelheit, die ſich vor dem Hauſe breitete, 
glühten vielfarbige Feuer auf, drehten ſich, erhoben 
ſich als Strahlenbündel, fluteten wie Fontänen, ſtürzten 
als Sternenregen nieder, erloſchen und glühten aufs 
neue auf. Marja Kirilowna freute ſich wie ein Kind. 
Ihre Entzückung heiterte den Fürſten Werejskij auf 
und auch Trojekurow war außerordentlich zufrieden, 
denn er betrachtete tous les frais des Fürſten als Zeichen 
des Reſpektes und als Wunſch, ihm zu gefallen. 
Das Abendeſſen ſtand dem Mittageſſen hinſichtlich 
der Güte in nichts nach. Die Säfte begaben ſich ſchließ⸗ 
lich auf die Zimmer, die man für ſie hergerichtet hatte, 
und trennten ſich von ihrem liebenswürdigen Wirt 
erſt am Morgen des anderen Tages, indem man 
einander das Verſprechen gab, ſich ſobald als möglich 
wieder zu ſehen. 


Fünfzehntes Kapitel 


Marja Kirilowna ſaß in ihrem Zimmer am offenen 
Fenſter vor dem Stickrahmen. Sie irrte ſich nicht in der 
Farbe der Seide, wie jene Geliebte Konrads, die in ihrer 
verliebten Zerſtreutheit einſt eine Roſe aus grüner Seide 
geſtickt hatte. Fehlerlos wiederholte ihre Nadel auf dem 
Canevas die Linien der Vorlage; trotzdem aber waren 
ihre Gedanken nicht bei der Arbeit, ſie flatterten ins Weite. 

Plötzlich ſchob ſich eine Hand ſtill durchs Fenſter, 
jemand legte einen Brief auf den Stickrahmen und 


231 


Dubromsfij 


verſchwand, noch ehe es e Kirilowna recht zum 
Bewußtſein gekommen war. Im ſelben Augenblick 
trat ein Bedienter ein und rief fie zu Kirila Petro⸗ 
witſch. Nicht ohne ein gewiſſes Zittern verbarg ſie 
den Brief an ihrer Bruſt und eilte zum Vater. 

Kirila Petrowitſch war nicht allein. Der Fürſt We⸗ 
rejskij befand ſich bei ihm. Bei Marja Kirilownas 
Eintritt erhob ſich der Fürſt und verneigte ſich ſtumm 
mit einer Verwirrung, die bei ihm ungewöhnlich war. 
„Komm näher, Maſcha,“ {ад Kirila Petrowitſch: 
„Ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen, die dich, wie 
ich hoffe, erfreuen wird. Hier iſt ein Bräutigam für 
dich; der Fürſt freit um deine Hand.“ 

Maſcha erſtarrte; Todesbläſſe bedeckte ihr Antlitz. 
Sie ſchwieg. Der би näherte ſich ihr, ergriff ihre 
Hand und fragte mit gerührter Miene, ob ſie damit 
einverſtanden wäre, das Glück ſeines Lebens zu ſein? 
Maſcha ſchwieg. 

„Natürlich iſt fie einverſtanden,“ ſagte Kirila Petro— 
witſch: „Aber weißt du, Fürſt, es fällt den Mädchen 
ſchwer, dieſes Wort auszuſprechen. Nun, Kinder, 
dann gebt euch alſo einen Kuß und werdet glücklich.“ 

Maſcha verharrte in ihrer regungsloſen Stellung, 
der alte Fürſt küßte ihre Hand; aber mit einem Male 
war ihr blaſſes Geſicht ganz von Tränen überſtrömt. 
Der Fürſt runzelte ein wenig die Augenbrauen. 

„Geh! geh! geh!“ ſagte Kirila Petrowitſch. „Trockne 
erſt deine Tränen und kehr luſtig zu uns zurück. Sie 


232 


Dubrowsk ij 


weinen immer, wenn ſie ſich verloben,“ fuhr er zu 
Werejskij gewendet fort: „das iſt nun einmal ſo her⸗ 
gebracht bei ihnen. Und jetzt, Fürſt, laß uns vom 
Geſchãft ſprechen, das heißt von der Mitgift.“ 

Marja Kirilowna machte ſich die Erlaubnis, das 
Zimmer zu verlaſſen, ſogleich zunutze. Sie eilte in 
ihr Gemach, ſchloß ſich dort ein und gab ihren Tränen 
freien Lauf, denn ſie ſah ſich bereits als Gattin des 
alten Fürſten; und wie widerlich war er ihr auf ein⸗ 
mal geworden, wie verächtlich... Die Ehe mit ihm 
ſchreckte ſie, wie der Gang zur Richtſtätte, wie das 
Grab! ... „Nein! Nein!“ wiederholte fie verzweifelt: 
„lieber ins Kloſter, lieber will ich Dubrowskij hei⸗ 
raten .. Allein da erinnerte fie ſich plötzlich an den 
Brief und ſchickte ſich haſtig an, ihn zu leſen, denn eine 
Ahnung ſagte ihr, daß er nur von ihm ſein konnte. 
So war es auch in der Tat, der Brief war von ihm 
geſchrieben und beſtand aus folgenden Worten: 

„Abends, um zehn Uhr, an der alten Stelle.“ 

Der Mond ſchien; die ländliche Nacht war ſtill; 
nur ſelten wehte ein ſanfter Wind, dann lief ein 
leiſes Rauſchen durch den ganzen Garten. 

Unſere junge Schöne näherte ſich wie ein leichter 
Schatten dem Ort der Zuſammenkunft. Noch war 
niemand dort zu ſehen, aber plötzlich trat Dubrowskij 
hinter der Laube hervor. „Ich weiß alles,“ ſagte er 
mit ſtiller und trauriger Stimme: „gedenken Sie Ihres 
Ver ſprechens!⸗ 


233 


Dubromsfij 


„Sie bieten mir Ihren Schutz an?“ entgegnete 
Maſcha: „Aber zürnen Sie mir nicht: Ihre Hilfe er⸗ 
ſchreckt mich. Auf welche Weiſe wollen Sie mir helfen?“ 

„Ich könnte Sie von dem verhaßten Menſchen be⸗ 
freien.“ 

„Um Gottes willen, rühren Sie ihn nicht an. 
Wagen Sie es nicht, ihm etwas zu tun, wenn Sie 
mich wirklich lieben: ich will keine Schuld an irgend⸗ 
einem Unglück tragen ...“ 

„Gut, ich werde ihm nichts tun, Ihr Wunſch iſt 
mir heilig. Er verdankt Ihnen ſein Leben. Nie⸗ 
mals darf eine Miſſetat in Ihrem Namen vollzogen 
werden. Sie müſſen rein bleiben, ſogar in meinen 
Verbrechen. Doch auf welche Weiſe könnte ich Sie 
vor Ihrem grauſamen Vater retten?“ 

„Es gibt noch eine Hoffnung: ich glaube noch 
immer daran, daß es mir gelingen wird, ihn mit 
meinen Tränen und meiner Verzweiflung zu rühren. 
Er iſt eigenwillig, aber er liebt mich ja.“ 

„Hoffen Sie nicht umſonſt: dieſe Tränen werden 
ihm nur wie gewöhnliche Zaghaftigkeit vorkommen 
und wie der Abſcheu, der allen jungen Mädchen eigen 
iſt, die nicht aus Liebe heiraten, ſondern aus Erwä⸗ 
gungen des Verſtandes; wie aber, wenn er ſich feſt 
vorgenommen hätte, Ihr Glück gegen Ihren eigenen 
Willen zu machen? Wie, wenn er Sie gewaltſam zum 
Altare ziehen wollte, um Ihr Schickſal auf ewig mit 
dem des ſiechen Gemahles zu verbinden? ...“ 


234 


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— 


Du bro wsk ij 


„Dann, dann bleibt mir nichts anderes mehr А 
kommen Sie dann — dann will ich Ihre Gattin 
werden.“ 

Dubrowskij erbebte; purpurne Röte überſtrömte 
ſein blaſſes Antlitz, jedoch ſchon nach einem Augenblick 
war es noch blaſſer als vorhin. Lange ſchwieg er, den 
Kopf geſenkt. 

„Faſſen Sie alle Ihre Kraft zuſammen, flehen Sie 
Ihren Vater an und werfen Sie ſich ihm zu Füßen; 
ſtellen Sie ihm das ganze Grauen Ihrer Zukunft vor 
und Ihre Jugend, die neben einem ſiechen und laſter⸗ 
haften Greiſe verwelken muß; ſagen Sie ihm, daß 
Reichtum Ihnen nicht eine glückliche Minute ver— 
ſchaffen kann; Pracht ſei nur für Bettler ein kurzer 
Troſt und auch für dieſe nur auf einen Augenblick; 
laſſen Sie nicht ab von ihm, fürchten Sie weder ſeinen 
Zorn noch ſeine Drohung, ſolange noch ein Schatten 
von Hoffnung vorhanden iſt; ich beſchwöre Sie in 
Gottes Namen, nicht müde zu werden. Wenn aber 
kein anderes Mittel mehr vorhanden ſein ſollte — 
dann entſchließen Sie ſich, ihm eine grauſame Eröff: 
nung zu machen: ſagen Sie ihm, daß, wenn er un⸗ 
erbittlich fein ſollte, daß Sie... daß Sie dann einen 
ſchrecklichen Schützer finden würden ...“ 

Dubrowskij verbarg ſein Geſicht in den Händen; 
es war, als fehle ihm der Atem. Maſcha пение... 

„Oh, mein armes, mein erbärmliches Los!“ ſagte 
er bitter ſeufzend. „Ich hätte für Sie gerne mein 


235 


Dubromstfij 


Leben hingegeben; Sie von ferne erblicken zu dürfen, 
Ihre Hand berühren zu können, wäre der höchſte 
Rauſch für mich geweſen; jetzt aber, da ſich mir 
die Möglichkeit bietet, Sie an mein bewegtes Herz 
zu drücken und Ihnen zu ſagen: dein auf ewig, — 
jetzt muß ich Armer ſelber der Seligkeit entſagen und 
muß Sie aus ganzer Kraft von mir ſtoßen! Ich darf 
nicht wagen, vor Ihren Füßen niederzuſtürzen und 
dem Himmel für dieſe unverſtändliche und unverdiente 
Gnade zu danken. Oh! wie müßte ich jenen haſſen, 
der . .. aber ich weiß ja, daß jetzt in meinem Herzen 
kein Platz mehr für Haß iſt!“ 

Sanft umfing er ihren ſchlanken Leib und ſanft zog er 
ſie an ſein Herz. Zutraulich legte ſie ihr Köpfchen auf die 
Schulter des jungen Räubers — beide ſchwiegen ... 

Die Zeit flog. „Es iſt Zeit“, ſprach endlich Maſcha. 
Dubrowskij erwachte wie aus einem tiefen Schlummer. 
Er ergriff ihre Hand und ſtreifte einen Ring an ihren 
Finger. „Wenn Sie den Entſchluß faſſen ſollten, meine 
Hilfe anzurufen,“ ſagte er: „dann tragen Sie dieſen 
Ring hierher, legen Sie ihn in die Höhlung dieſer 
Eiche; ich werde dann wiſſen, was ich zu tun habe.“ 

Dubrowskij küßte ihre Hand und verſchwand 
zwiſchen den Bäumen. 


Sechzehntes Kapitel 


Die Verlobung des Fürſten Werejskij blieb den 
Nachbarn nicht lange verborgen. Kirila Petrowitſch 


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Du browsk i] 


ließ es ſich ſogar gefallen, Glückwünſche entgegen— 
zunehmen, und ſchon wurden die Vorbereitungen zur 
Hochzeit getroffen. Tag für Tag verſchob Maſcha 
die entſcheidende Auseinanderſetzung. Ihr Verhalten 
gegen den alten Bräutigam war kalt und gezwungen. 
Allein das rührte den Fürſten wenig: er kümmerte 
ſich nicht viel um ihre Liebe, ihr ſchweigendes Ein- 
verſtändnis war ihm genug. 

Die Zeit eilte. Maſcha entſchloß ſich endlich zu 
handeln und ſchrieb dem Fürſten Werejskij einen 
Brief. Sie gab ſich darin Mühe, das Gefühl des 
Großmuts in ſeinem Herzen zu erwecken; ſie geſtand 
ihm freimütig, daß ſie nicht die geringſte Neigung zu 
ihm verſpüre; ſie flehte ihn an, auf ihre Hand zu ver⸗ 
zichten, und bat ihn ſogar, ihr zu helfen, wenn der 
Vater fie zwingen wollte. Heimlich übergab fie We- 
rejskij dieſen Brief. Er las ihn für ſich, doch bewegte 
ihn die Offenheit ſeiner Verlobten nicht im mindeſten. 
Im Gegenteil, er ſah jetzt die Notwendigkeit auf: 
ſteigen, die Hochzeit zu beſchleunigen, und hielt es 
daher für angebracht, den Brief ſeinem zukünftigen 
Schwiegervater zu zeigen. 

Kirila Petrowitſch geriet ganz aus dem Häuschen; 
nur mit Mühe und Not gelang es dem Fürſten, ihn 
zu überreden, es Maſcha nicht merken zu laſſen, daß 
der Brief ihm bekannt ſei. Kirila Petrowitſch ging 
darauf ein, ihr nichts davon zu ſagen, beſchloß aber, 
keine Zeit mehr zu verlieren, und ſetzte daher die Hoch— 


237 


| DubromsfPij 


zeit für den nächſten Tag feſt. Der Fürſt fand das 
ſehr verſtändlich und ging zu ſeiner Braut, um ihr 
zu ſagen, daß ihr Brief ihn ſehr betrübt hätte, aber 
daß er dennoch hoffe, ihre Neigung mit der Zeit zu 
erringen; daß der Gedanke, ihr zu entſagen, für ihn 
zu ſchwer ſei und daß er nicht die Kraft habe, ſein 
eigenes Todesurteil zu unterzeichnen. Hierauf küßte 
er ihr ehrfurchtsvoll die Hand und fuhr fort, ohne 
ihr ein Wort von Kirila Petrowitſchs Entſchluß ge⸗ 
ſagt zu haben. 

Kaum hatte ſein Wagen den Gutshof verlaſſen, 
da trat der Vater in ihr Gemach und befahl ihr kurz 
und bündig, ſich für den morgigen Tag bereit zu 
halten. Noch erregt von den Mitteilungen des Fürſten 
Werejskij, brach Marja Kirilowna in Tränen aus 
und warf ſich dem Vater zu Füßen. „Papachen!“ 
rief ſie mit kläglicher Stimme: „Papachen! ſtoßen 
Sie mich nicht ins Verderben; ich liebe den Fürſten 
nicht und will um nichts in der Welt ſeine Gemahlin 
werden.“ 

„Was ſoll das heißen?“ ſagte drohend Kirila Petro⸗ 
witſch: „Bis jetzt haſt du geſchwiegen und warſt mit 
allem einverſtanden, nun aber, da alles entſchieden 
iſt, kommt es dir in den Kopf, Launen zu zeigen und 
auf einmal nicht mehr zu wollen. Keine Torheiten, bitte; 
auf dieſe Weiſe kannſt du nichts bei mir gewinnen.“ 

„Stoßen Sie mich nicht ins Verderben!“ wieder⸗ 
holte die arme Maſcha: „Warum ſtoßen Sie mich 


238 


Du browsk ij 


von ſich fort und wollen mich einem ungeliebten Mann 
geben? Bin ich Ihnen wirklich ſo zuwider geworden? 
Ich will ja nichts, als bei Ihnen bleiben, Papachen! 
Sie werden es traurig ohne mich haben; und noch 
trauriger, weil Sie wiſſen werden, daß ich unglücklich 
bin. Papachen, zwingen Sie mich nicht: ich will ja 
noch gar nicht heiraten.“ 

Zwar war Kirila Petrowitſch gerührt, allein er 
verbarg ſeine Verwirrung und ſtieß die Tochter fort, 
indem er rauh hinzufügte: | 

„Nichts als Unſinn, hörſt du? Ich weiß beſſer 
als du, was du zu deinem Glücke brauchſt. Deine 
Tränen werden dir nicht helfen; übermorgen iſt die 
Hochzeit!“ | 

„Übermorgen!“ ſchrie Maſcha: „Mein Gott! Nein, 
nein, unmöglich, das darf nicht geſchehen! Hören Sie, 
Papa: wenn Sie ſchon entſchloſſen ſind, mich elend 
zu machen, dann werde ich einen Beſchützer finden, 
an den Sie bisher nicht gedacht haben; Sie werden 
ſehen und ſich entſetzen, wohin Sie mich gebracht 
haben.“ 

„Was? was?“ ſagte Trojekurow: „Drohungen! 
mir Drohungen! Freche Dirne! Ja, weißt du denn 
auch, daß ich mit dir machen kann, was du nicht für 
möglich hältſt? Du wagſt es, mir zu drohen, du Ци: 
ſinnige! Laß mal hören, wer dich beſchützen wird.“ 

„Wladimir Dubrowskij!“ rief Maſcha verzweifelt. 

Kirila Petrowitſch dachte nicht anders, als daß ſie 


239 


ХФ ибо {|}. 


von Sinnen fei, er blickte fie erſtaunt an. „Schon 
gut!“ meinte er darauf nach einem kleinen Schweigen! 
„Wart du nur auf welchen Beſchützer du immer willſt, 
inzwiſchen aber wirſt du in dieſem Zimmer bleiben und 
wirſt es bis zur Hochzeit nicht mehr verlaſſen.“ Mit 
dieſen Worten verließ Kirila Petrowitſch das Gemach 
und riegelte die Türe hinter ſich zu. 

Lange weinte das arme Mädchen, denn ihr war 
klar geworden, was ſie erwartete; die ſtürmiſche Aus⸗ 
einanderſetzung hatte ihr ein wenig das Herz erleich— 
tert, und ſie vermochte jetzt ruhiger an ihr Los und 
an das, was ihr bevorſtand, zu denken. Das Wichtigſte 
für ſie war, die verhaßte Heirat unmöglich zu machen; 
Gattin eines Räubers zu werden ſchien ihr ет Фа: 
radies im Vergleich zu dem Loſe, das man ihr Бе: 
ſtimmt hatte. Sie betrachtete den Ring, den Du⸗ 
browskij ihr gegeben hatte. Flammend ſtieg der 
Wunſch in ihr auf, ihn heimlich wiederzuſehen und 
noch einmal vor der entſcheidenden Minute mit ihm 
lange zu beraten. Eine Vorahnung flüſterte ihr zu, 
daß ſie Dubrowskij abends im Garten bei der Laube 
ſehen würde; ſie entſchloß ſich, ihn dort zu erwarten. 
Als die Dämmerung hereinbrach, traf Maſcha ihre 
Vorbereitungen; allein die Türe war feſt verſperrt; 
die Zofe rief ihr hinter der Türe zu, daß Kirila Petro 
witſch befohlen hätte, ſie nicht herauszulaſſen. Sie 
war gefangen. Tief verletzt nahm ſie vor dem Fenſter 
Platz und ſaß ſo bis in die tiefe Nacht hinein, ohne 


240 


ELEGANZ NE ZEIGE LET 


— 
nn 


Dubrowsk i! 


ſich auszukleiden, unbeweglich blickte ſie den dunklen 
Himmel an. Als es Morgen wurde, nickte ſie ein; 
aber ihr leiſer Schlaf war voll von traurigen Traum—⸗ 
geſichten und bereits die erſten Strahlen der auf— 
gehenden Sonne weckten ſie vollends auf. 


Siebzehntes Kapitel 


Sie erwachte, allein ſchon ihr erſter Gedanke galt 
dem ganzen Grauen ihrer Lage. Sie läutete, die Zofe 
trat ein und antwortete ihr auf ihre Frage, daß Kirila 
Petrowitſch noch geſtern abend nach Arbatowo ge— 
fahren und ſpät zurückgekommen ſeiz daß er den ſtrengen 
Befehl erteilt habe, ſie nicht aus ihrem Zimmer zu 
laſſen und darauf acht zu geben, daß niemand mit 
ihr ſpreche; und endlich, daß freilich noch keinerlei 
Zurüſtungen zur Hochzeit getroffen worden ſeien, 
außer dieſer einen, daß dem Prieſter befohlen wurde, 
unter gar keinen Umſtänden den Ort zu verlaſſen. 
Nachdem ſie dieſes berichtet hatte, verließ die Zofe 
Marja Kirilownas Zimmer und riegelte die Türe 
hinter ſich zu. 

Ihre Worte erbitterten die junge Gefangene. Ihr 
Kopf kochte, ihr Blut erhitzte ſich; ſie war jetzt feſt 
entſchloſſen, Dubrowskij Nachricht zukommen zu laſſen 
und ſuchte nur noch nach einem Mittel, den Ring in 
die Höhlung der bekannten Eiche zu verſenken. In 
dieſem Augenblick ſchlug ein kleiner Stein gegen ihr 
Fenſter, das Glas klirrte und Marja Kirilowna blickte 


P. 1 16 
241 


Dubromsfij 


hinaus: auf dem Hof gewahrte fie den kleinen 
Saſcha, der ihr zuwinkte. Sie wußte, wie zugetan 
er ihr war, und freute ſich. „Guten Morgen, Saſcha; 
warum rufſt du mich?“ — „Schweſterchen, ich kam, 


um zu erfahren, ob Sie mich nicht vielleicht brauchen. 


Papachen iſt böſe und hat allen Bedienten verboten, 
Ihnen zu gehorchen; mir aber können Sie befehlen, 
was Sie wollen, ich werde alles für Sie tun.“ 

„Ich danke dir, mein lieber Saſcha. Hör mal, 


kennſt du die alte Eiche, die neben der Laube ſteht? “ 


„Freilich, Schweſterchen.“ 


„Wenn du mich liebſt, lauf ſchnell dorthin und leg р 
diefen Ring in die Höhlung; und ſieh zu, daß niemand 


dich dabei ertappt!“ 


Mit dieſen Worten warf ſie ihm den Ring zu und v 


Schloß das Fenſter. 


Der Knabe hob den Ring auf und lief ſo ſchnell | 


ег konnte fort, fo daß er ſchon nach drei Minuten 
vor dem Baum war. Dort blieb er atemlos ſtehen, 


ſchaute ſich um und legte darauf den Ring in die | 
Höhlung. Nachdem er dieſes Werk glücklich voll⸗ 


bracht, war es eigentlich feine Abſicht, Marja Kiri⸗ 
lowna augenblicks davon zu benachrichtigen; aber 
plötzlich tauchte ein rothaariger und abgeriſſener 
Burſche hinter der Laube auf, ſprang auf die Eiche 


zu und ſteckte die Hand in die Höhlung. Schneller 


als ein Eichkätzchen ſtürzte ſich Saſcha auf ihn und 
klammerte ſich mit beiden Armen feſt. 


242 


Dh 


e 


Dubromstij 


„Was fuft du hier?“ fragte er ihn drohend. 

„Was geht dich das an?“ entgegnete der Bub 
und bemühte ſich, von ihm loszukommen. 

„Laß den Ring liegen, Roter,“ ſchrie Saſcha: 
„oder ich will es dir zeigen.“ 

Aber zur Antwort ſchlug jener ihn mit der Fauſt 
ins Geſicht; Saſcha ließ ihn trotzdem nicht los und 
ſchrie ſo laut er konnte: „Diebe! Diebe! hierher! 
hierher!“ 

Der Bub tat, was er konnte, um frei zu kommen. 
Er war etwa zwei Jahre älter als Saſcha und mithin 
ſtärker; allein Saſcha war gewandter. So kämpften 
ſie einige Minuten; endlich bekam der rote Bub die 
Oberhand. Er warf Saſcha auf die Erde und packte 
ihn an der Gurgel. Aber im ſelben Augenblick griff 
eine ſtarke Fauſt in ſeine roten und borſtigen Haare 
und der Gärtner Stepan hob ihn in die Höhe. 

„Ach, du rote Beſtie,“ ſagte der Gärtner: „wie 
unterſtehſt du dich, den jungen Herrn zu hauen?“ 

Saſcha ſprang auf und ordnete ſeine Kleidung. 

„Du haſt mich mit einem falſchen Griff gepackt,“ 
rief er: „ſonſt hätteſt du mich nie unterbekommen. 
Gib jetzt den Ring her, und mach, daß du fortkommſt.“ 

„Was du nicht ſagſt,“ entgegnete der Rote, drehte 
ſich geſchwind um und befreite ſeine Borſten aus den 
Händen Stepans. 

Er lief ſchnurſtracks davon, aber Saſcha kam ihm 
zuvor, ſtieß ihn in den Rücken und der Bub fiel im 


243 


Dubromsfij 


vollen Lauf hin, und wieder packte ihn der Gärtner, 
doch feſſelte er ihn dieſes Mal mit einem Gurt. 

„Den Ring her!“ ſchrie Saſcha. 

„Halt, junger Herr,“ meinte Stepan: „wir wollen 
ihn zum Verwalter bringen, der wird mit ihm ſchon 
fertig werden.“ 

Der Gärtner führte den Gefangenen auf den Guts = 
hof und Saſcha ging mit, beſorgt betrachtete er ſeine 
zerriſſenen und vom Graſe beſchmutzten Hoſen. Plötz⸗ 
lich ſtanden die drei vor Kirila Petrowitſch, der gerade 
dabei war, die Pferde zu beſichtigen. | 

„Was foll das?“ fragte er Stepan. 

Mit wenigen Worten berichtete ihm Stepan über 
den Vorfall. 

Aufmerkſam hörte ihn Kirila Petrowitſch an. 

„Du Leichtfuß,“ ſagte er, indem er ſich zu Saſcha 
wendete, „aus welchem Grunde haſt du mit ihm ge— 
rauft?“ 

„Er hat doch den Ring aus der Eiche geſtohlen, За: 
pachen; befehlen Sie ihm, den Ring herauszugeben.“ 

„Was für einen Ring? Und aus was für einer 

Eiche?“ | 
„Den mir Marja Kirilowna ... ja, den Ring 
doch...“ 

Saſcha geriet in Verlegenheit und ſtockte verwirrt. 
Kirila Petrowitſchs Geſicht verfinſterte ſich, er ſagte 
kopfſchüttelnd: | 

„Marja Kirilowna ſteckt alfo hinter dieſer Sache. 


244 


Dubrowsk ij 


Geſteh mir alles, oder du ſollſt die Rute zu ſchmecken 
bekommen, daß du nicht mehr wiſſen wirſt, wer du 
БИ!“ Kurz 

„Aber bei Gott, Papachen ... ich, Papachen . 
Marja Kirilowna hat mir nichts aufgetragen, Pa— 
pachen.“ | 

„Stepan! geh und ſchneid mir hübſche friſche 
Birkenruten.“ 

„Halt, Papachen, ich will Ihnen alles erzählen. 
Ich lief heute über den Hof, da öffnete mein Schwe— 
ſterchen Marja Kirilowna ihr Fenſter und ich lief 
herbei und das Schweſterchen ließ ganz ohne Abſicht 
den Ring fallen und ich verſteckte ihn in der Eiche 
und ... und... dieſer rote Bub da wollte den Ring 

ſtehlen.“ 

. „Ließ ihn ohne Abſicht fallen, und du wollteſt ihn 
verſtecken ... Stepan! hol die Ruten.“ 

„Papachen, warten Sie doch, ich will alles er: 
zählen. Schweſterchen Marja Kirilowna befahl mir, 
zur Eiche zu laufen und den Ring in die Höhlung zu 
ſtecken; ſo lief ich denn hin und verſteckte den Ring, 
aber dieſer ſchlimme Bub da ...“ 

Kirila Petrowitſch wendete ſich nunmehr dem 
ſchlimmen Bub zu und fragte ihn drohend: „Wem 
gehörſt du?“ 

„Ich bin vom Gutsgeſinde der Herren Dubrowskij,“ 
entgegnete dieſer. 

Kirila Petrowitſchs Miene verdüſterte ſich. 


245 


Dubromsfij 


„Du erkennſt mich, ſcheints, nicht als deinen Herrn 
an — ſchon gut. Und was tateſt du in meinem 
Garten?“ 

„Himbeeren tat ich ſtehlen.“ 

„Aha! der Herr wie der Knecht; wie der Prieſter, 
ſo iſt auch das Kirchſpiel; aber ſeit wann wachſen 
denn bei mir die Himbeeren auf den Nn e Haſt du 
ſchon ſo was gehört?“ 

Der Bub hatte nichts zu entgegnen. 

„Papachen, befehlen Sie ihm doch, den Ring 
herauszugeben,“ meinte Saſcha. 

„Schweig, Saſcha!“ erwiderte Kirila Petrowitſch: 
„Vergiß nicht, daß ich auch mit dir noch ein Wörtchen 
zu ſprechen habe. Geh jetzt in dein Zimmer. Du, 
Schielender, du ſcheinſt mir ein flinker Burſche zu ſein; 


wenn du mir jetzt alles geſtehen willſt, werde ich dich 


nicht prügeln laſſen, ſondern dir ſogar einen Fünfer 
geben, damit du dir Nüſſe kaufen kannſt. Gib den 
Ring her, dann kannſt du gehen.“ Der Bub öffnete 
die Fauſt und zeigte, daß ſich nichts in ſeiner Hand 
befand. „Aber wenn du das nicht tun wirſt, dann 
ſoll dir etwas geſchehen, was du nicht erwarteſt. 
Nun!“ 

Jedoch der Bub entgegnete immer noch nichts, er 
ließ nur den Kopf hängen und gab ſich das Ausſehen 
eines völligen Narren. 

„Schon gut!“ ſagte Kirila Petrowitſch: „Man 
ſperre ihn irgendwo ein und paſſe gut auf, daß er 


246 


DubromsPfij 


uns nicht entwiſcht, fonft laſſe ich dem ganzen Haufe 
die Haut abſchinden.“ 

Stepan brachte den Buben zum Taubenſchlag, 
ſperrte ihn dort ein und befahl der alten Vogelwär⸗ 
terin Agafja, auf ihn acht zu geben. 

„Kein Zweifel mehr: fie unterhält noch immer Зе: 
ziehungen zu dieſem verwünſchten Dubrowskij. Wenn 
ſie ihn aber in der Tat um Hilfe gebeten hätte,“ über⸗ 
legte Petrowitſch, während er in ſeinem Zimmer auf 
und ab {фей und wütend „Siegesdonner ſoll er: 
ſchallen“ vor ſich hinpfiff, „dann werde ich zum min: 
deſten jetzt auf ſeine warme Spur geraten und er wird 
mir nicht mehr entſchlüpfen. Wir wollen uns dieſen 
Zufall zunutze machen ... Horch! ein Glöckchen; Gott 
fei Dank, der Polizeileutnant. Man führe den er: 
tappten Burſchen vor.“ 

Unterdeſſen rollte der Wagen in den Hof und 
völlig beſtaubt trat der uns bereits bekannte Polizei: 
leutnant ins Zimmer. 

„Eine prächtige Nachricht!“ ſagte Kirila Petro— 
witſch: „Ich habe Dubrowskij gefangen.“ 

„Gott ſei Dank, Exzellenz!“ meinte der Polizei⸗ 
leutnant ſichtlich erfreut. „Wo iſt er denn?“ 

„Das heißt, eigentlich nicht Dubrowskij, ſondern 
nur einen aus ſeiner Bande. Man wird ihn gleich 
vorführen. Er kann uns behilflich fein, den Räuber: 
hauptmann zu fangen. Da iſt er ſchon.“ 

Allein wie erſtaunte der Polizeileutnant, der einen 


247 


Dubromsfij 


wilden Räuber зи ſehen erwartet hatte, als er nichts 
als einen dreizehnjährigen ziemlich ſchwächlichen Bur⸗ 
ſchen erblickte. Verwundert drehte er ſich zu Kirila — 
Petrowitſch um und wartete auf die Erklärung. Ki⸗ 
rila Petrowitſch erzählte ihm den morgendlichen Vor⸗ 
fall, ohne freilich Marja Kirilowna dabei zu erwähnen. 

Auf merkſam hörte der Polizeileutnant zu und ſchaute 
unabläſſig den kleinen Taugenichts an, der immer noch 
weiter den Narren ſpielte und ſcheinbar nichts von 
alledem, was ſich rings um ihn zutrug, beachtete. 1 

„Geſtatten Sie mir, Exzellenz, mit Ihnen unter 
vier Augen zu ſprechen,“ ſagte ſchließlich der Polizei⸗ 
leutnant. f 

Kirila Petrowitſch führte ihn in ein Nebenzimmer 
und ſchloß die Türe. 

Sie betraten erſt nach einer halben Stunde den 
Saal, in dem der Gefangene das Urteil erwartete, 
das man über ihn gefällt hatte. 

„Der gnädige Herr wollte dich eigentlich in das 
Stadtgefängnis werfen,“ ſprach der Polizeileutnant 
zu ihm, „er wollte dich auspeitſchen laſſen und dich 
nach Sibirien ſchicken, allein ich trat für dich ein und 
habe deine Begnadigung erwirkt. Man binde ihn N 

Der Bub wurde losgebunden. 

„Bedank dich beim gnädigen Herrn,“ ſagte der 
Polizeileutnant. | 

Der Knabe näherte ſich Kirila Petrowitſch und 
küßte ihm die Hand. f 


248 


Du bro wsk i] 


„Marſch nach Haufe,“ Гаде ihm Kirila Petro: 
witſch, „und ſtiehl mir in Zukunft keine Himbeeren 
mehr aus hohlen Eichenſtämmen.“ 

Der Knabe verließ das Gemach, ſprang luſtig die 
Freitreppe hinunter und lief, was er laufen konnte, 
ohne ſich lange umzuſchauen, übers Feld nach Kiſten— 
jowka. Als er zum Dorf kam, blieb er vor einer halb: 
verfallenen Hütte ſtehen und klopfte ans Fenſter. Das 
Fenſter öffnete ſich und das Antlitz einer Greiſin er— 
ſchien darin. 

„Brot, Großmütterchen!“ ſagte der Bub: „Vom 
Morgen an habe ich nichts gegeſſen, ich ſterbe faſt 
vor Hunger.“ 

„Ach! du biſt es, Mitja; wo ſteckteſt du dan du 
junger Teufel?“ entgegnete die Alte. 

„Ich erzähls dir ſpäter, Großmütterchen; jetzt gib 
mir um Gottes willen Brot!“ 

„Komm doch wenigſtens ins Haus.“ 

„Keine Zeit, Großmütterchen: ich muß gleich wieder 
fortlaufen. Brot, um Chriſti willen, Brot!“ 

„Kein Sitzfleiſch,“ knurrte die Alte. „Da Бай du 
einen Happen Schwarzbrot.“ 

Gierig biß der Bub hinein und ging kauend fort. 

Es begann zu dämmern; durch Gräben und über 
Felder ſchlich Mitja zu dem Wäldchen von Kiſten— 
jowka. Als er zu den zwei Fichten gekommen war, 


blieb er ſtehen, ſchaute ſich vorſichtig um und pfiff 
dann kurz mit durchdringendem Zone; ein leiſes, aber 


249 


Dubromsfij 


langanhaltendes Pfeifen kam zur Antwort: jemand 
trat aus dem Wäldchen und näherte ſich ihm. 


Achtzehntes Kapitel 


Auf und ab ſchritt Kirila Petrowitſch im Saal und 
pfiff ſein Lied noch lauter als ſonſt. Das ganze Haus 
war in Aufregung; die Bedienten liefen hin und her 
und ebenſo die Mägde. Auf dem Gutshof drängte 
ſich das Volk. Im Ankleidezimmer des Fräuleins 
ſchmückte eine von Zofen umringte Dame vor dem 
Spiegel die bleiche, unbewegliche Marja Kirilowna; 
ſchwermütig neigte dieſe ihren Kopf unter der Laſt 
der Brillanten; ſie fuhr nur leicht zuſammen, wenn 
eine unvorſichtige Hand ſie aus Verſehen mit der 


Nadel ſtach, aber ſie ſchwieg und ſchaute gedankenlos 


in den Spiegel. „Wirds bald?“ ſchallte Kirila Petro⸗ 
witſchs Stimme durch die Tür. — „Im Augenblick!“ 
erwiderte die Dame: „Stehen Sie jetzt auf, Marja 
Kirilowna, und betrachten Sie ſich, ob alles auch 
recht ſitzt? “ Marja Kirilowna erhob ſich, allein ſie 
ſchwieg noch immer. Die Tür öffnete ſich. „Die Braut 
iſt angezogen,“ meldete die Dame Kirila Petrowitſch. 
„Befehlen Sie, daß der Wagen vorfährt.“ — „Mit 
Gott!“ entgegnete Kirila Petrowitſch und nahm ein 
Heiligenbild vom Tiſch: „Komm jetzt zu mir, Maſcha,“ 
ſagte er darauf mit gerührter Stimme: „Ich will dich 
ſegnen ...“ Das arme Mädchen fiel vor ihm nieder 


und ſchluchzte: „Papachen ... Papachen ...“ ſprach 


250 


ä 


DubromsPij 


fie mit tränenerſtickter und ſchon verſagender Stimme. 
Kirila Petrowitſch beeilte ſich, fie zu ſegnen; man 
richtete ſie auf und trug ſie zum Wagen. Mit ihr 
ſtieg die Dame ein, die bei der Trauung ihre Mutter 
zu vertreten hatte, und ferner eine der Zofen. Sie 
fuhren zur Kirche. Der Bräutigam erwartete ſie be⸗ 
reits. Er eilte der Braut entgegen und war von ihrer 
Bläſſe und ihrem ſonderbaren Ausſehen nicht wenig 
überraſcht. Sie betraten zuſammen die kalte Kirche; 
die Türe wurde hinter ihnen verriegelt. Der Prieſter 
trat zum Altar und begann alsbald mit der feier⸗ 
lichen Handlung. Marja Kirilowna ſah und hörte 
nichts; nur ein Gedanke verfolgte ſie ſeit dem frühen 
Morgen: ſie wartete auf Dubrowskij; die Hoffnung, 
ihn zu ſehen, verließ ſie keine Minute. Auch als gleich 
darauf der Prieſter ſich mit der üblichen Frage an ſie 
wandte, erſchauerte ſie und war faſt wie von Sinnen, 
allein ſie zögerte noch immer, denn noch immer war⸗ 
tete ſie. Jedoch da ſprach der Prieſter, ohne erſt auf 
ihre Antwort zu warten, bereits die unwiderruflichen 
Worte. 

Die Feierlichkeit war zu Ende. Sie fühlte auf ihren 
Lippen den kalten Kuß des ungeliebten Gatten; ſie 
hörte die ſchmeichleriſchen Glückwünſche der Anweſen— 
den und konnte noch immer nicht glauben, daß nun 
ihr Leben auf ewig in Feſſeln liege und daß Du— 
browskij nicht herbeigeflogen war, fie zu befreien. Mit 
zärtlichen Worten redete der Fürſt ſie an — aber ſie 


231 


Dubromsfij 


konnte keines davon begreifen; fie verließen die Kirche; 
vor der Kirchentüre drängten ſich die Bauern aus 
Pokrowskoje. Flüchtig glitt ihr Blick über die Menge 


und erſtarrte dann wieder in der früheren Gefühls- 
loſigkeit. Das neue Paar nahm im Wagen Platz 
und fuhr nach Arbatowo, wohin ſich Kirila Petrowitſch 


bereits begeben hatte, um dort die Jungvermählten 
zu begrüßen. Der Fürſt, der nun mit ſeiner jungen 
Gattin allein war, ſchien keineswegs durch ihre kalte 
Miene in Verwirrung zu geraten. Er langweilte ſie 
nicht mit erheuchelten Geſtändniſſen und lächerlicher 
Seligkeit; ſeine Worte waren einfach und verlangten 
keine Antwort. Auf dieſe Weiſe legten ſie zehn Werſt 
zurück; ſchnell eilten die Pferde über die Landwege 
und der Wagen, der auf engliſchen Federn ruhte, 
rollte ſanft dahin. Plötzlich ertönten Schreie hinter 
ihnen, als ob jemand ſie verfolge; der Wagen hielt 
und wurde augenblicks von einer Schar bewaffneter 
Leute umringt. Ein Mann in einer Halbmaske öffnete 
die Wagentüre auf der Seite der jungen Fürſtin und 
rief ihr zu: „Sie ſind frei! ſteigen Sie aus.“ — 
„Was ſoll das heißen?“ ſchrie der Fürſt: „Wer biſt 
du? . .. — „Es ИЕ Dubrowskij,“ entgegnete die 
Fürſtin. Der Fürſt verlor keineswegs ſeine Geiſtes⸗ 
gegenwart, er zog eine Reiſepiſtole aus der Seiten⸗ 
taſche und ſchoß ſie auf den Räuber in der Maske 
ab. Die Fürſtin ſchrie auf und ſchlug entſetzt beide 
Hände vors Geſicht. Dubrowskijs Schulter war рег: 


252 


* 
ne 


Du browsk ij 


wundet worden; fein Blut ſtrömte reichlich. Ohne Zeit 
zu verlieren, ergriff der Fürſt eine zweite Piſtole. Aber 
man erlaubte ihm nicht, fie abzudrücken, die Wagen— 
türen öffneten ſich, einige ſtarke Arme riſſen ihn aus 
dem Wagen und entriſſen ihm die Piſtole. Und ſchon 
blitzten über ihm die Dolche. „Rührt ihn nicht an!“ 
ſchrie Dubrowskij und ſogleich traten ſeine finſtern 
Mitverſchworenen beiſeite. „Sie ſind frei!“ fuhr 
Dubrowskij zur blaſſen Fürſtin gewendet fort. — 
„Nein,“ entgegnete ſie, „es iſt zu ſpät! ich bin ge— 
traut worden, ich bin die Gattin des Fürſten We⸗ 
rejskij.“ — „Was ſagen Sie da!“ ſchrie Dubrowskij 
verzweifelt. „Nein, keineswegs ſind Sie ſeine Ge— 
mahlin, man hat Sie gezwungen, Sie haben Ihre 
Zuſtimmung nicht freiwillig gegeben ...“ — „Ich 
gab meine Einwilligung und habe es beſchworen,“ 
entgegnete ſie feſt: „Der Fürſt iſt mein Gatte; befehlen 
Sie, ihn freizulaſſen, und verlaſſen Sie uns. Ich habe 
Sie nicht betrogen. Ich habe bis zur letzten Minute 
auf Sie gewartet ... jetzt aber, ich ſagte es Ihnen 
ſchon, jetzt iſt es zu ſpät. Verlaſſen Sie uns.“ Allein 
Dubrowskij hörte es nicht mehr; die ſchmerzende 
Wunde und die heftigen Gemütserregungen hatten 
ihm das Bewußtſein geraubt. Er ſtürzte neben dem 
Wagen nieder; die Räuber umringten ihn. Er war 
noch gerade imſtande, ihnen einige Worte zuzuflüſtern; 
ſie ſetzten ihn aufs Pferd, zwei von ihnen ſtützten ihn, 
ein dritter führte das Pferd am Zaum und ſo zogen 


233 


Dubromsfij 


fie fort, während der Wagen mit den gefeſſelten Leuten 
und ausgeſpannten Pferden mitten auf der Landſtraße 
ſtehen blieb; es war nichts geplündert worden und das 
gefloſſene Blut des Häuptlings war durch keinen 
fremden Blutstropfen gerächt worden. 


Neunzehntes Kapitel 


Auf der ſchmalen Lichtung mitten im dichten Walde 
erhob ſich eine kleine Befeſtigung, die aus nicht viel 
mehr als Wall und Graben beſtand, hinter denen 
ſich einige Zelte und Erdhütten befanden. Viele Leute, 
die man nach der Verſchiedenheit ihrer Kleider und 
der allgemeinen Bewaffnung auf den erſten Blick 
für Räuber halten konnte, ſpeiſten dort friedlich, mit 
unbedeckten Häuptern daſitzend, zu Mittag aus einem 
brüderlichen Keſſel. Auf dem Wall ſaß neben der 
kleinen Kanone ein Wachtpoſten mit gekreuzten Beinen. 
Er ſetzte gerade einen Flicken auf einen gewiſſen Be⸗ 
ſtandteil ſeiner Kleidung und handhabte die Nadel 
mit ſolcher Kunſt, daß man augenblicks erraten konnte, 
daß er ein Schneider war; er ſpähte dabei unabläſſig 
nach allen Seiten. 

Obwohl eine gewiſſe Schale ſchon mehrfach die 


Runde von Hand zu Hand gemacht hatte, herrſchte 


ein ſonderbares Schweigen in der Schar; als die 
Räuber mit dem Mittageſſen fertig waren, erhob ſich 
einer nach dem andern und verrichtete ſein Gebet; 
einige gingen in ihre Zelte, die andern aber zerſtreuten 


254 


Dubromsfij 


ſich im Walde, oder ſtreckten ſich nach ruffifcher Фе: 
wohnheit aus, um zu ſchlafen. 

Der Wachtpoſten beendigte ſeine Arbeit, er ſchüt— 
telte die Fetzen von ſich, betrachtete zufrieden das ge⸗ 
flickte Kleidungsſtück, ſteckte die Nadel in den Armel, 
ſetzte ſich rittlings auf die Kanone und ſtimmte aus 

voller Kehle das alte melancholiſche Volkslied an: 

V„5V Rauſche nicht, o Mütterchen, du grüner Eichen⸗ 
wald.“ 

Im ſelben Augenblick aber öffnete ſich eines der 
Zelte und eine alte, ſorgfältig, ja Гай peinlich ап: 
gezogene Frau in einer weißen Haube erſchien auf 
der Schwelle. „Laß das, Stjopka,“ rief ſie ärgerlich. 
„Der Herr ſchlummert, und du brüllſt: gewiſſenlos 
feid ihr alle und ohne Mitgefühl.“ — „Verzeih, Pe: 
trowna,“ entgegnete Stjopka: „Schon gut, ich tus 
nicht mehr, mag unſer Väterchen nur ruhen und ве: 
ſund werden.“ Die Alte verſchwand, und Stjopka 
begann auf dem Wall auf und ab zu gehen. 

Im Zelt, in dem die Alte verſchwunden war, ruhte 
hinter einer ſpaniſchen Wand auf ſeiner einfachen 
Bettſtatt der verwundete Dubrowskij. Neben ihm 
lagen auf einem kleinen Tiſch ſeine Piſtolen, ihm zu 
Häupten hing der Säbel. Reiche Teppiche bedeckten 
den Boden und hingen an den Wänden; in der einen 
Ecke ſtanden Toilettengegenſtände aus Silber, die 
nur für eine Frau beſtimmt geweſen ſein konnten, 
dortſelbſt ragte ein hoher Spiegel. In Dubrowskijs 


255 


DubromsPij 


Hand lag ein offenes Buch, allein er hielt die Augen 
geſchloſſen, und darum konnte die Alte, die den Kopf 
hinter die ſpaniſche Wand ſteckte, um nach ihm zu 
ſchauen, nicht erraten, ob er eingeſchlafen war, oder 
ob er nur nachdachte. 

Plötzlich erbebte Dubrowskij. Lärm ſchallte inner⸗ 
halb der Befeſtigung und gleich darauf ſteckte Stjopka 
den Kopf durch die Offnung. „Väterchen, Wladimir 
Andrejewitſch!“ ſchrie er, „die Unſrigen geben das 


Signal: man ſucht uns.“ Dubrowskij ſprang aus 


dem Bett, griff nach ſeinen Waffen und trat aus dem 


Zelt. Draußen drängten ſich geräuſchvoll die Räuber; 


als er erſchien, entſtand ein tiefes Schweigen. „Alle 
zur Stelle?“ fragte Dubrowskij. — „Alle, außer den 
Spähern,“ wurde ihm zur Antwort. — „Auf eure 
Plätze!“ ſchrie Dubrowskij, und alsbald nahm ein 
jeder der Räuber den Platz ein, der ihm angewieſen 
worden war. Im gleichen Augenblick näherten ſich 


im ſchnellen Laufe bereits die drei Späher. Du⸗ 
browskij ging ihnen entgegen. „Was gibts?“ fragte 


er. — „Soldaten im Walde,“ entgegneten jene: „Sie 
umzingeln uns.“ Dubrowskij befahl, die Pforte zu 
ſchließen, und eilte, die Kanone zu beſichtigen. Schon 
wurden Stimmen im Walde hörbar, die ſich immer 
mehr näherten. Stumm warteten die Räuber. Plötz⸗ 
lich traten drei oder vier Soldaten aus dem Walde 
und fuhren ſogleich zurück. Sie ſchoſſen ihre Gewehre 
ab, um ihre Kameraden zu benachrichtigen. „Fertig 


236 


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Du browsk ij 


zum Kampf!“ ſagte Dubrowskij; ein leiſes Geräuſch 
ſtieg auf, aber gleich darauf herrſchte wieder die alte 
Stille. Sie hörten den Lärm der heranmarſchierenden 
Truppe; ſchon blitzten Gewehrläufe zwiſchen den Bäu⸗ 
men auf; einige anderthalbhundert Soldaten ſtrömten 
aus dem Walde und liefen ſchreiend auf den Wall zu. 
Dubrowskij ſetzte die Lunte an: der Schuß war gut 
gezielt — er riß dem einen den Kopf ab und рег: 
wundete zwei andere. Die Soldaten gerieten in Ver— 
wirrung, allein ihr Offizier ſtürmte vorwärts und da 
folgten ihm die Soldaten und waren bereits im Graben. 
Die Räuber ſchoſſen ihre Flinten und Piſtolen auf ſie 
ab und ſchickten ſich darauf an, mit ihren Beilen den 
Wall zu verteidigen, den die gereizten Soldaten, die 
im Graben einige zwanzig verwundete Kameraden 
zurückgelaſſen hatten, haſtig erſtiegen. Es kam zu 
einem Handgemenge. Die Soldaten waren bereits 
auf dem Wall — die Räuber begannen zu weichen; 
da näherte ſich Dubrowskij dem Offizier, ſetzte ihm 
die Piſtole auf die Bruſt und drückte ab. Der Offizier 
ſtürzte rücklings zu Boden, einige Soldaten hoben 
ihn auf und trugen ihn eilig zum Wald zurück; die 
übrigen blieben, als ſie ihren Befehlshaber verloren 
hatten, unſchlüſſig ſtehen. Dieſen Augenblick des Zwei⸗ 
fels benutzten die ermutigten Räuber und trieben ſie 
vom Wall hinunter und ſtießen ſie in den Graben; 
die Belagerer flohen; ſie wurden mit wildem Geſchrei 
von den Räubern verfolgt. Der Sieg war entſchieden. 


P. I 17 
257 f | 


Dubromsfij 


Da Dubrowskij eine vollkommene Niederlage des 
Feindes annehmen konnte, ſammelte er die Seinigen 
und ſchloß ſich in der Befeſtigung ein. Er verdoppelte 
die Wachtpoſten, befahl aufs ſtrengſte, daß niemand 
fortdürfe, und befahl ferner, die Verwundeten herbei⸗ 
zuſchaffen. 

Dieſe Begebenheit bewirkte, daß die Obrigkeit ſich 
nunmehr im Ernſte mit Dubrowskijs dreiſten Räuber⸗ 
taten befaßte. Man ſammelte Nachrichten über ſeinen 
Aufenthalt. Schließlich wurde eine Kompagnie Gol: 
daten entſandt, um ihn, tot oder lebend, in die Hände 
zu bekommen. Aber man erwiſchte nichts als einige 
Leute aus ſeiner Bande und erfuhr von dieſen, daß 
Dubrowskij ſchon ſeit geraumer Zeit nicht mehr in ihrer 
Schar weile, denn einige Tage nach dem geſchilderten 
Vorfall hatte er alle ſeine Genoſſen verſammelt und 
ihnen mitgeteilt, daß es ſeine Abſicht ſei, ſie auf immer 
zu verlaſſen, und daß er auch ihnen riete, ihre Lebens⸗ 


weiſe nunmehr zu ändern. „Ihr ſeid unter meinem 


Kommando wohlhabend geworden, ein jeder von euch 
hat die notwendigen Papiere, mit denen er ungefährdet 
in ein entferntes Gouvernement gelangen kann, um 
den Reſt ſeines Lebens in ehrlicher Arbeit und ſogar 


im Überfluß zu verbringen. Aber ihr ſeid freilich alle 
Gauner und werdet vermutlich wenig Luft verſpüren, 


euer Handwerk zu laſſen.“ Nachdem er dieſes ge⸗ 
ſprochen, war er von ihnen gegangen und hatte einzig 
mit ſich genommen. Niemand wußte, wohin er 


258 


Dubromsfij 


fi) gewendet hatte. Zwar wurde die Aufrichtigkeit 
dieſer Geſtändniſſe anfangs bezweifelt, denn es war 
ja bekannt, wie ſehr die Räuber an ihrem Hauptmann 
hingen: man nahm an, daß ihre Ausſagen lediglich 
bezwecken ſollten, ihn zu retten; allein die Folge gab 
ihnen recht. Die ſchreckhaften Heimſuchungen, die 
Brandſtiftungen und Plünderungen ließen nach, die 
Landſtraßen waren wieder gefahrlos geworden. Aus 
andern Berichten erfuhr man einige Zeit darauf, daß 
Dubrowskij ins Ausland geflüchtet war. 


Pique Dame 


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Brach der Abend herein 
Fanden alle ſich ein 
Immer; 
Setzten Fünfzig und mehr, 
Bogen Hunderter Бег... 
Himmel! 
Den Verluſt und Gewinn 
Schrieb mit Kreide man hin 
Flüchtig; 
So erwies ſich fürwahr 
Noch ein jeder der Schar 
Tüchtig. 
K. Rylejew 
Bei Narumow, einem Offizier des Gardekavallerie⸗ 
regiments, wurde Karten geſpielt. Die lange Winter: 
nacht verging faſt unbemerkt; erſt um die fünfte Stunde 
des Morgens ſetzte man ſich zum Eſſen. Jene, die де: 
wonnen hatten, aßen mit großem Appetit, die anderen 
ſaßen gedankenvoll vor ihren unberührten Gedecken. 
Doch der Champagner kam, das Geſpräch wurde [еБ: 
haft, und alle nahmen daran teil. 
„Nun, und du, Sſurin?“ fragte der Hausherr. 
„Verloren, wie gewöhnlich. Ich muß ſagen, ich 
habe kein Glück: trotzdem ich ſtets Mirandole ſpiele, 
trotzdem ich mich nie aufrege und mich durch nichts 
aus der Faſſung bringen laſſe, verliere ich dennoch 
immer!“ 


„Und du haſt dich wirklich nie hinreißen laſſen? Nie 
263 


Pique Dame 


auf Route geſetzt? ... Eine Feſtigkeit, die mir Er⸗ 
ſtaunen einflößt! “ 5 

„Was ſagt ihr da erſt zu Hermann!“ warf einer der 
Gäſte ein, indem er auf den jungen Genieoffizier wies: 
„er hat überhaupt noch nie Karten in die Hand де: 
nommen, noch nie in ſeinem Leben ein Paroli gebogen 
und dennoch ſitzt er bis fünf Uhr hier mit uns und 
ſchaut unſerem Spiel zu.“ 

„Kartenſpiel intereſſiert mich ſehr,“ entgegnete Her⸗ 
mann, „aber ich bin leider nicht in der Lage, der Hoff⸗ 
nung Überflüſſiges zu gewinnen das Unentbehrliche 
zu opfern.“ 

„Er iſt ein Deutſcher, der Hermann: er verſteht zu 
rechnen — das erklärt alles!“ bemerkte Tomskij. — 
„Wen ich jedoch abſolut nicht begreifen kann, das iſt 
meine Großmutter, Gräfin Anna Fedotowna.“ 

Die anderen riefen „wie?“ und „warum?“ 

„Mir iſt unbegreiflich,“ fuhr Tomskij fort, „aus 
welchem Grunde meine Großmutter nicht pointiert.“ 

„Das nennſt du unbegreiflich,“ verſetzte Narumow, 
„wenn eine achtzigjährige Greiſin nicht pointiert?“ 

„Dann habt ihr wohl noch nichts von ihr gehört?“ 

„Nie! wahrhaftig nichts!“ 

„Nun, dann hört mal zu! Vor einigen ſechzig Jahren, 
müßt ihr wiſſen, reiſte meine Großmutter nach Paris 
und war dort bald in großer Mode. Man drängte 
fi), um la Vénus moseovite zu ſehen; ja, Richelieu 
ſelber machte ihr den Hof und die Großmutter Бе: 


264 


Pique Dame 


teuert, er hätte ſich ihrer Unnahbarkeit wegen bald 
das Leben genommen. Damals war das Pharaoſpiel 
bei den Damen ſehr beliebt. Nun, und einmal verlor 
ſie bei Hofe gegen den Herzog von Orleans irgendwie 
ſehr viel und zwar auf Ehrenwort. Nach Haufe зи: 
rückgekehrt, teilte ſie dem Großvater, während ſie die 
Mouchen von ihrem Geſicht löſte und den Reifrock 
losſchnürte, die Höhe ihres Spielverluſtes mit und 
ordnete an, es müßte gezahlt werden. Der verſtorbene 
Großvater war, wenn ich mich recht erinnere, für ſie 
immer fo etwas wie ет Haushofmeiſter. Er fürchtete 
ſie wie Feuer: als er jedoch von dieſer enormen 
Spielſchuld vernahm, geriet er außer ſich, brachte 
ſeine Aufzeichnungen herbei und rechnete ihr vor, daß 
ſie in einem halben Jahr eine halbe Million verbraucht 
hätten, und daß ſie bei Paris nicht ihre Moskauer und 
ihre Sſaratower Dörfer liegen hätten, und zum Schluß 
weigerte er ſich ſchlechterdings zu zahlen. Die Groß— 
mutter gab ihm eine Ohrfeige und ging zum Zeichen 
ihrer Ungnade allein zu Bett. Am nächſten Morgen 
ließ ſie ihn rufen, ſie hoffte nämlich, daß die häusliche 
Züchtigung bereits gewirkt hätte, aber ſie fand ihn 
unerbittlich. Es blieb ihr nichts übrig, als ſich zum 
erſten Male in ihrem Leben zu Erklärungen herbei— 
zulaſſen und mit ihm zu unterhandeln; fie ermahnte 
ihn, ſie erläuterte ihm herablaſſend, daß die einen 
Schulden nicht wie die anderen ſeien und daß doch 
wohl ein gewiſſer Unterſchied zwiſchen einem Prinzen 


265 


Pique Dame 


und einem Kutſchmacher beſtünde. Umſonſt! der 
Großvater meuterte. Nein und nein! Die Großmutter 


wußte nicht mehr, was tun? Nun war ſie mit einem 


ſehr merkwürdigen Manne gut bekannt. Ihr habt 
gewiß alle vom Grafen von Saint-Germain gehört, 
von dem ſoviel Sonderbares erzählt wird. Ihr wißt 
ſicher, daß er ſich für den ewigen Juden ausgab, daß 
er behauptete, das Lebenselixier entdeckt und den Stein 
der Weiſen gefunden zu haben, und dergleichen mehr. 
Man hielt ihn für einen Charlatan und lachte über 
ihn, andererſeits aber erzählt Caſanova in ſeinen 
Memoiren, er ſei ein Spion geweſen; übrigens hatte 
Saint⸗Germain trotz ſeiner Geheimniskrämerei ein 
Ehrfurcht erweckendes Außeres und galt allgemein als 
ſehr liebenswürdig. Meine Großmutter iſt noch heute 


von ihm hingeriſſen, und kann ſich ſehr darüber ärgern, 


wenn man irgendwie wegwerfend von ihm ſpricht. 
Der Großmutter war bekannt, daß Saint⸗Germain 
große Geldmittel zur Verfügung ſtanden. Sie ent⸗ 
ſchloß ſich, ſeine Hilfe anzurufen, und ſchickte ihm 
ein Billett, in welchem ſie ihn aufforderte, ſie ſofort 


zu beſuchen. Der alte Sonderling erſchien unmittelbar 
darauf und traf ſie in ſchrecklichen Sorgen an. Sie 


ſchilderte ihm die Barbarei ihres Gemahls in den 
ſchwärzeſten Farben und ſagte ſchließlich, ſie ſetze ihre 
ganze Hoffnung auf ſeine Freundſchaft und ſeine 
Liebenswürdigkeit. Saint-Germain verſank in Nach: 
denken. Ich kann Ihnen mit dieſer Summe aus⸗ 


266 


Pique Dame 


helfen,‘ ſagte er endlich: ‚aber ich weiß, es wird Ihnen 
keine Ruhe laſſen, eh Sie nicht die Schuld beglichen 
haben, und ich möchte Ihnen nicht neue Verdrießlich⸗ 
keiten machen. Es gibt ein anderes Mittel: das Ver⸗ 
lorene im Spiel zurückgewinnen.“ — ‚Aber, befter 
Graf,‘ entgegnete ihm die Großmutter, „ſagte ich 
Ihnen nicht bereits, daß wir ganz ohne Geld ſeien?“ 
— Man braucht dazu kein Geld,‘ erwiderte Saint⸗ 
Germain: ‚ich bitte Sie, mich anzuhören.“ Und da 
war es, daß er ihr ein Geheimnis eröffnete, für 
das wohl ein jeder von uns gern teuer bezahlen 
würde..“ 

Die jugendlichen Spieler verdoppelten ihre Auf: 
merkſamkeit. Tomskij ſteckte ſeine Pfeife an, rauchte 
einige Züge und ſetzte dann ſeine Erzählung fort: 

„Und am ſelben Abend erſchien meine Großmutter 
in Verſailles au jeu de la reine. Die Bank hielt der 
Herzog von Orleans; die Großmutter entſchuldigte 
ſich leichthin, daß ſie die Spielſchuld nicht mitgebracht 
hätte, und erzählte zur Rechtfertigung irgendetwas, 
was ihr gerade einfiel, und pointierte darauf gegen den 
Herzog. Sie wählte drei Karten und ſetzte eine nach 
der anderen: und alle drei gewannen, und ſo hatte die 
Großmutter ihren Verluſt wieder hereingebracht.“ 

„Zufall!“ ſagte einer der Gäſte. 

„Ein Märchen!“ bemerkte Hermann. 

„Vielleicht waren die Karten markiert!“ warf ein 
Dritter ein. 


267 


Pique Dame 


„Undenkbar,“ entgegnete Tomskij ernſt. 


„Wie!“ rief Narumow, „du Бай eine Großmama, 


die gleich drei Karten hintereinander errät und biſt f 


bis jetzt noch nicht im Beſitz ihrer Kabbaliſtik?“ 


„Der Teufel!“ entgegnete Tomskij, „vier Söhne 
hatte fie, darunter war auch mein Vater; alle vier — 


verzweifelte Kartenſpieler und dennoch hat ſie es keinem 
anvertraut, obwohl alle und auch ich es gut brauchen 
könnten. Aber hört noch, was Graf Iwan Iljitſch, mein 
Onkel, erzählte; er gab fein Ehrenwort, daß die Ge⸗ 
ſchichte wahr ſei. Der verſtorbene Tſchaplitzkij, der: N 
felbe, der, nachdem er Millionen verſchleudert, in ent 
feglicher Armut umkam, hatte einmal, als er noch jung 
war, an die dreimalhunderttauſend verſpielt und zwar $ 
— ich entſinne mich — ап Sſoritſch. Er war in Ver⸗ 
zweiflung. Meiner Großmutter nun, die ſonſt im alle — 
gemeinen leichtſinnige Streiche junger Leute ſtreng ver⸗ 
urteilte, tat Tſchaplitzkij irgendwarum leid. Sie nannte 
ihm die drei Karten, die er eine nach der andern ſetzen 
ſollte, er mußte ihr jedoch gleichzeitig ſein Ehrenwort 
geben, nie wieder zu ſpielen. Tſchaplitzkij forderte von 
feinem glücklichen Partner Revanche: fie ſetzten ſich 
zum Spiel. Tſchaplitzkij ſetzte fünfzigtauſend auf die 
erſte Karte und gewann, darauf bog er ein Paroli 
und ein Paroli⸗pé und gewann beide und alles zurück 


und noch etwas dazu ...“ 


„Aber es iſt Zeit, ſchlafen zu gehen: es iſt ſchon 
ein Viertel vor ſechs.“ 


268 


— 
=. 


Pique Dame 


Und in der Tat, der Morgen dämmerfe: die jungen 
Leute tranken ihren Wein aus und fuhren nach Haufe. 


II 


II parait, que monsieur est 
décidément pour les suivantes. 
Que voulez- vous, madame? 
Elles sont plus fraiches. 
Ein Geſpräch 


Die alte Gräfin“ ®® {аб in ihrem Ankleidezimmer 
vor dem Spiegel. Drei Kammerzofen umringten 
ſie. Die eine hielt die Büchſe mit der Schminke, eine 
Schachtel mit Haarnadeln die andere, und die dritte 
eine hohe, mit Bändern aus Flammenfarbe verzierte 
Haube. Die Gräfin konnte nicht den geringſten An: 
ſpruch mehr auf Schönheit erheben, die war längſt 
dahin, allein ſie hielt ſich noch immer an die Gewohn— 
heiten ihrer Jugend und befolgte aufs genaueſte die 
Mode der ſiebziger Jahre, ſie zog ſich noch genau 
fo lange und ganz fo forgfältig an wie ſechzig Jahre 
zuvor. Am Fenſter ſaß vor einem Stickrahmen ihre 
Pflegetochter, das Fräulein. 

VVvS,F Guten Morgen, Grand' maman,“ rief eintretend 
ein junger Offizier. „Bonjour, Mademoiſelle Life. 
Grand' maman, ich habe eine Bitte.“ 

„Und die iſt, Paul?“ 

„Erlauben Sie mir, Ihnen einen meiner Freunde 
vorzuſtellen und ihn am Freitag auf Ihren Ball zu 
bringen.“ 


269 


Pique Dame 


„Bring ihn auf den Ball und ſtelle ihn mir dort 

рог. За du übrigens geſtern Бе! деп ® ® ®9« 
„Freilich! es war ſehr luſtig; wir tanzten bis um 
fünf. Die Jelezkaja ſah wieder reizend aus!“ 

„Ih, mein Lieber! Was iſt ſchon an ihr? Da war 
ihre Großmutter, die Fürſtin Darja Petrowna, doch 
ganz anders... Übrigens, ich meine, fie muß ſehr 
gealtert haben, die Fürſtin Darja Petrowna?“ | 

„Gealtert?“ entgegnete Tomskij zerſtreut, „ſie iſt 
doch ſchon ſeit ſieben Jahren tot.“ 1 

Das Fräulein hob den Kopf und machte dem jungen И 
Mann ein Zeichen. Er biß ſich auf die Lippen, denn 
jetzt erſt erinnerte er ſich, daß man der alten Gräfin Ni 
den Tod ihrer Altersgenoſſinnen verheimlichte. Aber 
die Gräfin nahm dieſe neue Nachricht mit völligem 4 
Gleichmut auf. 5 

„Tot!“ ſagte ſie nur: „und ich wußte es nicht ein⸗ | 
mal! Wir wurden gleichzeitig zu Hofdamen ernannt, 
und als wir uns darauf bei Hofe vorſtellten, ſagte die 
Kaiſerin ...“ р $ 

Und zum hundertſten Male erzählte die Pro | 
ihrem Enkel dieſe Anekdote. 

„Und nun, Paul,“ ſagte ſie zum Schluß, „jetzt Bit 
du mir, mich aufrichten. Liebe Liſa, wo eme Fr | 
tiere?“ | 

Geleitet von ihren Kammerjungfern, verſihwanz N 
die Gräfin hinter einem Wandſchirm, um ihre Toi⸗ 
lette zu beenden. Tomskij blieb mit dem Fräulein allein. 


270 


Pique Dame 


„Wer iſt es, den Sie vorſtellen wollen?“ fragte 
Liſaweta Iwanowna leiſe. 

„Narumow. Kennen Sie ihn?“ 

„Nein! Iſt er ein Militär oder ein Ziviliſt?“ 

„Militär.“ 

„Genieoffizier?“ 

„Nein! er iſt bei der Kavallerie. Und warum dachten 
Sie, er wäre Genieoffizier?“ Das Fräulein lachte, 
aber ſie erwiderte kein Wort. 

„Paul!“ rief die Gräfin hinter ihrem Wandſchirm 

hervor. „Schick mir doch irgendeinen neuen Roman 
herüber, aber bitte keinen von den modernen.“ 

„Was verſtehen Sie darunter, Grand'maman?“ 

„Alſo keinen von den Romanen, in denen der Held 
ſeinen Vater oder ſeine Mutter erwürgt und auch 
keinen, wo Ertrunkene drin vorkommen. Ich fürchte 
mich fo vor Ertrunkenen.“ 

„Dieſe Romane gibt es jetzt überhaupt nicht mehr. 
Oder wollen Sie vielleicht etwas Ruſſiſches?“ 

„Gibts denn überhaupt ruſſiſche Romane? ... Ach 
bitte, mein Freund, ſchick mir doch einen herüber.“ 

„Leben Sie wohl, Grand' maman: ich eile. 
Leben Sie wohl, Liſaweta Jwanowna! Wie kamen 
Sie auf die Idee, daß Narumow Genieoffizier ſei?“ 

Tomskij verließ das Ankleidezimmer. 

Liſaweta Iwanowna blieb allein zurück; fie ließ 
ihre Arbeit ſinken und blickte durchs Fenſter. Und 
gleich darauf bog auf der einen Seite der Straße ein 


271 


Pique Dame 


junger Offizier um die Ecke. Ihre Wangen färbten 


ſich; ſie machte ſich wieder an ihre Arbeit, tief beugte 
ſich der Kopf über das Stickmuſter. Und da kam auch 
ſchon die Gräfin, fertig angezogen. 

„Liſa,“ ſagte ſie, „der Kutſcher ſoll anſpannen, 
wir wollen ſpazieren fahren.“ 

Liſa erhob ſich von ihrem Stickrahmen und begann 
ihre Arbeit fortzuräumen. 


„Was ſoll das, meine Beſte! Du biſt wohl taub, 


was?“ ſchrie die Gräfin ſie an, „ſofort gehſt du an⸗ 
ſpannen laſſen.“ 

„Ja!“ entgegnete ſtill das Fräulein und lief ins 
Vorzimmer. ] 

Ein Diener kam und brachte der Gräfin Bücher 
vom Fürſten. 

„Es iſt gut! ich laſſe danken“, ſagte die Gräfin. 
„Liſa, aber Liſa, wohin läufſt du denn ſchon wieder?“ 

„Mich anziehen.“ 

„Dazu findeſt du immer noch Zeit, meine Liebe. 
Setz dich her. Mach mal den erſten Band auf und 
lies рог...“ 


Das Fräulein nahm das Buch und las einige Zeilen. 
„Lauter!“ befahl die Gräfin, „was haſt du, meine 


Зе? Die Stimme verloren.. was? .. Wart 
mal. . . rück mir den Fußſchemel näher . näher .. 
endlich!“ Liſaweta Iwanowna las noch zwei Seiten. 
Die Gräfin gähnte. 

„Laß das Buch,“ ſagte fie: „Iauter Unfinn! Schick 


272 


р 


Pique Dame 


es dem Fürſten Paul zurück, ich ließe danken. 
Wo bleibt der Wagen?. 

„Der Wagen iſt vorgefahren“, ſagte Liſaweta 
Iwanowna, indem fie auf die Straße hinausſah. 

„Und du biſt noch nicht angezogen?“ murrte die 

Gräfin, „immer muß man auf dich warten. Das iſt 
nicht mehr zum Aushalten, meine Beſte!“ 

Lei.iſa lief in ihr Zimmer. Keine zwei Minuten waren 
vergangen, da begann die Gräfin aus Leibeskräften 
zu klingeln. Die drei Zofen flogen durch die eine Türe 
herein, und der Kammerdiener durch die andere. 

„Wo bleibt ihr fo lange, wenn ich klingle?“ herrſchte 
die Gräfin fie an. „Man melde Liſaweta Jwanowna, 
daß ich ſie erwarte.“ 

Allein da trat Liſaweta Iwanowna ſchon in Hut 
und Mantel ein. 

„Endlich, meine Beſte!“ ſagte die Gräfin. „Was für 
ein Aufzug! Wozu das? ... wen will man betören? .. 
Wie ИЕ das Wetter? ſcheinbar windig“ 

„Nein, Ew. Durchlaucht! kein Wind!“ entgegnete 
der Kammerdiener. 

V Ihr ſchwatzt immer ins Blaue hinein! Das Fenſter 

öffnen! Dacht ichs doch: Wind! und dazu ein eiſig— 
kalter! Der Wagen wird ausgeſpannt! Liſa, wir 
fahren nicht: es war unnütz, ſich zu putzen.“ 

„Und das iſt nun mein Leben!“ dachte Liſaweta 
Iwanowna. In der Tat, Liſaweta Iwanowna war 
ein äußerſt unglückliches Geſchöpf. Bitter iſt бет: 


P. 1 18 
273 


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Pique Dame 


des Brot, ſagt Dante, und Пей die Stufen fremden | 
Hauſes; wer aber kannte die Bitternis der Abhängig: | 
keit beſſer als die arme Pflegetochter der alten Ari: 
ſtokratin? Die Gräfin“ war gewiß kein böſer 
Menſch, aber ſie war wie jede von der Welt verwöhnte 
Frau ſehr launiſch; außerdem war ſie geizig und von 
jenem kalten Egoismus, wie ihn alle alten Leute, die ihre | 
Zeit genoſſen und der gegenwärtigen fremd geworden 
find, haben. Dennoch nahm fie an allen Feſten der vor: | 
nehmen Geſellſchaft teil; ſie ſchleppte ſich auf alle Bälle 
und [аб dort geſchminkt und nach alter Mode auf: 
geputzt wie eine groteske, aber irgendwie unumgäng⸗ | 
liche Ausſtaffierung des Saales in einer Ecke; die 
Gäfte traten, als wärs eine vorgeſchriebene Zeremonie, 
mit tiefen Verbeugungen an ſie heran, um ſich nach⸗ 
her überhaupt nicht mehr um ſie zu kümmern. In 
ihrem eigenen Hauſe empfing ſie die ganze Welt, 
ſie hielt auf ſtrengſte Etikette, erkannte aber keinen 
Menſchen. Ihr zahlreiches Geſinde, in den Vorzim⸗ 
mern und Mägdekammern fett und grau geworden, 
machte, was es wollte, und beſtahl die abſterbende 
Greiſin unabläſſig. In dieſem Haufe war Liſaweta 
Iwanowna eine Märtyrerin. Sie ſchenkte den Tee 
aus und ſteckte die Vorwürfe wegen zu viel Verbrauch 
von Zucker ein; ſie mußte Romane vorleſen — und 
war Schuld an jedem Fehler des Verfaſſers; fie ber — 
gleitete die Gräfin auf den Spazierfahrten und war 
nicht nur für das Wetter verantwortlich, nein, auch 


274 


Pique Dame 


für das Straßenpflaſter. Einen Gehalt follte fie wohl 
bekommen, aber er wurde ihr nie ausbezahlt; trotzdem 
jedoch wurde von ihr gefordert, daß ſie wie alle an⸗ 
gezogen ſein ſolle, das heißt, wie ſehr wenige. Die 
Rolle, die ſie in der Geſellſchaft ſpielte, war kläglich. 
Obwohl alle fie kannten, wurde fie von niemand Бе: 
merkt; auf den Bällen kam ſie nur dann zum Tanzen, 
wenn irgendwo ein Vis⸗a⸗vis fehlte, und die Damen 
nahmen ihren Arm, wenn ſie in die Garderobe mußten, 
um an ihren Kleidern irgendetwas zu richten. Эа: 
bei war ihr Charakter ſelbſtändig und ſtolz und 
wußte Beſcheid über ihre Lage: nichts ringsum ent⸗ 
ging ihr, und voller Ungeduld erwartete ſie einen Be⸗ 
freier; aber keiner der jungen Männer, die trotz ihrem 
leichtſinnigen Hochmut ſo berechnend waren, ſchenkte 
ihr Aufmerkſamkeit, war auch Liſaweta Iwanowna 
gewiß hundertmal anziehender als jene frechen und 
kalten Bräute, die ſo begehrt waren. Wie oft verließ 
ſie insgeheim den prunkvollen, aber langweiligen Salon, 
um in ihrem armen Zimmer zu weinen, in ihrem Zim⸗ 
mer, in welchem billige, mit Tapeten beklebte Wand⸗ 
ſchirme ſtanden, eine Kommode, ein kleiner Spiegel 
und das angeſtrichene Bett und wo in einem Leuchter 
aus Meſſing ein Talglicht düſter brannte. 

Einmal — es war zwei Tage nach jenem Abend, 
den wir zu Beginn unſerer Erzählung ſchilderten, und 
eine Woche vor der Szene, in der wir ſtecken geblieben 
ſind — Liſaweta Iwanowna, die wie immer am 


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Pique Dame 


Senfter vor ihrem Stickrahmen ſaß, blickte einmal un: 
willkürlich auf die Straße hinaus und erblickte dort 
einen jungen Genieoffizier; er ſtand regungslos da und 
ſchaute ſie unverwandt durchs Fenſter an. Sie ſenkte 
den Kopf und machte ſich von neuem an ihre Arbeit; nach 
fünf Minuten ſah ſie wieder auf — der junge Offi⸗ 
zier ſtand immer noch auf demſelben Fleck. Da es 
nicht ihre Gewohnheit war, mit den vorübergehenden 
Offizieren zu kokettieren, ſah ſie nicht mehr hinaus 
und nähte an die zwei Stunden, ohne den Kopf da⸗ 


bei zu erheben. Es wurde zu Tiſch gerufen. Sie erhob 
ſich und begann ihre Arbeit fortzuräumen, als ſie aber 
dabei zufällig auf die Straße ſchaute, erblickte ſie 


wiederum den Offizier. Das berührte ſie ziemlich merk⸗ 
würdig. Nach dem Mittageſſen trat ſie mit dem Ge— 
fühl einer gewiſſen Unruhe aufs neue ans Fenſter, 
doch da war kein Offizier mehr zu ſehen — und fo 
vergaß fie ihn... 


Zwei Tage vergingen, fie ſchickte ſich gerade an, $ 
mit der Gräfin in den Wagen zu ſteigen, да fah ſie 


ihn wieder. Er ſtand an der Auffahrt, ein Biberkragen 


hielt ſein Geſicht verdeckt, und nur ſeine ſchwarzen |. 
Augen funkelten unter dem Hut. Liſaweta Jwanowna 
erſchrak und wußte ſelber nicht worüber, fie ſetzte 


ſich mit einem unerklärlichen Beben in die Kutſche. 


Kaum war ſie wieder zu Hauſe, da lief ſie zum Fenſter | ’ 


— der Offizier ſtand auf dem gleichen Fleck und rich: 
tete ſeine Augen auf ſie: ſie wich zurück, aber nun kam 


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Pique Dame 


die Neugierde über fie und ein Gefühl, das ihr völlig 
neu таг. 

Und nun verging kein Tag, an dem der junge Mann 
zu der bewußten Stunde nicht vor den Fenſtern des 
Hauſes erſchienen wäre. Zwiſchen ihm und ihr kam es 
zu einem unvereinbarten Einverſtändnis. Sie ſaß auf 
ihrem Platz an der Arbeit und fühlte ſein Kommen — 
ſie hob den Kopf und blickte ihn mit jedem Tage 
länger und länger an. Und es ſchien, der junge Mann 
war ihr dankbar dafür: mit dem ſcharfen Blick der 
Jugend bemerkte ſie, wie jedesmal, wenn ihre Blicke 
ſich begegneten, eine flüchtige Röte feine bleichen Wan: 
gen bedeckte. Doch als eine Woche vergangen war, 
lächelte ſie ihm zu. | 

Das Herz des armen Mädchens klopfte, als Tomskij 
um die Erlaubnis bat, der Gräfin einen feiner Freunde 
vorſtellen zu dürfen. Allein als ſie erfuhr, daß Narumow 
kein Genieoffizier ſei, ſondern von der Gardekavallerie, 
bedauerte ſie, mit ihrer unüberlegten Frage dem leicht⸗ 
ſinnigen Tomskij ihr Geheimnis verraten zu haben. 

Hermann war der Sohn eines in Rußland anfäffig 
gewordenen Deutſchen und hatte von ſeinem Vater 
eine kleine Geldſumme geerbt. Hermann, deſſen Ab— 
ſicht es war, ſich die völlige Unabhängigkeit zu erringen, 
berührte indeſſen nicht einmal die Zinſen dieſer Erbſchaft, 
ſondern lebte von ſeinem Offiziersgehalt und erlaubte 
ſich nichts darüber. Da er übrigens äußerſt verſchloſſen 
und ehrgeizig war, kamen ſeine Kameraden ſelten in 


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Pique Dame 


die Lage, ihn feiner übermäßigen Sparſamkeit wegen 
auslachen zu können. Sein Temperament war von 
Haus aus leidenſchaftlich und ſeine Phantaſie voll 
Feuer; nur die Feſtigkeit ſeines Charakters konnte ihn 
vor den üblichen Verirrungen der jungen Jahre be⸗ 
wahren. Um es an einem Beiſpiel zu erläutern: er 
war eigentlich eine Spielernatur und rührte trotzdem 
keine Karte an, denn er hatte ſich ausgerechnet, daß 
fein Vermögen (wie er ſagte) ihm nicht geſtatte, „der 
Hoffnung, Überflüſſiges zu gewinnen, das Unentbehr⸗ 
liche zu opfern,“ — aber am Kartentiſch zu ſitzen 
und mit fieberhafter Erregung die verſchiedenen Phaſen 
des Spiels zu beobachten, war ihm keine Nacht zu lang. 

Die Anekdote von den drei Karten hatte merkwür⸗ 
dig ſlark auf ihn gewirkt, er mußte die ganze Nacht 
über daran denken. — „Wie“ — dachte er, als er 
am nächſten Abend durch die Straßen Petersburgs 
wanderte — „wie, wenn nun die alte Gräfin mir das 
Geheimnis entdeckt? oder mir die drei ſicheren Karten 
nennt! Warum ſoll ich mein Glück nicht verſuchen? 
Ich könnte mich ihr vorſtellen laſſen, ihre Neigung er⸗ 
ringen; ſchlimmſtenfalls ihren Liebhaber ſpielen; aber 
dazu gehört eit und Пе iſt bereits ſiebenundachtzig Jahre 
alt; ſie kann ſchon nach einer Woche ſterben, ja, nach zwei 
Tagen!... Und außerdem dieſe Anekdote? . Kann man 
ihr überhaupt glauben? ... Nein, und nein! Vernunft, 
Mäßigkeit und Arbeit, das find meine drei ſicheren Kar: 
ten, ſie werden mein Kapital verdreifachen, ſie werden 


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es verſiebenfachen und mir Ruhe und Unabhängigkeit 
ver ſchaffen! ( Mit ſolchen Gedanken beſchäftigt, ge: 
riet er in eine der Hauptſtraßen Petersburgs und ſtand 
plötzlich vor einem altertümlich gebauten Hauſe. Die 
Straße war voll von Equipagen; ein Wagen nach 
dem andern fuhr vor dem hellerleuchteten Portale 
por. Und bald war es das ſchlanke Füßchen einer 
jugendlichen Schönen, das aus der Kutſche hervorkam, 
bald ein knarrender Militärſtiefel, bald Strumpf und 
Lackſchuh eines Diplomaten. An dem majeſtätiſchen 
Portier wirbelten die Pelze und Mäntel nur fo vorüber. 

„Wem gehört das Haus?“ fragte er den Wächter 
an der Ecke. 

„Der Gräfin ® , antwortete dieſer. 

Hermann überlief's. Und wieder kam ihm die er⸗ 
ſtaunliche Anekdote in den Sinn. Er umkreiſte das 
Haus, unabläffig an die Beſitzerin und an ihre wunder— 
bare Gabe denkend. Erſt ſpät kehrte er in feine fried- 
liche Behauſung zurück; lange konnte er nicht ein⸗ 
ſchlafen, und als endlich die Müdigkeit ihn bezwang, 
ſah er noch im Traume Karten und Ballen von Bank⸗ 
noten und Laſten von Goldſtücken. Er ſetzte Karte 
auf Karte, bog das Paroli mit Entſchiedenheit, де: 
wann unabläſſig, ſchaufelte das Gold zu ſich und 
ſtopfte die Banknoten in die Taſche. Spät erwacht, 
konnte er einen Seufzer über den verſchwundenen 
Reichtum ſeines Traumes nicht unterdrücken und wieder 
hielt er vor dem Haufe der Gräfin“ . Es war, als 


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zöge ihn eine unſichtbare Macht dorthin. Er blieb 
ſtehen und ſchaute in die Fenſter. An einem Fenſter 
erblickte er ein dunkles Köpfchen, das offenbar über 
ein Buch oder über eine Arbeit geſenkt war. Es rich⸗ 
tete ſich auf. Hermann ſah ein blühendes Geſichtchen 
und ſchwarze Augen. Dieſe Minute entſchied über ſein 
Schickſal. 
III 
Vous m’ecrivez, mon ange, des lettres de 
quatre pages plus vite que je ne puis les lire. 
Ein Briefwechſel 

Liſaweta Jwanowna hatte Hut und Mantel kaum 
abgelegt, als die Gräfin ſie wieder holen ließ und 
aufs neue befahl, den Wagen vorfahren zu laſſen. In 
dem Augenblick, als die zwei Diener die Greiſin auf: 
hoben und in das Innere des Wagens ſchoben, er: 
blickte Liſaweta Iwanowna denſelben Genieoffizier 
ganz in ihrer Nähe; er ergriff ihre Hand; ſie war wie 
gelähmt vor Schreck, doch der junge Mann war Бе: 
reits verſchwunden, und nur ein Brief blieb in ihrer 
Hand zurück. Sie verbarg ihn im Handſchuh und 
war während der ganzen Fahrt geiſtesabweſend. 
Dabei hatte die Gräfin die Angewohnheit, jede Mi: 
nute eine neue Frage zu ſtellen: wer war das, der uns 
grüßte? wie heißt die Brücke? was ſteht auf jenem 
Schild? Aber Liſaweta Jwanowna antwortete dieſes 
Mal auf gut Glück und häufig nicht das Rechte, und 
die Gräfin wurde ärgerlich. 


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„Was haſt denn du, meine Befte! Haft du den 
Starrkrampf, was? Oder hörſt du mich nicht, oder 
kannſt du mich nicht verſtehen? ... Gott ſei Dank, 
ich ſchnarre nicht und verrückt bin ich auch noch nicht!“ 

Aber Liſaweta Iwanowna hörte nicht. Zu Hauſe 
angekommen lief ſie in ihr Zimmer und nahm den 
Brief aus ihrem Handſchuh; er war nicht verſiegelt. 
Liſaweta Iwanowna las. Der Brief war eine Liebes: 
erklärung: zärtlich und ehrfurchtsvoll und Wort für 
Wort einem deutſchen Roman entnommen. Aber Liſa⸗ 
weta Iwanowna, die kein deutſches Buch kannte, war 
mit dem Brief ſehr zufrieden. 

Immerhin beunruhigte der empfangene Brief ſie 
außerordentlich. Sie trat zum erſten Male in heim— 
liche und nahe Beziehungen zu einem jungen Manne. 
Seine Dreiſtigkeit erſchreckte ſie. Sie machte ſich 
Vorwürfe, daß ſie unüberlegt gehandelt habe, und 
eigentlich wußte ſie nicht, was jetzt tun: nicht mehr am 
Fenſter ſitzen und dem jungen Offizier durch Nicht: 
beachtung die Luſt zu weiteren Schritten nehmen? 
oder den Brief zurückgeben? oder kalt und energiſch 
antworten? Niemand war da, der ihr raten konnte: 
ſie hatte keine Freundin, keinen Menſchen, deſſen 
Erfahrung fie ſich anvertrauen konnte. Und Liſa⸗ 
weta Iwanowna entſchloß ſich, den Brief zu beant⸗ 
worten. 

Sie ſetzte ſich an den Schreibtiſch, legte Papier zu⸗ 
recht und nahm die Feder zur Hand, — und verſank in 


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Gedanken. Einige Male fing fie an — aber immer 
wieder zerriß fie das Geſchriebene: bald war es viel 
zu freundlich, bald viel zu hartherzig. Endlich ge⸗ 
langen ihr einige Zeilen, die ſie befriedigten. „Ich 
bin überzeugt,“ — ſchrieb fie — „daß Ihre Ab: 
ſichten ehrenhaft find und daß Sie durch Ihren ип: 
bedachten Schritt mich nicht beleidigen wollten; allein 
es geht nicht an, daß unſere Bekanntſchaft auf dieſem 
Wege anfängt. Hier iſt Ihr Brief zurück und ich hoffe, 
ich werde fürder keinen Grund haben, mich über ип: 
verdiente Mißachtung beklagen zu müſſen.“ 

Als Liſaweta Iwanowna am Tage darauf den 
vorübergehenden Hermann erblickte, ſtand ſie von ihrem 
Stickrahmen auf, ging in den nebenan liegenden Salon, 
öffnete dort ein Fenſter und warf den Brief im Ver⸗ 
trauen auf die Gewandtheit des jungen Offiziers auf 
die Straße. Und ſchon war Hermann da und hatte 
ihn aufgehoben und verſchwand in einem Konditor⸗ 
laden. Er erbrach das Siegel und erblickte ſeinen 
Brief und ihre Antwort. Mehr konnte er nicht ег: 
warten, und ganz in die geſchickt angeknüpfte Intrige 
vertieft kehrte er heim. 

Drei Tage darauf brachte ein jung und verſchmitzt 
ausſehendes Ladenfräulein ein Billett aus einer Mode⸗ 
handlung für Liſaweta Jwanowna. Dieſe öffnete es 
ein wenig beſorgt, denn fie erwartete eine Geldfor de⸗ 
rung vorzufinden, — aber da hatte ſie auch ſchon 
Hermanns Handſchrift erkannt. 


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„Es ift ein Irrtum, meine Liebe,“ fagte fie, „das 
Billett iſt nicht für mich.“ 

„Nein, es iſt ganz ſicher für Sie!“ entgegnete das 
dreiſte Mädchen und lächelte durchtrieben. „Bitte, 
leſen Sie nur!“ | 

Liſaweta überflog das Papier. Hermann bat um 
eine Zuſammenkunft. 

»Unmöglich,“ ſagte Liſaweta IJwanowna, ſowohl 
von der ÜUbereiltheit dieſes Verlangens als auch von 
der Art und Weiſe der Übermittlung erſchreckt, „ der 
Brief iſt beſtimmt nicht für mich.“ 

Und ſie zerriß ihn in kleine Stücke. 

„Wenn der Brief nicht für Sie war, warum haben 
Sie ihn dann zerriſſen?“ entgegnete das Mädchen, 
„ich hätte ihn ja dem, der ihn geſchickt hat, zurück⸗ 
geben können.“ 

Liſaweta Iwanowna wurde feuerrot. „Liebes Kind, 
bringen Sie mir weiterhin keine ſolchen Briefe. Und 
dem, der Sie hergeſchickt hat, ſagen Sie, er ſolle ſich 
ſchämen.“ 

Doch Hermann gab keine Ruh. Jeden Tag erhielt 
Liſaweta Iwanowna bald auf dieſem, bald auf jenem 
Wege Briefe von ihm. Und jetzt waren es ſchon keine 
Überfegungen mehr aus dem Deutſchen. Hermann 
ſchrieb, was Leidenſchaft ihm diktierte, und ſchrieb es 
mit ſeiner eigenen Sprache: dieſe Briefe waren erfüllt 
von der Unbeugſamkeit feiner Wünſche und der Zer— 
fahrenheit feiner ungezügelten Phantaſie. Und Lifa: 


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weta Iwanowna dachte nicht mehr daran, fie zurück⸗ 
zuſchicken: ſie berauſchte ſich an ihnen, ja, ſie ant⸗ 
wortete ſogar, und mit jedem Male wurden ihre 
Briefe länger und inniger. Und endlich warf ſie ihm 
durchs Fenſter folgenden Brief zu: 

„Heute ИЕ der Ball beim ***fchen Geſandten. Die 
Gräfin wird dort ſein. Wir bleiben bis zwei Uhr 
nachts. Dies gibt eine Gelegenheit, mich allein anzu⸗ 
treffen. Sobald die Gräfin fort iſt, wird ſicher die 
Dienerſchaft ausgehen; nur der Portier bleibt da, aber 
auch er zieht ſich gewöhnlich in ſeine Kammer zurück. 
Kommen Sie um halb zwölf. Gehen Sie die Treppe 
hinauf. Wenn jemand im Vorraum iſt, fragen Sie, 
ob die Gräfin zu Hauſe ſei. Man wird Ihnen ant⸗ 
worten, ſie ſei nicht zu Hauſe — und dann bleibt 
Ihnen nichts übrig, als wieder umzukehren. Wahr⸗ 
ſcheinlich jedoch wird Ihnen niemand begegnen. Die 
Kammerzofen halten ſich um dieſe Zeit alle in ihrem 
Zimmer auf. Aus dem Vorzimmer geht es nach links, 
und dann gehen Sie geradeaus bis zum Schlafzimmer 
der Gräfin. Im Schlafzimmer werden Sie hinter den 
Wandſchirmen zwei niedrige Türen erblicken: die rechter 
Hand führt in das Kabinett, das die Gräfin niemals 
betritt; die linker Hand aber in einen Gang, dortſelbſt 
iſt eine ſchmale Wendeltreppe: und dieſe bringt Sie in 
mein Zimmer.“ 

Den angeſetzten Zeitpunkt erwartend, bebte Her⸗ 
mann am ganzen Körper wie ein Tiger. Schon um 


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zehn Uhr abends ſtand er vor dem Haufe der Gräfin. 
Es war ein greuliches Wetter: der Wind heulte, in 
ſchweren Flocken wirbelte naſſer Schnee; die La⸗ 
ternen brannten trübe; die Straßen waren leer. Hie 
und da ſchleppte ſich von einem mageren Gaul gezogen 
eine Droſchke vorbei, deren Kutſcher auf der Lauer 
nach verſpäteten Fahrgäſten lag. Obwohl Hermann 
nur im Rock daſtand, ſpürte er weder Wind noch 
Schnee. Endlich fuhr der Wagen der Gräfin vor. 
Hermann ſah, wie die Diener die in einen Zobelpelz 
gewickelte ganz zuſammengeſchrumpfte Gräfin in den 
Wagen hoben, ihr folgte in einem leichten Mäntel— 
chen, friſche Blumen im Haar, ihr Pflegekind. Der 
Wagenſchlag fiel zu. Schwerfällig ſetzte ſich auf dem 
lockeren Schnee die Kutſche in Bewegung. Der Portier 
ſchloß die Türe. In den Fenſtern wurde es dunkel. 
Vor dem leergewordenen Hauſe ſchritt Hermann auf 
und ab; endlich blieb er vor einer Laterne ſtehen und 
ſah auf die Uhr: es war zwanzig Minuten nach elf. 
Er blieb dort unter der Laterne ſtehen, die Augen auf 
den Uhrzeiger geheftet, um die noch übrig bleibenden 
Minuten abzuzählen. Punkt halb zwölf ſtieg er die 
Stufen zum Eingang empor und trat in den hell— 
erleuchteten Vorraum. Der Portier war nicht zu 
ſehen. Hermann flog die Treppe hinauf, öffnete die 
Tür zum Vorzimmer und erblickte dort einen Diener, 
der vor einer Lampe in einem altertümlichen, ziemlich 


ſchäbigen Lehnſtuhl ſchlief. Mit leichtem, aber feſtem 
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Schritt ging Hermann ап ihm vorbei. Der Salon 
und das Empfangszimmer waren dunkel. Die Lampe 
aus dem Vorzimmer gab nur ſpärliche Beleuchtung. 
Und dann kam das Schlafzimmer. Vor dem ganz 
mit alten Heiligenbildern angefüllten Schrein brannte 
ein goldenes Lämpchen. In einer trauervollen Sym⸗ 
metrie ſtanden an den mit chineſiſchen Tapeten be⸗ 
ſpannten Wänden die Seſſel mit ihren verblichenen 
Überzügen und die Sofas mit ihren Flaumkiſſen und 
der abgeſchabten Goldpolitur. An der Wand hingen 
zwei von Madame Lebrun in Paris gemalte Porträts. 
Das eine ſtellte einen Herrn von etwa vierzig Jahren 
in einem hellgrünen Uniformrock dar, auf ſeiner Bruſt 
glänzte ein Stern, ſein Geſicht war gerötet und voll; 
das andere — eine junge Schöne mit kühn geſchwun⸗ 
gener Naſe, die Schläfen frei und eine Roſe im ge— 
puderten Haar. Überall ſtanden und lagen Porzellan⸗ 
ſchäferinnen, kleine Tiſchuhren, vom berühmten Leroy 
gefertigt, Schächtelchen, Fächer und alle jene verſchie⸗ 
denen Damenbijouterien, die das Ende des achtzehnten 
Jahrhunderts gleichzeitig mit dem Ballon des Mont⸗ 
golfier und dem Mesmerſchen Magnetismus uns ge⸗ 
bracht hat. Hermann ſchaute hinter die Wandſchirme. 
Dort war ein kleines Eiſenbett und rechts die Tür, die 
zum Kabinett führte und links die andere zum Korridor. 
Hermannöffnete dieſe und ſahdieſchmale Wendeltreppe, 
die zum Zimmer der armen Pflegetochter führte.. 
Allein er kehrte um und betrat das dunkle Kabinett. 


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Die Zeit ging ungeheuer langſam. Im Haufe war 
alles ſtill. Eine Uhr im Empfangszimmer ſchlug zwölf: 
mal und eine nach der anderen ſchlugen die Uhren 
im ganzen Hauſe die zwölfte Stunde — darauf war 
wieder Ruhe. Hermann ſtand an den kalten Ofen 
gelehnt. Er war ſehr ruhig; ſein Herzſchlag war feſt 
wie der eines Menſchen, der auf eine gefahrvolle, aber 
notwendige Sache losgeht. Die Uhren ſchlugen die 
erſte Stunde und ſchlugen die zweite Stunde, und dann 
kam von ferne das Raſſeln des Wagens. Eine un: 
willkürliche Erregung packte ihn. Der Wagen fuhr 
vor und hielt. Er hörte, wie man den Wagentritt 
herabließ. Im Hauſe wurde es unruhig. Schritte 
liefen, Stimmen klangen und es wurde hell. Drei 
alte Zimmermädchen eilten ins Schlafzimmer, halb: 
tot folgte ihnen die Gräfin und ließ ſich in einen 
tiefen Armſeſſel ſinken. Durch eine kleine Türſpalte 
konnte Hermann alles beobachten. Liſaweta Iwa— 
nomna glitt vorüber. Hermann hörte, wie fie eilig die 
Wendeltreppe hinauflief. In ſeinem Innern regte ſich 
etwas wie Gewiſſensbiſſe, ließ aber ſofort nach. Er 
war ſteinern. 

Die Gräfin wurde vor dem Spiegel ausgezogen. 
Man nahm ihr die mit Roſen geſchmückte Haube ab; 
man nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen, 
faſt kahlgeſchorenen Schädel. Es war ein Regen von 
Stecknadeln. Das gelbe, mit Silber verbrämte Seiden⸗ 
kleid fiel zu ihren angeſchwollenen Füßen. Hermann 


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wurde zum Zeugen all der widerlichen Geheimniſſe 
ihrer Toilette; endlich aber war ſie in Schlafrock und 
Nachthaube und in dieſem Aufzug, der mehr ihrem 
Alter entſprach, fand er Mi ie weniger abſcheulich und 
abftoßend. 

Die Gräfin litt, wie alle alten Leute überhaupt, an 
Schlafloſigkeit. Nachdem ſie ausgekleidet war, ſetzte 
ſie ſich in den tiefen Lehnſtuhl am Fenſter und entließ 
die Zofen. Die Kerzen wurden hinausgetragen, und 
wieder beleuchtete nur das eine Lämpchen das Zimmer. 
Die Gräfin ſaß in ihrem Lehnſtuhl, ſie war ganz gelb, 
ihre herabhängenden Lippen bewegten ſich ſtumm und 
ihr Oberkörper ſchwankte bald nach rechts, bald nach 
links. Aus ihren trüben Augen ſprach kein Schimmer 
eines Gedankens; bei ihrem Anblick konnte man leicht 
auf die Vermutung kommen, es ſtammten die Be⸗ 
wegungen der greulichen Alten nicht aus ihrem Willen 
her, ſondern von der Einwirkung einer verborgenen 
galvaniſchen Kraft. 

Plötzlich jedoch veränderte ſich das tote Geſicht un⸗ 
beſchreiblich. Die Lippen hörten auf, ſich zu bewegen, 
Leben trat in die Augen: ein unbekannter Mann ſtand 
vor der Gräfin. 

„Erſchrecken Sie nicht, um Gottes willen, keine 
Furcht!“ ſprach er mit deutlicher, aber leiſer Stimme: 
„Ich kam nicht mit der Abſicht, Ihnen zu ſchaden; 
ich kam, um Sie um eine Gnade anzuflehen.“ 

Die Alte ſah ihn ſtumm an, und es war, als hätte 


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fie nichts gehört. Hermann dachte, fie könnte vielleicht 
ſchwerhörig ſein; er beugte ſich zu ihrem Ohr und 
wiederholte die gleichen Worte. Die Alte ſchwieg wie 
zuvor. 

„Sie können“, ſprach Hermann weiter,, mich glück⸗ 
lich machen und es wird Sie nichts koſten: ich weiß, 
Sie haben die Fähigkeit, drei aufeinanderfolgende 
Karten zu erraten ..“ 

Hermann hielt ein. Es ſchien, die Gräfin hatte be⸗ 
griffen, was er wollte; es ſchien, ſie ſuche nach Worten, 
um ihm zu antworten. 

„Nur ein Scherz,“ ſagte ſie endlich: „ich ſchwörs, 
es war nur ein Scherz!“ 

„Damit ſcherzt man nicht,“ entgegnete Hermann 
aufgebracht: „Denken Sie an Tſchaplitzkij und wie 
Sie ihm geholfen haben, ſeinen Spielverluſt wieder 
zurückzugewinnen.“ 

Die Gräfin war ſichtbar beſtürzt. Ihre Züge ver- 
rieten eine ſtarke Gemütsbewegung; aber nicht lange 
und fie fiel wieder in ihren vorigen Zuſtand der Ge: 
fühlloſigkeit. 

„Könnten Sie“, fuhr Hermann fort, „mir nicht 
dieſe drei Gewinnkarten bezeichnen?“ 

Die Gräfin ſchwieg; Hermann ſprach weiter: 

„Für wen hüten Sie dieſes Geheimnis? Für Ihre 
Enkel etwa? Die ſind ſowieſo reich, ſie kennen nicht 
einmal den Wert des Geldes. Einem Verſchwender 


helfen Ihre drei Karten nicht. Wer nicht einmal das 


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väterliche Erbe zu wahren verſteht, wird, mögen ihm 
auch Dämonen Hilfe leiſten, ſowieſo in Armut um⸗ 
kommen. Ich dagegen bin kein Verſchwender; ich 
kenne den Wert des Geldes. Bei mir ſind Ihre drei 
Karten wohl angewandt. Sagen Sie ſie! ...“ 

Er verſtummte und wartete bebend auf ihre Ant— 
wort. Die Gräfin ſchwieg; Hermann fiel vor ihr auf 
die Kniee. 

„Wenn jemals,“ ſprach er, „wenn Ihr Herz je⸗ 
mals das Gefühl der Liebe erfuhr, wenn Sie die Selig⸗ 
keiten, die ſie ſchenkt, erkannten, wenn Sie beim An⸗ 
blick Ihres neugeborenen Sohnes auch nur einmal 
gelächelt haben, wenn jemals eine menſchliche Regung 
in Ihrer Bruſt pochte, fo flehe ich Sie an, fo Ве: 
ſchwöre ich Sie bei den Gefühlen der Frau, der Ge- 
liebten, der Mutter, ja, bei allem, was im Leben heilig 
iſt, ſchlagen Sie mir dieſe Bitte nicht ab, ſagen Sie mir 
Ihr Geheimnis, was kannes Ihnen noch bedeuten? ... 
Hängt es vielleicht mit einem furchtbaren Frevel zu— 
ſammen, mit dem Verluſte der ewigen Seligkeit, einem 
Bund mit dem Teufel? ... Bedenken Sie: Sie find 
alt; Sie haben nicht mehr lange zu leben — ich aber 


bin bereit, Ihre Sünde auf meine Seele zu nehmen. 


Nur eröffnen Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie, 
in Ihrer Hand liegt das Glück eines Menſchen; Бе: 
denken Sie, nicht nur ich, auch meine Kinder, meine 
Enkel, meine Urenkel werden Sie ſegnen und werden 
Ihr Angedenken ehren, wie man ет Heiligtum ehrt...“ 


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Aber die Alte entgegnete kein Wort. Hermann er: 
hob ſich. „Hexe!“ ſprach er zähneknirſchend, „alte 
Hexel fo will ich Dich zwingen, mir zu antworten ...“ 
Mit dieſen Worten zog er eine Piſtole aus der Taſche. 

Beim Anblick der Piſtole zeigte die Gräfin zum 
zweiten Male eine außerordentliche Erregung. Ihr 
Kopf geriet in Bewegung, ſie erhob die Hand, als 
wolle fie den Schuß abwehren ... dann ſank fie nach 
vorn . . . und regte ſich nicht mehr. 

„Keine Kindereien,“ ſagte Hermann und ergriff 
ihre Hand. „Ich frage Sie zum letztenmal: wollen 
Sie mir Ihre drei Karten bezeichnen? ja oder nein?“ 

Die Gräfin gab keine Antwort. Hermann bemerkte, 
daß ſie tot war. 


IV 


(7. Mai 18**) Homme sans moeurs et sans religion! 
Ein Briefwechſel 


Noch immer in ihrem Ballkleide {ав Liſaweta Iwa⸗ 
nowna tief in Gedanken verſunken in ihrem Zim— 
mer. Nach Hauſe gekommen war es ihr erſtes, die 
verſchlafene Zofe, die ihr ſowieſo nur ungern behilf— 
lich war, mit den Worten, fie wolle ſich allein aus⸗ 
kleiden, fortzuſchicken und darauf zitternd in ihr Zim⸗ 
mer zu eilen, wo ſie Hermann vorzufinden hoffte und 
eigentlich nicht vorzufinden wünſchte. Schon der erſte 
Blick zeigte ihr, daß er nicht da war, und ſie dankte 
ihrem Schickſal für das Hindernis, das dieſe Zuſam— 


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Pique Dame 


menkunft vereitelt hatte. Sie ſetzte ſich, ohne ſich aus— 
zukleiden, und dachte ап all die Ereigniffe, die in fo kurzer 
Zeit Пе jo weit geführt hatten Noch waren keine drei 
Wochen ſeit jenem Tage vergangen, an dem ſie zum 
erſten Male den jungen Mann durchs Fenſter erblickt 
hatte — und ſchon ſtand ſie mit ihm nicht nur im 
Briefwechſel, nein, fie hatte ihm ſogar eine nächt⸗ 
liche Zuſammenkunft bewilligt! Sein Name war 
ihr bekannt, weil er einige ſeiner Briefe unterzeichnet 
hatte; aber noch nie hatte ſie mit ihm geſprochen, nie 
ſeine Stimme gehört, ja, noch nie von ihm ſprechen 
gehört... nie, bis zum heutigen Abend. Wie ſonder⸗ 
bar! Tomskij hatte ſich an dieſem Abend auf dem 
Ball über die Fürſtin Pauline ®®® geärgert, die, ent⸗ 
gegen ihrer ſonſtigen Gewohnheit, diesmal nicht mit 
ihm kokettierte, und beſchloß, ſich zu rächen und den 
Gleichgültigen zu fpielen: er bat Liſaweta Iwanowna 
um einen Tanz und ſo tanzten ſie eine jener endloſen 
Maſurkas. Er neckte ſie mit ihrer Vorliebe für Genie⸗ 


offiziere, er beteuerte, er wiſſe viel mehr, als fie ап: | | 


nehmen könnte, und einige feiner Scherze waren ſo 
geſchickt gezielt, daß Liſaweta Iwanowna einige Male 
tatſächlich glaubte, ihr Geheimnis ſei ihm bekannt. 
„Wer hat Ihnen das alles geſagt?“ fragte fie 
lachend. | 
„Ein Freund jener Ihnen bekannten Perſon,“ ent: 
gegnete Tomskij, „ein ſehr merkwürdiger Menſch!“ 
„Und wer iſt dieſer merkwürdige Menſch?“ 


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Dique Dame 


„Er heißt Hermann.“ 

Liſaweta Iwanowna antwortete nichts, aber ihre 
Hände und Füße wurden zu Eis... 

„Dieſer Hermann“, fuhr Tomskij fort, „iſt beſtimmt 
eine Romanfigur: ſein Profil erinnert an Napoleon 
und Mephiſto iſt er in ſeinem Innern. Ich denke, er 
hat mindeſtens drei Untaten auf ſeinem Gewiſſen. 
Aber wie blaß Sie geworden ſind! ...“ 

„Ich habe Kopfweh ... Und was ſagte Ihnen 
denn dieſer Hermann ... oder wie nannten Sie ihn 
doch ...“ 

„Hermann iſt mit ſeinem Freunde gar nicht zu— 
frieden: er hätte an ſeiner Stelle ganz anders ge— 
handelt, ſagt ег... Ich nehme fogar an, daß Her: 
mann ebenfalls Abſichten auf Sie hat; zum mindeſten 
iſt es ihm unmöglich, die verliebten Redensarten ſeines 
Freundes ruhig anzuhören.“ 

„Wo hat er mich denn geſehen?“ 

„In der Kirche, beim Spazierengehen, was weiß 
ich! ... vielleicht ſogar in Ihrem Zimmer, während 
Sie ſchliefen: ich traue ihm alles зи...“ 

Das Geſpräch wurde an dieſer Stelle von drei 
Damen, die mit der Frage „oubli ou regret!“ heran⸗ 
traten, unterbrochen, ein Geſpräch, das für Liſaweta 
Iwanowna {о quälend intereſſant geworden war. 

Tomskij hatte ſich als Dame die Fürſtin Pauline ss 
erwählt. Sie tanzten einmal um den Saal und ſchon 
war die Verſtändigung da. Als Tomskij zu ſeinem 


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Pique Dame 


Platz zurückkehrte, dachte er weder an Hermann, noch 


an Liſaweta IJwanowna. Dieſe wollte allerdings das 
unterbrochene Geſpräch wieder aufnehmen, aber da 
war die Maſurka zu Ende, und bald darauf brach die 
alte Gräfin auf. 

Die Worte Tomskijs waren nichts als ein Geſchwätz 
beim Tanz; aber tief ſanken ſie in die Seele der jungen 
Träumerin. Das Porträt, das Tomskij ſkizziert hatte, 
ähnelte ſo ſehr jenem Bilde, das ſie ſich ſelbſt gemacht 
hatte, daß ſie, dank der Lektüre der neueſten Romane, 
vor dieſem eigentlich ganz gewöhnlichen Geſicht Furcht 
empfand, zumal es ihre Phantaſie ſtark beſchäftigte. 
So ſaß ſie gedankenverloren da, die nackten Arme ge⸗ 
kreuzt und den noch immer mit Blumen geſchmückten 
Kopf auf die entblößte Bruſt geſenkt ... Plötzlich ging 
die Türe auf und Hermann trat ein. Sie erſchauerte. 

„Wo ſteckten Sie denn?“ flüſterte ſie erſchreckt. 

„Im Schlafzimmer der alten Gräfin,“ antwortete 
Hermann. „Ich komme eben von dort. Die Gräfin 
iſt tot.“ 

„Um Gottes willen! ... tot, ſagen Sie? ...“ 

„Und es ſcheint,“ fuhr Hermann fort, „daß ich 
die Urſache ihres Todes bin.“ 

Liſaweta Iwanowna ſah ihn ſchärfer an und fie 
erinnerte ſich an die Worte Tomskijs: Dieſer Menſch 
hat mindeſtens drei Untaten auf dem Ge: 


wiſſen! Hermann ſetzte ſich auf das Fenſterbrett 


und begann, ihr alles zu erzählen. 


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Pique Dame 


Schaudernd vernahm Liſaweta Iwanowna feinen 
Bericht. Alſo waren dieſe leidenſchaftlichen Briefe, 
dieſe flammenden Wünſche, dieſe dreiſte, dieſe beharr— 

liche Verfolgung — all das war nicht Liebe geweſen! 

Nur Geld! — danach nur lechzte ſeine Seele! Nicht 
ſie war es, die ſein Verlangen ſtillen, die ihm das 
Glück geben konnte! Das arme Pflegekind war nichts 
anderes als die blinde Verbündete eines Räubers, 
des Mörders ihrer Wohltäterin! ... In ſpäter, in 
quälender Reue ſchluchzte fie bitter. Schweigend blickte 
Hermann ſie an: auch in ſeinem Herzen war Qual; 
aber weder die Tränen des armen Mädchens noch 
die wunderbare Schönheit ihres Kummers bewegten 
ſeine harte Seele. Er fühlte beim Gedanken an 
die tote Alte keine Gewiſſensbiſſe. Nur das eine 
entſetzte ihn: daß nun jenes Geheimnis, von dem 
er Reichtum erwartet hatte, unwiederbringlich ver— 
loren war. 

„Sie ſind ein Ungeheuer!“ vermochte Liſaweta 
Iwanownc endlich hervorzubringen. 

„Ich habe ihren Tod nicht gewollt,“ erwiderte Her⸗ 
mann, „meine Piſtole war nicht einmal geladen.“ 

Und ſie verſtummten beide. 

Der Morgen kam. Liſaweta Iwanowna löſchte 
die völlig heruntergebrannte Kerze aus: bleich drang 
das Licht ins Zimmer. Sie trocknete die verweinten 
Augen und blickte Hermann an: er ſaß auf dem Fenſter⸗ 
brett, die Arme gekreuzt und die Stirn düſter gerunzelt. 


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Pique Dame 


In dieſer Stellung war feine Ahnlichkeit mit dem 
Porträt Napoleons überraſchend. 

„Wie kommen Sie aus dem Haufe?“ fagte Liſa⸗ 
weta Iwanowna endlich. „Ich wollte Sie eigentlich 
über die geheime Treppe führen, aber um zu ihr zu 
gelangen, muß man am Schlafzimmer vorbei und ich 
fürchte mich.“ 

„Erklären Sie mir nur, wie ich dieſe geheime 
Treppe finde; ich komme dann ſchon allein hinaus.“ 

Liſaweta Iwanowna ſtand auf und holte einen 
Schlüſſel aus ihrer Kommode, ſie gab ihn Hermann 
und ſchilderte ihm, wie er hinaus könnte. Hermann 
nahm ihre Hand, die kalt war und leblos, und 
drückte einen Kuß auf ihr geſenktes Haupt; dann 
ging er. 

Er ſchritt die Wendeltreppe hinab und trat aufs 
neue in das Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Gräfin 
ſaß noch in der gleichen Stellung, regungslos wie 
Stein; ihr Antlitz drückte die tiefſte Ruhe aus. Her⸗ 
mann blieb vor ihr ſtehen und ſah ſie lange an, als 
wollte er ſich von der ſchrecklichen Wahrheit über⸗ 
zeugen; darauf betrat er das Kabinett, taſtete hinter der 
Tapete nach der Geheimtür und ſtieg von ſonderbaren 
Gefühlen erregt die Treppe hinab. „Auf dieſer ſelben 
Treppe“ — dachte er — „ ſchlich vielleicht vor ſechzig 
Jahren um die gleiche Stunde in reichem Gewande, 
friſiert A l’oiseau royal, den Dreimaſter an die Bruſt 
gedrückt, ein junger Glückspilz, der ſchon längſt im 


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Se a ти 


Pique Dame 


Sarge vermodert ift, zu dieſem felben Schlafzimmer; 
das Herz aber ſeiner uralten Geliebten hat heute auf— 
gehört зи ſchlagen ...“ 

Beim Ausgang der Treppe fand Hermann die 
Tür, zu der er den Schlüſſel erhalten hatte, und ſtieß 
auf einen Durchgang, der ihn auf die Straße führte. 


у 


In dieſer Nacht erſchien mir die verſtorbene 

Baroneſſe von W“. Sie war ganz in Weiß 

und ſprach zu mir: „Guten Abend, Herr Rat!“ 
Swedenborg 


Drei Tage nach jener Schickſalsnacht begab ſich 
Hermann um neun Uhr morgens zum 5 ſchen 
Kloſter, in deſſen Kapelle das Totenamt für die ver: 
ſtorbene Gräfin ſtattfinden ſollte. Wenn er auch keine 
Reue empfand, dennoch konnte er die Stimme des 
Gewiſſens, die ihm unaufhörlich zuraunte: der Mör— 
der der Alten biſt du! nicht völlig erſticken. Es war 
wenig lebendiger Glauben in ihm, dafür jedoch viel 
Aberglauben. So glaubte er zum Beiſpiel, daß die 
tote Gräfin einen verderblichen Einfluß auf fein mei: 
teres Leben haben könnte, und entſchloß ſich, zu ihrer 
Beerdigung zu gehen, um womöglich durch dieſe Tat 
ihre Verzeihung zu erlangen! 

Die Kirche war überfüllt. Nur mit großer Mühe 
gelang es Hermann, durch die Menſchenmenge nach 
vorn zu kommen. Der Sarg ſtand auf einem reich— 
geſchmückten Katafalk unter einem Baldachin aus 


297 


Pique Dame 


Samt. Die Verſtorbene lag darin, die Hände über 
der Bruſt gefaltet; man hatte ſie mit einer Spitzen⸗ 
haube und einem weißen Atlasgewand bekleidet. Rings⸗ 
um ſtanden die Hausgenoſſen: in ſchwarzen Leibröcken, 
mit breiten Wappenbändern über der Schulter und 
Kerzen in der Hand die Diener; und in tiefer Trauer⸗ 
kleidung die Angehörigen, die Kinder, Enkel und Ur⸗ 
enkel. Keines weinte; Tränen wären ja hier nur une 
affectation geweſen. Die Gräfin war ſo ungeheuer 
alt geworden, daß niemand von ihrem Tode erſchüttert 
wurde, hatten doch ihre Verwandten ſie ſchon lang 
als etwas Überlebtes angeſehen. Die Grabrede hielt ein 
junger Biſchof. In einfachen und rührenden Worten 
ſchilderte er den friedevollen Hingang der Gottſeligen, 
deren lange Lebensjahre nur eine ſtille, nur eine troſt— 
volle Vorbereitung auf das Ende einer Chriſtin де: 
weſen ſeien. „Und ſo betrat ſie der Engel des Todes,“ 
ſchloß der Redner, „wachend in gottgefälligen Gedanken 
und erwartend den Bräutigam, der da kommet von 
Mitternacht.“ Der Gottesdienſt ging mit trauervoller 
Würde zu Ende. Die Verwandten nahmen als erſte 
von der Leiche Abſchied. Dann traten all die vielen 
Bekannten heran, die gekommen waren, jener, die ſo 
lange an ihren eitlen Vergnügungen teilgenommen, 
die letzte Ehre zu erweiſen. Danach kamen die Haus⸗ 
genoſſen. Endlich näherte ſich auch eine uralte Kammer⸗ 
frau dem Sarge, eine Altersgenoſſin der Verſtorbenen. 
Sie wurde von zwei Mädchen geführt. Sie hatte nicht 


298 


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Pique Dame 


die Kraft mehr, die vorgeſchriebene Verbeugung bis 
zur Erde zu machen — aber ſie war die einzige, die 
einige Tränen vergoß, als ſie die kalte Hand ihrer 
Herrin mit den Lippen berührte. Hermann entſchloß 
ſich, nach ihr an den Sarg zu treten. Er verbeugte 
ſich bis zur Erde und lag einige Minuten auf dem 
kalten mit Tannenreiſig beſtreuten Fußboden; er 
erhob ſich, bleich wie die Tote, ſchritt die Stufen des 
Katafalks langſam hinauf und verneigte fi)... Und 
da war ihm, die Tote blinzele ihm mit einem Auge zu 
und lächele ſpöttiſch. Hermann wich haſtig zurück, 
trat fehl und ſtürzte rücklings hin. Er mußte aufge⸗ 
hoben werden. Gleichzeitig wurde auch die in Ohn— 
macht liegende Liſaweta Iwanowna hinausgetragen. 
Die Feierlichkeit der düſteren Zeremonie wurde durch 
dieſen Zwiſchenfall auf kurze Zeit unterbrochen. Unter 
den Anweſenden erhob ſich ein verhaltenes Murmeln 
und ein magerer Kammerherr, ein naher Verwandter 
der Verſtorbenen, flüſterte einem neben ihm ſtehenden 
Engländer ins Ohr, der junge Offizier ſei ein unehe— 
liches Kind der Gräfin, worauf der Engländer trocken 
und kalt nur erwiderte: Oh? 

Den ganzen Tag über war Hermann außergemöhn: 
lich verſtimmt. Zu Mittag ſpeiſte er in einem abge— 
legenen Reſtaurant und trank, da er hoffte, es würde 
ihm gelingen, ſeiner inneren Aufregung Herr zu wer— 
den, gegen ſeine Gewohnheit unmäßig. Aber der Wein 
entzündete ſeine Einbildungskraft nur noch viel mehr. 


299 


Pique Dame 


Nach Haufe gekommen warf er fich, ohne fich aus⸗ 


zuziehen, aufs Bett und ſchlief ſofort ein. 

Mitten in der Nacht wachte er auf: der Mond 
ſchien in ſein Zimmer. Er blickte auf die Uhr: es war 
ein Viertel vor drei. Der Schlaf war ihm vergangen; 
er richtete ſich im Bett auf und dachte an die Beerdi- 
gung der alten Gräfin. 

Da blickte plötzlich jemand von der Straße durchs 
Fenſter und verſchwand. Hermann beachtete es nicht. 
Darauf hörte er, wie jemand die Tür zum Vorzimmer 
aufſchloß. Er dachte, es ſei der Diener, der, betrunken 
wie gewöhnlich, von einem nächtlichen Ausflug heim: 
kehre. Aber da vernahm er auch ſchon einen Gang, 
der ihm unbekannt war: es war, als ſchlurfe jemand 
in Pantoffeln. Die Tür flog auf: eine Frau, ganz 
weiß gekleidet, trat ein. Hermann hielt ſie für ſeine 
alte Kinderfrau und wunderte ſich, was ſie um eine 
ſolche Stunde wohl hertreiben könnte? Aber die weiße 
Frau glitt heran und ſtand plötzlich dicht vor ihm — 
und da erſt erkannte Hermann die Gräfin! 

„Gegen meinen Willen komme ich zu dir,“ ſprach ſie 
mit feſter Stimme, „mir wurde befohlen, deine Bitte 
zu erfüllen. Drei, Sieben und Aß gewinnen eine nach 
der andern, wenn du täglich nicht mehr als eine Karte 
ſetzeſt; nie wieder jedoch darfſt du ſpielen. Ich ver⸗ 
zeihe dir meinen Tod, wenn du mein Pflegekind 
Liſaweta Iwanowna heirateſt ...“ 

Nach dieſen Worten drehte ſie ſich unhörbar um, 


300 


c 


Pique Dame 


glitt zur Tür und verſchwand, mit den Pantoffeln 
ſchlurfend. Hermann hörte noch, wie die Haustür zu— 
geſchlagen wurde, und ſah noch, wie jemand durchs 
Fenſter hereinſah. 

Es dauerte lange, bevor er zur Beſinnung kam. Er 
ging ins Nebenzimmer. Dort ſchlief ſein Diener auf 
dem Fußboden; Hermann hatte Mühe, ihn aufzu— 
wecken. Der Diener war betrunken wie immer, und 
es war unmöglich, von ihm etwas zu erfahren. Die 
Haustür war verſchloſſen. Hermann kehrte in ſein 
Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und brachte das 
Erlebnis zu Papier. 


VI 


In der geiſtigen Welt können zwei fixe Ideen nicht 
nebeneinander beſtehen, genau fo, wie in der phy: 
ſiſchen Welt zwei Körper nicht gleichzeitig den gleichen 
Raum ausfüllen können. Das Bild der toten Alten 
wurde in Hermanns Phantaſie ſehr bald von Drei, 
Sieben und Aß verdrängt. Drei, Sieben und Aß, das 
wich ihm nicht aus dem Kopf und nicht von den Lippen. 
Sah er ein junges Mädchen, fo ſagte er: „Wie ſchlank 
ſie iſt! ganz wie Coeur — Drei.“ Fragte man ihn: 
„Wie ſpät iſt es?“ entgegnete er: „Fünf Minuten 
vor der Sieben.“ In jedem Dickwanſt ſah er das Aß. 
Noch bis in den Traum hinein verfolgten ſie ihn, die 
Drei, Sieben und Aß und nahmen alle möglichen 
Geſtalten an; die Drei erblühte als eine phantaſtiſche 


301 


Pique Dame 


Wunderblume, die Sieben erinnerte an ет gotiſches 
Portal, aber das Aß kam dann als eine ungeheure 
Spinne. In all ſeinen Gedanken war nur das eine — 
das Geheimnis ausnutzen, das ihm ſo teuer zu ſtehen 
gekommen war. Er gedachte den Abſchied zu nehmen 
und auf Reiſen zu gehn. In den öffentlichen Spiel⸗ 
klubs von Paris wollte er der verzauberten Fortung 
den Schatz entreißen. Ein Zufall erſparte ihm die 
Mühe. 

Unter dem Vorſitz des famoſen Tſchekalinskij, der 
ſein ganzes Leben mit den Karten verbracht und ſchon 
Millionen erworben hatte, indem er bares Geld рег: 
lor, aber Wechſel gewann, — unter ſeinem Vorſitz 
alſo wurde in Moskau eine Geſellſchaft reicher Spieler 
gegründet. Seine langjährigen Erfahrungen ſicherten 
ihm das Vertrauen ſeiner Geſellſchafter, ſein offenes 
Haus jedoch, ſein glänzender Koch und ſeine perſönliche 
Liebenswürdigkeit und Luſtigkeit verſchafften ihm die 
Gunſt des Publikums. Er kam nach Petersburg. Die 
ganze Jugend ſtrömte ihm zu, man vergaß über den 
Karten die Bälle und zog den Betörungen jeder Liebelei 
die Verführungen des Pharaos vor. Und hierher 
wurde Hermann von Narumow gebracht. 

Sie ſchritten durch eine Reihe prächtiger Gemächer, 
überall ſtanden gut geſchulte Lakaien. Die Räume waren 
überfüllt. Mehrere Generäle und Geheimräte ver— 
gnügten ſich am Whiſt; die Jugend ſaß auf weichen 
Diwans, man rauchte ſeine Pfeife und aß Eis. Im 


302 


Pique Dame 


Salon faß der Hausherr an einem langen Tiſch, um 
den ſich einige zwanzig Spieler drängten, und hielt 
die Bank. Er mochte etwa ſechzig Jahre alt ſein und 
ſah ſehr würdig aus; ſilberweißes Haar bedeckte ſein 
Haupt, aus ſeinem vollen und friſchen Geſicht ſprach 
Gutmütigkeit, ſeine glänzenden Augen lächelten ſtets. 
Narumow ſtellte ihm Hermann vor. Freundſchaftlich 
drückte Tſchekalinskij ihm die Hand, bat ihn, ſich ganz 
wie zu Hauſe zu fühlen, und fuhr fort, die Bank zu 
halten. 

Die Taille wollte nicht enden. Mehr als dreißig 
Karten lagen auf dem Tiſch. Nach jedem Spiel machte 
Tſchekalinskij eine kleine Pauſe, um den Spielern Zeit 
zur Überlegung zu geben, er notierte die Verluſte, 
hörte höflich jeden Wunſch an und entfernte noch höf— 
licher eine überflüſſig umgebogene Kartenecke, die 
von zerſtreuter Hand gebogen worden war. Endlich 
war die Taille zu Ende. Tſchekalinskij miſchte die 
Karten und machte Anſtalten, mit einer neuen zu Бе: 
ginnen. 

„Iſt es erlaubt, eine Karte zu ſetzen?“ fragte Her: 
mann und ſtreckte die Hand hinter einem dicken Herrn, 
der ebenfalls pointierte, hervor. 

Tſchekalinskij lächelte nur und verbeugte ſich ſchwei⸗ 
gend, zum Zeichen des Einverſtändniſſes. Narumow 
beglückwünſchte Hermann zur endlichen Entſcheidung 
nach ſo langem Faſten und prophezeite ihm glücklichen 
Beginn. 


303 


Pique Dame 


„Einverſtanden!“ ſagte Hermann und ſchrieb mit 
Kreide die Summe auf ſeine Karte. 

„Wie hoch?“ fragte, die Augen zuſammenkneifend, 
der Bankhalter. „Vergebung, ich kann es nicht ent⸗ 
ziffern.“ 

„Siebenundvierzigtauſend,“ antwortete Hermann. 
Bei dieſen Worten fuhren im Augenblick alle Köpfe 
herum und alle Augen richteten ſich auf Hermann. 

„Er iſt toll!“ dachte Narumow. 

„Geſtatten Sie mir die Bemerkung,“ warf Tſcheka⸗ 
linskij mit ſeinem unveränderten Lächeln ein. „Ihr 
Spiel iſt hoch; es iſt hier noch nie höher als zwei⸗ 
hundertfünfundſiebzig ſimple geſetzt worden.“ 

„Nun, und?“ erwiderte Hermann. „Nehmen Sie 
das Spiel an oder nicht?“ 

Tſchekalinskij verneigte ſich mit dem Ausdruck des 
gleichen friedfertigen Einverſtändniſſes. 

„Ich muß Sie nur noch auf eines aufmerkſam 
machen,“ ſagte er, „daß, da ich das Vertrauen meiner 
Geſellſchafter genieße, ich nicht anders ſpielen darf 
als gegen bares Geld. Ich meinerſeits bin natürlich 
vollkommen davon überzeugt, daß Ihr Wort genügt, 
muß Sie aber dennoch der Ordnung des Spieles 
und der Abrechnung halber erſuchen, Ihren Einſatz 
auf Ihre Karte zu legen.“ 

Hermann nahm ein Bankbillett aus der Taſche und 
gab es Tſchekalinskij, dieſer ſah es flüchtig an und legte 
es dann auf Hermanns Karte. 


304 


Pique Dame 


Die Karten fielen. Rechts neun, links drei. 

„Gewonnen!“ ſagte Hermann und wies ſeine Karte 
vor. Ein Gemurmel erhob ſich rings. Tſchekalinskij 
runzelte die Stirn; aber gleich war fein Lächeln mie- 
der da. 

„Wollen Sie die Summe ausbezahlt?“ fragte er 
Hermann. a 

„Tun Sie mir den Gefallen.“ 

Tſchekalinskij entnahm ſeiner Taſche einige Bank⸗ 
noten und zählte die Summe ab. Hermann empfing 
das Geld und verließ den Tiſch. Narumow war völlig 
faſſungslos. Hermann trank ein Glas Limonade und 
ging nach Hauſe. f 

Am Abend des andern Tags erſchien er wieder 
bei Tſchekalinskij. Der Hausherr hielt die Bank. Her⸗ 
mann trat an den Tiſch, man machte ihm ſofort Platz. 
Tſchekalinskij begrüßte ihn liebenswürdig. 

Hermann wartete auf die neue Taille, dann ſetzte 
er ſeine Karte und legte ſeine ſiebenundvierzigtauſend 
und den geſtrigen Gewinn darauf. 

Tſchekalinskij gab aus. Rechts fiel ein Bube, die 
Sieben — links. 

Hermann zeigte eine Sieben. 

Ein Ausruf rings. Tſchekalinskij war ſichtlich ver⸗ 
ſtört. Er zählte vierundneunzigtauſend ab und über: 
gab ſie Hermann. Kaltblütig nahm Hermann das 
Geld entgegen und ging ſofort weg. 

Und am folgenden Abend erſchien Hermann wieder. 


P. 1 20 
305 


Pique Dame 


Alles erwartete ihn; die Generäle und die Geheimräte 
verließen fogar ihren Whiſt, um ein fo ungemwöhn: 
liches Spiel mitanzuſehen. Die jungen Offiziere ſpran⸗ 
gen von ihren Diwans, ja, ſelbſt die Lakaien drängten 
ſich in den Salon. Alles ſcharte ſich um Hermann. 
Die übrigen Spieler ließen ihre Karten und waren 
voll Ungeduld, wie das enden würde. Hermann ſtand 
am Tiſch und traf Anſtalt, ganz allein gegen den 
bleichgewordenen Tſchekalinskij zu pointieren. Jeder 
von beiden öffnete ein Spiel neuer Karten. Tſcheka⸗ 
linskij miſchte. Hermann hob ab und ſetzte dann ſeine 
Karte, die von einem Berg von Banknoten bedeckt 
wurde. Es war faſt wie ein Zweikampf. Tiefes Schwei⸗ 
gen war ringsum. 

Tſchekalinskijs Hände zitterten, als er ausſpielte. 
Rechts lag die Dame, links — das Aß. 

„Aß hat gewonnen!“ ſagte Hermann und wies 
ſeine Karte. 

„Ihre Dame hat verloren,“ entgegnete ihm Tſcheka⸗ 
linskij. 

Hermann erſchauerte: und tatſächlich, er hielt an 
Stelle eines Aſſes in ſeiner Hand die Pique Dame. Er 
wollte ſeinen Augen nicht trauen, er konnte nicht be⸗ 
greifen, wie es möglich geweſen war, daß er ſo fehl⸗ 
greifen konnte. 

Plötzlich war ihm, als hätte die Pique Dame ihm 
zugezwinkert und gelächelt. Die ungewöhnliche Ahn⸗ 
lichkeit kam ihm zum Bewußtſein . 


306 


Pique Dame 


„Die Alte!“ ſchrie er entſetzt. 

Ts chekalinskij ſtrich den Gewinn ein. Hermann ſtand 
regungslos. Als er den Tiſch verließ, wurde das Ge⸗ 
ſpräch laut. „Vortrefflich geſpielt!“ meinten die Spie⸗ 
ler. Tſchekalinskij miſchte von neuem: das Spiel nahm 
ſeinen Lauf. 

Zum Beſchluß 

Hermann wurde geiſtesgeſtört. Er wurde im Obu⸗ 
chowſchen Krankenhaus, Nummer ſiebzehn, unter⸗ 
gebracht; er antwortet auf keine Frage, aber unauf: 
hörlich murmelt er ungewöhnlich ſchnell vor ſich hin: 
„Drei, Sieben, Aß! Drei, Sieben, Dame! ...“ 

Liſaweta IJwanowna hat einen ſehr angenehmen 
jungen Mann geheiratet; er iſt irgendwo in Staats— 
dienſten und beſitzt ein hübfches Vermögen: er ift der 
Sohn eines ehemaligen Angeſtellten der alten Gräfin, 
eines Verwalters. Liſaweta Iwanowna hat eine arme 
Verwandte als Pflegekind in ihr Haus genommen. 

Und Tomskij avancierte zum Rittmeiſter und hat 
ſich mit der Fürſtin Pauline verheiratet. 


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Graf Alexej N. Tolſtoi 


Höllenfahrt 
Roman. Deutſch von Alexander Eliasberg 
Mit Einband zeichnung von E. Preetorius 
In Halbleinen M 6.—, in Halbleder IN 8.— 


„Höllenfahrt“ iſt der Roman des Niedergangs des ruſſiſchen Reiches, 
die erſte und bedeutende dichteriſche Geſtaltung des tragiſchen welt⸗ 
geſchichtlichen Stoffes, und der Roman des Niedergangs, der Dekadenz 
überhaupt, daher von übergeſchichtlichem Wert. Mannheimer Tag⸗ 
blatt. — „Dieſes Werk des jüngeren Tolſtoi muß als einer der groß⸗ 
zügigſten, eindrucksvollen Verſuche gewertet werden, Weltgeſchichte im 
Brennſpiegel tiefften künſtleriſchen Erlebens und Geſtaltens einzufangen 
und in blendender Leuchtkraft hinaus ins Weite zu werfen ... Dieſe 
Bilder von der trügeriſch ſchillernden Kultur der ruſſiſchen Intelligenz 
zeigen eine Meiſterſchaft, die ihresgleichen ſucht.“ Dresdener Nach⸗ 
richten. — „Es tritt uns in der feurigen und ſtrengen Daſcha mit 
dem ſtolzen kindlichen Mund ein moderner Frauentypus entgegen, wie 
wir ihn ſo in der ruſſiſchen Literatur nicht angetroffen haben. Daſcha, 
von einer vibrierenden Raſchheit des Empfindens, greift nach dem Apfel, 
ſie kämpft um ſich mit dem Verſucher, ſie fordert ihn heraus und horcht 
ſchaudernd auf das Kreatürliche in ſich hinab. Es iſt eine ſchöpferiſche 
Empfindung, an welcher ſie zu ſich ſelber erwacht. Sie iſt an Kummer 
und Ekel reif geworden und auch tief beruhigt: es kann ihr nichts ge⸗ 
ſchehen. Sie faltet ſich noch einmal wie die kaum verletzte Blume zu⸗ 
ſammen, um ſich dann ſtrahlend feierlich wieder zu öffnen zu einem 
Triumphgeſang auf die rechtmäßige Liebe. Dieſe Daſcha vergeſſen wir 
Tolſtoi nicht.“ Martha Charlotte Nagel (Berliner Börſenzeitung). 

C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München 

9 $ 


Ruſſiſche Literaturgeſchichte 
von Alexander Eliasberg 


Mit 16 Bildniſſen 
Gebunden M 6.— 


„Das Bedürfnis nach einer gemeinverſtändlichen Darſtellung der ruſ⸗ 
ſiſchen Literatur war groß und wird nun durch Eliasberg in einer 
Weiſe erfüllt, für die er wohl Dank verdient. Seine Darſtellung iſt 
ſehr lebendig, kurz und gediegen, geht überall aufs Lebendige, gibt ſich 
nicht mit Kleinigkeiten ab und zeigt die großen Linien und die Höhe⸗ 
punkte dafür um ſo kräftiger. Eine ernſthafte, gründliche Kenntnis der 
ruſſiſchen Dichtung und Sprache liegt zugrunde, und fein perſönliches, 
lebendiges Verhältnis zu ihr. Überall zeigt Eliasberg nicht nur Kenner⸗ 
ſchaft und Streben nach gerechtem Urteil, ſondern auch Liebe und Hin⸗ 
gabe für ſeinen Stoff, der freilich einer der wunderbarſten iſt, über 
die man nur ſchreiben kann. Denn was gäbe es in unſerer geiſtigen 
Welt Schöneres, Lebendigeres, Mächtigeres als die ruſſiſche Dichtung 
ſeit hundert Jahren!“ Hermann Heſſe. — „In ſeiner großen Fähig⸗ 
keit der Zuſammenfaſſung hat Eliasberg nur die weſentlichen Er⸗ 
ſcheinungen, die prominenten Figuren in ſcharfen Charakteriſtiken neben⸗ 
einander geſtellt: alles, was nur mitfördernd zwiſchen den Gewaltigen 
gewirkt hat, deutet er bloß mit kurzen Strichen, ſo daß wir niemals 
eine langweilige Literaturhiſtorie haben, ſondern lebendige Lebensbilder, 
die auf das glücklichſte von ausgezeichneten Porträts der größten ruſ⸗ 
ſichen Maler begleitet ſind. Zum allererſten Male kann ſich der Deutſche 
hier ein klares Bild der geiſtigen Aufeinanderfolge in der ruſſiſchen 
Literatur machen und auch dem Vertrauten wird die ausgezeichnete 
Analyſe, die bibliographiſchen Tabellen von ungemeinem Vorteil ſein.“ 
Stefan Zweig (Wiener Neue Freie Preſſe). 
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München 
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Oſtliches Chriſtentum 
Dokumente 
Herausgegeben mit N. v. Bubnoff von Hans Ehrenberg 
I. Politik 
Geheftet M 4.50, gebunden M 7.— 


Inhalt: Tſchaadajew, Philoſophiſche Briefe / Akſakow, 
Memorandum an Alexander II. Auffäge aus: Das Gericht / Chom- 
jakow, Ausgewählte theologiſche Schriften: Einige Worte eines 
orthodoxen Chriſten. Zwei Briefe an Akſakow: Leiden und Gebet; 
Gebet und Wunder / Sektiererfragmente: Fragmente aus der Hand- 
ſchrift „Der Spiegel für den inneren Menſchen“; Auszug aus der 
Heiligen Schrift über den Antichrift (Peter der Große) / Leontjew, 
Tempel und Kirche. Die Nationalpolitik als Werkzeug der Welt⸗ 
revolution Solowje w, Jjdiſche und chriſtliche Theokratie / 
Nachwort des Herausgebers: Die Europäiſierung Rußlands. 


„Ehrenberg will ein geſchloſſenes Bild von dem öſtlichen Chriſtentum 
vermitteln und zwar aus den Dokumenten des chriſtlichen Oſtens unter 
Beſchränkung auf die ruſſiſchen Dokumente, von denen die meiſten erſt⸗ 
malig in deutſcher Sprache und zwar in einer außerordentlich an⸗ 
ſprechenden Überſetzung erſcheinen ... Nicht nur die lebendige Form, 
natürliche Sprache, Friſche der geiſtigen Schauung reißt uns beim 
Leſen dieſer Dokumente hin, ſondern die energiſche Betonung ihres 
Chriſtentums ſtellt uns vor die Frage, ob nicht Europa nur durch das 
Chriſtentum und zwar durch das um das öſtliche Chriſtentum ver⸗ 
größerte und wieder hergeſtellte Chriſtentum gerettet werden kann.“ 
Prof. D. Grütz macher (Theologie der Gegenwart). 


C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung München 
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Rußland 
in dichteriſchen Dokumenten 


Herausgegeben von 
A. Eliasberg und J. v. Guenther 


Einband zeichnung von Benno Eggert. In drei Bänden. 
Band I: Rußland, wie es ward. 335 Seiten mit 8 Bildern. 
Geb. M 8.—. Band II: Rußland, wie es ſich darſtellt. 
376 Seiten mit 8 Bildern. Geb. M 8.—. Band III: Ruß⸗ 
land, wie es fühlt. 420 Seiten mit 8 Bildern. Geb. Mg —. 
Bd. I-III in ſchöner Kaſſette M 25.—. Soeben erſchienen 


In dieſem dreibändigen Werke unternehmen es die beiden vorzüglichſten 
Kenner und Überſetzer ruſſiſcher Literatur nach ſachkundiger Auswahl 
und Zuſammenſtellung der ſtoffreichſten, charakteriſtiſchſten und farbigſten 
Stücke der erzählenden Literatur Rußlands ein umfaſſendes und ebenſo 
getreues, wie lebendiges Kulturbild zu komponieren. Der erſte Band zeigt 
uns feſſelnde Bilder aus der Geſchichte Rußlands, der zweite führt uns 
in das ruſſiſche Privatleben ein und der dritte erſchließt dem Leſer das 
Innerſte des Ruſſen, ſein religidjes Leben. Beſtimmend für die Auf- 
nahme der einzelnen Geſchichten war deren kulturgeſchichtlicher Gehalt. 
Gleichwohl ergibt ſich, da ſelbſtverſtändlich nur die bedeutenden echten 
Schriftſteller ihres Landes in Betracht kamen, ein nahezu umſpannendes 
und äußerſt reichhaltiges Bild der ruſſiſchen Literatur. Es iſt ein über⸗ 
aus fruchtbarer Gedanke, mit Hilfe der Erzähler die mannigfaltigen 
Lebensformen des heiligen Rußland uns anſchaulich nahekommenzu laſſen. 

Nicht bloß ein Schmuck, ſondern ein weſentliches Mittel zur weiteren 
Verlebendigung des Gebotenen ſind die den drei Bänden beigegebenen 
24 Illuſtrationen. Sie zeigen Porträts von Zaren, Miniſtern, hervor⸗ 
ragenden Perſönlichkeiten Rußlands und Szenen aus dem intimen Leben 
der Familie und des Privatlebens. Auch das religiöſe Leben der Ruſſen 
mit ſeinen Prieſtern, Prozeſſionen, Kulten wird im Bilde dargeſtellt. 
Das illuſtrative Material iſt hervorragenden ruſſiſchen, zeitgenöſſiſchen 
Malern entnommen. | 


C. H. Зе [фе Verlagsbuchhandlung München 
C. H. Beckſche Buchdruckerei in Nördlingen 


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Novellen. Deutsch von Johannes v. Guenther. 


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Pushkin, Aleksandr Sergyeevich 


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