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Full text of "Oesterreichs Bedränger Die Los-von-Rom Bewegung ; Studien über politische, religiöse und sociale Zustände der Gegenwart"

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Mßjuries, 


1817    z 

AKTBS      SCI  F. 


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OESTERREKÖS 
* BEDRdNQER  * 

Die  Los-von-Rom  Bewegung. 


Studien  über  politische,  religiöse  • 
und  sociale  Zustände  der  Gegenwart 

von 


RUDOLF  VRBA.   /<$&?*£% 


l 

PRAG  1903. 

Selbstverlag. 

In  Commission:  FR.  ftlVNÄÖ,   Buchhandlung: 

Prag  II.,  Oraben,  Palais  der  Landesbank. 


BR. 
"ö\  6 
V9£ 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN. 


Druck  der  „Politik*'  in  Frag. 


Vorwort. 


Nach  statistischen  Schätzungen  wird  die  Erde 
jetzt  rund  von  1660  Millionen  Menschen  bewohnt. 
Davon  entfallen  auf  Asien  rund  840,  Europa  390, 
Afrika  180,  Amerika  150,  Australien  und  übrige  Länder 
7  Millionen  Menschen.  Diese  grosse  Menschenfamilie 
zerfällt  in  verschiedene  Racen  und  zahlreiche  Völker. 
Die  Unterschiede  der  Menschenracen  beziehen  sich  auf 
den  Wuchs  Körperbildung  und  geistige  Begabung. 

Die  christliche  Religion  sagt,  dass  das  ganze 
Menschengeschlecht  von  einem  einzigen  Menschen- 
paare abstamme,  dass  alle  Menschen  in  ihrem  Wesen 
einander  gleich  sind.  Jede  Behauptung,  dass  eine  Na- 
tion oder  Race  berufen  sei  über  eine  andere  zu  herr- 
schen, andere  auszubeuten  angeblich  aus  dem  Grunde, 
weil  die  und  jene  Race,  das  und  jenes  Volk  »minder- 
werthig«  sei,  also  von  anderen  angeblich  höher  ste- 
henden beherrscht  und  ausgebeutet  werden  könne 
oder  gar  solle,  ist  wider  die  christliche  Religion,  ist  heid- 
nischen Ursprungs.  Die  Geschichte  ist  voll  von  blu- 
tigen Seiten,  welche  uns  Belege  geben,  wie  ganze 
Völker  ausgerottet  wurden.  Die  Indianer  wurden  in 
Amerika  bis  auf  wenige  Ueberreste  von  der  weissen 
Rage  vollständig  vernichtet.  In  Armenien  herrscht  seit 
dem  Jahre  1896  ein  ununterbrochenes  systematisches 
Morden  der  Armenier  von  Seite  der  Türken,  auch 
das  kleine  Volk  der  Boeren  in  Südafrika  sollte 
von  den  Engländern  ausgerottet  werden,  die  gelbe 
Rage  will  in  ihrem  Gebiete  keinen  Weissen  dulden. 
Wir  sehen,  dass  unter  dem  Schlagwort,  dass  das  eine 
Volk  berufen  sei  das  andere  zu  beherrschen,  die  furcht- 
barsten Blutmetzeleien  und  grässlichsten  Gräuel  auf 
der  Erde  verübt  werden.  Sollte  das  Bestreben  gewisser 
»Herren Völker«  die  Erde  unter  sich  zu  vertheilen 
weiter  um  sich  greifen,  würden  die  kleineren  Nationen 
dem  Tode  geweiht  sein.  Aber  Gott  der  Heerschaaren, 


vor  dessen  Antlitz  tausend  Jahre  wie  ein  Tag  sind, 
welcher  die  zahlreichen  Völker  und  ihre  Sprachen 
entstehen  Hess,  lenkt  auch  weiter  die  Geschicke  des 
Menschengeschlechtes. 

Er  hat  schon  stolze  Völker  und  Reiche  von  ihrer 
Höhe  gestürzt  und  verschwinden  gemacht.  Vorliegende 
Arbeit  verfolgt  keinen  anderen  Zweck,  als  die  christ- 
liche Idee,  dass  es  keine  Völker,  die  berufen  wären 
angeblich  wegen  ihrer  höheren  Eigenschaften,  die  sie 
sich  nur  selbst  zusprechen,  über  andere  zu  herrschen, 
von  rechtswegen  nicht  geben  dürfe,  darzuthun  und 
zu  verbreiten. 

Wenn  unter  den  Menschen  das  Gebot  Christi : 
»Liebe  deinen  Nächsten,  wie  dich  selbst«  verschwinden 
oder  nur  auf  jene  beschränkt  bleiben  sollte,  die  sich 
mit  gleicher  Nationalität  ausweisen  können,  dann 
wird  es  zu  solchen  Umwälzungen  und  Kämpfen  kom- 
men, dass  gegenseitige  Ausrottung  das  Ende  sein  wird. 
Damit  wird  aber  die  Erde  verwüstet  und  der  Sieger 
ist  selbst  nicht  sicher,  ob  er  von  einer  anderen  kräf- 
tigeren Race  überwunden  wird.  Schon  jetzt  werden 
Stimmen  laut,  dass  Europa  sehr  leicht  der  gelben 
Rage  zur  Beute  fallen  könne.  Also  wäre  es  den  Pre- 
digern der  berüchtigten  Herrenmoral  sehr  anzurathen, 
sie  möchten  sich  etwas  bescheidener  geberden,  denn 
es  könnte  einmal  der  Tag  kommen,  wo  an  ihnen 
selbst  die  Herrenmoral  zur  That  werden  könnte  und 
das  von  einer  Seite,  von  welcher  es  ihnen  am  we- 
nigsten wünschenswerth  erscheinen  würde. 

Smichov-Prag,   1.  April  1903. 

Rudolf  Vrba. 


I.  Die  Nationalitätenpolitik  bei  den  alten  klassischen 
Völkern,  vornehmlich  bei  den  Römern. 

Um  die  herrschenden  Strömungen  der  Gegenwart 
zu  verstehen,  ist  es  sehr  nützlich  auf  die  mächtigen 
Völker  vor  Christi  zurückzugreifen.  Es  ist  nichts 
neues  unter  der  Sonne.  So  auch  das  Streben  grosser 
Völker  und  Staaten  alles  zu  erobern  und  alles  für 
sich  zu  okkupieren.  Zudem  geben  auch  die  riesig 
entwickelten  Kommunikationsmittel,  Eisenbahnen. 
Dampfschiffe,  Telegraphen  und  Kabel  die  Möglichkeit 
Zeit  und  Entfernung  auf  das  mindeste  Mass  herab- 
zudrücken, somit  sind  Bildungen  von  grossen  Staaten 
sehr  dadurch  begünstigt.  Man  sehe  England,  Russland 
und  Nord- Amerika  an.  Das  haben  die  alten  Völker 
nicht  gekannt.  Die  antike  Welt  hat  nur  ein  grosses 
Staatengebilde  erlebt,  das  Römerreich.  Die  Römer 
waren  ein  Räubervolk  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes* 
ihre  Geschichte  ist  nur  Raub  und  Unterjochung 
besiegter  Völker.  Als  das  römische  Reich  die  grösste 
Ausdehnung  unter  den  Kaisern  erreichte,  waren  die 
Cäsaren  darauf  bedacht,  dem  ganzen  Reiche  ein 
einheitliches  Gepräge  zu  geben,  es  war  dies  der  erste 
centralistische  Staat  im  heutigen  Sinne.  Das  Bemühen 
der  Cäsaren  die  unterjochten  Nationalitäten  zu  bre- 
chen oder  ihre  Unterschiede  wesentlich  abzuschleifen, 
war  fast  vom  völligen  .Erfolge  begleitet.  Die  Völker 
verloren  ihre  angestammte  Kraft,  nur  die  Juden  und 
die  alten  Aegypter  widerstanden  der  Entnationali- 
sierung, die  Germanen  und  Slaven  waren  zu  weit 
von  Rom  entfernt.  Das  ganze  damalige  römische 
Europa,  also  das  heutige  Italien,  Spanien,  Frankreich, 
ein  Theil  der  Alpenländer,  ein  Theil  Englands  und 
der  Balkanhalbinsel,  sowie  der  Süden  Ungarns,  ganz 
Nordafrika,  kurz,  wo  die  Macht  der  römischen  Kaiser 


hinreichte,  herrsche  römische  Sprache  und  Sitte,  der 
Orient  aber  war  hellenisch,  hier  herrschte  das  Grie- 
chische, welches  bis  an  die  Ufer  des  Indus  verstanden 
wurde.  Selbst  im  westlichen  Theile  des  römischen 
Reiches  war  Griechisch  die  Sprache  der  Gebildeten. 
Die  Römer  Hessen  es  sich  aber  nicht  nehmen,  auch 
im  Orient  alle  amtlichen  Edikte  in  lateinischer 
Sprache  zu  verlautbaren,  Latein  war  die  Staatsprache, 
ihr  mussten  sich  auch  die  stolzen  Hellenen  fügen 
und  bei  Amtshandlungen  und  Gerichten  sich  eines 
Dolmetschen  bedienen,  falls  sie  des  Lateinischen  nicht 
mächtig  waren.  Im  ganzen  römischen  Reiche  bedienten 
sich  sämmtliche  Verwaltungsbehörden,  der  Gerichts- 
apparat und  die  Armee  der  officiellen  Sprache,  des 
Latein.  Plutarch  behauptete,  dass  alle  Menschen  La- 
tein sprechen.  Kaiser  Claudius  beraubte  einen  Abge- 
ordneten aus  Lycien  des  römischen  Bürgerrechtes, 
weil  er  des  Latein  nicht  mächtig  war. 

Bei  den  Griechen  war  der  Inbegriff  aller 
Pflichten  des  Bürgers :  mit  seiner  ganzen  Persönlichkeit 
im  Staate  aufzugehen.  Alles  sei  gerecht,  was  dem 
Staate  fromme.  Alle  Griechen,  verbunden  durch  die 
Gemeinsamkeit  der  Sprache,  Sitten  und  Götterwesen 
fühlten  sich  im  Gegensatze  zu  den  Nichtgriechen, 
den  Barbaren,  als  ein  über  alle  bevorzugtes  Volk. 
Sokrates  sprach  die  allgemeine  Meinung  der  Nation 
aus,  wenn  er  den  Göttern  täglich  dankte,  dass  er 
Mensch  und  nicht  Thier,  Mann  und  nicht  Weib, 
Grieche  uud  nicht  Barbar  sei.  Zwischen  Griechen 
und  Barbaren  gab  es  nothwendig  nur  Feindschaft, 
der  Grieche  war  von  den  Göttern  dazu  berufen,  über 
alle  Barbaren  zu  herrschen.  Es  galt  nur  das  Recht 
des  Stärkeren  und  Thukidides  betont  ausdrücklich, 
dass  es  echt  menschlich  sei,  Andere  zu  unterdrücken, 
dass  man  selbst  nicht  unterdrückt  werde.  Perikles 
sagte  vor  den  Athenern,  dass  man  den  Hass 
Anderer  verachten  solle,  wenn  man  nur  von  ihnen 
gefürchtet  werde.  Die  Römer  hatten  folgende  Merk- 
male. Sie  assimilierten  fast  alle  Völker,  die  mit  ihnen 
in  Berührung  kamen.  Ihre  Selbstsucht  kannte  kein 
anderes  Ziel  als  die  Weltherrschaft.  Sie  überwanden 
die   Völker,   weil   sie   den   Erfolg   und   Gewinn   des 


Ganzen,  des  Staates  stets  dem  eigenen  Priwatgewinn, 
persönlicher  Lust  und  Bequemlichkeit  unterordneten. 
Geiz  und  Habsucht  bildeten  die  Grundlage  des  rö- 
mischen Charakters.  Die  Kriege  wurden  nicht  etwa 
um  die  Ehre  und  den  Ruhm,  sondern  der  Eroberung 
willen  geführt,  sie  dienten  als  Hauptquelle  der  Be- 
reicherung. Alles  öffentliche  und  private  Leben  der 
Römer  war  auf  dem  römischen  Rechte  aufgebaut 
Die  Grundlage  dieses  Rechtes  ist  der  schroffste  Begriff 
von  Mein  und  Dein,  also  dem  Privateigenthum.  Der 
Entstehungsgrund  des  Rechtes  ist  das  Nehmen  mit 
der  Hand,  die  Mancipation,  also  die  Stärke  des 
eigenen  beutemachenden  Armes.  Recht  ist,  was  mit 
der  Gewalt  vertheidigt  werden  kann,  so  lehrten  die 
Römer  vor  zweitausend  Jahren  und  früher  und  nach 
diesem  Grundsatze  wird  heute  noch  vorgegangen, 
man  sehe  nur  die  Vernichtung  der  südafrikanischen 
Boerenrepubliken  durch  den  englischen  Raubzug. 
Was  die  Römer  den  besiegten  Völkern  abnahmen, 
das  hielten  sie  für  ihr  Eigenthum. 

Nach  der  Ansicht  antiker  Völker  standen  sich 
Menschen,  die  nicht  zu  demselben  Staate  gehörten, 
als  „Hostes"  —  Feinde  —  einander  gegenüber. 
Zwischen  Römern  und  Nichtrömern  galt  nur  das 
Recht  des  Stärkeren,  genau  so  wie  es  heute  die 
Alldeutschen  gegen  nichtdeutsche  Völker  in  die  Welt 
proklamieren. 

II.  Römer  und  Juden. 

Ein  seltenes  Schauspiel  nationalen  Zweikampfes 
bietet  die  Unterjochung  der  Juden  durch  die  Römer. 
Hyrkan  II.  und  Aristobul,  Söhne  der  Salome,  riefen 
einander  sich  befehdend  die  Römer  zu  Hilfe.  Im  J.  63 
kam  dann  auch  Pompejus  vor  die  Mauern  Jerusalems, 
eroberte  die  Stadt,  betrat  mit  seinem  Stabe  den 
Tempel,  drang  selbst  in  das  Allerheiligste  ein,  wohin 
bisher  noch  kein  NichtJude  gedrungen  war.  Römer 
und  Juden  waren  überzeugt,  dass  sie  zum  Herrschen 
über  andere  Nationen  von  der  Gottheit  auserwählt 
seien.  Herodes,  der  römische  Vicekönig,  wüthete  denn 
37  Jahre  lang  über  dem  Judenvolke,  wie  oft  trachtete 
man  ihm  nach  dem  Leben,  so  oft  nahm  er  furchtbare 


8 


Rache  an  den  Juden,  die  er  zu  Hunderten  hin- 
richten Hess.  Am  Hauptein  gange  des  Tempels  Hess 
er  einen  goldenen  römischen  Adler  befestigen,  um 
die  Juden  zu  verhöhnen.  Die  heiligen  Gewänder,  die 
der  Hohepriester  an  den  hohen  Festtagen  trug,  nahm 
Herodes  in  seinen  Gewahrsam  und  gab  sie  nur 
heraus,  wenn  sie  gebraucht  wurden.  Der  Steuerdruck 
der  Römer  war  so  grausam,  dass  die  Steuerpächter 
und  Zöllner  von  den  Juden  gemieden  und  als  Aus- 
wurf angesehen  wurden.  Die  Tempelsteuer  mussten 
die  Juden  jetzt  dem  Jupiter  Gapitolinus  nach  Rom 
zahlen.  Sie  wurde  mit  schamloser  Härte  eingetrieben. 
Suctonius  sagt,  dass  ein  90jähriger  Greis  untersucht 
wurde,  ob  er  Jude  sei  und  die  Jupiter-Tempelsteuer 
zu  zahlen  habe.  Die  Juden  erhoben  sich  nun,  wurden 
aber  von  den  Römern  grausam  niedergeschlagen, 
das  Land  wurde  verwüstet,  tausend  kleinere  Ort- 
schaften und  50  grössere  Städte  dem  Erdboden 
gleichgemacht,  480  Synagogen  wurden  zerstört  und 
weit  über  eine  halbe  Million  jüdischer  Kämpfer  von 
den  Römern  getödtet.  Das  geschah  gegen  Ende  des 
ersten  Jahrhundertes  nach  Christus,  die  römische  Welt- 
herrschaft hat  damit  ihren  Abschluss  erlangt.  Das 
römische  Reich  umfasste  sämmtliche  Länder  und 
Gebiete  um  das  mittelländische  Meer  und  zählte 
circa  50  Millionen  Menschen,  Rom  allein  zählte  etwa 
2  Millionen  Menschen.  Der  Sturz  dieses  Reiches  war 
bedingt  aus  vielfachen  Gründen.  Der  grösste  davon 
war  der,  dass  die  Römer  zur  Zeit  der  Nerone,  Gali- 
gulas  etc.  vollständiger  Sittenlosigkeit  sich  hingaben 
und  dann  ging  die  Kraft  dieses  Volkes  vollständig 
in  Brüche. 

III.  Die  Bildung  von  grossen  Nationalstaaten  in 
neuester  Zeit. 

Heute  nach  zweitausend  Jahren  sind  römisch- 
heidnische Anschauungen  im  Völkerrecht  wiederum 
massgebend.  Ländergier  und  Eroberungssucht  sind 
zu  einer  Epidemie  geworden,  welcher  mächtige  Völker 
und  Staaten  jetzt  huldigen.  Diese  Erscheinung,  die 
im  politischen  Leben  der  Völker  gegenwärtig  so 
stark   hervortritt,    erhielt   in   Amerika    und   England 


9 


den  bezeichnenden  Namen :  Imperialismus.  Das  Wort 
erinnert  an  das  antike  imperium  romanum.  So  wie 
die  Römer  im  Alterthum  die  Herren  über  den 
grössten  Theil  der  damals  bekannten  Welt  waren, 
so  streben  die  Grossmächte  derzeit,,  jede  für  sich, 
nach  der  Weltherrschaft.  Uebrigens  kann  in  dieser 
Beziehung  nicht  nur  das  alte  römische  Reich  als 
Vorbild  dienen.  Expansive  Politik  wurde  zu  allen 
Zeiten  betrieben,  vielleicht  schon  lange  vor  Errichtung 
des  assyrischen  Reiches,  aber  niemals,  mit  Ausnahme 
des  ersten  Napoleon,  hat  das  Streben  nach  Macht  so 
grossartige  Proportionen  angenommen,  als  in  unserer 
Zeit  und  selten  ist  es  wohl  so  unverhüllt  in  Gegen- 
satz zu  jedem  Rechtsgefühl  getreten. 

Dieses  Streben  nach  Macht  erscheint  unter  ver- 
schiedenen Formen;  doch  ist  der  englische  Imperi- 
alismus am  typischesten.  Ueber  seinen  Zweck  und 
seine  Berechtigung  werden  seit  einiger  Zeit  in  engli- 
schen Zeitschriften  lebhafte  Discussionen  geführt; 
denn  in  England  werden  seit  jeher  alle  socialen  und 
politischen  Fragen  einer  genauen  Prüfung  und  Erör- 
terung unterzogen.  Der  englische  Imperialismus  ist 
sozusagen  verkörpert  in  der  Person  des  Colonial- 
rainisters  Josef  Chamberlain,  der  in  früheren  Jahren 
ein  hervorragender  Geschäftsmann  und  werkthätiger 
Förderer  der  Stadt  Birmingham  war.  Als  er  1876  in 
einem  Alter  von  vierzig  Jahren  ins  Unterhaus  gewählt 
wurde,  war  er  ein  Anhänger  Gladstone's  und  stark 
socialistisch  angehaucht.  Die  irländische  Homerule- 
Frage  wurde  die  Veranlassung,  dass  er  seine  poli- 
tischen Ansichten  änderte.  Die  Mängel  und  Uebel- 
stände  in  der  Verwaltung  Irlands  entgingen  ihm 
allerdings  nicht,  aber  die  Erhaltung  der  Reichseinheit 
erschien  ihm  als  Hauptbedingung  für  Zugeständnisse 
an  die  irische  Nationalpartei.  Er  sagte  sich  daher 
1886  von  Gladstone  los  und  wurde  Imperialist. 
Das  beste  Mittel  zum  Schutze  des  Reiches  und  zur 
Hebung  des  Wohlstandes  desselben  erblickte  er  in 
einem  Handels-  und  Verteidigungsbündnisse  mit  den 
sich  selbst  regierenden  Golonien,  sowie  in  der  Aus- 
dehnung der  englischen  Herrschaft  über  möglichst 
weite  Gebiete.    Gelegentlich  einer  Reise  nach  Canada 


10 


lernte  er  Nordamerika  kennen,  was  nebst  seiner  Ver- 
heirathung  mit  einer  Amerikanerin  dazu  beitrug,  in 
ihm  jene  gewissen  pananglikanischen  Tendenzen 
wachzurufen,  für  die  er  unzählige  Male  mit  grösstem 
Erfolge  Propaganda  machte.  Nachdem  er  1895  Staats- 
sekretär für  die  Golonien  geworden,  war  er  unablässig 
bemüht,  für  eine  Annäherung  der  Golonien  an  das 
Mutterland  zu  wirken  und  seine  vielseitig  verdammte 
Haltung  in  der  Transvaalfrage  beruht  jedenfalls  haupt- 
sächlich auf  seiner  ausgeprägt  imperialistischen  An- 
schauungsweise, weniger  auf  Rücksichtslosigkeit  im 
Charakter  oder  auf  Privatinteressen.  Sein  Ziel  ist  die 
Gentralisirung  des  grossbritannischen  Reiches  auf 
Grundlage  eines  Zoll-  und  Defensivbündnisses  zwi- 
schen Mutterland  und  Golonien.  Ausser  dieser  Gen- 
tralisation  des  Reiches  schwebt  ihm  als  weiteres 
wünschenswerthes  Ziel  ein  künftiger  Pananglikanismus 
vor,  der  durch  den  Anschluss  der  Vereinigten  Staaten 
an  das  britische  Weltreich  verwirklicht  werden  soll. 
Die  Leidenschaftlichkeit,  mit  welcher  Chamber- 
lain's  Ideen  in  den  hervorragenden  englischen  Zeit- 
schriften immer  und  immer  wieder  erörtert  werden, 
ist  ein  Beweis  dafür,  dass  die  Sache  keine  blosse 
theoretische  Frage  ist.  Auf  dem  Imperialismus  beruht 
ja  nicht  nur  die  Entwicklung  der  politischen,  sondern 
auch  die  der  socialen  Verhältnisse  des  Inselreiches. 
Es  handelt  sich  um  die  ganze  Zukunft  des  englischen 
Volkes.  Die  grösste  Schwierigkeit  für  die  Verfechter 
des  Imperialismus  bildet  die  Lösung  der  Frage,  welche 
Stellung  die  Golonien  zum  Mutterlande  einnehmen 
sollten  oder  würden,  nachdem  sie  durch  gemeinsame 
Verpflichtungen  und  Interessen  an  dasselbe  gekettet 
wären.  Müssten  die  Golonien  die  Lasten  des  Mutter- 
landes mit  tragen,  so  müssten  sie  billigerweise  auch 
durch  Repräsentanten  theilnehmen  dürfen  an  der 
Entscheidung  von  Fragen,  die  das  Reich  betreffen. 
In  der  Juli-Nummer  1900  von  „The  Quarterly  .Review" 
fordert  ein  Artikelschreiber  die  Errichtung  eines  „Im- 
perial concil",  eines  Reichsrathes,  in  welchem  die 
Golonien  geradeso  wie  das  Mutterland  vertreten  sein 
sollten.  Ein  anderer  Artikelschreiber  bestreitet  in  der 
Juli-Nummer  von  „The  Edinburgh  Review"   dagegen 


11 


die  Möglichkeit  und  den  Nutzen  einer  solchen  Reichs- 
repräsentation;  die  Engländer  sollen  nicht  zugeben, 
dass  Männer  aus  anderen  Ländern  an  den  Erwä- 
gungen und  Beschlüssen  über  Gesetze  und  sociale 
Einrichtungen  theilnehmen,  eher  solle  das  Alte  mit 
all  seinen  Mängeln  weiter  bestehen.  Hie  und  da  findet 
man  aber  auch  Äusserungen  gegen  den  Imperialismus* 
So  enthielt  die  November-Nummer  der  „Westminster 
Review"  (1900)  einen  scharfen  Artikel  „Imperialism 
in  extremis,  alias  shabby  Imperialism",  dessen  Ver- 
fasser sich  mit  Abscheu  gegen  ein  politisches  System 
wendet,  welches  Macht  vor  Recht  gelten  lässt.  Er 
sagt:  Englands  imperialistische  Politik  sei  eine  Serie 
von  Verbrechen  und  Fehlern  gewesen;  grobe  Selbst- 
sucht sei  ihr  zu  Grunde  gelegen;  sie  sei  eine  Politik 
der  Raub-  und  Mordlust  gewesen.  In  China  haben 
die  Engländer  ihr  Opium  eingeführt,  wodurch  einige 
englische  Kapitalisten  sich  bereicherten,  während  die 
Bevölkerung  Chinas  demoralisirt  wurde.  In  Indien 
habe  die  englische  Staatskunst  in  einem  Aussaugungs- 
system  bestanden,  dessen  Früchte  sich  in  der  Hungers- 
noth  zeigen,  die  Jahr  und  Jahr  fürchterliche  Opfer  in 
dem  von  der  Natur  so  reich  ausgestatteten  Lande 
fordere.  In  Afrika  und  auf  Irland  feiere  die  englische 
Politik  ebenso  traurige  als  schimpfliche  Triumphe. 
Die  inneren  Verhältnisse  Englands  werden  ganz  und 
gar  vernachlässigt.  Das  Grundbesitzsystem  werde  un- 
verrückt beibehalten  mit  all  seinen  verhängnissvollen 
socialen  und  ökonomischen  Konsequenzen;  ebenso 
dürfen  andere  Misstände  fortbestehen.  Der  Verfasser 
des  Artikels  fordert  darum,  dass  ganz  neue  Bahnen 
eingeschlagen  werden  müssen.  Die  Bewohner  des 
Reiches  ausserhalb  Englands  müssen  sich  frei  nach 
eigenem  Gutdünken  entwickeln  dürfen.  England  müsse 
zufrieden  sein  mit  seinem  mehr  als  hinreichend 
grossen  Gebietsumfang  und  von  weiteren  Eroberungen 
ablassen.  England  müsse  anderen  Mächten  voran- 
gehen als  Muster  moralischer  Stärke  und  gesunder 
Vernunft,  indem  es  Wege  einschlägt,  die  nicht  zu 
Arsenalen  und  Marinestationen  führen,  sondern  zu 
freundschaftlichen  Verbindungen  zwischen  den  Men- 
schen und   zur   Auffindung   von  Mitteln  zur  Erleich- 


12 


terung  und  Verschönerung  des  menschlichen  Lebens. 
Der  Imperialismus  hat  bekanntlich  auch  in  den  Ver- 
einigten Staaten  Wurzel  gefasst,  wiewohl  die  weiten 
Gebiete  der  Republik  ihren  Bewohnern  hinlänglich 
Gelegenheit  zur  Ausbreitung  und  Thätigkeit  bieten. 
So  schreibt  in  der  September-Nummer  von  „The 
Nineteenth  Century"  (1900)  der  Amerikaner  Bladley 
Martin  über  „Amerikanischen  Imperialismus":  „Die 
Philippinen  sollen  für  die  Vereinigten  Staaten  die 
Brücke  werden  nach  dem  chinesischen  Handels- 
markte. Die  imperialistische  Politik  wird  uns  er- 
weiterte Interessen  bringen  und  zugleich  wie  ein 
Sicherheitsventil  wirken,  welches  unsere  überflüssige 
Energie  ableitet."  Dass  die  imperialistische  Staats- 
kunst Verwüstung  und  Unglück  über  die  Völker 
bringen  würde,  die  nicht  das  Glück  haben,  der  angel- 
sächsischen Race  anzugehören,  das  kümmert  die  Ver- 
fechter des  Imperialismus  nicht;  die  befassen  sich 
überhaupt  nicht  mit  einer  wissenschaftlichen  Aus- 
einandersetzung oder  tieferen  Untersuchung  des  frag- 
lichen Staatsproblems.  Ihre  Aufsätze  sind  meistens 
nur  eine  Art  Programmartikel,  die  in  kurzer  Form 
und  entschiedener  Sprache  die  Vortrefflichkeit  des 
Systems  klar  zu  machen  suchen.  Der  Imperialismus 
charakterisirt  sich  dadurch,  dass  Staats-  und  National- 
interesse Hand  in  Hand  gehen,  ohne  alle  Rücksicht 
auf  Humanitäts-  und  Rechtsgefühl.  Dass  ein  solches 
System  Opposition  wecken  muss,  ist  klar,  aber  diese 
ist  erst  in  Bildung  begriffen  und  wird  durch  die 
Machtmittel  der  Regierenden  an  energischem  Auf- 
treten gehindert. 

Unsere  Zeit  ist  denn  auch  diesen  Bestrebungen 
sehr  günstig.  Während  die  Römer  annektierte  Län- 
der durch  Anlegung  von  Reichsstrassen  ihrer  Macht 
anzuketten  genöthigt  waren,  sind  heute  Zeit  und  Raum 
wesentlich  verringert  durch  Eisenbahnen  und  Dampfer. 
Zu  dem  stellt  sich  noch  der  oberirdische  und  unter- 
seeische Telegraph,  der  es  ermöglicht,  dass  von  einem 
Centrum  aus  mächtige  Staatsgebilde  geleitet  werden 
können.  Englands  Weltherrschaft  ist  schwer  denkbar 
ohne  seine  unterseeischen  Kabeltelegraphen,  mit 
denen    es    die   ganze  Welt    umzingelt  hat.     Ist  doch 


IS 


Afrika    allein    dreifach   vom   englischen    Kabel    um- 
geben. 

Die  Eisenbahnen  der  Erde  bieten  jetzt  folgendes 
Bild  dar.  Das  Anlagekapital  der  Eisenbahnen  der 
Erde  wird  auf  rund  155 1/2  Milliarden  Mark  berechnet. 
Eine  Rolle  von  Zwanzig-Markstücken,  die  diesen  Be- 
trag enthielte,  würde,  wie  das  Archiv  dazu  bemerkt, 
eine  Länge  von  etwa  10.900  Kilometer  haben,  und  zu 
ihrer  Verladung  würden  etwa  6220  Eisenbahnwagen 
von  je  10.000  Kilogramm  Tragfähigkeit  erforderlich 
sein.  Die  ersten  Eisenbahnen  wurden  eröffnet  in  Eng- 
land im  Jahre  1825;  10  Jahre  später,  im  Jahre  1835t 
folgten  Deutschland  und  Belgien.  Die  letzten  euro- 
päischen Staaten  waren  Rumänien,  das  1870,  und 
Serbien,  das  erst  1884  eine  Eisenbahn  eröffnet  hat 
Im  Jahre  1840  hatte  man  in  Europa  2925  Kilometer 
Eisenbahnen  in  Betrieb ;  im  Jahre  1860  waren  es 
rund  52.000  Kilometer,  1880  bereits  169.000  und 
Ende  des  verflossenen  Jahrhundertes  283.525  Kilo- 
meter. In  den  übrigen  vier  Erdtheilen  und  auf  der 
gesammten  Erde  entwickelte  sich,  Kilometer-Betriebs- 
länge gerechnet,  das  Eisenbahnnetz  in  diesen  Zeit- 
abschnitten in  folgenden  Sprüngen: 


1840 

1860 

1880 

1900 

Amerika    .    . 

.    4754 

53.935 

174.666 

402.171 

Asien     .    ■ 

— 

1.393 

16.287 

60.301 

Afrika    .    .    . 

— 

455 

4.646 

20.114 

Australien     . 

— 

367 

7.847 

24.014 

GesammteErde  7679  108.012  372.429  790.125 
In  dieser  Uebersicht  fällt  namentlich  die  sprung- 
hafte Entwicklung  des  amerikanischen  Eisenbahn- 
wesens auf,  das  an  Betriebslänge  im  Jahre  1860  noch 
hinter  dem  europäischen  Eisenbahnnetz  zurückstand, 
es  aber  bis  Ende  1880  bereits  um  5000  Kilometer 
überholte  und  ihm  Ende  des  Jahrhundertes,  obwohl 
das  europäische  Netz  um  rund  114.000  Kilometer 
sich  vergrösserte,  um  weitere  120.000  Kilometer 
voraneilte.  An  dieser  staunenswerthen  Entwicklung  der 
amerikanischen  Eisenbahnen  sind  in  erster  Linie  die 
Vereinigten  Staaten  betheiligt:  im  Jahre  1860  waren 
sie  hinter  dem  europäischen  Netz  um  2500  Kilometer 


14 


zurück,  im  Jahre  1880  war  der  Vorsprung  Europas 
sogar  15.000  Kilometer.  Am  Ende  des  verflossenen 
Jahrhunderts  hatten  sie  das  „alternde  Europa"  um 
27.500  Kilometer  überholt.  In  dieser  rapiden  Ent- 
wicklung des  amerikanischen  Verkehrswesens  gerade 
in  den  letzten  20  Jahren  ist  die  Erklärung  zu  suchen, 
warum  sich  der  wirthschaftliche  Wettbewerb  der  Ver- 
einigten Staaten  auf  allen  Gebieten  den  europäischen 
Staaten  in  so  überraschender  Weise  fühlbar  gemacht 
und  sich  bis  zu  einer  Gefährdung  der  europäischen  In- 
dustrie und  Landwirthschaft  entwickelt  hat.  Unter  den 
einzelnen  Staaten  haben  die  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  das  grosse  Eisenbahnnetz,  311.034  Kilo- 
meter; das  zweitgrösste  Netz  hat  Deutschland  mit 
51.391  Kilometer;  darauf  folgt  das  europäische  Russ- 
land mit  48.107,  Frankreich  mit  42.827,  Britisch-Ost- 
indien  mit  38.235,  Oesterreich-Ungarn  mit  36.883, 
Grossbritannien  und  Irland  mit  35.186,  Britisch-Nord- 
amerika  mit  28.697  Kilometer.  Dazu  kommt  die  un- 
geheuere Handelsflotte,  welche  die  einzelnen  durch 
Oceane  getrennten  Welttheile  verbindet.  Ende  1901 
zählte  die  Handelsflotte  der  Welt  29.628  Schiffe 
und  zwar  sind  das  Fahrzeuge  von  100  Tonnen  auf- 
wärts. Nach  dem  Raumgehalt  sind  sie  vertheilt  auf: 
Grossbritannien  14,431.072  Tonnen,  Vereinigte  Staaten 
von  Amerika  3,337.156  Tonnen  (nach  Abzug  der  auf 
den  grossen  Seen  beschäftigten  Schiffe  verbleibt  indess 
für  die  eigentliche  Seehandelsflotte  nur  ein  Bestand 
von  1,342.913  Tonnen),  Deutschland  3,138.568  Tonnen, 
Norwegen  2,632.757  Tonnen,  Frankreich  1,519.922 
Tonnen,  Italien  1,159.082  Tonnen,  Russland  800.334 
Tonnen,  Spanien  784.537  Tonnen,  Japan  690,581 
Tonnen,  Schweden  690.581  Tonnen.  Ende  des  18ten 
Jahrhundertes  betrug  der  Welthandel  6,  Ende  1900  aber 
rund  90  Milliarden  Mark.  So  hat  das  Verkehrswesen 
die  Nationen  der  Welt  einander  gewaltig  genähert. 

Einzelne  mächtige  Staaten  ringen  auf  diesem  Ge- 
biete nach  der  Weltherrschaft,  die  Gier  nach  Reich- 
thum  ist  überal  erwacht.  Grosse  Nationen  wollen  sich 
nach  Art  der  alten  Römer  in  den  Provinzen  bereichern. 
Der  wirthschaftliche  Kampf  der  Kulturstaaten  der  Erde 
ist  in  folgenden  Zahlen  ausgedrückt.  Die  Ein-  und 
Ausfuhr  betrug  zusammen 


15 


Jahr  1882  1900 

Millionen  Mark 

England 12.039  15.323 

Deutschland 6.323  10.377 

Nordamerika 6.051  9.585 

Frankreich 6.801  6.874 

Niederlande 2.918  5.914 

Russland 3.838  4.105 

Belgien 2.376  3.173 

Oesterreich-Ungarn 2.441  3.056 

Italien 1.927  2.460 

Schweiz  .        1.123  1.535 

Indien 3.065  4.294 

Australien 2.365  3.008 

China      940  2.985 

Japan  .    .    .    i 295  2.066 

Zwei  Drittel  des  gesammten  Welthandels  fallen 
auf  Europa.  Vier  Fünftel  des  Welthandels  werden  auf 
dem  Meere  und  nur  ein  Fünftel  auf  dem  Festlande 
abgewickelt.  Darnach  kann  man  auch  das  Wort  Kaiser 
Wilhelms  taxiren :  Deutschlands  Zukunft  sei  auf  dem 
Wasser. 

Es  ist  erwähnt  worden,  dass  sich  der  Gesammt- 
welthandel  im  Jahre  1900  auf  88  Milliarden  Mark,  im 
Jahre  1882  auf  61  Milliarden  Mark  belief.  Da  hiebei 
der  Ein-  und  Ausfuhrhandel  zusammen  gemeint  ist 
und  bei  dieser  Berechnung  jede  Waare  mindestens 
zweimal  (als  Ausfuhr  des  einen  und  als  Einfuhr  des 
anderen  Landes)  erscheint,  stellt  sich  der  Werth  der 
im  Welthandel  wirklich  umgesetzten  Handelsgüter 
auf  nur  44,  beziehungsweise  30 1/2  Milliarden  Mark. 
Die  Menge  dieser  Güter  kann  wegen  der  Verscheiden- 
heit  der  statistischen  Angaben  der  einzelnen  Länder 
nicht  berechnet  werden.  Da  aber  in  älteren  Zeiten 
fast  nur  Kostbarkeiten  und  feinere  Genussmittel  (Ge- 
würze etc.)  im  internationalen  Handel  vorkamen,  wäh- 
rend jetzt  sogenannte  Massengüter  (Getreide,  Kohle 
u.  s.  w.)  das  Hauptkontingent  stellen,  so  ergibt  sich, 
dass  die  im  Welthandel  bewegten  Waarenmengen 
noch  beträchtlich  mehr  zugenommen  haben  als  die 
Waarenwerthe.  Scheidet  man  die  Staaten  in  Industrie- 
staaten und  in  solche  mit  vorwiegend  landwirthschaft- 


16 


liehen  Betrieben,  so  findet  man,  dass  erstere  vom 
Auslande  hauptsächlich  Nahrungs-  und  Genussmittel 
(Vieh  und  Rohmaterialen)  zur  Ernährung  und  Be- 
schäftigung ihrer  nach  Millionen  zählenden  Arbeiter- 
hfeere  beziehen,  während  letztere  in  den  Industrie- 
staaten willkommene  Abnemehr  für  ihre  landwirt- 
schaftlichen Produkte  und  ihre  Rohstoffe  finden  und 
von  ebendaher  die  Fabrikate  beziehen,  die  sie  selbst 
aus  Mangel  an  einer  höher  entwickelten  Industrie 
nicht  herzustellen  vermögen.  Zu  den  Hauptrepräsen- 
tanten der  ersten  Gruppe  (Industriestaaten)  gehören 
Deutschland,  die  Vereinigten  Staaten  und  England ; 
aus  der  Gruppe  der  Länder  mit  vorzugsweise  land- 
wirtschaftlichen Betrieben  ist  vor  allem  Russland  zu 
erwähnen.  Aus  dieser  Gegenüberstellung  geht  hervor, 
das  die  Länder  der  Erde  in  einem  unausweichlichen 
wechselseitigen  Handelsverkehr  stehen  müssen,  und 
dass  es  undenkbar  ist,  dass  ein  Land  sich  ganz  un- 
abhängig machen  kann  von  fremden  Märkten.  Alle 
Mächte  der  Erde  sind  auf  einander  angewiesen  und 
können  weder  die  Zufuhr  fremder  Güter  noch  die 
fremden  Absatzmärkte  für  ihre  eigenen  Erzeugnisse 
entbehren. 

Das  fieberhafte  Streben  nach  Reichthum  und 
Macht,  nach  Weltherrschaft  und  das  Ansichreissen 
des  Welthandels,  dieser  riesige  Konkurrenzkampf  der 
Nationen  hat  denn  auch  im  Laufe  des  19.  Jahrhun- 
dertes  die  Stellung  einiger  Kulturstaaten  vollständig 
verändert,  Durch  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  und 
Freigabe  der  Produktion,  durch  Entwickelung  der 
Industrie  ist  zunächst  die  Bevölkerung  einzelner  Kul- 
turstaaten in  ungeahnter  Weise  angewachsen.  Die  Be- 
völkerung Europas  ist  nach  Juraschek's  Berechnung 
folgen dermassen  angewachsen  : 

Jahr  1800  190O 

Millionen  Einwohner 

Russland 388  106-8 

Deutschland 245  56ä 

Oesterreich-Ungarn 24*3  47'0 

Frankreich 26-9  38-7 

England 16-2  41*4 

Italien      16-8  32-4 


IT 


Jahr  1800  1900 

Millionen  Einwohner 

Spanien 11-5  17*7 

Türkei      7-3  9-8 

Schweden-Norwegen 3*2  7*3 

Belgien 3*2  6'5 

Portugal 3-0  5-9 

Durch  die  europäische  Auswanderung  ist  noch 
ein  anderes  gewaltiges  Staatsgebilde  gewachsen,  Nord- 
Amerika.  Die  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas  hatten 
im  Jahr  1800  nur  53  Millionen  Einwohner  und  zählten 
im  Jahr  1900 ;  76*1  Millionen  Menschen.  Wir  haben 
demnach  die  gewaltigen  Staatsgebilde  vor  uns  in 
England,  Russland,  Deutschland  U.Nordamerika.  Diese 
ringen  den  Konkurrenzkampf  um  die  Weltherrschaft, 
vorderhand  jeder  in  seiner  ihm  zunächst  gelegenen 
Macht-  und  Interessensphäre.  Sehen  wir  uns  ein 
wenig  diese  vier  Grossmächte  näher  an. 

England  mit  den  Golonien  hatte  Ende  des  Jahres 
1901  eine  Ausdehnung  von  28  Millionen  Quadrat- 
Kilometer  mit  389  Millionen  Einwohnern.  Russland 
hatte  eine  Ausdehnung  von  22  Millionen  Quadrat- 
Kilometer  mit  131  Millionen  Einwohnern.  Vereinigte 
Staaten  Nordamerikas  9*8  Millionen  Quadrat-Kilometer 
mit  86  Millionen  Einwohnern.  Frankreich  mit  den 
Golonien  hatte  6  Millionen  Quadrat-Kilometer  und 
84  Millionen  Einwohner.  Die  Schutzgebiete  Deutsch- 
lands umfassten  2!/2  Millionen  Quadrat-Kilometer  mit 
12-4  Millionen  Einwohnern.  Alle  diese  Riesenbe- 
sitzungen sind  sozusagen  im  Laufe  der  letzten 
50  Jahre  entstanden.  So  haben  sich  die  Weltmächte 
um  den  schwarzen  Erdtheil  im  Laufe  der  letzten 
Jahre  brüderlich  getheilt.  Es  besitzt  dort  England  2*7, 
Frankreich  3*8  Millionen  Quadratmeilen,  Deutschland 
933.380,  Portugal  790.124  Quadratmeilen.  Einsichtige 
Staatsmänner  sind  diesen  riesigen  Staaten  nicht 
absonderlich  geneigt.  Je  grösser  der  Länderbositz, 
desto  schwieriger  wird  die  Verwaltung.  Londoner 
„Morning  Post"  veröffentlichte  Anfangs  Auguat  über 
den  Niedergang  Grossbritanniens  einen  langen  Artikel, 
in  welchem   unter  Anderem   folgendes  zu  Ionen  war. 


18 


Das  grösste  Handelsreich  der  Welt  wird  von 
einer  Aristokratie  regiert,  die  jedes  Geschäft  verachtet 
und  nichts  davon  versteht.  Die  Folge  ist,  dass  die 
britischen  Eisenbahnen  blos  den  Interessen  der 
Aktionäre  dienen,  .  dass  sie  ausländische  Erzeugnisse 
um  mehr  als  die.  Hälfte  billiger  transportiren,  als 
heimische  Produkte,  dass  alle  Privatunternehmungen 
stark  besteuert  und  in  ihrer  Existenz  vernichtet  werden 
zu  Gunsten  von  Trusts  und  Monopolen  von  der  einen 
oder  der  andern  Sorte.  Der  britische  Boden  in  einem 
Umkreise  von  40  Meilen  um  London,  das  schönste 
Korngebiet  der  Welt,  liegt  brach  und  hat  nur  um 
Weniges  grösseren  Werth  als  das  Veldt  in  Südafrika. 
Die  Dörfer  sind  entvölkert,  die  Arbeiter  wurden  durch 
die  Gefahr  des  Hungertodes  in  die  Städte  getrieben, 
wo  sie  verkommen  und  degeneriren.  England  kaufte 
im  Jahre  1901,  um  seine  Industriebevölkerung  zu 
ernähren,  Nahrungsmittel  für  320  Millionen  Pfund 
Sterling,  also  ungefähr  für  7700  Millionen  Kronen 
österr.  Währung.  In  ihren  aus  einem  einzigen  Zimmer 
bestehenden  Heimen  sind  sie  wie  die  Heringe 
in  einem  Fass  dicht  nebeneinander  verpackt.  So 
führen  sie  in  schmutzigen,  krankheiterregenden  Spe- 
lunken eine  namenlos  elende  Existenz  und  überdies 
werden  sie  zu  Opfern  der  ungerechten  Gesetze  und 
einer   unwissenden    und    unzulänglichen  Verwaltung. 

Das  Parlament  wird  ausgespielt  und  das  Volk  hat 
keine  wirkliche  Vertretung.  Wenn  es  zu  einer  Wahl 
kommt,  erwählt  sich  jede  der  beiden  politischen 
Parteien  einen  Kandidaten.  Der  Konservative  ist  in 
der  Regel  ein  Eisenbahndirektor,  der  Liberale  ein 
Bierbrauer,  und  das  Volk  hat  zwischen  diesen  zwei 
Leuten  zu  wählen,  von  denen  Keiner  geeignet  ist* 
ausser  seinem  eigenen  Interesse  irgend  etwas  zu 
vertreten.  Ihr  Zweck  bei  ihrem  Eintritt  ins  Parlament 
ist  nicht  der,  den  Interessen  des  Landes  zu  dienen, 
sondern  der,  den  Interessen  ihrer  Gesellschaft  Dienste 
zu  erweisen.  Ihr  Patriotismus  ist  durch  die  Liebe  zu 
den  zehnperzentigen  Dividenden  eng  begrenzt.  Lord 
Salisbury  legte  gegenüber  dem  House  of  Gommons 
immer  eine  gerechtfertigte  Verachtung  an  den  Tag. 
Die  Häupter  der  einzelnen  grossen  Staatsdepartements 


19 


sind  dem  Unterhause  verantwortlich  und  können  immer 
befragt  werden,  wenn  sich  das  Parlament  in  Session 
befindet;  der  gewesene  Premier  trachtete  daher 
sorgfältig  dahin  zu  wirken,  dass  die  Inhaber  der 
grossen  Departements  gerade  über  das  betreffende 
Amt,  das  ihnen  anvertraut  wurde,  so  wenig  als  möglich 
wissen.  So  wurde  beispielsweise  Mr.  Hanbury  Vor- 
steher des  Board  of  Agriculture,  weil  ihn  seine  ganze 
vorherige  Thätigkeit  für  das  Postamt  qualiflcirte ; 
Lord  Londonderry  aber  wurde  zum  Chef  des  Post- 
amtes ernannt,  weil  seine  ganze  Erziehung  ihn  für 
das  Ackerbauministerium  befähigte.  Hier  hätte  er 
lästig  sein  können!  Die  Folge  ist,  dass  es  keine 
gehörige  Kontrole  der  öffentlichen  Ausgaben  gibt. 
Jedes  grosse  Staatsdepartement  ist  in  demselben 
chaotischen  Zustande,  in  welchem  sich,  wie  sich  zu 
Beginn  des  südafrikanischen  Krieges  herausstellte, 
das  Kriegsministerium  befand.  Reformen  sind  un- 
möglich. Die  Eisenbahn gesellschaften,  die  Bierbrauer, 
die  Kirche  und  der  Grundbesitz  stimmen  im  Parla- 
mente miteinander  und  vertheidigen  sich  gegenseitig 
Wenn  man  bedenkt,  dass  im  gegenwärtigen  Parla- 
mente 200  Eisenbahndirektoren  sitzen,  kann  man 
sich  leicht  ausmalen,  dass  eine  jede  Legislation  ein- 
fach paralysirt  wird. 

Die  Presse,  von  welcher  man  meint,  dass  sie  die 
freieste  und  unabhängigste  in  der  Welt  sei,  ist  that- 
sächlich  von  den  Finanzinteressenten  ausgehalten. 
Oeffentliche  Gesellschaften  bitten  das  Parlament  fort- 
während um  neue  Rechte,  sie  sind  gezwungen,  aus- 
giebig zu  annonciren,  und  die  Presse  macht  bei  der 
Vertheilung  ihrer  Gunstbezeugungen  weise  Unter- 
scheidungen. Unser  Eisenbahnsystem  würde  einer 
südafrikanischen  Republik  unwürdig  sein,  aber  kein 
einziges  grosses  Journal  in  London  oder  in  der  Pro- 
vinz ist  patriotisch  genug,  durch  einen  Angriff  auf 
dieses  System  die  Annoncen  der  Eisenbahnen  zu 
verlieren.  Mittlerweile  richten  diese  Eisenbahnen  die 
heimischen  Industrien  und  besonders  die  Landwirt- 
schaft zugrunde.  Vom  1.  Jänner  bis  Mitte  August  ist 
das  Land  der  Nahrungsmittel  entblösst,  es  gibt 
während   dieser  Zeit  im  Lande  nie  mehr  Brod,    als 

2* 


20 


für  fünf  Wochen  ausreicht.  Sollte  Grossbritannien 
durch  eine  Vereinigung  europäischer  Mächte  zeitlich 
im  Frühjähr  irgend  eines  beliebigen  Jahres  angegriffen 
werden,  so  wäre  die  Nation  ausschliesslich  auf  die 
Tüchligkeit  ihrer  Flotte  angewiesen  und  jede  Nieder- 
lage würde  für  England  den  Hungerstod  oder  einen 
demüthigenden  Frieden  bedeuten.  Diese  Thatsachen 
sind  der  Regierung,  dem  Parlamente  und  der  Presse 
wohl  bekannt,  aber  Niemand  kümmert  sich  darum. 
Die  Nation  geht  abwärts  und  Niemand  ist  da,  sie 
wieder  aufzurichten.  Es  würde  ein  arges  Erwachen 
geben,  wenn  wir  in  einen  neuen  europäischen  Krieg 
hineingetrieben  werden  sollten.  Man  sieht  also,  das» 
die  inneren  Zustände  des  grössten  Reiches  der  Welt 
(abgesehen  von  China)  nicht  gerade  die  besten  sind. 
Noch  schlimmer  sieht  es  in  den  englischen  Colonien  aus. 
Indien  wird  von  den  Engländern  systematisch 
ausgeraubt.  Das  220  Millionen  Köpfe  zählende  in- 
dische Volk  muss  jährlich  rund  750  Millionen  Kronen 
öst.  Währung  Steuer  entrichten,  welches  Geld  nach 
England  wandert.  Der  englische  Politiker  Digby 
schildert  Englands  Wirthschaft  in  Indien  mit  fol- 
genden Worten.  Die  Netto-Rcvenuen  Indiens  für 
1901-1902  weisen  ein  Deficit  von  über  2,000.000 
Pfd.  St.  auf,  und  dieser  Fehlbetrag  würde  noch  viel 
grösser  sein,  wenn  nicht  dem  Opiumhandel  seitens 
der  Regierung  eine  so  bedeutende  Erleichterung 
zutheil  geworden  wäre,  eine  Thatsache,  deren  sich 
das  „christliche"  England  zu  schämen  hat.  Wie  ent- 
setzlich das  Land  unter  der  britischen  Miss  wirthschaft 
zu  leiden  hat,  geht  u.a.  aus  der  Thatsache  hervor, 
dass  von  1800  bis  1825  nur  viermal  eine  nennens- 
werthe  Hungersnoth  stattfand,  wogegen  von  1875  bis 
1900  nicht  weniger  als  22  mal  die  fürchterlichste 
Hungersnoth  wüthete  und  ungezählte  Opfer  forderte. 
Bis  jetzt  haben  sich  die  Eingeborenen  hauptsächlich 
durch  die  Lehren  ihrer  Religion  und  Philosophie  zu 
einem  stillschweigenden  Dulderthum  zwingen  lassen, 
aber  seit  der  Einführung  des  Christenthums  und  west- 
licher Givilisation,  respective  seitdem  diese  beiden 
grössere  Ausdehnung  annehmen,  rückt  die  Gefahr 
wieder   mehr  in    den  Vordergrund,    dass    die   Inder 


21 


eines  Tages  zu  der  Ueberzeügung  gelangen,  es  dürfte 
doch  wohl  besser  für  sie  sein,  wenn  sie  eine  Erlösung 
von  den  unerträglichen  Leiden  und  Bedrückungen 
wieder  einmal  bei  dem  „Gott  der  Schlachten"  suchen 
würden. 

Indien  ist  im  Laufe  des  vergangenen  Jahrhunderts 
thatsächlich  von  England  ausgeplündert  worden,  und 
es  lässt  sich  ausrechnen,  dass  das  Land  in  dem  ge- 
nannten .  Zeitraum  nicht  weniger  als  eine  ganze 
Milliarde  Pfund  Sterling  an  seine  Beherrscher  und 
Bedrücker  hat  abgeben  müssen.  Dabei  werden  die 
Inder  principiell  auf  dem  Standpunkt  einer  niedrigeren 
Race  gehalten,  britische  Beamte  füllen  alle  Posten 
in  der  Civilverwaltung  aus,  und  der  Inder  ist  nichts 
weniger  als  ein  freier  Mann,  er  ist  ein  Helot  in 
seinem  eigenen  Vaterlande.  Während  des  ganzen 
vergangenen  Jahrhunderts  hat  auch  nicht  ein  einziger 
Inder  ein  Amt  von  irgendwelcher  nennenswerthen 
Bedeutung  ausgefüllt,  und  an  eine  Aenderung  in 
dieser  Hinsicht  ist  gar  nicht  zu  denken.  Sozusagen 
der  gesammte  landwirtschaftliche  und  industrielle 
Reichthum  Indiens  ist  heute  in  britischen  Händen, 
und  die  Ergebnisse  und  Vortheile  desselben  kommen 
fast  nur  und  fast  ganz  ausschliesslich  den  Briten 
zugute.  Ein  mehr  als  schlagender  Beweis  für  das  in 
der  Landwirthschaft  obwaltende  Missverhältniss  wird 
durch  die  Thatsache  erbracht,  dass  der  Totalwerth 
aller  in  Indien  in  einem  guten  Jahre  erzielten  Ernten 
sich  auf  etwa  172,000.000  Pfd.  St.  belauft,  wovon 
eine  Bevölkerung  von  220  Millionen  Menschen  pro- 
fitiren  soll.  Bei  solchen  Zahlen  kann  es  natürlich 
nicht  wundernehmen,  dass  die  Hungersnoth  mit 
jedem  Jahre  an  Umfang  und  Fürchterlichkeit  zunimmt, 
und  dass  von  1854  bis  1901  nicht  weniger  als  neun- 
undzwanzig Millionen  Menschen  in  Indien  Hungers 
gestorben  sind,  wie  die  officiellen  Ausweise  ergeben 
und  beweisen. 

Die  britischen  Truppen  in  Indien  kosten  das 
Land  jährlich  allein  über  5,000.000  Pfd.  St.  und  die 
ungeheuer  hoch  bezahlten  englischen  Givilbeamten 
verschlingen  eine  noch  bedeutend  höhere  Summe, 
speciell  durch  die  ausserordentlich  reichen  Pensionen 


22 


für  verabschiedete  Beamte,  deren  Zahl  des  häufigen 
Wechsels  wegen  Legion  ist.  Alles  in  allem  ist  der 
Bericht  des  Mr.  Digby  eine  Schilderung  der  Schmach, 
der  fürchterlichsten  Leiden,  der  Gewissenlosigkeit  und 
der  schlimmsten  Heuchelei  auf  Seiten  der  officiellen 
Vertretung  Grossbritanniens  in  Indien,  und  man 
kann  aus  dem  ganzen  Werk  ersehen,  dass  der  Schrei- 
ber im  tiefsten  Herzen  von  der  fürchterlichen  Tragödie, 
die  sich  jahraus  jahrein  in  Indien  abspielt,  berührt 
worden  ist  und  als  ehrlich  denkender  Mann  und 
Patriot  jetzt  vor  allen  Dingen  den  Wunsch  hat,  die 
Indifferenz  seiner  Regierung  und  seiner  Landsleute 
in  das  Gegentheil  umzuwandeln,  da  er  vermeiden 
will,  dass  eines  Tages  auf  die  eine  oder  die  andere 
Weise  die  britische  Herrschaft  in  Indien  ein  unrühm- 
liches Ende  findet. 

IV.  Bestrebungen  der  Alldeutschen  nach  einer  Welt- 
herrschaft. 

Unter  den  europäischen  Grossmächten  zeigen  sich, 
besonders  in  Deutschland,  letzter  Zeit  starke  Bestre- 
bungen nach  einer  Weltherrschaft  des  deutschen  Volkes. 
Die  Bewegung  umfasst  vorderhand  einen  Theil  der 
deutschen  Bevölkerung  im  deutschen  Reiche  und  in 
Oesterreich,  die  sich  selbst  den  Namen  Alldeutsche 
beilegen.  Das  Ziel  dieser  Bewegung  ist  zuerst  Vereini- 
gung aller  Deutschen  unter  einer  politischen  Obrig- 
keit, dem  jetzigen  Hause  Hohenzollern,  dann  die  all- 
mählige  Ausdehnung  der  Herrschaft  der  deutschen 
Nation  auf  andere  Völker  und  Ländergebiete.  Das 
erste  Ziel  der  Alldeutschen  ist  zunächst  die  Zertrüm- 
merung Oesterreichs,  oder  mit  anderen  Worten  die 
Angliederung  der  „Ostmark"  an  das  deutsche  Reich. 

Die  Proklamation  des  Alldeutschen  Verbandes, 
dessen  Geschäftsstelle  in  Berlin  West  35,  Kurfürsten- 
strasse  44  angegeben  ist,  sagt  folgendes:  „Der  all- 
deutsche Verband  erstrebt  eine  kräftige  Belebung  der 
deutschnationalen  Gesinnung,  die  Erhaltung  deutscher 
Art  und  Sitte  in  Europa  und  über  See,  und  die  Zu- 
sammenfassung des  gesammtenDeutschthums  auf  der 
ganzen  Erde;  er  ist  ein  Erziehungsverein  und  ein 
Agitationsverein.  Erzieherisch  will  der  Verband  wirken, 


2$ 


insofern  er  unser  Volk  lehren  will,  die  nationalen 
Interessen  über  das  Getriebe  und  Gezänk  der  politi- 
schen und  wirtschaftlichen  Parteien  zu  stellen;  agi- 
tatorisch will  er  wirken,  insofern  er  einmal  überall 
da  in  die  Schranken  tritt,  wo  deutsche  Volksgenossen 
um  die  Erhaltung  ihrer  Eigenart  mit  einem  fremden 
Volksthume  im  Kampfe  stehen ;  weiter  aber  indem  er 
darauf  dringt,  dass  dem  deutschen  Volke  der  ihm 
gebührende  Antjieil  an  der  Weltherrschaft  und  Welt- 
wirtschaft nicht  vorenthalten  werde.  Das  deutsche 
Volk  ist  ein  Herrenvolk;  als  solches  soll  es  auch  von 
den  andern  Mächten  überall  auf  der  ganzen  Erde  ge- 
achtet und  beachtet' werden.  Der  Verband  ist  nicht  der 
Ansicht,  dass  die  deutsche  nationale  Entwicklung  mit 
den  Erfolgen  des  Krieges  von  1870/71,  so  gross  und 
herrlich  sie  auch  gewesen  sind,  endgiltig  abgeschlossen 
sei;  er  ist  vielmehr  überzeugt,  dass  mit  der  damals 
errungenen  Stellung  dem  deutschen  Volke  eine  ganze 
Reihe  neuer  und  grosser  Pflichten  und  Aufgaben  zu- 
gewachsen sind,  deren  Ausserachtlassung  den  Unter- 
gang unseres  Volksthums  zur  Folge  haben  würde.  Zu 
diesen  Aufgaben  zählt  in  Europa  ein  enger  wirtschaft- 
licher und  staatsrechtlicher  Zusammenschluss  mit  den 
übrigen  Staaten  germanischer  Art,  also  zunächst  mit 
Oesterreich,  den  beiden  Niederlanden  und  mit  der 
Schweiz ;  Hand  in  Hand  damit  hätte  der  Erwerb  eines 
geeigneten  Kolonialbesitzes  in  den  überseeischen  Ge- 
bieten zu  gehen,  der  uns  nicht  nur  den  nöthigen- Ellen- 
bogenraum für  unsere  jährliche  Bevölkerungszunahme 
um  600.000  Köpfe  böte,  sondern  der  uns  auch  wirt- 
schaftlich unabhängig  vom  Auslande  stellte.  Der  Ver- 
band zählt  jetzt  an  10.000  Mitglieder  und  70  Orts- 
gruppen, wovon  24  im  Ausland.  Zur  Verbreitung  seiner 
Anschauungen  dient  die  von  ihm  ins  Leben  gerufene 
Wochenschrift  „Die  Alldeutschen  Blätter".  Der  Mit- 
gliedsbeitrag beträgt  einschliesslich  des  Bezugsgeldes 
für  letztere  5  Mk  jährlich." 

In  seiner  Schrift  „Der  Kampf  um  das  Deutsch- 
thum"  sagt  Fritz  Bley  folgendes :  Wenn  wir  die  Welt- 
geschichte nicht  in  der  hergebrachten  Schulmeisterart 
vom  beschränkten  europäischen  Standpunkte,  sondern 
aus  dem  Gesichtswinkel  der  Veredelung  der  Mensch- 


24 


heit  betrachten,  so  rufen  wir  unwillkürlich  dieselben 
zwiespaltigen  Empfindungen  in  uns  wach,  die  wir  aus 
der  Beschäftigung  mit  den  Naturwissenschaften  davon- 
getragen haben.  Nicht  ohne  inneren  Kampf  dringt  man 
in  beiden  Zweigen  der  Forschung  zu  klarem  Erkennen 
vor.  Hier  wie  dort  der  Kampf  ums  Dasein,  aus  dem 
die  bessere  Art  als  Siegerin  hervorgeht:  so  lehrt  die 
Regel.  Völker  tauchen  auf  und  verschwinden.  Wie  im 
Walde  auf  morschen  Pflanzenresten  der  junge  Nach- 
wuchs emporschiesst  dem  Lichte  zu,  das  die  Kronen 
der  stärkeren  Nachbaren  ihm  frei  lassen,  so  gründen 
die  Herrenvölker  der  Erde  ihre  Reiche  auf  dem  von 
minderwerthigen  Arten  ihnen  bereiteten  Boden,  Völker 
und  Pflanzen  sind  eben  zeugsame  Wesen,  die  einen 
von  Menschen,  die  anderen  von  Zellen  gebildet,  die 
einen  wie  die  anderen  abhängig  von  den  günstigen 
oder  schädlichen  Bedingungen  ihrer  Umgebung  und 
der  inneren  Kraft  ihrer  Art." 

Weiter  schreibt  Fritz  Bley:  „Mit  dem  Eintritte  des 
Christenthums  in  die  Weltgeschichte  scheint  der  völki- 
sche Gedanke  eine  Zeitlang  seine  Geltung  zu  verlieren. 
Eine  Umwerthung  ohne  Gleichen  beginnt  namentlich, 
als  der  arianische  Glaube  dem  katholischen  gewichen 
ist.  Hatte  der  Stifter  des  Glaubens,  der  die  Mühseli- 
gen und  Beladenen  zu  sich  rief  und  mit  den  Zöllnern 
und  Sündern  sich  zu  Tische  setzte,  den  verachteten 
Sklaven  und  Fremden  den  Trost  des  himmlischen 
Vaters  gebracht,  so  beginnt  nun  eine  Verhätschelung 
des  Schwächlichen,  Weibischen,  die  zum  Niedergange 
der  Menschheit  hätte  führen  müssen,  wenn  sie  gesiegt 
hätte,  was  sicherlich  nicht  im  Wunsche  des  Herrn 
und  Heilandes  lag.  Er,  der  die  Blumen  auf  dem 
Felde  und  alle  Schönheit  der  Schöpfung  so  liebevoll 
umfasste,  war  sicherlich  weit  entfernt  von  jener  Büsser- 
verzückung  entnervter  Schwärmer,  die  diese  ganze 
Schöpfung,  in  der  uns  Gott  sich  offenbart,  als  elendes 
Marter-  und  Siechenhaus  hinstellen  wollten.  Es  war 
unmöglich,  dass  diese  Verzerrung  der  Menschenliebe 
Jesu  Christi  sich  dauernd  behauptete.  Wenn  sie  über- 
haupt noch  immer  einen  Theil  der  christlichen  Welt 
beherrscht,  so  dankt  sie  das  vornehmlich  der  plan- 
mässigen   Erziehung,    in   die   das    zur  Weltherrschaft 


25 

strebende  Papsthum  die  katholische  und  mittelbar 
dadurch  die  ganze  christliche  Welt  genommen  haU 
Es  ist  durchaus  bezeichnend  für  dies  Verhältnis,  dass 
gerade  die  beiden  Völker,  in  denen  die  gesündeste 
Lebenskraft  steckt,  sich  dieser  Zwingherrschaft  knecht- 
seliger Weltflucht  trotzig  widersetzt  haben:  die  Deut- 
schen und  die  Tschechen  in  der  Reformation  und  in 
dem  Hussitenthum.  Die  deutsche  Welt  sträubte  sich 
im  Ritter-  und  Bürgerthume  des  Mittelalters  gegen 
die  mönchischen  Selbstquälereien  aus  dem  Trotze  der 
starken  Persönlichkeiten  heraus ;  Johann  Hus  wandelte 
bereits  auf  ganz  anderen  Spuren,  wie  Martin  Luther. 
Dem  tschechischen  Glaubensreiniger  ging  es  nicht  um 
das  Recht  der  freien  Selbstbestimmung,  für  das  Luther 
zu  Worms  kämpfte,  sondern  um  den  völkischen  Staats- 
gedanken, den  er  durch  das  christlich-katholische 
Kaiserthum  zu  Unrecht  seiner  tschechischen  Volks- 
genossen niedergehalten  meinte.  Schärfer  als  in  Luther 
tritt  aber  in  den  Niederlanden  der  völkische  Gedanke 
in  den  Streit  gegen  die  Anmassung  der  volkslosen 
Priesterherrschaft,  immer  stärker  und  kräftiger  zur 
Herrschaft  ringend.  Wie  klug  und  fein  gesponnen  auch 
der  Staatsgedanke  der  römischen  Priesterherrschaft 
war,  den  Sieg  konnte  er  im  gesunden  Deutschthume 
nicht  erringen,  denn  er  stützte  sich  nicht  auf  das  den 
Deutschen  aus  tiefer  Naturanschauung  und  starkem 
Lebensgefühle  unverletzbar  heilige  Recht  des  Stärkeren,. 
Besseren,  Schöneren,  sondern  auf  das  angemasste  Recht 
alles  Verächtlichen,  Schlechten  und  Gemeinen." 

Hier  ist  also  ganz  offen  das  Faustrecht  gegenüber 
kleineren  schwächeren  Nationen  proklamiert,  genau  so, 
wie  es  die  Engländer  mit  den  Boeren  gethan  haben. 
Seit  einer  Reihe  von  Jahren  arbeiten  zahlreiche  reichs- 
deutsche  Blätter  an  der  Verwirklichung  der  gross- 
deutschen Idee  im  Sinne  des  alldeutschen  Verbandes. 
Wir  führen  hier  nur  einige  Beispiele  an.  So  brachte 
die  Berliner  „Gegenwart"  Ende  August  1902  einen 
Artikel  mit  der  Aufschrift  „Deutsche  Siavenpolitik  und 
das  Habsburger  Reich".  Darin  steht  folgendes  zu  lesen: 
„Das  Schwarzenberg'sche  Siebzigmillionen-Reich  war 
kein  Wahn  und  thatsächlich  eine  deutsche  Macht  —  so 
heiöst  es  da  —  deren  Wirklichkeit  Preussen  in  Olmütz 


26 


und  im  Krim-,  sowie  im  italienischen  Kriege  bitter  an 
sich  erfahren  hat.  Oesterreich  selbst  stärkte  den  deut- 
schen Kitt  in  seinem  Inneren.  Da  Preussen  nicht 
die  Zeche  bezahlen  wollte  und  andererseits  die  Kraft 
Deutschlands  für  undeutsche  Zwecke,  besonders  in 
Italien,  eingesetzt  wurde,  so  musste  der  österreichische 
Plan  scheitern.  Aber  sein  Zerstörer  schuf  wohlweislich 
sodann  das  österreichische  Bündniss,  das  er  schon  in 
Pressburg  erwogen  hatte.  Auch  heute*  ist  die  Einheit 
des  deutschen  Mitteleuropas,  trotz  der  fremden  Ein- 
sprengsel, kein  leerer  Traum.  Unbeschadet  der  Selbst- 
ständigkeit seiner  Theile  bildet  das  deutsche  Volks- 
thum  den  wirklichen  Kern  einer  thatsächlichen  Welt- 
macht. Von  der  vlämischen  Scheide  bis  zum  ungarischen 
Deutschthum  nahe  der  Donaumündung,  von  Triest 
bis  zur  Königsau,  und  den  baltischen  Landen  regt 
sich  ein  Volksfühl.  Das  kleindeutsche  Reich  und  das 
habsburgische  Staatswesen  mit. den  deutschen  Aussen- 
landen  in  den  Alpen  und  an  der  Rhein-  und  Scheide- 
mündung bilden  ein  einheitliches  Volksgebiet,  das 
noch  Karl  V.  in  vollem  Umfang  beherrschte.  Italien 
und  Spanien  wurden  der  Fluch  unseres  Volkes,  das 
noch  heute  Hochburgund,  den  grössten  Theil  Loth- 
ringen und  die  französischen  Niederlande  in  seines 
Erbfeindes  Hand  lassen  muss.  Gegenüber  den  euro- 
päischen Weltmächten  in  der  sarmatischen  Ebene  und 
auf  den  britischen  Eilanden,  sowie  dem  amerikanischen 
Riesen  kann  sich  auch  das  neue  deutsche  Reich  nur 
durch  die  Zusammenfassung  seiner  ursprünglichen 
Kräfte  und  Wiederherstellung  seiner  alten  Grösse  an 
Volkszahl  und  Bodenfläche  unter  bündischen  Formen 
bei  aller  Schonung  der  Unabhängigkeit  seiner  Glieder 
dauernd  behaupten.  Das  einzige  Hemmniss  bildet  der 
slavisch-magyarische  Hass,  dem  zu  begegnen  das 
deutsche  Volksthum  im  engeren  Deutschland  und 
Oesterreich  längst  ausreichen  würde,  drohte  nicht  die 
bereite  Hilfe  des  grössten  Slavenreiches  und  seines  fran- 
zösichen  Verbündeten,  der  leider  noch  täglich  sprach- 
liche Eroberungen  in  der  allemannischen  Schweiz  und 
dem  fränkischen  Belgien  macht.  Hier  liegt  die  euro- 
päische Bedeutung  unserer  Poleupolitik,  die  für  uns 
auch  zur  Weltmachtsfrage  wird  . . .    Unser  Gedanken- 


27 


gang  hat  uns  in  die  Weltpolitik  geführt,  und  unter 
diesem  Gesichtswinkel  müssen  wir  unser  Verhältniss 
zum  eigenen  und  österreichischen  Slaventhum  auf- 
fassen. Es  kann  kein  Zweifel  bestehen,  dass  wir  ein 
dringendes  Interesse  an  der  Aufrechterhaltung  der 
habsburgischen  Monarchie  haben,  deren  staatlicher 
Zerfall  auch  unser  Unglück  wäre,  da  wir  dann  fraglos 
Partei  für  unsere  dort  bedrängte  Volkheit  nehmen 
müssen.  Aber  das  dortige  Deutschthum  hat  die  ernste 
Pflicht,  nicht  über  die  reichsdeutsche  Grenze  zum 
Anschluss  an  uns  unter  Aufgabe  des  österreichischen 
Staates  zu  blicken,  sondern  diese  deutsche  ostmärki- 
sche Schöpfung  gegenüber  dem  slavisch-magyarischen 
Ansturm  zu  erhalten.  Eine  Auslandshilfe  für  diese 
interessanten  Völkerschaften  wird  unser  Schwert  schon 
verhindern  und  damit  das  Donaukaiserreich  stützen 
und  nicht  selbstsüchtig  stürzen,  wie  die  unverbesser- 
lichen, beinahe  schon  entdeutschten  Klerikalen,  die 
ihren  konservativen  Sinn  damit  fast  verleugnen,  als 
Berather  der  Hofburg  glauben  machen  wollen.  Die 
deutsche  Zerrissenheit  in  beiden  Leithaländern  ist  ja 
das  ganze  Unglück  dieses  Staates  und  eine  echt  deut- 
sche Eigenschaft,  die  schon  das  deutsche  Gepräge  des 
Landes  bezeugt.  Aber  weitere  Versuche  der  Verslavung 
verträgt  dieses  deutsche  Staatswerk  im  Osten  nicht. 
Auch  für  Oesterreich  möge  unsere  thatkräftige  Abkehr 
von  der  früheren  gefühlsseligen  Polen-Verhätschelung 
ein  beredter  Wink  zum  Wandel  sein."  —  Da  liegt 
ein  Beleg  dafür  vor,  wie  man  sich  in  seriösen  reichs- 
deutschen  Kreisen,  die  nicht  auf  den  vulgären  Pan- 
germanismus  eingeschworen  sind,  das  Verhältniss  zu 
Oesterreich-Ungarn  denkt:  dieses  soll  ein  blosser 
Appendix  des  Deutschen  Reiches  sein,  dessen  welt- 
politische Pläne  es  gehorsam  zu  fördern  hat.  Thut 
es  das  nicht  dann  wird  das  —  deutsche  Schwert 
eingreifen.  Wie  die  Berliner  „Gegenwart",  so  denken 
sehr  massgebende  politische  Kreise  in  Berlin.  In  Wien 
aber  schweigt  man  dazu ...  Es  hat  den  Anschein,  als 
ob  in  Wien  gewisse  Bürokraten  lieber  schwarz  und 
weiss  als  schwarz  und  gelb  angestrichen  sein  wollten. 
Am  deutlichsten  spricht  Dr.  Zimmler  in  seiner 
Schrift  rSprachgrenze  und  Deutschthum",  erschienen 


28 


in  der  Zeitschrift  „  Globus"  und  als  Separatabdruck: 
bei  Vieweg  in  Braunschweig.  Dieser  Herr,  ein  Deutsch- 
Böhme  spricht  die  Sache  ganz  offen  so  aus:  „Man 
sollte  meinen,  dass  nach  den  Ereignissen  der  letzten 
Jahre  jedem  Denkenden  klar*  sein  müsste,  dass  der 
Sprachenkampf  in  Böhmen  und  Oesterreich  nicht 
nur  eine  innere  Angelegenheit  dieses  Staates  ist» 
Trotzdem  gibt  es  noch  allzu  Viele,  selbst  in  sonst 
gut  deutsch  gesinnten  Kreisen,  die  glauben,  der 
Kampf  vor  den  Thoren  des  Reiches  gehe  sie  nichts 
an,  oder  die  infolge  unerquicklicher  Parteistreitig- 
keiten im  deutschösterreichischen  Lager  sich  zu  einem 
absprechenden  Urtheil  über  das  gesammte  Deutsch- 
thum  in  Oesterreich  hinreissen  lassen.  Wer  solche 
Anschauungen  hegt,  vermag  nicht  über  die  Grenzen 
des  Reiches  und  die  Tagespolitik  hinauszublicken. 
Man  nehme  nur  eine  Völkerkarte  Mitteleuropas  zur 
Hand,  wie  sie  jeder  Schulatlas  bietet,  um  die  Be- 
deutung Deutsch-Oesterreichs  im  Allgemeinen  und 
Böhmens  im  Besonderen  für  die  Lebensinteressen  (!) 
des  ganzen  deutschen  Volkes  zu  verstehen.  Man  be- 
achte dabei,  wie  das  öechische  Gebiet  sich  zwischen 
Schlesien  und  Baiern,  zwischen  Berlin  und  Wien 
wie  ein  brennender  Keil  hineinschiebt,  wie  wichtige 
Verkehrswege  zwischen  Oder-  und  Elbegebiet  einer- 
seits, Donau,  Alpen  und  Mittelmeer  andererseits  durch 
Cechisches  Sprachgebiet  führen,  wie  das  deutsche 
Sprachgebiet  gerade  in  der  Mitte  seiner  nord-südli- 
chen  Ausdehnung  durch  das  ßechische  eingeschnürt 
wird,  dann  muss  man  zu  der  Ueberzeugung  kommen» 
dass  Böhmen  und  ganz  Oesterreich  schon  um  unserer 
(Deutschlands?)  nationalen  Zukunft  und  Selbsterhal- 
tung willen  nicht  in  fremde  Hände  gerathen  dürfen. 
Die  Deutschen  Oesterreichs  bilden  einen  beträchtli- 
chen Theil  des  deutschen  Volkes,  dessen  geistige 
und  sprachliche  Gemeinschaft  sich  nicht  durch  poli- 
tische Grenzen  willkürlich  zerschneiden  lässt.  Das 
deutsche  Sprachgebiet  in  Oesterreich  bedeckt  eine 
Fläche,  die  mehr  als  ein  Fünftel  vom  Gebiete  des 
Deutschen  Reiches  beträgt.  Fast  dasselbe  Verhältniss 
besteht  zwischen  der  Bevölkerung  beider  Gebiete. 
Man  denke  sich  für  einen  Augenblick  Deutsch-Oester- 


29 


reich  von  slavischen  Völkern  bewohnt;  man  wird 
dann  sofort  ermessen  können,  welchen  unschätzbaren 
Schutzwall  das  Deutsche  Reich  an  dem  deutschen 
Sprachgebiet  Oesterreichs  besitzt.  Ohne  dieses  wären 
wir  auf  der  gesammten  Gränze  von  den  Sudeten  bis 
zum  Bodensee  der  gleichen  Bedrohung  des  deutschen 
Besitzstandes  wie  an  den  östlichen  Grenzen  ausge- 
setzt. Jede  Schmälerung  des  deutschen  Gebietes  jen- 
seits der  Grenze  bedeutet  eine  Schwächung  des 
gesammten  Deutschthums,  einen  Fortschritt  des 
Slaventhums.  Mit  jedem  deutschen  Dorf,  das  an  der 
Sprachgrenze  verloren  geht,  löst  sich  ein  Stein  aus 
der  Schutzmauer  gegen  den  slavischen  Osten  Europas. 
Das  geschlossene  deutsche  Sprachgebiet  und  die 
grossen  Sprachinseln,  welche  die  Brücke  von  dem 
Oder-  zum  Donaugebiet  bilden,  fallen  in  den  Bereich 
der  Lebensinteressen  des  gesammten  deutschen  Volkes. 
Es  steht  in  Oesterreich  immer  noch  die  Frage  zur 
Entscheidung,  ob  deutscher  oder  slavischer  Einfluss 
das  Reich  regieren  soll.  Die  Deutschen  können  die 
Thatsache  des  Aufkommens  der  slavischen  Völker- 
schaften nicht  ignorieren,  die  Slaven  dürfen  nicht 
vergessen,  dass  ohne  die  Deutschen  Oesterreich  un- 
möglich ist.  (Ohne  die  Slaven  etwa  ja?)  Im  letzten 
Grunde  liegt  das  Uebel  in  der  ungeographischen  Ge- 
staltung Oesterreichs,  das  seit  1867  einen  Rumpf- 
staat  bildet,  dem  alle  Vorbedingungen  der  Langlebig- 
keit fehlen  (!),  der  nur  in  Anlehnung  an  Ungarn 
oder  Deutschland  leben  kann.  (?)  Ein  Oesterreich 
unter  deutscher  Führung  wird  mit  beiden  in  engem 
Einvernehmen  fortbestehen  können.  Ein  slavisches 
Oesterreich  bildet  für  beide  eine  drohende  Gefahr 
und  birgt  die  Keime  europäischer  Verwickelungen 
in  sich,  da  es  nur  (?)  im  Schutze  Russlands  und 
Frankreichs  bestehen  könnte.  Die  Entscheidung  muss 
in  Böhmen  fallen,  dort  steht  nicht  nur  die  Zukunft 
Oesterreichs,  sondern  auch  Deutschlands  auf  dem 
Spiel.  In  Prag  sind  noch  nicht  zum  letztenmale  die 
Geschicke  Mitteleuropas  entschieden  worden.  Das 
Unheilvollste  wäre  die  Aufrichtung  des  ßechischen 
Nationalstaates.  In  Prag  würden  dann  russische  und 
französische  Einflüsse  massgebend  sein;    die  Cechen, 


30 


auf  fast  allen  Seiten  von  deutschen  Staaten  umgebent 
müssten  an  jenen  Rückhalt  suchen.  Es  ist  noch  nicht 
vergessen,  dass  dereinst  der  Führer  der  Gechen 
Napoleon  III.  aufforderte,  über  Prag  nach  Berlin  zu 
marschieren.  Die  Deutschen  Böhmens,  der  öechischen 
Mehrheit  preisgegeben,  würden  den  Verzweiflungskampf 
aufnehmen,  Deutsch-Böhmen  ein  zweites  Schleswig- 
Holstein  werden."  —  Das  ist  doch  deutlich  gespro- 
chen. Oesterreich  soll  nur  als  eine  Art  Satrapie  des 
„Deutschen  Reiches"  existiren  dürfen  und  hat  seine 
innere  Politik  mit  der  Berliner  Scheere  zuzuschneiden, 
sonst  ist  seine  „Langlebigkeit"  in  Frage  gestellt.  Hier 
handelt  es  sich  nicht  um  die  Phantasien  eines  Schwär- 
mers, hier  handelt  es  sich  um  den  Ausdruck  von 
Anschauungen  weiter  politischer  Kreise  im  „verbün- 
deten" Nachbarreiche.  In  Oesterreich  will  man  freilich 
das  Alles  nicht  sehen.  Wohin  soll  dann  diese  Dul- 
dung führen? 

Ueber  die  nationalen  Aufgaben  der  Alldeutschen 
hat  im  Monate  Mai  1901  der  Führer  der  deutsch- 
socialen  Partei  Abgeordneter  Liebermann  in  Braun- 
schweig folgendes  vorgebracht:  „Zunächst  muss  kurz 
die  Frage  beantwortet  werden,  was  das  eigentliche 
Kennzeichen  einer  Nation,  eines  Volkes  ist.  Ich  meine, 
der  Begriff  Nation  lässt  sich  so  erklären,  dass  die- 
jenigen, die  sich  zu  derselben  rechnen,  eine  gemein- 
same, durch  viele  Generationen  zurückzuführende  Ab- 
stammung haben  müssen,  dass  also  gleiches  Blut  in 
ihren  Adern  fliesst,  dass  infolgedessen  unbeschadet 
der  Verschiedenheit  der  Einzelwesen  eine  Summe  über- 
einstimmender körperlicher  und  geistiger  Eigenschaften 
bei  ihnen  vorhanden  ist,  dass  sie  ein  grosses  zusam- 
menhängendes Hauptsiedelungsgebiet  innehaben,  dass 
sie  durch  eine  lange  Reihe  von  Jahrhunderten  eine 
gemeinsame  Geschichte  miteinander  durchlebt  haben,, 
und  dass  sie  eine  gemeinsame  Sprache  sprechen. 
Das  Merkmal  der  gemeinsamen  Sprache  allein  reicht 
nicht  hin,  um  die  Zusammengehörigkeit  zu  einer 
Nation  zu  beweisen.  Denn  eine  Sprache  kann  man 
erlernen,  für  den  Begriff  der  Nation  aber  kommt  es 
auf  eine  Summe  meist  ererbter  Merkmale  an.  Wir 
würden  uns  doch  wohl  sehr  wundern,  wenn  die  bei 


81 


uns  wohnenden  Thee-Ghinesen  oder  Japaner,  sobald 
sie  deutsch  gelernt  haben,  behaupten  wollten,  sie 
seien  Deutsche  und  darauf  nun  beanspruchten,  bei 
uns  Offiziere  oder  Richter  zu  werden,  Lehrer  unserer 
Kinder  zu  sein,  die  Ministersessel  zu  besetzen  oder 
in  unsern  Volksvertretungen  das  Wort  zu  führen» 
Die  grossen  Nationen  der  Gegenwart  sind  allerdings 
durchweg  nicht  völlig  reine  Nationalitäten.  Sie  haben 
vielmehr  durch  den  Weltverkehr  mehr  oder  minder 
umfangreiche  Beimischungen  andern  Volksmetalles 
bekommen.  So  hat  unser  deutsches  Volk  Beimischun- 
gen von  slavischen,  französischen,  wendischen  Ele- 
menten. Aber  diese  sind  aufgegangen  in  unserem 
Volksganzen  und  der  Grundcharakter  ist  derselbe 
geblieben.  Die  Beimischungen  können  sogar  den 
Werth  der  gesammten  Eigenschaften  eines  Volkes 
erhöhen.  Die  Vorbedingung  zu  der  Möglichkeit  einer 
solchen  Volksmischung  ist  aber  Rassenverwandschaft, 
wie  sie  bei  den  Europa  bewohnenden  Kulturvölkern 
besteht.  Sie  ist  unmöglich  zwischen  Weisen  und 
Schwarzen,  Weissen  und  Rothen  (Indianern),  Weissen 
und  Gelben  (Mongolen),  und  sie  ist  auch,  wie  die 
Geschichte  beweist,  zwischen  weissen  arischen  Men- 
schen und  Semiten  unmöglich.  Aus  solchen  Mischun- 
gen gehen  keine  lebensfähigen  neuen  Volks-Individua- 
litäten  hervor.  Es  bestehen  enge  Wechselwirkungen 
zwischen  dem  Körperbau,  der  Organisation  des  Ge- 
hirns und  den  geistigen  und  seelischen  Eigenschaften 
des  Menschen.  Die  Natur  kennzeichnet  deutlich,  wo 
die  Möglichkeit  einer  Rassenmischung  aufhört. 

Die  erste  vornehmste  nationale  Pflicht  und  Auf- 
gabe für  jedes  Volk  ist  die  Selbst-Erhaltung,  d.  hv 
nach  aussen  die  Sicherung  des  Raums,  auf  dem  es 
lebt,  der  Grenzen  des  Vaterlandes,  und  im  Innern 
die  Erhaltung,  Pflege  und  Förderung  der  völkischen 
Eigenart,  der  Volkssitte  und  der  Volksideale.  Und 
da  die  politischen  Grenzen,  die  durch  die  geschicht- 
lichen Ereignisse  sich  gebildet  haben,  meist  nicht 
alle  Besiedelungsgebiete  eines  Volkes  umschliessen, 
so  haben  die  Nationen  die  Aufgabe,  überall  ihr  Volks- 
thum  zu  fördern  und  zu  stärken,  auch  wo  es  zer- 
sprengt   und    verstreut    zwischen    andern    Nationen 


32 


wohnt  und  den  Kampf  um  seine  nationale  Eigenart 
führt.  Das  deutsche  Volk  ist  etwa  in  folgender  Weise 
über  die  Erde  vertheilt: 


Deutsches  Reich 

Oesterreich 

Ungarn 

Schweiz 

Luxemburg 

52-6  Mill.  =  59-78  v.  H.  des    Ge- 

10-0     „    =11-36     „     sammtbe- 

2  2     „    =   2-50    „    Standes  an 

2-1     „    =   2-38     „     Deutsche. 

0-2     „    =   0-23     „ 

Hochdeutsche 

Belgien 
Holland 

67-2  Mill.  =  76-35  v.  H. 

33     „    =    3-75     „ 

5-0     „     =   5-68     „ 

Niederdeutsche      8-3  Mill.  =   9-43  v.  H. 
Geschlossenes  deut- 
sches Sprachgebiet  75-5     „    =  85-80     n 

Sonst  in  Europa 1-5     „    =    171     „ 

In  Europa  zus.  also  77     Mill.  =87-51  v.  H. 

Amerika  10       „    =11-36     „ 

Afrika,    Asien,    Au- 
stralien 1        „    =    1-14     „ 


Ueberhaupt  etwa        88    Mill.  =  100     v.  H. 

Aus  dieser  Vertheilung  der  Deutschen  über  den 
Erdball  ergeben  sich  unsere  nationalen  Pflichten.  Wir 
haben  einen  näheren  Zusammetischluss  zwischen  den 
Deutsch-Oesterreichern  und  uns  vorzubereiten  und 
anzustreben.  Das  geht  ohne  Hochverrath  und  ist  auf 
dem  Wege  von  Bündnissen  und  Verträgen  durchaus 
zu  erreichen.  Wir  müssen  das  in  Oesterreich  beson- 
ders bedrohte  Deutschthum  mit  unseren  Sympathien 
stärken.  Der  Kampf,  den  die  Deutsch-Oesterreicher 
um  ihre  Sprache  führen,  ist  auch  unser  Kampf.  Sie 
bilden  das  äusserste  Bollwerk  des  Deutschen  Reiches. 
Sollten  sie  unterliegen,  so  würde  das  Slaventum  uns 
mit  noch  viel  grösserer  Macht  als  gegenwärtig  inner- 
halb unsrer  Reichsgrenzen  bedrohen.  Desgleichen  ist 
es  unsere  nationale  Aufgabe,  einen  engeren  Zusammen* 
schluss  der  Hochdeutschen  und  Niederdeutschen  an- 
zubahnen, so  dass  ein  geschlossenes  deutsches  Sprach- 
gebiet, worin  75'5  Millionen  Einwohner,  also  85*80 
v.  H.  der  gesammten  deutschen  Bevölkerung  auch  po- 
litisch ein  zusammengehöriges  Ganzes  bildet  und  seine 


33 


Macht  in  die  Wagschale  werfen  kann  für  die  deutschen 
Ziele  und  Aufgaben  auf  der  Erde.  Es  ist  unsre  na- 
tionale Aufgabe,  die  Bewohner  unsrer  Grenzgebiete 
davor  zu  bewahren,  dass  sie  im  Polen-,  Tschechen-, 
Dänen-  oder  Franzosentum  untergehn.  Die  zeitweilig 
ins  Ausland  gehenden  Deutschen  sollen  sicher  des 
deutschen  Schutzes  und  im  geistigen  Zusammenhang 
mit  der  Heimat  überall  stolz  und  freudig  ihr  Deutsch- 
tum bekennen.  Die  Deutschen,  die  dauernd  jenseits 
der  Meere  eine  neue  Heimat  suchen,  sollen  nicht  wie 
früher  als  Gulturdünger  in  andern  Nationalitäten 
aufgehn,  sondern  die  Anhänglichkeit  an  die  alte 
Heimat  aufrecht  erhalten  und  ihr  Volksthum  bei- 
behalten. Am  leichtesten  wird  das  der  Fall  sein  in 
deutschen  Golonien,  aber  es  ist  auch  erreichbar 
innerhalb  fremder  Staatengebilde,  wie  wir  das  an 
den  deutschen  Niederlassungen  in  Südamerika  und 
an  einigen  durchaus  deutschen  Städten  und  Distrikten 
in  Nordamerika  sehen.  Wo  immer  auf  dem  Erden- 
runde Volksstämme  germanischen  Blutes  um  Erhal- 
tung ihrer  Eigenart  und  Selbstständigkeit  kämpfen, 
da  ist  es  unsere  Aufgabe,  ihnen  beizustehn  und  aus 
diesem  richtigen  Gefühle  heraus  steht  auch  unser 
gesammtes  Volk  mit  verschwindenden  Ausnahmen  mit 
seinen  Sympathien  auf  Seiten  der  kämpfenden  Buren. 
Wir  wissen,  dass  in  jenem  Kampf  die  Entscheidung 
fällt,  ob  Südafrika  englisch  oder  niederdeutsch  wer- 
den soll.  Wir  zweifeln  aber  nicht  mehr  an  einer  ent- 
giltigen Niederlage  des  Engländerthums,  so  dass  damit 
unsre  Colonien  in  Südost-  und  Südwestafrika  auch 
für  die  Zukunft  gesichert  erscheinen.  Unser  National- 
stolz und  unsre  Gefühle  für  deutsche  Ehre  erfordern 
es,  dass  wir  unbekümmert,  ob  es  bei  der  jeweiligen 
Stimmung  unsrer  Reichsregierung  missliebig  oder 
nicht  ist,  diese  Auffassung  auch  offen  aussprechen. 
Das  Deutsche  Reich,  als  die  grösste  politische 
Zusammenfassung  der  Deutschen,  hat  grosse  Ver- 
pflichtungen für  die  Zukunft  des  Germanenthums. 
Es  ist  der  Anfang  für  das  Germanenreich  oder  besser 
für  den  Germanenbund  der  Zukunft.  Um  seine  Gross- 
machtstellung, die  es  sich  auf  den  Schlachtfeldern  in 
Böhmen   und   in   Frankreich    endgiltig  erkämpft  hat, 

3 


34 


behaupten  zu  können,  muss  es  Sorge  tragen,  seine 
langen  Landgrenzen  vor  allen  den  feindlichen  Nach- 
barn, die  uns  umgeben,  zu  schützen.  Es  ist  also  eine 
nationale  Aufgabe  ersten  Ranges  für  uns,  alle  die  sociale 
Einrichtung  zu  bewahren,  auf  denen  die  Stärke  und 
Schlagfertigkeit  unsres  Heeres  beruht.  Wir  sehen  in 
unserm,  auf  dem  altgermanischen  Grundsatze  allge- 
meiner Wehrpflicht  beruhenden  Volksheer  nicht  nur 
das  beste  Instrument  zur  Sicherung  des  Weltfriedens, 
zum  Schutze  unsrer  Grenzen  und  zur  Aufrechterhal- 
tung des  Friedens  im  Innern,  sondern  wir  sehen  darin 
auch  eine  Volkserziehungsanstalt  ersten  Ranges. 

Der  Heeresschulung  verdankt  unser  Volk  seine 
geistig  und  körperlich  aufrechte  Haltung,  wodurch  es 
sich  vor  den  andern  Völkern  der  Erde  seit  lange 
auszeichnet.  Wir  sehen  in  unsrer  Heereseinrichtung 
auch  ein  Mittel  zur  Beförderung  des  Geldumlaufs  im 
Lande  und  zur  Beförderung  von  Handel,  Gewerbe 
und  Verkehr.  Die  grossen  Summen,  die  für  das  Heer 
ausgegeben  werden,  sind  nicht  unproduktiv  angelegt. 
Sie  werden  im  Lande  verausgabt  und  werden  der 
Gefahr  entzogen,  von  dem  Moloch  Börse  aufgesogen 
zu  werden.  Natürlich  muss  wie  bisher  strenge  vor- 
sorgliche Sparsamkeit  bei  unsern  Heeresausgaben  ge- 
übt werden.  Es  darf  der  Vertretung  des  Deutschen 
Volkes  in  keiner  Weise  das  Recht  geschmälert  wer- 
den, im  einzelnen  die  Heeresausgaben  zu  kontrol- 
lieren. Mit  der  nationalen  Aufgabe  der  Erhaltung 
unsrer  politischen  Wehrkraft  hängt,  wie  ich  schon 
sagte,  eng  zusammen  die  Erhaltung  und  Stärkung 
der  socialen  Grundlagen,  auf  denen  jene  Wehrkraft 
beruht.  Also  in  erster  Linie  die  Erhaltung  der  Bauern- 
kraft, die  die  Kraftquelle  für  unser  gesammtes  Volk  ist 
und  die  Erhaltung  derjenigen  geschichtlich  gewor- 
denen Stände,  die  im  Laufe  der  Jahrhunderte  dem 
Heere  die  geeigneten  Führer  gegeben  haben.  Aber 
wir  haben  unsre  Grenzen  nicht  nur  auf  dem  Fest- 
lande zu  sichern.  Aus  der  Grossmachtstellung  Deutsch- 
lands ist  seine  Weltmachtstellung  hervorgegangen, 
die  uns  weitergehende  nationale  Aufgaben  auferlegt. 
Lange  Meeresküsten  bilden  die  Basis  unsres  Verkehrs 
über  See.  Sie  bedürfen  auch  der  Sicherung.  Die  Volks- 


35 


Vermehrung  der  germanischen  Race  ist  eine  überaus 
starke.  Der  Ueberschuss  der  Gebornen  über  die  Ge- 
storbenen betrug  im  Durchschnitt  alljährlich  in  den 
Jahren 

1872—80  im  deutschen  Reiche  545.407 
1881—90    „  „  „       551.308 

1891—99    „  „  „        7/6.988 

die  überseeische  Auswanderung  in  denselben  Zeit- 
räumen im  Durchschnitt 

549.744 

1,342.423 

507.566 

Der  Abgeordnete  Liebermann  verlangt  nun  für 
das  deutsche  Volk  einen  freien  Raum.  Das  kann  nur 
auf  Kosten  des  Nachbars  geschehn.  Reichsdeutsche 
Blätter  lassen  sich  auch  aus  Oesterreich  Stimmungs- 
bilder einsenden,  in  welchen  das  Sehnen  nach  der 
Annexion  Oesterreichs  durch  Deutschland  ausgespro- 
chen wird,  ja  als  eine  Notwendigkeit  der  Zukunft 
dargestellt  wird.  Ein  solches  Stimmungsbild  brachten 
die  berliner  „Deutschsocialen  Blätter"  am  3.  Oktober 
1901.  Der  Artikel  lautet:  Dieser  Tage  ist  uns  von 
einem  „Deutschen  aus  Böhmen  eine  Zuschrift  zuge- 
kommen, die  sehr  viel  Wahres  und  Treffendes  ent- 
hält und  geeignet  ist,  so  manche  auffallende  Erschei 
nung  unter  den  Deutschen  in  Böhmen  zu  erklären; 
wir  veröffentlichen  daher  diese  Zuschrift  nachstehend 
ihrem  vollen  Wortlaute  nach.  Sie  lautet: 

Geehrter  Herr  Redakteur! 
Unter  allen  politischen  Tages-  und  Wochen- 
blättern, die  mir  zu  Gesichte  kommen,  haben  Sie 
bisher  die  Verhältnisse  unter  der  deutschen  Bevöl- 
kerung Böhmens  am  richtigsten  beurtheilt.  Gestatten 
Sie  daher  auch  mir,  einem  Deutschen  aus  Böhmen, 
der  in  Deutschböhmen  lebt  und  alt  geworden,  einige 
Bemerkungen,  die  durch  einen  Artikel  im  „Pester 
Lloyd"  angeregt  wurden.  Der  „Pester  Lloyd"  vom 
12.  September  d.  J.  brachte  nämlich  unter  dem  Titel 
„Die  Alldeutschen  in  der  Wahlbewegung"  von  einem 
österreichischen    Abgeordneten,    den    die    Redaktion 

3* 


36 


selbst  als  „zu  den  hervorragendsten  und  angesehen- 
sten Abgeordneten  der  deutschen  Linken  im  öster- 
reichischen Parlamente  zählend"  bezeichnet,  einen 
längern  Artikel,  in  dem  so  manches  Wahre  enthalten 
ist,  der  aber  einiger  wesentlichen  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  bedarf.  Der  Verfasser  des  Artikels 
sagt  ganz  richtig:  „Wenn  die  Alldeutschen  bei  den 
jetzigen  Landtagswahlen  grössere  Erfolge  erzielen, 
und  namentlich  die  Fortschrittspartei  mit  Erfolg  aus 
dem  Felde  schlagen  werden,  so  verdanken  sie,  wenn 
nicht  alle  Anzeichen  trügen,  diese  Erfolge  nicht  ihrem 
Programm,  sondern  dem  Anreiz,  den  die  schärfere 
Tonart  auf  abgespannte,  in  ihren  politischen  Hoff- 
nungen so  oft  getäuschte  Wählerschaften  ausübt." 
Dieser  Satz  ist  vollständig  richtig,  und  wer  die  Ver- 
hältnisse in  Deutschböhmen  kennt,  wird  dies  bestä- 
tigen. Und  hieran  anschliessend  ist  auch  der  folgende 
Satz  „Woher  kommt  aber  die  Anziehungskraft  der 
Partei  der  schärfern  Tonart?  Sie  ist  das  Ergebnis 
eines  allmählich  entwickelten,  in  geschichtlichen  That- 
beständen  begründeten  Pessimismus  der  deutsch- 
freisinnigen Wählerschaften."  Ganz  richtig!  Sie  ist 
aber  auch  das  Ergebnis  der  Unzufriedenheit,  der 
vollständigen  und  höchsten  Unzufriedenheit  mit  der 
ganzen  Wirtschaft  in  Oesterreich,  mit  allen  politischen, 
nationalen,  wirtschaftlichen,  kulturellen  Verhältnissen, 
kurz,  mit  der  ganzen  Regiererei,  wie  sie  seit  dreissig 
Jahren  in  Oesterreich  betrieben  wird.  Diese  Unzu- 
friedenheit hat  sich  ganz  allmählich  entwickelt  und 
ist  immer  grösser  geworden;  es  bedurfte  nur  eines 
geringen  Impulses,  um  sie  auch  praktisch  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Diesen  Impuls  hat  sie  nur  seit 
dem  Auftreten  der  Alldeutschen  durch  deren  schär- 
fern Ton  erhalten,  und  daher  erklären  sich  auch  die 
Erfolge,  die  diese  schärfere  Tonart  bis  jetzt  erzielt 
hat  und  zweifellos  noch  viel  mehr  erzielen  wird. 
Wenn  heute  ein  redegewandter,  muthiger,  unerschrock- 
ner  und  rücksichtsloser  Agitator  auftreten  würde, 
der  die  Partisane  der  Alldeutschen  Partei  an  Radi- 
kalismus noch  übertrumpft,  so  würde  er  zweifellos 
noch  grössere  Erfolge  erzielen,  und  selbst  die  All- 
deutsche Partei  aus  dem  Felde  schlagen. 


37 


Woher  kommt  aber  diese  grosse  Unzufriedenheit 
mit  allen  Verhältnissen  in  Oesterreich  unter  der 
deutschen  Bevölkerung  Böhmens,  und  nicht  blos 
Böhmens,  sondern  der  ganzen  deutschen  Bevölkerung 
Oesterreichs  überhaupt?  Diese  grosse  Unzufriedenheit 
und  deren  Folgeerscheinung,  der  Radikalismus,  ist 
durchhaus  nicht  plötzlich  entstanden,  sie  ist  eine 
breite  und  tiefe  Volksströmung,  deren  Ursachen  von 
Tag  zu  Tag  in  stärkerm  Masse  wirken.  Sie  ist  kein 
künstliches  Produkt,  sondern  hervorgegangen  aus  der 
moralischen  und  materiellen  Noth  des  Volkes,  das 
sich  einfach  dagegen  wehrt,  elend  zu  Grunde  zu 
gehn,  während  ein  kleiner,  fremder,  zumeist  einge- 
wanderter Theil  der  Bevölkerung  Reichthümer  auf- 
speichert. Die  deutsche  Bevölkerung,  und  namentlich 
in  Böhmen,  hat  es  endlich  einmal  satt,  immer  nur 
als  Ausbeutungsobjekt  für  fremde  Nationen  und 
fremde  Interessen  zu  dienen.  In  Oesterreich  regieren 
die  Magyaren,  die  Polen,  die  Tschechen  und  die 
Juden;  —  die  Deutschen  haben  blos  das  Vergnügen, 
für  die  Bedürfnisse  des  Staates  zum  grössten  Theile 
aufzukommen,  und  zu  zahlen!  Was  ist  in  den 
letzten  dreissig  Jahren  nicht  alles  geschehen,  um  nur 
—  wenigstens  äusserlich  —  eine  Art  Scheinkonsti- 
tutionalismus  aufrecht  zu  halten.  Diesem  Phantom 
und  der  Grossmachtspielerei  musste  alles  geopfert 
werden!  Mit  der  Einfuhrung  des  Dualismus  begann 
dieser  Zustand.  Der  Ausgleich  mit  Ungarn,  dessen 
Erneuerung  alle  zehn  Jahre,  dann  die  Quote  usw., 
erfordern  kolossale  Mittel  und  diese  muss  Oesterreich 
fast  allein  tragen,  Dank  der  famosen  Bestimmungen 
der  Ausgleichsgesetze  und  alles  dessen,  was  drum 
und  dran  hängt.  Und  da  in  Oesterreich  fast  nur  die 
deutschen  Provinzen  aktiv  sind,  und  in  diesen  fast 
nur  die  gewerbliche  und  industrielle  Bevölkerung,  — 
so  hat  diese  eigentlich  fast  allein  für  alles  zu  sorgen. 
Daher  der  ungeheure  Steuerdruck;  und  die  deutsche 
Bevölkerung  an  der  Grenze  des  Deutschen  Reiches, 
also  in  Deutschböhmen,  hat  am  besten  Gelegenheit, 
im  vielfachen  Verkehr  mit  Deutschland  hierüber 
Vergleiche  anzustellen.  Eines  unsrer  deutschöster- 
reichischen antisemitischen  Blätter  hat  erst  vor  ganz 


38 


kurzer  Zeit  einen  Artikel  gebracht,  in  dem  auf  Grund 
der  bestehenden  Bestimmungen  die  Belastung  des 
Hausbesitzes  z.  B.  in  Wien  mit  jener  in  Berlin  und 
Dresden  verglichen  wird;  aus  diesem  Artikel  ist 
ersichtlich,  dass  die  Gebäudesteuer  für  ein  Haus, 
das  z.  B.  10.000  Mark  Miethe  trägt,  in  Dresden  210 
Kronen,  in  Berlin  639*60  Kronen  und  in  Wien 
4205*70  Kronen  beträgt.  Und  so  wie  es  mit  der 
Gebäudesteuer,  so  ist  es  in  demselben  Verhältniss 
auch  mit  den  übrigen  Steuern;  die  Steuerlast  ist  in 
Oesterreich  einfach  unbeschreiblich!  Und  dazu  die 
hohen  indirekten  Steuern!  Und  das  sehen  meine 
Landsleute  in  Deutschböhmen  recht  gut,  und  sie 
vergleichen  auch  alle  übrigen  Verhältnisse,  wie  sie 
herüben  in  Oesterreich  sind,  mit  den  gleichartigen 
Verhältnissen  drüben  im  Deutschen  Reiche,  und  dann 
ist  es  kein  Wunder,  wenn  man  gar  oft  den  Wunsch 
aussprechen  hört:  „Wenn  es  nur  schon  bald  dazu 
käme,  wozu  es  ja  doch  früher  oder  später  kommen 
muss  und  kommen  wird;  dann  hätten  wir  doch 
wenigstens  erträgliche  Zustände;  die  jetzigen  Zustände 
in  Oesterreich  sind  aber  unerträglich!"  Und  es  ist 
ja  wahr.  Seit  dreissig  Jahren  ist  in  Oesterreich  nichts 
geschehen,  was  zur  Wohlfahrt  des  Volkes  dienen 
könnte.  Nichts,  rein  gar  nichts!  Im  Gegentheile;  die 
Ausbeutung  der  arbeitenden  gewerblichen  und  land- 
wirtschaftlichen Bevölkerung  durch  den  Grosskapi- 
talismus wurde  auf  alle  mögliche  Art  gefördert  und 
begünstigt.  Alles  frisst  am  Wohlstande  des  eigent- 
lichen Volkes!  Das  gesammte  Aktien-  und  das  Kartell- 
wesen, die  Bildung  der  Ringe  und  Truste,  der 
Eisen-  und  Kohlenwucher,  der  Getreide-Terminhandel, 
das  total  verfahrene  Eisenbahnwesen  mit  seinen 
Betriebsdeficiten  (die  schlechten,  nichtstragenden  ga- 
lizischen  Bahnen  sind  im  Staatsbesitze,  die  guten 
und  vorzüglich  rentierenden  Bahnen  gehören  den  — 
gelauften  und  ungetauften  Juden);  die  verunglückte 
Valuta-Regulierung,  die  uns  nichts  gebracht,  als  eine 
masslose  Vertheuerung  aller  Lebensbedürfnisse  (in 
Wien  kostet  alles  im  Durchschnitt  doppelt  soviel, 
wie  in  Berlin  oder  Dresden)  usw. 

Und    allem    diesen    sehen    die    österreichischen 


39 


Regierungen  der  letzten  Jahre  unthätig  zu;  sie  sind, 
auch  wenn  sie  etwas  thun  wollten,  zu  schwach, 
gegen  die  übermächtigen  Geldjuden  und  andere 
Faktoren  aufzutreten;  sie  sind  zu  schwach,  um 
ernstlich  und  mit  kräftiger  Hand  einzuschreiten.  Die 
Regierungen  thun  nichts  gegen  die  schrecklich  um 
sich  greifende  Verwilderung  und  Verrohung  der 
Jugend,  nichts  gegen  die  haarsträubenden  Zustände 
an  den  Universitäten  mit  ihrem  gradezu  hochver- 
rätherischen  Treiben,  nichts  gegen  die  Wirthschaft  in 
Galizien,  die  jetzt  bei  den  Landtagswahlen  so  offen 
zu  Tage  getreten,  im  Gegentheil,  der  Polenklub  regiert 
in  Oesterreich;  sie  thut  nichts  gegen  das  wüste 
Treiben  der  unreifen  Vagabunden,  dem  die  Polizei 
ohnmächtig  gegenübersteht;  nichts  gegen  die  un- 
glaublich gesteigerte  Herrschaft  des  Judenthums,  das 
sich  bereits  mächtig  genug  fühlt,  in  allen  öffentlichen 
Angelegenheiten  allein  massgebend  aufzutreten,  — 
kurz,  wohin  man  in  Oesterreich  sieht,  überall  wunde 
Stellen.  Dazu  die  oft  merkwürdigen,  lebhaftes  Kopf- 
schütteln erregenden  und  sich  oft  widersprechenden 
Urtheile  der  Justizbehörden,  von  unten  bis  oben,  ja 
bis  zum  Verwaltungsgerichtshof  hinauf,  der  nichts 
ist  als  eine  Versorgungsanstalt  für  abgethane  Minister; 
—  denn  das  Protektionswesen  bei  der  Besetzung 
sicherer  Posten  in  den  Central  stellen,  wo  junge, 
unerfahrene  Leute,  blos  weil  sie  Ministersöhne  oder 
Abgeordneten-Neffen  sind,  die  höchsten  Stellen  er- 
reichen und  in  den  wichtigsten  Fragen  entscheiden, 
während  alte,  erfahrene  Leute  auf  die  Seite  geschoben 
werden,  worauf  der  Umstand  zurückzuführen  ist, 
dass  wir  in  Oesterreich  lauter  schlechte  Gesetze  haben 
usw.  usw.  Und  so  kommt  es,  dass  die  eigentliche 
steuerzahlende  Bevölkerung  in  Oesterreich  immer 
mehr  verelendet,  während  die  Juden  und  die  mit 
ihnen  verbundene  Hochfinanz  alles  an  sich  reissen, 
so  dass  die  totale  Verarmung  der  österreichischen 
Bevölkerung  nur  mehr  eine  Frage  von  kurzer  Zeit 
ist  Und  da  wundert  man  sich,  dass  die  Unzufrieden- 
heit mit  dieser  ganzen  Wirthschaft  immer  mehr  zum 
Radikalismus  treibt,  und  dass  diejenigen  die  meisten 
Erfolge  erzielen,  die  die  schärfste  Tonart  anschlagen, 


40 


die  dem  österreichischen  deutschen  Volke  die  baldige 
Erlösung  von  der  Herrschaft  der  Juden,  der  Tschechen, 
der  Polen  und  der  Magyaren  versprechen! 

Wir  wollen  dem  Einsender  dieses  Artikels  in 
Manchem  recht  geben,  doch  geben  wir  ihm  zu  be- 
denken, dass  der  Haushalt  des  Deutschen  Reiches 
pro  Jahr  1902  mit  einem  Abgang  von  rund  50 
Millionen  Mark  abgeschlossen  hat. 

Und  was  die  Juden  anbelangt,  so  sind  die 
Deutschen  im  Deutschen  Reiche  wohl  etwas  besser 
daran,  aber  Hab  und  Gut  ist  ebenso  vertheilt  zwischen 
Christ  und  Jud  in  Oesterreich  wie  in  Deutschland. 
Hier  der  Beweis.  Ueber  die  Ergebnisse  der  seit  kur- 
zem in  Baden  eingeführten  katholischen  Kirchensteuer 
gibt  das  neue  statistische  Jahrbuch  für  1901  insofern 
werthvolle  Aufschlüsse,  als  sie  einen  Vergleich  der 
der  allgemeinen  Kirchensteuer  unterliegenden  Steuer- 
kapitalien der  Evangelischen,  der  Katholiken  und  der 
Israeliten  ermöglichen.  Die  Kapitalrentensteuer-Kapi- 
talien der  Evangelischen  belaufen  sich  im  Jahre  1900 
auf  733-0  Mill.  M.,  die  der  Katholiken  auf  471-3  Mill. 
M..  die  der  Israeliten  auf  142\>  Mill.  M.,  ausgerechnet 
auf  den  Kopf  nach  der  Seelenzahl  vom  1.  Dezember 
1900  —  wo  in  Baden  701.964  Evangelische,  l'l  Mill. 
Katholiken,  8356  Altkatholiken  und  26.132  Israeliten 
gezählt  wurden  —  stellt  sich  das  Verhältnis  wie  folgt : 
1044-30  M.  für  die  Evangelischen,  419-70  M.  für  die 
Katholiken  und  5452-20  M.  für  die  Israeliten.  Die 
Grund-,  Häuser-,  Gefäll-  und  Gewerbesteuerkapitalien 
betragen  für  den  evangelischen  Theil  1042-1  Mill.  M., 
für  den  katholischen  1296*6  Mill.  M.,  für  die  Israeliten 
153-1  Mill.  M.,  also  für  den  Kopf  1484-60  M.,  1154-30 
M.  und  5857-40  M.  Die  Einkommensteueranschläge 
stellen  sich  für  die  Evangelischen  auf  119-2  Mill.  M., 
die  Katholiken  auf  101*6  Mill.  M.,  die  Israeliten  auf 
243  Mill.  M.;  dies  ergibt  auf  den  Kopf  169-8,  9050 
u.  931-30  M.  Die  Verwirklichung  des  Planes  der  All- 
deutschen kann  natürlich  in  erster  Linie  nur  auf 
Kosten  Oesterreichs  geschehn.  In  der  That,  die  Zer- 
trümmerung Oesterreichs  scheint  das  Endziel  aller 
preussischen  Politik  zu  sein.  Spricht  doch  die  ganze 
Vergangenheit  Preussens  dafür.  Schon  das  Brutei  des 
heutigen  Preussens  ist  sehr  wenig  ehrenhaft. 


41 


„Im  Jahre  1525  säkularisirte  der  Hochmeister 
<les  deutschen  Ordens,  Albrecht  von  Brandenburg, 
•das  preussische  Ordensland  und  machte  sich  unter 
Genehmigung  seines  Lehnsherrn,  des  katholischen 
Königs  von  Polen,  laut  Vertrag  vom  8.  April  1525 
zum  ersten  Herzog  von  Preussen,  wodurch  er  sein 
Land  zur  Wiege  des  preussischen  Staates  erhob." 

Also  der  Anfang  Preussens  ist  von  Rechtswegen 
promptes  Kirchengut.  Die  besten  Ländergeschäfte 
machte  der  grosse  Kurfürst  Friedrich  Wilhelm  beim 
Abschluss  des  westphälischen  Friedens,  annektierte 
Pommern  und  Ostpreussen.  Friedrich  der  Grosse  be- 
reicherte sich  auf  Kosten  Oesterreichs  durch  Schlesien, 
dann  annektierte  er  Westpreussen.  Während  der  Kriege, 
mit  denen  Friedrich  der  Grosse  Oesterreich  bedrängte, 
unterhielt  er  in  Böhmen  fortwährend  bezahlte  Agenten, 
welche  das  Land  fort  und  fort  bereisten  und  für  das 
preussische  Regime  praeparierten.  Im  Jahre  1732  hat 
der  protestantische  Prediger  Liberda  mit  6  Gehilfen 
für  ein  Honorar  von  200  Thalern  böhmische  Unter- 
thanen  zur  Auswanderung  nach  Preussen  bewogen, 
er  hat  ihrer  über  2000  gewonnen.  Böhmische  Prote- 
stanten haben  im  Jahre  1775  direkt  Friedrich  aufge- 
fordert, das  Land  Böhmen  zu  annektieren.  Die  Ab- 
sichten Bismarks  sind  ja  allbekannt.  Der  ehemalige 
ungarische  Revolutionsgeneral  Stephan  Türr  erzählt 
im  „Pesti  Hirlap"  folgendes:  „Zur  Zeit  des  1866er 
Krieges  lies  Bismarck  die  ungarische  Legion  organi- 
sieren; er  betonte,  dass  er  die  berechtigten  Aspira- 
tionen der  ungarischen  Nation  unterstütze.  Kaum  ein 
Jahr  später  bot  sich  mir  in  Belgrad  Gelegenheit  zu 
erfahren,  dass  der  dortige  preussische  Geschäftsträger, 
so  dass  ich  es  mit  meinen  Ohren  hörte,  ungarisches 
Gebiet  den  serbischen  Staatsmännern  versprach.  1867 
sagte  mir  Bismarck  nur  zu  deutlich,  welche  Absich- 
ten er  mit  Oesterreich  habe.  Durch  mich  Hess  er  den 
Italienern  sagen,  dass  „Italien  mit  Hilfe  Preussens  das 
Trentino  bekommen  könne."  aber  er  fügte  hinzu,  dass 
er  Triest  nicht  in  die  Hände  der  Italiener  gelangen 
lassen  wolle,  weil  das  „ein  Zukunftshafen  Deutschlands" 
ist.  Ich  sagte  dies  schon  mehrmals,  als  der  eiserne 
Kanzler  noch  lebte.     Und  ich  citiere  heute  neuerlich 


42 


diese  Worte,  weil  ich  die  pangermanischen  Herren 
aufmerksam  zu  machen  wünsche,  dass  der  Ausflug, 
den  sie  auf  den  Sachsenboden  und*  für  das  Banat 
planen,  Verdacht  wecken  wird,  nicht  bloss  im  Kreise 
des  Ungarthums,  sondern  auch  bei  den  österreichi- 
schen Völkern."  Und  da  hört  man  sogar  k.  k.  Beamte 
„Heil  Bismarck!"  rufen.  —  Am  weitesten  gediehen 
ist  in  dieser  Art  eine  Brochüre  bei  Lehmann  in  Mün- 
chen erschienen  unter  dem  Titel:  Oesterreichs  Zu- 
sammenbruch und  Wiederaufbau."  In  diesem  Produkt 
der  alldeutschen  Propaganda  ist  die  Theilung  Oester- 
reichs auf  dem  Papiere  für  die  Zukunft  vollständig 
durchgeführt.  Den  alldeutschen  Gedanken  verbreiten 
in  Deutschland  systematisch  nicht  allein  die  Presse, 
sondern  auch  zahlreiche  Vereine.  Neben  dem  all- 
deutschen Verein  sind  hier  zu  nennen  der  Schulverein 
zur  Erhaltung  des  Deutschthum  im  Auslande  und 
andere  derartige  Organisationen.  Aus  der  Hauptver- 
sammlung des  allgemeinen  deutschen  Schulvereines 
in  Stuttgart  vom  20.  Mai  1902  entnehmen  wir  folgen- 
des. Der  vor  mehr  als  zwei  Jahrzehnten  von  patrio- 
tischen Männern  in  Berlin  gegründete  Verein  war  der 
erste  nationale  Schutzverein,  der  sich  die  Aufgabe 
stellte,  das  Deutschthum  im  Auslande  zu  schützen  und 
zu  erhalten.  Er  war  ein  Ausfluss  des  wiedererstarkten 
Selbstgefühls,  das  die  Gründung  des  Reiches  den 
Deutschen  gegeben  hatte.  Es  ist  kein  pädagogischer 
oder  schultechnischer  Verein,  wie  irrthümlich  nach 
seinem  Namen  bisweilen  angenommen  wird.  Sondern 
er  estrebt  einzig  und  allein  deutsch-kulturelle  Ziele. 
Er  kennt  für  seine  Thätigkeit  keinerlei  Unterschiede 
der  Religion,  der  Konfession,  der  politischen  Partei- 
stellung.  Er  kennt  nur  Deutsche,  die  ihrem  Deutsch- 
thum treu  bleiben  und  seine  Hilfe  dazu  annehmen 
wollen.  Er  erwartet  von  jedem  Deutschen  im  Aus- 
lande, dass  er  ein  guter  Bürger  seines  besonderen 
Staates  sei,  wünscht  aber  und  wirkt  dahin,  dass  er 
zugleich  auch  ein  guter  Deutscher  bleibe  und  deutsche 
Sprache,  Sitte  und  Kultur  sich  unverkürzt  bewahre. 
Wer  die  Jugend  gewinnt,  der  hat  die  Zukunft;  wer 
sie  verliert,  hat  alles  verloren.  Darum  wendet  der 
Verein     seine    Mittel    für    die    deutschen    Stammes- 


43 


genossen  an  der  Sprachgrenze  und  in  gemischt- 
sprachigen Gegenden  hauptsächlich  zur  Gründung 
und  Erhaltung  deutscher  Schulen  auf,  und  nur  aus 
diesem  Grunde  führt  er  den  Namen  „Allgemeiner 
deutscher  Schulverein".  Der  Sitz  des  Hauptvorstandes 
ist  in  Berlin;  der  Verein  gliedert  sich  weiter  in  Lan- 
desverbände und  Ortsgruppen.  Sehen  wir  in  das  uns 
befreundete  und  verbündete  Oesterreich  hinein.  Wie 
hat  das  Deutschthum  dort  zu  kämpfen,  um  sich  in 
seiner,  kraft  uralter  Kulturarbeit  ihm  gebührender 
Stellung  zu  behaupten.  In  Böhmen  und  Mähren 
gegen  das  Tschechenthum,  in  Galizien  gegen  die 
Polenwirtschaft,  in  Krain  und  Küstenland  gegen 
den  ausserhalb  der  verantwortlichen  Regierung  ge- 
züchteten Chauvinismus  des  Magyarenthums,  im  süd- 
lichen Tirol  gegen  die  welschen  Autonomiebestre- 
bungen und  die  Minierarbeit  der  Lega  Nazionale. 
Nicht  allen  in  Oesterreich  eingeborenen  Deutschen 
ergeht  es  so  gut,  wie  verhältnismässig  noch  den 
Deutschböhmen,  die  in  zahlreichen  Schutzvereinen  sich 
zur  Wehre  setzen  und  neuerdings,  vom  Mittelpunkt 
der  Prager  deutschen  Universität  aus,  die  „deutsche 
Arbeit"  in  Buch  und  Monatsschrift  zur  Geltung  bringen. 
Unter  den  Klängen  der  Musik  traten  Nachmittag 
2  Uhr  die  Mitglieder  des  Allgemeinen  Deutschen 
Schulvereins  aus  dem  Arbeitsraum  des  Vertretertages 
unmittelbar  in  den  Prachtsaal  der  Liederhalle  zum 
Festessen  hinüber.  Wie  die  Glieder  einer  Familie,  in 
Freundschaft  und  Vertraulichkeit,  ordneten  sich  die 
Anwesenden  zur  frohen  Tafel  .  .  .  Den  Reigen  der 
Toaste  eröffnete  Dr.  Brüxner-Stuttgart,  indem  er  mit 
hinreissender  Begeisterung  das  Hoch  auf  Kaiser  Wil- 
helm und  auf  den  König  von  Württemberg  ausbrachte ; 
wenn  durch  eine  Naturgewalt  eine  ganze  Stadt  mit 
30.000  Einwohnern  vom  Erdboden  vertilgt  werde, 
dann  rege  sich  das  Mitleid  und  jeder  wolle  helfen; 
wie  aber,  wenn  hundert  deutsche  Städte  in  Böhmen, 
Mähren  und  anderen  bedrohten  Gegenden  mit  300.000 
Einwohnern  uns  verloren  gingen,  müsse  da  erst  die 
deutsche  Hilfe  eintreten !  Der  Kaiser  und  der  König 
seien  unsere  Vorbilder  in  nationaler  Kraft  undThat; 
dem  Kaiser  und  dem  Könige    gelte   die  treue  Huldi- 


44 


gung  des  Allgemeinen  Deutschen  Schulvereins.  Major 
Kressmann -Karlsruhe,  als  Norddeutscher  in  Sud- 
deutschland, sprach  auf  Stuttgart,  Prof.  Mentz-Jena 
auf  Dr.  Brüxner,  Frau  von  Radnoftai-Dresden  mit 
vieler  Anmut  auf  die  Stuttgarter  Frauengruppe,  Dr. 
Harnischfeger-Frankfurt  a.  M.,  dem  das  Herz  auf  dem 
rechten  Flecke  sitzt,  auf  die  sog.  „berühmten  sechs 
Berliner  Herren",  den  Hauptvorstand.  Sehr  eindrucks- 
voll gedachte  Dr.  Weiss-Bremen  derer,  die  durch 
Beruf  oder  Krankheit  abgehalten  seien,  persönlich  zu 
erscheinen,  insbesondere  des  von  schwerer  Krankheit 
wiedergenesenden  wackeren  Pfarrers  Gamper  in  Dres- 
den. Eingelaufene  Depeschen  wurden  mit  Beifall  und 
Dank  verlesen,  darunter  die  des  Chefredakteurs  der 
Vossischen  Zeitung,  Dr.  Bachmann,  des  Herrn  Dr. 
Hedinger  „aus  Roseggörs  Heimat",  vom  Deutschen 
Schulverein  im  Wien,  von  der  „Nordmark"  inTroppau. 
Nicht  in  demselben  Grade  wie  die  Aufgaben  und 
Arbeiten  des  Vereins  sind  seine  Mittel  gewachsen. 
Dies  muss  offen  und  deutlich  zum  Ausdruck  gebracht 
werden,  damit  sich  unsere  national  gesinnten  Mit- 
bürger besser  rühren ;  denn  mit  einem  gleichgültigen, 
passiven  Volk  sind  keine  grossen  Ziele  zu  verfolgen. 
Die  Mitgliederzahl  hat  um  einige  Hundert  zugenom- 
men: voriges  Jahr  waren  es  rund  32.400,  dies  Jahr 
sind  es  33.000;  aber  im  Vergleich  mit  der  Bevölke- 
rungszunahme ist  dies  kaum  als  ein  Steigen  zu  be- 
trachten. Von  1899  auf  1900  waren  wir  doch  um 
2000  hinaufgegangen.  Dabei  trifft  die  Werbekomis- 
sion  des  Hauptvorstandes  gewiss  kein  Vorwurf.  Diese 
hat  vielmehr  mit  Eifer  und  Umsicht  ihres  Amtes  ge- 
waltet, hat  schlafende  Ortsgruppen  aufgerüttelt  und 
neue  begründet,  auch  unsere  Ansichtspostkarten  ver- 
mehrt, namentlich  um  ein  Bild  von  der  Johannes- 
burger Schule,  und  den  Schulvereinsschriften  ein  sehr 
interessantes  Heft  hinzugefügt,  betitelt  „Die  Deutschen 
Schulen  im  Ausland",  von  Dr.  Ernst  Kapff.  Die  Ge- 
sammteinnahmen  sind  von  rund  176.000  Mark  auf 
180.000  Mark  gestiegen;  wir  danken  dies  besonders 
der  grossartigen  Energie  einiger  Frauen-Ortsgruppen, 
voran  Berlin  und  Darmstadt,  sowie  den  Burschen- 
schaften, die  ihren  vorigjährigen  Beitrag  von  600  M. 


45 


auf  1570  M.  erhöht  haben:  solch  gewichtige  Hilfe  von 
den  Müttern  und  der  studierenden  Jugend  eröffnet 
uns  einen  ermutigenden  Ausblick  in  die  Zukunft. 

Die  meisten  Unterstutzungen  gingen,  wie  ge- 
wöhnlich, nach  Böhmen  und  Mähren  (33.000  M.); 
die  für  überseeische  sind  gegenüber  dem  Vorjahr  auf 
das  Doppelte  gewachsen.  Mit  Stipendien  hat  die 
Hauptleitung  18  Studierende  aus  dem  deutschen 
Auslande  unterstützt,  im  Gesammtbetrage  von  4100 
Mark,  ferner  haben  der  Landesverband  Thüringen 
(Prof.  Rein,  Jena),  die  Ortsgruppen  Marburg  (Prof. 
Th.  Fischer)  und  Breslau  (Prof.  Voigt)  Stipendien 
verliehen.  Zu  wünschen  wäre,  dass  noch  weitere 
Landesverbände  und  Ortsgruppen,  in  deren  Bezirke 
Universitäten  oder  technische  Hochschulen  sich  be- 
finden, Stipendien  für  deutsche  ausländische  Studie- 
rende errichten.  Für  Büchereien  haben  wir  zirka  2000 
Bände  angekauft  und  sie  nach  Galizien,  Böhmen, 
Mähren,  Steiermark,  Osteuropa  uud  Brasilien  geschickt 
Auf  diese  Weise  wird  von  manchen  derartigen 
Organisationen  für  den  grossdeutschen  Plan  gear- 
beitet. Nach  den  neuesten  Erhebungen  sollen  die 
Deutschen  an  der  Zahl  folgendermassen  angewachsen 
sein.  Im  Deutschen  Reich  selbst  beträgt  die  Zahl  der 
Deutschen  nach  der  jüngsten  Zählung  vom  1.  De- 
zember 1900  im  ganzen  52,113.159.  Etwas  älter  sind 
meist  die  Zählungen,  deren  Ergebnis  die  folgenden 
Daten  sind.  Nach  der  Zählung  von  1890  hatte  Oester- 
reich  damals  8,662.000  Deutsche;  für  Ungarn  liegt 
jetzt  das  endgiltige  Ergebnis  der  Zählung  vom  31.  De- 
zember 1900  vor,  wonach  die  Zahl  der  dortigen 
Deutschen  2,133.181  beträgt,  eine  Zahl,  die  hinter 
der  Wirklichkeit  aber  sicher  erheblich  zurückbleibt. 
Alle  folgenden  Zahlen  sind  das  Ergebnis  von  möglichst 
genauen  Schätzungen  auf  Grund  des  Materials  der 
jeweils  jüngsten  Volkszählung.  Danach  gab  es  Deutsche 
im  Jahre  1895  in  Bosnien  und  Herzegowina  30.000, 
1891  in  Liechtenstein  9400,  1888  in  der  Schweiz 
2,083.000, 1895  in  Luxemburg  200.000,  1890  in  Belgien 
3,420.000,  1889  in  den  Niederlanden  5,094  800,  1896 
in  Frankreich  500.000,  1890  in  Dänemark  50.000,  in 
Schweden    5000,    in  Norwegen   2000,  1891  in   Gross- 


46 


britannien  und  Irland  100.000,  1897  in  Russland 
2,001,840,  1894  in  Rumänien  50.000,  1895  in  Serbien 
6400,  1893  in  Bulgarien  3600,  1890  in  der  Türkei 
15.000,  1896  in  Griechenland  1000,  1898  in  Italien 
50.000,  1897  in  Spanien  3000,  1890  in  Portugal  1000. 

Das  macht  alles  in  allem  eine  Kopfzahl  von 
76,536.000.  Auf  das  geschlossene  deutsche  Sprach- 
gebiet fallen  davon  etwa  72,000.000.  Zusammen  bilden 
diese  Deutschen  mehr  als  ein  Fünftel  der  gesammten 
europäischen  Bevölkerung. 

Nach  Mulhalls  Berechnung  waren  die  Völkerver- 
hältnisse Europas  folgendermassen  beschaffen. 

Gesammtzahl  der  Bevölkerung  Europas 

Jahr  1801  1890 

161,800.000  401,700.000 

Von  einem  Hundert  Einwohner  sprachen 

im  Jahre  1801  1890 

englisch      12-7 27-7 

französisch 19*4 12*7 

deutsch       18-7 18-7 

italienisch 9-3 8  3 

spanisch 16*2 10*7 

portugalisch 4*7 3*2 

.    russisch      .    .       .   .      19* — 18  7 

Ob  diese  Zahlen  der  Wirklichkeit  entsprechen,  ist 
allerdings  fraglich. 

Innerhalb  des  deutschen  Reiches  wird  mit 
eiserner  Rücksichtslosigkeit  an  der  Alleinherrschaft 
der  Preussen  gearbeitet.  Wir  sagen  der  Preussen, 
denn  von  ihnen  geht  ja  hauptsächlich  diese  Bewegung 
aus.  Die  Früchte  zeigen  sich  am  deutlichsten  in 
Elsass-Lothringen. 

Als  es  sich  im  Jahre  1898  darum  handelte,  das 
deutsche  Reichspressgesetz  vom  7.  Mai  1874  in  Elsass- 
Lothringen  einzuführen,  war  auch  vorgeschlagen 
worden,  eine  Bestimmung  aufzunehmen,  wonach  das 
Erscheinen  französischer  Zeitungen  im  Reichslande 
behördlich  verboten  werden  könnte  Der  Landes- 
ausschuss  lehnte  jedoch  diesen  Vorschlag  als  eine 
zu  wenig  pressfreundliche  Massregel  ab.  Gleichzeitig 
wurde   in    den    damaligen  Verhandlungen    hervorge- 


4< 


hoben,  dass  die  in  französischer  Sprache  erschei- 
nenden Strassburger  Blätter  von  Jahr  zu  Jahr  ohnehin 
an  Abonenten  verlieren  und  somit  in  ihrem  Einflüsse 
und  ihrer  Bedeutung  zurückgingen.  Die  Wahrnehmung 
wird,  wie  man  der  Süddeutschen  Reichscorrespondenz 
aus  Strassburg  meldet,  durch  die  Thatsachen  bestätigt. 
Als  z.  B.  vor  etwa  Jahresfrist  in  Metz  eine  neue  ka- 
tholische Zeitung  gegründet  werden  sollte,  da  wurde 
von  den  beteiligten  Kreisen  mit  Entschiedenheit  betont, 
dass  die  neue  Zeitung  in  deutscher  Sprache  erscheinen 
müsse,  wenn  anders  sie  auf  eine  genügende  Zahl  von 
Abonnenten  und  Lesern  rechnen  wolle,  um  die  von 
ihr  vertretenen  Interessen  mit  Erfolg  vertheidigen  zu 
können.  Und  so  entstand  die  Lothringer  Volksstimme. 
Ferner  hat  die  Volkszählung  vom  1.  Dezember  1900, 
bei  der  zum  erstenmale  die  Muttersprache  der  orts- 
anwesenden Bevölkerung  im  einzelnen  ermittelt 
wurde,  ergeben,  dass  die  französisch  sprechende  Be- 
völkerung des  Reichslandes  geringer  ist  als  man  ge- 
wöhnlich annahm.  Es  ist  dabei  zu  brachten,  dass  im 
Jahre  1900  eine  Individualzählung  stattgefunden  hat, 
während  bis  dahin  nur  eine  schätzungsweise  Ermit- 
telung des  geschlossenen  französischen  Sprachgebietes 
vorgenommen  wurde.  Die  durch  die  jetzige  Individual- 
zählung ermittelten  198.173  Personen,  die  als  Mutter- 
sprache Französisch  angegeben  haben,  utnfassten 
auch  die  ausserhalb  des  französischen  Sprachgebietes 
im  Lande  zerstreuten  Angehörigen  der  französischen 
Muttersprache.  Solcher  sind  87.010  gezählt  worden. 
Dem  Reste  von  111.163  französisch  Sprechenden 
stehen  im  französischen  Sprachgebiete  bereits  48.750 
Personen  gegenüber,  deren  Muttersprache  Deutsch 
ist,  hauptsächlich  infolge  der  deutschen  Einwanderung 
dorthin.  Demnach  hat  sich  das  früher  als  rein  fran- 
zösisch anerkannte  Sprachgebiet,  besonders  in  Loth- 
ringen, an  Umfang  bedeutend  verringert,  und  mehr 
als  drei  Viertel  dieses  Gebietes  sind  jetzt  sprachlich 
gemischt.  Der  preussischen  Polenpolitik  können  wir 
vielleicht  ein  besonderes  Kapitel  widmen«  Auf  diese 
Weise  haben  wir  hoffentlich  eine  Uebersicht  von  der 
alldeutschen  Bewegung  erhalten  und  ihre  Ziele  und 
Bestrebungen  kennen  gelernt. 


48 


V.  Bismarck  und  Oesterreich. 


Seit  dem  J.  1898,  wo  Bismarck  starb,  vergeht 
fast  kein  Tag,  an  welchem  nicht  ein  Werk  über  Bis- 
marck, sein  Leben,  Wirken  etc.  auf  dem  deutschen 
Büchermarkt  erscheinen  möchte.  Da  kommt  Lothar 
Bucher,  dort  wieder  der  Hebräer  Moritz  Busch  und 
ganze  Legionen  anderer  Bismarcks-Verherrlicher.  Selbst- 
verständlich ist  unsere  Juden-Presse  in  Oesterreich 
jedesmal  im  Freudenrausch,  wenn  sich  ein  neuer 
Bismarcks-Bekollerter  auf  dem  Büchermarkt  anmeldet. 
Bismarck  war  der  grösste  Feind  Oesterreichs.  Einen 
durchschlagenden  Beweis  dazu  erbrachte  A.  Kienast 
in  seinem  Werke:  Die  Legion  Klapka.  Eine  Episode- 
aus dem  Jahre  1866  und  ihre  Vorgeschichte.  (Wien 
1900,  bei  Seidel  u.  Sohn.)  Wir  lesen  hier  unter  Anderem 
folgendes : 

Als  Ludwig  XIV.  mit  jenen  Unternehmungen 
beschäftigt  war,  welche  die  landläufige  Geschichtsbe- 
trachtung mit  dem  Namen  der  Raubkriege  belegt  hat, 
suchte  er  wiederholt  dem  Kaiser  im  Osten  Feinde- 
zu  erwecken  durch  Gewinnung  der  Polen,  durch 
Aufhetzen  und  ein  Bündnis  mit  den  Osmanen,  oder 
durch  Unterstützung  und  Verbindung  mit  den  auf- 
ständischen Ungarn.  Friedrich  IL  von  Preussen  suchte- 
während  seiner  Kriege  mit  Maria  Theresia  einmal  die- 
Türken  und  Tataren  zu  einem  Einfall  in  Sieben- 
bürgen oder  Ungarn  zu  bewegen,  und  ein  anderes 
Mal  trat  er  mit  unzufriedenen  Magnaten  in  Beziehungen,, 
um  Oesterreich  von  dieser  Seite  zu  beschäftigen. 

Nach  diesen  und  ähnlichen  berühmten  Mustern 
handelte  auch  Bismarck  im  Jahre  1866.  Oesterreich 
sollte  in  einer  eisernen  Umklammerung  seiner  Feinde 
erdrückt  und  für  immer  zu  einer  Macht  zweiten  oder 
dritten  Ranges  herabgemindert  werden.  Der  Bau- 
meister des  neuen  deutschen  Reiches  begnügte  sich 
nicht  mit  dem  Plane,  dass  das  Preussen  des  Nordens 
und  das  Piemont  des  Südens  zugleich  von  entgegen- 
gesetzten Seiten  angreifen  und  sich  vor  den  Mauern 
der  österreichischen  Hauptstadt  siegreich  die  Hände- 
reichen sollten:  er  bereitete  noch  eine  ganze  Reihe 
von  Reserven  vor,  deren  Vorstösse  das  Schicksal  des 


49 


Kaiserstaates  besiegeln  oder  wenigstens  während  des 
Kampfes  einen  Theil  seiner  Heeresmassen  fern  von 
der  Hauptschauplätzen  festhalten  sollten  und  während 
der  Friedensverhandlungen  noch  immer  als  gefährliche 
Drohung  ausgespielt  werden  konnten.  Bismarck  zog 
Serbien  und  Rumänien  in  den  Kreis  seiner  Berech- 
nung. Am  10.  Juni  theilte  er  dem  Fürsten  Anton  von 
Hohenzollern  mit,  dass  er  den  Legationsrath  von 
Pfuel  über  Belgrad  nach  Bukarest  sende,  „um  dort 
für  die  preussischen  Interessen  thätig  zu  sein".  Der 
Abgesandte  fand  in  beiden  Ländern  Parteien  vor, 
die  auf  eine  Theilnahme  an  dem  Kriege  gegen  Oester- 
reich  hinarbeiteten.  In  Serbien  glaubte  Garaschanin 
den  Augenblick  gekommen,  ein  gross-serbisches  Reich 
zu  gründen,  das  sich  über  die  Save  und  bis  an  die 
Adria  erstrecken  sollte,  und  es  war  fraglich,  ob  der 
Fürst  Michael  diesem  Drängen  widerstehen  werde. 
In  Rumänien,  wo  der  Prinz  von  Hohenzollern  eben 
erst  die  Regierung  übernommen  hatte,  gab  es  ähnliche 
Bestrebungen.  Beide  Balfcmstaaten  pflogen  Unterhand- 
lungen über  ein  Bündniss ;  unter  ihrem  Schutze  sollte 
sich  ein  ungarisches  Insurgentencorps  bilden.  Auf 
das  seit  1848  noch  immer  gährende  Ungarn  setzte 
Bismarck  in  besonderer  Weise  seine  Hoffnungen.  Be- 
ziehungen zwischen  Preussen,  der  Vormacht  des  Pro- 
testantismus und  den  ungarischen  Protestanten,  dieser 
geborenen  Opposition,  wie  Minister  Bach  sie  nannte, 
bestanden  schon  früher.  Friedrich  Wilhelm  IV.  liess 
ihnen  seine  Hilfe  angedeihen  und  als  die  Bewegung 
gegen  die  Thunschen  Verordnungen,  welche  den  Ge- 
brauch der  protestantischen  Konvente  zu  politischen 
Umtrieben  verhindern  wollten,  in  Ungarn  um  sich 
griff,  sandte  der  Gustav-Adolf-Verein  reiche  Geld- 
spenden ins  Land,  um  die  evangelischen  Kirchen  und 
Schulen  wenigstens  theilweise  von  der  „Jesuiten- 
invasion" zu  schützen.  Die  Anknüpfung  von  Beziehun- 
gen zwischen  dem  offiziellen  Preussen  und  den  un- 
garischen Malkontenten  blieb  jedoch  Bismarck  und 
dem  Jahre  1866  vorbehalten.  Dieser  Staatsmann,  der 
1849  in  der  zweiten  Kammer  es  bedauerte,  dass 
preussische  Truppen  nicht  ebenso  wie  die  russischen 
an  dem  Kampfe  gegen  die  Revolution  in  Ungarn  theil- 


so 


genommen,  sprach  1857  in  einer  Denkschrift  den 
Satz  aus,  dass  eine  legitime  Monarchie  den  Bund  mit 
Mächten,  die  aus  der  Revolution  hervorgegangen  sind, 
nicht  zu  scheuen  brauche.  Fünf  Jahre  später  an  die 
Spitze  des  Ministeriums  berufen,  wusste  er  je  nach 
Bedarf  Politik  zu  machen :  einmal  gegen  die  Stimme 
des  Volkes  und  ein  anderesmal  im  Bunde  mit  revo- 
lutionären Gewalten.  Seine  Beziehungen  zu  den  un- 
zufriedenen Ungarn  stammten  noch  aus  Paris.  Auf 
dem  Punkte,  den  dortigen  Gesandtschaftsposten  mit 
der  Ministerpräsidentschaft  zu  vertauschen,  erhielt 
Bismarck  ein  Schreiben  des  Grafen  Arthur  Scherr- 
Thoss,  das  ihm  für  den  Fall,  dass  er  in  Berlin 
„nicht  bloss  ein  preussischer  Felix  Schwarzenberg, 
sondern  ein  deutscher  Gavour  zu  sein  gedenke,  die 
redliche  und  nützliche  Mitwirkung  Ungarns u  anbot 
Graf  Scherr-Thoss,  ein  gebürtiger  PreussischrSchlesier 
und  Protestant,  hatte  bis  zum  Jahre  1841  als  Kadet 
und  Offizier  in  der  österreichischen  Armee  gedient 
und  dann  Ungarn,  wo  er  sich  angekauft  hatte,  in 
dem  Grade  zu  einer  zweiten  Heimat  gemacht,  dass 
er  im  Jahre  1848  im  Insurgentenheere  diente.  Nach 
der  Waffenstreckung  von  Vilagos  entzog  er  sich 
durch  die  Flucht  der  drohenden  Wiedereinreihung 
in  die  k.  k.  Armee  und  lebte,  im  Dienste  der  Emi- 
gration vielfach  zu  diplomatischen  Sendungen  ver- 
wendet, in  Genf  und  Paris.  Auf  jenen  Brief  hin 
wurde  er  von  Bismarck  zu  einer  Unterredung  einge- 
laden. Er  musste  ein  Bild  von  den  ungarischen  Zu- 
ständen entwerfen  und  erhielt  darauf  von  Bismarck 
nach  seinen  eigenen  Berichten  folgende  Versicherun- 
gen :  „Ich  habe  mir  zum  Ziele  gesetzt,  dieses  Oester- 
reich  niederzuwerfen,  das  uns  auf  das  unwürdigste 
behandelt,  uns  zu  seinem  Vasalen  erniedrigen  möchte. 
Ich  will  Preussen  aufrichten  und  ihm  die  Stellung 
verschaffen,  die  ihm  als  rein  deutschem  Staate  gebührt. 
Ich  verkenne  nicht  den  Werth,  den  die  Hilfe  Ungarns 
für  uns  haben  kann,  und  ich  weiss,  dass  die  Ungarn 
nicht  Revolutionäre  sind  in  dem  gewöhnlichem  Sinne 
des  Wortes  .  .  .  Wenn  wir  siegen,  wird  auch  Ungarn 
frei  werden.  Verlassen  Sie  sich  darauf."  So  soll 
Bismarck  zwei  Jahre  vor  dem.  schleswig-holsteinischen 


51 


Krieg  gesprochen  haben.  In  Paris  hatte  er  übrigens 
als  Gesandter  Gelegenkeit  gehabt,  auch  andere  Ver- 
treter der  ungarischen  Emigration  kennen  zu  lernen, 
die  dort,  wie  die  Verschwörer  aus  aller  Herren 
Länder,  beim  „rothen  Prinzen*'  ein-  und  ausgingen. 
Bismarck  erwies  sich  im  Jahre  1866  als  ein  un- 
versöhnlicher Feind  Oesterreichs,  der  vor  keinem  Mittel 
zurückschreckte.  Es  genügte  ihm  nicht,  der  von  ihm 
geschaffenen  Allianz  und  dem  Schwerte  die  Entschei- 
dung zu  überlassen,  er  suchte  nach  Kräften  auch  die 
inneren  Schwierigkeiten  des  Kaiserstaates  zu  dessen 
Verderben  auszunützen.  Wie  er  die  ungarische  Be- 
wegung ausbeutete,  so  richtete  er,  als  die  Preussen 
Böhmen  betraten,  eine  Proklamation  an  das  „glor- 
reiche Königreich",  das  den  Czechen  im  Falle  des 
Sieges  der  preussischen  Waffen  Aussichten  auf  Ver- 
wirklichung ihrer  nationalen  Wünsche  machte.  Auch 
nach  dem  Frieden  unterhielt  Bismarck,  um  sich  für 
den  Fall  eines  Krieges  mit  Frankreich  den  Rücken 
zu  decken,  im  Berliner  auswärtigen  Amt  ein  eigenes 
Bureau  zur  Betreibung  dieser  lichtscheuen  Beziehun- 
gen mit  den  unzufriedenen  Elementen  in  Oesterreich- 
Ungarn.  Die  Legion  Klapka  hatte  er,  während  des 
Waffenstillstandes  in  Ungarn  einbrechen  lassen,  und 
um  den  Rücksichtslosigkeiten  gegen  den  Besiegten 
die  Krone  aufzusetzen,  wurde  sie  noch  nach  dem 
Friedensschluss  nahe  der  österreichischen  Grenze  bei- 
sammen gehalten.  Eis  solches  Vorgehen  konnte  man 
in  Oesterreich  nicht  ohne  Antwort  lassen.  Eine  kaiser- 
liche Verordnung  befahl  im  September  1866,  dass  bis 
auf  Weiteres  die  sieben  österreichischen  Regimenter, 
welche  den  König  oder  Prinzen  von  Preussen;  preus- 
sische  Generale  oder  mit  Preussen  verbündete  Fürsten 
zu  Inhabern  hatten,  ohne  deren  Namen  nur  mit  der 
Nummer  benannt  werden  sollten.  Zugleich  resignirten 
die  Erzherzoge  Albrecht,  Karl  Ludwig  und  Leopold 
als  Chefs  preussischer  Regimenter.  Dem  preussischen 
Hof  gegenüber  wurde  kein  Geheimniss  daraus  gemacht, 
dass  diese  Entschlüsse  in  der  Aufstellung  einer  unga« 
irischen  Legion  gegen  Oesterreich  ihren  Grund  hatten. 
Es  ist  kein  Zweifel,  dass  man  auch  in  Preussen  ein 
solches  Vorgehen  von   Seite    Bismarck's   missbillrgte. 

4* 


£2 


Im  Jahre  1874  warf  der  Centrumsabgeordnete  Freiherr 
von  Schorlemer-Alst  im  preussischen  Abgeordneten- 
haus dem  Fürsten  von  Bismarck  die  Aufstellung  der 
Legion  Klapka  und  den  Plan  einer  Insurgirung  Ungarns 
und  Kroatiens  vor.  Der  Reichskanzler  wusste  darauf 
nur  zu  erwidern,  dass  er  in  einem  „Akte  der  Noth- 
wehr",  als  die  von  Kaiser  Napoleon  angekündigte  Ein- 
mischung die  bisherigen  Erfolge  in  Zweifel  zu  stellen 
drohte,  zu  diesem  Mittel  gegriffen  habe ;  er  habe  nichts 
gethan,  als  „Deserteure  aufgenommen. *  Dazu  ist  nur 
zu  bemerken,  dass  Bismarck  die  Bildung  der  Legion 
in  Angriff  genommen  hatte,  bevor  Napoleon  eine  Miene 
machte,  dazwischenzutreten.  Zu  den  im  Kriege  er- 
laubten Mitteln  gehört  ein  solches  nicht.  Als  der 
preussische  General  von  Werder  die  kurhessischen 
Truppen  zum  Treubruch  und  Fahnenwechsel  auffor- 
derte und  ihr  Kommandant  dies  in  einem  flammenden 
Protest  zurückwies,  schrieb  ein  Berliner  Zeitungs-Kor- 
respondent mit  Recht  nach  dem  Süden:  „Wenn  der- 
gleichen Verlockungen  von  revolutionären  Regierungen 
ausgiengen,  so  könne  das  wenig  befremden,  aber  nun 
geschehe  dies  von  dem  Repräsentanten  einer  Machte 
deren  Dynastie  sich  so  viel  auf  göttliches  Recht  und 
christliche  Grundsätze  beruft."  Angesichts  des  in  der 
preussichen  Bevölkerung  sich  kundgebenden  Wider- 
strebens gegen  den  Bruderkrieg  von  1866  wusste  die 
der  Berliner  Regierung  so  nahestehende  „Kreuzzeitung* 
sofort  zu  erinnern,  dass  das  preussische  „Strafgesetz- 
buch" jene,  die  während  dieses  Krieges  im  feindlichen 
Heere  Dienste  nehmen  und  die  Waffen  gegen  Preussen 
tragen,  mit  dem  Tode  bestrafe.  Das  scharfe  Urlheil,  das, 
wie  wir  oben  anführten,  General  Rzikowsky  über  die 
ungarische  Legion  auf  preussischer  Seite  fällte,  war 
darum  gewiss  auch  jedem  preussischen  Soldaten  aus 
dem  Herzen  gesprochen.  „In  der  preussischen  Armee," 
so  schrieb  Bernhardi  am  31.  Mai  1866  abrathend  an 
Türr,  „sind  gewisse  Ideen  von  redlicher,  ritterlicher 
Kriegsführung  herrschend,  mit  denen  die  Bildung  solcher 
Legionen  in  einem  entschiedenen  Widerspruch  stehen 
würde",  und  in  seinem  Tagebuch  fügt  erhiezu:  „Na- 
türlich sage  ich  in  Türr's  Gegenwart  nicht,  däss  die 
Legionäre  von  unseren  Soldaten  als  eidbrüchige  und 


5& 


pflichtvergessene,  ehrlose  Gesellen  ohne  Zweifel  mit 
der  äussersten  Verachtung  behandelt  werden  würden". 
Die  Politik  Bismarck' s  kannte  keine  solchen  Bedenken. 
So  schreibt  Kienast  über  Bismarck.  Sein  Werk 
sollte  in  Oesterreich  mehr  Verbreitung  gefunden  haben. 
Aus  den  Werken  über  Bismarck  bringt  die  Juden- 
presse alle  Augenblicke  Stellen,  wie  sich  Bismarck 
über  Oesterreich  aussprach.  So  brachte  die  „Neue  Freie 
Presse"  von  einem  Berichterstatter  aus  Friedrichsrühe 
folgendes  anfangs  April  1899.  Bismarck  wendete  sich 
mit  grosser  Entschiedenheit  gegen  jene  Parteien,  die 
auf  eine  Annexion  österreichischer  Gebiete  durch 
Deutschland  hinarbeiten,  und  verwahrte  letzteres 
gegen  die  Ausstreuung,  dass  es  derartigen  Bestrebun- 
gen mehr  oder  minder  wohlwollend  Vorschub  leiste. 
Es  könne  und  dürfte  vielmehr  eine  derartige  Politik 
niemals  verfolgen.  „Wenn  die  west-österreichischen 
Provinzen  mit  Deutschland  vereinigt  würden"  — sagte 
Bismarck  —  „so  wäre  die  Folge  davon,  dass  wirPreus- 
sen  im  Reichstage  nicht  mehr  über  eine  unbedingte 
Majorität  verfügen  könnten  und  dass  das  alte  Sprich- 
wort: „Travailler  pour  le  roi  de  Prusse"  hinfällig 
werden  müsste.  Und  wie  denken  Sie  sich  dann  das 
Verhältniss  von  Berlin  zu  Wien,  wenn  diese  beiden 
grossen  Gentralpunkte  einen  und  demselben  Reiche 
angehören  sollten,  wäre  unter  diesen  Bedingungen 
Berlin  schon  im  Hinblick  auf  seine  geographische 
Lage  nicht  gezwungen,  mit  der  Zeit  dem  vielfach 
günstiger  gelegenen  Wien  den  Vorrang  abzutreten? 
Nein,  das  darf  und  wird  nie  geschehen.  Natürlich 
spreche  ich  hier  von  einem  Oesterreich,  in  welchem 
der  deutsche  Volksstamm  schon  vermöge  seiner  hi- 
storischen und  kulturellen  Entwicklung  die  ihm  allein 
gebührende  führende  Rolle  einnimmt.  Es  können  in 
dieser  Beziehung  wohl  noch  manche  politischen  Wand- 
lungen eintreten,  doch  bin  ich  überzeugt,  dass  alle 
etwaigen  Versuche,  Oesterreich  zu  slavisiren,  vergeb- 
lich bleiben  werden,  denn  ein  slavisches  Oesterreich 
halte  ich  schlechtweg  für  ein  Ding  der  Unmöglichkeit. 
Als  vor  Kurzem  unter  dem  Minister-Präsidenten 
Grafen  Taafife  der  Versuch  gewagt  wurde,  den  Kaiser 
Franz   Joseph  zu  bestimmen,    sich  in  Prag  die  Wen- 


54 


zelskrone  auf  das  Haupt  zu  setzen,  habe  ich  dagegen, 
allerdings  ohne  dem  Selbstbestimmungsrechte  Oester- 
reichs  irgendwie  nahezutreten,  meine  warnende  Stimöie 
erhoben.  Diese  Krönung,  welche  unmöglich  ein  rein 
religiöser  Akt  sein  könnte,  wäre  meiner  Ansicht  nach 
der  Anfang  vom  Ende  und  müsste  unabsehbare  Fol- 
gen nach  sich  ziehen.  Doch  damit  hat  es  zur  Zeit 
keine  Gefahr,  zu  solchen  gefährlichen  Experimenten 
wird  sich  Kaiser  Franz  Joseph  niemals  herbeilassen. 
Ich  habe  persöhnlich  die  denkbar  höchste  Verrehrung 
für  diesen  Kaiser,  der  so  schwere  Prüfungen  bestehen 
müsste  und  der  in  nie  ermüdendem  Pflichteifer  seine 
ganze  grosse  Arbeitskraft  in  den  Dienst  seiner  Völker 
stellt  und  nur  das  Beste  seiner  Länder  im  Auge  be- 
hält Dieses  Oesterreich  ist  schwer  zu  regieren,  und 
der  Einfluss,  den  die  klerikale  Partei  und  nicht  minder 
der  grosse  Feudal-Adel  auf  die  inneren  Geschicke 
der  Monarchie  auszuüben  suchen,  erhöhen  um  ein 
Bedeutendes  die  ohnehin  schon  bestehenden  grossen 
Schwierigkeiten.  Doch  wird  bei  alledem  Kaiser  Franz 
Joseph  sich  nicht  beirren  lassen,  sondern  fest  und 
unentwegt  zu  uns  und  der  deutschen  Sache  halten  — 
hievon  habe  ich  des  Oefteren  schon  unumstössliche 
Beweise  erhalten.  Ich  denke  mir,  dass  in  Oesterreich 
die  Deutschen,  in  Ungarn  die  Magyaren  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  prädominiren  sollen,  und  dass  diese 
beiden  Volksstämme  zur  Aufrechterhaltung  des  durch 
Deäk  geschaffenen  Dualismus  sich  treu  und  unver- 
brüchlich die  Hände  zu  reichen  haben.  Auf  einer 
weisen,  gerechten  und  fortschrittlichen  Grundlage  sich 
erhebend,  die  grossen  volkswirtschaftlichen  und  kom- 
merziellen Interessen  mit  allen  Kräften  fördernd,  müsste 
die  österreichisch-ungarische  Monarchie,  Hand  in  Hand 
mit  Deutschland,  einer  schönen  und  glanzvollen  Zu- 
kunft entgegengehen.  Dabei  soll  keineswegs  von  einer 
Unterdrücknng  der  slavischen  Volksstämme  die  Rede 
sein,  dieselben  mögen  sich  ruhig  weiter  entwickeln 
und  im  Rahmen  des  grossen  Ganzen  die  nöihigen 
Vorbedingungen  für  ihre  kulturelle  und  nationale  Aus- 
bildung finden,  aber  das  Aushängeschild  des  öster- 
reichischen Kaiserstaates  muss  unter  allen  Verhältnis- 
sen ein  deutsches  sein  und  für  alle  Zeiten  ein  deutsches 


55 


bleiben.  So,"  sagte  schliesslich  Fürst  Bismarck,  „nun 
habe  ich  wieder  einmal  frei  und  offen  gesprochen, 
und  es  freut  mich,  bei  Ihnen  auch  das  richtige  Ver- 
ständniss  für  meine  politischen  Darlegungen  gefunden 
zu  haben." 

"Aus  den  Tischgesprächen  Bismarcks  veröffent- 
lichte anfangs  Januar  1899  die  „Neue  Freue  Presse" 
folgendes :  „Oesterreich  ist  wie  ein  Haus,  das  aus 
schlechten  Ziegeln  gebaut  ist,  welche  jedoch  durch 
einen  ausgezeichneten  Mörtel  zusammengehalten  wer- 
den —  wie  nennen  Sie  diesen  —  Gement.  Dieser 
Gement  ist  seine  deutsche  Bevölkerung.  Was  immer 
Gutes  in  seinen  barbarischen  Provinzen  gethan  worden, 
ist  durch  die  Germanisirung  seiner  Institutionen  ge- 
schehen. Ueberall  in  Oesterreich  wird  Deutsch  ge* 
sprochen ;  die  Bewohner  der  verschiedenen  slavischen, 
magyarischen  und  lateinischen  Provinzen  müssen  sich 
des  Deutschen  bedienen,  um  sich  mit  einander  zu 
verständigen."  Und  zu  dem  Würzburger  Schriftsteller 
Anton  Memminger  sprach  er  sich  Jahrzehnte  später, 
kurz  nach  seiner  Entlassung,  aus,  er  lege  auf  die 
Erhaltung  bayrischer  Eigenart  und  Selbstständigkeit 
darum  so  viel  Gewicht,  weil  die  Baiem  für  Deutsch- 
land das  natürliche  Verbindungsglied  mit  Oesterreich 
seien,  dessen  Deutsche  echt  bairischen  Stammes  wären. 
Vorläufig  sei  der  Bestand  Oesterreichs  eine  Lebens- 
frage auch  für  Deutschland,  und  dies  vom  Gesichts- 
punkte des  europäischen  Friedens.  „Die  Deutschen 
in  Oesterreich  werden  nicht  zu  Grunde  gehen,  wenn 
sie  sich  nur  selbst  zu  helfen  wissen.  Sie  müssen  es 
machen,  wie  die  Slaven  und  Ungarn,  sie  müssen 
unter  einer  Parole  und  Fahne  marschiren  —  das 
Getrennt-marschiren  und  Vereint-schlagen  ist  aller- 
dings eine  bewährte  Regel,  aber  nur  wenn  man  eine 
einheitliche  Führung,  wie  die  Moltke's,  hat.  Aber  wenn 
gar  die  Ultramontanen  zur  Führung  unter  den  Deut- 
schen sich  drängen,  dann  weiss  ich  im  voraus,  dass 
es  nicht  auf  die  Einigung  der  Deutschen,  sondern 
auf  deren  Zersplitterung  und  Schwächung  abgesehen 
ist;  darauf  geht  ja  die  ganze  ultramontane  Politik 
hinaus:  In  Frankreich  ist  sie  demokratisch,  in  Ita- 
lien republikanisch,  in  Deutschland  „christlich-social" 


56 


oder  wenn's  passt,  social-demokratisch  in  Schwarz, 
in  Oesterreich  feudal-tschechisch ;  sie  wird  sogar  noch 
antisemitisch,  um  sich  hinterrücks  den  Juden  als 
Retter  anzumelden."  Die  Deutschen  in  Oesterreich 
haben  vielleicht  im  Laufe  der  Zeit  etwas  gelernt.  Die 
österreichischen  Adeligen  werden  in  ihrer  grossen 
Mehrheit  überhaupt  nie  mehr  etwas  lernen.  Die  Tsche- 
chen hinwiederum  machen  denselben  Fehler  wie  die 
Deutschen  vor  ihnen,  sie  verlangen  zu  viel,  und  so 
wird  der  Kaiser  sich  von  ihren  ungestümen  Gelüsten 
abwenden,  um  eine  andere  Mehrheit  in  der  Volks- 
vertretung zu  bilden.**  Und  Bismarck  schoss:  „Der 
Kaiser  und  seine  Staatsmänner  werden  nicht  lange 
mit  einer  nicht  deutschen  Mehrheit  hausen  können. 
Gerade  jene  Elemente,  denen  das  Zeug  zur  Staaten- 
bildung abgeht,  werden  in  der  Regel  masslos  frech, 
unverschämt,  *  begehrlich  und  selbstsüchtig,  so  dass 
sie  dann  niedergebeugt  oder  geknickt  werden  müs- 
sen." Ein  sehr  reiches  Material  darüber,  wie  in  Preus- 
sen  systematisch  gegen  Oesterreich  gearbeitet  wurde, 
veröffentlichte  Poschinger  in  seinem  grossen  Werke 
über  Preussens  auswärtige  Politik.  Im  dritten  Bande 
heisst  es  da  unter  anderem  über  das  Verbältniss  von 
Preussen  zu  Oesterreich  folgendermassen : 

In  Preussen,  wo  König  Fridrich  Wilhelm  IV.  die 
Führung  der  auswärtigen  Politik  in  weit  höherem 
Masse  als  seine  Domäne  betrachtete,  als  dies  später 
sein  Bruder  König  Wilhelm  that,  der  sich  vertrauens- 
voll ganz  der  Führung  Bismarck's  hingab,  durch- 
kreuzte der  Monarch  vielfach  die  Politik  seines  Mi- 
nister-Präsidenten, indem  er '  zuweilen  hinter  dem 
Rücken  ManteuffePs  und  gegen  dessen  Willen  Spe- 
cialgesandte an  die  einzelnen  Höfe  sandte,  welche 
durch  ihre  Massnahmen  und  Berichte  vielfach  die 
festen  Linien  der  offiziellen  Politik  durchkreuzten  und 
überdies  noch  das  Ansehen  des  darüber  aufgebrach- 
ten ordentlichen  Gesandten  schwächten.  Von  diesen 
Spezialgesandten,  welche  nach  Wien  beordert  wurden, 
nennen  wir  nur  den  Oberstlieutenant  Edwin  v.  Man- 
teuffel,  den  späteren  General-Feldmarschall  und  Statt- 
halter von  Elsass-Lothringen,  welcher  die  Aufgabe 
hatte,     die    Thätigkeit    des    preußischen    Gesandten 


57 


Grafen  v.  Arnim  in  Wien,  der  eine  gar  zu  augen- 
fällige österreichfreundliche  Politik  befolgte,  zu  kon- 
troliren  und  ihr  vielfach  entgegenzuarbeiten.  Ueber 
seine  Unterredung  mit  dem  damaligen  österreichi- 
schen Minister  des  Auswärtigen,  dem  Grafen  v.  Buol, 
berichtet  Edwin  v.  Manteuffel  unter  dem  8.  Jänner 
1855  u.  A. :  Buol  habe  auf  Preussen  raisonnirt  und 
gesagt,  ich  scheine  den  Kaiser  Franz  Josef  von  Oester- 
reich zu  seinem  eigenen  Minister  machen  zu  wollen. 
Dann  habe  er  gefragt,  wann  ich  ginge,  und  auf  die 
Antwort,  dass  das  vom  Kaiser  abhinge,  habe  er  ge- 
sagt, der  würde  mich  gar  nicht  fortlassen  und  ich 
würde  ewig  bleiben.  Die  Nothwendigkeit  der  Auffor- 
derung an  Preussen,  am  Pariser  Kongresse  theilzu- 
nehmen,  genire  in  Wien,  und  es  müsse  daher  die 
Aufgabe  des  leitenden  preussischen  Ministers  sein, 
durch  die  Presse  das  Nationalgefühl  wegen  des  Igno- 
rirens  Preussens  bei  den  Konferenzen  wachzurufen. 
Er,  Edwin  v.  Manteuffel,  habe  in  Wien  so  viele  In- 
triguen  zu  besiegen,  dass  dabei  seine  Gesundheit  er- 
schüttert wurde.  Das  eine  Jahr  in  der  österreichischen 
Kaiserstadt  müsse  ihm  der  König  von  Preussen  we- 
nigstens als  doppelte  Kriegszeit  anrechnen,  denn  er 
werde  wenigstens  zehn  Jahre  früher  Invalide.  Der 
preussische  Minister-Präsident  und  sein  österreichischer 
Kollege  standen  miteinander  im  intimen  Briefwechsel 
und  Überflossen  von  Freundschaftsbetheuerungen  aller 
Art,  aber  ihre  Agenten  und  Geschäftsträger  wurden 
nicht  müde,  den  betreffenden  Chefs  allerlei  Ungün- 
stiges und  Gehässiges  von  dem  gegenseitigen  Ver- 
halten der  leitenden  Staatsminister  zu  berichten.  Es 
ist  zweifellos,  dass  der  gute  Wille  bei  Otto  v.  Man- 
teuffel, mit  Oesterreich  wohlwollende  Beziehungen 
zu  unterhalten,  schon  aus  dem  Grunde  ein  viel  re- 
gerer war,  als  bei  dem  Grafen  Buol,  weil  man  sich 
vor  der  Militärmacht  Oesterreichs  scheute.  Bezeich- 
nend ist  in  dieser  Beziehung  ein  Schreiben  Manteuffel's 
an  Buol  vom  18.  Deeember  1855,  worin  Ersterer  dem 
Letzteren  mit  voller  Offenheit  seinen  sehnlichen  Wunsch 
vorträgt,  mit  Oesterreich  Hand  in  Hand  zu  gehen.  Es 
heisst  dort  u.  A. :  rEs  bedarf  nur  massiger  Einsicht 
darüber  klar   zu  werden,    dass   in   dem  Verhältnisse 


5« 


vöü  Preussen  zu  Oesterreich  die  Entscheidung  der 
Frage  liegt,  ob  beide  Staaten  geeinigt,  unwiderstehlich 
stark  oder  durch  ihren  Antagonismus  beide  paralysirt 
sein  sollen.  Geleitet  von  dieser  Auffassung,  ist  es 
namentlich  während  der  letzten  noch  jetzt  auf  Europa 
lastenden  Krise  fortwährend  unser  Bestreben  gewesen, 
an  Oesterreich  sowohl  einen  Stützpunkt  zu  finden,  als 
auch  unsererseits  ihm  einen  solchen  zu  gewähren. 
Dies  ist  nicht  immer  gelungen.  Wir  glauben,  dass 
die  Schuld  dieses  Misslingens  nicht  auf  unserer  Seite 
gelegen,  sind  aber  weit  davon  entfernt,  unsere  An^ 
sieht  für  eine  unfehlbare  halten  oder  hierüber  eine 
retrospektive,  unfruchtbare  Diskussion  provociren  zu 
Wollen.  Immerhin  werden  Ew.  Excellenz  darin  mit 
mir  einverstanden  sein,  dass  das  Zusammenhalten 
beider  Staaten  nicht  von  dem  Willen  eines  derselben 
abhängig  ist,  sondern  dass  von  beiden  Seiten  man 
steh  entgegenkommen  muss.  Welches  ist  nun  die 
gegenwärtige  Situation?  Wir  wissen,  dass  man  von 
Wien  aus  geflissentlich  unserer  Betheiligung  an  den 
Wiener  Konferenzen  widerstrebt  hat,  unsere  dahin 
gerichteten  vertraulichen  Mittheilungen  hat  man  den 
Westlichen  Kabineten  als  ein  Aufdrängen  zu  einer 
ihnen  feindlichen  Mediation  denuncirt,  und  in  diesem 
Aligenblick  wird  in  Wien  verhandelt,  jedenfalls  ohne 
uns.  Es  ist  uns  unbekannt,  ob  vielleicht  gegen  uns, 
denn  auch  den  vertraulichsten  Anfragen  unseres  Ge- 
sandten ist  das  unbedingteste  Stillschweigen  entge- 
gengesetzt worden.  Ew.  Excellenz  wollen  sich  -geneig- 
test  selbst  die  Frage  beantworten,  ob  es  unter  diesen 
Umständen  und  bevor  wir  auf  dem  politischen  Gebiete 
klar  sehen,  auch  nur  in  der  Möglichkeit  liegt,  dass 
wir  mit  Enttäuschung  unserer  eigenen  bereiten  Mittel 
au  einer  Stelle  hilfreiche  Hand  leisten,  der  wir  uhser 
volles  Vertrauen  zuwenden,  deren  Tendenzen"  uns 
aber  nicht  nur  unbekannt  gehalten  werden  .  .  .  Ich 
weiss  sehr  wohl,  dass  Ew.  Excellenz  unsere  Verhält- 
nisse mit  klarem  Blicke  überschauen  und  zu  wür- 
digeh  wissen.  Sie  kennen  Se.  Majestät  unseren  König 
und  wissen,  wie  hoch  er  Sie  schätzt,  wie  er  Aber 
Oesterreich  und  sein  Verhällniss  zu  Preussen •  auf- 
richtig und  ohne  Falsch  gesinnt  ist,  dass  ihm  selbst 


59 


Opfer  zu  bringen  —  die  ja  nicht  einmal  verlangt 
werden  —  nicht  schwer  fallen  würde.  Ew.  Excel- 
lenz brauche  ich  _  also  die  Bereitwilligkeit  tatsäch- 
licher Beweise  von  dieser  Gesinnung  nicht  erst  zu 
versichern. 

Intim  war  auch,  wenigstens  officiell,  der  brief- 
liche und  .  persönliche  Verkehr  der  Monarchen  der 
beiden  um  die  Hegemonie  in  Deutschland  rivalisi- 
renden  Reiche;  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  Franz 
Josef  I.  korrespondirten  fleissig  mit  einander.  Am 
.18.  December  1855  überbrachte  der  österreichische 
Gesandte  Graf  Esterhäzy  ein  Schreiben  des  Kaisers 
von  Gestenreich  an  den  König  von  Preussen,  worin 
in  sehr  herzlichen  Worten  die  an  Russland  zu  stel- 
lende Friedensbasis  im  Orientkriege  mitgetheilt  war. 
Das  Antwortschreiben  des  preussischen  Monarchen 
ist  gleichfalls  in  überaus  herzlicher  und  verehrungs- 
voller Form  gehalten,  welche  am  besten  beweist,  wie 
sehr  der  Verfasser  des  Briefes  bestrebt  war,  sich  die 
Freundschaft  und  die  Gunst  des  mächtigen  Beherr- 
schers des  Habsburger  Kaiserstaates  zu  erhalten.  Als 
Stichprobe  seien  daraus  nur  die  nachstehenden  Stellen 
mitgetheilt:  Als  ich  nach  längerer  Zeit  wieder  Ew. 
Majestät  theuere  Schriftzüge  erblickte  und  den  schö- 
nen Ausdruck  alten  Vertrauens  darin  niedergelegt 
fand,  waren  es  zunächst  die  Gefühle  inniger  Freude 
und  aufrichtiger  Dankbarkeit,  welche  mich  erfüllten, 
und  diesen  Ausdruck  zu  geben,  ist  mir  vor  Allem 
Bedürfniss.  Nicht  minder  aber  fühle  ich  mich  ge- 
drängt, Ew.  Majestät  meinen  Dank  durch  die  That 
zu  bewähren  und  das  Vertrauen  zu  rechtfertigen,  von 
welchem  mir  ein  neuer  wichtiger  Beweis  vorliegt .  .  . 
Ew.  Majestät  sprechen  am  Schlüsse  Ihres  Schreibens 
den  Wunsch  aus,  Preussen  wiederum  bei  dem  Frie- 
denswerk betheiligt  und  seinen  ihm  gebührenden 
Einfluss  bei  diesen  wichtigen  Verhandlungen  wieder- 
hergestellt zu  sehen.  Ich  danke  Ew.  Majestät  für 
diesen  Wunsch.  Ich  glaube  mich  meinen  deutschen 
und  meinen  europäischen  Pflichten  niemals  entzogen 
zu  haben  und  gedenke  dies  auch  ferner  nicht  zu 
thun.  Von  den  Verhandlungen  der  Wiener  Konferenz 
habe   ich   mich    nicht   zurückgezogen,    sondern    man 


60 


hat  mich  sogar  ausgeschlossen.  Ich  rechte  darüber 
mit  Niemandem.  Die  von  mir  in  Folge  dessen  einge- 
nommene Stellung  hat  mir  bisher  keine  Nachtheile 
gebracht,  vielmehr  den  Beifall  meines  Landes  und 
des  grössten  Theiles  von  Deutschland  erworben.  Ge- 
schmerzt hat  mich  dabei  nur,  dass  ich  mich  momentan 
von  Ew.  Majestät  Regierung  getrennt  sah.  Ich  werde 
die  Stunde  segnen,  wo  hierin  eine  Aenderung  ein- 
tritt, und  es  wird  mir  zur  freudigen  Genugthuung  ge- 
reichen, von  Ew.  Majestät  Seite  auf  Ihren  Ruf  meinen 
Platz  im  europäischen  Concert  einzunehmen  .  .  .  . 
Finde  ich  auf  diesem  Pfade  Ew.  Majestät,  so  werde 
ich  nicht  nur  mit  grosser  Freudigkeit,  sondern  auch 
mit  grösserer  Kraft  darauf  fortschreiten ;  denn  Preus- 
sen,  Oesterreich  und  Deutschland  im  engen  Vereine 
sind  eine  Macht  ohnegleichen.  Ich  bitte  Gott,  dass  er 
in  Gnaden  ein  solches  Zusammenhalten  gebe!" 

Als  einer  der  eifrigsten  Freunde  Preussens  be- 
währte sich  in  seinen  zahlreichen  vertraulichen  Zu- 
schriften ah  Otto  v.  Manteuffel  der  österreichische 
Finanzminister  Freiherr  v.  Brück,  welcher  bekanntlich 
durch  Selbstmord  geendet  hat.  Immer  wieder  betont 
er  es,  dass  es  seine  grösste  Freude  wäre,  wenn  das 
Verhältniss  zwischen  den  beiden  Grossmächten  ein 
recht  klares  und  ein  recht  gutes  werden  möchte.  Er 
sandte  mehrere  Vertraute  nach  Berlin,  so  z.  B.  den 
österreichischen  Ministerialrath  v.  Brentano,  um  an- 
lässlich wichtiger  Fragen,  wie  z.  B.  der  Münzkon- 
ferenz, sich  der  Zustimmung  und  der  Unterstützung 
Preussens  zu  versichern.  Er  schreibt  einmal  unter 
dem  18.  November  1855,  anscheinend  mit  dem  Brustton 
aufrichtiger  Ueberzeugung :  „Mir  gereicht  es  immer 
zur  grössten  Freude,  wenn  ich  zu  einem  recht  innigen 
Verständniss  der  beiderseitigen  Regierungen  beitragen 
kann.  Dann  geht  Alles,  und  die  Stellung  wird  nach 
allen  Seiten  hin  eine  gebietende."  Grosses  Vertrauen 
brachte  Freiherr  v.  Brück  dem.  nach  Wien  gesandten 
Agenten  Preussens,  einem  gewissen  Lewinstein,  ent- 
gegen, der  zwischen  dem  Königl,  preussischen  Kredit- 
institut und  der  Wiener  Nationalbank  ein  Geldgeschäft 
abschliessen  wollte.  „Ich  nehme  mit  Vergnügen  die 
Bedingungen  an,"  schreibt  er  an  Herrn  v.  Manteuffel, 


61 


„welche  derselbe  mir  kundgab,  und  sobald  es  Ew.  Excel- 
lenz gefällig  sein  wird,  mir  ein  Zeichen  zu  geben,  werde 
ich  unverzüglich  einen  Beamten  der  Bank  mit  den 
nöthigen  Vollmachten  absenden  lassen,  um  den  förm- 
lichen Abschluss  des  Geschäftes  dort  vornehmen  zu 
können."  Auch  dem  anderen  Antrage  Lewinstein's, 
die  österreichischen  Banknoten  im  Grenzverkehr  zum 
Paricourse  bei  Steuerzahlungen  bis  zu  einem  gewissen 
Betrage  annehmem  zu  wollen,  kam  Brück  sehr  sym- 
pathisch entgegen;  er  erkannte  in  dieser  Offerte  der 
preussischen  Regierung  ein  sehr  werthvolles  Zuge- 
ständnisse das,  im  rechten  Augenblicke  angewendet, 
von  heilsamem  Einfluss  zur  Herstellung  der  Geldcir- 
kulation  sein  müsste.  „Beide  Anträge/  so  schliesst 
Freiherr  v.  Brück  seinen  Brief,  „zeugen  von  der 
richtigen  Erkenntniss  der  gegenseitigen  Stellung  und 
Beziehungen.  Freud'  und  Leid  gehen  in  beiden  Staaten 
miteinander  und  was  der  eine  dem  anderen  thut, 
das  thut  er  sich  auch  selber  an.  Dieser  Ausspruch 
mindert  in  keiner  Weise  den  Werth,  den  ich  auf  die 
erfreuliche  Erscheinung  lege,  die  in  beiden  Anträgen 
so  bedeutungsvoll  zu  Tage  tritt."  Als  einer  der  ver- 
bissensten und  konsequentesten  Gegner  Oesterreichs 
zeigte  sich  dagegen  der  überaus  einflussreiche  Gene- 
raladjutant Friedrich  Wilhelms  IV.,  der  General  v» 
Gerlach,  Chef  der  Kamarilla,  der  nicht  müde  wurde, 
sowohl  in  seinen  Briefen  an  den  preussischen  Mini- 
ster-Präsidenten, wie  an  andere  Staatsmänner,  und 
in  seinen  zahlreichen  Promemorias  die  Absichten  der 
österreichischen  Politik  zu  verdächtigen  und  den  Habs- 
burgischen Kaiserstaat  als  den  europäischen  Friedens- 
störer hinzustellen. 

Aus  Anlass  des  Krimkrieges  schrieb  z.  B.  Ger- 
lach dem  Minister  v.  Manteuffel  bei  der  Rücksendung 
der  ihm  anvertrauten  österreichischen  Depeschen : 
„Preussen  muss  sich  m.  E.  sehr  in  Acht  nehmen, 
nicht  zu  weit  mit  Oesterreich  zu  gehen,  um  nicht 
möglicherweise  mit  diesem  die  Unannehmlichkeit  zu 
erleben,  vom  Frankreich  in  der  Billigkeit  und  Nach- 
giebigkeit übertreffen  zu  werden, u  Und  in  einem 
Briefe  vom  30.  März  1856  schimpft  er  auf  Oesterreich 
wie   ein  Fischweib:     „Die   österreichische   Hinterlist 


62 


und  Gemeinheit,"  sagt  er  unter  Anderem,  „ist  sehr 
traurig.  Ich  kann  mir  nur  gar  nicht  denken,  dass 
diese  Freundschaft  mit  England  und  Frankreich  lange 
hält,  da  die  Kollisionen  schon  vorhanden  sind,  mit 
Sardinien  und  Italien  überhaupt,  und  es  auf  der 
Hand  liegt,  dass  auf  allen  verwundbaren  Stellen 
Oesterreich  von  Frankreich  mehr  zu  fürchten  hat 
als  von  Russland.  Halten  Ew.  Excellenz  nur  das  Geld 
fest,  was  für  uns  zur  Kriegsbereitschaft  wichtiger  ist 
als  selbst  Festungen/  An  demselben  Strange  zog 
auch  der  Kabinetsrath  Friedrich  Wilhelms  IV.,  Nie- 
buhr,  welcher  seiner  Wuth  darüber  Ausdruck  gibt, 
dass  anlässlich  der  Neuenburger  Angelegenheit  der 
schon  genannte  Edwin  v.  Manteuflfel  als  Specialge- 
sandter nach  Wien  delegirt  wurde.  In  einem  Briefe 
vom  20.  December  1856  schüttet  er  seine  Galle  mit 
folgenden  Worten  aus:  „In  einem  Moment,  wo  wir 
130.000  Mann  auf  die  Beine  stellen,  scheint  es  mir 
geradezu  unwürdig,  irgendwo  um  Hilfe  zu  bitten.  Es 
scheint  mir  kompromittirend,  irgend  Jemanden  in  den 
Kampf  zu  ziehen  und  dadurch  die  Entscheidung  über 
das  Ende  aus  der  Hand  zu  geben.  Oesterreich  gegen- 
über ist  es  aber  unwürdiger  und  kompromittirender- 
als  irgend  einer  anderen  Macht  gegenüber.  1.  Unwür- 
diger: Oesterreich.  harrt  sehnsüchtig  auf  den  Moment 
in  dem  wir  der  Welt  zeigen,  dass  wir  wirklich  nur 
sine  ^sekundäre  Macht  sind.  Oesterreich  hat  sich  un- 
schöner gegen  uns  benommen  als  irgend  eine  andere 
Macht,  denn  Englands  Roheit  kommt  wahrlich  gegen 
die  österreichischen  Praktiken  nicht  in  Betracht  Oester- 
reich gegenüber  erscheinen  wir  als  Bettler  in  allen 
Fällen,  in  denen  wir  Anderen  gegenüber  als  Bittende 
erscheinen  würden.  Andere  würden  die  Bitte  rein 
abschlagen.  Von  Oesterreich  haben  wir  zu  erwarten, 
dass  die  Erfüllung  an  demüthigende  Bedingungen  ge- 
knüpft wird.  —  2.  Kompromittirender:  a)  Wir  können 
nicht  voraussehen,  welche  katholischen  und  italieni- 
schen Gesichtspunkte  Oesterreich  in  die  Schweizer 
Frage  hineintragen  wird  —  Klöster,  Tessin  u.  s.  w. 
b)  Wir  haben  zu  gewärtigen,  dass  Oesterreich,  wenn  wir 
-es  hineinziehen,  der  Frage  eine  Wendung  geben  wird, 
die   uns    entweder  nöthigt,    uns   plötzlich   von   ihm 


63 


wieder  zu  trennen,  oder  in  einer  Richtung  mitzugeben« 
die  absolut  gegen  unser  Interesse  geht  Frankreich 
würde  allerdings  eine  noch  gefährlichere  Tendenz, 
•die  Mediation,  hineintragen.  Die  ist  aber  so  „klobig", 
-dass  unser  Verhalten  dem  gegenüber  nettement  vor- 
gezeichnet wäre." 

Sehr  boshaft  äussert  sich  über  die  österreichi- 
sche Politik  der  Graf  Brassier  de  St-Simon,  der 
pfeussische  Gesandte  in  Turin,  in  seinen  vielen,  sa- 
tirisch gefärbten  Berichten  an  Manteuffel. 

Unter  dem  16.  August  1857  schreibt  er  unter 
Anderem :  „Wenn  man  in  Wien  noch  nicht  Lust  hat, 
auf  einen  Ausgleich  mit  Piemont  einzugehen,  so  dürfte 
ein  Grund  davon  sein,  dass  Graf  Buol  seine  selbst- 
gebackenen Pasteten  sehr  langsam  verdaut.  Der  Haupt- 
grund scheint  mir  aber  in  der  Hoffnung  zu  liegen, 
die  man  wohl  in  Wien  noch  nährt,  die  Oppositio- 
nellen möchten  bei  Gelegenheit  der  bevorstehenden 
Wahlen  in  Piemont  siegen  und  dem  verhassten  Mi- 
nisterium Cavour  den  Hals  brechen,  worauf  man 
dann  mit  dem  nachfolgenden  ohne  Opfer  der  Eigen* 
liebe  sich  leicht  arrangiren  würde.  Ich  vermuthe,  dass 
man  die  Sache  solange  hinziehen  wird,  bis  die  Frage 
•entschieden  ist.  Wird  sie,  wie  ich  glaube,  nicht  den 
Wünschen  Oesterreichs  gemäss  gelöst,  dann  wird, 
man  doch  zuletzt  in  den  sauren  Apfel  beissen  müs- 
sen." Derselbe  Brassier  de  St.-Simon  berichtet  unter 
dem  10.  October  1857  eine  Aeusserung  des  Grafen 
davoür  dahingehend:  „Die  Oesterreicher  wollen  ab- 
solut eine  imposante  Marine  haben,  aber  sie  ver- 
gessen, dass  die  Mehrzahl  ihrer  Matrosen  Italiener 
sind,  und  dass  diese  keinen  Krieg  gegen  ihre  Lands- 
leute führen  werden."  Und  er  fügt  hinzu:  „Cavour 
ist  kein  Revolutionär,  aber  dass  er  mit  Händen  und 
Füssen  zugreifen  würde,  wenn  Frankreich  ihm  sagte : 
„Komm  und  lass  uns  die  Oesterreicher  aus  Italien 
jagen,"  ja,  dass  er  einen  Theil  von  Savoyen  opfern 
würde,  um  die  Herzogthümer  oder  einen  Theil  de,r 
Lombardei  in  Folge  eines  glücklichen  Krieges  zu  er- 
werben, daran  zweifle  ich  keinen  Augenblick."  Wie 
wenig  der  preussische  Minister-Präsident  Oesterreich 
traute,  erkennt  man  aus  seinem  in  jener  Zeit  an  den 


64 


preussischen  Geschäftsträger  in  Wien,  den  Grafen 
Flemming  gerichteten  Briefe,  worin  die  folgende  Stelle 
vorkommt:  „Das,  was  ich  habe  vermeiden  wollen, 
ist,  dass  es  nicht  den  Anschein  gewinne,  als  sänken 
wir  geröhrt  in  die  Arme  Oesterreichs  und  alles 
Geschehene  sei  begraben  und  vergessen.  Diesen 
Gesichtspunkt  mögen  Ew.  Hochgeboren,  wenn  die 
Gelegenheit  sich  dazu  bietet,  auch  hervorheben,  damit 
die  Sache  doch  für  längere  Zeit  im  Gedächtnisse  bleibt 
und  zur  Vorsicht  mahnt."  Dass  Bismarck  sich  so  heftig 
gegen  die  Krönung  Kaiser  Franz  Josefs  I.  zum  böhmi- 
schen König  aussprach,  finden  wir  sehr  begreiflich» 
Nach  preussischem  Muster  jagt  man  legitime  Könige 
aus  ihrem  Lande  einfach  hinaus,  annektirt  ihr  Land, 
und  macht  daraus  kurzweg  —  Provinz  Hannover» 
Natürlich  ist  da  jede  Krönung  des  preussischen  Königs 
zum  König  von  Hannover  überflüssig.  Und  das  soll 
in  Oesterreich  auch  so  prakticirt  werden?  Als  Cham- 
berlain  Mitte  November  1902  von  England  nach  Süd- 
afrika abreiste,  dem  Schauplatz  seiner  Blutdurst, 
schrieb  „Daily  News"  über  ihn  folgendes:  Das  eng- 
lische Volk  brachte  dem  Chamberlain  solche  Ovationen 
dar,  als  wäre  dieser  Minister  mehr  denn  der  König 
selbst.  Chamberlain  verstand  es  in  der  englischen  Presse 
für  sich  Reklame  zu  machen  und  sparte  dabei  kein 
Geld.  Jeder  glaubt  nun,  Chamberlain  habe  die  gros- 
sten  Verdienste  um  England.  Indessen  endete  der 
Krieg  mit  vollständiger  Verwüstung  Süd-Afrikas,  und 
Milliarden  Volksvermögen  sind  vergeudet.  Verübe 
einen  Diebstahl  von  20  Heller  und  du  bekommst  das 
Zuchthaus.  Vernichte  ein  Volk,  mache  aus  seinem 
Lande  eine  Wüste,  und  du  wirst  fast  wie  ein  König. 
Was  „Daily  News"  über  Chamberlain  schrieb, 
den  die  deutsche  Presse  einen  englischen  Bluthund 
nannte,  dasselbe  kann  man  mitnoch  grösserem  Mass- 
stabe über  Bismarck  anwenden.  Beide  Männer  sind 
einander  sehr  ähnlich. 

VI.  Wie  die  grossdeutsch  arbeitende  Presse  im  deut- 
schen Reiche  Oesterreich  sanieren  will. 

Gewisse  für  den  preussischen  König  arbeitende 
reichsdeutsche  Blätter  geben  der  oesterreichischen  Mo- 


65 


narchie  eine  Gnadenfrist  und  sind  so  gütig  aus  eigenem 
Antriebe  salbungsvolle  Recepte  für  die  Rettung  Oester- 
reichs  kostenlos  in  ihren  Spalten  zu  drucken.  Ein 
derartiges  aus  dem  berüchtigten  Weifenfond  fressendes 
für  den  preussischen  König  arbeitendes  Blatt  Hess 
nun  über  Oesterreich  folgende  Weisheit  in  seinen 
Spalten  in  die  Welt  hinaus.  Wie  kam  es  doch,  dass 
die  Mär  von  dem  bevorstehenden  Zerfalle  Oester- 
reichs  so  viele  Gläubige  finden  konnte?  In  einer  Zeit, 
da  sogar  der  „kranke  Mann"  am  Bosporus  wieder 
mit  günstigeren  Augen  angesehen  wird,  sollte  die 
christliche,  ehrwürdige,  sturmbewährte  Monarchie  der 
Habsburger  dem  Untergange  geweiht  sein?  Wie 
konnten  nur  solche  Gerüchte  entstehen  und  umlaufen? 
Der  Grund  liegt  offenbar  darin,  dass  seit  längerer 
Zeit  das  Ausland  aus  Oesterreich-Ungarn  fast  nur 
von  Zwist  und  Streit  hört.  Der  beständige  innere 
Krieg  wird  als  eine  unheilbare  Krankheit  aufgefasst. 
Wie  der  Kampf  entstand,  wie  er  geführt  wird,  worum 
er  geht,  das  erweckt  nur  geringeres  Interesse.  Unsere 
rasch  lebende  Zeit  hat  keine  Müsse  übrig  für  ewigen 
Streit.  Der  Leser  im  Auslande  überschlägt  bereits 
die  Balkanvölker,  er  ist  daran,  auch  die  Oester- 
reicher  zu  überschlagen.  Einen  verständlichen,  grös- 
seren Zug  fand  er  seit  zwei  Jahrzenten  nur  in  Ungarn, 
er  fand  ihn  nicht  mehr  im  diesseitigen  Oesterreich, 
Hier,  in  der  älteren  und  kultivirteren  Reichshälfte, 
erblickt  er  nur  ein  Chaos  und  sieht  zumal  die 
Deutschen,  die  Begründer  Oesterreichs,  die  allent- 
halben als  leidliche  Staatsbürger  bekannt  sind,  in 
heftigem  Widerstände  gegen  die  Staatsverwaltung, 
Darunter  hat  denn  das  Ansehen  des  Reiches  schwer 
gelitten  und  als  eine  Folge  sind  dann  jene  Gerüchte 
aufgeflattert.  Nun  bildet  aber  Oesterreich-Ungarn  einen 
Haupt-  und  Eckstein  der  europäischen  Politik,  und 
damit  auch  der  Weltpolitik.  Das  Deutsche  Reich, 
Italien,  Russland,  die  Balkanstaaten  sind  durch 
Nachbarschaft,  alle  anderen  Staaten  durch  den  Verkehr 
und  die  Möglichkeit  von  Bündnissen  an  Oesterreich 
inleressirt.  Die  grosse  orientalische  Frage  ruhte  bisher 
unter  russisch-österreichischem  Siegel.  Der  grössere 
Theil    der  Weslslaven    steht   durch    Oesterreich   mit 


66 


der  abendländischen  Kultur  in  Verbindung.  Es  wäre 
daher  vergeblich,  von  Oesterreich-Ungarn  nichts  mehr 
wissen  zu  wollen. 

Nach  dem  Jahre  1866,  wo  Oesterreich  durch 
Bismarck  und  Moltke  aus  dem  Bündniss  der  deutschen 
Staaten  blutig  hinausgeworfen  wurde,  haben  die  po- 
litischen Schlaumeier  Bismarck  und  Andrassy  die 
Rollen  gut  vertheilt.  In  Oesterreich  begann  das  Re- 
gime der  Deutschliberalen,  die  reichlich  mit  Finanz- 
juden ausgestattet  waren.  Diese  Periode  dauerte  12 
Jahre.  Als  es  nun  zur  Okkupation  Bosniens  kommen 
sollte,  stellten  sich  die  Deutschliberalen  dieser  Absicht 
entgegen  und  geriethen  so  in  Konflikt  mit  der  Krone. 
Das  Blatt  fährt  dann  fort.  Es  muss  festgehalten 
werden:  der  Konflikt  in  Oesterreich  war  in  seinem 
Ursprünge  ein  rein  politischer,  aber  kein  nationaler, 
letzteres  ist  er  erst  geworden,  und  zwar  herbeigeführt 
unter  bewusster  Mitwirkung  und  unter  Führung  aller 
Feinde  des  Deutschthums.  Es  wurde  das  Losungswort 
ausgegeben  „mit  den  Deutschen  kann  man  nicht 
regieren".  In  dem  Reiche  Oesterreich-Ungarn  dreht 
sich  nämlich  in  der  Politik  (wie  bei  der  Kaiserreise 
in  Böhmen  im  Juni  1901  sich  klar  zeigte)  der  Streit 
der  Völker  um  die  Person  des  Monarchen  als  der 
weit  überwiegenden  Quelle  der  Macht, 

Am  frühesten  haben  das  die  Magyaren  begriffen 
und  ihr  Verhalten  danach  eingerichtet.  Polen  und 
Tschechen  haben  dann  die  Ungarn  kopiert  und  alle 
drei  in  offenem  oder  stillem  Bunde  haben  die  Deut- 
schen aus  einem  grossen  Theile  jener  Stellung  ver- 
drängt, welche  letztere  einnahmen,  solange  Oesterreich 
bestanden  hat.  Der  Konflikt  der  Krone  mit  der  Ver- 
fassungspartei gab  zuerst  den  Magyaren  die  Gelegen- 
heit, sich  der  Krone  zu  nähern.  Obwohl  zu  Anfang 
heftigere  Gegner  der  Besetzung  Bosniens  als  die  Ver- 
fassungspartei, stellten  die  Magyaren  doch  den  Wider- 
stand allmählich  ein.  Sie  besassen  in  Andrassy  als 
Minister  des  Auswärtigen  den  besten  Vermittler,  und 
Andrassy,  der  seine  leitenden  Standesgenossen  in  die 
oben  erwähnten  Geheimnisse  der  Lage  einweihte, 
wird  ihnen  wohl  auch  eröffnet  haben,  welche  reichen 
Früchte  ihnen    bei  gutem  Verhalten   blühen  könnten 


67 


So  ward  die  Zustimmung  der  ungarischen  Parla- 
mentarier gewonnen.  Von  jener  Zeit  abrückten  die 
Magyaren  in  die  ihnen  anfangs  ganz  ungewohnte 
Stellung  des  erstgeborenen  Sohnes  der  Habsburger 
Monarchie  ein. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Dinge,  dass  Völker 
mit  aristokratischem  Gefüge  für  derartige  Aktionen 
mehr  Verständniss  und  Eignung  besitzen  als  ein 
Stamm  mit  entwickeltem  Bürgerthum,  Bauern  thum, 
Arbeiterthum  und  vielseitig  entfaltetem  Zeitungswesen, 
wo  nur  allzu  oft  eine  Partei  hinter  der  anderen  und 
ein  Pressorgan  hinter  dem  anderen  treibt  und  daher- 
jagt.  In  der  That  waren  es  die  Polen,  die  —  im 
diesseitigen  Oesterreich  als  die  ersten,  die  sich 
öffnende,  glänzende  Konjunktur  erkannten.  Langsam 
folgten  die  Tschechen  nach.  Damit  aber  trat  ein 
ganz  neues  Element  auf  die  Bühne.  Während  näm- 
lich Magyaren  und  Polen  durch  Geschichte  und 
geographische  Lage  eine  gewisse  getrennte  und  zu 
trennende  Einheit  besitzen,  ist  dies  bei  dien  Tschechen 
anders.  Diese  haben  sich,  wie  ihre  alten  Lieder 
sagen,  „über  drei  Ströme  heranziehend B,  im  mittel- 
sten Mitteleuropa  niedergelassen,  und  der  Gang  der 
Geschichte  hat  Deutsche  und  Tschechen  in  grossen 
Theilen  Böhmens,  besonders  aber  in  Mähren  und 
Schlesien,  in  seltsamer  Weise  durcheinander  gewür- 
felt, wobei  die  Deutschen,  als  Angehörige  eines 
älteren  Kulturvolkes,  vorwiegend  die  besitzenden  und 
leitenden  Klassen  bilden.  In  Böhmen  leben  —  nach 
Professor  H.  Wieser  —  37*2  Procent  Deutsche  und 
62*8  Procent  Tschechen;  dagegen  bezahlen  von  der 
Einkommensteuer  die  Tschechen  nur  42*4  Proc,  die 
Deutschen  dagegen  57*6  Procent.  In  Mähren  und 
Schlesien  liegen  die  Verhältnisse  noch  mehr  zu  Gun- 
sten der  Deutschen.  Man  kann  sich  daher  denken, 
welche  unleidlichen  Verhältnisse  entstanden,  als  Graf 
Taaffe  die  Tschechen  aufrief.  Es  war  eine  Art  Revo- 
lution, und  seit  dieser  Zeit  war  der  Kampf  bis  zum 
Ende  für  die  Deutschen  eine  Notwendigkeit.  Die 
Vorherrschaft  der  Magyaren  in  der  östlichen  Reichs- 
hälfte beruht  auf  der  Verfassung.  Auch  mit  den 
Polen  wird  eine  Auseinandersetzung  bei  gegenseitigen! 


68 


guten  Willen  stets  möglich  sein.  Mit  den  Tschechen 
aber,  wie  sie  seit  Taaffe  geworden  sind,  ist  eine 
Verständigung  ausserordentlich  schwer  und  hier  liegt 
offenbar  das  grosse  Hinderniss  für  den  inneren 
Frieden,  dessen  die  Monarchie  auf  das  dringendste 
bedarf.  Nun  geht  das  reichs deutsche  Blatt  zur  Schil- 
derung des  czechoslavischen  Volkes  über.  Die  Ten- 
denz dieses  Artikels  geht  dahin,  das  czechoslavische 
Volk  auf  die  Stufe  der  Hotentoten  herabzudrücken 
und  der  Welt  zu  zeigen,  dass  es  germanisirt  wer- 
den muss. 

Das  Blatt  schreibt:  Die  moderne  Zeit  werthet 
Nationalität  und  Sprache  wesentlich  nach  dem  Mass- 
stabe des  durch  sie  vermittelten  Kulturgehaltes.  Nun 
sind  die  Tschechen  eine  seit  unbekannter  Vorzeit 
mit  Deutschen  gemischte  Bevölkerungsgruppe,  die 
zufällig  noch  eine  slavische  Mundart  spricht,  wie 
die  aus  ähnlicher  Mischung  entstandenen  östlichen 
Preussen  deutsch  reden.  Seit  Karl  dem  Grossen  sind 
die  Tschechen  bald  freundlich,  bald  feindlich  mit 
dem  Deutschen  Reiche  verknüpft.  Sie  standen  in 
dessen  Abhängigkeit.  Ihr  vielbesprochenes  Staatsrecht 
ist  ein  Theil  und  Glied  des  Staatsrechts  des  alten 
Deutschen  Reiches.  Ein  selbständiges  tschechisches 
Staatsrecht  hat  es  in  geschichtlicher  Zeit  nie  gegeben. 
Durch  die  Verbindung  mit  dem  Reiche  der  Deutschen 
wurden  sie  in  den  abendländischen  Kulturkreis  ge- 
zogen. Unter  kräftigen  deutschen  Kaisern  haben  sie 
(wie  in  der  Lechfeldschlacht)  sich  als  waffentüchiig 
und  (wie  unter  Kaiser  Karl  IV.)  als  arbeitstüchtig 
bewährt.  Schlugen  sie  jedoch  eine  deutschfeindliche 
Richtung  ein,  so  war  regelmässig  Blut  und  Sturz 
das  Ende.  Was  hahen  denn  die  Hussitenkriege  den 
Tschechen  Gutes  gebracht  ausser  einer  rühmlichen 
Erwähnung  bei  unpraktischen  deutschen  Dichtern? 
Bezeichnend  ist  auch,  dass  der  unselige  Dreissig- 
jährige  Krieg  1618  bis  1648)  in  Böhmen  begann  und 
in  Böhmen  der  letzte  Schuss  in  diesem  heillosen 
Trauerspiele  abgegeben  wurde.  So  hnben  die  Tschechen 
zur  Zerrüttung  des  alten  Kaiserreiches  mehr  beige- 
tragen, als  allgemein  angenommen  wird.  Das  in 
Europas  Mitte  gelegene,  bergumschlossene,  von   der. 


69 


Natur  reich  ausgestattete  Böhmen  glich  stets  einer 
starken  Festung,  aber  einer  Festung  mit  zweierlei 
Besatzung.  Hätten  sich  die  Tschechen,  wie  Karl  IV. 
wollte,  mit  den  Deutschen  einig  gehalten,  so  wäre 
der  Gang  der  Geschichte  ein  anderer  und  Böhmen 
könnte  heute  an  Mitteleuropas  Spitze  stehen.*  Eine 
glänzende  Entwicklung  ward  durch  Leidenschaftlich- 
keit in  den  Wind  geschlagen!  Und  ist  es  denn,  im 
Grunde  genommen,  heute  anders?  Zwar  die  grossen 
Tage  Karls  IV.  und  mit  ihnen  die  Aussichten  auf 
eine  Weltstellung  Böhmens  sind  dahin.  Verlorene 
Gelegenheiten  kehren  niemals  wieder.  Böhmen,  Oester- 
reich,  Mitteleuropa  erscheinen  jetzt  klein  gegenüber 
gewaltigen  Weltmächten.  Aber  soll  denn  auch  ein 
bescheideneres  Glück  in  der  Heimat,  soll  denn  auch 
der  goldene  Frieden  im  Reiche  für  immer  geopfert 
werden? 

Die  Tschechen  haben  sich  im  Herzen  der  mittel- 
europäischen Lande  niedergesetzt,  mitten  unter  deut- 
schem Volksthum.  Vor  ihnen  lag  nun  die  Wahl, 
entweder  sich  mit  den  deutschen  Stämmen  zu  ver- 
einigen, oder  aber,  wie  sie  selbst  sagen,  als  „Pfahl 
im  deutschen  Fleische**  in  beständige  bewusste  Feind- 
schaft zu  ihren  Nachbarn  zu  treten.  Wiederholt 
schienen  sie  in  der  neueren  Zeit  zu  ersterem  ent- 
schlossen. Aber  Palack^  und  Rieger  gaben  die  be- 
zeichnende Losung  aus:  „Ergeben  wir  uns  nicht l" 
Und  so  ward  denn  der  Krieg  beschlossen,  eine  Wahl, 
durch  die  sich  das  Tschechenthum  zu  ewiger  Tan- 
talusarbeit  verurtheilte.  Nicht  als  ob  seine  Leistungen 
geringe  gewesen!  Der  kleine  Stamm  ohne  Adel,  an- 
fänglich auch  ohne  Industrie  und  ohne  Reichthum, 
hat  wacker  gestrebt  und  geschafft,  aber  leider  sind 
alle  seine  Bemühungen  zur  Unfruchtbarkeit  verurtheilt, 
weil  sie  gegen  die  Geographie,  Geschichte  und  Kultur, 
gegen  die  Lagerung  der  europäischen  Völker,  kurz, 
gegen  die  Natur  der  Dinge  gerichtet  sind.  Wirkliche, 
dauernde,  innere  Kraft  erlangt  ein  Stamm  in  der 
Gegenwart  nur  durch  originale  Kulturarbeit.  Welches 
originale  Gut  haben  nun  die  Tschechen  dem  abend- 
ländischen Kulturkreise  zugebracht?  Die  Antwort 
wird   negativ   ausfallen.    Das   ist    nicht   ihre   Schuld, 


70 


wohl  aber  il>r  Verhäggniss.  Ein  kleiner  Stamm  fcann 
im  Vol^erringen  des  20.  Jahrhunderts  keine  eigene 
Kultur  entwickeln,  und  so  ist  denn  auch  die  tsche- 
chische Kultur  im  wesentlichen  deutsche  Kultur,  die 
ihnen  durch  deutsche  Vermittlung,  im  deutschen  Ger 
wände  und  mit  deutsch  verarbeitetem  Inhalte  zuge- 
kommen ist.  Sieht  man  von  der  Sprache  ab,  so  sind 
die  Tschechen  weit  mehr  deutsch  als  slavisch.  Russen 
und  Polen  bezeichnen  sie  denn  auch  als  die  „Deut- 
schen unter  den  Slaven".  Deutsch  sind  ihre  Vorzüge : 
der  Fleiss,  die  Liebe  zur  Arbeit,  die  Ausdauer,  der 
Familiensinn.  Deutsch  sind  ihre  Fehler:  die  Theorie 
und  Pedanterie,  die  Verbissenheit,  der  Mangel  grös- 
seren {Jeberblicks  und  die  Unfähigkeit  zur  Trennung 
des  Wesentlichen  vom  Unwesentlichen.  Weil  sie  das 
Deutschthum  schon  mitten  in  ihrem  Leibe  fühlen, 
wehren  sie  sich  so  erbittert  dagegen.  Im  Grunde  ist 
es  ein  Kampf  gegen  sich  selbst,  gegen  ihr  eigenes 
Fleisch  und  Blut,  gegen  Friede,  Gedeihen,  Zukunft. 
Sie  wollen  nicht  deutsch  werden,  da  sie  schon  deutsch 
sind,  nur  getrennt  vom  Deutschthum  durch  die 
Sprache.  Die  Sprache,  der  einzige  Ueberrest  ihrer 
Nationalität,  ist  daher  das  „Um  und  Auf"  der  Führer 
geworden,  welche  den  Frieden  nicht  brauchen  können. 
Auf  einen  Verfassungsparagraphen  (§  19)  ge-» 
stützt,  welcher  zu  Recht  besteht,  aber  im  wirklichen 
Leben  Oesterreichs  (in  Standesverhältnissen,  Steuer- 
verhältnissen etc.)  hundertfach  durchbrochen  ist, 
verlangen  die  Tschechen  die  Gleichstellung  ihrer  vor 
einigen  Jahrzehnten  erst  zur  Brauchbarkeit  zurecht- 
gestutzten Mundart  mit  einer  grossen,  weitverbreiteten 
Kultursprache.  Nicht  der  tschechische  Stamm  ist 
minderwerthig,  wohl  aber  die  tschechische  Sprache» 
Was  bietet  die  tschechische  Sprache,  die  noch  dazu 
sehr  schwierig  ist,  dem  Erlernenden  ?  Eine  übersetzte 
Literatur  und  ein  Verständigungsmittel  unter  einigen 
Millionen  Menschen,  von  welchen  eine  grosse  Zahl, 
und  jedenfalls  Alle,  mit  denen  eine  Verständigung 
von  Werth  ist,  um  eigenen  Fortkommens  halber 
schon  deutsch  verstehen.  Nicht  einmal  zu  den  an- 
deren slavischen  Mundarten  gewährt  das  Tschechische 
den   Zugang;    das   Russische   und   die   südslavischen 


71 


Mundarten  müssen  vom  Tschechen  erst  erlernt  wer- 
den, nur  mit  den  Polen  kann  er  sich  allenfalls  ver- 
ständigen. Wollen  die  Tschechen  die  russische  Sprache 
erlernen,  so  kann  dies  im  Hinblick  auf  Handel  und 
Verkehr  den  Deutschen  nur  erwünscht  sein,  aber  der 
Deutsche  gewinnt  das  Russische  nicht  durch  Erlernen 
des  Tschechischen,  während  der  Tscheche  das  Deutsche 
in  unendlich  höherem  Grade  braucht,  als  alle  s la- 
vischen Mundarten  zusammengenommen.  Da  der 
Tscheche  seinen  Wohnsitz  mitten  unter  uns  gewählt 
hat,  so  ist  —  ganz  ohne  Zuthun  der  Deutschen  — 
seine  Verkehrs-  und  Bildungssprache  das  Deutsche 
geworden.  „Stujnme  Hunde  wollt  ihr  doch  nicht 
sein,a  sagte  einst  Erzbischof  Schwarzenberg  zornig 
genug  zu  tschechischen  Alumnen,  welche  ungern 
Deutsch  lernten !  Dass  die  deutsche  Sprache  zugleich 
die  Dienst-  und  Verkehrssprache  in  Oesterreich  ist, 
kann  ihren  Werh  für  die  Tschechen  doch  nur  er- 
höhen. Alle  diese  Dinge  liegen  einfach;  der  auswär- 
tige Beobachter  kann  daher  den  ewigen  Streit  in 
Böhmen  kaum  verstehen.  Die  Lösung  des  Räthsels 
liegt  jedoch  darin,  dass  die  Tschechen  das  ungarische 
Beispiel  yor  Augen  haben,  wenn  auch  freilich,  wie 
bereits  dargethan,  Geschichte  und  Verfassung  das 
Analogon  vollständig  ausschliessen ;  sowie  darin, 
dass  die  Sprachenagitation  den  tschechischen  Führern 
nie  geschadet  hat,  vielmehr  das  Postament  ihrer 
Stellung  und  ihres  Eraporkommens  zu  Einfluss, 
Wohlstand,  Macht  und  Würden  bildet. 

Dann  geht,  das  Blatt  auf  die  Charakteristik  der 
Deutschen  über.  Den  Deutschen  in  Oesterreich  ist 
es  lange  Zeit  hindurch  zu  gut  gegangen.  Mit  dem 
Scheine  des  erstgeborenen  Sohnes  in  der  Tasche, 
waren  sie  eingeschlummert.  Sie  glaubten,  die  Krone 
müsste  die  Sorge  für  die  Deutschen  übernehmen, 
und  als  dies  infolge  des  Zerwürfnisses  von  1878 
sich  änderte,  vermochten  sie  sich  nur  schwer  und 
langsam  in  die  neue  Lage  zu  finden.  Jetzt  aber  be- 
ginnen sie  zu  begreifen.  Nur  das  Erworbene  ist 
unser!  Und  zum  Festhalten  des  Ererbten  und  zu 
neuem  Erwerben  bedarf  es  steter  Thätigkeit,  Kraft 
und   Opfermuth.    Hätte   die  Regierung   nach  Nieder- 


72 


zwingung  der  Deutschen  rechtzeitig  eingelenkt,  so 
konnte  die  Sammlung  noch  im  Zeichen  des  Staates 
und  seiner  Bedürfnisse  erfolgen.  Da  das  nicht  ge- 
schah, erfolgt  sie  unter  dem  Zeichen  der  Nationalität. 
Magyaren  und  Tschechen  haben  dabei  das  Vorbild 
geliefert.  So  haben  denn  auch  die  Deutschen  die 
lange  festgehaltene  Sorge  um  den  Staat  zurückgestellt 
und  die  nationale  Fahne  entfaltet.  Daraus  folgt  die 
Zusammengehörigkeit  aller  Deutschen. 

Die  deutschen  Radikalen,  die  vielgehassten  All- 
deutschen, sind  noch  lange  keine  Unabhängigkeits- 
partei !  Gegen  den  Vorwurf,  dass  sie  über  die  Grenze 
schielen,  haben  sie  sich  ernstlich  verwahrt.  Sie  sind 
Kinder  des  Systems  Taafife,  von  diesem  künstlich 
grossgezogen;  sie  werden  gewaltig  wachsen,  wenn 
jemals  dies  System  eine  Wiederholung  fände,  und 
sie  werden  ihre  Zündkraft  einbüssen,  wenn  die 
Deutschen  in  Oesterreich  wieder  die  ihnen  gebührende 
Stellung  erlangt  haben  werden.  Aber  die  deutschen 
Radikalen  sind  nur  der  Vortrab  der  grossen,  in 
Bildung  begriffenen  Armee  der  Deutschen  in  Oester- 
reich. Der  nationale  Geist  ist  in  stetem  Wachsen. 
Beweis  dafür  jenes  Moment,  das  im  neuzeitlichen 
Leben  als  Masstab  und  Machtmittel  am  schwersten 
in  die  Wagschale  fällt:  die  Wahlen. 

Durch  die  Bedrückung  der  Deutschen  hervorge- 
rufen, tritt  zum  erstenmale  in  Oesterreich  im  Jahre 
1885  eine  Deutschnationale  Partei  auf  den  Plan.  Ihre 
Zahl  ist  23.  Bei  den  Wahlen  von  1891  gelingt  es 
noch  einmal,  die  Nationalen  auf  19  zurückzudrängen, 
wogegen  an  ihrer  Seite  auch  schon  zwei  Deutsch- 
Radikale  auftauchen.  Aber  schon  im  Jahre  1897  er- 
folgt ein  Anwachsen  der  Nationalen  auf  42  und  der 
Radikalen  auf  5,  und  in  1901,  nach  den  Sprachen- 
verordnungen, schwellen  die  Deutsch-Nationalen  auf 
öl  und  die  Deutsch-Radikalen  auf  21  an.  Hier  hat 
man  klar  das  Vordringen  des  deutsch-nationalen  Ge- 
dankens. Er  hat  nicht  nur  den  blasseren  Liberalen, 
sondern  auch  den  Ghristlich-Socialen,  und  sogar  — 
zum  erstenmale  auf  deutschem  nicht  bloss,  sondern 
auf  mitteleuropäischem  Boden  —  auch  den  Social- 
demokraten    Mandate    abgerungen.     Hier    sieht    man 


7a 


deutlich,  was  geschehen  wird,  wenn  die  Kämpfe  gegen 
die  Deutschen  eine  Fortsetzung  finden  sollten.  Weder 
Ultramontanismus  noch  Socialismus  werden  dann  ein 
wirksames  Schutzmittel  sein  gegen  den  national-deut- 
schen Gedanken  in  jener  schärferen  Ausprägung,  wie 
«r  bei  Magyaren  und  Tschechen  längst  vorherrscht. 
Nachdem  das  Blatt  die  kämpfenden  Parteien  einan- 
der gegenüber  gestellt  hat,  wobei  Licht  und  Schatten 
nach  Massgabe  des  reichsdeutschen  Egoismus  vertheilt 
wurde,  geht  es  nun  zum  Beweise  über,  dass  die  Deut- 
schen Oesterreichs  erstgeborene  Söhne  sind.  Das  Blatt 
schreibt :  Das  Hauptziel  bleibt  immer  der  innere  Frie- 
den, dieser  aber  wird  unter  den  gegenwärtigen  Ver- 
hältnissen nicht  zu  schaffen  sein,  ohne  eine  gewisse 
Scheidung  der  disparaten  Theile.  Ein  idealdenkender 
Patriot  (Fischhof)  hat  schon  vor  Jahrzehnten  (1868) 
diesen  Weg  gezeigt,  welcher  durch  das  falsch  geprägte 
Schlagwort  von  der  „Theilung  Böhmens"  nicht  ver- 
rammelt werden  darf.  Zusammenschmieden  des  Un- 
vereinbaren könnte  nur  durch  Aufbieten  höchster 
Gewalt  erfolgen,  allein  die  Verbindung  wäre  rein 
mechanisch  und  die  innere  Feindschaft  bliebe :  Ab- 
grenzung jedoch  und  gesonderte  Organisation  führen 
zum  Frieden  und  kann  eine  allmähliche  Vereinigung 
vorbereiten.  Die  letztere  nur  bringt  das  Entscheidende  : 
den  Schutz  der  Minderheit,  welchem  Stamme  sie  auch 
angehören.  Das  Kuriensystem  hat  daher  in  Oesterreich 
eine  grosse  Aufgabe  zu  erfüllen.  Auf  dem  vulkanischen 
Boden  Böhmens  hat  es  sich,  im  Landesschulrath  und 
Landeskulturrath,  schon  bewährt.  Die  vorausgesagten 
ungünstigen  Folgen  für  den  Staat  sind  nicht  einge- 
treten. Die  getrennte  Konstituirung  arbeitet  einfach, 
wohlfeil  und  zweckentsprechend.  Wo  früher  bestän- 
diger Kampf  herrschte,  da  ist  nun  Friede,  aus  wel- 
chem alles  Gute  hervorspriesst.  Wer  dauernden  Frieden 
will,  muss  für  die  Kurien  eintreten.  Auch  die  Kurien, 
das  ist  selbstverständlich,  können  der  Mitwirkung  der 
Behörden  nicht  entbehren.  Es  haben  sich  „Interes- 
senten des  Unfriedens"  herausgebildet,  die  durch 
mildes  Zureden  nicht  überzeugt,  durch  Zugeständnisse 
nur  immer  gieriger  gemacht  werden.  Hier  hii't  nur 
die  geschaffene  Thatsache.  Schon  zu  ihrer  Schaffung 


74 


ist  ein  Eingreifen  der  Regierung  nöthig ;  nur  sie  ist 
befähigt  und  verpflichtet,  den  todten  Punkt  des  Partei* 
kampfes  zu  überwinden.  Dahin  gehört  ferner  die  Sorge 
für  das  regelmässige  Arbeiten  der  Kurien  unter  dem 
Schutze  des  öffentlichen  Friedens.  Ist  jedoch  diese 
Voraussetzung  erfüllt,  so  liegt  der  ungeheure  Vortheil 
darin,  dass  dann  diese  Mitwirkung  der  Regierung 
nicht  mehr  die  Entscheidung  für  den  einen  oder 
anderen  Theil  in  sich  schliesst,  sondern  mehr  formal 
ist  und  daher  rein  objektiv  sein  kann.  So  werden  die 
Krone  wie  das  Ministerium  von  einer  allezeit  schwer 
zu  tragenden,  in  vielen  Fällen  geradezu  furchtbaren 
Verantwortlichkeit  befreit,  und  für  die  streitenden 
Theile  wird  das  Dilemma  aufhören,  dass  immer  nur 
der  im  Kampf  Unterlegene  friedenswillig  ist,  der  augen- 
blicklich Stärkere  jedoch  den  Krieg  fortsetzt,  weil 
er  den  Gegner  gänzlich  und  für  immer  zu  beugen  hofft. 
Wird  nun  schon  durch  das  Curiensystem  ein 
Schritt  zum  öffentlichen  Frieden  in  Oesterreich  ge- 
macht, so  gilt  es,  eine  Hauptquelle  des  Unheils  zu 
verstopfen :  die  Unvollständigkeit  und  Undeutlichkeit 
der  Gesetze  vom  J.  1867,  welche  das  Verhältniss  der 
beiden  Reichshälften  regeln.  Sie  bieten  nur  Umrisse ; . 
die  Ausführung  ist  dann  Verhandlungen  vorbehalten, 
deren  Ergebniss  nur  für  zehn  Jahre  Geltung  hat.  Da-: 
durch  kommt  in  jedem  zehnten  Jahre  über  die  Habs- 
burger-Monarchie eine  Art  Umwälzung  widrigster  Art. 
Die  politisch  besser  geleitete  östliche  Reichshälfte 
wusste  sich  bei  den  Verhandlungen  bisher  stets  neue 
und  grössere  Vortheile  zu  sichern.  Die  in  sich  un- 
einige westliche  Reichshälfte  kam  stark  zu  kurz  und 
empfand  es  sehr  bitter,  sollte  aber,  wie  es  die  Ver- 
fassung heischt,  ihre  Zustimmung  zu  den  ungünstigen 
Verträgen  abgeben.  Das  jeweilige  österreichische  Mi- 
nisterium hatte  den  Auftrag,  die  parlamentarische 
Genehmigung  zu  beschaffen.  Mit  Ueberredung  und 
Ueberzeugung  der  Widerstrebenden  ging  das  nicht. 
Die  Gegnerschaft  gegen  die  Verträge  kam  naturge- 
mäss  überwiegend  von  den  Deutschen,  welche  etwa, 
drei  Viertel  aller  Steuern  der  Monarchie  aufbringen 
und  sich  überdies,  trotz  allem  Geschehenen,  als  Hüter 
und   Bewahrer   der   Rechte  und  des  Vermögens  der 


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diesseitigen  Reichshälfte  fühlen.  Die  Deutschen  waren 
also  für  einen  ungünstigen  Ausgleich  nicht  zu  haben. 
Um  nun  dennoch  der  Form  zu  genügen  —  der  Sinn 
ist  leider  schon  entflohen !  —  galt  es  für  das  Mini- 
sterium, eine  Mehrheit,  zumeist  aus  den  slawischen 
Abgeordneten,  zu  schaffen,  die  Slaven  aber  wollen 
theuer  bezahlt  sein.  Sie  kümmern  sich  den  Teufel 
um  den  Staat  oder  das  Reich;  Sorge  und  Ziel  ist 
nur  die  künstliche  Auffütterung  ihrer  kleinen  Nati- 
onalitäten. So  ward  seit  Taaffe  der  Stimmenkauf  zu 
einer,  alle  zehn  Jahre  wiederkehrenden  Hauptaufgabe 
der  österreichischen  Minister.  Die  vielgenannten  Spra- 
chenverordnungen von  1897  zugunsten  Einführung 
der  tschechischen  Mundart  in  den  amtlichen  Verkehr 
Böhmens  sollten  der  Kaufpreis  sein  für  Bewilligung 
des  Ausgleichs  durch  die  Stimmen  der  Tschechen. 
Gegen  diesen  Schacher  richtete  sich  die  Obstruktion 
der  Deutscheu.  Sie  war  gleichsam  eine  friedliche, 
unblutige  Revolution  der  Deutschen.  Seitdem  wurden 
die  Sprachenverordnungen  zurückgezogen.  Aber  damit 
waren  die  tschechischen  Stimmen  verloren  und  mit 
ihnen  gerieth  der  Ausgleich  mit  Ungarn  ins  Schwanken» 
An  dieser  Stelle  befinden  wir  uns  noch  heute» 
Man  erkennt  nun  die  wahre  crux  Austriae!  Man 
sieht  auf  der  Bühne  den  politisch  geschulten  und 
zugleich  drohenden  Magyaren  mit  dem  Scheine  in 
der  Hand;  den  listigen  Slaven,  welcher  zuerst,  um 
die  Verwirrung  zu  steigern,  mit  allen  Anderen  gegen 
den  Ausgleich  donnert,  dann  aber  bei  Nacht  —  der 
Tschechenführer  Kaizl  hat  schon  seinen  Namen  unter 
den  schlechten  Ausgleich  gesetzt  —  in  das  ministe- 
rielle Kämmerlein  schleicht  und  mit  einem  Bündel 
von  Zugeständnissen  triumphirend  hervorkommt  ; 
endlich  den  Deutschen,  abstrakt  und  ungeschickt  in 
der  Politik,  mit  guten  Absichten,  aber  fern  vom  Ziel, 
er  hat,  nach  seiner  Meinung,  in  den  Zeitungen  und 
im  Wirthshaus  immer  „Recht",  aber  die  Anderen 
haben  seine  Rechte  und  sein  Geld . . . 

.  Wird  es  im  Jahre  1901  wieder  so  werden  ?  Fast 
hat  es  den  Anschein.  Wie  sehr  sich  auch  die  Stellung 
de$  Ministeriums  Koerber  befestigt  haben  mag,  der 
Ausgleich  mit  Ungarn  wird  ihm  nicht  geschenkt  sein. 


16 


Mit  welcher  Mehrheit  ?  Die  Tschechen  thun  umsonst 
dem  Staate  nichts  zuliebe;  die  beiden  „liberalen 
Völker",  von  denen  manche  Wiener  Blätter  formel- 
mässig  reden,  werden  sich  nicht  versöhnen,  in  dieser 
Hinsicht  sind  Kaiserreise,  tschechische  Technik  u.  s.  w. 
vergeblich  aufgewendet.  Es  geht  den  Tschechen  um 
höheren  Preis,  sie  sehen  schon  den  Schatten  eines 
slavischen  „Ungarn"  heraufsteigen.  Soll  der  Wagen 
des  Reichs  auf  dieser  Bahn  weiterrollen  ?  Wir  sagen: 
*er  darf  es  nicht".  Und  daraus  folgt,  dass  die  Deut- 
schen den  Ausgleich  von  1901  machen  und  bewilligen 
müssen.  Lässt  sich  an  dem  Abschlüsse  der  beiden 
Regierungen  noch  etwas  bessern,  so  möge  das  mit 
allem  Nachdruck  versucht  werden.  Vielleicht  sieht  man 
in  Ungarn  im  Hinblick  auf  die  Weltverhältnisse  doch 
ein,  dass  Vortheile,  im  kleinen  erreicht,  zuweilen  recht 
theuer  im  grossen  sein  können.  Wir  hegen  jedoch 
wenig  Vertrauen  in  dieser  Hinsicht.  Aber  die  Erklä- 
rung werde  von  den  Deutschen  in  Oesterreich  feier- 
lich abgegeben,  dass  es  der  letzte  Ausgleich  sei,  der 
auf  solche  Art  abgeschlossen  wird,  und  sofort  möge 
an  die  Reform  der  Gesetze  von  1867  geschritten  wer* 
den.  Ein  solches  Vorgehen  ihrer  Abgeordneten  werden 
angesichts  der  leider  bestehenden  Verhältnisse  die 
Wähler  sehr  wohl  begreifen.  Dem  Tschechen,  dem 
Gegner,  den  Wunsch  erfüllen,  galt  noch  nie  für  richtig, 
und  ihm  das  Geschäft  zu  machen,  ist  doch  keine 
Klugheit!  Möge  derjenige,  der  Besseres  weiss,  sich 
melden !  Für  ein  gutmüthiges  Vertrauen  auf  die  Wir- 
kung schöner  Reden  und  parlamentarischer  Sensation 
sind  Zeit  und  Verhältnisse  zu  ernst! 

Von  dem  Augenblicke  jedoch,  wo  unsere  Abge- 
ordneten (wenn  auch  gegen  ganz  bestimmte  Zusagen 
im  Sinne  der  Verbesserung  der  Gesetze  von  1867) 
abschliessen,  wird  alsbald  die  Stellung  der  Deutschön 
in  Oesterreich  eine  geänderte  sein.  Die  auf  der  Kaiser* 
reise  in  Böhmen  wahrgenommenen  leisen  Spuren 
wiederkehrenden  Vertrauens  zwischen  der  Krone  und 
dem  deutschen  Stamme  in  Oesterreich  werden  auf- 
keimen und  sich  befestigen.  Dem  Deutschen  wird 
der  Weg  geöffnet  sein,  um  wieder  die  Stellung  des 
Erstgeborenen  im  diesseitigen  Oesterreich  zu  erobern. 


77 


In  der  Wiederherstellung  dieses  so  natürlichen  Ver- 
hältnisses würden  wir,  dem  Vorausgeschickten  ent- 
sprechend, den  grössten  Erfolg  erblicken,  den  Schlüssel- 
punkt zu  der  schon  fast  verlorenen  Stellung  der  Deut- 
schen in  Oesterreich.  Was  Machiavelli  sagt,  dass  Reiche 
nur  durch  die  gleichen  Mittel  erhalten  werden,  durch 
die  sie  einst  begründet  wurden,  gilt  auch  für  Oester- 
reich. Die  deutsche  Führung  ist  dadurch  ausgespro- 
chen. Jener  Satz  gilt  aber  nicht  nur  für  das  Reich,, 
sondern  auch  für  die  Deutschen  in  Oesterreich.  An 
der  Seite  und  unter  Leitung  der  Babenberger  und 
Habsburger  haben  sie  Oesterreich  begründet.  Damals 
wie  heute  braucht  in  diesen  vielumstrittenen  Landen 
der  Ostmark  die  konstitutionelle  Idee  eine  Ergänzung 
durch  die  altgermanische  Idee  der  Gefolgschaft. 

Zum  Schlüsse  sagt  das  Blatt,  wenn  Oesterreich 
so  geordnet  wird,  dass  die  Deutschen  die  Führung 
inne  haben,  dann  ist  die  Angliederung  der  Ostmark 
an  das  Deutsche  Reich  nur  eine  Frage  der  Zeit.  Man 
sieht  also,  wie  manche  reichsdeutsche  Blätter  für  die 
hohenzollerische  Politik  mit  Dampfdruck  arbeiten. 

VII.  Die  Alldeutschen  in  Oesterreich. 

Wenn  im  Deutschen  Reich  unter  dem  Schutze  des 
berliner  Hofes  die  Bestrebungen  nach  einem  Gross- 
Deutschland  solche  Ausdehnung  gewonnen  haben, 
wie  wir  sie  hier  erkannt,  können  wir  uns  darüber 
schliesslich  nicht  wundern.  Eine  Nation,  welche  das 
Glück  hatte,  Siege  zu  erringen,  ergibt  sich  dann 
diesem  Sieges-Rausche,  und  sind  die  Mittel  dazu 
vorhanden,  dann  kann  ja  zugegriffen  werden.  Die 
Alldeutschen  im  Deutschen  Reiche  haben  zu  ihren 
Bestrebungen  um  so  grösseren  Muth,  als  sie  ja  von 
ihren  Gesinnungsbrüdern  in  der  „Ostmark",  also  in 
Oesterreich  nach  Kräften  unterstützt  werden.  Ja  man 
muss  gestehen,  dass  die  Alldeutschen  Oesterreichs 
die  Gesinnungsgenossen  des  Deutschen  Reiches  auf 
diesem  Gebiete  zu  übertreffen  bestrebt  sind.  Man 
kann  behaupten,  dass  die  Alldeutschen  Oesterreichs 
preussischer  gesinnt  sind  als  die  genanhten  Unter- 
thanen    des    preussischen    Königs    selbst.    Die    All- 


78 


deutschen  in  Oesterreich  können  wir  in  mehrere 
Gruppen  vertheilen  Man  findet  sie  im  Abgeordneten- 
häUse,  in  den  Staatsämtern,  an  den  Universitäten,  in 
den  Bierstuben,  Redaktionen,  Volksversammlungen, 
kurz,  die  alldeutsche  Propaganda  in  Oesterreich  hat 
ihre  Organe  in  allen  Schichten  desjenigen  Thelles 
der  deutschen  Bevölkerung,  welche  dem  Herzen  und 
Sinne  nach  dem  preussischen  Adler  zugethan  ist. 
Wir  wollen  nur  einen  Ueberblick  machen,  damit 
wir  erkennen,  bis  wohin  der  alldeutsche  Gedanke  in 
Oesterreich  vorgedrungen  ist.  Alldeutsche  Anwand- 
lungen haben  die  Führer  der  alten  deutsch-liberalfen 
Partei  öfters  gehabt.  Beim  50jähr.  Jubiläum  der 
deutschen  Lese-  und  Redehalle  der  deutschen  Stu- 
denten in  Prag  sprach  Ende  November  1898  Dr. 
Schücker  unter  anderem  Folgendes :  „Man  sucht  heule 
in  Oesterreich  an  dem  Ruhme  des  deutschen  Volkes 
zu  mäkeln,  man  sucht  den  Angehörigen  des  deutschen 
Volkes  ihre  erbberechtigte  Stellung  in  diesem  Reiche 
zu  schmälern;  man  versucht  es,  unsere  alter worbeiien 
Rechte  und  den  Anspruch,  den  wir  uns  dadurch 
erworben  haben,  dass  wir  dieses  Reich  gross  und 
mächtig  geschaffen  haben,  zu  unterdrucken,  aber  die 
Zeit,  die  so  schwer  über  uns  gekommen  ist,  hat  auch 
ganze  Männer  gefunden,  die  kein  Opfer  scheuen  und 
bereit  sind,  unentwegt  für  die  Rechte  des  Volkes  zu 
kämpfen  und  jede  Verkürzung  der  Volksrechte  hintan- 
zuhalten. (Stürmische  Heilrufe.)  Man  wagt  es  dem 
deutschen  Volke  seine  Berechtigung  zu  schmälern, 
zu  einer  Zeit,  die  für  einen  solchen  Anschlag  am 
allerwenigsten  geeignet  ist  wo  das  mächtige  Deutsche 
Reich  seine  Kräfte  entwickelt  und  über  den  ganzen 
Weltball  ausstreckt.  Wir  sind  stolz  darauf,  Söhne- 
Angehörige  eines  so  grossen  Volksstammes  zu  sein 
und  wenn  uns  Eines  in  dem  schweren  Kampfe  kräftigt 
und  stählt,  so  ist  es  das  Gefühl  der  Zusammen- 
gehörigkeit mit  unseren  deutschen  Brüdern.  (Stür- 
mische Heilrufe,  lebhafter  Beifall.)  Ich  freue  mich, 
dass  so  viele  Stammesgenossen  aus  dem  Deutschen 
Reiche  hieher  gekommen  sind  und  ich  bitte  Sie, 
wenn  Sie  in  die  Heimat  zurückkommen,  dort  kund- 
zrithun,    dass   hier  ein   frischer,    kräftiger  Zweig  des 


79 


deutschen  Volksstammes  lebt,  der  nicht  Willens  ist 
unterzugehen,  sondern  kraftvollen  Widerstand  jedör 
Schmälerung  seines  Volksthums  entgegensetzt.  Abg. 
Dr.  Funke:  Meine  Herren,  jedes  Volk  hat  seine  na- 
tionale Eigenart  und  seine  nationalen  Güter.  Eigenart 
des  deutschen  Volkes  ist  es,  einzutreten  für  sein 
Deutschthum.  (Beifall.)  Das  treue  deutsche  Herz,  das 
nimmt  uns  Niemand.  (Stürmischer  Applaus  und  Rufe : 
Niemand !  Niemand !)  Das  hat  uns  Gott  gegeben  und 
wir  Deutsche  fürchten  ja  sonst  Niemand  als  Gott! 
(Beifallssturm,  Händelklatschen,  nicht  enden  wollende 
Heil!-Rufe.) 

Und  sind  wir  denn  nicht  Angehörige  eines  gros- 
sen mächtigen  Volkes?  Ich  erinnere  mich  noch  als 
Jüngling  der  Zeiten,  wo  es  36  Bundesstaaten  gab, 
wo  Deutschland  der  Spott  und  der  Hohn  der  ganzen 
Welt  war.  Diese  36  Bundesstaaten  waren  es,  die  in 
uiiseren  Herzen  die  grösste  Erbitterung  hervorgerufen 
haben.  Und  jetzt,  wo  das  Deutsche  Reich  so  gross, 
so  mächtig*  so  ehrfurchtgebietend  dasteht,  jetzt  sollten 
wir  vergessen,  dass  wir  Angehörige  dieses  grossen 
deutschen  Volkes  sind?  (Brausender  und  minuten- 
langer stürmischer  Beifall.)  Wir  sollten  vergessen, 
dass  wir  Angehörige  dieses  mächtigen,  grossen 
deutschen  Volkes  sind,  mit  dem  uns  eine  und  dieselbe 
Sprache,  eine  tausendjährige  Geschichte  und  die 
deutsche  Kultur  verbindet?  Eine  und  dieselbe  Sprache, 
in  welcher  unsere  grossen  Dichter  sprechen,  unsere 
Philosophen  die  grössten  Geisteswerke  schufen, 
deutsche  Professoren  ihre  Lehren  von  den  Kanzeln 
der  Universitäten  verkünden  und  das  lebendige  Wort 
der  Wissenschaft  in  die  Herzen  der  akademischen 
Jugend  einprägen.  Ich  bin  ein  Mann,  welcher  die 
altösterreichische  Gesinnung  jederzeit  an  den  Tag 
gelegt  hat.  (Jawohl!  Bravo!-  und  HeiÜ-Rufe),  jene 
altösterreichische  Gesinnung,  welche  aus  Oesterreich 
immer  einen  grossen  Einheitsstaat  unter  deutscher 
Führung  machen  wollte.  Und,  meine  Herren,  das 
geistige  Band,  welches  die  Deutschen  auf  der  ganzen 
Welt  verbindet,  welches  sie  fühlen  lässt,  dass  sie 
eh\er  grossen,  mächtigen  Nation  angehören,  dem 
Volke    der   Dichter   und  Denker,    wie   der   englische 


80 


Schriftsteller  gesagt  hat,  dieses  geistige  Band,  welches 
auch  uns  Deutschösterreicher  mit  den  Deutschen  der 
ganzen  Welt  verbindet,  das  nennen  wir  Alldeutsch- 
land.  (Tosender  Beifall,  endlose  HeilMEtufe,  Tucher- 
schwenken.;  Und  diese  geistige  Verbindung,  die  auch 
unsere  Herzen  erfüllt,  die  kann  uns  Niemand  rauben. 

Die  wichtigsten  Kämpfer  für  die  alldeutsche  Idee- 
sind natürlich  im  Parlamente.  Die  Gruppe  der  All- 
deutschen bildeten  Anfangs  die  Abgeordneten  Schö- 
nerer, Türk,  Kittel,  Iro  und  Wolf,  In  den  letzten 
Wahlen  ist  die  alldeutsche  Gruppe  bedeutend  ge- 
wachsen. Es  arbeiten  für  den  preussischen  Adler 
im  oesterreichischen  Abgeordnetenhause  unter  dem 
Schutze  der  Immunität  unmittelbar  vor  den  Mauern 
der  kaiserlichen  Hofburg  folgende  Abgeordneten: 

Georg  Schönerer,  Gutsbesitzer  in  Rosenau,  Nie- 
deroesterreich,  sein  Rivale  Karl  Hermann  Wolf,  Her- 
ausgeber der  „Ostdeutschen  Rundschau"  in  Wien, 
Dr.  Ant.  Eisenkolb,  Advokat  in  Karbitz,  Johann  Hofer, 
Eigenthümer  der  „Egerer  Zeitung"  in  Eger,  Franco 
Stein,  Herausgeber  der  Zeitschrift  „Hammer"  in  Eger, 
Dr.  Josef  Tschan,  Advokat  in  Bilin,  Dr.  Beurle,  Ad- 
vokat in  Linz,  Wilhelm  Hauck,  Schriftsteller  in  Wien, 
Iro  Karl,  ebenfalls  Schriftsteller  in  Wien,  Dr.  Josef 
Pommer,  k.  k.  Gymnasialprofessor  in  Wien,  Dr.  Ant» 
Schalk,  Schriftsteller  in  Wien,  Josef  Kasper,  Lehrer 
in  Jungbuch  bei  Trautenau  in  Böhmen,  Dr.  Gust. 
Schreiner,  Notar  in  Pilsen,  ein  besonders  rühriger 
Agitator,  Ant.  Seidl,  Grundbesitzer  in  Schlesien. 

Mit  diesen  alldeutschen  Abgeordneten  arbeiten 
an  der  grossdeutschen  Idee  sehr  eifrig  noch  die  völ- 
kischen Abgeordneten.  Ihre  Grundsätze  hat  besonders 
Karl  Türk  in  seiner  Schrift  „Der  Kampf  um  das 
Deutschthum  in  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien"  nie- 
dergelegt. 

Auf  Seite  50  seiner  Schrift  sagt  der  gewesene 
Abgeordnete  Karl  Türk  folgendes:  Schon  ein  flüch- 
tiger Blick  auf  die  Karte  von  Europa  belehrt  uns, 
dass  die  heutigen  politischen  Grenzen  des  deutschen 
Reiches  südöstlich  an  Tirol  und  der  Schweiz  begin- 
nend, an  Frankreich,  Belgien,  Holland,  der  Nordsee, 
Dänemark,  der  Ostsee  nordöstlich  bis  Russland  sich 


81 


hinziehend  und  östlich  an  Russisch-Polen,  Oester- 
reichisch-Schlesien,  Böhmen,  dem  Oberösterreichi- 
schen und  Salzburgischen  zurückkehrend  keine  natür- 
lichen Volksgrenzen  sein  können.  Das  langgestreckte 
Deutschland  windet  sich  gleichsam  zwischen  Oester- 
reich  und  seinem  westlichen  Nachbarn,  sich  schmal 
machend  hindurch ;  Westösterreich  sitzt  ihm  auf  dem 
Nacken  und  treibt  sich  mit  Böhmen  wie  ein  stumpfer 
Keil  weit  vor  bis  Mitten  zum  Herzen  Deutschlands 
gegen  Dresden  und  das  Thüringer  Waldgebirge.  Das 
alte  Reich  von  der  Nord-  und  Ostsee  breit  und  mas- 
sig in  einem  geraden  tüchtigen  Heereszuge  durch 
ganz  Mitteleuropa  bis  an  die  südlich  des  Alpenwalles 
liegende  wälsche  Grenz-  und  Sprachscheide  ziehend 
und  am  adriatischen  Meere  fussend  —  das  war  die 
richtige  deutsch-volkliche  Grenze.  Die  heutige  Grenze 
des  Deutschen  Reiches  ist  durch  grosse  politische 
und  militärisch-kriegerische  Ereignisse  und  dynasti- 
sche Interessen  gezwungen  zustande  gekommen.  Das 
Land  Böhmen,  welches  wie  eine  Trutzburg  gegen  die 
Mitte  Deutschlands  hineinragt,  ist  freilich  ein  fast  für 
sich  abgeschlossenes  Ganzes  mit  seinen  hohen  Berg- 
zügen an  der  bayerischen,  sächsischen  und  preussi- 
schen  Grenze,  allein  in  diesen  Bergzügen  sind  zahl- 
reiche Lücken  und  Pässe  für  den  freien  Verkehr  mit 
Deutschland,  und  alle  Flüsse  Böhmens  ergiessen  sich 
in  die  Elbe,  um  mit  derselben  vereint  Deutschland 
zu  durchziehen,  deutsche  und  böhmische  Schiffe  zu 
tragen  und  endlich  an  Hamburg  vorbei  in  die  deutsche 
Nordsee  zu  strömen,  als  ob  dies  ein  Anzeichen  sein 
sollte  dafür,  dass  dieses  Land  mit  seinen  Bewohnern 
von  der  Natur  aus  schon  bestimmt  ist,  beständig  mit 
Deutschland  in  Berührung  und  Fühlung  zu  bleiben. 
Andererseits  ist  aber  Böhmen  infolge  seiner  Grenz- 
gebirgszüge ein  Land  von  hoher  strategischer  Bedeu- 
tung für  das  benachbarte  Deutsche  Reich.  Das  haben 
die  deutschen  Könige  und  Kaiser  seit  jeher  gar  wohl 
verstanden  und  deshalb  waren  sie  auch  frühzeitig 
und  unablässig  darauf  bedacht,  Böhmen  in  ein  Lehens- 
verhältniss  zum  Reiche  zu  bringen  und  dieses  Verhält- 
niss  niemals  lockern  zu  lassen. 

Der  „österreichische  Patriot"  Türk  vergiesst  hier 

6 


82 


förmlich  Thränen,  dass  Böhmen  dem  Deutschen  Reiche 
nicht  einverleibt  ist.  Er  konstatirt,  dass  der  Hunger 
nach  diesem  Lande  in  Berlin  schon  sehr  alten  Da- 
tums sei. 

Zur  „Beruhigung"  Oesterreichs  empfiehlt  Herr 
Türk  auf  Seite  82  seiner  Schrift  folgende  sehr  „christ- 
liche" Mittel :  Der  nationale  Boykott,  der  ja  von  den 
Tschechen  längst  geübt  wird,  ist  ein  für  die  deutsch- 
völkischen Zwecke  unentbehrliches  Hilfsmittel.  Die 
möglichste  Ausschliessung  tschechischer  Arbeitskräfte 
und  tschechischer  Produkte  ist  bei  dem  gegenwärti- 
gen Stande  der  Dinge  eine  gerechte  Sache,  denn  wir 
haben  die  Pflicht,  zuerst  gegen  unsere  eigenen  Volks- 
und Stammesgenossen  human  zu  sein.  Tschechische 
Biere  und  Fabrikate  sind  von  Deutschen  nicht  zu 
kaufen,  tschechische  Beamte,  Bedienstete  und  Arbeiter 
von  deutschen  Besitzern  und  Meistern  nicht  zu  be- 
schäftigen, tschechische  Schulen  von  deutschen  Kin- 
dern nicht  zu  besuchen,  der  tschechischen  Sprache 
von  Deutschen  jede  auch  mittelbare  Vorschubleistung 
zu  versagen.  Ebenso  brauchen  auch  tschechische 
Priester  von  deutschen  Gemeinden  nicht  anerkannt 
zu  werden.  Wenn  die  bisherige  Lammesgeduld  der 
Deutschen  gegenüber  dem  national  werberischen  Trei- 
ben der  ihnen  aufgedrängten  tschechischen  Seelsorger 
ein  Ende  haben  wird,  und  die  deutschen  Pfarrkinder 
entschieden  darauf  bestehen  werden,  nur  einen  deut- 
schen Seelsorger  haben  und  anerkennen  zu  wollen, 
dann  werden  sich  die  Bischöfe  schon  dazu  herbei- 
lassen, auch  deutsche  Priesterseminare  zu  errichten, 
und  sich  hüten,  dem  erwachten  Volksbewusstsein 
der  Deutschen  allzukeck  Trotz  zu  bieten ! 

In  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  vom  5. 
November  1898  Hess  Schönerer  folgende  Aeusserungen 
hören.  Wenn  die  Loyalitätskundgebungen  aus  vielen 
deutschen  Kreisen  im  heurigen  Jubeljahre  ausgeblieben 
sind,  so  mag  das  vielen  gewissen  Mächten  und  Kräften 
beweisen,  dass  man  an  der  Dankbarkeit  des  Hauses 
Oesterreich  bereits  stark  zu  zweifeln  beginnt,  auch  in 
den  weitesten  Kreisen  der  Bevölkerung  von  Stadt  und 
Land.  Wenn  man  sagt,  Ihr  beginnt  beinahe  Oester- 
reich zu  hassen,  so  habe  ich  immer  geantwortet :  Ich 


83 


bin  für  das  ehrliche  Hassen  dort,  wo  man  unserem 
Volke  statt  Liebe  Hass  entgegenbringt.  Es  ist  auch 
ein  Zeichen  der  Zeit,  wenn  im  Egerlande  die  Worte 
des  Bürgers  von  Eger  aus  Schiller's  „Wallenstein* 
immer  erwähnt  werden :  „Wir  waren  nicht  frei,  doch 
seit  200  Jahren  ist  die  Stadt  der  böhmischen  Krone 
verpfändet,  daher  rührt  es,  dass  wir  nur  noch  den 
halben  Adler  führen.  Der  untere  Theil  ist  kanzellirt, 
bis  etwa  das  Reich  uns  einlöst."  Langsam  und  bewusst 
können  Sie  diese  Worte  hören  im  Egerlande,  in  Land 
und  Stadt,  und  das  sind  die  Früchte  der  Thätigkeit 
der  österreichischen  patentiren  Regierungen :  Badeni, 
Gautsch,  Thun.  Abg.  Türk :  Das  Volk  sieht  in  Deutsch- 
land seine  einzige  und  letzte  Hoffnung.  Abg.  Schö- 
nerer: Wir  können  trauern  darüber,  dass  man  am 
Ende  dieses  Jahrhunderts  schon  von  einem  abster- 
benden Staate  Oesterreich  und  von  einem  aufleben- 
den deutschen  Volke  in  Oesterreich  spricht.  Präsident : 
Das  ist  unzulässig.  Ich  muss  Sie  nochmals  zur  Ordnung 
rufen.  (Lärm  bei  den  Schönerianern.)  Abg.  Schönerer : 
Die  deutschen  Bürger,  die  das  sagen,  sind  sich  be- 
wusst, dass  sie  nicht  der  Baum,  aber  der  stärkste  Ast 
des  Baumes  sind,  und  sie  wissen  sehr  wohl,  dass 
dieser  Ast  verdorren  würde,  wenn  der  Baum  nicht 
mehr  gepflegt  wird.  Daher  muss  der  Baum  von 
uns  gepflegt  und  es  muss  der  Ast  von  uns  gehegt 
werden,  wenn  er  nicht  vom  Baume  abfallen  und  ver- 
dorren soll.  Redner  bemerkt,  der  deutsche  Kaiser 
Wilhelm  II.  habe  kürzlich  seinen  kaiserlichen  Schutz 
jedem  zugesichert,  der  darum  ansuchte.  Er  habe  aus- 
drücklich von  den  Deutschen  ausserhalb  des  Reiches 
gesprochen.  Wir  sind  zu  stolz,  trotz  der  elenden  na- 
tionalen Lage,  in  der  wir  uns  befinden,  seine  Hilfe 
zu  erbitten.  Aber  sie  wird  und  muss  kommen.  Wenn 
die  Worte  Wilhelms  II.  nicht  nur  Worte  wären,  son- 
dern bewusst  gesprochen  wären  in  der  Richtung,  dass 
man  bereit  sei,  diesen  Worten  gegebenen  Falls  auch 
Thaten  folgen  zu  lassen  .  .  . 

Abg.  Wolf  ruft:  Hurrah  Alldeutschland!  Abg. 
Schönerer :  Heute  müssen  die  Deutschen  in  Oester- 
reich hoffen,  dass  das  Bündniss  mit  dem  Deutschen 
Reiche  je   eher  je   lieber   gelöst  werde,    denn  dann 

6* 


84 


werden  die  Kräfte  frei  und  dann  werde  der  deutsche 
Kaiser  die  Worte  durch  Thaten  erfüllen  können.  Das 
Deutsche  Reich  werde  Bundesgenossen  finden,  die 
eben  so  mächtig  sind,  als  es  Oessterreich  heute  ist. 
In  der  Militärverwaltung  des  Deutschen  Reiches  be- 
obachtet man  haarscharf  die  Vorgänge  bei  den  Mel- 
dungen der  Reservisten.  Im  Deutschen  Reiche  kommt 
naturgemäss  schliesslich  der  Gedanke  zum  Durch- 
bruch: Auf  diese  Armee  ist  kein  Verlass  mehr  im 
Felde.  Die  Elemente  der  Armee  sind  so  tapfer  und 
tüchtig  wie  früher,  aber  im  Kriege  wird  es  nicht 
klappen,  weil  der  babylonische  Thurmbau  in  der  Mi- 
litärverwaltung die  Niederlage  von  vorneherein  ver- 
bürgt. Mit  einem  solchen  Bundesgenossen  wird  das 
Deutsche  Reich  im  Interesse  seiner  eigenen  Erhaltung, 
da  es  npch  grosse  Kriege  auszufechten  haben  wird, 
das  Bündniss  nicht  aufrecht  erhalten  wollen.  Der 
deutsche  Kaiser  wird  selbst  eingreifen  und  die  Dinge 
so  drehen  und  wenden,  dass  sie  sich  gewiss  zu  Gun- 
sten des  Deutschen  Reiches  und  des  deutschen  Volkes 
entwickeln  werden.  Aus  Anlass  des  Ablebens  Bismarck's 
sprach  Kaiser  Wilhelm  II.  von  dem  unsterblichen  Ge- 
danken der  deutschen  Einheit  und  Grösse.  Warum 
sagte  er  nicht:  des  Deutschen  Reiches?  Die  Hohen- 
zollern  treiben  deutschnationale  Politik  und  werden 
sie  auch  in  Zukunft  treiben  müssen,  und  wenn  ihnen 
die  Ministerien  Badeni,  Gautsch  undThun  ihre  Arbeit 
erleichtern,  werden  wir  es  nicht  hindern.  (Beifall  bei 
den  Schönererianern.) 

Redner  erörtert  sodann  die  Stellung  der  deutschen 
Sprache  in  Oesterreich.  Die  Sprachenverordnungen 
bestehen  fort  als  unverschämte  Verletzung  der  beste- 
henden Gesetze.  Sie  bestehen  fort  als  Signale  zum 
erbitterten  nationalen  Kampfe,  sie  bestehen  fort,  trotz- 
dem durch  sie  Parlamentarismus  und  Konstitutiona- 
lismus in  Frage  gestellt  sind,  und  das  sei  nur  möglich 
dadurch,  dass  die  Deutsch-Klerikalen  ihr  Volk  verrathen 
und  sich  an  die  Seite  der  Slaven  stellen.  Immer  lauter 
werde  der  Ruf :  „Los  von  Rom  !"  Das  müsse  das  Schlag- 
wort sein  in  dieser  Stunde  des  nationalen  Kampfes  f 
wo  die  Deutschen  in  nationaler  Beziehung  ihrer  Ver- 
zweiflung  nahe  .  sind.  Wenn    die  deutschen  Vertreter 


85 


irgendwie  und  irgendwann  im  Kampfe  ermüden  sollten, 
wie  die  Vertreter  des  Siebenbürger  Landes  thatsäch- 
lich  ermüdet  sind,  dann  werden  die  Sprachenverord- 
nungen bleiben;  wenn  die  deutschen  Vertreter  aber 
voll  und  ganz,  rücksichtslos  in  diesem  Kampfe  ihre 
nationale  Pflicht  erfüllen,  dann  wird  und  muss  der 
Sieg  unser  sein  trotz  Falkenhayn,  trotz  der  Deutsch- 
Klerikalen.  Die  schenken  wir  Ihnen  dann,  machen  Sie 
sie  zu  Ehrenczechen.  Wir  wünschen  keine  neue  Taktik, 
wir  fürchten  sie  sogar;  wir  wünschen  nur  Eines,  dass 
uns  Deutschen  in  Oesterreich  endlich  voll  und  ganz 
unser  nationales  Recht  werde.  Wenn  man  uns  fragt, 
was  ist  Euer,  der  Deutschen  Vaterland,  so  sagen  wir 
immer  und  sagen  es  auch  heute,  das  Vaterland  in 
unserem  Sinne  ist  kein  Staatengebilde,  kein  öster- 
reichischer Staat,  sondern  die  deutsche  Stammeserde 
ist  unser  heiliges  Vaterland.  (Heilrufe  bei  den  Partei- 
genossen.) Sie  werden  wir  vertheidigen  jederzeit,  bei 
jeder  Gelegenheit,  und  wenn  es  sein  muss,  mit  Blut 
und  Eisen.  (Heilrufe.) 

Welche  Ziele  die  Alldeutschen  befolgen,  hat  ihr 
Führer  Schönerer  am  Volkstag  in  Asch,  der  am  8. 
September  1901  abgehalten  wurde,  sehr  deutlich  ausge- 
sprochen. Der  Berichterstatter  eines  reichsdeutschen 
Blattes  schreibt  über  diese  Versammlung  folgendes.  Am 
S.  September  fand  eine  Versammlung  der  Alldeutschen 
zu  Asch  statt,  in  der  Schönerer  den  Kampf  wider 
die  anderen  deutschen  Fraktionen  in  rücksichtsloser 
Weise  fortführte.  Der  deutschen  Volkspartei  warf  ..er 
politische  Gaukelei  vor  und  er  forderte  sie  perempto- 
risch auf,  binnen  acht  Tagen  eine  Erklärung  abzuge- 
ben, ob  sie  wirklich  für  die  deutsche  Staatssprache 
eintrete.  Die  Alldeutschen  wollen  die  deutsche  Volks- 
partei bei  den  Wahlen  in  den  böhmischen  Landtag 
aus  ihren  Sitzen  verdrängen,  und  deshalb  die  harten 
Vorwürfe.  Man  schont  sich  gegenseitig  nicht,  wie  der 
an  dieser  Stelle  bereits  veröffentlichte  Brief  des  Ob- 
mannes der  deutschen  Volkspartei,  des  Abgeordneten 
Kaiser,  gegen  Schönerer  beweist.  Leider  bieten  die 
Deutschen  Oesterreichs  stets  dasselbe  Schauspiel.  Sie 
wehren  sich  gegen  den  gemeinsamen  Feind  nicht  übel, 
aber  in  den  Zwischenpausen  dieser  Kämpfe  hauen  und 


b6 


stechen  sie  aufeinander  los,  als  ob  jeder  Einzelne  ein 
Abtrünniger  an  der  gemeinsamen  Sache  wäre.  Uebri- 
gens  ist  das  Auftreten  der  Alldeutschen  noch  durch 
einen  anderen,  weitaus  wichtigeien  Umstand  bemer- 
kenswerte Sie  gehen,  nachdem  die  Deutschen  Oester- 
reichs  seit  etwa  30  Jahren  unaufhörlich  in  der  Defen- 
sive gekämpft  haben,  zum  Angriff  gegen  die  Slaven 
vor,  verwerfen  alle  bloss  auf  die  Verteidigung  ge- 
richteten Massregeln  wie  die  der  Zweitheilung  Böhmens 
und  fordern  die  Herrschaft  der  Deutschen  Oester- 
reichs,  seibat  die  Germanisirung  der  übrigen  Stämme. 
Das  ist  symptomatisch  für  den  Wandel  der  Zeiten. 
Man  kann  ihren  Optimismus  nicht  theilen  und  es  wird 
sich  zeigen,  dass  sie  ihre  Kraft  weitaus  überschätzen. 
Zu  den  schlimmen  Folgen  des  Fraktionswesens 
gehört  es  in  Oesterreich  wie  anderwärts,  dass  die 
neuen  Parteien  kühn  über  all  die  Gedankenarbeit  hin- 
wegzuschreiten wagen,  die  das  Erbe  der  früheren 
Entwicklung  ist.  Und  doch  ist  eine  feste  Tradition  die 
nothwendige  Grundlage  für  eine  gesunde  politische 
Entwicklung.  Es  war  bisher  ein  sicherer  Punkt  in  den 
Wirren  des  nationalen  Programmwesens  in  Oesterreich, 
dass  die  Deutschen  mit  grosser  Bestimmtheit  auf  die 
Zweitheilung  Böhmens  hinarbeiteten,  um  für  sich  Sicher- 
heit zu  gewinnen  und  die  nationalen  Streitpunkte  zu 
verringern.  Seit  15  Jahren  wird  dieses  Ziel  dauernd 
verfolgt,  und  thatsächlich  erreichten  auch  die  Deutsch- 
böhmen, dass  wenigstens  zwei  der  wichtigsten  Be- 
hörden des  Landes,  der  Landesschulrath  und  der 
Landeskulturrath,  in  nationale  Kurien  getheilt  wurden. 
Gegen  diese  Ergebnisse  stürmt  neuestens  die  alldeut- 
sche Fraktion  an  und  behauptet,  die  Deutschböhmen 
setzten  sich  damit  allzu  enge  Ziele.  In  der  Ueber- 
schätzung  ihrer  eigenen  Kraft  behaupten  die  Alldeut- 
schen, Böhmen  gehöre  vollständig  unter  die  deutsche 
Herrschaft,  und  es  sei  gefährlich,  ein  selbständiges 
tschechisches  Sprachgebiet  zu  schaffen,  das  sich  nie- 
mals wieder  für  die  deutsche  Staatssprache  werde 
erobern  lassen.  Die  Anhänger  dieser  Partei  sprechen 
so,  als  ob  demnächst  Alldeutschland  entstehen  und 
auch  das  tschechische  Gebiet  in  seinen  Machtkreis 
einbeziehen  werde.    Es  leuchtet  ein,   dass  solche,  die 


87 


Möglichkeit  übersteigenden  Vorstellungen  verwirrend 
wirken  müssen.  Dazu  kommt,  dass  in  der  grossen 
Masse  des  deutschböhmischeri  Volkes  dadurch  das 
Gefühl  der  Sicherheit  erschüttert  wird,  mit  d^r  es 
sich  bisher  der  Erreichung  eines  praktischen  Zieles 
widmete.  Jedem'  deutschböhrhischen  Bauer  war  es 
verständlich,  wenn  man  ihm  sagte,  es  sei  seine  Pflicht, 
dafür  zu  wirken,  dass  der  ererbte  deutsche  Sprach- 
bodeh  seinem  Volke  rein  erhalten  werde.  Mit  Recht 
sträuben  sich  alle  die  Männer,  die  in  den  letzten  15 
Jahren  das  deutsch-böhmische  Volk  geführt  und  seine 
Grenzmarken  vertheidigt  haben,  gegen  die  neue  Lehre. 
Die  Alldeutschen  behaupten,  der  wichtigste  Programm- 
satz sei  die  Erringung  der  Herrschaft  der  deutschen 
Staatssprache,  der  Alles  untergeordnet  werden  müsse. 
Sie  vernachlässigen  über  einer  hochfliegenden  Erobe- 
rungspolitik die  Massregeln  zur  Verteidigung  des 
deutschen  Sprachgebietes,  was  sich  dereinst  bitter 
strafen  wird. 

Seitdem  die  Gruppe  der  alldeutschen  Abgeord- 
neten ins  Parlament  eingezogen  ist,  haben  ihre  Mit- 
glieder selten  eine  Sitzung  vorübergehn  lassen,  um 
nicht  einer  oder  der  andere  Abgeordnete  dieser 
Gruppe  die  Bestrebungen  der  alldeutschen  Propa- 
ganda womöglich  oft  zur  Geltung  zu  bringen.  Schö- 
nerer, Stein  und  Eisenkolb  können  nicht  oft  genug 
im  österreichischen  Parlamente  ihren  Herzenswunsch 
aussprechen,  Oesterreich  möge  sobald  als  möglich 
dem  Deutschen  Reiche  einverleibt  werden.  Dabei 
gebrauchen  sie  in  ihren  Reden  die  schurkenhaftesten 
Mittel,  um  das  österr.  Parlament  vor  der  ganzen  Welt 
überhaupt  lächerlich  zu  machen  und  leider  bietet  die 
Parlamentsordnung  keine  Handhabe,  um  derartige 
Menschen  hinauszuwerfen,  dafür  sorgen  die  Freunde 
der  Alldeutschen,  die  socialistischen  Abgeordneten, 
dass  der  zügellosen  Freiheit  und  Immunität  kein 
Abbruch  geschehe.  Eine  solche  Skandalscene  hat  Schö- 
nerer in  der  Sitzung  am  18.  März  1902  angestellt. 
Er  schloss  seine  Rede  über  die  deutsche  Staatssprache 
folgendermassen  ab: 

Wir  streben  ein  solches  bundesrechtliches  Ver- 
hältniss  der  deutsch-österreichischen  Länder,  der  ehe- 


88 


maligen  deutschen  Bundesländer,  mit  dem  deutschen 
Reiche  an,  das  die  Erhaltung  unseres  Volksthums 
dauernd  sichert.  Wir  bekämpfen  daher  jede  Regie- 
rung, die  diesem  unseren  Ziele  entgegenwirkt,  wir 
müssen  daher  auch  dieser  Regierung  die  Bewilligung 
des  Staatsvoranschlages  verweigern.  Wenn  sich  der 
Präsident  veranlasst  gesehen  hat,  in  den  letzten  Ta- 
gen dem  Abgeordneten  Eisenkolb  einen  Ordnungsruf 
zu  ertheilen,  weil  er  in  anerkennender  Weise  das 
deutsche  Fürstengeschlecht  der  Hohenzollern  hier 
genannt  hat,  so  veranlasst  mich  das  im  Namen  der 
Alldeutschen  meine  Rede  zu  schliessen:  „Hoch  und 
Heil  den  Hohenzollern!"  (Stürmische  Heilrufe,  anhal- 
tender Beifall  bei  den  Alldeutschen.  Rufe  bei  den 
Alldeutschen:  „Heil  den  Hohenzollern!"  Lebhafte 
Entrüstungs-  und  Pfui-Rufe  rechts.) 

Darauf  reagirten  die  Führer  der  übrigen  deut- 
schen Parteien.  Abgeordneter  Derschatta  stellte  fest, 
dass  alle  Deutschen  in  Oesterreich  daran  festhielten, 
für  die  Kodificirung  der  deutschen  Staatssprache  zu 
sorgen,  jedoch  nach  gehöriger  Vorbereitung  und  in 
einem  Augenblick,  in  dem  man  bei  der  Inangriff- 
nahme der  Lösung  einer  so  wichtigen  Frage  auch 
auf  die  Möglichkeit  eines  Erfolges  rechnen  könne. 
Im  übrigen  würde  er  es  nicht  für  nothwendig  ge- 
funden haben,  auf  die  demonstrativen  Schlussätze 
der  Rede  des  Abgeordneten  Schönerer  einzugehen. 
Die  Vertreter  des  deutschen  Volkes  in  Oesterreich, 
das  Oesterreich  geschaffen,  gross  gemacht  und  er- 
halten habe,  sollten  es  eigentlich  nicht  nothwendig 
haben,  zur  Betonung  ihrer  Loyalität  gegenüber  Oester- 
reich und  dem  Hause  Habsburg  in  die  Debatte  ein- 
zugreifen. Weil  aber  der  tschechische  Abg.  Dr.  Kramäf 
den  Moment  benutzte,  um  auf  die  zu  Missdeutungen 
geeigneten  Worte  Schönerers  zurückzugreifen  —  und 
gerade  das  möge  dem  Abg.  Schönerer  für  die  Zukunft 
einigermassen  zur  Lehre  dienen,  so  müsse  er  (Der- 
schatta), so  sehr  er  es  bedauere,  nun  auch  den  Abg. 
Kramäf  mit  zwei  Worten  berichtigen.  Der  volks- 
parteiliche Redner  fuhr  dann  fort:  „Abg.  Kramär 
betonte,  die  Ausführungen  des  Abg.  Schönerer  hätten 
gezeigt,    dass  diejenigen,  welche  die  deutsche  Staats- 


89 


spräche  wünschten,  welche  ein  deutsches  Oesterreich 
wollen,  die  Existenz  dieses  Reiches  als  selbständiger 
Staat  zu  untergraben  suchten,  und  dass  ein  Oester- 
reich mit  deutscher  Staatssprache  neben  dem  grossen, 
mächtigen  Deutschland  unmöglich  sei.  Mit  Verlaub! 
Ich  glaube,  wenn  nicht  die  Gelegenheit  so  günstig 
gewesen  wäre,  hätte  auch  Abg.  Kramäf  diesen  Satz 
nicht  ausgesprochen.  (Sehr  richtig!  links.)  In  Europa 
und  auf  der  Welt  ist  Platz  genug  für  ein  grosses 
Deutsches  Reich,  an  welchem  wir  auch  mit  allen 
Fasern  unseres  Herzens  hängen,  weil  es  das  Reich 
unseres  deutschen  Volkes  ist,  und  zugleich  für  ein 
Oesterreich  mit  der  deutschen  Staatssprache.  Dieses 
Nebeneinanderbestehen  und  Zusammengehen  von 
Deutschland  und  Oesterreich,  beide  Staatswesen  ge- 
führt von  ihren  glorreichen  Herrscherhäusern,  ist  für 
jeden  deutschnational  Gesinnten  im  Deutschen  Reiche 
wie  .in  Oesterreich  das  einzig  erstrebenswerthe  Ziel. 
Der  Bund  der  Deutschen  in  Europa  würde  für  die 
Welt  einen  Hort  des  Friedens,  der  Arbeit,  des  Fort- 
schrittes und  des  Erfolges  bedeuten,  wie  man  ihn 
sich  schöner  nicht  denken  könne. 

Der  deutsch-fortschrittliche  Abg.  Funke  sagte 
11.  a. :  „Wir  alle  wissen,  dass  die  deutsche  Staate- 
sprache im  Interesse  unsres  grossen  Reiches,  im  In- 
teresse unsrer  Monarchie  gelegen  ist,  und  dass  durch 
.sie  die  Einführung  der  Rechte  der  anderen  Völker- 
schaften nicht  beeinträchtigt  werden  würde.  Wir  sind 
deutsch,  im  Geiste  verbündet  mit  unseren  Brüdern 
im  Reich.  Dieses  Gefühl  wird  uns  Niemand  nehmen. 
Deshalb  können  und  werden  wir  jedoch  stets  treue 
Oesterreicher  sein  und  bleiben." 

Der  dem  Centrum  angehörende  Obmann  des 
Budgetausschusses  Abg.  Dr.  Kathrein  erklärte  u.  a.. 
Es  sind  heute  hier  Worte  gefallen,  die  im  österrei- 
chischen Parlamente  noch  nie  gehört  wurden,  Worte, 
mit  einer  Tendenz,  die  hier  nie  möglich  sein  sollte. 
Sie  verletzten  uns  tief  und  beleidigten  unser  patrio- 
tisches Gefühl.  Namens  aller  Oesterreicher  weise  ich 
diese  Worte  mit  tiefster  Entrüstung  zurück  (Beifall 
und  Händeklatschen  im  Gentrum  und  rechts;  Zwi- 
schenrufe   links    und   Lärm    bei    den   Alldeutschen), 


90 


nicht  deshalb,  weil  hier  ein  Hoch  auf  ein  uns  be- 
freundetes Fürstenhaus  ausgebracht  wurde,  sondern 
weil  wir  Oesterreicher  Alle  treu' und  fest  zu  unserm 
Kaiser  und  zu  Habsburg  halten.  Deshalb  müssen  wir 
uns  durch  das  Auftreten  des  Abg.  Schönerer  tief  ge- 
kränkt fühlen.  (Beifall  und  Händeklatschen  rechts ; 
Lärm  bei  den  Alldeutschen.)  Ich  erkläre :  Wir  halten 
fest  am  Kaiserhaus  und  an  Oesterreich  I 

Ueber  solche  skandalöse  Sitzungen  des  oesterrei- 
chischen  Abgeordnetenhauses,  welche  von  den  All- 
deutschen angestellt  wurden,  berichtete  ein  reichs- 
deutsches Centrumblatt  folgendes  seinen  Lesern :  Die 
Scenen,  welche  sich  am  Montag  (22.  April)  im  Reichs- 
rathe  in  Wien  abspielten,  spotten  jeder  Beschreibung. 
Es  hagelte  förmlich  von  „gemeiner  Schurke"  und 
„Schuft"  und  „klerikaler  Schafskopf"  und  „Hetzpfaf- 
fen". Das  österreichische  Parlament  will  durchaus, 
so  scheint  es,  durch  den  rohen  und  gemeinen  Gas- 
senton, der  dasselbe,  dank  der  Schwäche  seines 
Präsidenten,  terrorisirt  und  beherrscht,  den  Tiefstand 
unter  den  europäischen  Parlamenten  erreichen.  Das 
Präsidium  verharrt  in  olympischer  Ruhe  und  feiert 
nach  dem  bezeichnenden  Worte  Lueger's  ein  „Still- 
leben" eigener  Art.  Das  unwürdige  Kompromiss, 
welches  der  Präsident  mit  den  Alldeutschen  geschlos- 
sen und  durch  welches  er  vor  ihnen  geradezu  kapi- 
tulirt  hat,  erklärt  die  dreiste  Ueberhebung,  mit  welcher 
diese  Partei  auftritt.  Aber  es  gibt  denn  doch  Augen- 
blicke und  Fälle,  in  welchen  das  Schweigen  des  Prä- 
sidiums nicht  nur  zu  einem  groben  parlamentarischen, 
sondern  zu  einem  schweren  staatlichen  und  patrioti- 
schen Vergehen  wird :  Abt  Treuinfels  hatte  in  der 
ruhigsten  und  massvollsten  Form  die  nur  zu  begrün- 
dete Beschwerde  vorgebracht,  dass  sich  im  steno- 
graphischen Protokoll  in  einer  Interpellation  Stellen 
fänden,  die  auf  eine  jeden  Zweifel  abschliessende 
Weise  das  Verbrechen  der  Religionsstörung  enthielten. 
Von  den  nun  folgenden  Gemeinheiten,  durch  welche 
sich  Alldeutsche  und  Socialdemokraten  zu  überbieten 
suchten,  übersteigt  besonders  eine  alles  bisher  Dage- 
wesene. „Der  römische  Fetischismus  ist  keine  Reli- 
gion," schrie  der  Socialdemokrat  Pernerstorfer.    Und 


91 


der  Herr  Vicepräsident  schwieg.  Im  österreichischen 
Parlamente  darf  also  die  katholische  Religion,  die 
Religion  des  Kaisers  und  seines  Hauseä,  die  Religion 
der  überwiegenden  Mehrheit  des  Volkes  ungerügt  be- 
schimpft werden,  im  österreichischen  Parlamente  darf 
das  Staatsgesetz  ungerügt  in  der  gröbsten  Weise  ver- 
letzt werden!  Der  Alldeutsche  Stein  erfrechte  sich 
kurz  darauf,  den  Erzherzog  Franz  Ferdinand  als  den 
„wie  es  heisst{!)  zukünftigen  Thronfolger  von  Oester- 
reich" zu  bezeichnen  und  ihm  vorzuwerfen,  dass  er 
sich  „heute  schon  mit  den  bestehenden  Gesetzen 
dieses  Staates  in  Widerspruch  gesetzt  habe".  Und 
der  Herr  Vicepräsident  schwieg.  Solche  Dinge  sind 
in  einem  geordneten  Staatswesen  unerhört.  Gott  Dank 
ist  dergleichen  bei  uns  undenkbar.  Bei  solchen  Zu- 
ständen kann  man  für  Oesterreich  nur  wünschen, 
dass  sich  dort  endlich  ein  starker  Arm  erhebe,  der 
gewisse  Elemente,  die  sich  ins  Parlament  verirrt  ha- 
ben, von  dort  hinaus  dorthin  befördere,  wo  die  Gas- 
senbuben hingehören,  näiiilich  auf  die  Strasse,  damit 
sie  von  hier,  wofern  sich  noch  weiter  ihren  Uilfug 
treiben,  dorthin  abgeführt  werden,  wo  die  Hoch-  und 
Landesverräther  ihren  Sitz  haben. 

Die  „Neue  Freie  Presse"  kann  kaum  ihre  Genug- 
thuung  über  diese  letzten  Auftritte  im  Reichsrathe 
bemeisterri.  Sie  geht  so  weit,  dem  Abt  Treuinfels  für 
dieselben  verantwortlich  zu  machen,  den  „Gottesmann 
von  tadellosen  parlamentarischen  Formen".  Es  ge- 
schehe ja  so  oft,  bemerkt  sie  mit  scheinheiligem  Lä- 
cheln, dass  bei  einem  Brande  das  Zündhölzchen  von 
einer  „behandschuhten  Hand  angerieben  werde".  Die 
„Neue  Freie  Presse"  selbst  aber  schürt  aus  Leibes- 
kräften, um  die  Regierung  zu  einem  energischen 
Kampf  gegen  die  Kirche  aufzureizen.  Schon  beginnt 
sie,  den  Boden  für  revolutionäre  Strassendemonstra- 
tionen  zu  bereiten.  „Gewiss,"  so  schreibt  sie,  „die 
scharfe  Auseinandersetzung  mit  der  klerikalen  Partei 
und  ihrer  unstillbaren  Herrschbegierde,  die  in  Frank- 
reich, in  Spanien,  in  Portugal,  in  fast  allen  katholi- 
schen Ländern  wahrnehmbar  ist,  wird  früher  oder 
später  auch  Oesterreich  nicht  erspart  bleiben."  Um 
ihren  Zweck   zu    erreichen,    spucknäpfelt    die    ^Neue 


92 


Freie  Presse"  im  Ministerzimmer  Körber,  des  „bür- 
gerlichen Ministers,  der  sich  erkühnt,  beinahe  Erfolg 
zu  haben,  wo  die  hochgeborenen  Grafen  den  schmäh- 
lichsten Bankerott  haben  erklären  müssen". 

Was  die  „Neue  Freie  Presse"  mit  berechneter 
Lüge  dem  Abt  Treuinfels  vorgeworfen  hat,  das  trifft 
bei  ihr  im  vollen  Sinne  zu :  sie  tritt  als  die  „behand- 
schuhte" schmeichelnde  Goquette  an,  ist  aber  in 
Wirklichkeit  die  feile  Pressdirne  und  die  jüdisch- 
freimaurerische  Weltrevolution  ist  ihre  Zuhälterin.  — 
Der  alldeutsche  Abgeordnete  Franco  Stein  hat  in  der 
Sitzung  der  Delegation  vom  27.  Mai  1902  folgendes 
ausgesprochen : 

„Ich  habe  mich  gemässigt;  ich  wollte  auch  noch 
von  einem  Falschspielen  etwas  erzählen  und  habe 
dies  mit  Rücksicht  auf  die  Ermahnung  des  Herrn 
Präsidenten  unterlassen.  Redner  vertritt  die  Forde- 
rungen des  Linzer  Programms,  nach  welchem  das 
Verhältniss  zwischen  Oesterreich  und  Ungarn  durch 
die  Personalunion  zu  ersetzen,  Dalmatien,  Bosnien 
und  Herzegowina  endgiltlig  in  Ungarn  einzuverleiben 
wäre  und  Galizien  und  Bukowina  entweder  mit  Un- 
garn vereinigt  werden  oder  eine  Sonderstellung  er- 
halten sollen,  ähnlich  wie  Kroatien.  Es  ist  allgemein 
bekannt,  dass  die  Ungarn  nur  den  Zeitpunkt  abwarten, 
bis  sie  durch  Einführung  von  Industrien  von  uns 
unabhängig  sind,  um  dann  unnachgiebig  die  Perso- 
nalunion durchzusetzen.  Der  Dualismus  ist  schon 
stark  durchlöchert.  Ein  Beweis  dafür  ist  die  Honv6d- 
truppe  mit  magyarischer  Arraeesprache  und  das  Vor- 
gehen Ungarns  gegenüber  der  Volkshymne.  Wenn  wir 
an  Stelle  des  so  schädlichen  Ausgleichs  mit  Ungarn 
ein  Zollbündniss  mit  dem  Deutschen  Reiche  herbei- 
führen würden,  würden  unserer  Industrie  neue  Ab- 
sat?  gebiete  erschlossen  werden. 

Redner  bekämpft  die  Kanonenforderung  des 
Kriegsministers.  Das  Schicksal  des  deutschen  Volkes 
in  Oesterreich  hängt  nicht  von  den  österreichischen 
Kanonen  ab,  sondern  von  der  Bestimmung  des  XX. 
Jahrhunderts,  als  dem  Zeitalter  der  nationalen  Kry- 
stallisation.  Redner  begnüge  sich  mit  der  Citirung 
des  Wortes:     „Wenn    die  rechte  Stunde   gekommen, 


9ä 


wird  die  Thüre  des  Mutterhauses  für  die  Deutsch- 
österreicher weit  offen  stehen."  Er  wendet  sich  so- 
dann gegen  Dr.  Kramäf,  dessen  Rede  nichts  anderes 
war,  als  die  Denuncirung  einer  Partei  in  der  Dele- 
gation, um  etwa  heute  Abends  beim  Cercle  oder  bei 
anderer  Gelegenheit  als  Derjenige  zu  gelten,  der  als 
der  einzige  in  der  Delegation  der  hochverrätherischen 
alldeutschen  evangelischen  Bewegung  entgegengetreten 
ist.  Was  die  Strassenbenennungen  nach  Bismarck  be- 
trifft, sollte  dr.  Kramäf  nicht  patriotischer  sein  wollen, 
als  der  Träger  der  Krone,  der  nach  Abschluss  des 
deutsch- österreichischen  Bündnisses  Bismarck  den 
höchsten  österreichischen  Orden  verliehen  hat.  Wir 
haben  nie  ein  Hehl  daraus  gemacht,  dass  für  uns  als 
Alldeutsche  die  evangelische  Bewegung  eine  politisch- 
nationale ist,  entstanden  durch  das  Zusammengehen 
der  Gzechen  mit  den  Klerikalen  im  österreichischen 
Reichsrathe  1897,  zu  Badenis  Zeit."  Wie  es  in  den 
Versammlungen  der  Alldeutschen  zugeht,  darüber  gibt 
uns  ein  deutliches  Bild  ein  Bericht  der  „Ostdeutschen 
Rundschau",  des  Organs  Karl  Hermann  Wolfs  vom 
4.  Nov.  1902.  Wir  drucken  ihn  ab  ohne  Kommentar» 
Alldeutsche  Versammlung  in  Währing* 
Wir  haben  bereits  im  heutigen  Morgenblatte  über 
den  glänzenden  Verlauf  der  Versammlung  berichtet» 
welche  gestern,  einberufen  vom  deutschnationalen 
Verein  für  Oesterreich,  im  Apollosaale  in  Währing 
stattfand.  Wohl  500  deutsche  Männer  füllten  den 
Saal  bis  auf  das  letzte  Plätzchen.  Die  Ausführungen 
sämmtlicher  Redner  wurden  mit  einmüthiger  Zustim- 
mung aufgenommen.  In  seinen  einleitenden  Worten 
wies  Abgeordneter  Wolf,  wie  wir  bereits  ausführlich 
mittheilten,  auf  das  Kesseltreiben  der  Schönerianer 
gegen  ihn  hin.  Der  stürmische  Beifall,  mit  dem  seine 
Ausführungen  aufgenommen  wurden,  kann  als  voll- 
giltiger  Beweis  dafür  gelten,  dass  die  Dankbarkeit  im 
deutschen  Volke  noch  nicht  zum  Märchen  geworden 
ist,  trotz  aller  Machenschaften  Jener,  die  sich  seine 
Führer  zu  nennen  wagen.  Auch  die  Ausführungen 
des  Abgeordneten  Schreiter,  der  an  der  Hand  eines 
reichen  Ziffernmateriales  nachwies,  mit  welch'  ver- 
blüffender   Unverschämtheit     unter     dem    „deutsch- 


94 


freundlichen"  Ministerium  Körber  die  Tschechisirung 
fortgesetzt  wird,  und  die  Rede  des  Herrn  dr.  Julius 
Rader,  des  alldeutschen  Landtagswahlwerbers  für  die 
Bezirke  Währing  und  Döbling,  wurden  durch  reichen 
Beifall  gelohnt.  Stürmisch  begrüsst  wurde  der  Land- 
wirth  Georg  Schamberger,  der  die  Wahlumtriebe  der 
Klerikalen  in  Oberösterreich  schilderte.  Zum  Schlüsse 
besprach  Abgeordneter  Wolf  die  Körber'schen  Grund- 
züge und  wies  darauf  hin,  dass  das  Heil  des  deut- 
schen Volkes  in  Oesterreich  ebenso  wie  das  des 
Staates  nur  in  einem  engeren  Anschlüsse  an  das 
Deutsche  Reich  zu  finden  sei.  Im  Folgenden  berichten 
wir  über  den  Verlauf  der  Versammlung.  Nachdem 
der  Schriftführer  des  Deutschnationalen  Vereins,  Herr 
Ed.  v.  Stransky,  den  Vorsitz  übernommen  hatte,  er- 
griff Abgeordneter  Schreiter  das  Wort.  Redner  wies 
auf  den  schweren  Kampf  hin,  den  der  deutschna- 
tionale Verein  zu  bestehen  gehabt.  Man  sei  in  der 
Bekämpfung  Wolfs  nicht  bei  der  Person  allein  ge- 
blieben, sondern  habe  auch  den  deutschnationalen 
Verein  angegriffen.  Wenn  Wolf  nicht  eingetreten  wäre, 
so  hätte  die  Partei  nicht  solche  Erfolge  zu  verzeichnen 
gehabt. 

Heute  stehe  die  Sache  leider  anders!  Die 
niederösterreichischen  Landtagswahlen  seien  die  erste 
Quittung  für  den  Zwist  im  alldeutschen  Lager.  Wir 
dürfen  aber  darum  nicht  verzagen.  Der  Ausgang  der 
mährischen  Wahlen  beweist,  dass  unsere  Partei  ihre 
alte  Kraft  noch  nicht  verloren  hat.  Sie  wird  wieder 
wie  früher  yon  Erfolg  zu  Erfolg  eilen,  dazu  sei  aber 
mehr  nöthig,  als  bloss  in  Versammlungen  dem  Redner 
Beifall  zu  zollen.  Jeder  muss  werkthätig  eingreifen 
nach  seiner  Kraft.  Redner  berührte  hierauf  die  bren- 
nendsten wirtschaftlichen  Fragen :  die  Lage  der  Land- 
wirthe  und  Gewerbetreibenden,  die  Invaliditäts-  und 
Altersversicherung,  endlich  unsere  unvernünftige 
Steuergesetzgebung.  In  dieser  Beziehung  hat  das  Mi- 
nisterium Körber  wenig  oder  nichts  gethan;  durch 
die  neue  Wehrvorlage  aber  und  durch  die  Erhöhung 
der  Civilliste  kann  dem  Volke  nicht  geholfen  werden. 
(Lebhafte  Zustimmung.)  Neue  Gewehre  und  Kanonen 
sind    oft   nur    dazu  da,    um    dem   sauer  arbeitende^ 


95 


Volke    den   Effekt  kosten  zu  lassen,   wie  die  Vorfälle 
in  Graslitz  und  in  Galizien  gezeigt  haben. 

Vor  Schlichtung  der  nationalen  Streitigkeiten, 
führt  Redner  weiter  aus,  könne  aber  von  einer  Bes- 
serung der  Verhältnisse  nicht  die  Rede  sein.  Wenn 
man  die  Durchführung  der  deutschen  Staatssprache 
verlange,  so  sei  dies  eine  berechtigte,  mit  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  des  Reiches  übereinstim- 
mende Forderung.  Es  müsse  dahin  gestrebt  werden, 
dass  kleine  Parteien  verschwinden,  denn  Zwietracht 
vernichte  die  Erfolge.  Nur  festgesqhlossen  können  wir 
den  slavischen  Massen  wirksam  entgegentreten.  Mit 
Energie,  Rücksichtslosigkeit  und  Terrorismus  müssen 
wir  vorgehen,  dann  wird  der  Erfolg  unser  sein. 
Redner  weist  durch  zahlreiche  Beispiele  nach,  wie 
rein  deutsche  Städte  und  Bezirke  systematisch  durch 
Einwanderung  tschechischer  Beamten  zu  zweispra- 
chigen gemacht  werden.  Durch  diesen  Umstand  seien 
aber  auch  die  deutschen  Beamten  schwer  geschädigt. 
In  deutschen  Sprachgebieten  müssten  deutsche  Be- 
amte angestellt  werden.  Man  wende  sich  damit  nicht 
gegen  einzelne  Personen,  sondern  gegen  das  Princip. 
Ginge  es  so  fort  wie  bisher,  so  würden  wir  einfach 
der  Kulturdünger  in  Oesterreich  sein.  Redner  schloss 
mit  den  Worten :  „Wir  haben  die  heilige  Verpflich- 
tung, die  Scholle,  die  .wir  von  unseren  Vorfahren 
geerbt  haben,  auch  deutsch  zu  erhalten.  Dahin  müss 
das  Bestreben  jedes  Einzelnen  gehen !"  (Stürmische 
Zustimmung.)  Zustimmungskundgebungen  waren  ein- 
gelaufen :  von  Dr.  Delpin  (Friedau),  Abgeordneten 
Dr.  Tschan,  Doktor  Walter  für  die  Alldeutschen  in 
Teplitz,  aus  Falkenau,  Gänserndorf  (Dr.  Weinitschke), 
Schluckenau,  Haida  (Frank),  Mährisch-Rothwasser, 
Steinschönau,  Iglau,  Mährisch-Neustadt  (Bradatschek), 
Witkowitz,  Mährisch-Schönberg,  Klein-Mohren  (vom 
Landtagsabgeordneten  Zöllner  namens  des  Landge- 
meindenbezirkes Römerstadt),  Linz,  Zistersdorf,  Polaun, 
Wels,  Chodau,  Langenlois,  Asch  u.  Trautenau  (Schrift- 
leiter Lindemayr  namens  der  dortigen  Alldeutschen). 
Als  nächster  Redner  betrat  Herr  dr.  Rader  die  Tri- 
büne. Es  sei  kein  Vergnügen,  sagte  er,  in  dem  christ- 
lich -  social    verpöbelten   Wien   als   deutschnationaler 


96 


Zählkandidat  aufgestellt  zu  werden.  Von  dem  einsti- 
gen deutschnationalen  Bau  in  Währing  sei  nur  noch 
eine  zerrissene  Mauer  da,  und  diese  heisse  Dr.  Rader. 
(Heiterkeit.)  Alle  früheren  Gesinnungsgenossen  seien 
ins  christlich-sociale  Lager  gegangen,  und  er,  der 
allein  ausgeharrt,  der  für  das  deutschnationale  Pro- 
gramm seine  Existenz  aufs  Spiel  gesetzt  habe,  werde 
dafür  von  den  Schönerianern  beschimpft  und  ver- 
leumdet. (Stürmische  Pfuirufe.)  Hätte  Redner  nicht 
so  treu  an  dem  deutschnationalen  Programm  festge- 
halten, so  brauchte  er  heute  nicht  als  Zählkandidat 
dazustehen.  (Zustimmung.)  Es  sei  Dr.  Lueger  mit 
Hilfe  der  Geistlichkeit  gelungen,  Niederösterreich  kle- 
rikal zu  machen.  Jeder  Pfarrhof  am  Lande  sei  ein 
politischer  Organisationspunkt.  Was  den  Christlich- 
socialeh  auf  dem  Lande  zu  ihren  Siegen  verholfen,  ist 
der  Umstand,  dass  sie  dort  keine  Gegner  haben.  Ihrer 
geschlossenen  Masse  standen  die  „geeinten  freiheit- 
lichen Parteien"  gegenüber,  Socialdemokraten,  Libe- 
rale und  Deutschnationale,  deren  Programme  ein- 
ander schnurstracks  widersprechen.  Redner  bespricht 
den  Scheinantisemitismus  der  Ghristlichsocialen,  mit 
den  sie  auf  Wählerfang  ausgehen.  Bei  der  nächsten 
Wahl  handle  es  sich  um  einen  Kampf  zweier  An- 
schauungen. Auf  der  einen  Seite  stehe  der  starre 
dogmatische  Glaube,  auf  der  anderen  Seite  die  Wis- 
senschaft und  die  Freiheit.  (Lebhafter  Beifall.)  Vor- 
sitzender v.  Stransky  dankte  mit  warmen  Worten 
dem  Redner  und  sagte,  dass  es  die  Pflicht  eines  je- 
den Deutschen  sei,  seiner  Meinung  durch  Abgabe 
des  Stimmzettels  Ausdruck  zu  geben  und  dr.  Rader 
zu  wählen,  wenn  auch  dessen  Wahl  aussichtslos  er- 
scheine. 

Unter  stürmischen,  anhaltenden  Heilrufen  wen- 
dete sich  der  Bauernführer  Schamberger  an  die  Ver- 
sammelten. Er  schilderte  in  schlichten  Worten  die 
traurigen  klerikalen  Zustände  in  Oberösterreich  und 
wies  die  Behauptung,  die  Bauern  seien  zu  wenig 
aufgeklärt,  entschieden  zurück.  Ein  Fehler  sei  es, 
dass  die  Bauern  an  der  Geistlichkeit  hängen  und 
diese  mehr  achten,  als  sie  es  verdient.  Er  schilderte 
hierauf    die   Agitation    der  Geistlichen   zur  Wahlzeit 


91 


Es  müsse  eine  Grenze  zwischen  politischem  und 
kirchlichem  Leben  gezogen  werden,  Redner  meint, 
dass  das  ein  glücklicher  Staat  sei,  in  dem  der  Kul- 
tur glänzende  Gebäude  errichtet  würden,  aber  nicht 
Gefängnisse,  Kasernen  u.  a.  m.  Wenn  die  deutsch- 
nationale Partei  einig  wäre,  dann  brauchte  ihr  um 
die  Zukunft  nicht  zu  bangen.  Heil  dem  Deutschthum, 
der  deutschnationalen  Sache!  (Stürmischer  Beifall.) 
Der  Vorsitzende  dankt  dem  alten  Bauern  Scham- 
berger,  der  die  weite  Reise  nicht  gescheut  hat,  um 
an  der  heutigen  Versammlung  theilzunehmen.  Auf 
das  schärfste  sei  es  zu  verurtheilen,  dass  Scham- 
berger,  der  ein  Menschenalter  lang  für  die  deutsch- 
nationale Sache  gekämpft  habe,  nun  von  den  Schö- 
nerianern  beschimpft  werde,  weil  er  die  Hetze  gegen 
Wolf  nicht  mitgemacht  habe.  (Lebhafte  Zustimmung 
und  Heilrufe  auf  Schamberger.)  Bürgerschullehrer 
Bruche  erbat  sich  dann  das  Wort  und  sprach  über 
die  Landtagswahlen  zu  den  Ausführungen  des  Dr. 
Rader,  der  noch  lange  keine  zerrissene  Mauer,  son- 
dern ein  Eckpfeiler  der  deutschnationalen  Partei  sei. 
Redner  fordert  zu  emsiger  Arbeit  auf,  welche  gewiss 
ihre  Erfolge  zeitigen  werde.  Als  letzter  Redner  be- 
sprach Abgeordneter  Wolf,  mit  lebhaften  Heilrufen 
begrüsst,  die  dem  Abgeordnetenhause  vom  Ministe- 
rium Körber  vorgelegten  Grundzüge.  Die  Regelung 
der  Sprachenfrage  sei  die  wichtigste  und  brennendste 
Angelegenheit.  Hätte  man  nach  dem  Jahre  1866  und 
1870  den  Deutschen  ihr  Recht  gegeben,  hätte  man 
sich  nicht  auf  den  Standpunkt  gestellt,  dass  die 
Deutschen  Oesterreichs  national  denaturirt  werden 
müssen,  so  wäre  der  Zustand  der  Verwirrung  und 
Zerrüttung  nicht  eingetreten,  unter  welchem  heute 
Oesterreich  leidet;  dann  hätten  wir  auch  im  wirth- 
schaftlichen  Wettbewerb  der  Staaten  unseren  Mann 
stellen  können.  Heute  aber  ist  jede  wirthschaftliche 
Besserung  unmöglich,  so  lange  nicht  die  Sprachen- 
frage gelöst  ist,  ehe  eine  grosse  nationalwirthschaft- 
liche  Forderung  der  Alldeutschen  zur  Entscheidung 
gebracht  ist:  die  Zollunion  mit  dem  Deutschen  Reiche. 
Das  ist  ein  Ziel,  des  Schweisses  der  Edlen  werth. 
Unbekümmert   um   alle   Unkenrufe   von    Hoch-   und 


98 


Landesverräte  wollen  wir  es  laut  sagen :  Wir  streben 
einen  engeren  wirtschaftlichen  Anschluss  an  das 
Deutsche  Reich  an.  Dieser  wirtschaftliche  Anschluss 
wird  zweifellos  auch  politische  Folgen  haben.  In  wel- 
cher Form  sich  dieselben  äussern  werden,  das  können 
wir  aber  getrost  der  Geschichte  zur  Entscheidung  über- 
lassen. Sicher  ist,  dass  nur  in  einem  solchen  Anschlüsse 
das  Heil  der  Deutschen  in  Oesterreich  gelegen  ist,  aber 
auch  das  Heil  der  Dynastie,  denn  sich  selbst  über- 
lassen wird  Oesterreich  über  kurz  oder  lang  in  seine 
Partikelchen  zerfallen.  (Stürmische  Zustimmung.)  Unter 
den  heutigen  Verhältnissen  von  einer  Regelung  der 
Sprachenfrage  zu  sprechen,  ist  Unsinn.  Da  kommt 
Körber  mit  seinen  Grundzügen,  die  für  das  deutsche 
Volk  einfach  unannehmbar,  die  eine  Verhöhnung  un- 
serer Forderungen  sind.  Und  doch  darf  man  den 
Ministerpräsidenten  deshalb  nicht  übermässig  tadeln. 
Denn  er  hat  ja  nichts  anderes  gethan,  als  jene  Grund- 
sätze hervorgeholt,  welche  einige  deutsche  Parteien 
selber  in  dem  sogenannten  „Pfingstprogramm"  auf- 
gestellt haben.  Die  Verfasser  des  Pfingst program mes, 
welche  an  die  Stelle  der  Staatssprache  den  Schatten 
einer  Vermittlungssprache  setzen,  welche  den  Tsche- 
chen die  innere  tschechische  Staatssprache  auf  dem 
Präsentirteller  entgegenbrachten,  sie  müssen  für  das 
verantwortlich  gemacht  werden,  was  jetzt  geschieht. 
Redner  bespricht  dann  die  einzelnen  Bestimmungen 
der  Grundzüge,  durch  welche  der  Tschechisirung  erst 
recht  Thür  und  Thor  geöffnet  würde.  Wagt  man  es 
doch  schon  heute,  das  ganze  Gebiet  von  Mähren  für 
zweisprachig  zu  erklären.  Mögen  die  einzelnen  Parla- 
mentarier über  solche  Grundsätze  verhandeln,  das 
deutsche  Volk  weist  sie  weit  von  sich.  Wir  wollen 
geschlossen  für  einen  engeren  Anschluss  an  das 
Deutsche  Reich  eintreten.  Diesen  Grundsatz  wollen 
wir  mit  aller  Macht  verfechten,  und  an  ihm  wird  die 
Macht  des  Slaventhums  zerschellen.  (Stürmischer, 
langanhaltender  Beifall.) 

Wir  haben  an  diesen  Aussprüchen  der  alldeut- 
schen Abgeordneten  einen  hinreichenden  Beweis  ihrer 
Gesinnung  erbracht.  Der  alldeutsche  Gedanke  ist  in 
Oesterreich   schon  zu  einem  bedeutenden  Faktor  ge- 


99 


worden.  Mitte  Jäner  1902  kam  Prinz  Adalbert  v.  Preussen 
auf  dem  Schulschiff  „Charlotte"  nachTriest.  Es  wurde 
ein  Diner  auf  dem  Schiffe  gegeben,  zu  dem  der  Stalt- 
halter Istriens  Graf  Goess  erschien.  Ein  reichsdeut- 
sches Blatt  berichtet  darüber  folgendes. 

Bei  dem  Diner  hielt  der  Staathalter  Graf  Goess 
eine  Rede,  in  welcher  er  seiner  Freude  darüber  Aus- 
druck gab,  das  deutsche  Schulschiff  „Charlotte"  an 
dem  Theile  der  österreichischen  Küste  begrüssen  zu 
können,  welcher  für  die  Entstehung  und  Entwickelung 
der  maritimen  Stellung  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie  besondere  Bedeutung  habe.  Der  Redner 
erinnerte  daran,  dass  man  in  diesen  Tagen  mit  den 
Arbeiten  begonnen  habe,  welche  den  dreifachen  mächti- 
gen Gebirgswall  der  Tauern,  Karawanken  und  Juli- 
schen  Alpen  durchbrechen  und  Triest  in  wenigen 
Jahren  dem  betriebsamen  Norden  der  Monarchie  und 
dem  Deutschen  Reiche  um  vieles  näher  bringen  werden, 
und  sprach  die  Hoffnung  aus,  dass  damit  ein  neues 
Band  in  den  vielfachen  Wechselbeziehungen  Oester- 
reich-Ungarns  und  Deutschlands  geflochten  werden 
möge.  Als  Glück  verheissendes  Zeichen  gelte  ihm, 
dass  gerade  zu  dieser  Zeit  das  Deutsche  Reich  das 
kaiserliche  Schiff  mit  dem  erlauchten  jugendlichen 
Sprossen  seines  Kaiserhauses  nach  Triest  enl sendet 
habe.  Der  Statthalter  fuhr  dann  fort:  „Die  Hoffnung 
auf  die  Zukunft  ist  das  unveräusserliche  und  natür- 
liche Recht  der  Jugend.  Auch  vor  Euerer  königlichen 
Hoheit  liegt  vielverheissend  die  ganze  Zukunft  eines 
thatenretchen  Lebens,  verbürgt  durch  die  grosse  Auf- 
gabe der  kaiserlich  deutschen  Kriegsmarine.  Wenn, 
wie  wir  hoffen,  dieser  hohe  Beruf  Euere  königliche 
Hoheit  dereinst  im  Zenithe  des  Lebens  stehend  wieder 
an  diese  Küste  führen  sollte,  dann  mögen  Euere  kö- 
nigliche Hoheit  diese  Stadt  als  mächtig  entwickeltes 
Emporium  und  in  demselben  Masse  als  werlhvollen 
Bestandtheil  seines  Handelsstnndes  die  deutsche  Ko- 
lonie in  reicher  Blüthe  wiederfinden.  Wir  aber  wün- 
schen Eurer  königlichen  Hoheit  aus  ganzem  Herzen 
im  reichsten  Masse  Glück  und  Erfolg  auf  dem  Lebens- 
wege zur  Freude  Eurer  königlichen  Hoheit  erhabenen 
Eltern    und    zum    Glänze  und  Ruhme   des  der  öster- 


100 


reichisch-ungarischen  Monarchie  eng  verbündeten 
Reiches."  Der  Redner  schloss  mit  einem  Hoch  auf 
den  deutschen  Kaiser,  die  deutsche  Kaiserin  und  den 
Prinzen  Adalbert.  Man  sollte  glauben,  dass  Statthalter 
Graf  Goess  darüber  Freude  empfinde,  dass  durch  den 
Bau  der  Tauernbahn  Bismarck's  Pläne  um  Oester- 
reich  sehr  erleichtert  sind.  Einen  anderen  Blick  über 
das  Eindringen  des  grossdeutschen  Gedankens  nach 
Oesterreich  gewährt  uns  die  Zusammenkunft  der  deut- 
schen Naturforscher  in  Karlsbad,  abgehalten  im  J.  1902. 
Das  Organ  der  prager  Juden  das  „Prager  Tagblatt* 
Hess  am  21.  September  1902  einen  Leitartikel  los, 
aus  dem  wir  folgendes  reproduciren.  Wo  immer 
bisher  die  Naturforscher  tagten,  wurden  sie  namens 
der  Regierung  willkommen  geheissen,  und  der  ehe- 
malige Universitätsprofessor  und  jetzige  österreichische 
Unterrichtsminister  Dr.  v.  Hartel  wird  es  sich  nicht 
nehmen  lassen,  die  deutschen  Gelehrten  in  Karlsbad 
im  Namen  Oesterreichs  zu  begrüssen.  Sie  werden  sich 
bei  uns  zu  Hause  fühlen.  Was  bei  der  Nürnberger 
Feier  der  schweizerische  Professor  Vetter  von  der 
Schweiz  sagte,  das  gilt  von  Böhmen  in  noch  höherem 
Grade.  Böhmen  ist  eine  deutsche  Provinz  und  noch 
dazu  ohne  geistiges  Reservatrecht.  Vor  55  und  vor  40 
Jahren  war  sie  es  ja  auch  noch  politisch;  geistig  ist 
sie  es  noch  heute,  denn  der  deutsche  Stamm,  der 
Böhmen  bewohnt,  steht  in  regstem  und  untrennbar- 
stem Zusammenhang  mit  dem  deutschen  Geistesleben. 
Da  macht  ein  Pressjude  mit  einigen  Federstrichen 
aus  dem  Königreich  Böhmen  kurzweg  eine  deutsche 
Provinz.  Auf  dem  Festbanket  sprach  Hofrath  Ghiari, 
Universitätsprofessor  in  Prag,  folgendes :  Der  heutige 
Kongress  ist  seitens  der  Kollegen  aus  dem  Deutschen 
Reiche  äusserst  zahlreich  besucht ;  diese  haben  damit 
unwiderleglich  und  klar  dargethan,  dass  die  Deutschen 
im  Deutschen  Reiche  und  die  Deutschen  in  Oester- 
reich in  wissenschaftlicher  Hinsicht  ein  zusammen- 
gehöriges und  untrennbares  Ganzes  bilden.  (Demon- 
strativer Beifall.)  Diese  Thatsache  ist  für  uns  äusserst 
erfreulich.  Wenn  irgendwo,  so  sind  auf  dem  Gebiete 
der  Wissenschaft  die  innigsten  Wechselbeziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Forschern  von  Nah  und  Fern 


101 


von  der  höchsten  Wichtigkeit.  Wir  in  Oesterreich 
empfinden  die  Summe  von  Anregung,  welche  wir  der 
Unermüdlichkeit  der  Kollegen  im  deutschen  Reiche 
verdanken,  und  wir  sind  bemüht,  nach  besten  Kräften 
mitzuwirken  an  der  Entwicklung  deutscher  Wissen- 
schaft, wohl  wissend,  dass  wir  als  treue  Bürger  unse- 
res geliebten  Vaterlandes  auf  diese  Art  dem  Vater- 
lande den  besten  Dienst  erweisen.  (Stürmischer  Bei- 
fall.) Dieser  Punkt  ist  ein  geistiger,  er  ist  ein  schöner 
Punkt,  und  entspricht  gewiss  den  Intentionen  der 
beiden  erhabenen  Monarchen,  welche  sich  als  wahre 
Friedensfürsten  erwiesen  und  die  kulturelle  Hebung 
ihrer  Unterthanen  stets  und  unentwegt  aufrecht  er- 
halten haben.  Ich  bringe  meinen  Toast  auf  das  Wohl 
der  erhabenen  Majestät  des  deutschen  Reiches,  den 
deutschen  Kaiser,  welcher,  bewundert  von  der  ganzen 
Welt,  mit  unerreichter  Universalität  und  Thatkraft,  mit 
wahrer  Mannes-Energie  sich  stets  als  ein  unerreichter 
Mäcen  der  Wissenschaft  erwiesen  hat  und  unter  dessen 
weisen  Führung  in  Deutschland  sowie  auf  vielen  an- 
deren Gebieten,  auch  auf  dem  Gebiete  der  Wissen- 
schaft, die  Deutschen  zu  einer  führenden  Rolle  in  der 
Welt  gekommen  sind.  So  stimmen  Sie  mit  mir  denn 
ein  in  den  Ruf:  „Se.  geheiligte  Majestät  der  deutsche 
Kaiser  Wilhelm  II.  lebe  hoch !"  (Die  Versammlung 
brachte  ein  dreimaliges  begeistertes  Hoch  aus,  worauf 
„Heil  dir  im  Siegerkranz  !u  von  den  Anwesenden  ste- 
hend mitgesungen  wurde.)  Hierauf  ergriff  der  Direktor 
der  elektrotechnischen  Lehranstalt  in  Hamburg,  Pro- 
fessor Voller,  das  Wort  und  sagte  unter  Anderem : 
„Die  Deutschen  kämpfen  in  Oesterreich  derzeit  einen 
schweren  Kampf  um  ihre  nationale  Stellung.  Unsere 
Pflicht  ist  es,  sie  in  demselben  voll  zu  unterstützen, 
da  wir  mit  dafür  sorgen  müssen,  dass  die  Deutschen 
in  Oesterreich  für  sich  und  ihre  Kindeskinder  das  er- 
erbte Gut  bewahren.  Auf  freiem  deutschen  Lande  mögen 
auch  in  Zukunft  die  freien  Deutschen,  die  deutsche 
Wissenschaft  und  die  deutsche  Kultur  hochhalten  und 
ein  deutscher  Stamm  möge  stets  die  österreichi- 
schen Lande  regieren."  Der  Redner  sagte  zum  Schlüsse  : 
„Wenn  wir  hier  durch  die  Strassen  gezogen  und  die 
schwarz-roth-goldenen  Fahnen  von  den  Giebeln  wehen 


102 


saben,  fühlten  wir,  dass  wir  in  deutschen  Landen 
sind."  Der  Redner  trank  auf  die  deutschen  Naturfor- 
scher. Die  Kapelle  intonirte  hierauf  das  „Deutsche 
Lied",  welches  von  der  Gesammtheit  mit  heller  Be- 
geisterung mitgesungen  wurde.  Es  folgte  noch  eine 
Reihe  von  Toasten,  worauf  das  Festbankett  in  vor- 
gerückter Stunde  sein  Ende  nahm. 

Der  österreichische  Unterrichtsminister  von  Hartel 
Hess  sich  folgendem! assen  hören :  „Empfangen  Sie 
meinen  herzlichsten  Dank  für  Ihre  ehrenvolle  Ein- 
ladung zu  dieser  Versammlung,  welche  durch  die  vor- 
bildliche Bedeutung  für  die  gelehrten  Verhandlungen 
dieser  Art,  durch  die  so  lange  Dauer  ihres  Bestandes, 
durch  den  grossen  Werth  und  den  weittragenden  Ein- 
fluss  ihrer  Arbeiten,  durch  den  hohen  Ruf  ihrer  Theil- 
nehmer  aus  allen  Gauen  Deutschlands  und  Oesler- 
reichs  unter  den  wissenschaftlichen  Kongressen  der 
Neuzeit  sich  mit  Recht  des  höchsten  Ansehens  erfreut. 
Aber  es  ist  nicht  bloss  mein  persönlicher  Dank,  den 
ich  für  Ihre  Einladung  und  freundliche  Begrüssung 
ausgebracht  haben  wollte.  Ich  bin  glücklich,  Sie  als 
Vertreter  der  österreichischen  Regierung  und  derzei- 
tiger Chef  der  Unterrichtsverwaltung  begrüssenund  für 
Ihr  so  zahlreiches  Erscheinen  an  diesem  Orte  danken 
zu  dürfen.  Die  Wahl  des  Ortes  war  eine  fördersame 
Ehrung  der  Stadt  Karlsbad,  die,  von  der  Mutter  Natur 
ausgestattet  wie  kaum  eine  andere,  dem  Naturforscher 
dankbare  Aufgaben  stellt  und  die  Kunst  des  Arztes 
durch  die  geheimnissvolle  Wunderkraft  ihrer  Heil- 
quellen unterstützt  und  fördert.  In  der  Wahl  dieses 
Versammlungsortes  liegt  zugleich  eine  aufmunternde 
Anerkennung  der  Bestrebungen  ihrer  österreichischen 
Fachs?enossen,  die  sich  jenes  durch  keinerlei  Landes- 
grenzen auflösbaren  kulturellen  Zusammenhanges  be- 
wusst  werden,  wenn  dessen  Grösse  und  Bedeutung, 
der  Werth  jedes  einzelnen  Gliedes  dieses  Kreises  und 
seiner  Leistungen  mitbestimmt  und  mitbedingt  wird. 
Seien  Sie  uns  darum  doppelt  willkommen  in  dieser 
herrlichen  Stadt,  dieser  Perle  österreichischer  Lande. 

Wir  wissen  aber  abgesehen  davon  die  Vortheile 
ihrer  Kongresse  gar  wohl  zu  schätzen.  Dies  scheint 
nämlich  das  eigentümlichste  Kennzeichen  des  wissen- 


loa 


schaftlichen,  wie  des  wirthschaftlichen  Lebens  unserer 
Zeit :  die  Verbindung  vereinzelter  Kräfte  zu  gemein- 
samen Handeln,  die  Vereinigung  zersplitterter  Mittel 
zur  Erreichung  solcher  gemeinsamer  Ziele.  Während 
früher  solchen  Zwecken  in  den  einzelnen  Ländern 
Universitäten  und  Akademien  vollauf  zu  genügen 
schienen,  verbinden  sich  jetzt  die  Akademien  nicht 
bloss  eines  Staates  oder  einer  Nation,  sondern  immer 
mehr  die  gelehrten  Gesellschaften  der  wichtigsten 
Kulturstaaten  mit  einander  und  legen  ihre  Mittel  zu- 
sammen, um  nach  wohlüberlegten  Plänen  an  Unter- 
nehmungen heranzutreten,  die  ehedem  mit  Aussicht 
auf  einen  sicheren  oder  raschen  Erfolg  nie  oder  theil- 
weise  in  Angriff  genommen  werden  konnten"  u.  s.  w. 

Ueber  die  Rede  des  Unterrichtsministers  Hartel 
hatte  die  „Neue  Freie  Presse"  eine  unbändige  Freude. 
Sie  schrieb :  Es  war  vorauszusehen,  dass  auf  dem 
Karlsbader  Kongresse  auch  die  Politik,  welche  nur 
ein  Ausdrucksmittel  für  den  Darwinschen  Kampf  ums 
Dasein  ist,  zu  Worte  kommen  werde.  Dass  aber  der 
Unterrichtsminister  selbst  die  Bedeutung  der  gemein- 
samen geistigen  Arbeit  der  Deutsch-Oesterreicher  und 
der  Reichsdeutschen  hervorheben,  dass  er  in  Gegen- 
wart seines  Ministerkollegen  aus  Preussen  des  grossen, 
durch  keinerlei  Landesgrenzen  auflösbaren  kulturellen 
und  nationalen  Zusammenhanges  gedenken  werde, 
das  war  eine  freudige  Ueberraschung,  auf  welche 
keiner  der  zweitausend  Deutschen,  welche  sich  dies- 
mal zu  wissenschaftlicher  Arbeit  vereinigt  haben,  ge- 
fasst  sein  konnte.  Der  Jubel,  welchen  diese  Worte 
unseres  Ministers  entfesselten,  bewies,  dass  Hofrath 
v.  Hartel  die  Wahrheit  gesprochen  hatte.  Der  Minister 
gedachte  auch  der  vorurteilsfreien  Wissenschaft,  er 
sprach  in  der  österreichischen  Goethe- Stadt  von  Goethe : 
„Im  Geiste  dieses  Mannes  mögen  Sie  Ihre  Berathun- 
gen  beginnen,  und  zum  Wohle  der  Menschheit,  zur 
Ehre  der  Wissenschaft  zu  Ende  führen."  —  Man  sollte 
doch  glauben,  dass  die  Presshebräer  in  der  Fichtegasse 
durchwegs  ausgediente  preussiche  Leibhussaren  sind 
und  eine  fette  Pension  aus  Berlin  beziehen. 

Als  im  Jahre  1898  polnische  Aerzte  einen  solchen 
Tag   nach   Breslau   beriefen,   verbot  die   proussische 


104 


Regierung  die  Theilnahme  an  ihm  böhmischen  und 
polnischen  Aerzten  aus  Böhmen,  Mähren  etc.,  und 
drohte,  falls  jemand  doch  käme,  ihn  mit  Gewalt  über 
die  Grenze  zu  eskortiren.  So  der  preussiche  „Kultur- 
staat". 

Die  alldeutsche  Propaganda  stört  schon  seit  langer 
Reihe  von  Jahren  auch  sehr  bedenklich  innere  Ver- 
hältnisse mitten  in  Wien  selbst.  Als  das  Ministerium 
Thun  in  Wirksamkeit  war,  hatte  der  Ministerpräsident 
Graf  Franz  Thun  als  wahrer  österreichischer  Patriot 
den  Muth  im  Parlament  öffentlich  zu  sagen,  dass  seine 
Regierung  reichsdeutsche  Angehörige  in  ihre  Heimat 
verweisen  werde,  wenn  Preussen  fortfährt  ohne  jede 
Rücksicht  Arbeiter,  österreichische  Unterthanen,  aus 
Deutschland  zu  verweisen.  Auf  dieses  hin  begann  das 
Quertreiben  des  deutschen  Botschafters  Fürsten  Eulen - 
bürg.  Ein  reichsdeutsches  Blatt  schrieb  darüber  11. 
September  1901  folgendes.  „Wie  bekannt,  fand  die 
Thätigkeit  des  Fürsten  Eulenburg  in  Wien  ihren  Höhe- 
punkt während  der  grossen  inneren  Krisis  von  der 
Oesterreich  unter  dem  Ministerium  Thun  heimgesucht 
war.  Trübes  Gewölk  zog  damals  über  den  Dreibund 
herauf;  die  Tschechen  arbeiteten  gegen  die  Allianz 
mit  Deutschland  und  ihr  Führer  Kramarz  verglich 
den  Dreibund  mit  einem  überspielten  Klavier.  Es  schien, 
als  ob  das  officielle  Oesterreich  sich  in  diese  Treibe- 
reien hineinziehen  lasse;  man  errinert  sich  der  Ant- 
wort, die  Graf  Thun  auf  die  Interpelation  betreffend 
die  Ausweisung  von  österreichischen  Slaven  aus  Preus- 
sen gab.  Damals  musste  Fürst  Eulenburg  in  Wien 
unverhohlen  die  Besorgniss  äussern,  dass  bei  dem 
Siege  der  slavischen  Richtung  in  Oesterreich  der  Drei- 
bund in  Gefahr  käme,  aber  er  durfte  nicht  den  Ver- 
dacht erwecken,  als  ob  er  das  diplomatische  Gebiet 
verlassen  und  sich  in  die  inneren  Verhältnisse  Oester- 
reichs  einmischen  wolle.  Es  war  nicht  eben  leicht, 
diese  Linie  einzuhalten.  Damals  erfuhr  Eulenburg  von 
Seiten  der  Tschechen  in  der  Presse  sowohl  wie  in 
der  Delegation  bissige  Angriffe  und  diese  seine  Gegner 
suchten  seine  Stellung  in  Wien  dadurch  zu  untergra- 
ben, dass  sie  ihn  als  die  entscheidende  Person  in  den 
inneren  Wirren  behandelten.  Die  Korrektheit,  mit  der 


105 


der  Botschaflei  sich  seiner  Aufgabe  entledigte,  be- 
wirkte, dass  er  auch  nicht  einen  Augenblick  aufhörte, 
am  Wiener  Hofe  persona  gratissima  zu  sein ;  so  schlecht 
Graf  Thun  auf  ihn  zu  sprechen  war,  so  konnte  der 
damalige  Ministerpräsident  das  Ansehen  seines  wirk- 
lichen oder  vermeintlichen  Widersachers  doch  nicht 
erschüttern.  Der  Botschafter  Graf  Eulenburg  in  Wien 
und  Hr.  v.  Szögyeny  in  Berlin  theilen  sich  in  die 
Arbeit,  die  Reibungen  zu  vermindern,  die  dann  mit 
dem  Falle  des  slavisch-feudalen  Regiments  in  Oester- 
reich  aufhörten.  Zu  Weihnachten  1899  schickte  Kaiser 
Wilhelm  Hr.  v.  Szögyeny  sein  Bild  und  der  Adjutant, 
der  es  überbrachte,  hatte  es  mit  den  Worten  zu  über- 
reichen :  „Trotz  der  Interpelationsbeantwortung  durch 
den  Grafen  Thun.u  Wer  den  Dreibund  zu  festigen 
wünscht,  sollte  diese  inneren  Zusammenhänge  kennen 
und  nicht  vergessen,  welche  Rolle  Fürst  Eulenburg 
in  jenen  Verwicklungen  spielte.  Es  werden  wieder 
einmal  Tage  kommen,  da  der  deutschen  Botschaft  in 
Wien  schwierige  Aufgaben  erwachsen  werden,  und 
es  wäre  zu  wünschen,  dass  sie  mit  demselben  Glücke 
entwirrt  werden,  wie  seinerzeit  durch  den  damaligen 
Grafen,  jetzigen  Fürsten  Eulenburg."  —  Diesen  Bericht 
hat  offenbar  ein  Pressjude  aus  Wien  abgeschickt.  Er 
spricht  mehr  als  deutlich  über  die  Wirksamkeit  des 
deutschen  Botschafters.  Ja  reichsdeutsche  Blätter  kon- 
trolirten  ihn  derart,  dass  sie  dem  Botschafter  Vorwürfe 
machten,  wenn  er  nicht  ständig  auf  seinem  Wach- 
posten in  Wien  stand  Hat  ja  gegen  diesen  Botschafter 
nicht  allein  Graf  Thun,  sondern  sein  Vorgänger  Graf 
Taaflfe  beim  Kaiser  selbst  sich  öfters  beschweren  müs- 
sen. Aus  dem  Palais  des  Botschafters  Fürst  Eulen- 
burg wurden  alle  gehässige  Angriffe  gegen  Oesterreich 
in  die  dienstbaren  reichsdeutschen  Blätter  geschickt,  die 
dann  von  der  jüdischen  Pressreptilien  in  Wien  mit 
grossem  Nachdrucke  abgedruckt  wurden.  Der  Haupt- 
ablagerungsplatz dieser  Eulenburg' sehen  Angriffe  gegen 
Oesterreich  war  die  „Köln.  Zeitung."  Fürst  Eulenburg 
forderte  direkt  vom  österreichischen  Monarchen  im 
Namen  des  deutschen  Kaisers,  seines  Souverains,  Ent- 
lasung  des  Ministerium  Thun.  Eulenburg  selbst  brü- 
stete  sich  dann  in  der  „Münchener  Allgemeiner",  dass 


106 


er  das  Ministerium  Thun  zu  Falle  gebracht  habe. 
Um  diesen  Vertreter  Deutschlands  in  Wien  grup- 
pierten sich  heimlich  und  offen  alldeutsche  Agitatoren 
aus  dem  österreichischen  Parlament.  Welche  Angst 
in  Wien  herrschst,  wenn  in  Oesterreich  ein  wahres 
Wort  über  Preussen  fällt,  ersehen  wir  aus  dem  offi- 
ciellen  „Fremdenblatt".  Nach  den  furchtbaren  Scenen 
in  Wreschen  hat  im  galizischen  Landtag  Fürst  Czar- 
toryski  seinen  Abscheu  über  die  Misshandlung  der  pol- 
nischen Schulkinder  ausgesprochen.  Das  officiöse 
„Fremdenblatt"  schrieb  darüber  aus  Angst  vor  Berlin 
folgendes.  (Anfangs  Jänner  1902.)  „Es  wäre  besser 
gewesen,  wenn  im  galizischen  Landtage  Fürst  Czar- 
toryski  die  vor  dem  Eingang  in  die  Tagesordnung 
von  ihm  abgegebene  Erklärung  unterlassen  hätte,  da 
dieselbe  dem  Wirkungskreise  des  Landtages  nicht  ge- 
mäss war.  Wenn  der  Vertreter  der  Regierung  trotz- 
dem keine  Einsprache  erhob,  so  entsprang  sein  Ver- 
halten nur  dem  Wunsche,  der  Angelegenheit  dadurch 
nicht  zu  einer  grösseren  Ausdehnung  zu  verhelfen  und 
dieselbe  möglichst  einfach  und  klanglos  zu  Ende  zu 
führen.  Den  beiden  Regierungen  haben  wir  es  zu 
danken,  wenn  das  Ueberschäumen  der  Wreschener 
Affaire  auf  dem  österreichischen  Boden  und  das  An- 
schlagen derselben  sowohl  im  österreichischen  Abge- 
ordnetenhause wie  im  galizischen  Landtage  keinen 
Augenblick  lang  jene  Beziehungen  tangiren  konnten, 
die  zwischen  unserer  Monarchie  und  der  deutschen 
verbündeten,  sowie  zwischen  den  beiderseitigen  Re- 
gierungen bestehen,  Man  darf  wohl  sagen,  dass  die 
Wreschener  Affäre  noch  rechtzeitig  von  jenem  klaren 
Fahrwasser  abgeleitet  wurde,  auf  dem  sich  die  Poli- 
tik der  beiden  verbündeten  Staaten  mit  voller  Sicher- 
heit bewegt.  Der  Artikel  schliesst:  „Es  ist  neuerlich 
der  Beweis  erbracht,  dass  es  bei  der  Innigkeit  der 
beiderseitigen  Beziehungen  zwischen  Oesterreich-Un- 
garn  und  Deutschland  keine  Zwischenfälle  geben  kann, 
die  eine  Schwierigkeit  bereiten  können,  oder  deren 
plötzliches  Auftauchen  zu  fürchten  wäre.  Die  stärkste 
Wurzel  des  Bunde?gefühles  in  beiden  Staaten  ruht 
darin,  dass  jeder  Theil  in  seinem  Hause  Herr  ist." 
Wenn  nur  der  letzte  Satz  wahr  wäre  wenigstens 


107 


für  Oesterreich !  Ganz  anders  geberdet  sich  der  berliner 
Pressjude  Mosse  in  seinem  Organ  über  die  Thun'sche 
Antwort  auf  die  Ausweisungen  österreichischer  Unter- 
thanen  aus  Deutschland.  Er  schreibt :  Dreissig  Jahre 
nach  der  Begründung  des  neuen  Deutschen  Reiches, 
schlechthin,  müssen  wir  merkwürdige  Dinge  erleben. 
Einige  an  und  für  sich  ganz  unbedeutende  Verwal- 
tungsangelegenheiten, einige  richterliche  Erkenntnisse 
werden  dazu  benutzt,  um  in  fremden  Volksvertre- 
tungen in  einer  Weise  erörtert  zu  werden,  wie  sie 
glücklicherweise  zu  den  seltenen  parlamentarischen 
Vorkommnissen  gehört.  Mit  welch  einem  Rechte 
aber  ziehen  die  Herren  in  der  Lemberger  Landboten- 
stube oder  im  Wiener  Reichsrathe  innere  preussische 
Angelegenheiten  vor  ihr  Forum  ?  Welch  einen  Beruf, 
wtlch  eine  staatsrechtliche  Befugniss  haben  die  ge- 
nannten Herren,  sich  in  unsere  Angelegenheiten  zu 
mischen?  Welch  einen  Lärm  würden  wohl  Franzosen, 
Italiener,  Holländer,  Belgier,  Engländer  erheben,  wenn 
etwaige  innerpolitische  Angelegenheiten  dieser  eben 
genannten  Nationen  (die  Fälle  sind  sehr  leicht  denk- 
bar) in  unserem  preussichen  Abgeordnetenhause  oder 
im  deutschen  Reichstage  erörtert  werden  würden  ? 
Wahrscheinlich  würde  seitens  der  parlamentarischen 
Geschäftsleitung  bei  uns  jeder  derartige  Versuch  eines 
Uebergriffs  in  die  inneren  Angelegenheiten  eines  frem- 
den Staatswesens  sofort  zurückgewiesen,  sofort  im 
Keime  erstickt  werden.  Es  ist  eben  nicht  deutsche 
Art,  sich  in  die  Angelegenheiten  fremder  Staaten  ohne 
die  allerzwingendste  Notwendigkeit  einzumischen. 
Dafür  haben  wir  aber  auch  in  Deutschland  das  un- 
bedingte Recht,  von  unseren  Nachbarn  die  gleiche 
Rücksicht  zu  verlangen. 

Die  Regierungen,  das  heisst  die  amtlichen  Voll- 
zugsorgane der  Völker,  werden  ja  freilich  den  formellen 
internationalen  Verpflichtungen  nicht  untreu  werden. 
Allein  bei  gewissen  Volksvertretungen  tritt  jetzt  die 
fatale  Neigung  zu  Tage,  sich  mit  unseren  inneren 
Angelegenheiten  zu  beschäftigen,  die  europäische  öffent- 
liche Meinung  gegen  uns  mobil  zumachen.  Wenngleich 
derartige  parlamentarische  Scharmützel  noch  lange 
keine  wirklichen  Kriegserklärungen  bedeuten,  so  sind 


108 


sie  andererseits  doch  sehr  dazu  geeignet,  die  fried- 
lichen Beziehungen  der  Völker  zu  einander  auf  das 
empfindlichste  zu  beeinträchtigen.  Diesen  höchst  un- 
liebsamen Störern  des  öffentlichen  Friedens  gilt  es  bei 
Zeiten  ein  lautes,  Achtung  gebietendes  „Halt!"  ent- 
gegenzurufen. Lasst,  ihr  Herren  in  Lemberg  und  in 
Wien,  die  Hände  davon  !  's  sind  Nesseln  daran  !  Das 
deutsche  Volk  ist  unerbittlich  gewillt,  Herr  innerhalb 
seiner  Reichsgrenzen  zu  bleiben  und  zwar  unbeding- 
ter Herr  und  jedweden  Einmischungs versuch  in  seine 
inneren  Angelegenheiten  mit  der  seinem  Wesen  eige- 
nen Ruhe  und  Besonnenheit,  aber  auch  mit  der  gleich- 
falls seinem  Wesen  eigenthümlichen  Entschiedenheit 
und  Rücksichtslosigkeit  —  wenn's  sein  müsste  —  zu- 
rückzuweisen. Auch  für  Deutschland  gilt  der  aus 
der  Monroedoktrin  abgeleitete  praktische  Folgesatz : 
„Deutschland  den  Deutschen!"  Das  sollen  sich  ge- 
wisse Friedensstörer  in  Lemberg,  in  Wien  und  sonst 
noch  wo  sehr  genau  merken.  Je  entschiedener  die 
öffentliche  Meinung  Deutschlands  sich  in  diesem  Sinne 
der  auch  für  uns  giltigen  Monroedoktrin  äussert,  je 
entschlossener  sie  sich  nach  dieser  Richtung  hin 
kundgibt,  desto  rascher  werden  jene  Einmischungs- 
versuche seitens  Unberufener  verschwinden,  desto 
rascher  werden  die  unliebsamen  Wirkungen  solch 
unvorsichtigen  Treibens  wieder  verblassen.  Werden 
jene  Friedensstörer  sich  erst  der  unübersehbaren 
Folgen  ihres  unverantvortlichen  Handelns  bewusst, 
beginnen  sie  sich  über  die  ungeheure  moralische 
Tragweite  des  Satzes  klar  zu  werden :  „Deutschland 
den  Deutschen!"  —  dann  werden  sie  schon  ganz  von 
selbst  auf  die  Wiederholung  ähnlicher  thörichter  Ein- 
mischungsversuche in  Deutschlands  innere  Angelegen- 
heiten Verzicht  leisten.  Denn  an  derThatsache  ist  in 
alle  Ewigkeit  nichts  zu  ändern :  „Deutschland  den 
Deutschen !" 

Das  klingt  anders,  als  im  officiösen  „Fremden- 
blatt" in  Wien.  Man  sieht,  die  Pressjuden  in  Berlin 
bedienen  den  preussischen  Hof  viel  besser  als  die 
Pressjuden  in  Wien  die  österreichische  Regierung. 
Merkwürdig  ist  nur  dabei  das,  dass  diese  Pressjuden 
in  die  Welt  rufen,  Deutschland  müsse  nur  Deutschen 


109 


gehören,  aber  den  freien  Einzug  der  gefährlichsten 
Individuen,  der  Juden,  dabei  mit  gänzlichem  Still- 
schweigen behandeln. 

VIII.  Oesterreichs  Nationalitäten. 

Die  Lage  des  habsburgischen  Reiches  ist  von  der 
göttlichen  Vorsehung  dazu  geschaffen,  um  den  zahl- 
reichen kleineren  Völkern  ein  Heim  zu  bereiten.  Wäh- 
rend in  den  europäischen  Weststaaten  eine  Nation 
ein  numerisches  Uebergewicht  aufzuweisen  hat,  so 
dass  man  hier  von  Nationalstaaten  sprechen  kann, 
hat  innerhalb  der  österreichisch-ungarischen  Mon- 
archie keine  Nation  ein  derartig  numerisches  Ueber- 
gewicht, dass  hier  von  einem  Nationalstaat  im  Sinne 
Mazzini's,  Cavour's,  Bismarck's  und  Bülow's  gespro- 
chen werden  kann.  Die  unselige  Lehre  vom  reinen 
Nationalstaate  hat  dem  habsburgischen  Reiche  schon 
derartig  schwere  Wunden  geschlagen,  dass  doch  die 
Regierungsmänner  Oesterreichs  nur  ein  wenig  in  die 
Geschichte  dieses  Reiches  zurückschauen  brauchen, 
um  zu  erkennen,  dass  die  römisch-heidnische  Lehre 
vom  reinen  Nationalstaate  auf  Oesterreich  keine  An- 
wendung finden  darf.  Welches  Unglück  hat  doch 
die  josephinische  Zeit  über  Oesterreich  gebracht! 
Damals  arbeitete  der  ganze  staatliche  bürokratische 
Apparat  dahin,  um  die  Monarchie  zu  einem  centra- 
lisirten  deutschen  Nationalstaate  umzuwandeln.  Aber 
das  Gegentheil  wurde  erreicht.  Die  bürokratische 
Staatsmaschine  bemühte  sich  auch  die  Kirche  diesem 
Zwecke  dienstbar  zu  machen.  Die  Orgien  der  jose- 
phinischen  Aufklärung  Hessen  denn  auch  die  trau- 
rigsten Spuren  hinter  sich.  Die  josephinische  Regie- 
rungszeit gab  den  heutigen  Juden  den  Grundstock 
zu  ihrem  ungeheueren  Reichthum,  über  den  sie  heute 
verfügen.  Wie  die  Bürokraten  in  der  Kirche  wirtschaf- 
teten, ebenso  machten  sie  es  im  Bereiche  der  Regie- 
rung über  die  Völker  des  österreichischen  Staates. 
Und  heute  scheint  die  Weisheit  gewisser  Hofräthe 
in  Wien  nicht  anders  geworden  zu  sein,  sie  können 
Oesterreich  nicht  regieren,  ohne  ihre  „Weisheit"  alle 
Tage  aus    den  Spalten  eines  Judenblattes,   vor  allem 


110 


der  „Neuen  Freien  Presse"  zu  schöpfen.  Oesterreichs 
Nationalitäten  bieten  nach  den  Ergebnissen  der  ofi- 
ciellen  Statistik  folgende  Zahlengruppen  dar.  Wir 
behalten  die  Zählung  nach  den  beiden  Reichshälften. 

In  der  österreichischen  Reichshälfte  waren  ge- 
zählt : 

Jahr  1857  1890  1900 

Deutsche 6,042.347     8,461.997     9,167.898 

Gzechoslaven  ....  4,385.010    5,473.578    5,959.825 

Polen 2,117.148    3,726.827     4,260.961 

Ruthenen 2,273.719    3,101.497     3,343.323 

Slovenen 1,081.862     1,176.535     1,192.750 

Serbo-Kroaten     .    .    .     424.431        644.769       711.439 

Italiener 483.891        674.701        727.084 

Rumänen 175.679        209.026       230.962 

Dazu  gehören  noch  Magyaren  in  der  Bukowina, 
die  im  J.  1857  auf  7400  und  1W0  auf  9  >12  angegeben 
werden.  Hiemit  haben  wir  die  Hauptgruppen  nach  der 
oficiellen  Zählung  angegeben.  Leidei  existirt  in  Oester- 
reich  keine  andere  Zählung  als  wie  sie  von  der  sta- 
tistischen Kommission  in  Wien  vorgenommen  wird. 
Dass  diese  Zählungen  nicht  verlässlich  sind,  darüber 
wurden  schon  sehr  oft  Beschwerden  eingebracht.  Zuerst 
müssen  wir  auf  einen  Kniff  dieser  Kommission  auf- 
merksam machen.  Anstatt  den  richtigen  Begriff  „Na- 
tionalität" führte  die  Kommission  den  Begriff  Um- 
gangssprache ein.  Die  Absicht  ist  sehr  durchsichtig, 
man  hat  damit  sämmtliche  Nichtdeutsche,  welche 
unter  den  Deutschen  wohnen,  zur  deutsehen  Um- 
gangssprache oficiell  kommandirt,  um  damit  Oester- 
reich  den  deutschen  Charakter  wenigstens  auf  dem  Pa- 
piere zu  behaupten.  Nach  der  Tabelle  ist  denn  auch  die 
deutsche  Umgangssprache  gewaltig  angewachsen,  keine 
andere  Gruppe  weist  einen  solchen  numerischen  Zu- 
wachs auf.  Aber  es  ist  dabei  hervorzuheben,  dass  im 
Jahre  1857  die  Juden  als  eine  separate  Nationalität 
angeführt  sind,  während  sie  später  nicht  mehr  anzu- 
treffen sind,  als  nur  in  der  Rubrik  Konfession.  Im 
Jahre  1857  waren  im  heutigen  Oesterreich  Juden 
620.996.  im  Jahre  1900  aber  1,224.708.-  Da  sich  die 
Juden  erfahrungsgemäss  zu  der  deutschen  Umgangs- 
sprache melden  mindenstens  zu  80  Procent,   ist  also 


111 


von  den  Deutschen  des  Jahres  1900  in  Oesterreich 
3/4  Million  Juden  in  Abschlag  zu  bringen  und  dann 
mindestens  ein  halbe  Million  Slaven,  welche  officiell 
zu  der  deutschen  Umgangssprache  auf  dem  Papiere 
zugeschlagen  wurden.  Die  faktische  Zahl  der  Deutschen 
arischer  Abstammung  im  Jahre  1900  in  Oesterreich 
wird  kaum  die  Zahl  ll/2  Millionen  erreichen.  Gehen 
wir  nun  zu  der  detaillirten  Rechnung  über.  Darnach 
waren  die  Nationalitäten  auf  die  einzelnen  Kronländer 
folgendermassen  vertheilt. 

Niederösterreich. 


Jahr 

1857 

1900 

Deutsche 
1,341.770 
2,711.418 

Czechoslaven 

12.270 

135.477 

Juden 
6.949 
157.248 

Oberösti 

ärreich. 

Jabr 
1857 
1900 

Deutsche 
688.290 
795.565 

Czechoslaven 
3.527 

Juden 

4 

1.280 

Salzburj 

!>• 

Jahr 
1857 
1900 

Deutsche 
140.197 
185.694 

Czechoslaven 
548 

Juden 
199 

Steiermark. 

Jahr 
1857 
1900 

Deutsche 
640.866 
902.424 

Slovenen 
369.246 
409.449 

Juden 

6 

2.283 

Kärnten 

Jahr 
1857 
1900 

Deutsche 
231  558 
269.971 

Slovenen 
92  767 
90.497 

Juden 
212 

Krain. 

Jahr 
1857 
1900 

Deutsche 
29.783 
28.177 

Slovenen 
421398 
475.304 

Juden 
145 

Küstenl 

and. 

Jahr     Deutsche 

Slovenen 

Serben  u. 
Kroaten 

Italiener 

1857        8.150 
1900     19.454 

198.451 
212.978 

132.591 
143.602 

113.486 
334.152 

Juden 

3.713 
5.534 


112 


Tirol  und  Vorarlberg. 

Jahr          Deutsche          Italiener  Juden 

1857        525.092        325.415  548 

1900        573.156        373.909  1.125 

Böhmen. 

Jahr  Czechoslaven  Deutsche  Juden 

1857         2,925.982  1,766.372  86.339 

1900        3,930.071  2,337.044  92.806 

Mähren 

Jahr        Czechoslaven  Deutsche  Juden 

18o7         1,351.982  483.518  41.529 

1900        1,728.130  674.740  44.255 

Schlesien. 

Jahr        Czechoslaven  Deutsche  Polen  Juden 

1857  92.326  234.843  133.602  3.280 

1900        146.362  296.571  220.375  11.988 

Galizien. 

Jahr  Polen  Ruthenen  Deutsche  Juden 

1857        1,981.076  2,085.431  114.293  448.973 

1900        3,990.621  3,042.199  211.941  811.149 

Bukowina. 

Jahr          Deutsche  Ruthenen  Rumänen  Juden 

1857          37.855  188.288  175.679  29.887 

1900        159.477  217.809  229.024  96.156 

Dalmatien. 

Jahr  Serbokroaten  Italiener  Juden 
1857  369.310  45.000  318 
1900        565.329        15.240        334 

Die  officielleJStatistik   gibt  weiter  folgende  Zah- 
len an. 

Vom  J.  1890-1900                    Zunahme  Percentea 

Deutsch      709.359  8'38 

Gzechoslavisch 482.526  8'82 

Polnisch 539.920  1452 

Ruthenisch 270.355  8*71 

Slovenisch 16.108  1-37 

Serbo-kroatisch 66.454  10*30 

Italienisch      51.797  767 

Rumänisch 21.853  10-45 


113 


Das  absolute  Verhältniss  der  Nationalitäten  in 
den  Ländern  der  böhmischen  Krone  gibt  die  officielle 
Statistik  folgendermassen  an: 

Deutsch 

Böhmen  Mähren  Schlesien 

1890        2,159.011         664.168  281.555 

1900        2,337.013        675.492  296.571 
Zunahme  in  Percenten 

824  1-7  5-33 

Czechoslavisch 

Böhmen  Mähren  Schlesien 

1890        3,644.188        1,590.513  129.814 

1900        3,930.093        1,727.270  146.255 
Zunahme  in  Percenten 

785  8-6  1267 

Sehr  auffallend  ist  der  Vergleich  der  percen- 
tuellen  Zunahme  der  deutschen  Umgangssprache  in 
den  einzelnen  Kronländern. 

Es  zeichneten 

Deutsche       £e™entuelle 

üsmn?aachgr   ÄlS, 
spräche  überhaupt    * 

Nieder-Oesterreich    ....   14-78  1600 

Ober-Oesterreich 2*97  3-04 

Salzburg 10'56  10-60 

Steiermark 6-42  5  07 

Kärnten 6-02  1-37 

Krain 051  1-76 

Triest      .    .        ......  24-95  H'52 

Görz  u.  Gradiska 60*73  6-40 

Istrien 1986  8*37 

Tirol 536  4-10 

Vorarlberg 671  9-47 

Böhmen 8-24  8-06 

Mähren 1-70  7-05 

Schlesien 5-33  12-00 

Galizien 6-96  10-73 

Bukovina 19-46  12  61 

Dalmatien 13*82  12-22 

Diese  percentuale  Tabelle  ist  sehr  wichtig.  Mit 
ihrer  Veröffentlichung  hat  die  officielle  Statistik  den 

8 


114 


Deutschen  in  Oesterreich  einen  sehr  schlechten  Dienst 
erwiesen.  An  ihr  sehen  wir  das  klare  Bild  der  na- 
tionalen Massenmorde,  wie  sie  zu  Gunsten  des  deut- 
schen Elementes  bei  der  Volkszählung  vorgenommen 
werden.  Man  vergleiche  doch  die  Alpenländer,  wo 
der  Sprachenstreit  weniger  vortritt,  wo  also  reinere 
deutsche   Gebiete   sind,   wie   z.  B.  Ober-Oesterreich. 

Da  ist  die  Zunahme  der  Bevölkerung  3  Percent 
und  die  Zunahme  der  deutschen  Umgangssprache 
2'97  Percent,  also  bei  der  Volkszählung  keine  natio- 
nalen Morde.  Das  Bild  wird  sogleich  ein  anderes, 
wo  der  Nationalitätenkrieg  geführt  wird. 

In  Böhmen  hat  sich  die  Bevölkerung  absolut  um 
8*05  Percent  vermehrt,  aber  die  deutsche  Umgangs- 
sprache um  8*24.  Darnach  könnte  man  berechnen, 
wie  viel  Personen  zur  deutschen  Umgangssprache  ge- 
zwungen worden  sind. 

Die  deutsche  Umgangssprache  nimmt  also  zu 
durch  die  nationalen  Massenmorde,  welche  bei  der 
Volkszählung  an  den  Angehörigen  nichtdeutscher  Natio- 
nalität in  den  Gemeindestuben,  wo  deutsche  Majorität 
ist,  vorgenommen  werden.  Und  das  ist  ja  das  Ziel 
der  Deutsch-Nationalen.  Sie  gemessen  dabei  die  Pro- 
tektion so  mancher  Hofräthe  in  Wien.  Auf  dieser 
künstlichen  Volkszählung  beruht  auch  die  ganze  na- 
tionale Politik  der  Deutschen  in  Oesterreich.  Es  sollen 
die  nationalen  Minoritäten  mit  jeder  und  aller  Gewalt 
unterdrückt  werden,  um  darauf  die  Sprachengesel  ze 
zu  konstruiren.  Dass  hat  denn  auch  der  Minister- 
präsident Dr.  Körber,  der  geheime  inlime  Freund  der 
Alldeu Ischen  auch  gethan.  Er  überreichte  dem  Reichs- 
rathe  am  14.  Oktober  1902  ein  Sprachengesetz,  das 
ganz  auf  den  Leib  der  alldeutschen  Wünsche  zuge- 
schnitten ist.  Seine  „  Grundsätze"  für  Böhmen 
sind :  Die  deutsche  Sprache  wäre  im  bisherigen  Um- 
fange zu  gebrauchen  :  1.  im  gesammten  Verkehre  mit 
den  militärischen  Behörden  und  der  Gendarmerie 
und  für  deren  dienstliche  Anforderungen ;  2.  im  Ver- 
kehre mit  den  Behörden  ausserhalb  des  Königreiches 
Böhmen.  Die  deutsche  Sprache  wäre  ferner  zu  ge- 
brauchen:  1.  von  allen  landesfürstlichen  Behörden, 
sowohl   im  inneren  Dienstverkehre  wie  in  der  amlli^ 


115 


ehen  Korrespondenz;  bei  der  Anlegung  und  Führung 
aller  Listen,  Ausweise  und  Vormerke,  die  von  den 
politischen  Behörden  in  Angelegenheiten  der  bewaff- 
neten Macht  geführt  werden ;  bei  den  zur  Vorlage  an 
die  Gentralstellen  bestimmten  Berichten,  Gutachten, 
Geschäfts-  und  statistischen  Ausweisen ;  bei  den  In- 
formationen, Berichten,  Vormerken  und  Ausweisen  in 
staatspolizeilichen  Angelegenheiten,  bei  den  Angele- 
genheiten der  staatlichen  Sicherheitswache  und  bei 
den  Qualifikationstabellen  der  Staatsbediensteten ;  2. 
von  allen  landesfürstlichen  Kassen  und  Aemtern,  die 
mit  Geldg^baren,  bei  der  Führung  der  Kassenjournale, 
Kassenausweise,  Register,  Gebrauchsnachweisungen  und 
aller  sonstigen  Kassenbehelfe,  die  von  den  Central- 
organen  zur  Ausübung  der  Kontrolle  oder  zur  Zu- 
sammenstellung periodischer  Nachweisungen  benützt 
werden ;  3.  in  allen  Betriebs-  und  Verkehrsangelegen- 
heiten im  inneren  Dienste  und  in  der  Manipulation 
des  Post-  und  Telegraphendienstes,  der  einer  Central- 
leitung  unmittelbar  unterstehenden  ärarischen  Etablis- 
sements, sowie  für  den  gegenseitigen  Verkehr  der 
betreffenden  Organe  und  Aemter;  für  die  nichtärari- 
schen  Postämter  mit  grösserem  Geschäftsumfange  wä- 
ren diese  Bestimmungen  soweit  als  möglich  anzu- 
wenden. 

Abgesehen  von  der  Einheit  der  Sprache  in  den 
angeführten  Amtshandlungen  und  Agenden,  wären 
grundsätzlich  bei  den  landesfürstlichen  Behörden  drei 
Sprachgebiete  zu  unterscheiden:  1.  ein  einsprachig 
böhmisches,  2.  ein  einsprachig  deutsches,  3.  ein  zwei- 
sprachiges Sprachgebiet.  Als  einsprachig  haben  jene 
Gerichtsbezirke  zu  gelten,  in  welchen  bei  der  Volks- 
zählung vom  Jahre  1900  und  in  der  Folge  bei  jeder 
zweiten  jeweiligen  Volkszählung  weniger  als  20  Pro- 
cent der  ansässigen  Bevölkerung  die  andere  Landes- 
sprache als  ihre  Umgangssprache  angegeben  haben. 
Alle  anderen  Gerichtsbezirke  sind  zweisprachig.  Die 
landesfürstlichen  Behörden  haben  je  nach  dem  Ger 
biete,  auf  welche  sich  ihr  Wirkungskreis  erstreckt, 
als  einsprachig  oder  als  zweisprachig  zu  gelten.  Be- 
hörden, welche  mehrere  Bezirksgerichtssprengel  um- 
fassen,   gelten    als    zweisprachig,    wenn    einer    oder 

6* 


116 


mehrere  dieser  Sprengel  anderssprachig  sind  als  die 
übrigen  Sprengel.  Ausserdem  werden  im  Gesetze 
noch  einzelne  konkrete  Behörden  (in  Prag)  bezeichnet 
werden,  die  mit  Rücksicht  auf  die  örtlichen  Verhält- 
nisse als  zweisprachig  zu  betrachten  sind.  Im  Inter- 
esse der  Erzielung  möglichst  einsprachiger  Behörden 
wären  binnen  eines  bestimmten  Zeitraumes  die  Ver- 
waltungs-  und  Gerichtsbezirke  derart  umzugestalten» 
dass  die  Gerichtsbezirke  in  der  Regel  nur  einspra- 
chige Gemeinden,  die  politischen  Bezirke  in  der  Regel 
nur  einsprachige  Gerichtsbezirke  umfassen,  wobei 
selbstverständlich  den  Wünschen  der  Bevölkerung, 
sowie  den  Verkehrsverhältnissen  entsprechend  Rech- 
nung getragen  werden  müsste.  Wenn  nach  durchge- 
führter sprachlicher  Abgrenzung  der  Gerichtsbezirke 
einem  einsprachigen  Bezirke  ausnahmsweise  einzelne, 
grössere  einsprachige  Gemeinden  der  anderen  Landes- 
sprache zugewiesen  bleiben,  so  können  für  den  äusse- 
ren Dienstverkehr  der  zuständigen  landesfürstlichen 
Behörden  mit  den  Bewohnern  und  Vertretungen  solcher 
Gemeinden  besondere  Bestimmungen  zum  Zwecke  der 
möglichsten  Berücksichtigung  der  anderssprachigen 
Minderheit    auf  Verordnungswege    getroffen    werden. 

Wenn  wir  einen  Blick  werfen  auf  die  Nationali- 
täten Oesterreichs,  abgesehen  von  de*  ungarischen 
Reichshälfte,  so  erhalten  wir  auf  Grund  der  offlciellen 
Statistik  folgendes  Bild: 

Ende  des  Jahres  1857  1900 

Deutsche  ....    6,042.347  9,167.898 

Släven   ...        .  10,282.470        15,468.298 

Wie  wir  schon  gesagt  haben,  ist  die  officielle  Sta- 
tistik zu  korrigiren.  Wenn  wir  von  den  Deutschen 
des  Jahres  1900  eine  l/2  Mill.  Juden  abrechnen  und 
mindestens  l/2  Million  Slaven,  die  zur  deutschen 
Sprache  gezwungen  wurden,  so  ist  die  faktische  Be- 
völkerung in  Oesterreich  der  Nationalität  nach  höch- 
stens 8  Millionen  Deutsche  arischen  Blutes  und  16!/2 
Millionen  Slaven  ebenso  arischer  Abstammung.  Die 
Gesammtbevölkerung  Oesterreichs  Ende  1900  war 
26,150.708.  Somit  bilden  die  Deutschen  32ya  Procent 
der  Gesammtbevölkerung,  also  nicht  ganz  ein  Drittel. 
Die  officielle  Statistik  spricht   den  Deutschen  36  Pro« 


117 


cent  der  Gesammtbevölkerung  zu,  was  wir  nun  hier 
entsprechend  der  Wirklichkeit  korrigirt  haben*  Soll 
nun  dieses  eine  Drittel  die  Hegemonie  m  Oesterreich 
führen?  Das  werden  doch  nicht  auch  die  verbissen- 
sten Schönerianer  behaupten  wollen. 

Die  Alldeutschen  in  Oesterreich  haben  aber  einen 
Ausweg,  sie  stützen  sich  auf  ihre  Stammesgenossen 
draussen  in  Preussen-Deutschland.  Auf  diese  gestützt 
sagen  die  Schönerianer  und  Genossen,  dass  die  Deut- 
schen in  der  Mehrheit  sind  und  die  slavischen  Völker 
als  die  kleinen  Nationen  dem  grösseren  Volke  unter- 
than  sein  müssen.  Der  alldeutsche  Gedanke  hat  seinen 
Anfang  genommen  nach  dem  Siege  Deutschlands  über 
Frankreich.  Französische  Politiker  beginnen  auch  jetzt 
eifrig,  die  Bestrebungen  Preussen^Deutschlands  Oester- 
reich und  seine  Völker  zu  verschlingen,  zu  beobachten. 
Der  französische  Politiker  Lair  behauptet  fest,  dass  die 
Militärpartei  in  Preussen-Deutschland  sicher  und  kon- 
sequent darauf  arbeite,  Oesterreich  bis  zur  Adria  zu 
annektiren  und  dazu  Belgien  und  Holland.  Die  offi- 
ciellen  Diplomaten  Preussen-Deutschlands  leugnen 
dies  zwar  nach  aussen.  Darum  meidet  jetzt  Preussen- 
Deutschland  sehr  ängstlich  jede  Reibung  mit  Frank- 
reich und  Russland.  Auch  Graf  Fleury  hat  unlängst 
seine  Memoiren  veröffentlicht,  wie  das  heutige  Preus- 
sen-Deutschland gross  geworden  ist.  Es  war  dies 
möglich  durch  die  russische  Politik  des  Jahres  1870. 

Der  Ausbruch  des  deutsch-französischen  Krieges 
war  unvermeidlich  geworden ;  da  musste  es  sich  den 
feindlichen  Mächten  um  die  Knüpfung  von  Allianzen 
einerseits  und  um  die  Sicherung  der  Neutralität  seitens 
der  übrigen  Mächte  andererseits  handeln.  Die  Lage 
gestaltete  sich  für  Frankreich  sehr  ernst;  seine  Hoff- 
nungen, den  russischen  Kanzler  Gortschakoff,  der  noch 
vor  Kurzem  eine  Schwenkung  von  der  alten  preus- 
sischen  Waffenbrüderschaft  und  Allianz  zu  einem 
Einvernehmen  mit  Frankreich  zu  machen  schien,  um- 
zustimmen, erwiesen  sich  als  eitle,  denn  Gortschakoff 
zögerte  nicht,  in  dem  Augenblicke,  da  die  Ereignisse 
eine  kriegerische  Wendung  nahmen,  Partei  für  Preus- 
sen,  das  er  für  den  angegriffenen  Theil  hielt,  an  den 
Tag  zu  legen.  Das  Ziel,  wonach  Gortschakoff  strebte, 


118 


bestand  in  dem  Bemühen,  es  zu  verhindern,  das» 
Oesterreich-Ungarn  seine  Unterstützung  Frankreich 
angedeihen  lasse ;  überdies  übte  er  einen  Druck  auf 
den  dänischen  Hof  aus,  um  diesen  zur  Beobachtung 
der  striktesten  Neutralität  zu  zwingen  und  ihn  zu 
verhindern,  dass  er  sich  von  der  dänischen  öffentli- 
chen Meinung  zum  Abschlüsse  einer  Allianz  mit 
Frankreich  bestimmen  lasse.  Der  russische  Kanzler 
hoffte,  dadurch  für  Russland  die  Abänderung  der  ihm  un- 
angenehmen Bestimmungen  des  Pariser  Vertrages  vorn 
Jahre  1856  zu  erlangen.  Es  war  nun  die  Aufgabe  des 
Grafen  Fleury,  den  überwiegenden  Einfluss  Preussens 
in  Petersburg  zu  bekämpfen.  Am  15.  Juli  1870  Hess 
die  russische  Regierung  dem  österreichisch-ungari- 
schen Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  die 
kategorische  Erklärung  zukommen,  sie  werde  es  unter 
keinen  Umständen  dulden,  dass  Oesterreich-Ungarn 
mit  Frankreich  gemeinsame  Sache  mache.  Es  war 
schon  ein  grosser  Erfolg  von  Fleury's  Bemühungen, 
dass  in  der  Neutralitätserklärung  des  Gzars  Alexan- 
der IL  von  23.  Juli  die  entscheidende  Klausel,  welche 
sich  auf  die  österreichisch-ungarische  Monarchie  bezog, 
nicht  enthalten  war;  es  bedurfte  der  grössten  Klug- 
heit und  Vorsicht  Fleury's,  um  dieses  unter  den  da- 
maligen Verhältnissen  nicht  unbedeutende  Resultat 
zu  erlangen.  Dies  spiegelt  sich  am  deutlichsten  in 
dem  folgenden  Berichte  Fleury's  an  den  Herzog  von 
Gramont  (vom  13.  Juli  1870)  ab :  „Die  Situation  ist 
hier  nicht  ohne  Ernst ;  es  gibt  hier  zwei  Strömungen, 
die  man  die  russisch-deutsche  und  die  russisch-fran- 
zösische nennen  kann.  Der  Czar  ist  beeinflusst  von 
seinen  Familiengefühlen  und  von  preussischen  Einge- 
bungen und  Interessen.  Der  Grossfürst-Thronfolger 
und  die  Arniee  hingegen  sind  Frankreich  zugethan  ; 
allein  der  Czar  ist  es,  der  befiehlt.  Die  Politik  des 
Kabinets  ist»  wie  ich  im  Vertrauen  erfahren  habe,  die 
folgende  :  Man  wünscht  den  Krieg  lokalisirt  zu  sehen ; 
um  diesen  Preis  kann  man  auf  die  Neutralität  Russ- 
lands rechnen.  Wenn.  Frankreich  jedoch  daran  ginge, 
Oesterreich-Ungarn  in  den  Kampf  mitzureissen,  würde 
der  Krieg  für  Russland  einen  so  gefahrdrohenden 
Charakter   annehmen,    dass   es    diesem   schwer  fiele, 


119 


unparteiischer  Zuschauer  zu  bleiben.  Es  wäre  dem- 
nach gefährlich,  sich  in  unnützer  Weise  mit  dem 
schwachen  und  schlaffen  Oesterreich  blosszustellen, 
das  durch  seine  Agenten  hier  erklären  Hess,  dass  es 
vor  Ablauf  von  zwei  Jahren  sich  zu  nichts  verpflichten 
kann,  noch  will.  Russland  beobachtet  es  jedoch.  Schon 
kündigt  man  an,  dass  zwei  Kosaken-Regimenter  sich 
an  die  galizische  Grenze  begeben.  Andererseits  erörtert 
die  öffentliche  Meinung  und  die  Presse  die  Idee  der 
Revision  des  Vertrages  vom  Jahre  1866.  Man  droht 
wohl  noch  nicht,  allein  es  scheint,  dass  man  daraus 
eine  Bedingung  der  Sympathie  und  des  Einvernehmens 
mit  Frankreich  macht  ...  Es  wäre  darum  von  grösser 
Wichtigkeit,  ein  wenig  die  bedeutenderen  Tagesblätter 
zu  leiten  und  auf  sie  Einfluss  zu  nehmen.  Ich  bitte 
Sie,  mich  zu  ermächtigen,  die  nöthigen  Ausgaben  dafür 
machen  zu  dürfen." 

In  Paris  war  man  jedoch  nicht  geneigt,  auf  die 
eventuelle  Hilfe  Oesterreich-Ungarns  unbedingt  zu 
verzichten.  Am  20.  Juli  richtete  der  Herzog  von 
Gratnottt  die  folgende  Note  an  den  Grafen  Fleury: 
„Wir  benöthigen  absolut  die  bewaffnete  Neutralität 
Oesterreichs,  um  den  Krieg  zu  beginnen ;  das  will 
sagen  100.000  Soldaten  in  Böhmen  und  später  seinen 
Beistand.  Gleichzeitig  können  wir  jedoch  Russland 
beruhigen  und  ich  kann  hoffen,  dass  das  Wiener  Ka- 
binet  nicht  säumen  wird,  Russland  in  diesem  Sinne 
Vorschläge  zu  machen,  die  ihm  annehmbar  scheinen 
werden.  Wir  verlangen  dagegen  vom  Petersburger 
Kabinet  nichts  als  seine  Neutralität  .  .  .  Ich  muss 
Sie  im  Vertrauen  davon  benachrichtigen,  dass  wir 
mit  Italien  gleichzeitig  wie  mit  Oesterreich-Üngarn 
verhandeln  und  die  Hoffnung  hegen,  dass  wir  näch- 
stens zu  einem  gemeinsamen  Einverständniss  gelan- 
gen werden ;  machen  Sie  Ihrerseits  alle  Anstrengun* 
gen,  um  Russland  zu  einem  Vertrage  zu  bestimmen." 

Die  französische  Regierung  verhehlte  sich  nicht 
die  Schwierigkeit,  sich  die  Neutralität  Russlands  unter 
den  geschilderten  Umständen  zu  sichern;  sie  machte 
es  jedoch  ihrem  Petersburger  Botschafter  zur  Pflicht, 
Alles  aufzubieten,  um  dieses  Ziel  zu  erlangen,  ohne 
jedoch  irgend  eine  Verpflichtung  für  die  Zukunft  ein- 


120 


zugeben.  Allein  der  Gzar  mochte  nicht  davon  abste- 
hen, dass  Oesterreich-Ungarn  die  strikteste  Neutralität 
—  also  nicht  die  bewaffnete  —  bewahre.  Er  erklärte  dem 
Grafen  Fleury,  dass  er  den  Besitzstand  unserer  Monar- 
chie gegen  die  allfälligen  Gelüste  Preussens  zu  garantiren 
bereit  sei ;  er  könne  es  jedoch  unter  keiner  Bedin- 
gung zugeben,  dass  Oesterreich-Ungarn  eine  defensive 
Haltung  einnehme.  Wenn  es  in  Böhmen  Truppen  kon- 
centriren  würde,  sei  der  Gzar  entschlossen,  darauf 
sofort  mit  einer  bewaffneten  Neutralität  zu  antworten, 
deren  Folgen  und  Gefahren  nicht  vorauszusehen  wären. 
Vielleicht,  so  meinte  Fleury,  hat  der  Kaiser  Alexander, 
indem  er  sich  zum  Bürgen  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie  machen  will,  die  Absicht,  da- 
durch dieser  jeden  Vorwand  zu  benehmen,  Frankreich 
beizustehen.  Am  26.  Juli  1870  konnte  der  Graf  Fleury 
dem  Herzog  von  Gramont  bereits  die  Versicherung 
geben,  dass  Frankreich  auf  die  strikte  Neutralität 
Russlands  zählen  könne,  aber  immer  nur  unter  der 
Voraussetzung,  dass  Oesterreich  nicht  eine  bewaffnete 
Haltung  beobachte.  „Welches  immer  auch,"  so  fügte 
er  hinzu,  „die  Projekte  einer  geheimen  Allianz  mit 
Preussen  sind,  die  man  Russland  zuschreibt,  ich  werde 
nicht  daran  glauben,  so  lange,  als  Oesterreich-Ungarn 
keinen  Anlass  dazu  bieten  und  Frankreich  nicht  die 
Aspirationen  Polens  ermuthigen  wird.  Thatsächlich 
spricht  sich  die  öffeptliche  Meinung,  die  Presse,  die 
Armee  (Russlands)  von  Tag  zu  Tag  energischer  gegen 
jede  Vergrösserung  Preussens  aus  und  zeigt  sich  uns 
immer  sympathischer.  *  Am  nächsten  Tage  schon  be- 
auftragte der  Herzog  von  Gramont  den  französischen 
Botschafter,  der  russischen  Regierung  die  rückhalts- 
loseste Erklärung  abzugeben,  dass  Frankreich  nicht 
daran  denke,  Russland  irgendwo  Schwierigkeiten  zu 
bereiten,  noch  die  Aspirationen  Polens  zu  ermuthigen. 
Diese  Erklärung  machte  auf  den  Kaiser  Alexander  IL 
den  besten  Eindruck ;  er  versicherte  den  Grafen  Fleury, 
dass  Russland  sich  verpflichte,  Oesterreich  seine 
deutschen  Provinzen  gegen  die  Eingriffe  Preussens  zu 
garantiren  und  die  strikteste  Neutralität  zu  bewahren. 
Der  französische  Botschafter  knüpfte  an  diesen 
Bericht  die  folgende  Betrachtung:  „Wir  müssen  nun 


121 


mit  Ruhe  -  und  in  Kenntniss  der  Sachlage  erwägen, 
ob  der  Verlust  der  effektiven  und  unmittelbaren  Hilfe 
Oesterreich-Ungarns  nicht  mehr  als  aufgewogen  wird 
durch  die  Gewissheit  der  strikten  Neutralität  Russ- 
lands sowohl  in  Rücksicht  auf  die  gegenwärtigen 
Verhältnisse,  wie  auf  die  künftigen  Eventualitäten. 
Ich  weiss  es  wohl,  dass  Oesterreich,  wenn  es  sich 
in  den  Kampf  mengen  würde,  uns  eine  sehr  schätz- 
bare und  sehr  wirkungsvolle  Hilfe  zu  bieten  scheinen 
müsste.  Durch  eine  Truppenkoncentration  in  Böhmen 
würde  es  einen  beträchtlichen  Theil  der  preussischen 
Streitkräfte  lahmlegen.  Es  würde  durch  sein  Bei- 
spiel Italien  für  eine  Allianz  mit  uns  mitreissen  und 
uns,  wenn  es  Italien  den  Weg  durch  Tirol  freigäbe, 
ermöglichen,  Süddeutschland  in  der  Flanke  anzu- 
greifen. Die  Verlockung  wäre  in  der  That  gross,  der 
Vortheil  sehr  beträchtlich ;  allein  Russland  würde  dies 
niemals  zugeben.  Unter  dem  Vorwande  einer  Gährung 
in  Polen,  die  es  selbst  hervorrufen  könnte,  würde 
Russland  in  Galizien  eindringen,  sich  ganz  gegen 
Oesterreich  richten,  das  es  hasst,  um  es  zu  vernich- 
ten und  sich  einen  freien  Weg  nach  Konstantinopel 
und  dem  Orient  zu  bahnen.  Wäre  Oesterreich  im 
Kampfe  mit  den  Ungarn,  die  den  Krieg  nicht  wollen, 
materiell  in  der  Lage,  den  Vorstoss  Russlands  aus- 
zuhalten, selbst  wenn  alle  seine  Völker  treu  zu  ihm 
hielten?  Ich  glaube  es  nicht.  Bei  seiner  verschuldeten 
Finanzlage,  seiner  unvollendeten  Rüstung,  bei  den 
Schwierigkeiten,  die  es  im  Innern  bedrohen,  wäre 
Oesterreich  unfähig,  einer  unerwarteten  Erschütterung 
Stand  zu  halten,  und  der  Ausgang  des  Krieges  müsste 
ihm  verhängnissvoll  werden.  Indem  der  Kaiser  Alex- 
ander die  absolute  Neutralität  Oesterreichs  zur  con- 
ditio sine  qua  non  der  seinigen  macht,  lässt  er  sich 
von  dem  Gedanken  leiten,  dadurch  seinem  Oheim 
(dem  König  Wilhelm  von  Preussen)  einen  Dienst  zu 
erweisen  und  dadurch  den  friedlichen  Intentionen 
seines  Landes  Genüge  zu  leisten.  Wie  gross  auch 
immer  die  Loyalität  seines  Charakters  ist  und  das 
Vertrauen,  das.  ich  zu  seinem  Worte  habe,  ich  ver- 
hehle es  mir  doch  nicht,  dass  der  Czar  von  seinen 
Familiengefühlen   beherrscht   wird    und    dass    seine 


122 


Neigungen  deutsche  sind.  Allein  das  russische  Na- 
tionalgefühl ist  gegen  jede  Vergrösserung  Preussens, 
und  der  Kaiser  Alexander  weiss  es  genau,  dass  die 
Armee,  die  Presse  und  die  öffentliche  Meinung  täg- 
lich Frankreich  geneigter  werden.  Er  könnte  nicht 
ohne  triftigen  Grund  eine  offensive  Stellung  ergreifen, 
insolange  Oesterreich  ihm  nicht  dazu  den  Vorwand 
bietet.  Es  ist  darum  an  uns,  dieser  Macht  zu  rathen, 
in  der  strikten  Beobachtung  ihrer  Verbindlichkeiten 
zu  verharren,  und  da  sie  nicht  bedroht  ist,  ihre  Lage 
nicht  zu  gefährden  durch  eine  sterile  Agitation  oder 
durch  unvollständige  Vorbereitungen,  die  weder  für 
sie,  noch  für  uns  von  Nutzen  sind  .  .  .  Die  Neutra- 
lität Oesterreichs  rettet  dieses  und  sichert  uns  die 
Neutralität  Russlands.  Der  Bestand  Oesterreichs  ist 
für  uns  iiothwendig,  es  ist  eine  zu  werthvolle  Karte 
in  unserem  Spiel,  wenn  der  Moment  kommen  wird, 
anderweitig  zu  verhandeln  und  ein  gestörtes  Gleich- 
gewicht wiederherzustellen,  um  nicht  zu  wünschen, 
dass  Oesterreich  sich  jeder  Einmischung  begebe,  da 
von  dieser  Zurückhaltung  meiner  Meinung  nach  unsere 
guten  Beziehungen  zu  Russland  und  das  Wohl  Oester- 
reichs abhängen." 

Nichtsdestoweniger  blieb  die  Lage  noch  immer 
ungeklärt.  Am  4.  August  berichtete  Fleury  dem  Her- 
zog von  Gramont,  der  Gzar  habe  ihm  eine  Depesche 
des  russischen  Gesandten  in  Paris,  des  Herrn  Oku- 
neff,  vorgelesen,  des  Inhalts,  dass  der  Herzog  von 
Gramont  diesen  offen  davon  benachrichtigt  habe, 
Oesterreich  könne  nicht  von  der  Koncentration  eines 
Armeekorps  längs  seiner  Grenzen  abgehen.  Der  Czar 
ersuchte  darum  Fleury,  dahin  zu  wirken,  dass  die 
französische  Regierung  dies  verhindere,  da  er  andern- 
falls genöthigt  wäre,  aus  seiner  Neutralität  herauszu* 
treten.  Ganz  unumwunden  erklärte  Okuneff  dem  Her- 
zog von  Gramont  am  5.  August,  dass  Russland  sich 
rüsten  werde,  wenn  dies  von  Seite  Oesterreichs  ge- 
schehen sollte,  und  dass  es  Oesterreich  angreifen 
werde,  wenn  dieses  Preussen  attaquiren  sollte.  Gra- 
mont erwiderte  darauf,  dass  diese.  Mittheilung  in  Wien 
und  nicht  in  Paris  zu  machen  sei;  übrigens  erklärte 
er,  es  nicht  zu  begreifen,   wie  Russland    den  Angriff 


123 


auf  Oesterreich-Ungarn  rechtfertigen  könnte,  wenn 
diese  Macht  Russland  nicht  angreift,  es  müsste  denn 
ein  geheimer  Vertrag  zwischen  Russland  und  Preus- 
sen  bestehen.  Er  fügte  noch  hinzu,  dass  zwischen 
Frankreich  und  Oesterreich-Ungarn  kein  Vertrag  ge- 
schlossen wurde,  dass  das  Wiener  Kabinet  sich  aus- 
schliesslich von  seinen  eigenen  Interessen  leiten  lasse» 
Selbst  nach  der  Niederlage  der  Generale  Mac  Mahon 
und  Frossard  konnte  Gramont  dem  russischen  Bot- 
schafter die  Versicherung  geben,  dass  Frankreich 
nicht  den  Beistand  Oesterreich-Ungarns  verlangt  habe ; 
was  Italien  betrifft,  bemerkte  Gramont,  ist  es  wohl 
wahr,  dass  man  von  dieser  Seite  es  ihm  nahe  lege, 
dem  Kaiser  Napoleon  III.  zu  rathen,  er  möge  sich 
diesbezüglich  an  den  König  Viktor  Emanuel  wenden, 
allein  Gramont  mochte  vorläufig  nichts  dergleichen 
thun,  weil  er  wusste,  dass  Napoleon  nicht  dazu  zu 
bestimmen  wäre. 

Die  Niederlagen  Frankreichs  machten  jedoch. 
Russland  bedenklich;  man  sah  daselbst  der  Zukunft 
mit  Sorgen  entgegen;  der  Graf  Fleury  hielt  den  Mo- 
ment für  geeignet,  um  Russland  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie  zu  nähern;  er  gab  in  einem 
lmmediatberichte  vom  14.  August  1870  seiner  be- 
stimmten Ueberzeugung  Ausdruck,  dass  Russland 
nichts  gegen  eine  Einmischung  Oesterreich-Ungarns 
einwenden  werde,  wenn  der  Graf  Beust  die  unzwei- 
deutige Erklärung  abgeben  würde,  dass  er  die  polni- 
schen Aspirationen  nicht  ermuthigen  werde.  In  die- 
sem Falle  würde  der  Kaiser  Alexander  II.  aus  seiner 
Neutralität  nicht  heraustreten  und  trotz  seiner  per- 
sönlichen Neigungen  zu  Preussen  die  nationale  Po- 
litik seines  Landes  verfolgen,  die  sich  immer  ent- 
schiedener gegen  Preussen  erklärt.  Der  österreichisch- 
ungarische Botschafter  in  Petersburg,  Graf  C^otek, 
begab  sich  am  14.  August  1870  nach  Wien,  um  den 
Kaiser  Franz  Josöf  und  den  Grafen  Beust  für  diese 
Politik  zu  gewinnen;  allein  er  konnte  den  Kaiser 
Alexander  IL  für  den  Vorschlag  des  Kaiser  Franz 
Jesef,  eine  bewaffnete  Haltung  auf  dem  Boden  eines 
gemeinsamen  Einverständnisses  einzunehmen,  nicht 
gewinnen ;  der  Gzar  war  von  seiner  fixen  Idee,  Oester- 


124 


reich  nicht  aus  der  striktesten  Neutralität  heraus- 
treten zu  lassen,  nicht  abzubringen. 

Inzwischen  war  die  Lage  Frankreichs  immer 
misslicher  geworden;  man  hegte  bereits  die  Besor- 
gniss,  der  Sieger  werde  den  Frieden  nur  um  den 
Preis  der  Abtretung  französischen  Gebietes  schliessen 
wollen ;  um  diesen  Unglücksschlag  abzuwenden,  suchte 
die  französische  Regierung  durch  ihren  Botschafter 
den  Gzar  und  den  Fürsten  Gortschakoff  dadurch  zu 
einer  Intervention  zu  bestimmen,  dass  sie  erklären 
Hess,  Frankreich  werde  nicht  eher  die  Waffen  nie- 
derlegen, bis  es  nicht  die  Integrität  seines  Bodens 
gesichert  habe.  Thatsächlich  erklärte  Gortschakoff 
dem  Grafen  Fleury  klipp  und  klar,  dass  der  Gzar 
unter  keinen  Umständen  einem  Frieden  zustimmen 
werde,  der  eine  Erniedrigung  Frankreichs  und  eine 
Verringerung  seines  Territoriums  im  Gefolge  haben 
könnte.  Der  Gzar  selbst  bemerkte  dem  Grafen  Fleury 
einige  Tage  später  (am  29.  August),  dass  er  dem 
Könige  von  Preussen  in  einem  Briefe  zu  verstehen 
gegeben  habe,  dass,  falls  Frankreich  vollständig  be- 
siegt wäre,  ein  Friedensschluss,  der  auf  einer  Ernie- 
drigung des  besiegten  Landes  beruhen  würde,  blos 
ein  Waffenstillstand  wäre  und  dass  ein  solcher  Waffen- 
stillstand für  ganz  Europa  gefährlich  sein  müsste.  Der 
König  habe  eine  befriedigende  Antwort  darauf  gege- 
ben, jedoch  auf  die  grosse  Schwierigkeit  hingewiesen, 
den  Verzicht  auf  einen  Theil  der  eroberten  Provinzen 
in  Deutschland  durchzusetzen.  „Nach  einem  Ideen- 
austausch und  einem  energischen  Protest  dagegen 
meinerseits  bestand  der  Gzar  nicht  weiter  darauf. 
Sichtlich  ergriffen  durch  meine  Worte,  antwortete  er 
mir  mit  einer  gewissen  Wärme,  dass  er  meine  Mei- 
nung theile  und  dass  er  im  gegebenen  Momente  laut 
und  vernehmlich  zu  sprechen  wissen  werde,  wenn  es 
nöthig  sein  sollte." 

Allein  die  Verhältnisse  änderten  sich  vom  Grund 
aus;  was  der  Gzar  eventuell  für  das  monarchische 
Frankreich  gethan  hätte,  das  konnte  das  revolutio- 
näre, republikanische  nicht  von  ihm  erwarten.  Graf 
Fleury,  der  am  6.  September  1870  der  französischen 
Regierung   seine  Demission   gegeben  hatte,    bemühte 


125 


sich  gleichwohl,  die  Abneigung  des  russischen  Kabi- 
nets  und  des  russischen  Hofes  gegen  die  französi- 
sche Regierung  zu  bekämpfen;  es  gelang  ihm  denn 
auch,  durchzusetzen,  dass  das  Petersburger  Kabinet 
der  preussischen  Regierung  rieth,  die  Pourparlers 
mit  dem  französischen  Minister  des  Aeussern  zu  be- 
ginnen. Die  Zusammenkunft  wurde  bewilligt  und 
Jules  Favre  wurde  am  19.  September  1870  in  Fer- 
neres empfangen.  Von  Illusionen  erfüllt,  bildete  sich 
Jules  Favre  ein,  dass  Preussen  den  Krieg  gegen  ein 
freies  Volk  nicht  fortsetzen  werde.  Wie  sehr  er  sich 
tauschte,  dessen  ward  er  alsbald  inne,  als  Bismarck 
die  elsässische  Frage  sofort  ganz  unumwunden  auf- 
warf. 

Am  nächsten  Tage,  nachdem  Bismarck  mit 
dem  vom  Gzar  beeinflussten  König  Wilhelm  Rath  ge- 
pflogen hatte,  zeigte  sich  Bismarck  geneigt,  den  Frie- 
den gegen  die  Abtretung  von  „Strassburg  und  seiner 
Bannmeile"  zu  schliessen.  Jules  Favre  wies  auch 
diese  Bedingungen  zurück  und  der  Krieg  wurde  wei- 
tergeführt. Da  der  Kaiser  Alexander  II.  sah,  dass 
seine  Intervention  fruchtlos  gewesen,  zog  er  sich 
nunmehr  von  diesen  Dingen  vorläufig  zurück.  Auch 
das  persönliche  Erscheinen  Thier's  in  Petersburg* 
konnte  an  der  zuwartenden  Haltung  des  russischen 
Kabinets  nichts  ändern.  Als  die  englische  Regierung 
im  Oktober  1870  den  schüchternen  Versuch  machte, 
zu  einem  Einverständniss  mit  Russland  behufs  Vor- 
bereitung des  Friedens  zu  kommen,  wies  der  Gzar 
diesen  Antrag  ab,  er  schrieb  jedoch  dem  Könige  von 
Preussen  und  empfahl  ihm  die  Annahme  des  Waf- 
fenstillstandes, indem  er  der  Hoffnung  Ausdruck  ver- 
lieh, dass  der  Frieden  alsbald  folgen  werde;  er  rieth 
dem  König  Wilhelm  ab,  auf  der  Forderung  territo- 
rialer Abtretungen  zu  bestehen,  denn  diese  würde 
den  Friedensschluss  vereiteln. 

Die  Haltung  Russlands  im  Jahre  1870  ermög- 
lichte das  heutige  Preussen-Deutschland,  sie  war  zu- 
gleich eine  Vergeltung  Oesterreich  gegenüber  für 
seine  Theilnahme  am  Krim-Krieg.  Nun  dürfte  die 
Regierung  in  Petersburg  einsehen,  dass  man  jetzt 
im  Westen  einen  sehr  unbequemen   Nachbar   habe. 


126 


IX.  Der  Sprachenstreit.    Die  Schwäche  der  Staate- 
maechine  Oesterreiche. 

Das  heutige  Preussen-Deutschland  hat  einen 
staatlichen  Apparat  der  nach  allen  Seiten  pünktlich 
funktionirt.  Der  deutsche  Kaiser  Wilhelm  II.  regiert 
mit  starker  Hand  die  innere  und  äussere  Politik 
Preussen-Deutschlands  in  eigener  Person.  Ihm  stehen 
denn  auch  zur  Verfügung  sowohl  das  Heer  als  auch 
die  Staatsbeamten.  Das  Salz  dieser  ungeheueren  Macht 
wird  aus  dem  preussischen  Landadel  rekrutirt,  es 
sind  dies  die  berühmten  preussischen  Junker,  deren 
Ideal  Bismarck  ist  und  bleibt.  Oesterreich  ist  in  dieser 
Hinsicht  nicht  so  glücklich  ausgestattet.  Es  verfügt 
schon  seit  der  theresiani sehen  Zeit  über  keinen  Staats- 
mann, der  mit  starker  und  glücklicher  Hand  die 
inneren  Verhältnisse  Oesterreichs  geordnet  hätte. 
Oesterreich  hat  bis  heute  noch  kein  Nationalitäts- 
gesetz, welches  den  inneren  Frieden  dieser  Monarchie 
verbürgen  könnte.  Ein  solches  Gesetz  ist  einfach  eine 
Unmöglichkeit,  solange  die  Deutschnationalen  nach 
der  deutschen  Staatssprache  und  der  Vorherrschaft 
der  Deutschen  überall  rufen  und  sich  dabei  der  Stütze 
von  Preussen-Deutschland  erfreuen. 

Die  habsburgische  Monarchie  war  denn  noch  nie 
von  den  nationalen  Kämpfen  so  durchtobt,  als  es 
heute  der  Fall  ist  und  es  hat  den  Anschein,  dass  der 
Kampf  der  Nationalitäten  Dank  der  alldeutschen  Pro- 
paganda an  Gefährlichkeit  und  Ausdehnung  immer 
zunehmen  wird.  Oesterreich  treibt  auf  diese  Weise 
einem  inneren  Bankerotte  entgegen  und  der  gute 
Nachbar  wartet  auf  diesen  Augenblick,  um  zu  kom- 
men und  „Frieden"  zu  stiften.  Das  ist  wohl  auch 
das  Ende  und  das  Ziel  der  alldeutschen  Politik. 
Dieser  Gefahr  müsste  eine  ehrliche  Regierung  in 
Oesterreich  bei  Zeiten  vorbeugen  durch  Schaffung 
eines  gerechten  Nationalitäten-Gesetzes  und  durch 
Schaffung  eines  Beamten,  Körpers,  dessen  Glieder 
ehrlich  und  treu  dem  Kaiser,  dem  Vaterlande  und 
dem  Volke  dienen  sollten.  In  Oesterreich  tobt  der 
Sprachenstreit  an  mehreren  Stellen  des  Reiches.  In 
der   Hauptsache   dreht   sich    dieser  Kampf  um    die 


127 


böhmische  Frage.  Dann  haben  wir  den  Sprachenkampf 
im  Süden.  Hier  werden  die  Slovenen  bedrängt  von 
den  Alldeutschen  in  Steiermark  und  Kärnten,  Slove- 
nen und  Kroaten  im  ganzen  adriatischen  Küstengebiet 
von  der  Italia  irredenta.  Die  Italiener  im  Südtirol 
verlangen  auch  ihre  Autonomie.  Endlich  zum  üeber- 
fluss  lodert  der  Kampf  zwischen  zwei  slavischen  Na- 
tionen in  Galizien,  zwischen  Polen  und  Ruthenen. 
Man  sieht,  dass  die  inneren  Verhältnisse  der 
habsburgischen  Monarchie  nicht  absonderlich  die 
rosigsten  sind  und  man  kann  wohl  auch  den  Aus- 
spruch des  greisen  Monarchen  begreifen,  indem  er 
dem  päpstlichen  Nuntius  erwiederte,  dass  nicht  ein- 
mal der  Papst  soviel  Drangsale  habe  als  Er,  der 
Kaiser  von  Oesterreich.  Ueber  die  Bedeutung  der 
böhmischen  Frage,  den  ganzen  Sprachenstreit  in  den 
böhmischen  Ländern  existirt  schon  eine  gewaltige 
Literatur.  Lassen  wir  nun  die  Arbeit  des  Dr.  Kram&f 
hier  folgen,  welche  er  im  September  1902  in  der 
londoner  „National-Review"  veröffentlichte.  Dr.  Kra- 
mäf  gibt  zuerst  einen  geschichtlichen  Ueberblick  und 
dann  geht  er  auf  den  Kernpunkt  ein,  den  Kampf  des 
bureaukratischen,  deutschcentralistischen  Staates  mit 
dem  modernen  Staate  der  gleichberechtigten  Völker, 
und  kommt  dabei  auf  die  Verfassungskämpfe  nach 
dem  Jahre  1867  zu  sprechen:  „In  Wien  gab  man 
auch  alle  Hoffnung  auf,"  heisst  es  da,  „die  Ge- 
schichte wieder  zurück  zu  korrigiren  und  machte 
die  1867er  Verfassung  gegen  die  nichtdeutschen 
Völker  und  für  die  Aufrechterhaltung  der  künstli- 
chen Hegemonie  der  Deutschen.  Endlich  kam  der 
deutsch-französische  Krieg.  Aber  auch  da  hat  die 
Wiener  Bureaukratie  nicht  eingesehen,  dass  Sedan 
nicht  nur  ein  neues  Deutsches  Reich,  sondern  auch 
ein  neues  Oesterreich  schaffen  musßte,  ein  Oester- 
reich, welches  auf  alle  Zeiten  alle  deutschen  Aspi- 
rationen aufzugeben  gezwungen  war.  In  den  höchsten 
Kreisen  schien  man  diesen  Gedanken  zwar  zu  ver- 
stehen, unter  der  Regierung  des  Grafen  Hohenwart 
wurde  das  berühmte  Reskript  an  den  böhmischen 
Landtag  erlassen  (September  1871),  worin  die  Krö- 
nung versprochen  wurde;  aber  bald  siegte  in  Wien 


128 


die  alte  bureaukratisch-centralistische  deutsche  Rich- 
tung, und  man  arbeitete  buchstäblich :  Pour  le  roi  de 
Prasse.  Man  verstand  es  nicht,  dass  die  künstliche, 
nur  durch  eine  ungerechte  Wahlgeometrie  und  den 
Centralismus  aufrecht  zu  haltende  herrschende  Stel- 
lung der  Deutschen  eine  Gefahr  werden  muss,  auch 
wenn  diese  Deutschen  damals  noch  sehr  österrei- 
chisch waren.  Sedan,  das  neue  Deutsche  Reich  und 
die  neue  Weltstellung  der  Deutschen  konnten  mit 
ihrer  moralischen  Wirkung  an  den  Grenzen  Oester- 
reichs  nicht  aufgehalten  werden.  Die  Jugend  hat  sich 
zu  sehr  an  der  ungeahnten,  unerhofften  Grösse  des 
Deutschthums  berauscht  und  neue  Generationen 
wuchsen  auf,  die  deutschnational,  dann  alldeutsch 
waren,  kraft  der  Logik  des  nationalen  Gedankens.  Die 
künstliche  Stellung  der  Deutschen,  welche  Oesterreich 
den  Charakter  eines  deutschen  Staates  gab  und  es 
nach  Deutschland  unter  Oesterreichs  Führung  hin- 
ziehen sollte,  hat  diese  Mission  nicht  erfüllt,  aber 
gewiss  eine  andere.  Sie  ist  zu  einer  Gefahr  für  den 
Staat  geworden,  weil  die  Deutschen  natürlich  und 
selbstverständlich  hingezogen  werden  zu  einer  Eini- 
gung mit  den  deutschen  Brüdern.  Diese  haben  sich 
jedoch  schon  geeinigt  unter  der  Führung  der  Hohen- 
zollern,  welche  eine  Stellung  Oesterreichs  in  Deutsch- 
land wohl  auf  gleicher  Linie  mit  Sachsen  und  BaiernT 
aber  nicht  jene,  von  welcher  Oesterreich  einst  ge- 
träumt hat,  zulassen  könnten.  Man  hat  es  unterlassen r 
nach  1870  die  natürlichen  Konsequenzen  aus  den 
weltgeschichtlichen  Ereignissen  zu  ziehen,  Oesterreich 
auf  seine  föderalistischen  geschichtlichen  Grundlagen 
zu  stellen  und  die  Deutschen  nicht  künstlich  zu  einer 
nationalen  Einigung  in  Oesterreich  förmlich  zu  zwin- 
gen, sondern  ihnen  in  den  einzelnen  Ländern  mit 
den  übrigen  Völkern  gleiche  Rechte  und  gleiche 
Freiheit  der  vollen  kulturellen  und  wirtschaftlichen 
Entwickelung  zu  gewähren,  und  so  die  Entstehung 
einer  deutschen  Frage  für  alle  Deutschen  in  Oester- 
reich für  lange  Zeit  zu  verhindern. 

Man  wollte  und  will  es  in  Wien  nicht  verstehen, 
dass  dieselbe  Kraft  des  nationalen  Gedankes,  welche 
in  Deutschland  Throne  gestürzt   und   zur  Errichtung 


129 


des  neuen  Deutschen  Reiches  geführt  hat,  an  der 
Grenze  Oesterreichs,  wenn  es  deutsch  sein  wird,  nicht 
Halt  machen  wird,  dass  zwei  deutsche  Reiche  neben 
einander  eine  Unmöglichkeit,  eine  Sünde  gegen  die 
Logik  des  deutschnationalen  Gedankes  sind,  und  dass 
ein  deutsches  Oesterreich  in  eine  untrennbare  Ver- 
bindung mit  dem  übrigen  Deutschland  kommen  müsse. 
Man  schaffe  ein  deutsches  Oesterreich,  ein  Oesterreich 
unter  deutscher  Führung,  wie  es  die  Deutschen 
wollen,  und  diese  werden  die  Konsequenzen  des  na- 
tionalen Gedankens,  das  gesetzlich  garantirte  Bünd- 
niss  und  die  Zollunion  mit  Deutschland  friedlich  und 
ruhig  durchführen,  wenn  die  Opposition  der  nicht- 
deutschen Völker  nicht  stark  genug  wäre,  sie  daran 
zu  hindern.  Und  die  militärische  und  kulturelle  Ueber- 
macht  des  preussischen  Deutschland  wird  das  poli- 
tisch und  wirthschaftlich  mit  ihm  verbündete,  viel 
schwächere  Oesterreich  ohne  grosse  Schwierigkeiten 
effektiv  in  diese  Lage  bringen,  wenn  auch  die  Formen 
der  Souveränität  aufrecht  blieben. 

In  Wien  will  man  aber  das  alles  nicht  verstehen. 
Die  Bureaukratie  ist  deutsch,  sie  will  Oesterreich 
weiter  beherrschen,  mit  der  deutschen  Sprache  ist  es 
viel  leichter  und  bequemer,  und  so  ist  man  in  Wien 
gar  nicht  gegen  die  Forderung  des  Herrn  Schönerer 
nach  der  deutschen  Staatssprache,  obzwar  man  weiss, 
was  die  Alldeutschen  damit  wollen,  und  führt  die- 
selbe nur  deswegen  nicht  ein,  weil  man  die  Macht 
dazu  nicht  hat,  aber  wahrhaftig  nicht,  weil  man  die  Lust 
dazu  nicht  hätte.  Das  Glück  Oesterreichs  und  seiner 
Dynastie,  dass  das  Reich  nicht  deutsch  ist,  dass  es 
in  der  überragenden  Mehrzahl  von  Völkern  bewohnt 
ist,  welche  sich  gegen  alles  Aufdrängen  des  Deutschen 
bis  zum  Aeussersten  vertheidigen,  das  hält  man  in 
Wien  für  sein  Unglück;  seine  einzige  raison  d'etre, 
der  Hort  und  die  Zuflucht  aller  seiner  Völker  zu  sein, 
verstehen  sie  nicht  oder  wollen  sie  nicht  verstehen, 
weil  sie  das  Ende  des  bureaukratisch-deutschen  und 
centralistischen  Oesterreich  bedeuten  würde.  Diese 
Tradition  ist  so  stark,  dass  selbst  die  Kreise,  die 
geradezu  berufsmässig  wollen  müssen,  und  welche 
auch  besorgt  sind  um  das  Reich  und  seine  Zukunft, 

9 


130 


nicht  zu  erkennen  vermögen,  dass  ein  starkes,  inner- 
lich kräftiges,  die  alldeutschen  Pläne  rücksichtslos 
bekämpfendes  Oesterreich  eine  europäische  Notwen- 
digkeit, ja  eine  Voraussetzung  des  heutigen  Europas 
ist  Und  sie  können  sich  darauf  doch  getrost  verlassen, 
denn  ohne  ein  vollständig  unabhängiges  Oesterreich 
wäre  für  Deutschland  der  Weg  frei  zu  einer  gross- 
artigen Weltmachtstellung,  wie  sie  die  Weltgeschichte 
noch  nicht  kennt. 

Es  wäre  ein  zusammenhängendes  Imperium  zu- 
meist mit  natürlichen  Grenzen,  also  militärisch  schier 
unüberwindlich,  ökonomisch  stark,  mit  ungeheueren 
natürlichen  Schätzen  ausgestattet  und  befruchtet ;  ein 
Weltreich,  das  der  Träume  der  nationalen  Deutschen 
unzweifelhaft  werth  ist,  aber  auch  nur  auf  den  Trum* 
mern  des  historischen  Gleichgewichtes  Europas  auf- 
gerichtet und  von  keiner  Macht  Europas  ruhig  hinge- 
nommen werden  kann.  Das  sind  so  feste  Fundamente 
für  Oesterreichs  Grossmachtstellung,  dass  man  es 
einfach  nicht  begreifen  kann,  wenn,  wie  gesagt,  sogar 
in  den  für  die  Zukunft  des  Staates  entscheidenden 
Kreisen  statt  dessen  mit  dem  Gedanken  ängstlich 
herumgewandelt  wird,  den  alldeutschen  Radikalismus 
durch  eine  katholischklerikale  Politik  Oesterreichs  zu 
bekämpfen.  Man  scheint  sogar  auf  den  Gegensatz  des 
Katholicismus  und  Protestantismus  in  Deutschland 
zu  rechnen  und  darin  das  Heil  für  die  Zukunft,  wenn 
nicht  noch  etwas  mehr  zu  erwarten.  Man  vergisst 
aber  dabei,  dass  das  Deutsche  Reich  durch  den  eini- 
gen hinreissenden  Enthusiasmus  der  Katholiken  und 
der  Protestanten  aufgerichtet,  durch  katholisches  und 
protestantisches  Blut  gekittet  wurde,  dass  der  mäch- 
tige, Alles  belebende  nationale  Gedanke  in  allen, 
namentlich  die  Machtstellung  Deutschlands  betreffen- 
den Fragen  alle  Katholiken  und  Protestanten  vereinigt 
und  das  Bewusstsein  der  grossen  wirtschaftlichen 
und  politischen  Erfolge  für  dessen  Bewohner  doch 
viel  mächtiger  ist,  als  die  Antipathie  gegen  das 
Preussenthum.  Man  kann  eben  aus  dem  Bannkreise 
der  Gentralisation  und  damit  der  Sucht  nach  einer 
deutschen  Uniformirung  des  Reiches  nicht  heraus, 
obzwar  beide  das  alte  Reich  so  tief  geschädigt  haben. 


131 


Wie  hat  die  Centralisation  die  Lebenskräfte  Oester- 
reichs  gelähmt!  Eingeführt  von  Maria  Theresia  im 
Jahre  1749  gegen  verbriefte  Rechte,  gegen  geschworene 
Krönungseide,  sollte  sie  den  von  allen  Seiten  bedrohten 
Besitz  der  grossen  Königin  zusammenhalten,  festigen 
und  für  die  Zukunft  retten.  Und  eingeführt  wurde 
der  Centralismus  nach  dem  Muster  der  preussischen 
Verwaltung,  wie  sie  Friedrich  II.  in  dem  eroberten 
Schlesien  eingerichtet  hatte.  Eine  jahrhundertelange 
Geschichte  .wurde  durch  die  Revolution  von  oben  auf 
den  Kopf  gestellt. 

Die  Länder  der  böhmischen  Krone,  bisher  durch 
eine  lose  Realunion  verbunden,  wurden  zu  einem 
immer  mehr  bureaukratisch  regierten  administrativen 
Gebiete.  Später  kam  noch  Galizien  und  Dalmatien 
dazu,  um  den  Widersinn  der  Centralisation  noch 
offenkundiger  zu  machen.  Nach  preussischem  Muster 
richtete  man  die  Gentralisation  ein,  aber  an  dem 
föderativen  neuen  Deutschland  mit  seiner  ungeahnten 
Riesenkraft  des  Ganzen  und  der  reichen  Gliederung 
und  Individualisirung  seiner  einzelnen  Theile  will 
man  sich  kein  Beispiel  nehmen.  Das  zurückgebliebene 
Galizien,  die  Alpenländer  mit  ihren  specifischen  For- 
men des  wirthschaftlichen  Lebens,  und  die  hochent* 
wickelten  böhmischen  Länder  Böhmen,  Mähren  und 
Schlesien  werden  nach  derselben  Schablone,  aus 
denselben  Kanzleien  in  Wien  regiert.  Was  für  die 
reichen  Länder  ein  Fortschritt  wäre,  ist  für  die  zu- 
rückgebliebenen ein  unerlaubter  Radikalismus,  und 
so  hemmt  Eines  das  Andere  und  das  Resultat  ist 
das  Zurückbleiben  der  Monarchie  hinter  den  übrigen 
vorwärtsstrebenden  europäischen  Staaten.  Man  tröstete 
sich  nun  mit  einem  echt  österreichischen  Tröste.  Alles 
sieht  durch  die  deutsche  Amtssprache  nach  aussen 
einheitlich  aus  und  nach  der  Lehrmeinung  der  Deut- 
schen und  der  Wiener  Bureaukratie  ist  diese  deutsche 
Amtssprache  der  festeste  Kitt,  welcher  Oesterreich 
zusammenhält,  obzwar  sie  von  der  Majorität  der 
Völker  als  Bedrohung  ihrer  nationalen  Entwickelung 
und  als  eine  ungerechte  Bedrückung  angesehen  wird. 
Man  bewegt  sich  eben  in  einem  verzauberten  Kreise, 
Die    von   Maria   Theresia   eingeführte   Gentralisation 

9* 


132 


brauchte  eine  einheitliche  Sprache,  und  dazu  wählte 
man  die  Sprache  des  Wiener  Hofes,  die  deutsche ; 
die  germanisirenden  Tendenzen  seit  den  Fünfziger- 
Jahren  bis  heute  brauchen  wieder  die  Centralisation, 
weil  die  Decentralisation  ein  Ende  der  Vorherrschaft 
der  deutschen  Sprache  bedeuten  würde.  Und  so  ver- 
kettet sich  die  Germanisation  und  die  Centralisation 
zu  der  schweren  Fessel,  welche  jede  gesunde  Einrich- 
tung, des  Reiches  hemmt  und  unmöglich  macht. 

Das  sind  nach  böhmischer  Auffassung  die  bei- 
den Todfeinde  Oesterreichs,  und  der  Kampf  gegen 
dieselben  bildet  das  politische  Programm  des  böhmi- 
schen Volkes.  National  wollen  die  Gechen  die  Gleich- 
berechtigung aller  Völker,  nicht  nur  die  mechanische, 
in  Amt  und  Schule,  sondern  die  innere,  volle  Gleich- 
berechtigung. Jedes  Volk,  welches  Oesterreich  be- 
wohnt, soll  sich  unverhindert  und  frei  national  aus- 
leben» In  seinem  ganzen  inneren  und  äusseren  Leben 
soll  es  alles  zu  seiner  Entwickelung  haben,  was  es 
hätte,  wenn  es  staatlich  selbständig  leben  würde.  Das 
ist  ja  die  eigentliche  Staatsidee  Oesterreichs,  seine 
Völker  in  ihrer  Eigenart  zu  schützen,  sie  sich  unge* 
hindert  entwickeln  zu  lassen  und  ihnen  allen  gemein- 
sam den  Schutz  und  die  wirtschaftlichen  Vortheile 
eines  Grosstaates  zu  gewähren.  Man  darf  nicht  von 
inferioren  Völkern  sprechen,  wie  es  sich  die  Deutschen 
angewöhnt  haben.  Hätte  man  den  kleineren  slavischen 
Völkern  gleichzeitig  mit  den  Deutschen  alle  die  kul- 
turellen Hilfsmittel  der  modernen  Bildung  gegeben, 
wie  es  die  Pflicht  des  Staates  war,  so  wären  sie  nicht 
in  ihrer  kulturellen  Entwickelung  zurückgeblieben. 
Aber  das  Unrecht,  welches  man  an  diesen  Völkern 
verübt  hat,  noch  dadurch  verschärfen  zu  wollen,  dass 
man  ihnen  jetzt  wegen  dieser  ungerechten,  unver- 
schuldeten Rückständigkeit  die  höheren  Schulen  ver- 
weigert, ist  ein  Vorgehen,  welches  der  rücksichtslose, 
brutale,  nationale  Chauvinismus  wählen  kann,  aber 
nicht  die  staatliche  Politik  gegen  treue,  alle  Pflichten 
gegen  den  Staat  opferwillig  erfüllende  Staatsbürger. 
Dies  gilt  namentlich  für  die  Slovenen  und  die  Kro- 
aten. Es  ist  gewiss  ein  Zeugniss  für  die  sehr  unge- 
sunden Verhältnisse   im  Staate,  wenn  die  Frage  der 


133 


Errichtung  eines  slovenischen  Gymnasiums  in  Gilli, 
in  einer  in  Steiermark,  im  rein  slovenischen  Gebiete 
liegenden,  der  Majorität  nach  deutschen  Stadt  zu  einer 
Staatsfrage  werden  konnte. 

Die  Deutschen  empfinden  allerdings  dieses  Streben 
nach  voller  nationaler  Gleichberechtigung  als  einen 
nationalen  Verlust,  weil  sie  ja  bis  jetzt  durch  die 
staatliche  deutsch-centralistische  Politik  derart  na- 
tional unterstützt  waren,  dass  sie  auch  vollständig 
unberechtigte  Positionen  inne  hatten,  dass  sie,  obzwar 
die  Minorität,  in  vielen  Vertretungskörpern  doch  die 
Majorität  haben.  Mähren  ist  z.  B.  beinahe  zu  drei 
Viertheilen  von  slavi scher  Bevölkerung  bewohnt,  aber 
durch  künstliche  Wahlordnungen  haben  die  Deutschen 
im  mährischen  Landtage  die  Majorität.  Das  ist  ein- 
fach unhaltbar.  Ohne  den  geringsten  Willen,  die 
Deutschen  national  zu  bedrängen,  ihnen  ihre  Natio- 
nalität zu  nehmen,  werden  die  Böhmen  doch  die 
Majorität  dort,  wo  sie  die  Majorität  der  Bevölkerung 
haben,  auch  in  den  gesetzgebenden  Körperschaften 
und  in  den  Städtevertretungen  erlangen.  Das  ist  ein- 
fach anders  unmöglich,  weil  unnatürliche  Zustände 
eine  gewisse  Zeit,  aber  nicht  für  immer  aufrecht  er- 
halten werden  können. 

In  Böhmen  gibt  es  deutsche  Gebiete,  in  welchen 
die  deutsche  Industrie  böhmische  Arbeiter  braucht, 
weil  die  Böhmen  mehr  Ackerbau  treiben  und  einen 
Ueberschuss  an  Arbeitern  haben.  Die  deutsche  Indu- 
strie kann  ohne  die  böhmischen  Arbeiter  nicht  exi- 
stiren,  aber  sie  beschwert  sich,  dass  dieselben  die 
deutschen  Städte  und  Gemeinden  öechisiren.  .  Und 
doch  machen  die  böhmischen  Arbeiter  keinen  einzi- 
gen Deutschen  zum  tiechen,  sondern  kommen,  durch 
ehrliche,  gute  Arbeit  ihren  Lohn  zu  verdienen,  wollen 
aber  selbstverständlich  Cechen  bleiben,  weil  sie  ihre 
Arbeit  den  deutschen  Industriellen  verkaufen,  aber 
doch  nicht  ihre  Seele,  das  heiligste,  was  sie  haben, 
ihre  Nationalität.  ^  Um  so  selbstverständliche  Sachen, 
dass  ein  Ceche  Ceche  bleibt  und  dass  er  für  seine 
Kinder  öechische  Schulen  haben  will,  wird  der  Kampf 
geführt.  Wenn  in  Oesterreich  der  in  den  Staatsgrund- 
gesetzen  theoretisch   ausgesprochene    Grundsatz  zur 


134 


That  wird,  so  sind  diese  Verhältnisse  weiter  undenk- 
bar, und  der  Schutz  der  nationalen  Minorität  —  und 
auch  der  Deutschen  —  muss  neben  einer  gewissen 
Autonomie  der  Nationalitäten  praktisch  in  der  Ge- 
setzgebung und  Verwaltung  zur  Geltung  kommen.  Die 
Deutschen  behaupten  allerdings,  dass  der  Staat  eine 
Sprache  braucht  und  dass  diese  nur  die  deutsche 
sein  kann.  Vor  Allem  muss  wohl  der  Staat  zu  seinen 
Bürgern  die  Sprache  sprechen,  welche  diese  verste- 
hen, er  muss  also  alle  Sprachen  seiner  Nationalitäten 
haben. 

Die  staatliche  Verwaltung  ist  ein  lebendiges  Ding, 
für  den  Verkehr  mit  dem  Publikum  bestimmt,  und 
nicht  ein  Arcanum  einer  über  dem  Volke  schweben« 
den  Kanzleibehörde.  Das  mag  früher  gewesen  sein, 
der  moderne  Staat  könnte  damit  nicht  leben.  Die 
über  den  Völkern  schwebenden  Amtskanzleien  konnten 
einst  ihr  eigenes  Leben  führen  und  deutsch  inmitten 
einer  slavischen  Bevölkerung  sein,  aber  heutzutage 
ist  es  ein  Unsinn,  ein  Nonsens,  ein  Hinderniss  der 
raschen  und  ins  Leben  greifenden  Verwaltung,  und 
es  muss  abgeschafft  werden.  Im  inneren  wie  im 
äusseren  Dienste  muss  das  Amt  sprachlich  gleich  sein 
mit  der  Majorität  der  Bevölkerung.  Das  wollte  Graf 
Badeni  machen,  das  war  sein  grosser  Gedanke,  und 
wenn  es  den  Deutschen  gelungen  ist,  diese  so  natür- 
liche, so  selbstverständliche  Koncession  an  die  Cechen 
durch  ihre  gewaltsame  Obstruktion  und  durch  die 
pangermanisöhe  Agitation  wieder  zu  vernichten,  so 
sehen  sie  wohl  selbst  heute  ein,  dass  sie  zu  viel  ge- 
wollt, und  dass  den  Cechen  ihre  selbstverständliche 
Forderung  erfüllt  werden  muss.  Allerdings  dort,  wo 
eine  amtliche  Sprache  nothwendig  ist,  bei  den  ober- 
sten Behörden,  den  Ministerien  zu  Wien,  bei  der 
Armee  zur  Erzielung  einer  schlagfertigen  Organisation, 
bei  dem  auswärtigen  Amte,  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  auch  bei  dem  inneren  Dienste  der  Eisenbahn 
haben  die  Böhmen  immer  dem  praktischen  Erforder- 
nisse die  nothwendigen  Kohcessionen  gemacht  Aber 
nie  werden  sie  zugeben,  dass  dieses  praktische,  mit 
<ier  nothwendigen  Decentralisation  der  Verwaltung 
immer   geringer  werdende  Bedürfniss  zu  einer  Fest- 


13$ 


Stellung  der  deutschen  Sprache  als  Staatssprache  be- 
nützt werde.  Man  muss  den  Deutschen  gegenüber 
vorsichtig  sein,  denn  sie  sind  in  der  Politik  sehr 
logisch  und  verstehen  es,  alle  Eonsequenzen  aus  einer 
scheinbar  noch  so  unschuldigen  Eoncession  zu  ziehen. 
Die  Alldeutschen  sagen  es  ja  ganz  offen  heraus, 
warum  sie  die  deutsche  Staatssprache  wollen.  Erstens 
wünschen  sie,  dass  Oesterreich  ein  deutscher  Staat 
nach  aussen  sei,  mit  einer  officiellen  deutschen  Staats- 
sprache dazu  gestempelt,  um  daraus  ihre  Eonsequen- 
zen zu  ziehen,  wie  sie  schon  angedeutet  wurden,  und 
im  Innern  wollen  sie  unverhüllt,  dass  die  Festlegung 
der  deutschen  Sprache  als  Staatsprache  zur  oblig.  Erler- 
nung der  deutschen  Sprache  in  allen  Schulen  verpflichte 
oder;  um  es  nach  praktischen  Erfahrungen  darzu- 
stellen: Der  Anfang  heisst  deutsche  Staatssprache 
iind  der  Schluss  Wreszen  und  Marienburg.  Die  kleine 
Minorität  der  Polen  in  Preussen  wird  sich  wehren, 
aber  muss  sich  jede  Gewalttätigkeit  dort,  wo  Macht 
zum  Rechte  wurde,  gefallen  lassen,  aber  die  Mehr- 
heit der  Bevölkerung  Oesterreichs  wird  sich  von  der 
deutschen  Minorität  dieses  kaudinische  Joch  nimmer 
aufzwingen  lassen. 

Das  zweite«  was  die  Böhmen  wollen,  ist  die  Re- 
stitution ihres  historischen  Rechtes.  Freiwillig  haben 
sie  mit  den  Ungarn  1526  die  Monarchie  der  Habs- 
burger gegründet  und  der  Besitz  der  Eönigstitel  von 
Böhmen  und  Ungarn  war  das  Fundament  der  M^cht 
der  Habsburger,  nicht  aber  die  deutsche  Eaiserkrone 
oder  der  Besitz  der  Alpenländer.  Die  Folgen  der 
Auflehnung  der  Stände  gegen  Ferdinand  I.  und  die 
Schlacht  am  Weissen  Berge  waren  eine  innere  Schwä- 
chung. Aber  Böhmen  blieb  ein  selbständiger  Staat, 
Und  .Maria  Theresia  war  ja,  nie  etwas  anderes,  als 
Eönigin  von  Böhmen  und  Ungarn,  weil  sie  ja  nur 
die  Gattin  eines  Eaisers  von  Deutschland  war,  der 
eine  Krone,  aber  keine  Macht  besass.  Maria  Theresia 
hat  zwar  die  böhmischen  und  österreichischen  Länder 
centralisirt  und  so  die  Selbständigkeit  des  Königrei- 
ches Böhmen,  ohne  ein  Recht  dazu  zu  haben,  schwer 
beschädigt,  aber  nach  aussen  waren  die  Eönigreiche 
Böhmen  und  Ungarn  die  Bedingung  ihrer  Machtstel- 


136 


lung  in  Europa.  Und  als  der  Kaiser  Franz  1804  den 
Titel  Kaiser  v.  Oesterreich  annahm,  hat  er  die  rechtliche 
Grundlage  seiner  Macht,  die  Sonderstellung  Ungarns 
und  Böhmens,  ausdrücklich  anerkannt.  Erst  die  letzten 
40  Jahre  haben  die  staatsrechtliche  Stellung  Böhmens 
schwer  beschädigt  durch  die  Verfassung  von  1861 
und  1867  und  durch  die  systematische  Untergrabung 
der  Autonomie  Böhmens  durch  die  Deutschen,  welche 
den  Centralismus  und  darin  ihre  Uebermacht  haben 
wollen.  Aber  historische  Rechte  kann  man  nicht  ein- 
seitig aufheben.  Ueber  die  Rechte  des  Königreiches 
Böhmen  können  nicht  Abgeordnete  von  Steiermark, 
Niederösterreich  und  Kärnten  entscheiden,  wenn  ihnen 
dazu  nicht  das  Recht  von  den  Vertretern  der  böhmi-» 
sehen  Länder  gegeben  wurde  .  .  .  Die  Verfassung  von 
1867  hat  Niemand  in  Böhmen  ausser  den  Deutschen 
anerkannt,  die  Böhmen  waren  nicht  im  Reichsrathe, 
als  über  dieselbe  verhandelt  und  beschlossen  wurde, 
sie  haben  immer  gegen  dieselbe  protestirt  und  ihr 
fester  Glaube  ist  es,  dass  der  Tag  kommt,  wo  man 
froh  sein  wird,  historische  Rechte  auf  die  Krone 
Böhmens  zu  besitzen,  und  dankbar  Denjenigen,  die 
den  Glauben  daran  nie  verloren  haben. 

Die  Krone  Böhmens  hat  tiefe  Wurzel  in  der  Ge- 
schichte Europas,  wogegen  an  dem  Bestände  des 
neuen  Oesterreichs  in  der  heutigen  Form  zu  sehr 
gerüttelt  wurde,  als  dass  es  tief  genug  wäre,  Wurzel 
fassen  zu  können.  Es  ist  eine  sehr  verwegene  Be- 
hauptung der  Gegner  der  böhmischen  Rechte,  dass 
die  Verfassung,  welche  einen  so  schwachen  Rechts- 
boden und  nur  dieThatsache  eines  sehr  bestrittenen 
Bestehens  für  sich  hat,  und  dass  eine  deutsche,  die 
sprachlichen  Rechte  anderer  Völker  missachtende 
centralistische  Verwaltung,  welche  von  Wien  aus 
geleitet  wird,  eine  festere  Garantie  für  den  Bestand 
des  Reiches,  ein  festeres  Band  für  die  einzelnen 
Länder  und  Völker  ist,  als  der  felsenfeste  Boden  der 
Rechte  der  einzelnen  Königreiche  und  Länder  und 
die  Zufriedenheit  aller  Völker  der  Monarchie,  welche 
Gut  und  Blut  für  das  Reich,  das  sie  glücklich  macht, 
einsetzen . . . 

Viele   Gesetze   werden   in   Wien   von  den  Deut- 


137 


sehen  abgeschrieben,  nur  das  eine  nicht,  die  födera- 
tive Grandverfassung  des  Deutschen  Reiches,  welche 
dasselbe  so  stark  und  kraftvoll  gemacht.  Und  dies 
nur,  weil  die  Deutschen,  welche  durch  den  Demo- 
kratismus der  Wahlordnungen  die  Majorität  im  Par- 
lamente verloren  haben,  in  der  deutsch-centralistischen 
Bureaukratie  das  letzte  Bollwerk  ihrer  privilegirten 
Stellung  sehen.  Uebrigens  wird  bald  die  Zeit  kommen, 
wo  sich  selbst  die  eifrigsten  Vertheidiger  des  heu- 
tigen Zustandes  werden  zugestehen  müssen,  dass  das 
Centralparlament  vollständig  unfähig  ist,  diejenigen 
Aufgaben  zu  erfüllen,  welche  ihm  die  Verfassung 
zuweist.  Die  Obstruktion  der  Deutschen,  welche  das 
grösste  Interesse  an  dem  Wiener  Reichsrathe  haben, 
hat  demselben  den  Boden  abgegraben,  umso  mehr, 
als  dieselbe  siegreich  geblieben  ist.  Gegen  den  wahr- 
haft staatsmännischen  Gedanken  des  Grafen  Badeni, 
die  Böhmen  durch  nationales  Entgegenkommen  aus 
ihrer,  den  heutigen  Zustand  absolut  negirenden  Hal- 
tung zu  einer  positiven  Reformarbeit  zu  bringen,  haben 
die  Deutschen  das  Parlament  und  das  Reich  revolu- 
tionirt. 

Mag  auch  die  Durchführung  der  Pläne  Badeni's 
nicht  einwandfrei  gewesen  sein,  kapituliren  vor  der 
deutschen  Obstruktion  durfte  man  nicht,  wenn  man 
den  Parlamentarismus  in  Oesterreich  in  der  jetzigen 
Form  nicht  bis  ins  Herz  treffen  wollte.  Die  Deutschen 
haben  die  Theorie  aufgestellt,  dass  eine  nationale 
Minorität  das  Recht  der  Obstruktion  hat,  um  ihren 
negativen  Willen  durchzusetzen  und  die  in  einem 
Parlamente  einzig  mögliche  Majoritätsherrschaft  un- 
möglich zu  machen.  Die  Zustände  des  polnischen 
Landtages,  welche  zur  Theilung  Polens  geführt  haben, 
wurden  als  das  neue  Recht  der  parlamentarischen 
Minorität  in  Oesterreich  hingestellt  und  mit  dem 
ganzen  Aufwand  der  deutschen  Gelehrsamkeit  ver- 
theidigt.  Die  Deutschen  sind  Sieger  im  Kampfe  ge- 
blieben, die  staatliche  Autorität  wurde  in  den  Staub 
gezerrt,  die  Cechen  durch  die  Zurücknahme  der 
sprachlichen  Rechte :  schwer  beleidigt,  und  die  Ob- 
struktion ist  dadurch  zu  einer  legitimen  parlamenta- 
rischen Waffe   einer  jeden  Minorität  geworden.     Die 


138 

Cechen  waren  einfach  gezwungen,  dieselbe  Waffe  zu 
ergreifen,  und  wenn  sie  auch  den  entscheidenden 
Schlag  bisher  nicht  geführt  haben,  so  werden  sie  es 
gewiss  thun,  wenn  es  sich  um  die  wichtigste  Staats- 
aufgabe handeln  und  bis  dahin  das  ihnen  zugefügte 
Unrecht  nicht  gutgemacht  wird.  Die  bisher  so  theuer 
erkaufte  Ruhe  im  Parlament  ist  nur  die  Stille  vor 
dem  Gewitter,  und  nichts  mehr.  Die  Krise  des  Par- 
laments ist  nur  in  die  Länge  geschoben  und  wird 
akut  werden,  wenn  die  numerisch  schwächeren  und 
auf  fremden  Boden  in  Wien  kämpfenden  Cechen  den 
günstigen  Momenf  zur  Führung  des  entscheidenden 
Schlages  finden  werden,  und  dieser  wird  eben 
kommen,  wenn  der  Staat  ein  ruhiges,  arbeitendes 
Parlament  unbedingt  nöthig  haben  wird,  d.  h.  wenn 
die  Ausgleichsgesetze  auf  den  Tisch  des  Hauses  ge- 
legt werden.  Für  die  Deutschen  ist  die  Situation 
nicht  leicht.  Sie  fühlen,  dass  es  nothwendig  ist,  die 
Zustände  im  Parlamente  zu  heilen,  aber  sie  wissen 
auch,  dass  es  anders  nicht  geht,  als  durch  die  Ge- 
währung der  nationalen  Rechte,  die  man  den  Cechen 
gegeben  und  wieder  genommen,  oder  durch  einen 
Umsturz  der  Verfassung,  welcher  neue  Zustände 
schaffen  und  die  Wiederkehr  der  jetzigen  Krisis  Wo- 
möglich verhindern  müsste. 

Im  ersten  Falle  müssten  die  Deutschen  der 
Durchbrechung  der  deutschen  Amtssprache  zustimmen, 
welche  sie  bisher  als  die  letze  Zufluchtsstätte  des 
deutschen  Charakters  des  Staates  angesehen  haben. 
Sie  müssten  mit  dem  Gedanken  einer  privilegirten 
Stellung  endgiltig  brechen  und  sich  bescheiden,  mit 
den  Böhmen  friedlich  und  gleichberechtigt  für  das 
gemeinsame  kulturelle  und  wirtschaftliche  Wohl  der 
von  ihnen  beiden  bewohnten  Länder  zu  arbeiten. 
Das  würde  aber  auch  zu  einer  Decentralisation  der 
Gesetzgebung  und  Verwaltung  führen,  weil  die  Deut- 
schen kein  Interesse  mehr  an  dem  übermässigen 
Centralismus  hätten,  welcher  beiden,  den  Deut^ 
sehen  und  den  Böhmen,  gleich  nachtheilig  ist,  und 
weil  das  Wiener  Parlament  nur  dann  gesunden 
kann,  wenn  sich  seine  Aufgaben  auf  das  wirklich 
Gemeinsame  für  alle  Länder  beschränken.    Der  Ent- 


139 


schluss,  freiwillig  die  Konsequenzen  der  Gerechtig- 
keit für  die  Böhmen  zuzulassen,  ist  also  den  Deut- 
schen wahrhaftig  nicht  leicht.  Erleichtert  wird  er 
ihnen  nur  dadurch,  das  der  heutige  Zustand  unhalt- 
bar ist,  dass  sonst  die  Böhmen  unbedingt  das  Par- 
lament durch  die  Obstruktion  zerschlagen,  wie  es 
einst  die  Deutschen  gethan  und  dass  es  dann  ent- 
weder zum  Absolutismus,  der  jedoch  nicht  lange 
währen  könnte,  oder  zu  der  Oktroyirung  einer  neuen 
Verfassung  kommen  müsste,  ,  wobei  die  Deutschen 
mehr  verlieren  könnten,  als  sie  in  einem  gerechten 
und  billigen  Ausgleich  mit  den  Böhmen  opfern 
müssten. 

Die  Deutschen  fühlen  wohl  selbst,  dass  der  Staat 
für  sie  nicht  mehr  thun  kann,  als  er  bisher  gethan 
hat  Eine  neue  Verfassung  müsste  demokratischer 
werden,  gerecht  in  den  Wahlordnungen,  ohne  die 
künstliche  Wahlgeometrie  der  jetzigen,  und  die  Deut- 
schen, welche  etwas  mehr  als  8  Millionen  unter  24 
sind,  müssten  damit  rechnen,  dass  ihre  Minorität 
definitiv  festgelegt  wäre,  Sie  müssen  auch  fürchten, 
dass  der  Staat  es  in  seinem  ureigensten  Interesse 
nicht  mehr  wagen  dürfe,  den  Deutschen  die  künstliche 
Oberherrschaft  zu  verschaffen,  weil  ein  grosser  Theil 
unter  ihnen  geradezu  staatsfeindlich  geworden  ist 
und  ein  Programm  hat,  welches  für.  die  Selbständig- 
keit und  Unabhängigkeit  Oesterreichs  die  grösste 
Gefahr. bildet.  Die  bedeutendste  der  deutschen  Par- 
teien, die  Deutsche  Volkspartei,  hat  als  die  vor- 
nehmsten Punkte  ihres  Programmes  das  staatsrechtlich 
in  den  Grundgesetzgebungen  beider  Reiche  festgelegte 
Bündnissund  dann  die  Zollunion  mit  dem  Deutschen 
Reiche,  also  ein  Programm,  welches  mittelbar  zu  einer 
vollständig  abhängigen  Stellung  der  Habsburgischen 
Monarchie  von  dem  Hohenzollerischen  Deutschland, 
als  dem  viel  stärkeren  Kompaciscenten  führen  muss, 
weil  es  für  das  schwächere  Oesterreich  keinen  Aus- 
weg, kein  anderes  Bündniss  oder  Vertragsverhältnisse 
mehr  gäbe.  Und  die  Alldeutschen,  welche  zwar  durch 
den  Kampf  ihrer  Führer  etwas  geschwächt  wurden, 
aber  die  deutsche,  nationale  Jugend  für  sich  haben, 
wollen    ohne   alle  Umschweife    direkt  den  Anschluss 


140 


der  ehemaligen  österreichischen  Länder  an  das  Deutsche 
Reich. 

Diesen  „Stützen"  Oesterreichs  noch  grössere  Pri- 
vilegien zu  geben,  sie  künstlich  auf  Kosten  Derje- 
nigen, welche  Oesterreich  aufrichtig  wollen,  noch  zu 
unterstützen  und  ihr  schwindlig-unnatürliches  Ueber- 
gewicht  noch  durch  neues  Unrecht  neue  Oktroyirungen 
zu  festigen,  das  wäre  eine  so  bewusst  selbsmörde- 
rische  Politik,  dass  sie  auch  in  Wien  unwahrschein- 
lich sein  muss.  Es  will  daher  scheinen,  dass  es 
auch  für  die  Deutschen  die  einzige  vernünftige  Po* 
litik  wäre,  nicht  mehr  zu  verlangen,  als  ihnen  ohne- 
dies Niemand  abspricht,  alle  Träume  von  einem 
Oesterreich  unter  deutscher  Hegemonie  aufzugeben 
und  Frieden  zu  schliessen  mit  den  übrigen  Nationen 
auf  Grund  der  ehrlichen  Gleichberechtigung.  Wirth- 
schaftlich  würden  sie  vor  allen  übrigen  dabei  nur 
gewinnen,  wenn  sie  alle  Kräfte  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung,  unbesorgt  um  die  nationale  Existenz, 
widmen  könnten,  und  national  werden  sie  ja  ohne- 
hin immer  noch  eine  bessere  Stellung  als  die  übri- 
gen haben,  weil  die  Gentralstellen  in  Wien,  das  Heer 
und  die  Diplomatie  lange  noch  die  deutsche  Sprache 
als  die  Geschäftssprache  gebrauchen  werden.  Thun 
sie  es  freiwillig  nicht,  so  wird  der  Staat  unvermeid- 
lich gezwungen  werden,  Ordnung  zu  machen,  hoffent- 
lich im  Sinne  der  Lebensinteressen  Oesterreichs, 
welches  ein  deutscher  Staat  nie  werden  darf,  wenn 
es  neben  dem  mächtigen  Deutschen  Reiche  frei  und 
selbständig  bleiben  will.  Man  hat  ja  schon  den  An- 
fang dessen  gesehen,  was  es  bedeuten  würde,  wenn 
der  Herzenswunsch  der  Deutschen  nach  einer  in- 
nigen unlösbaren  Verbindung  mit  Deutschland  ganz 
erfüllt  würde.  Nicht  der  Mangel  an  Kolonien,  nicht 
die  Nichtbetheiligung  an  grossen  Weltproblemen  hat 
die  Stellung  Oesterreichs  international  verändert, 
sondern  seine  absolute  Ergebenheit  in  das  deutsche 
Bündniss. 

Seit  Jahren  arbeitet  die  gesammte  deutsche  und 
von  Deutschland  beeinflusste  öffentliche  Meinung  in 
wohlorganisirter  Weise  für  eine  förmliche  Hypnoti- 
sirung  Oesterreichs    durch    den  Dreibund.    Systema- 


141 


tisch,  tagtäglich  wurde  derselbe  als  einzig  möglicher 
Weg  der  österreichischen  Politik  gezeigt  und  es  ge- 
lang auch,  das  Bündniss  mit  Deutschland  in  Oester- 
reich  als  eine  geheiligte  Institution  in  den  entschei- 
denden Kreisen  erscheinen  zu  lassen,  deren  Kritik 
beinahe  zum  Landesverrath  oder  wenigstens  als 
Wahnsinn  gestempelt  wurde.  Das  Verständniss  für 
die  Wirklichkeit  verschwand  vollständig  in  diesem 
verzückten  Kultus  der  Schöpfung  Bismarck's,  die 
Deutschen  proklamirten  das  deutsche  Bündniss  als 
eine  nationale  Institution,  verlangten  im  Innern  eine 
deutschfreundliche  Politik  als  Konsequenz  des  Bünd- 
nisses und  die  Welt  gewöhnte  sich  daran,  nicht 
mehr  zu  fragen,  was  Oesterreich  will,  weil  es  über- 
flüssig war,  wenn  man  wusste,  was  Deutschland  thun 
wird.  Dabei  machte  man  die  unmögliche  Politik  mit 
Stambulov  und  Milan,  trieb  es  zu  einem  immer  mehr 
drohendem  Konflikte  mit  Russland  und  im  Schatten 
dieses  österreichisch-russischen  Gegensatzes  setzte 
sich  Deutschland  in  Konstantinopel  fest,  verdrängte 
Alle  und  wurde  allraälig  zur  Schutzmacht  der  Türkei, 
wie  es  sich  darin  später  im  griechischen  Kriege,  in 
der  Kreta-Frage  und  in  der  Bagdad-Bahn-Frage  ge- 
zeigt hat.  Das  waren  die  Früchte  der  Hypnose,  in 
welche  sich  Oesterreich  durch  das  Bündniss  ein- 
schläfern Hess.  Erst  durch  die  Publikation  des 
deutsch-rassischen  Separatübereinkommens,  welches 
Oesterreich  die  Augen  öffnete,  in  welche  Gefahr  es 
sich  durch  seine  frühere  Balkan -Politik  begeben 
hatte,  und  deutlich  zeigte,  dass  es  eigentlich  ohne 
die  sichere  Rückendeckung  war,  auf  welche  es  ver- 
traute, und  seit  dem  Abschlüsse  des  Petersburger 
österreichisch-russischen  Uebereinkommens  sind  die 
Verhältnisse  anders  geworden. 

Es  ist  schon  erlaubt,  den  Dreibund  kritisch  an- 
zusehen, man  fängt  an,  zu  verstehen,  was  die  Cechen 
immer  wiederholt  haben,  dass  Deutschland  Oester- 
reich unbedingt  für  seine  Weltmachtstellung  als 
Rückendeckung  brauche  und  nicht  umgekehrt,  dass 
es  gefährlich  ist,  sich  allzu  willenlos  in  die  deutsche 
Politik  zu  ergeben,  welche  so  sprunghaft  und  auch 
beim  aufrichtigen  und  ehrlichen  Friedenswillen  doch 


142 


gefährlich  ist,  weil  sie  ein  Grosses  will  und  so  zahl- 
reiche Lebensinteressen  anderer  Weltmächte  berührt, 
ja  durchkreuzt.  Man  fühlte  es  schon  in  Wien,  dass 
man  durch  die  Petersburger  Entente  freier  wurde, 
dass  Österreich  dem  Berliner  Einflüsse  allmälig  ent- 
geht und  dass  Deutschland  jetzt  Oesterreich  suchen 
muss  und  dass  es  daher  nicht  mehr  in  Wien  als 
der  unberufene  Protektor  Oesterreichs  und  leider 
manchmal  auch  der  Deutschen  Oesterreichs  auftreten 
darf,  wenn  es  nicht  der  Gefahr  einer  Isolirung  in 
Europa  sich  aussetzen  will;  ja  diejenigen  Stimmen, 
welche  von  Deutschland  fordern,  •  dass  .  es  seine 
Bundespflicht  erheischt,  die  Alldeutschen  energisch 
von  seinen  Rockschössen  abzuschütteln,  sind  nicht 
mehr  vereinzelt  und  ohne  jedes  politische  Gewicht 
Diese  zwar  langsame,  aber  sicher  vorwärts  schrei- 
tende Emanzipation  Wiens  von  Berlin  —  trotz  des 
Weiteren  Bestandes  des  Dreibundes  — r  welche  von 
einer  so  grossen  internationalen  Tragweite  ist,  hat 
sich  am  besten  bei  dessen  Erneuerung  gezeigt. 

Gejubelt  darüber  haben  nur  Diejenigen,  welche 
im  Grunde  des  Herzens  gefürchtet  haben,  dass  der 
Dreibund  nicht  erneuert  werden  könnte.  So  mensch- 
lich ist  die  heilige  Institution  geworden  -r-  und  es 
ist  ja  kein  Zweifel,  dass  sie  den  Weg  alles  Mensch- 
lichen gehen  wird.  Den  Gipfelpunkt  seiner  Bedeu- 
tung hat  der  Dreibund  längst  überschritten.  Neues 
entwickelt  sich  daneben  und  darüber.  Die  Separat- 
übereinkommen -  der  Dreibundmächte  sind  es  ja, 
welche  der  europäischen  Politik  ihre  Farbe  und  ihren 
Charakter  geben  Der  Dreibund  regt  Niemanden  mehr 
auf,  der  realistisch  genug  denkt,  um  zu  erkennen, 
dass  die  Erneuerung  des  Dreibundes  sehr  wenig, 
seine  Nichterneuerung  jedoch  im  gegenwärtigen  Mo- 
itiente  noch  zu  viel  bedeuten  würde  für  die  ruhige 
Entwickelung  der  internationalen  Politik.  Der  Drei- 
bund ist  wie  der  Nothausgang  für  den  Fall  einer 
Feuersbrunst  in  einem  alten,  engen  Theater.  Für 
alle  Fälle  ist  er  da,  aber  weil  der  Nothausgang  im 
•Augenblicke  der  Gefahr  manchmal  nicht  ganz  sicher 
funktionirt,  so  wird  man  endlich  auch  auf  den  gründ- 
lichen Umbau  des  Theaters  denken  müssen,  wo  man 


143 


sich  auf  die  moderne,  rationelle  Anlage  eines  ganz 
neuen,  grösseren  Gebäudes  wird  verlassen  können, 
und  nicht  auf  Nothbehelfe,  welche  den  neuen 
Bedürfnissen  und  Anschauungen  nicht  mehr  ent- 
sprechen. 

Eine  Verstärkung  der  Stellung  der  Deutschen  in 
Oesterreich,  ihr  entscheidender  Einfluss  auf  die  in« 
nere  und  damit  auch  die  -äussere  Politik  der  Mon- 
archie würde  diese  Entwickelung  der  Dinge  unter- 
binden und  unmöglich  machen.  Das  fühlt  man  in 
Deutschland,  und  nicht  nur  nationales  Fühlen  mit 
den  Stammesbrüdern  jenseits  der  Grenze,  sondern 
auch  der  gesunde  Egoismus  führt  die  Deutschen 
im  Deutschen  Reiche  dazu,  den  Kampf  der  Deut- 
schen in  Oesterreich  als  ihren  eigenen  anzusehen 
und  in  denselben  mit  allen  Mitteln  einer  mo- 
ralischen und  allzuoft  auch  einer  materiellen  Unter- 
stützung einzugreifen.  Sie  fühlen  sehr  gut,  was 
für  die  deutsche  Politik  die  Sicherung  des  deutschen 
Charakters  Oesterreichs  für  alle  Zukunft  bedeuten 
würde,  auch  wenn  die  letzten  Ziele  der  Alldeutschen 
nicht  in  Erfüllung  gingen.  Das  Bündniss  mit  Deutsch- 
land würde  wieder  die  geheiligte  Institution  für 
Oesterreich  werden,  die  anzurühren  ein  Hochverrate 
wäre,  und  die  Deutschen  würden  gewiss  an  die  Er- 
füllung ihres  vornehmsten  Programmpunktes  gehen: 
die  Zollunion  mit  Deutschland,  Oesterreich  würde 
wieder  ein  Appendix  Deutschlands  in  internationaler 
Beziehung  werden  und  die  europäische  Politik  wäre 
genöthigt,  nicht  mehr  mit  einem  selbständigen  freien 
Oesterreich,  sondern  nur  mit  einem  durch  unbedingte 
Hingabe  Oesterreichs  starken,  fast  unüberwindlichen 
Deutschland  zu  rechnen.  Mann  könnte  dann  in  Wien 
Souveränität,  auswärtige  Politik  spielen,  das  riesen- 
starke Deutschland  würde  schon  die  österreichische 
Politik  dorthin  stellen,  wohin  es  ihm  passt. 

Das  wäre  das  Gefährlichste  für  das  Gleichge- 
wicht Europas.  Denn  ohne  einen  europäischen 
Krieg,  ohne  Umwälzungen,  beinahe  unbemerkt,  nur 
durch  Aenderung  in  der  inneren  Politik  Oesterreichs, 
auf  welche  Niemand  hoffen  kann  und  darf,  würde 
der  reelle,  der  eigentliche  Inhalt   der  grossdeutschen 


144 


Pläne  in  Erfüllung  gebracht.  Die  deutsche  Politik, 
auch  die  wirtschaftliche,  würde  von  Balt  bis  zur 
Adria  gebieten,  im  Mittelmeer  hätte  Deutschland 
durch  das  bis  zum  Aufgeben  des  eigenen  Volkes 
verbündete  Oesterreich  eine  neue,  feste  Position,  und 
über  den  Balkan  und  das  ohnehin  schon  vollständig 
botmässige  Konstantinopel  könnte  dann  Deutschland, 
von  Oesterreich  gestützt,  Klein-Asien,  von  Hajdar 
Pascha  bis  Bagdad  und  den  persischen  Meerbusen 
in  die  Sphäre  seiner  grossartigen  neuen  Weltpolitik 
fest  und  für  immer  einschliessen.  Dazu  wäre  nichts 
Anderes  nothwendig,  als  dass  die  Deutschen  in 
Oesterreich  einen  entscheidenden  Einfluss  bekommen 
und  im  Parlamente  die  Zollunion  mit  Deutschland 
beschliessen.  Das  andere  wäre  nur  die  selbstver- 
ständliche Konsequenz,  welche  Niemand  mehr  ab- 
wenden könnte.  Im  Bunde  eines  Starken  mit  einem 
Schwachen  befiehlt,  entscheidet  und  regiert  der 
Starke.  Das  ist  ein  Naturgesetz,  welches  für  Oester- 
reich keine  Ausnahme  machen  würde. 

Das  ist  der  Hintergrund,  die  tiefe  Perspektive 
der  nationalen  Kämpfe  in  Oesterreich.  Es  ist  ein 
Kampf  nicht  nur  um  das  nationale  Selbstbestim- 
mungsrecht der  slavischen  Nationen,  um  ihre  Freiheit 
und  Gleichberechtigung,  sondern  ein  Kampf  um 
Oesterreich,  um  seine  Macht  und  Unabhängigkeit 
und  seine  vollständige  Freiheit  nach  Aussen.  Es  hat 
lange  genug  gedauert,  dass  nur  die  Deutschen  Die- 
jenigen waren,  welche  eine  jede  Bewegung  der  Welt- 
politik mit  allen  ihren  logischen  Folgerungen  gleich 
anfangs  richtig  erkannt  und  auch  ausgenützt  haben. 
Europa  kam  aus  der  Ueberraschung  nicht  heraus. 
Wie  war  man  noch  zuletzt  in  Russland  überrascht, 
als  man  plötzlich  wahrgenommen,  dass  Deutschland 
in  Konstantinopel  der  mächtigste  Faktor  geworden 
ist  und  dass  es  die  Bagdadbahn  bauen  wird!  Und 
die  französischen  Botschafter  verschaffen  den  Deut- 
schen dazu  das  nöthige,  fehlende  Kapital,  damit  ja 
die  Deutschen  Kleinasien  ökonomisch  und  politisch 
vollständig  beherrschen  können.  Wie  wird  man  ein- 
mal erst  überrascht  sein,  wenn  die  Deutschen  ihre 
methodische,  beharrliche,  stille  Politik  geendet  haben ! 


145 


Deswegen  ifct  es  höchste  Zeit,  dass  man  wisse,  wormü 
es  sich  in  Oesterreich  handelt,  und  dass  die  öffent- 
liche Meinung  in  Europa  sieh  darüber  klar  wird, 
dass  gerade,  so  wie  einst  gegen  die  Gefahr  Tom 
Osten  die  Schaffung  des  Donaureiches  eine  Not- 
wendigkeit war,  es  heute  eine  ebenso  unbedingte 
Notwendigkeit  für  das  europäische,  ja  das  Gleich- 
gewicht der  .Welt  ist,:  damit  jetzt  das  riesenhaft  an- 
gewachsene Deutschland  über  Oesterreich  nicht  den 
Osten  und  die  Weltherrschaft  gewinnt.  Aber  nicht 
nur  dasl  Kein  schwaches,  hinsiechendes  Oesterreich 
braucht  die  Welt,  sondern  nur  ein  starkes,  kräftiges, 
innerlich  gesundes  Reich  wird  die  wichtigste  Wacht 
des  Weltgleichgewichtes  erfüllen  können.  Das  Habs- 
burger Reich  ist  alt,  aber  es  könnte  noch  ein  neues« 
besseres,  kaum  geahntes  Leben  innerer  Gesundheit 
und  Frische  zu  leben  anfangen,  wenn  es  endlich  nach 
Jahrhunderten  seinen  einzig  richtigen  Weg  finden 
würde:  ein  Reich  zu  sein,  in  welchem  das  schwier 
rige  Problem  der  nationalen  Frage  gelöst  wäre 
durch  die  gleiche'  Gerechtigkeit  und  Billigkeit  zu 
allen  seinen  Völkern,  ein  Reich,  welches  stark  genug 
wäre,  den  Frieden  unter  seinen  Völkern  im  Innern 
herzustellen,  aber  auch  denselben  nach  Aussen  gegen 
jede  Bedrohung  auf  dieser  für  das  europäische 
Gleichgewicht  entscheidenden  Stellen  aufrechtzuer- 
halten. 

So  kämpfen  die  Böhmen  einen  grossen,  nicht 
nur  für  sie  und  Oesterreich  bedeutungsvollen  Kampf. 
Nicht  lächerliche  Selbstüberhebung  ist  es,  wenn  sie 
sich  der  Tragweite  ihres  Strebens  bewusst  sind.  Es 
wäre  besser  und  angenehmer  für  sie,  unbemerkt 
um  ihr  unbestritten  nationales  Leben  zu  pflegen 
und  zu  entwickeln  und  aus  ihrer  Zukunft  keine 
europäische  Frage  zu  machen.  Der  Kampf,  den 
sie  führen,  ist  ja  nicht  leicht,  nicht  angenehm  und 
zehrt  ihre  besten  Kräfte  auf,  welche,  für  die  innere 
Entwicklung  der  Nation  verwendet,  Bedeutendes  lei- 
sten könnten.  Das  Schicksal  hat  jedoch  das  böh- 
mische Volk  in  das  Herz  Europas  gestellt,  in  das 
germanische  Meer  hinein,  und  hier  bilden,  sie  das 
Hinderniss,  dass  sich  die  germanischen  Fluthen  von 

10 


146 


der  Nordsee  bis  zur  Adria  ergiessen.  Die  Alldeut- 
schen haben  recht,  die  Cechen  sind  der  Pfahl  im 
Leibe  Germaniens.  Sie  wollen,  werden  und  müssen 
es  bleiben,  und  hoffen  fest  und  unentwegt,  dass  es 
ihnen  gelingen  wird,  auch  ganz  Oesterreich  zu  einem 
unüberwindlichen  Schutzwall  gegen  die  germanische 
Ueberfluthung  zu  machen." 

Soweit  die  Beleuchtung  der  böhmischen  Frage 
von  Dr.  Kramäf. 

Der  Sprachenstreit  in  den  böhmischen  Ländern 
dreht  sich  hauptsächlich  um  den  Gebrauch  der  böh- 
mischen Sprache  bei  den  Behörden.  Ueber  diese  Frage 
hat  da3  „Vaterland"  in  Wien  offenbar  aus  der  Feder 
Sr.  Excellenz  Baron  Helfert  folgende  Zusammenstel- 
lung gebracht.  „Bis  zum  fünfzehnten  Jahrhunderte 
richteten  sich  —  wenn  von  der  Zeit  vor  dem  Jahre 
1300  abgesehen  wird  —  die  Städte  Böhmens  theils 
nach  dem  Iglauer  Stadt-  und  Bergrechte  (aus  der  Zeit 
von  1240-1248;,  theils  nach  dem  Stadtrechte  der  Alt- 
stadt Prag  (gewiss  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts), 
ferner  nach  dem  Magdeburger  Rechte  (Aussig,  Laun, 
Leitmeritz,  Nimburg,  Schlan,  sogar  die  Kleinseite  und 
Hradschin)  und  nach  dem  Brünner  Stadtrechte  (Eger). 
Gemäss  der  von  Vladislav  II.  im  Jahre  1500  hinaus- 
gegebenen, später  im  Jahre  1564  unter  Maxmilian  IL 
korrigirten  Landesordnung,  Absatz  B.  XXXII.,  waren 
Ausländer  verpflichtet,  ihre  Rechtsstreite  vor  dem 
Landesgerichte  in  böhmischer  Sprache  zu  verhandeln. 

In  dem  von  Galli  1579  an  geltenden  sogenannten 
böhmischen  Stadtrechte,  welchem  das  erwähnte  Stadt- 
recht der  Altstadt  Prag  (ein  Manuskript  hievon  aus 
dem  vierzehnten  Jahrhundert  befindet  sich  im  Archive 
der  Stadt  Prag)  zugrunde  lag,  wurden  alle  besonderen 
Stadtrechte  aufgehoben  und  bestimmt,  dass  „man  nur 
einerlei  Stadtrecht  in  den  königlichen  Städten  ge- 
brauchen solle".  —  Im  Absatz  B.  VIII.  war  angeordnet, 
dass  bei  allen  ordentlichen  Gerichten  in  Böhmen  in 
böhmischer  Sprache  geklagt  und  verhandelt  werden 
solle. 

Diese  Verhältnisse  wurden  durch  Kaiser  Ferdi- 
nands IL  erneuerte  Landesordnung  vom  Jahre  1627 
geändert,  welche  in  sprachlicher  Beziehung  nament- 


147 


Hch  folgende  Bestimmungen  enthält:  G.  II.  Die 
deutsche  und  die  böhmische  Sprache  sind  gleich- 
berechtigt. C.  V.  Der  Kläger  hat  in  der  Sprache  des 
Geklagten  zu  klagen.  Der  ganze  Process  war  in  der 
durch  die  Klage  bestimmten  Sprache  zu  verhandeln 
und  zu  erledigen.  D.  XLVII.  In  dieser  Sprache  sind 
auch  die  Akten  abzulesen,  Umfrage  zu  halten  und  zu 
Totiren.  G.  IV.  und  D.  VII.  Zeugen  sind  in  ihrer 
Sprache  abzuhören,  jedoch  sind  für  den  Process 
Uebersetzungen  anzufertigen.  D.  XLII.  Advokaten 
bedienen  sich  ihrer  Muttersprache.  D.  XLIII.  Alle 
Schriften  sind  im  Originaltexte  vorzulesen,  daher 
Deklamatores  für  die  deutsche  und  die  böhmische 
Sprache.  D.  XLVII.  Theilung  des  grösseren  Land- 
rechtes in  zwei  Abtheilungen,  nämlich  eine  deutsche 
und  eine  böhmische.  E.  IV.  Die  Kanzlei  (das  ist  Hof- 
kanzlei für  die  politischen  Angelegenheiten)  hat  gleich- 
falls ihre  Erledigungen  deutsch  und  böhmisch  mit 
Rücksicht  auf  die  Nationalität  der  Partei  (nach  Stand, 
Kreis,  Person)  hinauszugeben.  E.  XV.  Kaufschillings- 
berechnungen in  Exekutionsfällen  sind  in  der  Sprache 
der  Mehrheit  der  Gläubiger  abzufassen.  F.  XLVI.  und 
F.  LXXI.  Das  Kammerrecht  und  das  Hof-  und  Lehen- 
recht werden  in  eine  deutsche  und  eine  böhmische 
Abtheilung  getheilt.  J.  VI.  Von  nun  an  haben  die 
Eintragungen  in  die  Landtafel  nach  Wahl  der  Partei 
in  deutscher  und  böhmischer  Sprache  zu  erfolgen. 

Die  erneuerte  Landesordnung  vom  Jahre  1627 
(nebst  den  Nachtragsdeklaratorien  vom  Jahre  1644) 
wurde,  was  das  in  derselben  ausgesprochene  Princip 
der  vollsten  Gleichheit  beider  Landessprachen  anbe- 
langt, seither  bis  jetzt  durch  keinerlei  gesetzliche 
Bestimmung  abgeändert.  Die  (vom  1.  Jänner  1782  an 
in  Geltung  gestandene)  allgemeine  Gerichtsordnung 
vom  1.  Mai  1781  bestimmt  im  §  13,  dass  beide  Streit- 
theile  in  ihren  Reden  sich  der  landesüblichen  Sprache 
zu  bedienen  haben.  Laut  der  Resolution  vom  14.  Juni 
1784  Nr.  306  I.  G.-S.  lit.  t)  „stand  den  Parteien  be- 
vor zu  fordern,  dass  ihre  mündlichen  Nothdurften 
von  Wort  zu  Wort  in  das  Protokol  eingetragen  wer- 
den". In  der  Gerichtsinstruktion  (Patent  vom  9.  Sep- 
tember 1785,  Nr.  464  I.  G.-S.)   ist  verordnet,  dass  in 

10* 


148 

deto  Referaten  die  Parteienbitten  „von  Wort  zu  Wort" 
abzuführen,  die  von  den  Parteien  vorgelegten  Urkun- 
den bei  der  ßerathung  „nach  ihrem  ganzen  Inhalte" 
vorzulesen  sind.  Mit  Hofdekret  vom  30.  November 
1787,  Nr.  750  I.  G.-S.,  wurde  allen  Appellations- 
gerichten  verordnet,  darauf  zu  sehen,  dass  alle  Magi- 
fetratsvorstände  undRäthe  der  in  ihrem  Gerichtsbezirke 
üblichen  Ländessprache  mächtig  seien.  Mit  Hofdekret 
Vom  22.  December  1835  Nr.  109  I.  G.-S.  wurde  zu- 
folge allerhöchster  Erschliessung  vom  27.  April  1835 
allen  Appellations-Gerichten  bedeutet,  dass  ^die  Par- 
teien gehalten  sind,'  allen  nicht  in  der  Gerichtssprache 
oder  in  einer  der  Landessprachen  ausgestellten  Ur- 
kunden, wovon  in  oder  ausser  Streitsachen  bei  Gericht 
Gebrauch  gemacht  werden  soll,  beglaubigte  Uebersez- 
zungen  in  die  Gerichtssprache  oder  in  eine  der  Landes- 
sprachen beizulegen".  Mit  Hofdekret  vom  16.  Jänner 
1835,  Nr.  2682  I.  G.-S.  wurde  zufolge  allerhöchster 
Entschliessung  vom  8.  Jänner  1835  angeordnet,  dass 
die  „Kriminalaktuare  bei  den  verschiedenen  Gerichts- 
stellen, damit  sie  ihrer  Bestimmung  und  der  Erfül* 
hing  der  ihnen  obliegenden  Pflichten  vollständig  ent- 
sprechen können,  nebst  den  sonst  erforderlichen 
Eigenschaften  der  Sprache  des  Landes  vollkommen 
kündig  sein  sollen,  in  welchem  sie  ihre  Anstellung 
als  Aktuare  erhalten,  wovon  sich  jederzeit  die  Ueber- 
zeugung  zu  'verschaffen  ist,  bevor  ein  Individium  zu 
einer  derlei  Stelle  ernannt  wird.  Deshalb  ist  bei  der 
Konkursausschreibung  zu  Krimialaktuarstellen  stets 
ubter  den  auszuweisenden  Erfordernissen  die  volle 
Kenfitnlss  der  Landessprache  anzuführen". 

In  dem  an  das  böhmische  AppellationsgerichMu*- 
folge  allerhöchster  Entschliessung  vom  24.  Oktober 
1840  ergangenen  Hofdekrete  vom  4.  Oktober  1840, 
Nr.  474  L  G.-S.  erscheint  ausgesprochen,  daäs'tfür 
Advokatenstellen  auf  dem  Lande  in  Böhmen  die  voll- 
kommene Kenntniss  der  böhmischen  Sprache  erfor- 
derlich ist.  Mit  Gubernialdekret  vom  11.  Oktober  1$I& 
(Prov.-Gesetzsammlung  I.,  Seite  532)  wurden  zufolge 
Dekret  der  Studien-Hofkommission  vom  23.  August 
1816  die  Kreishauptleute  und  k.  k.  StudiendiröktÖrate 
angewiesen.   Anfangs  eines  jeden  Schuljahres  in  den 


W 

philosophisches  und  juridischen. rStu4ien^psitalt^ 
bekannt  ;zu  machen,  dass  bei  Aufnahme  zu, denppHt 
tischen  Stellen  der  böhmischen  Lander  den  der  bohr 
mischen  Sprache  mächtigen  SStudirenflen  bei  gleichep 
anderen  Fähigkeiten  der  Vorzug  gegeben  werde.  -Zu- 
folge Hofkanzleidekret  vom  26.  Feber  1818  (Proy.- 
Ges.-Samml  III.  S.  122) :  haben  Seine  Majestät  -mit 
allerhöchster  Erschliessung  vom  13.  Feber  1819 
»neuerdings  anzuordnen  geruht,  bei  Anstellungen  bei 
Kreisämtern  darauf  zu  sehen,  dass  die  Beamten  die 
Sprache  des  Landes  oder  der  Gegend,  in  der  sie  pnr 
gestellt  werden,  vollkommen  besitzen".  Zufolge  Hoft 
ianzleidekret  vom  27.  Jänner  1833  (Prov.-Ges.-Samml 
XV.  S.  56)  wurde  der  Hofkanzlei  mit  allerhöchster  Entr 
Schliessung  vom  21.  Jänner  1833  „der  Auftrag  ertheilt; 
den  Länderstellen  zur  Pflicht  zu  machen,  dass  für 
die  Kreishauptmanns-  und  Kreis-Kommissärs$telleij 
nur  solche  Individuen  in  Vorschlag  gebracht  werden, 
die  sich  im  Besitze  der  vollständigen  Kenntniss  der 
«Sprache  des  Landes  und  des  Kreises,  in  welche  sie 
zur  Dienstleistung  berufen  werden,  befinden". 

;  Zufolge  Hofkanzlei-Präsidi#lschreibens  vom.  15. 
December  1834  (Prov.-Gesetzsammlung  XVIL,  Seite  22) 
„haben  Seine  Majestät  aus  Anlass  eines  eingetretenen 
Falles  mündlich  den  strengen  allerhöchsten  Willen 
auszusprechen  geruht,  dass  die  kreisämtlicheu  Be- 
amten, welche  die  Bestimmung  haben,  mit  den  Landes- 
einwohnern unmittelbar  zu  verhandeln,  die  volle  und 
genaue  Kenntniss  der  Landessprache  besitzen  müsset* 
und  dass  in  dieser  Beziehung  bei  Personalvprschlägen 
sich  durchaus  nicht  auf  blosse  Angaben  zu  verlassen 
sei,  sondern  dass  von  dem  unmittelbaren  Vorgespiel- 
ten die  bestimmte  Versicherung  vorliegen  müsse,  <J#ss 
die  Behauptung  wegen  vollkommener  Kenntniss  der 
Landessprache  auch  richtig  sei".  Infolge  allerhöchsten 
Kabinetschreibens  vom  8.  April  1848  wurde  r  mit 
Ministerialdekret  vom  15.  April  1848,  £.  21415  (ßöhr 
mische  Prov.  Gesetzsammlung  Band  XXX«,  Absatz  9) 
wQrtlich  ausgesprochen«  dass  von  nun  an  in  Böhmen 
alle  öffentlichen  Aemter  und  Gerichtsbehörden  nur 
dujpb  Individuen  besetzt  werden  sollen^  weicht  beir 
der  Landessprachen  kundig  $ind,   Auf  Grund  kliert 


150 


höchsten  Kabinetschreibens  hat  das  böhmische  Appel- 
lationsgericht mit  Genehmigung  des  Justizministeriums 
vom  22.  Mai  1848,  Nr.  721,  eine  Verordnung  vom 
30.  Mai  1848,  Nr.  9535  (Prov.  Gesetzsammlung  XXX., 
Absatz  1,  Seite  261)  erlassen,  wonach  Jedermann  bei 
Gericht  deutsch  oder  böhmisch  einschreiten  kann, 
und  sich  das  Protokoll  und  die  Erledigung  nach 
dieser  Sprache  zu  richten  habe. 

Mit  Erlass  des  Justizministeriums  vom  23.  Mai 
1852,  Z.  11815,  wurde  dem  Oberlandesgerichte  und 
der  Oberstaatsanwaltschaft  in  Prag  bedeutet,  dass  im 
Strafverfahren,  falls  der  Angeklagte  nur  der  böhmi- 
schen Sprache  mäphtig  ist,  alle  Eingaben  der  Staats- 
anwaltschaft inclusive  der  Anklage  in  böhmischer 
Sprache  zu  überreichen,  die  Vernehmung  des  Ange- 
klagten, sowie  der  blos  der  böhmischen  Sprache 
mächtigen  Zeugen  und  Sachverständigen  in  böhmi- 
scher Sprache  zu  Protokoll  zu  bringen,  alle  gericht- 
lichen Entscheidungen  in  böhmischer  Sprache  zu  er- 
lassen sind  und  die  Hauptverhandlung  in  dieser 
Sprache  zu  pflegen  ist,  dass  aber  abgesehen  hievon 
im  Strafverfahren  sich  der  deutschen  Sprache  zu  be- 
dienen ist,  „welche  überhaupt  als  die  Sprache  des 
inneren  Dienstes  die  Regel  zu  bilden  hat."  Mit  Erlass 
des  Justizministeriums  Vom  4.  März  1856,  Z.  4749, 
wurde  dem  Oberlandesgerichte  in  Prag  bedeutet,  dass, 
da  ^nach  dem  gesetzlich  bestehenden  Grundsatze  im 
inneren  Geschäftsverkehre  der  k.  k.  Gerichte  nur  die 
deutsche  Sprache  als  Geschäftssprache  zu  gelten  hat", 
unbeschadet  der  im  §  257  der  Strafprocessordnung 
enthaltenen  Bestimmungen  rücksichtlich  der  Beur- 
kundung der  Vorgänge  der  mündlichen  Schlussver- 
handlung und  mit  vollkommener  Aufrechthaltung  des 
Ministerialerlasses  vom  23.  Mai  1852,  Z.  11815  (im 
Vorstehenden),  in  allen  künftigen  Fällen  die  über 
die  mündlichen  Schlussverhandlungen  in  Strafsachen 
aufzunehmenden  Protokolle  lediglich  in  der  deutschen 
Sprache  zu  verfassen  sind,  soweit  es  sich  nicht  um 
die  Protokollirung  der  Aussagen  des  Angeklagten,  der 
Zeugen  und  Sachverständigen  in  jener  Landessprache, 
in  welcher  sie  abgegeben  worden  sind,  oder  um  jene 
Stellen  handelt,  welche  in  ihrer  wörtlichen  Fassung  fest- 


151 


gestellt  werden  müssen.  Mit  Erlass  des  Justizministe- 
riums vom  31.  März  1856,  Z.  6742,  wurde  dem  Prager 
Oberlandesgerichte  verordnet,  die  vorstehende  Wei- 
sung vom  4.  März  1856,  Z.  4749,  auch  den  Bezirks- 
gerichten zur  Richtschnur  im  Verfahren  über  Ueber- 
tretungen  (betreffs  der  Sprache  des  Schlussverhand- 
lungs protokol] es)  bekannt  zu  geben.  Im  kaiserlichen 
Patente  vom  9.  August  1854,  Nr.  208  des  Reichs- 
gesetzblattes, über  das  ausserstrittige  Verfahren  wurde 
(§  4)  vorgeschrieben,  dass  „schriftliche  Gesuche  in 
einer  bei  Gericht  üblichen  Sprache  geschrieben  sein 
müssen". 

Mit  Erlass  des  Justizministeriums  vom  10.  Jänner 
1864,  Z.  617,  ai  1863  praes.  wurde  verordnet,  und  zwar 
den  Oberlandesgerichten  in  Prag  und  Brunn:  1.  dass 
die  oberlandesgerichtlichen  Entscheidungen  in  jenen 
Fällen,  wo  die  Verhandlung  in  erster  Instanz  in 
einer  anderen  als  der  deutschen  Sprache  geführt  wurde, 
vom  Oberlandesgerichte  nicht  nur  in  der  deutschen, 
sondern  auch  in  derjenigen  Sprache,  in  welcher  die 
Verhandlung  in  erster  Instanz  stattfand,  hinauszugeben 
sind;  2.  dass  bei  den  in  zwei  Sprachen  zu  erfolgen- 
den Ausfertigungen  der  Entscheidungen  auf  der  einen 
Papierspalte  der  Text  in  der  deutschen  und  auf  der 
anderen  Spalte  in  der  Sprache,  in  welcher  die  Ver- 
handlung geführt  wurde,  auszufertigen  und  die  all- 
fälligen Verfügungen  und  Bemerkungen  an  die  Ge- 
richte am  Schlüsse  des  deutschen  Textes  beizufügen 
oder  dieselben  mit  einer  besonderen  Ausfertigung  hin- 
auszugeben sind ;  3.  dass  die  Entscheidungen  jeden- 
falls, die  Entscheidungsgründe  aber  in  allen  Fällen, 
in  welchen  sie  den  Parteien  von  Amtswegen  auszu- 
fertigen und  in  beiden  Sprachen  hinauszugeben  sind 
und  es  nur  in  jenen  Fällen,  in  denen  die  Hinaus- 
gabe der  Entscheidungsgründe  nicht  von  Amtswegen, 
sondern  blos  auf  Anmelden  der  Parteien  stattfindet, 
zulässig  sei,  den  Parteien,  wenn  sie  die  Hinausgabe 
nur  in  einer  Sprache  verlangen,  selbe  auch  nur  in 
dieser  Sprache  zu  ertheilen.  4.  Das  über  Eingaben, 
die  beim  Oberlandesgerichte  in  einer  anderen  als  der 
deutschen  Sprache  überreicht  werden  und  über  welche 
ohne  vorausgegangene  Verhandlung  ein  Bescheid  er- 


152 


theilt  wird,  der  unmittelbar  an  die  Partei  ergeht, 
derselbe  in  der  Sprache  der  Eingabe,  wenn  er  aber 
mittelst  des  ersten  Richters  erfolgen  soll,  an  den- 
selben in  deutscher  Sprache  und  dem  ersten  Richter 
aufzutragen  sei,  die  Partei  in  der  Sprache  der  Ein- 
gabe zu  verständigen.  Die  Notariatsurkunden  sind  in 
der  im  Sprengel  des  Notars  üblichen  Landessprache 
aufzunehmen.  ' 

Es  folgte  die  Verordnung  der  Ministerien  des 
Innern  und  der  Justiz  vom  19,  April  1880  (L.-G.-Bl.> 
für  Böhmen  Stück  V.,  ausgegebeü  am  13.  Mai  1880), 
betreffend  den  Gebrauch  der  Landessprachen  im  Ver- 
kehre der  politischen,  gerichts-  und  staatsanwalt- 
schaftlichen Behörden  in .  Königreich  Böhmen  und  in 
Mähren  mit  den  Parteien  und  autonomen  Organen. 
Diese  Verordnung  bestimmte:  §  1.  Die  politischen, 
Gerichts-  und  staatsanwaltschaftlichen  Behörden  im 
Lande  sind  verpflichtet,  die  an  die  Parteien  über 
deren  mündliche  Anbringen  oder  schriftliche  Eingaben 
ergehenden7  Erledigungen  in  jener  der  beiden  Landes- 
sprachen auszufertigen,  in  welcher  das  mündliche 
Anbringen  vorgebracht  wurde  oder  die  Eingabe  ab- 
gefasst  ist.  §  2.  Protokollarische  Erklärungen  der 
Parteien  sind  in  jener  der  beiden  Landessprachen 
aufzunehmen,  in  welcher  die  Erklärung  abgegeben 
wird.  §  3.  Urkunden  oder  andere  Schriftstücke,  welche 
in  einer  der  beiden  Landessprachen  abgefasst  sind 
und  als  Beilagen,  Behelfe  oder  sonst  zum  amtlichen 
Gebrauche  beigebracht  werden,  bedürfen  keiner  Ueber- 
setzung.  §  4.  Die  nicht  über  Einschreiten  der  Parteien 
erfolgenden  behördlichen  Ausfertigungen  haben  in 
jener  der  beiden  Landessprachen  zu  erfolgen,  die  von 
der  Person,  an  welche  die  Ausfertigung  gerichtet  ist, 
gesprochen  wird.  Ist  die  Sprache,  deren  sich  die 
Partei  bediente,  nicht  bekannt  oder  ist  sie  keiüer  der 
beiden  Landessprachen,  so  ist  jene  der  Landessprachen 
zu -gebrauchen,  deren  Verständniss  nach  Beschaffen- 
heit des  Falles,  wie  insbesondere  nach  dem  Aufent- 
haltsorte der  Partei  vorausgesetzt  werden  kann. 
§  5.  Die  Bestimmungen  der  §§  1  bis  4  gelten  auch 
rücksichtlieh  der  Gemeinden  in  jenen  Angelegenheiten* 
in  denen  sie  als  Parteien  anzusehen  sind.     §  6.  Alle 


153 


amtliehen.  Bekanntmachungen,  welche  zur  allgemeinen 
Kenntniss  im  Lande  bestimmt  sind,  haben  in  beiden 
Landessprachen  ;?u  ergehen.  Lediglich  für  einzelne 
Bezirke  oder  Gemeinden  bestimmte  amtliehe  Be- 
kanntmachungen, haben  in  den  Landessprachen  zu 
erfolgen,  welche  in  den  betreffenden  Bezirken  oder  Ge- 
meinden üblich  sind.  §  7.  Aussagen  von  Zeugen  sind 
in;  jener  Landessprache  aufzunehmen,  in  welcher  die- 
selben abgegeben  worden  sind.  §  8.  In  strafgerichtlichen 
Angelegenheiten  sind  die  Anklageschrift,  sowie  über- 
haupt die  dem:  Angeschuldigten  zuzustellenden  An- 
träge, Erkenntnisse  und  Beschlüsse  für  denselben  in 
fejier  der  beiden  Landessprachen  auszufertigen,  deren 
er  sich  bedient.  In  dieser  Sprache  ist  auch  die  Haupt- 
verhandlung zu  pflegen  und  sind  in  derselben  ins- 
besondere die  Vorträge  des  Staatsanwaltes  und  des 
Vertheidigers  zu  halten  und  die  Erkenntnisse  und 
Beschlüsse  zu  verkünden. 

Von  den Bestimmungen  des  vorstehenden  Ab- 
satzes darf ,  nur  insoferne  abgegangen  werden,  als  diier 
selben  mit  Rüchsicht  auf  ausnahmsweise  Verhältnisse, 
insbesondere  mit  Rücksicht  auf  die  Zusammensetzung 
der  Geschwornenbank  unausführbar  sind,  oder  der 
Angeschuldigte  selbst  den  Gebrauch  der  anderen 
Landessprache  begehrt. 

Bei  Hauptverhandlungen  gegen  mehrere  Ange- 
schuldigte, welche  sich  nicht  derselben  Landessprache 
bedienen,  ist  die  Hauptverhandlung  in  jener  Landes- 
sprache abzuhalten,  welche  das  Gericht  für  den  Zweck 
der  Hauptverhandlung  entsprechender  erachtet.  In 
allen  Fällen  sind  die  Aussagen  der  Angeschuldigten 
und  der  Zeugen  in  der  von  ihnen  gebrauchten  Landes- 
sprache aufzunehmen  und  die  Erkenntnisse  und  Be- 
schlüsse jedem  Angeschuldigten  in  dieser  Sprache  zu 
verkünden  und  auf  Verlangen  auszufertigen.  §  9.  In 
bürgerlichen  Rechtsstreiten  ist  das  Erkenntniss  sammt 
Gründen  in  jener  Landessprache  auszufertigen,  in 
welcher  der  Rechtsstreit  verhandelt  wurde.  Haben 
sieh  die  Parteien  nicht  derselben  Landessprache  be- 
dient, so  hat,  falls  nicht  ein  Einverständniss  vorliegt, 
dass  das  Erkenntniss  sammt  Gründen  nur  in  einer 
der  Landessprachen  ausgefertigt  werde,  die  Ausferti- 


154 


gung  in  beiden  Landessprachen  zu  erfolgen.  §  10.  Die 
Eintragung  in  die  öffentlichen  Bücher  (Landtafel, 
Bergbuch,  Grundbuch,  Wasserbuch  u.  s.  w.),  dann  in 
die  Handelsfirmen-,  Genossenschafts-  und  andere 
öffentliche  Register  sind  in  der  Sprache  des  münd- 
lichen oder  schriftlichen  Ansuchens,  beziehungsweise 
des  Bescheides,  auf  dessen  Grund  sie  erfolgen,  zu  voll- 
ziehen. In  derselben  Sprache  sind  die  Intabulations- 
klauseln  den  Urkunden  beizusetzen.  Bei  Auszügen 
aus  diesen  Büchern  und  Registern  ist  die  Sprache 
der  Eintragung  beizubehalten.  §  11.  Der  Verkehr  der 
politischen,  gerichtlichen  und  staatsanwaltschaftlichen 
Behörden  mit  den  autonomen  Organen  richtet  sich 
nach  der  Geschäftssprache,  deren  sich  dieselben  be- 
kanntermassen  bedienen. 

Der  Verkehr  mit  den  Gemeindebehörden,  welche 
die  Funktionen  der  politischen  Bezirksbehörde  aus- 
üben, wird  hiedurch  nicht  berührt.  Gegen  diese  eben 
wörtlich  angeführte  sogenannte  Sprachenverordnung 
machte  sich  eine  starke  politische  und  nationale 
Agitation  geltend.  Auch  kam  es  vor,  dass  einzelne 
deutsche  Gerichte  böhmische  Eingaben  mit  Hinweis 
darauf,  dass  die  böhmische  Sprache  in  dem  betref- 
fenden Bezirke  nicht  landes-,  respektive  gerichts- 
üblich sei  (§  13  A.  G.-O.  und  §  4  des  kaiserlichen  Paten- 
tes vom  9.  August  1854,  Nr.  208  R.-G.-BL),  zurück- 
wiesen. Während  das  Prager  Oberlandesgericht  über 
Rekurs  in  diesen  Fällen  konsequent  die  aufrechte 
Erledigung  der  böhmischen  Eingaben  mit  der  Be- 
gründung, dass  in  ganz  Böhmen  die  deutsche  und 
böhmische  Sprache  als  Landessprachen  gelten,  ver- 
ordnete, entschied  über  Revisionsrekurs  der  Oberste 
Gerichtshof  anfangs  in  mehreren  Fällen,  dass  in  sol- 
chen deutschen  Gerichtsbezirken  blos  die  deutsche 
Sprache  landesüblich  sei  und  deshalb  die  Zurück- 
weisung böhmischer  Eingaben  mit  Recht  erfolgte. 
Später  änderte  jedoch  der  Oberste  Gerichtshof  die 
Judikatur  dahin  ab,  dass  auch  für  deutsche  Ge- 
richtsbezirke die  böhmische  Sprache  als  Landes- 
sprache (landes-  respektive  gerichtsüblich)  in  Betracht 
zu  kommen  habe  und  demgemäss  jede  böhmische 
Eingabe  als  böhmisch  zu  erledigen  sei. 


155 


Mit  Erlass  des  Justizministeriums  vom  30.  Sep- 
tember 1886,  Z.  17520  (Justizmin.-Vgsbl.  vom  Jahre 
1886,  S.  174)  wurde  folgende  Verordnung  wegen  Ein- 
schränkung der  Uebersetzungen  von  an  die  Parteien 
hinauszugebenden  Erledigungen  beim  Oberlandes- 
gerichte in  Prag  an  dieses  Oberlandesgericht  erlassen  : 
Um  die  beim  Oberlandesgerichte  vorkommenden  sehr 
zahlreichen  Uebersetzungen  obergerichtlicher  Erledi- 
gungen auf  das  unvermeidliche  Mass  zu  beschränken, 
finde  ich  anzuordnen,  dass  vom  1.  Jänner  1887  an- 
gefangen beim  Oberlandesgerichte  in  allen  Fällen,  in 
welchen  die  Erledigung  nur  in  einer  der  beiden  Landes- 
sprachen hinauszugeben  ist,  schon  in  den  Anträgen 
der  Referenten  die  Entwürfe  der  Erledigungen  und 
deren  an  die  Parteien  hinauszugebende  Begründung 
in  jener  Sprache  abgefasst  und  ebenso  die  etwa 
gegen  den  Antrag  des  Referenten  beschlossenen  Er- 
ledigungen in  jener  Sprache  festgestellt  werden,  in 
welcher  dieselben  nach  den  bestehenden  Vorschriften 
den  Parteien  zuzukommen  haben.  Hat  die  Erledigung 
nach  den  bestehenden  Vorschriften  in  beiden  Landes- 
sprachen zu  ergehen,  so  bleibt  es  vorläufig  bei  der 
bestehenden  Uebung  der  Uebersetzung,  welche  aber 
immer  unter  der  Verantwortung  des  Referenten 
und  des  Vorsitzenden  des  Senates  zu  erfolgen  hat; 
PraSäk  m.  p. 

Verordnung  des  Justizministeriums  vom  3.  Feber 
1890,  Z.  1549  (Justizmin.-Vgsbl  vom  Jahre  1890,  Nr.  6) 
an  das  Oberlandesgerichts-Präsidium  in  Prag,  betref- 
fend Äenderurigen  in  der  Gerichtsorganisation  im 
Königreiche  Böhmen :  Das  Justizministerium  beab- 
sichtigt im  Königreiche  Böhmen,  namentlich  in  den 
Sprengein  der  Kreisgerichte  Eger,  Brüx,  Leitmeritz, 
Böhm.  Leipa,  Reichenberg  undBudweis  und  den  an- 
grenzenden Sprengein  eine  Umgestaltung  der  Sprengel 
der  Bezirksgerichte  und  Kreisgerichte  mit  Berück- 
sichtigung der  Wünsche  der  betheiligten  Bevölkerung 
der  territorialen,  Kommunikations-  und  Verkehrs- 
verhältnisse in  der  Weise  vorzunehmen,  dass  soweit 
möglich,  die  Gerichtssprengel  nur  Gemeinden  einer 
und  derselben  Nationalität  umfassen.  Ich  ersuche  das 
Oberlandesgerichts-Präsidium,  zu  diesem  Zwecke  bei 


156 


dem  Oberlandesgerichte  eine  Kommission  qus  richter- 
lichen Beamten  der  Gerichte  in  Prag,  welche  mit  den 
lokalen  und  dienstlichen  Verhältnissen  der  in  Prag 
kommenden  Gebiete  vertraut  sind,  einzusetzen. 

Nun  folgen  Bestimmungen  über  die  Zusammen- 
setzung und  den  Vorgang  der  erwähnten  Kommission, 
wonach  es  dann  heisst :  Die  in  Prag  eingesetzte  Kom- 
mission hat  die  Anträge  der  Kreisgeriqhte  in  Berathung 
zu  ziehen  und  ihr  Gutachten,  wenn  thunlich,  nach 
Kreisgerichtssprengeln  gesondert,  dem  Justizministe- 
rium vorzulegen.  Ich  kann  wohl  voraussetzen,  dass 
die  Kommission  die  Bedürfnisse  und  Interessen  der 
Justizpflege  stets  im  Auge  behalten  und  insbesondere, 
wenn  es  sich  um  die  Neuerrichtung  von  Gerichten 
handeln  sollte,  die  finanziellen  Rücksichten  beachten 
und  sich  nur  auf  das  Noth wendige  beschränken  wird. 
Schliesslich  ersuche  ich  das  Oberlandesgerichts-Präsi- 
dium  dahin  zu  wirken,  dass  diese  ganze  Angelegen- 
heit mit  thunlicher  Beschleunigung  behandelt  werde, 
indem  es  mir  sehr  erwünscht  wäre,  wenn  wenigstens 
einzelne  Theile  dieses  Operates  in  Gemässheit  der 
Gesetze  von  11.  Juni  1868,  Nr.  59  R.-G.-Bl.  und  vom 
20.  April  1873  Nr.  62  R.-G.-B1.  dem  Landtage  vor 
dessen  nächster  Session  mitgetheilt  werden  könnten. 
Sjchöuborn  m.  p. 

Infolge  dieser  Verordnung  wurden  seitens  der 
erwähnten  sogenannten  Landes-Kommission  mehrere 
Anträge  dem  Justizministerium  vorgelegt  und  sphin 
vom,  Letzteren  an  den  böhmischen  Landtag  zur  Be- 
gutachtung geleitet.  Auf  Grund  des  Kommissions- 
antrages wurde  wegen  Bestandes  früherer  Landtags- 
gutachten sofort  ohne  Abforderung  einer  nochmaligen 
Aeusserung  des  Landtages  mit  Verordnung  vom  22. 
April  1892  das  deutsche  Bezirksgericht  Weckelsplorf 
errichtet.  Die  angekündigte  Berathung  der  Regierungs- 
vortage, betreffend  die  Frage  der  Errichtung  eines 
Kreisgerichtes  (deutsch)  in  Trautenau,  gab  im  böh- 
mischen Landtage  den  Anlass  zu  den  bekannten  tur- 
bulenten Scenen  vom,  17.  Mai  1893,  welche  die  Schlies- 
sung des  Landtages  zur  Folge  hatten.  Von  jien  Ge- 
richten ,  e?sjte£  ,  Instanz  wurden  die  sämmtlichen 
Abgrengungsopeiftte    durchgeführt    und    der   Prager 


*57 


Koirittiission  vorgelegt;  'welche  {die&6lb£tf  gemäss  :  Ver- 
fügung des  Justizministerium^  zum  Zwecke  der  Be- 
räthiing  vorher  an  den  böhmischen  Landes-Ausschüös 
zur  BMusserang  mittheilte,  zu  welcher  es  jedoch 
seither  nicht  mehr  kam.  Anbelangend  die  Abgrenzung 
der  Gerichtsbezirke  womöglich  nach  der  Nationalität 
der  Bevölkerung,  so  hat  der  Landtag  des  Königreiches 
Böhmen  schon  mit  Resolution  vom  5;  December 
18tf2  —  (damals  gehörte  der  Landtag  seiner  Majo- 
rität nach  der  deutschen  Partei  an)  -^  den  Wuns'ch 
ausgesprochen;  dass  die  Bezirkssprengel  soviel  als 
möglich  nach  der  Sprache  dör  Gemeinden  abgegrenzt 
werden. 

Weiters  wurde  im  Jahre  1884  vom  böhmischen 
Ländtage  (Majorität  damals  der  böhmischen  Partei 
angehörend)  folgender  Beschluss  gefasst:  In  allen 
Fällen,  wo  die  Bevölkerung  der  einen  oder  andereh 
Nationalität  in:  national  gemischten  Gerichtsbezirkeh 
das  Verlangen  nach  einer  Abgrenzung  auf  Grundlage 
der  Sprachengrenze  geltend  macht,  ist  diesem  Ver- 
langen, soweit  es  nach  Massgabe  der  geographischen, 
wirtschaftlichen  und  sonstigen  Verhältnisse  sich  als 
thunlich  erweist,  durch  Theilung  der  betreffenden 
Gerichtsbezirke,  eventuell  selbst  durch  Bildung  neuer 
Gerichtsbezirke  zu  entsprechen.  Wann  immer  ein 
solches  Ansuchen  an  den  Landes-Ausschuss  gelangt, 
hat  derselbe,  diesen  Grundsatz  zur  Richtschnur 
nehmend,  die  entsprechende  Verhandlung  mit  den 
berufenen  Organen  entgegenkommend  einzuleiten  und 
auf  Grund  des  Ergebnisses  mit  der  Regierung  wegen 
Einbringung  bezüglicher  Vorlagen  ins  Einvernehmen 
zu  treten. 

Hierüber  wurde  seitens  der  Regierung  am  9.  Ok- 
tober 1884  im  Landtage  die  bereitwilligste  Berück- 
sichtigung dieses  Beschlusses  zugesagt. 

Mit  Erlass  des  Justizministeriums  vom  3.  Fe- 
bruar 1890,  Z.  1874,  wurde  an  das  Oberlandesge- 
richts-Präsidium,  das  Oberlandesgericht  und  ;  die 
Oberstaatsanwaltschaft  in  Prag  und  an  die  Präsidien 
der  Gerichtshöfe  erster  Instanz  in  Böhmen  folgende 
Verordnung,  betreffend  die  Besetzung  der  Räths- 
stellen  und    die  Behandlung  der  Personal-   und  Dis- 


158 


ciplinarangelegenheiten  bei  dem  Oberlandesgerichte 
in  Prag  und  betreffend  die  Besetzung  der  Dienst- 
stellen bei  den  Gerichten  erster  Instanz  und  bei  den 
Staatsanwaltschaften  in  Böhmen  hinausgegeben  (Just.- 
Min.-Vgsbl.  Nr.  7  voiyi  Jahre  1890):  L  In  Betreff  des 
Oberlandesgerichtes  in  Prag  finde  ich  nachstehende 
Verfügungen  zu  treffen:  aj  Bei  Besetzung  der  für 
dieses  Oberlandesgericht  systemisirten  41  Rathsstellen 
wird  nur  bezüglich  der  Zahl  von  26  Stellen  an  dem 
Erfordernisse  der  Kenntniss  der  beiden  Landes- 
sprachen festgehalten,  in  Betreff  der  Zahl  von  15 
Rathsstellen  hingegen  von  dem  Nachweise  der  Kennt- 
niss der  böhmischen  Sprache  abgesehen  werden. 
Nach  diesem  Grundsatze  ist  sowohl  bei  Erstattung 
der  Besetzungsvorschläge  als  auch  bei  der  Eonkurs- 
ausschreibung vorzugehen,  so  dass  in  diese  letztere 
das  Erforderniss  der  Kenntniss  der  böhmischen 
Sprache  dann  nicht  aufzunehmen  ist,  wenn  es  sich 
um  die  Besetzung  einer  in  der  Gruppe  von  15  Raths- 
stellen erledigten  Stelle  handelt,  b)  Aus  jeder  dieser 
zwei  Gruppen  von  Oberlandesgerichtsräthen  ist  eine 
ständige  Kommission  für  Personal-  und  Disciplinar- 
angelegenheiten  der  Gerichte  im  Sinne  des  §  28 
kaiserliches  Patent  vom  3.  Mai  1853  Nr.  81  des  Reichs- 
gesetzblattes zusammenzusetzen.  In  der  aus  der 
Gruppe  der  26  Oberlandesgerichtsräthe  hervorgegan- 
genen Kommission  sind  die  Personal-  und  Discipli- 
narangelegenheiten  der  Gerichte  in  den  vorwiegend 
von  Böhmen  bewohnten  Theilen  des  Landes  und  in 
der  Kommission  aus  der  Gruppe  von  15  Oberlandes- 
gerichtsräthen die  Personal-  und  Disciplinarangelegen- 
heiten  der  Gerichte  in  den  vorwiegend  von  Deutschen 
bewohnten  Landestheilen  zu  .behandeln.  In  jeder 
dieser  beiden  Kommissionen  sind  auch  die  Vorschläge 
zur  Besetzung  der  Oberlandesgerichtsrathsstellen  zu 
berathen,  welche  in  der  Gruppe,  aus  welcher  die 
Kommission  gebildet  ist,  zur  Erledigung  kommen, 
c)  In  gleicher  Weise  ist  aus  jeder  dieser  beiden 
Gruppen  von  Oberlandesgerichtsräthen  ein  Discipli- 
narsenat  im  Sinne  des  §  9  des  Gesetzes  vom  21.  Mai 
1868  Nr.  46  des  Reichsgesetzblattes  zu  bilden.  Der 
aus    der  Gruppe  der  26  Oberlandesgerichtsräthe  ge- 


159 


bildete  Senat  wird  über  die  richterlichen  Beamten 
der  Gerichte  in  den  vorwiegend  von  Böhmen  be- 
wohnten Landestheilen  und  der  aus  der  Gruppe  der 
15  Oberlandesgerichtsräthe  gebildete  Senat  über  die 
richtlichen  Beamten  der  Gerichte  in  den  vorwiegend 
von  Deutschen  bewohnten  Landestheilen  als  Discipli- 
nargericht  zu  fungieren  berufen  sein. 

Auf  Grund  dieser  Verordnungen  konnten  bei 
allen  Gerichten  in  Böhmen  böhmische  Eingaben  und 
böhmische  Verhandlungen  zugelassen  werden.  Am 
o.  April  1897  wurden  die  Sprachenverordnungen  des 
Ministeriums  Badeni  veröffentlicht.  Sie  lauten  für  das 
Königreich  Böhmen.  §  1.  Die  Gerichts-  und  staats- 
anwaltschaftlichen Behörden,  sowie  die  den  Ministe- 
rien des  Innern,  der  Finanzen,  des  Handels  und  des 
Ackerbaues  unterstehenden  Behörden  im  Königreiche 
Böhmen  sind  verpflichtet,  die  an  die  Parteien  über 
deren  mündliche  Anbringen  oder  schriftliche  Ein- 
gaben ergehenden  Erledigungen  und  Entscheidungen 
in  jener  der  beiden  Landessprachen  auszufertigen, 
in  welcher  das  mündliche  Einbringen  vorgebracht 
wurde  oder  die  Eingabe  abgefasst  ist.  §  2.  Protokol- 
larische Erklärungen  der  Parteien  sind  in  jener  der 
beiden  Landessprachen  aufzunehmen,  in  welcher  die 
Erklärung  abgegeben  wird.  §  3.  Urkunden  oder  an- 
dere Schriftstücke,  welche  in  einer  der  beiden  Lan- 
dessprachen abgefasst  sind  und  als  Beilagen,  Behelfe 
oder  sonst  zum  amtlichen  Gebrauche  beigebracht 
werden,  bedürfen  keiner  Uebersetzung.  §  4.  Die 
nicht  über  Einschreiten  der  Parteien  erfolgenden  be- 
hördlichen Ausfertigungen  haben  in  jener  der  beiden 
Landessprachen  zu  erfolgen,  die  von  der  Person,  an 
welche  die  Ausfertigung  gerichtet  werden  soll,  ge- 
sprochen wird.  Ist  die  Sprache,  deren  sich  die  Partei 
bedient,  nicht  bekannt,  oder  ist  sie  keine  der  beiden 
Landessprachen,  so  ist  jene  der  Landessprachen  zu 
gebrauchen,  deren  Verständniss  nach  Beschaffenheit 
des  Falles,  wie  insbesondere  nach  dem  Aufent- 
haltsorte der  Partei  vorausgesetzt  werden  kann. 
§  5.  Die  Bestimmungen  der  §§  1  bis  4  gelten 
auch  rücksichtlich  der  Gemeinden  und  autonomen 
Organe    im    Königreiche    Böhmen    in    jenen    Ange- 


160 

legenheitert,  in  denen  sie  als  Parteien  anzusehen 
sind.  §  6.  Aussagen  von  Zeugen  sind  in  jetier 
Landessprache  aufzunehmen,  in  welcher  dieselben 
abgegeben  wurden,  §  7.  Von  den  im  §  1  bezeichneten 
Behörden  ist  die  Sprache  des  mündlichen  Anbrin- 
gens  oder  der  Eingabe,  mit  welcher  eine  Partei  eine 
Sache  abhängig  macht,  bei  allen  der  Erledigung  oder 
Entscheidung  dieser  Sache  dienenden  Amtshand- 
lungen anzuwenden.  Insbesondere  hat  bei  den  Ge- 
richtshöfen die  Antragstellung  und  Berathung  im 
Senate  in  dieser  Sprache  zu  erfolgen. 

Bei  Amtshandlungen,  die  nicht  über  Einschreiten 
einer  Partei  eingeleitet  werden,  sind  nach  Beschaffen- 
heit des  Gegenstandes  beide  Landessprachen  oder  j 
eine  derselben  anzuwenden.  Ist  zum  Zwecke  der  Er-  j 
ledigung  der  im  Absätze  1  und  2  bezeichneten  An- 
gelegenheiten mit  anderen  landesfürstlichen,  nicht 
militärischen  Behörden  im  Lande  schriftlicher  Ver- 
kehr zu  pflegen,  so  gelten  auch  für  diesen  Verkehr 
die  im  Absätze  1,  beziehungsweise  2  gegebenen  Be- 
stimmungen. 

Für  die  Verkehr  mit  Behörden  ausser  dem  Lande 
und  mit  Centralstellen  hat  es  bei  den  bestehenden 
Vorschriften  zu  verbleiben.  §  8.  Alle  amtlichen  Be- 
kanntmachungen, welche  zur  allgemeinen  Kenntriiss 
im  Lande  bestimmt  sind,  haben  in  beiden  Landes- 
sprachen zu  ergehen.  Lediglich  für  einzelne  Bezirke 
oder  Gemeinden  bestimmte  amtliche  Bekanntma- 
chungen haben  in  den  Landessprachen  zu  erfolgen, 
welche  in  den  betreffenden  Bezirken  oder  Gemeinden 
üblich  sind.  §  9.  Sind  an  einer  Sache  mehrere  Par- 
teien betheiligt,  die  sich  in  ihren  mündlichen  An- 
bringen oder  Eingaben  verschiedener  Landessprachen 
bedienen,  so  haben  die  im  §  1  genannten  Behörden 
die  Erledigung  oder  Entscheidung  in  beiden  Landes- 
sprachen auszufertigen,  falls  nicht  ein  Einverständ- 
niss  der  Parteien  vorliegt,  dass  die  Ausfertigung  nur 
in  einer  der  beiden  Landessprachen  erfolgen  soll. 
Bei  den  der  Erledigung  oder  Entscheidung  der  Sache 
dienenden  Amtshandlungen,  die  unter  Mitwirkung 
der  Parteien  vorgenommen  werden,  ist,  soweit  nicht 
die  gegenwärtige  Verordnung  etwas  Anderes  bestimmt» 


161 


die  Sprache  der  Eingabe,  nöthigenfalls  in  Ermange- 
lung eines  anderweitigen  Einverständnisses  der  Par- 
teien, auch  die  zweite  Landessprache  anzuwenden. 
§  10.  In  strafgerichtlichen  Angelegenheiten  sind  die 
Anklageschrift,  sowie  überhaupt  die  den  Angeschul- 
digten betreffenden  Anträge,  Erkenntnisse  und  Amts- 
handlungen in  jener  der  beiden  Landessprachen  ab- 
zufassen, deren  er  sich  bedient  hat.  In  dieser 
Sprache  ist  auch  die  Hauptverhandlung  zu  pflegen 
und  das  Verhandlungsprotokoll  zu  führen  und  es 
sind  in  derselben  insbesondere  die  Vorträge  des 
Staatsanwaltes  und  des  Vertheidigers  zu  halten  und 
die  Erkenntnisse  und  Beschlüsse  zu  berathen  und  zu 
verkünden. 

Von  den  Bestimmungen  des  vorstehenden  Ab- 
satzes darf  nur  insoferne  abgegangen  werden,  als 
dieselben  mit  Rücksicht  auf  ausnahmsweise  Verhält- 
nisse, insbesondere  mit  Rücksicht  auf  die  Zusammen- 
setzung der  Geschwornenbank  unausführbar  sind 
oder  der  Angeschuldigte  selbst  den  Gebrauch  der 
anderen  Landessprache  begehrt. 

Bei  Hauptverhandlungen  gegen  mehrere  Ange- 
schuldigte, welche  sich  nicht  derselben  Landessprache 
bedienen,  ist  die  Hauptverhandlung  in  jener  Landes- 
sprache abzuhalten,  welche  das  Gericht  für  den 
Zweck  der  Hauptverhandlung  entsprechender  er- 
achtet. 

In  allen  Fällen  sind  die  Aussagen  der  Ange- 
schuldigten und  der  Zeugen  in  der  von  ihnen  ge- 
brauchten Landessprache  aufzunehmen  und  die  Er- 
kenntnisse und  Beschlüsse  jedem  Angeschuldigten  in 
dieser  Sprache  zu  verkünden  und  auf  Verlangen  aus- 
zufertigen. §  11.  In  bürgerlichen  Rechtsstreitigkeiten 
ist  das  Protokoll  über  die  mündliche  Verhandlung 
in  der  Sprache  der  Verhandlung,  wenn  aber  die 
Parteien  nicht  die  gleiche  Landessprache  gebrauchen, 
in  der  Sprache  der  Klage  zu  führen  (§  7).  Aussagen 
von  Zeugen,  Sachverständigen  und  Parteien,  die  zum 
Zwecke  der  Beweisführung  vernommen  werden,  sind 
jedoch  stets  in  der  von  diesen  Personen  bei  ihrer 
Aussage  gebrauchten  Landessprache  im  Protokolle 
zu   beurkunden.    Das   Gleiche    gilt   hinsichtlich   der 

li 


162 


Vorträge  der  Parteien  und  der  von  ihnen  bei  einer 
mündlichen  Verhandlung  abgegebenen  Erklärungen 
soweit  nicht  das  Protokoll  lediglich  eine  zusammen- 
fassende Darstellung  des  Inhaltes  des  mündlichen 
Parteivorbringens  gibt.  Das  Gericht  hat  bei  der 
mündlichen  Verhandlung  die  Sprache  zu  gebrauchen, 
in  welcher  die  Verhandlung  von  den  Parteien  ge- 
führt wird.  Bei  Betheiligung  von  Parteien,  die  sich 
bei  der  mündlichen  Verhandlung  verschiedener 
Landessprachen  bedienen,  hat  das  Gericht  die 
Sprache  des  ersten  Anbringens,  nöthigenfalls  beide 
Landessprachen  zu  gebrauchen. 

Alle  richterlichen  Erklärungen  sind  in  der  Sprache, 
in  der  sie  vom  Richter  abgegeben  wurden  und  wenn 
die  Verkündigung  in  beiden  Landessprachen  erfolgte, 
auf  Verlangen  der  Parteien  in  beiden  Landessprachen 
zu  protokolliren.  §  12.  Die  Eintragung  in  die  öffent- 
lichen Bücher  (Landtafel,  Bergbuch,  Grundbuch, 
Wasserbuch,  Depositenbücher  u.  s.  w.),  dann  in  die 
Handelsfirma-,  Genossenschafts-  und  andere  öffent- 
liche Register  sind  in  der  Sprache  des  mündlichen 
oder  schriftlichen  Ansuchen,  beziehungsweise  des 
Bescheides,  auf  dessen  Grund  sie  erfolgen,  zu  voll- 
ziehen. In  derselben  Sprache  sind  die  Intabulations- 
klauseln  bei  Urkunden  beizusetzen. 

Bei  Auszügen  aus  diesen  Büchern  und  Registern 
ist  die  Sprache  der  Eintragung  beizubehalten.  §  13. 
Bei  allen  landesfürstlichen  Kassen  und  Aemtern  im 
Königreiche  Böhmen,  die  mit  Geld  gebaren,  hat  es 
hinsichtlich  der  Führung  der  Kassejournale,  Kasse- 
Ausweise  und  aller  sonstigen  Kassebehelfe,  welche 
von  den  Gentralorganen  zur  Ausübung  der  Kontrolle 
oder  Zusammenstellung  periodischer  Nachweisungen 
benützt  werden,  bei  den  bestehenden  sprachlichen  Vor- 
schriften zu  verbleiben.  Dasselbe  gilt  bezüglich  des 
inneren  Dienstganges  und  der  Manipulation  des 
Post-  und  Telegraphendienstes  und  der  der  Central-* 
leitung  unmittelbar  unterstehenden  ärarischen  in- 
dustriellen Etablissements,  sowie  für  den  gegensei- 
tigen Verkehr   der  betreffenden  Aemter  und  Organe. 

Auf  die  nichtärarischen  Postämter  mit  grösserem 
Geschäftsumfange  finden  die  Bestimmungen  der  gegen- 


163 


wärtigen  Verordnung  nach  Thunlichkeit  Anwendung. 
§  14.  Der  Verkehr  der  im  §  1  bezeichneten  Behörden 
mit  den  autonomen  Organen  richtet  sich  nach  der 
Geschäftssprache,  deren  sich  dieselben  bekannler- 
massen  bedienen.  §  15.  Die  Geltung  der  Dienst- 
sprache der  militärischen  Behörden  und  der  Gen- 
darmerie für  den  Verkehr  mit  denselben  und  für 
deren  dienstlichen  Anforderungen  wird  durch  diese 
Verordnung  in  keiner  Weise  berührt.  §  16.  Die  gegen- 
wärtige Verordnung  tritt  am  Tage  der  Kundmachung 
in  Wirksamkeit.  Am  gleichen  Tage  verlieren  alle  in 
früheren  Verordnungen  enthaltenen  Bestimmungen, 
die  mit  den  Vorschriften  der  gegenwärtigen  Verord- 
nung im  Wiederspruche  stehen,  ihre  Kraft. 

Mit  der  Verordnung  vom  nämlichen  Tage  (wie 
die  vorstehende,  das  ist  vom  ö.  April  1897,  L.-G.-Bl. 
Nr.  13)  für  Böhmen,  wurde  hinsichtlich  der  sprach- 
lichen Qualifikation  der  bei  der  Behörden  im  König- 
reiche Böhmen  angestellten  Beamten  verfügt:  §  1. 
Beamte,  die  bei  den  Gerichts- und  staatsanwaltschaft- 
lichen Behörden,  sowie  bei  denjenigen  Behörden  im 
Königreiche  Böhmen,  welche  den  Ministerien  des  In- 
nern, der  Finanzen,  des  Handels  und  des  Acker- 
baues unterstehen,  nach  dem  1.  Juli  1901  angestellt 
werden,  haben  die  Kenntniss  beider  Landessprachen 
in  Wort  und  Schrift  nachzuweisen.  §  2.  Dieser 
Nachweis  ist  entweder  gelegentlich  der  für  den  be- 
treffenden Dienstzweig  vorgeschriebenen  praktischen 
Prüfung  oder  bei  einer  hiefür  eigens  anzuberau- 
menden Prüfung,  der  sich  der  Beamte  spätestens 
drei  Jahre  nach  seinem  Dienstantritte  zu  unterziehen 
hat,  zu  erbringen.  Letztere  Prüfung  kann  Manipu- 
lationsbearaten  nachgesehen  werden,  wenn  deren 
sprachliche  Eignung  während  ihrer  probeweisen  Ver- 
wendung nachgewiesen  wird.  Die  näheren  Bestim- 
mungen über  die  Vornahme  dieser  Prüfungen 
werden  im  Wege  einer  besonderen  Verordnung  ge- 
troffen werden.  Unteroffizieren,  die  mit  Gertifikats 
versehen  und  nach  Böhmen  zuständig  sind,  kann  in 
besonders  rücksichtswürdigen  Fällen  der  Nachweis 
der  sprachlichen  Eignung  vom  Ressortminister  er- 
lassen   werden.    §    3.    Unbeschadet    dieser   Bestim- 


164 


mungen  ist  schon  dermalen  nach  Thunlichkeit  und 
Zulass  des  Dienstes  Vorsorge  zu  treffen,  dass  in  jenen 
Zweigen  des  Staatsdienstes,  für  welche  die  Verord- 
nung vom  5.  April  1897,  betreffend  den  Gebrauch 
der  Landessprachen  bei  den  Behörden  mit  sprach- 
kundigen Beamten  nach  Mass  des  thatsächlichen  Be- 
dürfnisses besetzt  werden. 

Nach  der  Veröffentlichung  dieser  gewiss  gerechten 
Sprachen-Gesetze  des  Ministerium  Badeni  wurde  nun 
der  bekannte  grosse  Krieg  der  Alldeutschen  und  der 
Deutschnationalen,  denen  sich  sogar  die  Partei 
Dr.  Lueger's  anschloss,  gegen  Oesterreich  und  seine 
angebliche  Slavisirung  begonnen.  Hier  beginnt  der 
Siegeszug  Wolfs  und  Schönerer's,  hier  der  Schlacht- 
ruf :  Los  von  Rom.  Nachdem  gewisse  Hofräthe  in  Wien 
vor  Wolf  und  Schönerer  wilde  Flucht  ergriffen  und  vor 
dem  alldeutschen  Sturm  eiligst  die  Staatsfahne  strichen, 
erliess  am  24.  Februar  1898  das  Ministerium  Gautsch 
neue  Sprachenverordnungen  und  nach  diesem  Mini- 
sterium steuert  das  Ministerium  des  Dr.  Körber  voll- 
ständig im  Fahrwasser  der  Alldeutschen.  Sein  Ziel 
ist,  Oesterreich  muss  die  Hegemonie  der  Deutschen 
haben,  die  Slaven  müssen  sich  beugen.  Treu  zu  Dr. 
Körber  halten  auch  andere  Minister,  wie  der  Justiz- 
minister Spens-Booden,  der  Eisenbahnminister  Dr. 
Wittek,  Finanzminister  Böhm-Bawerk,  und  der  ganze 
Staatsapparat.  Eilfahrt  nach  Berlin.  Alle  Auslagen  dazu 
werden  von  den  österreichischen  Steuerzahlern  ge- 
tragen. Zur  Abwehr  gegen  die  Badenischen  Sprachen- 
verordnungen haben  sich  sämmtliche  deutsche  Par- 
teien vereint  mit  Ausnahme  der  katholischen  Abge- 
ordneten aus  den  Alpenländern  und  haben  die 
Hegemonie  der  Deutschen  in  Oesterreich  in  einer 
Magna  Charta  abgefasst  und  am  21.  Mai  1899  als 
Pfingstprogramm  der  Oeflfentlichkeit  übergeben. 

Die  politischen  Forderungen  der  Deutschen  in 
Oesterreich.  Die  deutsch-oppositionellen  Parteien  im 
Abgeordnetenhause,  und  zwar:  die  Deutsche  Volks- 
partei, die  Deutsche  Fortschrittspartei,  die  Vereini- 
gung der  Verfassungstreuen  Grossgrundbesitzer,  die 
Ghristlich-sociale  Vereinigung,  haben  sich  auf  tiafch- 
stehende  politische  Forderungen  geeinigt: 


165 


-    I.   Allgemeine   national-politische 
Forderungen. 

1.  Die  planmässige  Zurückdrängung  und  die  immer 
weitergreifende  Demüthigung  des  deutschen  Volks- 
stammes in  Oesterreich  machen  es  uns  zum  Pflicht, 
unsere  national-politischen  Forderungen  festzustellen, 
um  für  dieselben  gemeinsam  einzutreten. 

2.  Die  Grundlagen  für  die  Beilegung  des  natio- 
nalen Streites  in  Oesterreich,  den  zu  beseitigen  wir 
lebhaft  wünschen,  können  nur  gewonnen  werden 
durch  die  Anerkennung  jener  Stellung  der  Deutschen, 
welche  sich  dieselben  seit  vielen  Jahrhunderten  er- 
rungen haben  und  deren  Behauptung  ein  Grund- 
pfeiler für  die  Zukunft  dieses  Staates  ist  Wir  ver- 
langen deswegen  an  erster  Stelle  den  Bruch  mit 
einem  seit  Jahrzehnten  befolgten  Systeme:  die  An- 
sprüche aller  anderen  Nationalitäten  auf  Kosten  der 
Deutschen  zu  befriedigen.  3.  Unter  Abweisung  aller 
staatsrechtlichen  Bestrebungen  anderer  Nationalitäten 
und  Parteien  halten  wir  an  der  Verfassung,  sowie 
an  dem  Einheitsstaate  fest  und  fordern,  dass  dieser 
Staat  (die  im  Reichsrathe  vertretenen  Königreiche 
und  Länder)  die  Gesammtbezeichnung  Oesterreich 
erhalte.  4.  Der  §  14  des  Staatsgrundgesetzes  über 
die  Reichsvertretung,  dessen  Anwendung  gegen  Wort 
und  Geist  in  der  letzten  Zeit  wiederholt  stattge- 
funden hat,  ist  zu  beseitigen.  Nur  für  wirkliche 
Nothfälle  ist  durch  eine  genaue  Bestimmung  Vor- 
sorge zu  treffen.  5.  Die  Verdrängung  der  Deutschen, 
sowie  der  Sprachenkampf  kann  nicht  ohne  Rückwir- 
kung auf  den  geistigen  Zusammenhalt  und  die  Schlag- 
fertigkeit der  Armee  bleiben.  Wir  halten  es  daher 
für  unbedingt  geboten,  dass  die  deutsche  Armee- 
sprache besser  und  zweckbewusster  gepflegt  wird. 
6.  Angesichts  der  autonomen  Sonderstellung,  welche 
Galizien  bezüglich  seiner  nationalen  Angelegenheiten 
thatsächlich  einnimmt,  befestigt  und  verbreitet  sich 
die  Ueberzeugung  von  der  Noth wendigkeit,  dass  der 
Grundsatz  der  Gegenseitigkeit  zur  Durchführung 
komme,  und  verlangen  wir,  dass  die  Deutschen  in 
Oesterreich  vor  ungerechtfertigter  Beeinflussung  ihres 
nationalen  Lebens    sichergestellt   werden.     7.  Unsere 


166 


Beziehungen  zu  Ungarn,  die  sich  keineswegs  im  ur- 
sprünglichen Geiste  der  Ausgleichsgesetze  vom  Jahre 
1867  weiter  entwickelt  haben,  bedürfen  der  Neuord- 
nung. 

Sie  kann  gelingen  und  zum  Wohle  beider 
Theile  und  der  Monarchie  im  Ganzen  führen,  wenn 
der  Grundsatz  :  dass  gleichen  Rechten  gleiche  Pflichten 
gegenüberstehen,  befolgt  und  ein  dauernder  Zustand 
geschaffen  wird,  der  eine  ungestörte  gedeihliche 
wirthschaftliche  Entwicklung  ermöglicht.  8.  An  dem 
Bündnisse  mit  dem  Deutschen  Reiche,  das  der  Mon- 
archie die  Erhaltung  des  Friedens  sichert,  soll  un- 
verbrüchlich festgehalten  werden,  im  Interesse  der 
wirtschaftlichen  Entwicklung  des  Reiches  eine  re- 
gere Betheiligung  im  Weltverkehre  angebahnt  und 
zum  Zwecke  der  Erhaltung  des  wirtschaftlichen 
Gleichgewichtes  und  zum  Schutze  der  einheimischen 
Produktion  gegenüber  überseeischer  Konkurrenz  ein 
engerer  Zusammenschluss  der  westländischen  Staaten 
Europas  angestrebt  werden.  Hand  in  Hand  mit  dem 
Bündnisse  mit  dem  Deutchen  Reiche  muss  für  uns 
Deutsche  in  Oesterreich  die  Pflege  des  grossen  gei- 
stigen Zusammenhanges  mit  Deutschland  auf  allen 
Gebieten  des  kulturellen  und  wirthschaftlichen  Fort- 
schrittes, besonders  auch  bezüglich  des  Hochschul- 
wesens sichergestellt  werden.  9.  Wir  stellen  kein 
Gesammtprogramm  auf  für  die  Regierung  dieses 
Staates;  durch  den  Druck  der  Verhältnisse  ge- 
zwungen, bestellen  wir  nur  unser  eigenes  Haus.  Die 
Sicherung  unserer  Stellung  ist  aus  nationalen  Gründen 
jedoch  auch  deswegen  nothwendig,  damit  die  poli- 
tischen und  wirthschaftlichen  Interessen  eine  ent- 
sprechende Förderung  erhalten  können.  Was  wir 
fordern,  ist  ein  Mindestmass,  weil  es  sich  lediglich 
darauf  stützt,  was  besteht  und  was  zur  Erhaltung 
unserer  Nationalität  in  Oesterreich  unbedingt  noth- 
wendig ist.  Aber  innig  verknüpft  mit  dem  Schick- 
sale der  Deutschen  in  Oesterreich  ist  das  Schicksal 
Oesterreich  selbst,  und  wer  den  Blick  auf  das  Ganze 
richtet,  muss  für  unsere  Forderungen  noch  andere, 
aus  dem  innersten  Wesen  dieses  Staates  geschöpfte 
Gründe  den  unsrigen  hinzufügen. 


167 


Allgemeine  Grundsätze  für  die  Re- 
gelung der  Sprachenfrage. 

Die  Herstellung  eines  Rechtzustandes  in  Sprachen- 
sachen ist  eine  unerlässliche  und  unaufschiebbare 
Bedingung  für  das  Zusammenleben  der  verschiedenen 
Nationalitäten  in  Oesterreich,  sowie  für  die  Sicherung 
geordneter  Zustände. 

Zu  diesem  Zwecke  sind  alle  bisherigen  Verord- 
nungen, Erlässe  und  Instruktionen  in  Sprachensachen 
ausnahmslos  aufzuheben  und  ist  das  Geltungsgebiet 
einer  allgemeinen  Vermittlungssprache,  sowie  der  in- 
neren und  äusseren  Amtsprachen  der  staatlichen 
und  der  autonomen  Behörden  in  den  verschiedenen 
Theilen  des  Reiches  gesetzlich  festzustellen.  Es  er- 
geben sich  einerseits  allgemeine  Grundsätze  für  die 
Geltung  der  Vermittlungssprache,  anderseits,  und  zwar 
bedingt  durch  die  Verschiebbarkeit  der  Verhältnisse, 
besondere  Grundsätze  für  die  Regelung  der  Sprachen- 
frage in  den  einzelnen  Ländern.  Es  wird  die  Reichs- 
gesetzgebung für  die  Regelung  der  vorligenden  Frage 
bei  den  Staatsbehörden,  die  Landesgesetzgebung  für 
die  Regelung  derselben  bei  den  autonomen  Behörden 
nach  Massgabe  der  für  die  einzelnen  Länder  aufge- 
stellten Forderungen  und  innerhalb  des  durch  die 
Reichsgesetzgebung  festzustellenden  Geltungsumfanges 
der  deutschen  Sprache  als  Vermittlungssprache  ein- 
zutreten haben.  Die  nachstehenden  Festsetzungen  be- 
ruhen auf  genauer  Erforschung  der  Stellung,  welche 
die  deutsche  Sprache  im  nationalen,  wie  im  staatlichen 
Interesse  in  Oesterreich  beansprucht.  Sie  sind  als  ein 
untrennbares  Ganze  anzusehen. 

Die  Vermittlungssprache  des  Reiches. 
1.  Die  allgemeine  Vermittlungssprache  in  Oester- 
reich ist  die  deutsche  Sprache.  Sie  ist  die  Sprache 
des  Reichsrathes,  sowie  aller  sich  auf  die  Geschäfte 
desselben  beziehenden  Staatsakte,  die  Sprache  der 
Ministerien,  der  Obersten  Gerichtshöfe  und  aller  übrigen 
Central behörden.  Die  öffentlichen  mündlichen  Ver- 
handlungen bei  dem  Obersten  Gerichtshofe  werden  in 
der  Vermittlungssprache  geführt.  Die  dieser  Sprache 
nicht  mächtigen  Parteien   sind*  durch  Dolmetsche  zu 


168 


vernehmen.  Der  Amtsverkehr  zwischen  den  genannten 
Centralstellen  und  allen  staatlichen  Behörden  geschieht 
in  der  deutschen  Vermittlungssprache,  die  Erledi- 
gungen und  Ausfertigungen  derselben  sind  in  dieser 
Sprache  herauszugeben.  Der  gesetzlich  festgesetzte 
sprachliche  Geschäftsumfang  des  Obersten  Gerichts- 
hofes bleibt  unberührt.  Die  Geltung  der  allgemeinen 
Vermittlungssprache  ist  ferner  für  gewisse  Verwaltungs- 
zweige, wie  die  Agenden  der  Behörden  in  Militär- 
angelegenheiten, für  das  Rechnungswesen,  für  den 
Post-,  Telegraphen-  und  Eisenbahndienst  der  Natur 
dieser  Verwaltungszweige  entsprechend  durchgreifend 
festzustellen. 

Ueber  die  Lösung  des  Sprachenstreites  hat  der 
Landesmarschall  des  Königreiches  Böhmen  Fürst  Georg 
Lobkowicz  am  2.  März  1901  folgende  Anschauungen 
ausgesprochen  :  Ich  habe  mir  ernstlich  vorgenommen, 
sagt  Redner,  in  dieser  Beziehung  nichts  zu  sagen, 
was  etwa  nach  irgend  einer  Seite  aufregend  oder 
verletzend  wirken  könnte.  Denn  es  ist,  glaube  ich, 
nicht  angezeigt,  in  diesem  Augenblicke  in  irgend  einer 
Weise  noch  mehr  Oel  ins  Feuer  zu  giessen.  (Zustim- 
mung.) Ich  unterlasse  deshalb  auch  die  Besprechung 
einer  ganzen  Reihe  von  Theilen  dieser  grossen  Frage, 
und  das  schon  aus  dem  Grunde,  weil  ja  in  der  Thron- 
rede eigentlich  nur  ein  ganz  kleiner  Theil  dieses 
grossen  Gebietes  berührt  erscheint  und  weil  ich  es 
für  zweckmässiger  halte,  meine  persönlichen  Meinun- 
gen in  Bezug  auf  diese  Fragen  für  den  Zeitpunkt 
vorzubehalten,  wenn  es  etwa  dazu  kommen  wird, 
dass  die  von  mancher  Seite  für  eine  Panakee  gehal- 
tene legislative  Regelung  dieser  Frage  wird  in  Angriff 
genommen  werden.  Ich  beschränke  mich  hier  nur  auf 
Eines,  und  zwar  um  gewissen  Wünschen  und  Be- 
denken, welche  mir  in  dieser  Richtung  mitgetheilt 
worden  sind  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Rechnung 
zu  tragen.  Wenn  es  zu  dieser  legislativen  Regelung  kom- 
men wird,  so  dürfte  es  meiner  Ansicht  nach  sich  aller- 
dings nicht  empfehlen,  etwa  die  Dinge  durch  ein 
einziges  grosses  Sprachengesetz  regeln  zu  wollen.  Es 
gibt  grosse  und  wichtige  Theile  der  Sprachenfrage, 
welche  durch  die  Gesetegebung  geregelt  werden  können ; 


169 


allein,  ob  die  einzelnen  Punkte  dieser  Frage  der 
Reichsgesetzgebung,  ob  sie  der  Landesgesetzgebung 
zugehören  oder  ob  sie  etwa  im  Verordnungswege  zu 
regeln  sind,  scheint  mir,  hängt  nicht  so  sehr  davon 
ab,  dass  es  sich  eben  um  die  grosse  Sprachenfrage 
handelt,  als  vielmehr  davon, .  wem  die  Kompetenz 
darüber  zusteht,  über  diejenigen  Gebiete  legislativ 
oder  im  Verordnungswege  zu  entscheiden,  bezüglich 
welcher  es  sich  im  konkreten  Falle  um  die  Frage 
der  Regelung  der  Sprache  handelt. 

Wenn  man  in  den  bezüglichen  Passus  der  Adresse 
unter  den  „thatsächlichen  Verhältnissen"  diejenigen 
in  diesem  Augenblicke  bestehenden  Bestimmungen 
versteht,  welche  thatsächlich  zur  Ausführung  gelangen, 
dann  glaube  ich  nicht,  dass  eine  gesetzliche  Feststel- 
lung solcher  Verhältnisse  irgendwie  zur  Beruhigung 
der  Gemüther  beitragen  werde.  Man  kann  daher  diesem 
Passus  der  Adresse  nur  dann  zustimmen,  wenn  man 
unter  den  thatsächlichen  Verhältnissen,  welche  im 
Wege  der  Gesetzgebung  anerkannt  werden  sollen, 
diejenigen  Umstände  versteht,  welche  bei  richtiger 
und  ruhiger  Erwägung  aller  nationalen  Verhältnisse 
in  den  verschiedenen  Ländern  sich  als  thatsächliche 
und  nicht  etwa  nur  als  doktrinär  aufgestellte  dar- 
stellen werden.  In  diesem  Sinne  kann  man  vielleicht 
diesem  Passus  zustimmen.  Ich  halte  aber  die  Diskus- 
sion darüber,  ob  und  wie  das  wird  geschehen  können, 
heute  deshalb  für  vollkommen  gegenstandslos,  weil 
doch  nicht  in  Aussicht  zu  nehmen  ist,  dass  in  naher 
Zeit  überhaupt  an  die  legislative  Regelung  dieser  Ver- 
hältnisse wird  herangetreten  werden  können.  Ich  be- 
schränke mich  daher  auf  den  Punkt,  welcher  in  der 
Thronrede  erwähnt  wurde,  und  aufweichen  die  Adresse 
reagirt  hat.  Ich  leugne  nicht,  dass  von  Seite  der  Ver- 
fasser der  Adresse  die  Stylisirung  mit  grossem  Ge- 
schicke und  grosser  Vorsicht  gewählt  worden  ist,  ja 
ich .  kann  die  Meinung  nicht  unterdrücken,  dass  in 
der  Beziehung  die  Fassung  der  Adresse  den  Ver- 
hältnissen mehr  entspricht,  als  die  Fassung,  welche 
von  Seite  der  Rathgeber  der  Krone  in  der  Thronrede 
zum  Ausdrucke  gekommen  ist.  Ich,  und  ich  glaube 
mit  mir  eine  grosse  Anzahl  der  Mitglieder  des  Hauses, 


170 


hat  es  schmerzlich  empfunden,  dass  in  der  Thronrede 
die  Sprachenfrage  erwähnt  worden  ist,  ohne  dass  der 
Grandsatz  der  Gleichberechtigung  in  gleicher  Weise 
zum  Ausdrucke  gekommen  wäre.  Dem  gegenüber  er- 
kenne ich  an,  dass  in  der  Adresse  diese  Frage  rich- 
tiger behandelt  worden  ist.  Denn  dort  ist  der  Grand- 
satz der  Gleichberechtigung  wenigstens  klar  und  als 
eine  der  wesentlichsten  Bedingungen  der  Ordnung 
dieser  Fragen  zum  Ausdrucke  gebracht 

Wenn  ich  nun  den  betreffenden  Passus  der  Adresse 
näher  ins  Auge  fasse,  so  finde  ich  hier  eben  schon 
einen  jener  Punkte,  welchem  von  verschiedenen  Seiten 
vielleicht  aus  verschiedenen  Gründen  zugestimmt 
werden  kann.  Ich  betone  das  Wort  „kann".  Von  vielen 
Hitgliedern  dieses  Hauses  wird  dem  vielleicht  eine 
wesentliche  Bedeutung  beigemessen«  dass  in  dem 
Texte  der  Adresse  von  einer  Sprache  die  Rede  ist 
Sie  ist  nicht  näher  bezeichnet,  aber  welche  es  sein 
solle,  darüber  ist  ja  Niemand  im  Zweifel.  Für  uns 
gerade  hat  dieser  selbe  Satz  nur  dadurch  einen  ge- 
wissen Werth,  dass  darin  ausgesprochen  ist,  dass  diese 
eine  Sprache  in  den  höchsten  Sphären  der  Admini- 
stration nur  dort  zu  gebrauchen  sei,  wo  eine  Verstän- 
digung erforderlich  und  nur  durch  den  Gebrauch  einer 
Sprache  möglich  ist  Dar  Wort  „nur"  ist  für  uns  be- 
deutungsvoll. Darüber,  wann  diese  Bedingungen  vor- 
handen sind,  werden  wohl  noch  geraume  Zeit  ver- 
schiedene Ansichten  möglich  sein.  Ich  und  viele 
meiner  Freunde  sind  der  Ansicht  dass  heute  in  vielen 
Fällen  diese  eine  Sprache  gebraucht  wird,  wo  die 
Bedingungen,  wie  sie  in  der  Adresse  angegeben  sind, 
nicht  vorhanden  sind.  Selbstverständlich  gibt  es  keinen 
ernsten  Politiker,  der  nicht  die  Armeesprache  als  ein 
noli  me  tangere  betrachten  würde.  Es  ist  vollkommen 
natürlich,  dass  bei  den  Centralbehörden  die  deutsche 
Sprache  —  um  dieses  Wort  zu  gebrauchen,  um  welches 
wir  ja  nicht  streiten  —  in  vorwiegender  Weise  zur 
Anwendung  kommt.  Allein  daraus  zu  folgern,  dass 
in  allen  jenen  Sphären,  in  allen  jenen  Punkten,  wo 
diese  Sprache  gegenwärtig  zur  Anwendung  kommt, 
sie  auch  dauernd  als  die  einzig  anwendbare  Sprache 
in  Geltung  bleiben   solle,    ist  ein«*  Ansicht    der  wir 


171 


allerdings  nicht  zustimmen  können.  Wir  sind  vielmehr 
der  Meinung,  dass  es  eine  ganze  Reihe  von  Gebieten 
gibt,  in  welchen  im  Interesse  einer  guten  Admini- 
stration, im  Interesse  einer  guten  Justiz  es  vielleicht 
zweckmässiger  wäre,  auch  anderen  Sprachen  den  Ein- 
gang auch  in  die  höheren  Sphären  der  Verwaltung 
und  in  die  höchsten  Sphären  der  Justiz  zuzugestehen. 
Meiner  Ansicht  nach  soll  die  Administration  im  wei- 
testen Sinne  des  Wortes  überhaupt  die  Frage  der 
Sprache  eigentlich  nur  von  dem  Standpunkte  behan- 
deln, insoferne  die  Sprache  eben  ein  Verständigungs- 
mittel ist.  Sie  soll  nie  für  die  Administration  oder 
für  die  Behörden  ein  Selbstzweck  sein. 

In  Bezug  auf  die  Sprache  halte  ich  es  immer 
für  viel  zweckmässiger,  wenn  die  Behörden  sich  den 
Bedürfnissen  der  Bevölkerung  unterordnen,  als  wenn 
sie  etwa  ihre  eigene  Bequemlichkeit  für  das  Mass- 
gebende in  dieser  Sache  erachten.  (Bravo!  Bravo !  rechts.) 
Ich  halte  es  allerdings  auch  von  der  anderen  Seite 
für  verfehlt,  wenn  von  unten  Forderungen  gestellt 
werden,  die  ernstlich  und  wirklich  nicht  erfüllt  werden 
können.  Allein  ich  halte  es  für  verderblich,  wenn 
von  oben  mögliche  Dinge  nicht  gewährt  werden,  denn 
nichts  fördert  gerade  den  Sprachenzwist  und  Sprachen- 
hader mehr  als  eine  unbegründete  Verweigerung  er- 
füllbarer Forderungen. 

Ich  meinerseits  habe  die  traurige  Ueberzeugung, 
dass  bis  zu  einem  gewissen  Masse  innerhalb  einer 
vielleicht  nicht  sehr  langen  Zeit  im  Gentrum  des  Rei- 
ches der  Parlamentarismus  wird  eine  gewisse  Ein- 
schränkung erfahren  müssen,  welche  man  von  mancher 
Seite  als  ein  absolutistisches  Regime  zu  bezeichnen 
für  nothwendig  halten  wird.  Wenn  dieser  Zeitpunkt 
eintritt  —  und  ich  fürchte,  er  wird  eintreten  —  dann 
möchte  ich  eben  für  diesen  Augenblick  schon  jetzt 
den  Warnungsruf  ausstossen,  und  ich  möchte  nichts 
sehnlicher  wünschen,  als  dass  dieser  Warnungsruf 
nicht  ungehört  verhalle. 

Diejenigen,  welche  dann  in  der  Lage  sein  werden, 
das  Staatsruder  zu  führen,  mögen  dann  nicht  ver- 
gessen, dass  der  Absolutismus  eben  nur  ein  Noth- 
behelf  sein   wird   und  nicht  weiter    gehen    soll,    als 


172 

wirklich  die  unbedingte  Notwendigkeit  dafür  besteht 
Die  Völker  Oesterreichs  werden  es  begreifen,  dass, 
wenn  das  Gentralparlament  seiner  Aufgabe  absolut 
nicht  mehr  gewach  sen  ist,  für  diese  Aufgaben  in  an- 
derer Weise  gesorgt  werden  muss.  Sie  würden  es 
aber  nicht  verstehen,  warum  man  ihnen  die  Mit- 
wirkung an  der  Gesetzgebung  dort  entzieht,  wo  diese 
Mitwirkung  noch  weiter  möglich  sein  wird.  Es  wäre 
meiner  Ansicht  nach  ein  verhängnissvoller  Fehler, 
wenn  man  etwa  deswegen,  weil  das  Gentralparlament 
sich  selbst  unmöglich  gemacht  hat,  auch  die  Land- 
tage sperren  würde,  oder  den  Landtagen  nicht  Gele- 
genheit bieten  würde,  ihre  Thätigkeit  in  vollem  Masse 
ruhig  weiter  zu  führen.  Im  Gegentheile,  ich  bin  der 
Ansicht,  dass  nur  dann,  wenn  man  den  Landtagen 
die  Bewegungsfreiheit  lässt,  es  möglich  sein  wird, 
jene  Gefahren  zu  verhüten,  welche  mit  jedem  Abso- 
lutismus jederzeit  verknüpft  sind.  Die  Völker  sind 
einmal  gewohnt,  durch  ihre  Vertreter  ein  freies  Wort 
zu  sprechen  und  dieses  freie  Wort  zu  hören.  Wenn 
sie  es  nicht  im  Centralparlamente  hören  können, 
wollen  sie  es  wenigstens  in  den  Landtagen  hören, 
und  nur  unter  dieser  Voraussetzung  halte  ich  es  für 
denkbar,  dass  der  leider  unausweichlich  nothwendige 
Zustand  im  Gentrum  solange  erhalten  bleibe,  bis  eine 
gewisse  Beruhigung  eintritt,  und  bis  man  auf  richti- 
gen Grundlagen  an  die  Wiederkonstituirung  des  Cen- 
tralparlamentes  werde  gehen  können.  Nur  wenn  die 
Landtage  eine  Zeit  lang  ruhig  funktioniren,  kann  an 
eine  Sanirung  des  Gentralparlamentes  gedacht  werden. 
Ich  für  meine  Person  halte  eine  solche  Sanirung  nur 
mit  den  Landtagen  und  durch  die  Landtage  für  mög- 
lich. Ich  glaube,  dass  nur  auf  die  Weise  —  wie  es 
in  der  Adresse  heisst  —  ein  wahrhaft  organischer 
Ausbau  der  Verfassung  möglich  sein  werde.  Dann 
wird  die  Verfassung  eine  Einrichtung  sein,  welche 
von  allen  Völkern  wirklich  als  Hort  ihrer  Rechte 
freudig  begrüsst  werden  wird. 

Lassen  wir  nun  einmal  einen  Führer  der  Deut- 
schen Böhmens,  Dr.  Eppinger,  Abgeordneten  und 
Advokaten  in  Niemes,  reden.  Er  gehört  der  alten 
mächtigen  liberalen  deutschen  Partei  an.  Am  16.  Fe- 


175 


bruar  1902  berief  dieser  Führer  eine  Versammlung 
nach  Böhm.  Leipa  ein,  deren  Verlauf  folgender  war. 
Ausser  dem  Obmanne  der  deutschen  Fortschritts- 
partei, Dr.  Eppinger,  war  auch  der  Reichsrathsabge- 
ordnete  dieses  Bezirkes,  Dr.  Funke  erschienen.  Ausser- 
dem waren  anwesend:  Der  Bürgermeister  Bred- 
schneider,  der  frühere  Landtagsabgeort.  Katzwendel, 
Bez.-Obmann  Hölzl,  Staatsanwalt  Götz,  die  Landes- 
Gerichtsräthe  Wabe  und  Schuster,  Realschuldirektor 
Walda,  die  Stadträthe  Büke,  Sommer  und  Weigel, 
sowie  der  Bürgerschuldirektor  Mohaupt.  St.-R.  Büke 
eröffnete  die  Versammlung,  indem  er  den  Regierungs- 
vertreter Bez.-Kom.  Jindra  vorstellte,  und  dann  Dr. 
Eppinger  und  Dr.  Funke  willkommen  hiess.  (Stür- 
mische Hoch-  und  Heilruf.)  Der  Vorsitzende  betonte, 
dass  sich  die  Einladung  an  alle  Deutschen  richtete, 
denn  wenn  auch  die  Deutschen  Böhmens  leider  in 
Parteien  gespalten  seien,  das  Gebiet,  das  Dr.  Eppin- 
ger heute  in  seinem  Vortrage  zu  berühren  gedenke, 
interessire  sie  doch  alle  gemeinsam.  Sodann  ergriff 
Dr.  Eppinger  das  Wort  zu  folgenden  Ausführungen: 
Ich  bin  der  Einlandung  gern  gefolgt,  obzwar  die 
innere  Lage  keineswegs  dazu  angethan  ist,  um  dar- 
über Bericht  zu  erstatten.  Aber  gerade  in  einer  Zeit 
politischen  Niederganges  ist  es  doppelt  nothwendig 
sachlich  die  uns  Alle  berührenden  Fragen  zu  bespre- 
chen Schon  deshalb,  weil  es  das  beste  Mittel  ist, 
der  Resignation  und  Theilnahmslosigheit  entgegen- 
zuwirken. Denn  gerade  diese  Theilnahmslosigkeit  ist 
ein  grösseres  Uebel,  als  das  Gerathen  in  falsche 
Bahnen.  Die  Formen,  die  das  öffentliche  Leben  an- 
genommen, widerstehen  Manchem  in  innerster  Seele 
und  er  denkt  sich :  Wenn  nur  die  Mache,  die  Speku- 
lation auf  die  Instinkte  die  ausschlaggebenden  Mo- 
mente sind,  dann  fühle  ich  mich  angeekelt  von 
diesem  öffentlichen  Leben.  So  denkt  Mancher  und 
es  ist  dies  vom  menschlichen  Standpunkt  aus  be- 
greiflich. Aber  in  der  Politik  ist  dieses  Denken  ein 
grober  Fehler,  denn  es  heisst,  dem  Gegner  das  Feld 
räumen,  ihn  widerstandslos  walten  lassen. 

Der  Redner  erläuterte  dann  kurz  die  immer  ge- 
fährdetere   Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.   Wifc 


174 


sie  sich,  weil  sie  die  Gunst  der  Herrscher,  die  sie 
ins  Land  riefen,  durch  Kolonisation  des  Landes  er- 
warben, zugleich  die  Missgunst  des  nationalen  Gegners 
zugezogen.  Die  Gzechen  glaubten  schon  damals  die 
bessere  Nation  zu  sein,  und  betrachteten  die  Deut- 
schen als  Fremdlinge,  als  „hergelaufene  Kerle".  So 
erscheinen  ihnen  die  Deutschen  bis  zur  Stunde,  und 
auch  die  gebildetsten  Geister  unter  den  Czechen 
können  sich  von  dieser  Vorstellung  nicht  frei  machen. 
Das  ist  die  eine  Triebfeder  des  nationalen  Kampfes, 
die  zweite  ist  folgende:  die  Deutschen  Böhmens  sind 
nicht  nur  Bewohner  dieses  Landes,  sondern  auch 
Glieder  des  grossen  Ganzen,  des  früheren  Kaiserthums 
Oesterreich,  jetzt  der  im  Reichsrathe  vertretenen 
Königreiche  und  Länder.  Die  Deutschen  sind  ein- 
gefügt in  ein  Staatsganzes.  Nach  dem  Werdegang  der 
politischen  Entwicklung  haben  sich,  wie  in  allen 
Staaten,  auch  hier  lose  Theile  zu  einem  festen  Ganzen 
geschlossen  und  die  Herrscher  fanden  es  bald  zweck- 
mässig, die  deutsche  Sprache  als  Bindeglied,  zur  vor- 
herrschenden zu  machen.  Der  durch  diese  Bestre- 
bungen hervorgerufene  Centralismus  machte  auch  in 
Böhmen  derartige  Fortschritte,  dass  z.  B.  nach  Maria 
Theresia  und  Joseph  IL  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts thatsächlich  die  czechische  Sprache  im 
Aussterben  begriffen  war,  und  es  als  Zeichen  von 
Unintelligenz  galt,  die  deutsche  Sprache  nicht  zu 
sprechen.  Das  Czechische  sank  zur  Sprache  des  Ge- 
sindes herab.  Trotzdem  hat  die  czechische  Sprache 
eine  Wiedergeburt  erlebt.  Erst  eine  literarische,  dann 
eine  politische  und  wir  müssen  dies  anerkennen.  Es 
nützt  nichts,  fortwährend  von  Minderwertigkeit  zu 
sprechen.  Es  ist  besser,  die  Thatsachen  offen  zu- 
zugeben, dass  ist  ein  besserer  Leitstern,  als  die  fort- 
gesetzte Verkleinerung  des  Gegners. 

Diese  Wiedergeburt  war  aber  nichts  anderes  als 
ein  fortgesetzter  Wiederstand  gegen  das  Deutschthum. 
Bei  ihnen  gilt  es  heute  noch  als  Patriotismus  ein 
Deutschenhasser  zu  sein.  Solange  noch,  bis  zum  Jahre 
48,  beide  Stämme  durch  die  Brutalität  des  Absolu- 
tismus niedergehalten  wurden,  war  sogar  ein  gewisses 
Zusammenwirken   möglich.  Aber  als   das  öffentliche 


175 


Leben  freiheitlichere  Formen  annahm,  dann  das 
Februarpatent  kam,  war  der  Tummelplatz  für  die  na- 
tionalen Gelüste  geschaffen.  Es  muss  konstatirt  werden, 
dass  die  nationale  Gegnerschaft  gerade  durch  den 
Eintritt  der  Freiheit  in  das  öffentliche  Leben  zur 
höchsten  Blüthe  gelangt  ist  und  sich  nun  als  Hemm- 
schuh aller  Entwicklung  darstellt.  Worin  bestehen 
nun  eigentlich  die  nationalen  Gegensätze.  Alle  Ver- 
suche zur  nationalen  Verständigung  verliefen  bis  jetzt 
zwar  resultatslos.  Allein  Gelegenheit  zur  Aussprache 
gaben  sie  doch,  und  Gelegenheit  zur  Absteckung  des 
Kampffeldes.  Und  so  lassen  sich  denn  drei  grosse 
Kampfgebiete  unterscheiden:  Reform  der  Landtags- 
wahlordnung und  Landesordnung,  Regelung  des  Spra- 
chengebrauchs bei  den  autonomen  und  landesfürst- 
lichen Behörden  und  Regelung  der  Schulangelegen- 
heiten, speciell  der  Minoritätsschulen. 

Darauf  entwickelte  Dr.  Eppinger  das  politisch- 
nationale Programm  seiner  Partei.  Zum  Schlüsse 
wandte  er  sich  gegen  die  Alldeutschen  und  sagte: 
Sie  verlangen  den  Zusammenschluss  mit  dem  Deut- 
schen Reiche.  Wo  aber  ist  denn  der  Plan  hiezu? 
Zudem  ist  der  Zusammenschluss  mit  dem  Deutschen 
Reiche  bei  der  grossen  Bevölkerungsmenge  in  Oester- 
reich  gar  nicht  populär;  so  weltgeschichtlich  sind 
wir  eben  nicht  gesinnt.  Allerdings,  die  Weltgeschichte 
kehrt  mit  eisernem  Besen,  aber  solche  Wandlungen 
vollziehen  sich  erst,  wenn  alle  Voraussetzungen  vor- 
handen sind,  und  diese  Voraussetzungen  sind  weder 
bei  uns,  noch  auf  Seite  des  Deutschen  Reiches  jetzt 
vorhanden.  Bei  uns  ist  die  Bevölkerung  viel  zu  pa- 
triotisch und  kaisertreu  gesinnt,  so  dass  man  nichts 
davon  wissen  will.  Und  die  Stimmung  drüben?  Es 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  die  letzten  Jahre  in 
Deutschland  viel  Sympathie  für  uns  erweckt  haben, 
für  solche  Bestrebungen,  die  einen  Zusammenschluss 
mit  uns  bezwecken,  sind  sie  doch  nicht  zu  haben. 
Der  Preusse  ist  eingefleischter  Royalist  und  officiell 
hat  dieses  Deutschland  noch  bei  jeder  Gelegenheit 
deutlich  und  energisch  abgewinkt,  wenn  es  sich  um 
derartige  Sachen  handelte.  Sehen  wir  doch  die  Buren 
an!  Weil  die  officiellen  Kreise   nichts  damit  zu  thun 


176 


haben  wollen,  so  darf  auch  keine  Einmischung  statt- 
finden. Auf  solchen  Prämissen  baut  man  keine  Politik 
auf.  Wer  auf  solche  vage  Hoffnungen  baut,  verschlim- 
mert nur  unsere  Lage,  ohne  an  das  Ziel  zu  kommen; 
Ich  erkenne  an,  dass  solche  Zukunftsbilder  der  Jugend 
imponiren,  aber  sie  sind  eben  nur  nach  dem  Ge- 
schmack e  der  Jugend  und  für  ernste  Männer  nicht 
massgebend.  Wer  hätte  in  den  siebziger  Jahren  ge- 
glaubt, dass  es  dreissig  Jahre  hindurch  nicht  zu  dem 
furchtbaren  Revanchekriege  kommen  werde?  Und 
doch  beruhigten  sich  die  Gemüther,  weil  sie  einsehen 
gelernt  haben,  dass  die  Zeit  der  Kabinetskriege  vor- 
über ist. 

Am  21.  Januar  1902  hielt  der  deutschnationale 
Verein  in  Reichenberg  eine  Versammlung  ab,  in 
welcher  der  Sekretär  der  Handelskammer  in  Wien 
Dr.  Grunzel  über  brennende  politisch-wirthschafüiche 
Fragen  einen  Vortrag  hielt.  Aus  seinem  Vortrag  sei 
Folgendes  hervorgehoben :  In  der  gestern  Abends  statt- 
gefundenen Versammlung  des  „Deutschnationalen 
Vereins"  hielt  Sekretär  Prof.  Dr.  Grunzel  aus  Wien, 
ein  gebürtiger  Reichenberger,  einen  interessanten  Vor- 
trag über  brennende  wirthschaftspolitische  Fragen, 
wie  Ausgleich  mit  Ungarn,  Zolltarif  und  Handels- 
verträge, Socialpolitik  u.  dgl.  Aus  seinem  Vortrag  sei 
nur  einiges  Wenige  hervorgehoben:  Was  den  Aus- 
gleich mit  Ungarn  anbelange,  bzw.  die  Quote,  wäre 
es  wohl  das  Richtigste,  die  Bevölkerungszahl  als 
Grundlage  anzunehmen  und  eventuell  einen  Zuschlag 
nach  der  Steuerkraft  hinzuzufügen.  An  eine  Zoll- 
trennung zwischen  Oesterreich  und  Ungarn  glaube  er 
nicht,  weil  weder  in  Oesterreich  noch  in  Ungarn  der 
grösste  Theil  der  Bevölkerung  die  Trennung  will  und 
ertragen  kann. 

Was  die  Meldungen  anbelange,  dass  zwischen 
Oesterreich  und  Russland  Vereinbarungen  im  Zuge 
seien,  Handelsverträge  betreffend,  glaube  er,  dass  das 
eine  jener  grossen  Machenschaften  sei,  die  ein  grosser 
Theil  der  Berliner  mit  der  Pester  Presse  einrichtet  zu 
dem  Zwecke,  um  den  deutschen  Zolltarif  zu  werfen» 
Auf  alle  Fälle  müsse  das  Vertragsverhältnis  mit 
Deutschland  aufrecht  erhalten  werden.   Bei  Bespre- 


177 


chung  der  socialpolitischen  Fragen  wies  Redner  auf 
die  grossen  Kosten  unserer  Versicherungen  hin. 
Während  bei  uns  für  die  Kranken-  und  Unfallver- 
sicherung allein  2*4  pCt.  der  Lohnsumme  gezahlt 
werde,  zahle  man  in  Deutschland  für  die  Kranken-, 
Unfall-,  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  zusammen 
nur  2-7  pCt.  Unsere  Versicherungen  seien  zudem  ganz 
bureaukratisirt.  Redner  schloss  mit  dem  Appell,  dass 
die  politischen  Parteien  den  wirtschaftlichen  Fragen 
einen  grösseren  Raum  geben,  als  bisher,  die  Regie- 
rung wiederum  solle  sorgen,  dass  unsere  Verwaltung 
im  modernen  Sinne  zeitgemäss  umgestaltet  werde  und 
dass  nicht  ein  solcher  Bureaukratismus  Platz  greife, 
wie  jetzt. 

Hierauf  ergriff  Abg.  Prade  das  Wort.  Er  sagt, 
das  ganze  politische  und  wirtschaftliche  Elend  in 
Oesterreich  rühre  immer  von  den  Verhandlungen  be- 
treffend den  Ausgleich  her.  Die  Ungarn  gehen  nur 
darauf  aus,  ihre  wirthschaftlichen,  ihre  agrarischen 
Interessen  zu  wahren,  höhere  Zölle  zum  Schutze 
ihrer  agrarischen  Produktion,  ihrer  jungen  Industrie 
zu  erlangen  und  sind  dagegen  bereit,  die  österreichi- 
sche Volkswirthschatt,  die  österreichischen  Industrien 
und  Gewerbe  den'  ausländischen  Staaten  zum  Opfer 
zu  bringen.  Daher  glaubt  die  österreichische  Regierung 
selbst  nicht  daran,  dass  es  ihr  gelingen  werde  einen 
Zolltarif  zu  vereinbaren,  der  auch  nur  die  mindeste 
Aussicht  hätte,  auf  parlamentarischem  Wege  erledigt 
zu  werden.  Und  deshalb,  weil  die  österreichische 
Regierung  das  weiss,  und  weil  sie  fürchtet,  dass 
sich  im  Abgeordnetenhause  keine  Mehrheit  dafür 
finden  werde,  weil  sie  weiss,  dass  sie  keine  politischen 
und  nationalen  Zugeständnisse  mehr  zu  vergeben 
hat  und  vergeben  darf,  womit  sie  die  Mehrheit  des 
Hauses  für  einen  schlechten  Ausgleich  mit  Ungarn 
kaufen  könnte,  deshalb  droht  sie  mit  der  Auflösung, 
mit  der  Sistirung  der  Verfassung,  mit  dem  Staats- 
streiche, weil  sie  dann  den  Ausgleich  und  die  Zoll- 
tarife frei  und  ungebunden  mittelst  kais.  Verordnun- 
gen durchführen  kann.  Das  ist  der  Kernpunkt  der 
heutigen  schwierigen  politischen  Lage;  nicht  der 
deutsch-czechische  Streit,  wie  man  so  gerne  aller  Welt 

12 


178 


verkündet,  ist  schuld  daran,  dass  das  österreichische 
Parlament  heute  lahmgelegt  ist,  nicht  die  politischen 
und  nationalen  Differenzen  der  Deutchen  und  Gzechen 
sind  die  Ursache,  dass  wir  von  Jahrzehnt  zu  Jahr- 
zehnt in  immer  schlechtere  Verhältnisse  und  bis  zum 
heutigen  Tiefstande  unseres  parlamentarischen  und 
öffentlichen  Lebens  gelangt  sind.  Die  Ursache  ist, 
dass  wir  kein  einheitlicher,  auf  einer  bestimmten 
Basis  beruhender  Staat  mit  grossen  politischen  Zielen, 
mit  einer  ausgesprochen  volkswirtschaftlichen,  auf 
weite  Gesichtspunkte  hin  abzielenden  Politik  sind, 
sondern  ein  Staat  auf  10jährige  Kündigung,  ein  Staat, 
dessen  Grundlagen  alle  10  Jahre  erschüttert  werden. 
Derartige  fortgesetzte  Erschütterungen  könnte  auch 
ein  viel  stärkerer  Staat  wie  Oesterreich  auf  die  Dauer 
nicht  ertragen.  Daher  muss  vor  Allem  ein  dauerndes 
Verhältniss  mit  Ungarn  geschaffen  werden. 

Was  das  Verhältniss  zu  dem  Deutschen  Reiche 
anbelangt,  müssen  wir  zu  einem  neuen  Vertragsver- 
hältnisse zu  gelangen  suchen.  Die  Einfuhr  Oester- 
reichs  nach  Deutschland  betrug  in  den  letzten  Jahren 
427  Mill.  Mk.,  die  Ausfuhr  Deutschlands  nach  Oester- 
reich 510  Mill.  Mk.  Das  sind  so  gewichtige  Posten, 
dass  wir  nur  mit  Schaudern  daran  denken,  dass 
diese  Handelsbeziehungen  etwa  unterbunden  oder 
wesentlich  beeinträchtigt  werden  sollten.  In  der  Ver- 
sprechung, dass  uns  in  Russland  ein  Ersatz  für  unser 
in  Deutschland  verlorenes  Absatzgebiet  geschaffen 
werde,  können  wir  durchaus  keinen  Vortheil  für  unsere 
Volkswirtschaft  und  vor  Allem  auch  keine  Wahrung 
der  nationalen  Interessen  unseres  Volkes  erblicken. 
Darum  wollen  wir  mit  allen  Mitteln  dafür  eintreten, 
dass  wir  wieder  zu  einem  Vertragsverhältnisse  mit 
Deutschland  gelangen.  Allerdings  müssen  wir  da 
unsere  politischen  Forderungen,  die  dahin  gehen, 
eine  möglichst  enge  wirthschaftliche  Vereinigung  mit 
dem  Deutschen  Reiche,  der  Schweiz  und  Holland 
herbeizuführen,  nach  der  gegenwärtigen  Sachlage 
zurückstellen ;  aufgeben  aber  werden  wir  sie  niemals. 

Redner  schliesst,  dass  der  Ausblick  in  die  Zu- 
kunft traurig  sei.  Wir  werden  wahrscheinlich  einen 
schlechten  Ausgleich   mit  Ungarn  und  einen  ungün- 


179 


stigen  Vertrag  mit  Deutschland  in  den  Kauf  nehmen 
müssen  und  so  werden  sich  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse Oesterreichs  in  der  nächsten  Zukunft  wohl 
noch  schlechter  gestalten.  Wenn  Ausgleich  und  Handels- 
verträge auf  parlamentarischem  Wege  nicht  zustande 
kommen,  werden  sie  ausserparlamentarisch  gemacht 
werden  und  wir  werden  nicht  die  Macht  haben,  dieses 
zu  hindern.  Wir  können  uns  nur  trösten,  dass  diese 
schwankenden  Verhältnisse  dauernd  nicht  bestehen 
können  und  dass  es  heute  nicht  mehr  möglich  ist, 
mitten  im  Herzen  Europas  auf  längere  Dauer  einen 
absolutistischen  Staat  aufzurichten.  Lassen  sie  mich 
die  Hoffnung  ausprechen,  dass  das  deutsche  Volk, 
eben  deshalb,  weil  es  das  Volk  der  Arbeit  in  diesem 
Staate  ist,  durch  diese  seine  eigene  Arbeit  die  Macht 
erlangen  wird,  dass  es  aus  diesem  Kampfe  als  der 
massgebende  Faktor  in  wirthschaftlicher  u.  nationaler 
Beziehung  in  diesem  Staate  hervorgehen  wird  und  soll. 

Dr.  Grunzel  als  Socialpolitiker  schaut  auf  den 
Sprachenstreit  weit  nüchterner  als  gewisse  Politiker 
von  Beruf.  Was  im  Norden  Oesterreichs  das  böhmi- 
sche Volk  für  seine  nationalen  Bedürfnisse  dulden 
und  leiden  muss,  das  müssen  im  Süden  die  Slovenen 
von  den  Alldeutschen  und  Deutschnationalen  der 
Südmark  über  sich  ergehen  lassen.  Der  Landtag  Steieiv 
marks,  der  sich  in  den  Händen  von  Schönerianern 
befindet,  ignoriert  vollständig  alle  Bedürfnisse  der 
Slovenen  Unter-Steiermarks.  Die  Regierung  ist  nur 
das  ausführende  Organ  der  deutschnationalen  Mehr- 
heit des  Landtages.  Der  Landtag  Steiermarks  bewil- 
ligt absolut  keine  Schule  den  Slovenen,  lässt  keinen 
Fluss  in  Untersteiermark  regulieren,  während  sämmt- 
liche  Flüsse  Ober-  und  Mittel-Steiermarks  reguliert 
sind  auf  Landeskosten. 

Der  Abgeordnete  Biankini  schilderte  am  4.  No- 
vember 1901  im  Abgeordnetenhause  die  Leiden  der 
Slovenen.  Die  Alldeutschen  der  „Südmarka  haben 
den  Slovenen  den  Vernichtungskrieg  auf  ihrem  Tage 
in  Radkersburg  in  folgenden  Sätzen  formuliert:  „Die 
Slovenen  im  Unterlande  sollen  aus  den  Bezirksver- 
tretungen und  Bezirksschulräthen  hinausgedrängt 
werden!  Den  slovenischen  Vorschusskassen  wird  ein 

12* 


180 


Vernichtungskampf  angekündigt.  Slovenische  Lehrer 
und  Professoren  sollen  aus  dem  Unterlande  verdrängt 
werden.  Als  Beamte  dürfen  im  Unterlande  nur  Deut- 
sche angestellt  werden!  (Hört!  Hört!)  Auch  die  slo- 
venischen  Lehrerinnen  müssen  fort  und  werden  durch 
erst  zu  erziehende  deutsche  ersetzt.  Die  utraquistischen 
Schulen  sind  zu  kassiren.  (Hört!)  Es  soll  eine  Kata- 
stral map  pe  des  slovenischen  Grundbesitzes  für  deut- 
sche Parteizwecke  angefertigt  und  eine  besondere  Kom- 
mission eingesetzt  werden,  deren  Aufgabe  es  wäre, 
zu  achten,  wo  ein  slovenischer  Bauer  aus  seiner  Be- 
sitzung verdrängt  und  durch  einen  fremden  ersetzt 
werden  könnte. u 

Die  Regierung  sieht  dem  Treiben  der  Alldeut- 
schen in  der  Südmark  vollständig  unthätig  zu,  ja  sie 
fördert  die  Ziele  der  Alldeutschen.  Sie  bevorzugt  die 
Deutschen  durch  systematische  Ernennung  von  der 
slovenischen  Sprache  nur  selten  mächtigen  Beamten 
in  Untersteiermark,  und  Verdrängung,  beziehungsweise 
Ernennung  der  slovenischen  Beamten  nach  Krain, 
oder  in  deutsche  Theile  Steiermarks,  direkt  die  Ger- 
manisierung Untersteiermarks  fördernd.  Damit  wird 
ein  doppelter  Erfolg  erreicht.  Einerseits  wird  dadurch 
das  deutsche  Element  in  den  von  den  beiden  Natio- 
nalitäten bewohnten  Städten  und  Märkten  gestärkt, 
anderseits  kommt  hiemit  ein  Element  in  die  Verwal- 
tung, rücksichtlich  Justitz,  welches  die  Verdrängung 
der  slovenischen  Sprache,  der  Sprache  von  mehr  als 
90  Procent  der  Bevölkerung  Untersteiermarks,  sich 
zur  Aufgabe  stellt,  und  diese  Aufgabe  auch,  wie  die 
Erfahrung  zeigt,  mit  einer  ganz  eigenthümlichen  Kon- 
sequenz zur  Durchführung  bringt.  Dies  zeigt  sich  ins- 
besondere bei  den  Gerichten  in  Unterste iermark,  und 
zwar  in  einer  Art  und  Weise,  dass  die  Behauptung 
gerechtfertigt  erscheint,  dass  die  Richter  in  Untersteier- 
mark sich  mit  wenigen  Ausnahmen  von  der  durch 
die  deutschnationale  Richtung  inaugurirten  nationalen 
Unduldsamkeit  nicht  frei  zu  halten  wissen.  Es  können 
die  untersteirischen  Slovenen  den  Gerichtssaal  nicht 
mit  dem  beruhigenden  Gefühle  des  vollen  Vertrauens, 
sondern  nur  mit  einem  gewissen  Zittern  und  Zagen 
betreten.  Denn  eines  ist  sicher.  Müssen  sie  auch  über 


181 


die  meritorische  Entscheidung  ihrer  Angelegenheiten 
sich  nicht  Besorgnissen  hingeben,  oder  mögen  sie 
nur  als  Zeugen  geladen  sein  und  daher  am  Ausgange 
des  Processes  kein  Interesse  haben,  sie  werden  daß 
Gerichtshaus  doch  nicht  verlassen,  ohne  eine  Reihe 
empfindlicher  Kränkungen  durch  Verletzung  ihres 
Nationalgefühles  erfahren  zu  haben  (Oho  !-Rufe), 
Kränkungen,  die  ihnen  von  staatlich  angestellten  Ge- 
richtspersonen bewusst,  ja  vielfach  mit  Absicht,  und 
in  jedem  Falle  mit  stillschweigender  Duldung  der 
Justizverwaltung  zugefügt  werden. 

Es  liegt  System  in  der  Missachtung  und  Zurück- 
setzung der  slovenischen  Sprache  bei  den  Gerichten 
Untersteiermarks.  Ich  will  in  dieser  Beziehung  heute 
keine  eingehenden  Daten  vorbringen,  dies  wird  von 
anderer  Seite  gelegentlich  der  zweiten  Lesung  des 
Budgets  stattfinden.  Ich  konstatiere  nur,  dass  über 
in  slovenischer  Sprache  vorgebrachte  Anbringen  bei 
Gericht,  in  nahezu  90  Procent  der  Fälle  ein  deut-> 
sches  Protokoll  aufgenommen  wird,  und  die  Partei, 
mag  sie  sich  auch  sträuben,  muss  diese  ihr  oft  ganz 
unverständliche  Niederschrift  unterschreiben*  Ist  nun 
einmal  das  erste  Anbringen  —  die  Grundlage  für  das 
weitere  Verfahren  —  deutsch  protokolliert,  so  geht 
es  im  ganzen  Akte  so  weiter,  da  hilft  keine  Bitte* 
keine  Beschwerde  mehr.  Gegen  diesen  wohlbekannten 
Unfung  sind  das  Justizministerium  und  das  Ober- 
lan  desgerichtspräsidium  nicht  nur  nicht  eingeschritten, 
im  Gegentheile,  sie  fördern  denselben  und  überlassen 
es  ganz  dem  Belieben  jedes  einzelnen  gerichtlichen 
Beamten  —  natürlich  zum  Nachtheile  der  Slovenen, 
denn  wehe  demjenigen,  der  einer  deutschen  Partei 
in  ihrem  Sprachenrechte  nahetreten  wollte,  —  sich 
über  die  bestehenden  Vorschriften  hinwegzusetzen.  Es 
scheint  wirklich,  als  ob  sich  die  Richter  zur  Aufgabe 
gemacht  hätten,  den  ihre  Rechte  fordernden  Slovenen 
auf  Schritt  und  Tritt  Prügel  vor  die  Füsse  zu  werfen. 

Macht  ein  Slovene  eine  slovenische  Eingabe, 
die  man  endlich  doch  in  slovenischer  Sprache  erle- 
digen muss,  so  erhält  er  sicher  die  Erledigung  mit 
deutschem  Couvert  und  deutschem  Retourrecepisse, 
oder   mit   einem  deutschen   Zustellschein   zugestellt* 


182 


Wenn  er  sich  dagegen  beschwert  und  mindest  doppel- 
sprachige Drucksorten  verlangt,  so  erhält  er,  wie  es 
einem  Marburger  Advokaten  geschah,  die  Zustellung 
mit  deutsch-italienischem  Retourrecepisse.  Also  zur 
Zurücksetzung  auch  noch  den  Hohn!  In  solchen 
Kleinigkeiten  zeigte  sich,  wie  stark  in  manchen  Richter- 
kreisen die  deutschnationale  radikale  Gesinnung  ein- 
gewurzelt ist.  Aehnlich  wie  in  erster  Instanz,  ist  auch 
die  Behandlung  der  sprachlichen  Rechte  der  Slo- 
vefcen  in  zweiter  Instanz.  Sehr  arg  ist  die  Verletzung 
nicht  bloss  der  sprachlichen  Rechte,  sonden  auch, 
die  Gefährdung  der  Rechtssicherheit  im  Schwurge- 
richtsverfahren. In  diesem  Verfahren,  wo  es  sich  um 
die  schwersten  Verbrechen  handelt,  ist  noch  nie  eine 
slovenische  Anklage  erhoben  worden.  Man  verletzt 
da  wissentlich  alle  die  grossen  Principien  und  zwar* 
wie  man  behauptet,  wegen  der  Geschworenen. 

Da  komme  ich  auf  ein  trauriges  Kapitel,  auf  die 
Zusammenstellung  der  Geschworenenlisten,  bei  welcher, 
wie  wir  gelegentlich  mit  konkreten  Daten  belegen  wer- 
den, ausschliesslich  politische  Erwägungen  entschei- 
dend sind.  Man  braucht  ein  verständnisvolles  Werkzeug 
zur  Knebelung  der  slovenischen  Presse  und  nimmt 
daher  in  die  Liste  neben  ein  paar  Paradeslovenen 
nur  deutsche  Parteigänger,  und  aus  letzteren  mit 
Vorliebe  solche,  welche  die  slovenische  Sprache  über- 
haupt nicht  verstehen.  Dass  man  gewissenhafte  Leute 
damit  in  die  peinliche  Situation  bringt,  nach  Eid 
und  Gewisen  ihr  Votum  über  die  Schuld  oder  Nicht- 
schuld eines  Menschen  abzugeben,  dessen  Verantwor- 
tung sie  ob  Unkenntnis  seiner  Sprache  ebensowenig 
folgen  konnten,  als  den  Angaben  der  Zeugen,  dies 
scheint  die  Gerichte  nicht  zu  berühren. 

Diese  unerfreulichen  Thatsachen  lassen  nur  zu 
deutlich  erkennen,  wie  es  namentlich  im  heurigen 
Jahre  geschehen  konnte,  dass  die  Pressprocesse  gegen 
slovenische  Redakteure  stets  für  die  Angeklagten  einen 
ungünstigen  Verlauf  nahmen,  während  deutsche  Redak- 
teure wegen  in  der  Presse  erfolgter  Ehrenbeleidi- 
gungen gegen  Slovenen  eine  Freisprechung  stets  sicher 
erwarten  konnten.  Fragen  wir  uns,  wer  die  Schuld 
trägt  an  den  traurigen  Justizzuständen  in  der  Steier- 


183 


mark,  so  können  wir  mit  allem  Grund  behaupten: 
das  Oberlandesgerichtspräsidium  in  Graz  und  das 
Justizministerium.  Beide  haben  durch  das  Dulden 
und  theilweise  auch  durch  ausdrückliches  Fördern 
der  bereits  geschilderten  Praxis,  dadurch,  dass  sie 
Richter,  welche  die  Sprachenrechte  der  Slowenen 
achten,  wo  nur  möglich,  zurücksetzen,  dagegen  solche, 
die  sich  über  diese  Rechte  hingewegsetzen,  trotz  der 
offenkundigen  Gesetzwidrigkeiten  bevorzugen,  den 
Richterstand  zum  grossen  Theile  in  seiner  Gesinnungs- 
tüchtigkeit ungünstig  beeinflusst.  Ein  grosser  Theil  der 
Richter  entstammt  slovenischen  Eltern,  wie  überhaupt 
in  Untersteiermark  man  bei  den  deutschgesinnten 
Richtern  in  der  Regel  nicht  mehr  als  höchstens  auf 
den  Grossvater  zurückgehen  braucht,  um  auf  ganz 
slovenische,  des  Deutschen  unkundige  Leute  zu  stos- 
sen.  Und  diese  der  slovenischen  Nation  entstammende 
Richter  sind  heute  die  grössten  Gegner  derselben. 
Warum?  Weil  es  ihnen  Graz  und  Wien  bei  jedem  An- 
lasse fühlen  lässt,  dass  nur  jener  auf  ein  Fortkommen 
rechnen  kann,  welcher  seine  slovenische  Abstammung 
verleugnet.  Und  wem  zuliebe  fördert  die  Regierung 
ein  solches  Vorgehen?  Der  untersteierischen  Deut- 
schen wegen!  Wer  sind  diese?  Kaufleute,  Gewerbs- 
leute, Advokaten,  Notare,  die  alle  von  der  slovenischen 
Bevölkerung  leben  und  dabei  recht  klug  vorzugehen 
verstehen. 

Alle  diese  Urgermanen  lernen  für  ihre  Person  und 
für  ihr  Geschäft  slovenisch;  sie  annoncieren  in  der 
slovenischen  Sprache,  lassen  slovenische  Plakate  an- 
kleben, schicken  den  slovenischen  Kunden  und  Klienten 
slovenische  Rechnungen,  Briefe  u.  s.  w.,  denn  sie  wissen, 
dass  sie  sonst  kein  Geschäft  machen  würden,  und 
darum:  ura's  Geschäft,  um's  Verdienen  ist  es  ihnen  in 
erster  Linie  zu  thun.  Ist  das  geschehen,  dann  erwacht  das 
germanische  Gefühl,  dann  wird  versammelt,  resolutio- 
nirt,  petitionirt  und  verlangt,  dass  von  den  staatlichen 
Organen  alles  das,  was  die  deutschen  Advokaten  und 
Geschäftsleute  in  ihrer  Erwerbsthätigkeit  als  natürlich 
befinden,  im  Verkehre  der  staatlichen  Aemter,  mit 
den  slovenischen  Parteien  in  das  gerade  Gegentheil 
verkehrt  wird,   denn  dies  fordere  das  nationale  Recht 


184 


der  Deutschen !  Und  das  Schreien  solcher  Charaktere 
ist  massgebend  für  die  Massnahmen  der  Regierung! 
Wir  werden  gelegentlich  der  zweiten  Lesung  des 
Budgets  die  Ernennungsthätigkeit  der  Regierung  be- 
leuchten, und  an  der  Hand  konkreter  Fakten  das 
parteiische  Vorgehen  nachweisen.  Wir  werden  die 
Thätigkeit  des  Landesschulrathes  in  Graz  auf  dem 
Gebiete  der  Germanisierung  der  Volksschulen  in  Unter- 
steiermark ebenfalls  bei  der  zweiten  Lesung  eingehend 
beleuchten ;  und  konstatiere  ich  einstweilen  nur,  dass 
der  Landesschulrath,  der  doch  nur  von  pädagogischen 
Rücksichten  sich  leiten  lassen  sollte,  auffallend  die 
Interessen  der  slovenischen  Bevölkerung  in  Hinsicht 
auf  die  Schule  vernachlässigt. 

Ueberall  sehen  die  Slovenen  in  Untersteiermark 
sich  zurückgesetzt.  Ihre  nationalen,  kulturellen  und 
wirthschaftlichen  Forderungen  finden  kein  Gehör, 
nur  eine  verletzende  Zurückweisung.  Der  Regierung 
sind  die  Wünsche  der  Slovenen  gut  bekannt,  doch 
nimmt  sie  keinen  Anlass,  sich  für  die  Erfüllung  der- 
selben einzusetzen,  und  mit  ihrem  moralischen  Ein- 
flüsse namentlich  in  der  Richtung  zu  wirken,  dass 
die  autonome  Landesverwaltung  Steiermarks  auch 
den  Slovenen  gegenüber  jene  Fürsorge  zeige,  welche 
dieser  fast  ein  Drittel  der  gesammten  Bevölkerung 
des  Landes  ausmachende  Volksstamm  vollauf  ver- 
dient. Die  Art  und  Weise,  wie  die  für  die  bäuer- 
liche Bevölkerung  des  Unterlandes  so  wichtige  Frage 
der  Regulierung  der  Pössnitz  und  der  Sotla  im  stei- 
rischen  Landes-Ausschusse  bisher  behandelt  wurde, 
illustriert  die  Gesinnungen  der  Majorität  dieser 
Körperschaft  gegenüber  den  so  begründeten  Forde- 
rungen der  Slovenen  auf  das  schlagendste.  Ebenso 
sieht  es  auch  in  der  Frage  der  so  notwendigen  Er- 
richtung einer  slovenischen  Bürgerschule  und  einer 
slovenischen  Ackerbauschule  aus.  Landes-Ausschüss 
und  Landtag  verhalten  sich  geradezu  verletzend. 
Fürwahr,  die  Slovenen  Untersteiermarks  haben  allen 
Grund  zur  Verbitterung  und  zu  berechtigten  Klagen, 
und  es  ist  nur  zu  staunen,  dass  die  Regierung, 
welche  über  die  traurigen  Verhältnisse  Untersteier- 
marks informiert  ist,  sich  so  unthätig  verhält. 


185 


Das  zweite  südslavische  Volk,  die  Kroaten,  welche 
meist  in  Istrien  koncentriert  sind,  hat  die  Italia 
Irredenta  auf  dem  Nacken.  Die  Italianissimi,  welche 
vornehmlich  im  Gemeinderathe  Triest  ihre  Macht 
zeigen,  unterwühlen  Oesterreich  im  Süden  zu  Gunsten 
des  revolutionären  vereinigten  Italien.  Sie  bedrängen 
mit  jeder  Niedertracht  die  kroatische  Bevölkerung 
des  Küstenlandes  und  Dalmatiens,  sie  scheuen  nicht 
einmal  vor  offenen  Mordthaten  und  Bombenwerfen  in 
die  katholischen  Kirchen.  Dem  Treiben  der  Italianis- 
simi fiel  fcüm  Opfer  Bischof  Stark  in  Triest,  der  vor- 
zeitigen Todes  starb  an  den  Folgen  der  furchtbaren 
Hetzereien  dieser  schamlosen  Sippe.  Direkter  Gönner 
dieser  Revolutionäre  war  seinerzeit  der  Statthalter 
Rinaldini,  der  nur  zu  spät  seines  Amtes  enthoben 
wurde.    Solche  Beamte  hat  das  arme  Oesterreich. 

Statthalter  Rinaldini  war  auch  verwickelt  in  eine 
anrüchige  Malversation  beim  Oesterreichischen  Lloyd, 
in  desäen  Verwaltungsrathe  er  auch  sass.  Man  wies 
ihm  nach,  dass  er  Trinkgelder  in  der  Höhe  von 
200.000  fl.  angenommen  habe.  Und  solchen  Männern 
wird  die  Regierung  eines  ganzen  Landes  anvertraut. 
Was  Abgeordneter  Biankini  von  den  Staatsbeamten 
im  Süden  von  Steiermark  sagte,  das  gilt  von  einer 
grossen  Zahl  von  Staatsbeamten  in  allen  Verwaltungs- 
zweigen in  ganz  Oesterreich  überhaupt.  Die  höchste 
Raison  der  amtlichen  Thätigkeit  so  mancher  Staats- 
beamten ist  nicht  das  Wohl  des  Volkes,  des  Vater- 
landes, der  Dynastie,  sondern  das  Wohl  der  eigenen 
Person  und  ein  blindes  Parteiinteresse.  Der  grosse 
bureaükratische  Apparat  Oesterreichs  hat  die  fixe 
Vorstellung,  der  Staat,  die  Völker  seien  seinetwegen 
hier  und  nicht  umgekehrt.  Gewisse  Bureaukraten , 
besonders  in  den  Centralstellen  der  Verwaltung,  sind 
die  verbissensten  Feinde  der  Gleichberechtigung  der 
Nationen  und  wenn  die  gesetzgebenden  Körperschaften 
auf  die  Versöhnung  hinarbeiten,  wird  über  das  Par- 
lament und  die  Landtage  im  alten  System  regiert. 
Gewisse  mächtige  Bureaukraten  machen  in  Oester- 
reich eben,  was  sie  wollen,  sie  sind  gewaltiger  als 
das  Parlament,  die  Landtage  und  der  Herrscher. 
Manche  Bureaukraten  arbeiten  den  Deutschnationalen 


186 


und  Schönerianern  in  die  Hände.  Hier  ein  Beispiel. 
Das  Organ  der  Prager  Judenschaft  „Prager  Tagblatt* 
brachte  am  26.  September  1902  folgenden  Artikel : 

Ein  Kapitel  deuts  ch-böhmische  r  Schul- 
geschieht  e. 

Hofrath  Dr.  J.  V.  Grohrnann,  administrativer  Re- 
ferent im  Landesschulrathe,  ist  um  seine  Pensioni- 
rung  eingeschritten.  Mit  Hofrath  Grohmanns  Amts- 
thätigkeit  ist  ein  bedeutsames  Kapitel  unseres  deut- 
schen Schulwesens  auf  das  innigste  verknüpft.  Als 
im  Jahre  1869  der  Landesschulrath  in  Böhmen  ins 
Leben  gerufen  wurde,  wurde  Grohrnann  —  seine 
Berufung  erweckte  grosses  Aufsehen,  weil  er  Schul- 
mann und  nicht  Jurist  war  —  zum  administrativen 
Referenten  dieser  neugegründeten  Behörde,  u.  zw. 
sowohl  für  die  deutschen  als  für  die  tschechischen 
Schulen  ernannt.  Ihm  fiel  damals  persönlich  die 
gewichtige  Aufgabe  zu,  die  neuen  Volksschulgesetze 
gegen  die  Opposition  der  tschechischen  Bevölkerung 
durchzusetzen.  Es  war  die  Zeit  der  Deklaration;  die 
Cechen  halten  Reichsrath  und  Landtag  verlassen. 
Da  die  neuen  Schulgesetze  ohne  sie  zu  Stande  ge- 
kommen waren,  so  wollten  sie  den  Beweis  liefern» 
dass  die  Regierung  nicht  im  Stande  sei,  diese  Ge- 
setze gegen  den  Willen  des  ßechischen  Volkes  durch- 
zuführen. Mit  den  schärfsten  Waffen  ist  gegen  diese 
Gesetze,  die  heute  von  den  Cechen  als  Errungen- 
schaft betrachtet  werden,  damals  von  ihnen  ange- 
kämpft worden ;  in  den  Zeitungen  hiess  es,  sie  seien 
der  Tod  der  öechischen  Nation  (smrt  na§eho  näroda), 
sie  müssten  der  Gemeinde  den  Einfluss  auf  die 
Schule  rauben,  sie  brächten  die  Lehrerschaft*  unter 
die  Botmässigkeit  der  Bureaukratie  u.  s.  w.  Wer 
bei  der  Durchführung  der  Schulreform  behilflich  war, 
wurde  als  „okrälak"  vervehmt.  Kurz,  die  Verhinde- 
rung der  Schulreform  wurde  zur  Kraftprobe  der  na- 
tionalen und  staatsrechtlichen  Opposition!  Hofrath 
Grohmanns  unermündlicher  Energie  ist  es  gelungen, 
diesen  Widerstand  zu  brechen.  Selten  noch  ist  eine 
grosse  gesetzgeberische  Aktion  so  durch  das  Wirken 
einer    einzelnen    Persönlichkeit    gefördert    worden  t 


187 


Schon  wenige  Wochen  nach  seiner  Ernennung 
konnte  Grohmann  Anträge  über  die  Greirung  der 
Bezirksschulinspektoren  für  sämmtliche  Schulbezirke 
erstatten.  In  diesen  Anträgen  kam  zum  ersten  Male 
der  für  die  Entwicklung  des  Schulwesens  so  be- 
deutsam gewordene  Gedanke  zum  Ausdruck,  die  In- 
spektionsbezirke in  Böhmen  nach  der  Unterrichts- 
sprache abzugrenzen,  d.  h.  für  deutsche  Schulen 
deutsche,  für*  dechische  Schulen  öechische  Inspek- 
toren zu  ernennen.  Unterrichtsminister  Hasner  ge- 
nehmigte diese  Vorschläge  Grohmann's  rückhaltslos: 
in  ihrer  weiteren  Entwicklung  führten  sie  bekannt- 
lich zur  nationalen  Trennung  des  Schulwesens.  Hof- 
rath  Grohmanns  Initiative  feierte  dann  auch  in  einer 
andern  verwandten  Angelegenheit  einen  Erfolg:  das 
Schulaufsichtsgesetz  vom  8.  Feber  1869  enthielt  in 
§  32  die  Bestimmung,  dass  die  Schulgemeinden  die 
Fahrgelegenheiten  zu  den  periodischen  Schulvisita- 
tionen beizustellen  haben.  In  den  oppositionellen 
Gemeinden,  welche  die  Fahrgelegenheiten  verwei- 
gerten, wurden  diese  Visitationen  dadurch  selbstver- 
ständlich illusorisch.  Rasch  entschlossen  brachte 
Hofrath  Grohmann  —  er  war  damals  Landtagsabge- 
ordneter für  den  Städtebezirk  Gabel-Kratzau  —  den 
Antrag  ein,  das  Schulgesetz  dahin  abzuändern,  dass 
die  Bezirksschulinspektoren  ihr  Reisepauschale  aus 
Staatsmitteln  erhalten.  So  wurde  aller  öechischen 
Opposition  zum  Troti  der  Schulinspektion  freie  Be- 
wegung und  die  für  ihre  Funktion  nöthige  Unab- 
hängigkeit erobert! 

Als  nun  im  Herbste  1869  zur  Bildung  der  Be- 
zirksschulräthe  geschritten  wurde,  verweigerten  in 
den  meisten  Cechiscben  Schulbezirken  die  Lehrer  und 
die  Bezirksvertretungen  die  Vornahme  der  Wahlen. 
Erst  mit  den  schärften  Mitteln  und  erst  nach  unbe- 
schreiblicher Mühe  gelang  es,  wenigstens  die  Mehr- 
zahl der  im  Gesetze  vorgeschriebenen  Bezirksschul- 
rathsmitglieder  aufzubringen  und  die  Konstituirung 
des  Bezirksschulrathes  vorzunehmen.  Noch  grössere 
Schwierigkeiten  stellten  sich  dem  Schulerrichtungs- 
gesetze  vom  19.  Feber  1870  entgegen:  diesem  Ge- 
setze   gemäss   gingen    mit    Beginn    des    Schuljahres 


188 


1870—1871  alle  Verpflichtungen*  welche  bis  dahin 
den  Gemeinden  bezüglich  der  Errichtung  und  Erhal- 
tung ihrer  Schulen  obgelegen  waren,  auf  den  Schul- 
bezirk über.  Vom  1.  Oktober  hatten  somit  die  Schul- 
bezirke den  gesammten  Aufwand  für  die  öffentlichen 
Volksschulen  zu  bestreiten*  Allein  die  Schulbezirke 
hatten  weder  Kassen  noch  Geld.  Daraufhin  brachte 
der  Abg.  Dr.  Hanisch,  ein  Freund  des  Hofrathes 
Grohmann,  im  Reichsrathe  einen  Gesetzentwurf  ein, 
nach  welchem  den  Steuerämtern  die  Geld-  und  Ur- 
kundengebahrung  der  Bezirksschulkassen  und  des 
Lehrerpensionfondes  übertragen  werden  konnte.  Erst 
seit  dem  Zustandekommen  dieses  Gesetzes  (11.  Mai 
1870)  war  die  Voraussetzung  für  eine  ordnungsge- 
mässe Führung  der  Schulbezirkskassen  geschaffen. 
Allein,  da  einerseits  diese  Kassen  naturgemäss  An- 
fangs leer  standen,  das  Gesetz  andererseits  die  Aus- 
zahlung der  Lehrergehalte  in  anticipativen  Raten 
anordnete,  die  Einnahmen  des  Schulbezirkes  aber 
besten  Falls  in  dekursiven  Raten  erfolgten,  da 
ferner  der  Landesausschuss  ablehnte,  den  gesetz- 
lichen Landesbeitrag  von  329.597  fl.  vor  Schluss  des 
Verwaltungsjahres  flüssig  zu  machen,  —  so  sah  sich 
der  Landesschulrath  im  Oktober  1870  einer  fast  un- 
lösbaren Aufgabe  gegenüber.  Am  höchsten  stieg  die 
Verwirrung  in  jenen  öechischen  Schulbezirken,  in 
denen  die  Bevölkerung,  der  ausgegebenen  Parole 
folgend,  die  Zahlung  des  Schulgeldes  und  der 
Schulauslagen  verweigerte;  die  Gemeinden  wollten 
nicht  einmal  vorschussweise  für  die  Lehrergehalte 
aufkommen.  Karolinenthal  z.  B.  versuchte  sogar, 
das  bisherige  Schulgebäude  zu  anderen  Zwecken  zu 
vermiethen ! 

In  dieser  verzweifelten  Situation  wurde  ein 
scharfer  Erlass  aii  die  Bezirkshauptmannschaften 
herausgegeben,  demzufolge  die  Schulhäuser  als  Ge- 
meingut erklärt  und  jedem  weiteren  Versuche,  sie 
«der  Verwaltung  des  Schulbezirkes  zu  entziehen,  Ein- 
halt geboten  wurde.  In  11  cechischen  renitenten 
Schulbezirken  wurden  die  rückständigen  Schulgelder 
und  Schulumlagen  mit  Militärassistenz  eingetrieben! 
Der  Erfolg   dieser   Massregel  —  selbst   die    Freunde 


189 


des  neuen  Schulgesetzes  hätten  ihn  nicht  so  rasch 
erwartet  —  war,  dass  im  April  1871  die  Schulbezirks- 
kassen  bereits  in  allen  Schulbezirken  Böhmens  akti- 
virt  waren.  Die  Cechen  haben  seither,  durch  die 
Wohlthaten  des  Schulgesetzes  bekehrt,  eingesehen, 
welch'  schwerer  Fehler  ihre  diesbezügliche  damalige 
Opposition  war.  Mit  der  glücklichen  Durchführung 
der  Schulreform  hatte  Hofrath  Grohmann  seinen  Ruf 
als  unermündlicher  Organisator  fest  begründet  Unter 
dem  Statthalter  Koller  wurde  dann  ein  eigener  Re- 
ferent für  ßechische  Schulen  bestellt:  aber  die 
grossen  organisatorischen  Aufgaben,  die  das  ge- 
sammte  Schulwesen  betrafen,  wurden  auch  weiterhin 
dem  Hofrath  Grohmann  übertragen.*)  Als  Regierungs- 
kommissär der  Schulkommission  im  böhmischen  Land- 
tag —  er  stand  dort  mit  den  hervorragendsten  Ab- 
geordneten der  deutschen  Partei  im  freundschaftlich- 
sten Verkehr  —  hat  er  durch  die  Verdienste,  die  er 
sich  um  das  Zustandekommen  des  Schulaufsichts- 
gesetzes  vom  Jahre  1873  erworben  hat,  auf  die  Entwick- 
lung des  Volksschulwesens  in  Böhmen  entscheidende- 
und  richtunggebenden  Einfluss  genommen.  Die  dau- 
ernde Bedeutung  dieses  Gesetzes  liegt  in  den  Bestim- 
mungen, durch  welche  die  Trennung  der  Schulbezirkc 
nach  der  Nationalität  und  die  nationale  Organisation 
der  Orts-  u.  Bezirksschulaufsicht  angeordnet  wird.  Diese 
Bestimmungen  wurden  von  Deutschen  und  Gzechen 
mit  Befriedigung  angenommen  und  wurden  geradezu 
epochemachend  für  die  Behandlung  der  nationalen 
Fragen.  Bei  den  Ausgleichsverhandlungen  im  Jahre 
1890  war  denn  auch  der  Plan,  den  beiden  Nationa- 
litäten ihre  Schulen  in  eigene  Verwaltung  zu  über- 
geben, und  demgemäss  den  Lndeschulrath  —  wie 
die  unteren  Schulinstanzen  —  zu  theilen,  beiden 
Parteien  plausibel.  Diesen  Gedanken,  der  seither  so 
viel  zur  Beruhigung  der  Gemüther  beigetragen  hatt 
zuerst  angeregt   und  zur  praktischen   Durchführung 


*)  Als  1890  die  Stelle  des  Vicepräsidenten  beim  Landes chul- 
rathe  creirt  wurde,  konnte  Hofrath  Grohmann  für  dieses  Amt 
wegen  mangelnder  Kenntniss  der  czechischen  Sprache  nicht 
berücksichtigt  werden.  Damals  wurde  ihm  der  Titel  und  Charakter 
eines  Hofrathes  verliehen. 


190 


gebracht  zu  haben,    ist  ein  ausschliessliches  und  un- 
vergängliches Verdienst  Hofrath  Grohmanns! 

Auf  Grund  des  neuen  Schulaufsichtsgesetzes 
wurden  in  Prag  ein  deutscher  und  ein  czechischer 
Bezirksschulrath  errichtet.  Der  deutsche  Bezirksschul- 
inspektor war  Regierungsrath  Prof.  Lieblein,  ein 
Freund  des  Hofraths  Grohmann.  Dem  rastlosen  Zu- 
sammenwirken dieser  beiden  vortrefflichen  Männer 
ist  der  ungeahnte  Aufschwung  des  deutschen  Schul- 
wesens in  Prag  und  den  Vororten  zu  danken.  Im 
Jahre  1869  gab  es  in  Prag  und  den  Vororten  blos 
drei  öffentliche  deutsche  Volkschulen:  die  Altstädter 
deutsche  Knaben-  und  Mädchenhauptschule,  die  ge- 
mischte Volkschule  bei  S.  Maria  de  Viktoria  und  die 
Josefstädter  Haupt-  und  Unterrealschule.  Die  letztere, 
1859  begründet,  sollte  gemäss  eines  zwischen  der 
Stadt  Prag  und  der  israel.  Kultusgemeinde  geschlos- 
senen Vertrages  nach  zehnjährigem  Bestände  —  also 
im  Jahre  1869  —  wieder  aufgelassen  werden.  Nur 
dem  unermüdlich  energischen  Einschreiten  des  Hof- 
raths Grohmann  ist  es  zu  danken,  dass  diese  deut- 
sche Schule  trotzdem  bestehen  blieb.  Da  die  Stadt- 
gemeinde Prag  sich  weigerte,  den  Lehrern  ihre  Ge- 
halte auszuzahlen,  Hess  Hofrath  Grohmann  dasjenige 
Drittel  der  Verzehrungssteuer,  welches  der  Stadt  zufiel, 
mit  Beschlag  belegen,  und  Hess  hievon  die  Lehrer 
bezahlen.  Gegenwärtig  gibt  es  in  Prag  und  Umgebung 
nicht  weniger  als  neun  deutsche  Volkschulen  (Bürger- 
schulen: zwei  auf  der  Altstadt,  eine  in  Karolinenthal 
und  Smichov).  Ohne  jede  Uebertreibung  darf  es  aus- 
gesprochen werden,  dass  das  Verdienst,  diese  sechs 
Schulen,  die  seit  1869  neu  hinzukamen,  für  das  deut- 
sche Volk  gewonnen  zu  haben,  ausschliesslich  der 
Initiative  des  Hofraths  Grohmann  zu  danken  ist!  Im 
Jahre  1881  beschlossen  die  Ortsschulräthe  von  Wein- 
berge, Smichov,  die  Stadträthe  von  Prag,  Karolinen- 
thal und  Pfibram:  sämmtliche  Kinder,  die  der  deut- 
schen Unterrichtssprache  nicht  hinreichend  mächtig 
wären,  aus  den  deutschen  Schulen  auszuweisen  und 
den  czechischen  Ortsschulen  zuzuweisen.  Dieser  Be- 
wegung trat  der  Landesschulrath  energisch  entgegen, 
da  es  auf  Grund  der  bestehenden  Gesetze  den  Eltern 


191 


freistehen  müsse,  ihre  Kinder  in  die  deutsche  oder 
czechische  Schule  zu  schicken.  Anfangs  im  Landtage 
wie  in  den  czechischen  Zeitungen  aufs  heftigste  an- 
gefochten, wurde  diese  Anschaunung,  nachdem  auch 
Ministerium  und  Verwaltungsgerichtshof  alle  dagegen 
eingebrachten  Rekurse  verworfen  hatten,  schliesslich 
anerkannt.  Da  brachte  Abg.  Kvißala  im  Landtag  den 
Antrag  ein,  das  bestehende  Gesetz  dahin  abzuändern, 
dass  die  schulpflichtigen  Kinder  je  nach  ihrer  Natio- 
nalität von  Amtswegen  von  den  Schulorganen  einer 
deutschen  oder  czechischen  Schule  zugewiesen  werden. 
Dieses  lex  Kvißala  gegenüber  hat  Hofrath  Grohmann 
bei  jeder  Gelegenheit  mündlich  und  schriftlich  das 
natürliche  Recht  der  Eltern  auf  die  Wahl  der  Schule, 
mit  der  ihm  eigenen  von  innigster  Ueberzeugung 
getragenen  Energie  und  Zähigkeit  verfochten. 

Aber  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  des  Volksschul- 
wesens, sondern  auch  auf  dem  der  Mittelschule  hat 
Hofrath  Grohmann  dem  deutschen  Volke  Dienste  ge- 
leistet, für  welche  die  Dankbarkeit  niemals  erlöschen 
kann:  es  sei  kurz  und  bündig  ausgesprochen,  dass 
die  Errichtung  der  deutschen  Staatsgymnasien  auf  der 
Altstadt,  in  der  Stephansgasse,  in  Smichov,  in  den 
Weinbergen,  der  Realschulen  auf  der  Insel  Kampa, 
in  Karolinenthal  und  in  der  Heinrichsgasse  der  aus- 
schliesslichen Initiative  des  Hofraths  Grohmann  und 
seiner  Liebe  zu  seinem  Volke  zu  danken  sind.  Ins- 
gesammt  sind  unter  Grohmanns  Amtswirksamkeit  in 
Böhmen  acht  deutsche  Gymnasien,  sechs  deutsche 
Realschulen,  vier  deutsche  Lehrerbildungsanstalten  aus 
Staatsmitteln  errichtet  worden,  neun  deutsche  Gy- 
mnasien und  vier  deutsche  Realschulen  in  die  Staats- 
verwaltung übernommen  worden. 

Hofrath  Grohmann  schrieb  auch  unter  dem  Namen 
Josef  Winter  schneidige  politisch-historische  Aufsätze 
in  die  „Mittheilungen  des  Vereins  für  die  Geschichte 
der  Deutschen".  Solcher  Grohmanns  hat  die  Staats- 
maschine Oesterreichs  zu  Hunderten,  sie  sind  es, 
welche  durch  ihre  Amtsthätigkeit  dem  Staate  Oester- 
reich  gewaltsam  den  Stempel  des  Deutschthums  von 
Amtswegen  aufdrücken.  Solche  Grohmanns  hat  die 
böhmische  Nation  nicht   aufzuweisen.    Staatsbeamte 


192 

■ 

böhmischer   und   slavischer  Nationalität  dürfen  sich  | 

überhaupt   am   nationalen  Leben   ihres  Volkes  nicht  I 

betheiligen,  ausser  sie  verzichten  darauf  im  Dienste 
vorzurücken  und  laufen  in  Gefahr  einen  existenxiellen 
Selbstmord  zu  begehn.    Wenn  ein  Staatsbeamte  böh-  I 

mischer  Nationalität  vorrückt,  so  geschieht  es  nur, 
wenn   er  sein   eigenes  Blut  zu  verleugnen  versteht  j 

Man   findet    denn   auch   höhere   Stellen   des  Staats-  j 

dienstes  wie  in  den  Ministerien  und  den  übrigen 
wichtigen  Gentralstellen  fast  ausschliesslich  von  Deut- 
schen oder  Renegaten  besetzt. 

Der  Typus  Grohmann  arbeilet  für  das  deutsche 
System  in  Oesterreich  wenigstens  in  solchen  Schranken, 
die  einen  ruhigen  nationalen  Arbeiter  für  das  Deutsch- 
thum  bekunden,  aber  es  gibt  Staatsbeamte,  die  sich 
direkt  an  deutschnationalen  und  schönerianischen 
Agitationen  betheiligen.  Der  Steueramtsadjunkt  Hugo 
Bartelt  in  Oderberg,  Schlesien,  versendete  Ende  Au-  , 

gust  1902  allen  deutschnationalen  Vertrauensmännern  \ 

ein  Girkulare,  worin  er  sie  zu  einer  nationalen  Versamm-  1 

hing  nach  Mähr.-Ostrau  einlud,  um  eine  Gegendemon-  ' 

stration  der  Deutschnationalen  gegen  das  Sokolfest 
zu  veranstalten.   An  allen  nationalen  Wühlereien  und  | 

künstlich  herbeigeführten  Demonstrationen  nimmt  in  j 

-  Mähren  regelmässig  einen  direkten  Antheil  der  Ober- 
landesgerichtsrath  Baron    d'Elvert   in  Brunn. 

Es  gibt  erwiesenermassen  einen  sehr  starken 
Procentsatz  von  Staatsbeamten,  welche  alldeutsche 
und  schönerianische  Blätter  halten  und  ihrer  Gesin- 
nung nach  dieser  Partei  angehören.  Derartige  Beamte 
zum  Beispiel  bei  der  Post  und  Eisenbahnen  scheuen 
sich  nicht  slavische  Adressen  an  den  Sendungen  eigen- 
mächtig umzuschreiben,  zu  verunstalten,  ja  es  gibt 
Beispiele,  dass  schönerianische  Postbeamte  mit  Hohn 
Sendungen  mit  böhmischen  Adressen  als  unbestellbar 
zurücksenden.  Kurz  es  ist  ein  wahres  Kesseltreiben 
von  Seite  eines  grossen  Procentsatzes  der  Staatbeamten 
um  dem  Staate  Oesterreich  den  Charakter  der  „pre]is-  { 

sischen  Ostmark"  von  Amtswegen  aufzudrücken, 
es  ist  ein  systematischer  k.  k.  Hochverrath,  der  da 
ausgeübt  wird  von  Männern,  welche  doch  geschworen 
haben    dem   Kaiser   und  Reich  treu  zu  dienen.    Ja 


193 


wenn  es  österreichische  Minister  gibt,  die  für  Preussen 
arbeiten,  warum  sollte  es  nicht  ein  Adjunkt  thun,  er 
wird  ja  dafür  sicher  befördert.  Fragen  wir  nun, 
woher  diese  Erscheinung,  die  wohl  in  keinem  Staate 
der  Welt  vorkommen  kann?  Kein  Hausvater  wird 
doch  im  eigenen  Hause  Leute  im  Dienste  halten,  von 
denen  er  überzeugt  ist,  dass  sie  ihn  direckt  bestehlen, 
beschädigen.  Im  österreichischen  Staatswesen  gilt 
diese  Vorsicht  nicht.  Warum  denn  unter  den  Staats- 
beamten Oesterreichs ,  soviel  schönerianische  und 
wolfianische  Drachensaat?  Um  diese  Erscheinung  zu 
erklären,  muss  man  auf  die  deutschen  juridischen 
Fakultäten  Oesterreichs  gehen. 

Man  würde  hier  vergeblich  suchen  nach  Männern, 
welche  die  studirende  Jugend,  aus  welcher  die  Staats- 
beamten sich  rekrutiren,  systematisch  zur  Liebe  zum 
österreichischen  Vaterland  anleiten  würden.  Es  ist 
bekannt,  dass  an  den  Hochschulen  Oesterreichs  die 
Studentenverbindungen  schönerianischer  Färbung  vor- 
wiegen, und  hier  wird  schon  jahrzehntelang  der  Bis- 
marckkultus  und  direkter  Hochverrath  systematisch 
gepflegt.  Verbindungen  katholischer  Studirender  sind 
ja  in  verschwindender  Minorität. 

Man  suehe  doch  nicht  an  den  Stätten,  wo  die 
„freie"  Wissenschaft  vorgetragen  wird,  irgend  welche 
Treue  zu  Gott,  zu  Kaiser  und  dem  Volk.  Wer  Gott 
nicht  treu  ist,  der  ist  es  auch  den  Menschen  nicht. 
Man  suche  doch  nicht  an  diesen  Stätten  der  „freien 
Wissenschaft"  irgend  welche  Liebe  und  Treue  zu  Oester- 
reich,  wo  diese  „freie  Wissenschaft"  von  so  viel  Söh- 
nen jenes  Volkes  vorgetragen  wird,  das  schon  seit  fünf- 
tausend Jahren  das  goldene  Kalb  konsequent  anbetet, 
dem  also  Vaterlandsliebe  ein  gänzlich  unbekannter 
Begriff  ist.  So  trägt  an  der  juristischen  Fakultät  in 
Wien  die  österreichische  Reichsgeschichte  Dr.  Sigmund 
Adler,  ordentlicher  öffentlicher  Professor,  vor.  Nun 
wissen  wir  allerdings  nicht,  ob  dieser  gute  Herr  ge- 
tauft ist.  Sehr  begreiflich  finden  wir  schon,  dass 
an  dieser  Fakultät  das  Handels-  und  Wechselrecht 
Dr.  Samuel  Grünhut  vorträgt.  Das  geht  schon  eher. 
Nicht  allein  die  Universitäten  sind  von  Semiten  über- 
reich besetzt,    auch   die  Staatsmaschine  Oesterreichs 

13 


194 


überhaupt   lässt    den    Söhnen  Judas    bereitwillig  die 
höchsten  Staatswürden  zugänglich. 

Abgeordneter  Gregorig  beklagte  sich,  dass  die 
Statthalterei  Nieder-Oesterreichs  ganz  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Judenstämmlings  Baron  Hock  stehe.  Auch 
andere  wichtige  Centrals teilen  sind  reich  mit  Juden 
besetzt.  Das  Eisenbahnministerium  in  Wien  könnte 
eine  eigene  Synagogen-Abtheilung  aus  seinen  Beamten 
errichten.  Während  Schönerianer  und  Deutschnatio- 
nale ein  Wuthgeheul  erheben,  das  Deutschthum  sei 
bedroht,  das  bis  nach  Berlin  wiederhailt,  wenn  ein 
böhmischer  Adjunkt  in  irgend  einen  deutschen  Kräh- 
winkel im  Gebirg  angestellt  wird,  schweigen  sich  diese 
Helden  gründlich  darüber  aus,  wie  Juda  seine  Söhne 
an  der  Staatsgrippe  Oesterreichs  gemächlich  und  satt 
füttern  lässt,  die  dummen  Gojim  bezahlen  es.  Und 
ist  es  in  Preussen-Deutschland  anders?  Kann  doch 
Kaiser  Wilhelm  ohne  den  Juden  Ballin  nicht  aus- 
kommen. Es  handelt  sich  hier  nicht  um  die  Ernen- 
nung eines  böhmischen  Gerichtsadjunkten  oder  um 
die  Anstellung  eines  böhmischen  Aushilfspriesters  im 
Sogenannten  deutschen  Sprachgebiet,  es  geht  hier  um 
ein  System,  damit  Oesterreich  im  Innern  nie  zur  Ruhe 
komme,  bis  der  ersehnte  Augenblick  kommt,  wo 
preussische  Regimenter  mit  blanker  Waffe  und  klin- 
gendem Spiel  die  böhmischen  Grenzen  überschreiten 
werden.  Sagte  doch  Moltke,  dass  der  Krieg  für  das 
jetzige  Preussen-Deutschland  eine  elementare  Not- 
wendigkeit sei.  Die  schönerianischen  und  alldeutschen 
Staatsbeamten  Oesterreichs  sind  eine  Gefahr,  an  wel- 
cher das  Reich  über  kurz  oder  lang  nothwendig  zu 
Grunde  gehen  muss.  Wenn  die  Alldeutschen  verlangen, 
Oesterreich  müsse  das  Deutsche  als  Staatssprache 
erhalten,  so  wäre  es  doch  viel  konsequenter,  für 
Oesterreich  das  Hebräische  als  Staatssprache  zu  pro- 
klamiren.  Die  Juden  sind  in  Oesterreich  Cis  und 
Trans  die  Herren,  die  Christen  sind  die  Beherrsch- 
ten. Warum  säubern  doch  nicht  die  Alldeutschen 
die  österreichische  Staatsmaschine  von  den  Semiten  ? 
Oesterreich  ist  in  der  Fremde  durch  seine  Hebräer 
vertreten.  Fast  sämmtliche  Konsulate  Oesterreichs 
sind  in  den  Händen  der  Juden. 


195 


Hier  einige  Beispiele.  Konsul  in  Chikago :  Dr.  Alfred 
Flesch;  in  New-York:  Julius  Stern;  Philadelphia: 
Alfred  Ostheimer;  Pittsburg:  Jakob  Weiss;  Frank- 
furt: Wilhelm  Rothschild;  Leipzig:  Rudolf  Fasan; 
Stuttgart:  Adolf  Federer;  Marseille:  Adam  Grünberg; 
Toulon:  Benjamim  Jouve;  Paris:  Gustav  Rothschild, 
Richard  Fürth,  Baron  Jacob  Kahnstein ;  Havre :  Eugen 
Grosos;  Athen:  Richard  Oppenheimer;  Liverpool: 
Emil  Neumann,  Georg  Behrend;  Manchester:  Sieg- 
mund Oppenheim;  London:  Alfred  Baron  Rothschild, 
Julius Kohn;  Amsterdam:  Leopold  Grünberg;  Bagdad: 
Alfred  Rapaport;  Peru:  Samuel  Brahm;  Moskau: 
Franz  Sponer;  Odessa:  Rudolf  Wodianer ;  Riga:  Mo- 
ritz Lübeck;  Stockholm:  Eduard  Fränkl;  St.  Gallen: 
Julius  Salzmann;  Barcelona:  Nikolaus  Kiss;  Madrid: 
Gustav  Bauer. 

Wie  manche  Staatsämter  in  Oesterreich  aussehn, 
davon  geben  wir  ein  kleines  Beispiel.  Die  Finanz- 
prokuratur in  Prag  hat  folgende  Beamte.  Finanzräthe : 
Franz  Meisel,  Jakob  Adler,  Leopold  Wiener,  Julius 
Petschek,  Franz  Schilder.  Sekretäre :  Julius  Eisenbach, 
Ernst  Bauer,  Max  Weis.  Adjunkten :  Ernst  Pick,  Lud- 
wig Spiegel,  Albert  Bauer,  Viktor  Schwarzkopf,  Otto 
Baumer.  Ob  von  diesen  Beamten  vielleicht  Jemand 
Christ  ist,  können  wir  nicht  angeben.  Da  sind  die 
Deutschnationalen  ganz  still. 

Anfangs  September  entleibte  sich  der  Adjunkt 
des  Steueramtes  in  Reichenberg  Franz  Fiedler.  Die 
Pressorgane  Reichenbergs  gaben  an,  er  habe  dieses 
aus  Geistesstörung  gethan.  Abgeordneter  Choc  führte 
in  seiner  Interpellation  über  diesen  traurigen  Fall  im 
Abgeordnetenhause  am  6.  November  1902  unter  anderem 
folgendes  an:  „Anfrage  des  Abgeordneten  Choc  und 
Genossen  an  Ihre  Excellenzen  die  Herren  Minister  des 
Innern,  der  Justiz  und  der  Finanzen.  „Zufolge  einer 
Zeitungsnachricht  endete  am  6.  September  1.  J.  der 
k.  k.  Steueramtsacüunkt  Franz  Fiedler  in  Reichenberg 
durch  Selbstmord.  Laut  der  aus  deutschen  Quellen 
geschöpften  Nachrichten  soll  er  dies  in  unzurechnungs- 
fähigem Zustande  verübt  haben.  Das  kann  jedoch 
entschieden  nicht  der  Fall  sein.  Der  verstorbene  Herr 
Franz  Fiedler  war  und  konnte   nicht   irrsinnig   sein, 

18* 


196 


schon  deswegen  nicht,  weil  er  von  den  Beamten  des 
k.  k.  Hauptsteueramtes  in  Reichenberg  die  grösste 
Agende  mit  dem  besten  Erfolge  besorgte. 

Der  verstorbene  Franz  Fiedler  hat  eine  in  sehr 
raffinirter  Weise  durchgeführte  Defraudation  des  deut- 
schen Kollegen  Kuh  enthüllt,  über  welche,  da  diese 
Angelegenheit  einen  Deutschen  betraf,  in  die  Oeffent- 
lichkeit  nicht  gedrungen  ist,  für  welche  Umsicht 
ihm  seitens  der  Finanz-Landesdirektion  in  Prag  eine 
besondere  belobende  Anerkennung  zutheil  geworden 
ist.  Von  seiner  Zurechnungsfähigkeit  zeugt  bestimmt 
auch  der  Umstand,  dass  er  vor  dem  Tode  zwei  voll- 
kommen zusammenhängend  und  verständlich  geschrie- 
bene Briefe  abgesendet  hat,  und  zwar  an  seine  Mutter 
und  an  seine  Wohnungsgeberin.  Die  Ursache  des  tra- 
gischen Todes  des  jungen  Mannes  ist  nur  in  den  bei 
dem  k.  k.  Hauptsteueramte  in  Reichenberg  her- 
schenden  Verhältnissen  zu  suchen,  über  welche  sich 
Franz  Fiedler  bei  seinen  Freunden  oft  beklagt  hatte. 
Den  Dienst  des  Hauptkontrolors  versieht  bei  diesem 
Amte  ein  gewisser  Ermold,  welcher  den  verstorbenen 
Franz  Fiedler  mit  besonderer  Vorliebe  aus  dem  Grunde 
verfolgte,  weil  Franz  Fiedler  ein  aufrichtiger  Böhme 
war;  für  die  korrekte  und  genaue  Erfüllung  der  Pflichten, 
wofür  derselbe  mit  dem  Belobungsdekrete  ausge- 
zeichnet wurde,  konnte  er  doch  diesen  musterhaften 
Beamten  nicht  chikaniren.  Infolge  der  beständigen 
Chikanen,  Sekkaturen,  Spöttereien  und  Verfolgungen 
seitens  dieses  Ermold  war  der  verstorbene  Franz 
Fiedler  oft  nervös  aufgeregt,  welcher  von  Ermold  ver- 
schuldete Zustand  nunmehr  für  die  Behauptung  aus- 
genützt wird,  dass  der  Verstorbene  geisteskrank  ge- 
wesen sei  und  dass  er  sich  infolge  Geistesstörung 
ermordet  habe.  Um  diesen  unerträglichen  Verhältnissen 
zu  entgehen,  hat  Herr  Franz  Fiedler  wiederholt  um 
seine  Versetzung  angesucht,  aber  sein  letztes  Ansuchen 
wurde  gerade  vor  seinem  Tode  abschlägig  beschieden. 
Am  Tage  vor  seinem  Tode  hatte  er  den  letzten  Auf- 
tritt mit  dem  Oberkontrolor  Ermold,  welcher  ihn  in 
roher  Weise  verhöhnte  und  ihm  seine  Krankheit 
vorwarf. 

Dem  Beispiele  ihres  Vorgesetzten  Ermold  folgten 


197 


auch  die  übrigen  deutschen  Beamten,  Indem  sie  den 
Franz  Fiedler  beleidigten  und  den  von  allen  Seiten 
verfolgten  Kollegen  verhöhnten,  dessen  einziger  —  in 
ihren  Augen  allerdings  schrecklicher  —  Fehler  seine 
Nationalität  war.  Im  Hinblicke  auf  diese  unglaublichen 
Thatsachen  fragen  die  Gefertigten :  „Sind  Euere  Excel- 
lenzen geneigt,  durch  eine  unparteiische  und  einge- 
hende Untersuchung  und  namentlich  durch  Einver- 
nehmung aller  dem  k.  k.  Hauptsteueramte  in  Reichen- 
berg zugetheilten  Beamten  die  Wahrheit  der  angeführten 
Angaben  sicherstellen  zu  lassen  und  durch  eine  strenge 
Bestrafung  der  Schuldigen  eine  Wiederholung  ähnlicher 
trauriger  Fälle  hintanzuhalten?"  Solcher  Fälle  gibt  es 
viel.  Wie  weit  diese  Dinge  im  sogenannten  Deutsch- 
böhmen gekommen  sind,  darüber  gibt  uns  ein  Bild 
der  Bericht  des  „Prager  Tagblat"  vom  10.  November 
1902.  Das  Blatt  berichtet  folgendes: 

Protestversammlungen    gegen    die    Ernen- 
nung   czechischer    Beamten    für    Deutsch- 
böhmen. 

Leitmeritz,  9.  November.  (Priv.)  Gestern  fanden 
hier  die  Protestversammlungen  gegen  die  Ernennung 
czechischer  Beamten  für  Deutschböhmen  statt,  zu 
denen  die  Ernennung  eines  czechischen  Staatsan- 
waltes für  Leitmeritz  den  unmittelbaren  Anstoss  ge- 
geben hatte.  Die  Delegirtenversammlung  fand  in  der 
Elbschlossbrauerei  statt  und  es  waren  hiezu  mehr  als 
400  Delegirte  der  Gemeinden  und  Bezirke  des  Leitme- 
ritzer  Kreisgerichtssprengels,  sowie  die  Abgeordneten 
Borjan,  Siegmund,  Tschan,  Wolf,  Dr.  Funke,  Unger- 
mann  und  Schreiter  erschienen.  Abg.  Dr.  Funke  be- 
grüsste  die  Versammlung  namens  der  deutschen  Stadt 
Leitmeritz,  besprach  die  Stellung  der  Deutschen  in 
Böhmen  und  wies  auf  die  Umtriebe  der  Czechen  hin, 
die  unter  dem  Vorgeben  der  Gleichberechtigung  die 
rücksichtsloseste  Alleinherrschaft  im  Lande  anstreben. 
Die  Czechen  kommen  in  unsere  Gaue,  und  die  öster- 
reichischen Regierungen  schicken  fortwährend  cze- 
chische  Beamte  in  deutsche  Gegenden,  ohne  zu  be- 
rücksichtigen, dass  wir  Deutsche  aufs  tiefste  geschädigt 
werden.    Wir  wollen,  fuhr  Dr.  Funke  fort,  diesen  Zu- 


198 


stand  nicht  mehr  länger  dulden,  umsoweniger,  als 
unsere  Söhne  dadurch  von  der  Beamtenschaft  aus- 
geschlossen werden.  Auch  in  Wien  nehmen  die  Slaven 
die  ersten  und  besten  Stellen  ein.  Die  erbitterte  Stim- 
mung gegen  diese  Bevorzugung  czechischer  Beamten 
lebt  in  uns  schon  lange  und  die  Ernennung  des  cze- 
chischen  Staatsanwaltes  ohne  Konkursausschreibung 
für  Leitmeritz  hat  sie  nur  zum  Ausbruche  gebracht. 
Wir  werden  einig  und  geschlossen  vorgehen  und  mit 
Kraft  und  Entschiedenheit  anstreben,  dass  das  deutsche 
Volk  nicht  weiter  geschädigt  werde.  Bürgermeister 
Sanitätsrath  Dr.  Müller  (Teplitz-Schönau)  stimmt  dem 
Vorredner  zu  und  bemerkt,  dass  auch  in  die  deutsche 
Stadt  Teplitz  immer  Gzechen  gesendet  werden.  In 
gleicher  Weise  äusserte  sich  Bürgermeister  Dr.  Ohn- 
sorg  (Aussig),  Dr.  Spiegelbauer  (Bodenbach),  Deleg. 
Gärtner  (Tetschen)  und  Bürgermeister  Dr.  Kolb.  Herr 
Julius  Lippert  als  Vertreter  des  Bezirksausschusses 
Aussig  führte  aus,  dass  es  in  dieser  Beziehung  in  der 
Schweiz  besser  stehe  als  bei  uns  und  zwar  deshalb, 
weil  sich  die  Kantone  ihre  Beamten  selbst  ernennen; 
deshalb  arbeiten  auch  viele  von  den  Parteien  auf  die 
vollste  Trennung  der  Verwaltung  des  Landes  hin.  Die 
Regierung  könne  das  heute  schon  sehen,  aber  sie 
wolle  zeigen,  dass  die  Gzechen  im  ganzen  Lande 
herrschen.  Es  sei  sicherlich  möglich,  dass  die  Regie- 
rung eine  deutsche  Beamtenschaft  erhalte,  aber  diese 
müsse  wissen,  dass  sie  ihr  Fortkommen  findet.  So 
lange  aber  unsere  Jugend  dies  nicht  sehe,  wende  sie 
sich  der  Industrie  zu,  wo  die  Gzechen  nicht  fortkommen 
können.  Wir  hatten  früher  ein  allzu  festes  Vertrauen 
auf  die  Verfassung,  allein  diese  schützt  unsere  Nation 
nicht.  Redner  besprach  die  Gemeindewahlen  in  Pilsen 
und  wies  nach,  dass  die  Beamten  die  Gemeinde- 
Autonomie  ernstlich  gefährden  können ;  sie  beinflussen 
aber  auch  die  nationalen  Verhältnisse.  Ein  czechischer 
Kreisgerichtspräsident  in  einer  deutschen  Stadt  sei 
allein  schon  eine  Agitationssäule;  er  brauche  nicht 
die  Hand  zu  rühren  und  leite  deshalb  doch  die  Agi- 
tation. Bürgermeister  Langer  beantragt  dann  die  fol- 
gende Resolution:  „Die  Versammlung  von  400  Ver- 
tretern der  deutschen    Bezirke    und   Gemeinden    des 


199 


Leitmeritzer  Kreisgerichtssprengels  in  Leitmeritz  am 
9.  November  1902  erhebt  entschieden  Einspruch  gegen 
die  ohne  Konkursausschreibung  erfolgte  Ernennung 
eines  der  czechischen  Nationalität  angehörigen  Beamten 
zum  Staatsanwälte  bei  dem  k.  k.  Kreisgerichte  in  Leitme- 
ritz und  erblickt  in  dieser  Besetzung  eine  Fortsetzung 
der  von  den  jeweiligen  Regierungen  seit  einer  langen 
Reihe  von  Jahren  bereits  beobachteten  Haltung,  die 
Beamtenstellen  in  sämmtlichen  Verwaltungszweigen 
der  deutschen  Bezirke  Böhmens  vorzugsweise  mit 
Beamten  czechischer  Nationalität  zu  besetzen.  Gegen 
diesen  Vorgang,  durch  welchen  das  deutsche  Volk 
in  Böhmen  zu  seinen  wohlerworbenen  Rechten  und 
die  deutschen  Beamten  in  ihren  begründeten  Ansprüchen 
auf  das  Schwerste  geschädigt  werden,  legt  die  heu- 
tige Versammlung  deutscher  Bezirks-  und  Gemeinde- 
vertreter die  entschiedenste  Verwahrung  ein  und  er- 
wartet von  der  Regierung  mit  aller  Bestimmtheit,  dass 
den  überwiegend  deutschen  Bezirken  des  Leitmeritzer 
Kreisgerichtssprengels  und  der  gesammten  deutschen 
Bevölkerung  in  Böhmen  bei  Besetzung  von  Beamten- 
stellen in  allen  Verwaltungszweigen  jene  Berücksich- 
tigung zu  Theil  werde,  auf  welche  die  Deutschen 
durch  die  Ernennung  von  Beamten  deutscher  Nationa- 
lität vollen  und  berechtigten  Anspruch  haben." 

Es  sprachen  dann  die  Abg.  Schreiter,  Dr.  Tschan, 
der  zur  Resolution  folgenden  Zusatz  beantragte :  „Die 
heutige  Versammlung  fordert  die  staatsgrundgesetz- 
liche  Feststellung  der  deutschen  Sprache  als  Staats- 
sprache, weil  diese  das  einzige  Mittel  ist,  den  unse- 
ligen Nationalitätenstreit  zu  beseitigen  und  dem  Staate 
eine  dauernde  Grundlage  zu  geben.  Weiter  fordert 
sie  von  ihren  Abgeordneten,  dass  sie  allen  nationalen 
und  wirthschaftlichen  Forderungen  der  Tschechen, 
die  nur  auf  Kosten  der  Deutschen  in  Böhmen  er- 
folgen können,  mit  aller  Kraft  entgegentretend  Nach- 
dem noch  Abg.  Wolf  gesprochen  hatte,  erfolgte  die 
einhellige  Annahme  der  Resolution  und  des  Zusatz- 
antrages. —  Nachmittag  um  3  Uhr  fand  dann  die 
Protestversammlung  unter  freiem  Himmel  auf  dem 
Marktplatze  statt.  Zu  dieser  hatte  sich  eine  ungeheure 
Menschenmenge  eingefunden;    die  untere  Hälfte    des 


200 


Stadtplatzes  vor  dem  Stadthause  war  voll  besetzt, 
es  waren  weit  über  10.000  Menschen  anwesend.  Die 
Tribüne  war  vor  dem  Stadthause  errichtet.  Dr.  Funke 
erklärte  in  seiner  Eröffnungsrede,  der  heutige  Tag  sei 
ein  Errinnerungstag;  vor  43  Jahren,  am  9.  November 
1869,  wurde  auf  dem  Stadtplatze  die  Schillerfeier  ab- 
gehalten. Die  43  Jahre  seither  seien  eine  Zeit  des 
Kampfes  für  unser  deutsches  Volk  gewesen,  die 
Deutschen  seien  nicht  zur  Ruhe  gekommen.  Wir 
mussten  uns  nicht  nur  gegen  den  Ansturm  unserer 
nationalen  Gegner  wenden,  sagte  Redner,  sondern 
auch  gegen  die  Ungunst  der  jeweiligen  Regierungen 
ankämpfen.  Ein  Jahrtausend  lang  wird  uns  dieses 
Land,  das  wir  bewohnen,  streitig  gemacht,  wir  haben 
uns  behauptet  und  wir  werden,  so  Gott  will  und 
solange  unsere  Kräfte  reichen,  auch  weiter  in  diesem 
Lande  für  alle  Zeiten  für  unser  gutes  deutsches  Recht 
kämpfen,  nur  muss  auch  Jeder  seine  Pflicht  voll  und 
ganz  erfüllen.  Die  Regierung  hat  unsere  deutschen 
Gaue  mit  tschechischen  Beamten  geradezu  überfüllt 
und  durch  die  Ernennung  eines  tschechischen  Staats- 
anwaltes für  Leitmeritz  die  Erregung  im  deutschen 
Volke  aufs  Höchste  gesteigert.  Wir  haben  ein  Recht 
darauf,  dass  die  Beamten  des  Staates  unsere  Sprache 
verstehen,  dass  sie  die  Volksseele  kennen,  dass  es 
unseren  Söhnen  möglich  sei,  Beamtenstellen  in  diesem 
Lande  zu  erlangen.  Die  Verbitterung  im  deutschen 
Volke  ist  gross,  es  ist  keine  künstliche  Bewegung 
und  wir  werden  diese  Zustände  nicht  mehr  dulden* 
Wir  verlangen  keine  Gunst,  wir  verlangen  unser  gutes 
deutsches  Recht.  Weiteres  sprachen  die  Abg.  Schreiter 
und  Wolf,  worauf  folgende  Entschliessung  ange- 
nommen wurde:  „Die  am  9.  November  1902  unter 
freiem  Himmel  am  Stadtplatze  zu  Leitmeritz  tagende 
Volksversammlung,  die  von  Tausenden  Theilnehmern 
aus  allen  deutschen  Bezirken  des  Leitmeritzer  Kreis- 
gerichtssprengels  besucht  ist,  erblickt  in  der  ohne 
Konkursausschreibung  erfolgten  Ernennung  eines  der 
tschechischen  Nationalität  angehörigen  Staatsanwaltes 
für  diesen  überwiegend  deutschen  Kreisgerichtssprengel 
nicht  nur  eine  Hintansetzung  des  deutschen  Beamten- 
standes, sondern  auch  eine  arge  Verletzung  des  natio- 


201 


nalen  Gefühles  der  deutschen  Bewohner  dieses  Ge- 
richtssprengels  Die  Volksversammlung  erkennt  in  der 
systematisch  von  der  Regierung  betriebenden  Tsche- 
chisirung  des  Beamtenstandes  im  deutschen  Sprach- 
gebiete eine  schwere  Bedrohung  des  Deutschthums 
in  Böhmen  und  eine  Verhöhnung  des  deutschen 
Volkes  in  Oesterreich,  das  nicht  nur  die  Hauptstütze 
des  Reiches  bildet,  sondern  auch  den  übrigen  Natio- 
nen der  Monarchie  die  Kultur  vermittelt  hat.  Die 
Volksversammlung  spricht  aus  diesem  Grunde  der 
Regierung  die  schärfste  Missbilligung  aus,  und  fordert 
von  ihr,  dass  sie  für  künftighin  bei  allen  Gerichten 
und  Verwaltungsbehörden  der  deutschen  Bezirke  des 
Kronlandes  Böhmen  nur  deutsche  Beamte  und  Diener 
anstelle  und  tschechische  Beamten  allmälig  entferne; 
insbesondere  fordert  die  Versammlung  die  ungesäumte 
Versetzung  des  für  den  Leitmeritzer  Kreisgerichts- 
sprengel neuernannten  Staatsanwaltes.  Die  Versamm- 
lung bezeichnet  die  Aufstellung  eines  eigenen  Beam- 
tenstatus für  Deutschböhmen  als  eine  unbedingte 
Notwendigkeit  zur  Heranziehung  von  deutschen  Be- 
amten. Die  heutige  Versammlung  erwartet  von  den 
deutschen  Abgeordneten  aller  Parteien,  dass  sie  einig 
zusammenstehen  in  der  rücksichtslosen  Wahrung 
aller  nationalen  Rechte  des  deutschen  Volkes  und 
dass  sie,  wenn  nöthig,  auch  zu  den  schärfsten  parla- 
mentarischen Mitteln  greifen,  um  dem  deutschen 
Volkswillen  endlich  Geltung  zu  verschaffen." 

Alle  hier  vorgebrachten  Reden  beruhen  keines- 
falls auf  objektiver  Wahrheit,  im  Gegentheil,  das 
wissen  diese  Redner  sehr  genau,  aber  gehetzt  muss 
werden,  das  ist  die  Hauptsache.  Dr.  Funke  weiss 
sehr  genau,  dass  in  Wien  bei  den  Ministerien  und 
Gentralstellen  kein  einziger  hoher  Staatswürdenträger 
böhmischer  Nationalität  ist,  aber  das  geniert  ihn  ganz 
und  gar  nicht  das  Gegentheil  zu  behaupten.  So  wird 
die  Brandfackel  des  wildesten  nationalen  Hasses  in 
das  Volk  hineingetragen,  das  Ende  davon  wird  in 
absehbarer  Zukunft  eine  furchtbare  Revolution  sein. 
Das  beweisen  die  Hussitenkriege  und  der  30jährige 
Krieg.  Wer  Wind  säet,  muss  Sturm  ernten.  Wehe 
aber    den    Regierungsorganen,    die    derartige    wüste 


202 


Orgien  des  Nationalhasses  zulassen,  ja  mehr  noch, 
heimlich  diese  fördern  in  ihrer  eigener  Kurzsichtig- 
keit. Oesterreichs  innere  Feinde  sind  gefährlicher  und 
furchtbarer  als  die  preussischen  Regimenter.  Staats- 
anwalt Low,  der  im  September  1902  nach  Leitmeritz 
versetzt  wurde,  ist  überhaupt  nicht  böhmischer  Na- 
tionalität, sondern  eher  hebräischer  Abkunft.  Er  gieng 
bei  seinem  Amtsantritt  allen  Notabein  in  der 
Stadt  sich  vorstellen,  darunter  auch  dem  Dr.  Funke 
selbst,  der  ihn  freundlichst  empfieng.  Staatsanwalt 
LöW,  wenn  er  in  der  Amtslokalität  von  Jemandem 
böhmisch  begrüsst  wird,  dankt  konsequent  deutsch! 
Und  seinetwegen  veranstaltete  Dr.  Funke  den  Protest- 
tag in  Leitmeritz  am  9.  November*  Ja,  wenn  man  den 
Hund  prügeln  will,  findet  man  den  Stock.  Die  Herren 
a  la  Dr.  Funke  brauchen  den  Nationalitätenhader 
seinetwillen  selbst,  er  ist  ihr  Erwerb,  ihr  Brod. 

X.  Die  Sprachenfrage  und  die  Anträge  Dr.  Koerbers 
im  Abgeordnetenhause. 

Wie  wir  schon  angeführt  haben,  hat  Minister- 
präsident Dr.  Koerber  Mitte  Oktober  1902  ein  Spra- 
chengesetz dem  österreichischen  Abgeordnetenhause 
unterbreitet.  Ueber  Antrag  des  Dr.  Kramäf  wurde  im 
Abgeordnetenhause  am  6.  November  eine  Debatte 
über  die  Sprachgesetzentwurfe  Dr.  Koerbers  eröffnet. 

Der  Abgeordnete  Biankini  schilderte  die  furcht- 
baren Zustände  im  Süden  der  Monarchie.  Er  sagte 
nach  dem  stenogr.  Protokoll  folgendes :  Hohes  Haus ! 
Seine  Excellenz  der  Herr  Ministerpräsident  hat  in 
seiner  programmatischen  Rede  am  16.  Oktober  über 
die  Regelung  der  Sprachenfrage  —  vielleicht  nach 
dem  bekannten  römischen  Grundsatz:  De  minimis 
non  curat  praetor!  — -  vergessen,  dass  diese  Frage 
nicht  bloss  die  mit  so  viel  Unrecht,  Undankbarkeit 
und  Unvorsichtigkeit  gekränkte  und  misshandelte 
böhmische  Nation  beunruhigt,  sondern  auch  die  übri- 
gen slavischen  Völker,  insbesondere  die  Kroaten  und 
Slovenen  im  Süden  der  Monarchie.  Ja,  meine  Herren  ! 
Da  nun  einmal  diese  Frage  auf  die  Tagesordnung 
gesetzt  wurde,  so  haben  auch  alle  übrigen  Völker 
wenigstens    das    Recht   zu    erfahren,    was    der   Herr 


203 


Ministerpräsident  darüber  denkt  und  wie  er  ihren 
Rechtsansprüchen  genüge  leisten  will,  umsomehr,  als 
er  im  Juni  vorigen  Jahres  in  diesem  hohen  Hause 
die  feierliche  Erklärung  gab :  „Wir  werden  gegen  kein 
Volk  dieses  Reiches  regieren,  wir  wollen  Gerechtig- 
keit für  alle  Völker.  Darin  erblicken  wir  unsere  poli- 
tische Ehre,  die  wir  unbefleckt  erhalten  wollen." 
Durch  die  Begrenzung  der  Regelung  der  Sprachen- 
verhältnisse für  Böhmen  und  Mähren  allein  —  über 
die  berühmten  „Grundzüge"  für  diese  Regelung  will 
ich  heute  nicht  meritorisch  sprechen,  aber  ich  glaube 
mich  nicht  zu  irren,  wenn  ich  sage,  dass  mit  solchen 
tingerechten  und  unvernünftigen  Grundzügen,  der 
Abzugsmarsch  dieses  Ministeriums  schon  im  Zuge  ist 
—  hat  Seine  Excellenz  der  Herr  Ministerpräsident 
nicht  Gerechtigkeit  für  alle  Völker  geübt,  hat  nicht 
seiner  vorjährigen  Erklärung  entsprochen.  Gegen  einen 
solchen  Vorgang  müssen  wir  auf  das  entschiedenste 
Einspruch  erheben.  Insbesondere  müssen  wir,  Kroaten 
und  Slovenen,  dagegen  protestiren,  weil  die  Regelung 
der  Sprachenfrage  an  unseren  südlichen  Grenzen 
nicht  nur  eine  Frage  der  Gerechtigkeit,  der  Ruhe 
und  Ordnung  für  unsere  Heimat  ist,  sondern  auch 
eine  Frage  der  Sicherheit,  des  Friedens  und  Ansehens 
für  die  ganze  Monarchie.  Meine  Herren!  Die  gewalt- 
same und  ungerechte  Aufrechthaltung  der  italienischen 
Sprache  in  den  k.  k.  Aemtern  von  Triest  und  Istrien, 
und  die  infolge  dessen  antinationale  Regierungspolitik 
schafft  dortselbst  bereits  eine  derartige  Verwirrung, 
dass  jeder  Mensch  mit  Kummer  erfüllt  werden  muss, 
wenn  er  nur  ein  bisschen  patriotisch  fühlt  und  denkt. 
Das,  was  seit  einiger  Zeit  im  Süden  des  Reiches, 
infolge  der  ungerechten  Amtssprachverhältnisse  und 
der  Machinationen  des  benachbarten  Italiens,  im  Na- 
men der  italienischen  Sprache  und  Kultur  vorfällt, 
kann  man  absolut  nicht  länger  dulden,  und  es  ist 
die  letzte  Stunde,  hier  ohne  Rückhalt  darüber  zu 
sprechen.  Meine  Herreh!  In  keinem  Staate  der  Welt 
würde  eine  so  unverschämte  Agitation  erlaubt  sein, 
wie  man  sie  hier  von  Seite  Italiens  duldet.  (Abge- 
ordneter Klofäö:  Und  Preussens!)  Nicht  so  wie  von 
Seite  Italiens.  Es  scheint,  als  hätte  die  habsburgische 


204 


Monarchie  nicht  mehr  ihre  festgesetzten  Grenzen  im 
Süden;  es  scheint,  als  hätte  die  habsburgische  Mon- 
archie keine  Minister  und  keine  Beamten  mehr,  um 
ihre  Interessen  und  die  Interessen  der  grossen  slavi- 
schen  Majorität  ihrer  südlichen  Bevölkerung  zu  wahren ! 
Italienische  Senatoren,  wie  zum  Beispiel  Pasquale 
Villari,  kommen  zu  uns  und  inspiciren  die  Schulen 
des  Vereines  „Lega  Nazionale",  als  wären  sie  öster- 
reichische Schulinspektoren,  (Abgeordneter  Choc : 
Stehen  sie  unter  der  Inspektion  Italiens?)  Natürlich, 
ich  werde  darüber  später  noch  sprechen.  Irredenti- 
stische Agenten  jeder  Art  aus  dem  Nachbarstaate, 
irredentistische  und  Regierungszeitungen  erregen  die 
italienische  Partei  in  unseren  Ländern  und  reizen  sie 
gegen  die  Kroalen  und  Slovenen  auf,  welche  auch 
aus  dem  Dienste  und  Arbeitsstellen  aus  nationalem 
Hass  weggejagt  und  durch  Italiener  des  Königreiches 
ersetzt  werden;  solche  Italiener  organisiren,  dispo- 
niren  und  spielen  die  Herren  in  unserem  Heimatland, 
mit  einem  Worte  infolge  der  Indolenz  und  Blindheit 
der  österreichischen  Regierung  —  das  ist  noch  zu 
wenig  gesagt  —  und  ihrer  anlislavischen  Politik  im 
Süden  der  Monarchie  betrachten  sich  die  überseeischen 
Irredenten  in  Triest  und  Istrien  schon  als  wie  im 
eigenen  Hause  und  lauern  nur  auf  den  Moment,  in 
welchem  ihnen  die  reife  Frucht  in  den  Schoss  fällt. 
(Abgeordneter  Spinöiß:  Beim  Tode  Franz  Josephs 
sagen  sie!)  So  etwas  sagen  auch  die  Magyaren.  Die 
irredentistischen  Komites  in  Italien,  die  italienische 
Presse,  ja  sogar  viele  italienische  Staatsmänner  und 
Würdenträger  verkünden  dies  klipp  und  klar,  so  dass 
es  Jeder  einsehen  muss,  der  nicht  blind  und  taub  ist. 
Ich  will  hiefür  nur  einen  Beweis  anführen,  und  zwar 
einen  der  zuletzt  vorgefallenen.  Im  September  dieses 
Jahres  war  in  Neapel  eine  grosse,  jedoch  traurige 
Feierlichkeit.  Man  feierte  das  Andenken  des  bekannten 
italienischen  Radikalen  und  Irredentisten  Imbriani, 
der  im  Vorjahre  verstorben  war.  Abgeordnete,  Sena- 
toren, Staatsbeamte,  zahlreiche  Bürger  erschienen  bei 
dieser  Feier.  Die  Festrede  hielt  der  bekannte  italie- 
nische Gelehrte  Bovio.  Seine  Ausführungen  waren 
von  ausserordentlicher  Begeisterung  erfüllt.  Er  schloss 


205 


mit  einem  Appell  an  den  verstorbenen  Imbriani  und 
sagte,  als  ob  er  mit  dessen  Schatten  spräche:  „Was 
willst  Du,  Imbriani?"  „Ich  will  weder  das  Zwangs- 
domicil,  noch  Blei  mit  Hunger"  —  erwiderte  Imbriani 
durch  den  Mund  Bovio's  —  „Ich  stehe  am  Quarnero 
und  erwarte  die  Italiener!"  Bei  Erwähnung  des  Quar- 
nero entstand  unter  den  vielen  Anwesenden  ein  un- 
beschreiblicher Enthusiasmus,  und  stürmischer  App- 
laus begrüsste  den  Redner.  Meine  Herren!  Das  sind 
die  Fruchte  der  antislavischen  österreichischen  Politik 
im  Süden  der  Monarchie,  die  Früchte  jener  Politik, 
welche  der  Sprache  der  Kroaten  und  Slovenen  in 
Triest  und  Istrien  —  die  doch  die  Mehrheit  der  Be- 
völkerung ausmachen  —  keinerlei  Recht  in  den  kaiser- 
lichen königlichen  Aemtern  zuerkennt,  welche  sie  seit 
Decennien  mit  Gewalt  in  den  Aemtern  und  Schulen 
und  auch  —  horresco  referens  —  in  den  Kirchen 
entnationalisirt  und  zur  Sklaverei  erniedrigt!' Das  sind 
die  Früchte  einer  ungerechten  und  unsinnigen  Politik, 
welche  den  20.000  Slovenen  der  Stadt  Triest  nicht 
einmal  eine  Elementarschule  bewilligen  will.  (Abge- 
ordneter Ghoc:  Sowie  in  Wien!)  Jawohl!  Ebensowie 
in  Wien!  Das  sind  die  Früchte  einer  wahnsinnigen 
Politik,  welche  zuletzt  der  Diöcese  von  Triest  einen 
Bischof  aufgedrungen  hat,  welcher  mit  der  riesigen 
Mehrheit  der  Bevölkerung  nicht  verkehren  kann,  weil 
er  nicht  ein  Wort  slovenisch  oder  kroatisch  versteht. 
(Abgeordneter  Dr.  Verzegnassi:  Er  spricht  alle  Spra- 
chen, kroatisch,  slovenisch,  was  Sie  wollen!)  Das  ist 
nicht  wahr,  er  spricht  italienisch  und  deutsch.  (Ab- 
geordneter Lenassi:  Und  serbisch,  aber  nicht  kroa- 
tisch.) Ich  bitte,  Herr  Kollege,  die  kroatische  und 
serbische  Sprache  ist  eine  und  dieselbe. 

Und  diese  furchtbaren  Folgen  des  österreichi- 
schen Regierungssystems  an  der  Adria  beobachten 
wir,  meine  Herren,  in  noch  grösserem  Massstabe  seit 
mehr  als  einem  Jahre,  seitdem  Seine  Excellenz  der 
Herr  Ministerpräsident  v.  Koerber  das  Wort  sprach: 
„Wir  wollen  Gerechtfertigkeit  für  alle  Völker.  Darin 
erblicken  wir  unsere  politische  Ehre,  die  wir  unbe- 
flekt  erhalten  wollen."  Nun,  wie  zum  Hohne  erklärte 
er  uns  am  16.  Oktober  d.  J.  feierlich,    dass  er  nun- 


206 


mehr  zur  Regelung  der  Sprachenfrage  schreite,  wobei 
er  nur  an  Böhmen  und  Mähren  —  oder  richtiger  ge- 
sagt, nur  an  die  Deutschen  von  Böhmen  und  Mähren 
—  denkt,  die  südlichen  Ländern  vergessend,  wo  ein 
periculum  in  mora  alltäglich  vorhanden  ist,  wo  stünd- 
lich die  Ungerechtigkeit  der  österreichischen  Regie- 
rung offen  zutage  tritt,  und  wo  die  italienische  Pro- 
paganda mit  elementarer  Gewalt  immer  weiter  um 
sich  greift,  das  kroatische  und  slovenische  Element 
in  Triest  und  Istrien  vernichtend,  welchem  doch  in 
dieser  Monarchie  Schutz  und  Heil  versprochen  wurde» 
Aber  nur  versprochen.  Hohes  Haus!  Was  speciell 
Dalmatien  anbelangt,  fühlte  es  sich  bis  jetzt  ziemlich 
sicher  gegenüber  den  irredentistischen  Umtrieben, 
wenngleich  auch  dort  die  italienische  Amtssprache 
der  österreichischen  Behörden  grosse  Ungelegen- 
heiten,  Schaden  und  Ungerechtigkeiten  für  das  na- 
tionale Leben  der  Kroaten  zeitigte.  Und  doch,  wenn 
irgendwo,  so  ist  die  Lösung  der  Sprachenfrage  in 
Dalmatien  am  einfachsten  und  leichtesten,  weil  Dal- 
matien das  einzige  Land  in  Gisleithanien  ist,  in 
welchem  ein  einziges  Volk  lebt,  und  zwar  das  kroa- 
tische. Nach  der  letzten  amtlichen  Statistik  leben  in 
Dalmatien  565.329  Einwohner,  welche  kroatisch 
sprechen  und  nur  15.240  Einwohner,  welche  italie- 
nisch sprechen.  (Abgeordneter  Dr.  Klaiö:  Nur  ita- 
lienisch sprechen,  aber  keine  Italiener  sind!)  Ge- 
wiss! Der  dalmatinische  Landtag,  der  Landesaus- 
schuss,  die  Gemeinden  in  ganz  Dalmatien,  alle  auto- 
nomen Institute,  mit  Ausnahme  derer  von  der  Stadt 
Zadar  (Zara),  gebrauchen  die  kroatische  Amtssprache. 
Darum  fordern  schon  seit  zwanzig  Jahren  die  Ge- 
meinden Dalmatiens,  der  dalmatinische  Landtag  und 
das  ganze  Volk,  mit  Ausnahme  von  sehr  wenigen 
Renegaten,  die  Einführung  der  kroatischen  Sprache 
auch  in  den  öffentlichen  Regierungsämtern  (Abgeord- 
neter Skala :  Aber  das  wäre  zu  gerecht,  das  kann  die 
österreichische  Regierung  nicht!)  —  ja,  natürlich  — 
umsomehr,  als  kein  Gesetz  besteht,  welches  die  ita- 
lienische Amtssprache  in  Dalmatien  vorschreibt; 
umsomehr,  als  die  italienische  Sprache  in  Dalmatien 
ein  Ueberrest   der  venetiani sehen  Herrschaft  ist,  ein 


207 


Ueberrest  der  alten  Ungerechtigkeiten,  ein  grober 
Abusus.  Nur  für  das  Oberlandesgericht  Dalmatiens 
besteht  eine.  Verordnung  der  kaiserlichen  Hofkanzlei 
vom  Anfange  des  vorigen  Jahrhundertes,  welche  die 
italienische  Sprache  als  Amtsprache  vorschrieb.  Für 
alle  anderen  Aemter  in  Dalmatien  besteht  also  nicht 
einmal  eine  Verordnung,  nicht  ein  Blatt  Papier,  wie 
Seine  Excellenz  der  Herr  Ministerpräsident  die  Ver- 
ordnungen genannt  hat,  durch  welche  die  italienische 
Amtsprache  in  Dalmatien  berechtigt  wäre. 

Aber  es  besteht  doch  das  natürliche  und  natio- 
nale Recht  des  kroatischen  Volkes,  es  besteht  die 
eherne  Tafel  des  Artikels  XIX  St.-G.-G.  (Zustimmung), 
nach  welchem  allein  die  kroatische  Sprache  in  Aemtern 
Dalmatiens  walten  müsste.  Trotzdem,  meine  Herren, 
trotzdem,  dass  der  dalmatinische  Landtag  in  jeder 
Session  schon  seit  20  Jahren  die  kroatische  Amts- 
sprache fordert,  wird  ohne  gesetzliche  Grundlage, 
ohne  irgendwelche  Verordnung  die  italienische  Amts- 
sprache nicht  nur  weitergeführt,  es  wird  sogar  jetzt 
die  deutsche  als  Amtssprache  vielfach  in  Anwendung 
gebracht,  obwohl  keine  Deutschen  da  sind.  (Abge- 
ordneter Skala:  Noch  ein  grösserer  Galimathias !) 
Also  noch  eine  grössere  Ungerechtigkeit. 

Wo  könnte  in  der  civilisirtefc  Welt  so  etwas 
vorkommen,  in  einem  kroatischen  Lande  das  Singen 
von  kroatischen  Liedern  zu  verbieten?  (Zwischenruf: 
Ganz  unschuldige  Lieder?)  Jawohl,  ganz  unschuldige! 
Der  neue  Statthalter  von  Dalmatien  eröffnet  sich 
nicht  mit  einem  solchen  Vorgehen  den  Weg  zu  jenen 
glorreichen,  dem  kroatischen  Volke  nützlichen,  und 
mit  so  viel  Sehnsucht  von  uns  erwarteten  Thaten, 
die  uns  Seine  Excellenz  der  Herr  Ministerpräsident 
in  Aussicht  gestellt  hat.  Solche  Thaten  gereichen 
keinem  Statthalter  und  keiner  Regierung  zum  Ruhme ! 
(Das  ist  eine  Schande !)  Und  alles  das,  meine  Herren, 
geschieht  in  Oesterreich,  während  man  in  Italien 
öffentlich  und  in  Gegenwart  der  Regierungsorgane 
die  niederträchtigsten  Beleidigungen  gegen  das  kroa- 
tische Volk,  gegen  die  habsburgische  Monarchie  und 
sogar  gegen  die  erhabene  Person  unseres  Monarchen 
schleudert!   Und  alles   das   geschieht  in  Oesterreich, 


208 


während  in  Italien  der  Dichter  Gabriele  d'Annunzio 
sich  öffentlich  in  den  Zeitungen  entschuldigt,  dass 
er  nicht  bei  der  Inaugurationen  der  istrianischen 
Fahne  im  September  dieses  Jahres  in  Rom  anwesend 
sein  konnte  und  verspricht  eine  Ode  zu  verfassen 
und  sagt  (liest):  „E  la  staropa  della  mia  ode  sarä 
venduta  benefizio  della  Lega  Nazionala  irredentistia", 
das  heisst:  „Und  die  Auflage  meiner  Ode  soll  zu 
Gunsten  der  irredentistischen  Lega  Nazionale  ver- 
kauft werden."  Und  Alles  das  geschieht  in  Oester- 
reich,  während  aus  Italien  derselbe  Gabriele  d'Annun- 
zio  —  (Abgeordneter  Dr.  Bartoli:  Er  ist  ein  Dichter!) 
Ich  habe  schon  gesagt,  dass  er  ein  Dichter  ist,  aber 
das  entschuldigt  ihn  nicht  —  an  die  neue  Gesellschaft 
„Innominata",  welche  in  Triest  auch  im  September 
dieses  Jahres  gegründet  wurde  und  zu  welcher  die 
italienischen  Studenten  der  sogenannten  „Venezia 
Giulia"  gehören,  schreibt  (liest):  „La  vostra  vittoria 
finale  6  certa,  come  e  certo  che  il  Golosseo  di  Pola 
da  tutte  le  sue  bocche  di  pietra  ripete  di  continuo 
il  nome  di  Roma  al  mare  .  .  .",  was  deutsch  lautet: 
„Euer  endlicher  Sieg  ist  sicher,  sowie  es  sicher  ist, 
dass  das  Golosseum  von  Pola  aus  allen  seinen  stei- 
nernen Munden  immerwährend  wiederholt  den  Namen 
von  Rom  am  Meere  .  .  .  .u  (Abgeordnete  Dr.  Scheiche*: 
Das  ist  sehr  interessant!)  Sie  werden  noch  mehr 
Interessantes  hören !  Und  alles  das  geschieht  in  Oester- 
reich,  während  in  Italien  im  „Mattino",  welcher,  wie 
man  sagt,  vom  Minister  des  Aeussern  Prinetti  inspi- 
rirt  ist,  bedauert  wird  die  Unhöflichkeit  des  Wiener 
Hofes  und  —  das  sind  seine  eigenen  Worte  — 
„dell'Austria  birbatica":  das  heisst:  des  gaunerischen 
Oesterreichs.  (Abgeordneter  Verzegnassi :  Das  ist 
nicht  schlecht  gemeint:  Birbatica !)  Gewiss,  so  etwas 
werden  Sie  sich  nicht  gefallen  lassen.  Aber  Sie 
werden  noch  etwas  mehr  hören. 

Und  alles  das  geschieht  in  Oesterreich,  während 
in  Italien  die  Zeitung  „II  Don  Marzio"  Oesterreich 
den  Usurpator  des  Balkans  nennt  und  mit  den 
extremsten  Mitteln  droht.  Und  alles  das  geschieht  in 
Oesterreich,  während  in  Italien  „II  popolo  Romano", 
das  officielle  Italien  und  die  italienische  Bevölkerung 


209 


aufruft,  Geld  zu  sammeln  für  die  „Lega  Nazionale", 
um  das  Italienerthum  —  das  sind  seine  eigenen 
Worte  —  in  Dalmatien  lebendig  zu  erhalten.  Und 
alles  das  geschieht  in  Oesterreich,  während  in  Italien 
„La  Capitalea  schreibt,  man  muss  Dalmatien  für  Ita- 
lien durch  die  wirksamste  Propaganda  losmachen. 
Und  alles  das  geschieht  in  Oesterreich,  während  in 
Italien,  in  dem  Hofe  der  römischen  Universität  auch 
heute  noch  eine  Steintafel  zu  Ehren  Oberdanks  steht 
mit  einer  Inschrift,  welche  eine  blutige  Beleidigung 
unseres  Monarchen  ist,  und  den  Dichter  Carducci 
zum  Verfasser  hat. 

Und  Alles  das  geschieht  in  Oesterreich,  während 
in  Italien  ....  —  aber,  meine  Herren,  ich  würde 
nicht  so  bald  endigen,  wenn  ich  mich  noch  ausführ- 
licher mit  diesen  schändlichen  Vorkommnissen  be- 
fassen wollte.  Ich  sage  nur  soviel:  Die  Geduld  von 
uns  Kroaten  und  Slovenen  ist  erschöpft,  und  die 
Regierung  spielt  insbesondere  in  Dalmatien  ein  ge- 
fährliches Spiel.  Solchem  gefährlichen  Spiel  muss  die 
nächste  Landtagssession  in  Dalmatien  ein  Ende  machen, 
wenn  man  auch  zu  den  extremsten  Mitteln  greifen 
müsste.  Weil  wir  auf  das  tiefste  überzeugt  sind,  dass 
diesen  abnormalen  Zustand  an  der  adriatischen  Küste 
nur  die  ungerechte  Politik  der  Regierung  gegen  die 
Kroaten  und  Slovenen  und  gegen  ihre  Sprachenrechte 
geschaffen  hat  und  erhält,  und  dass  daher  die  öster- 
reichische Regierung  selbst  die  grösste  Stütze  des 
Irrcdentismus,  sowie  sie  auch  die  Ursache  aller 
unserer  Leiden  und  unseres  Unglückes  ist. 

Meine  Herren!  Es  ist  so  weit  gekommen,  dass 
es  für  uns  Kroaten  und  Slovenen  an  der  adriatischen 
Küste  keinen  Ausweg  mehr  gibt,  noch  Zeit  zu  ver- 
lieren. Entweder  muss  der  abnormale  Zustand  bald 
aufhören,  infolge  einer  radikalen  Aenderung  der  Re- 
gierungspolitik, oder  wir  müssen  andere  Mittel  und 
Wege  finden,  wenn  es  auch  die  verzweifeltesten  wären, 
um  unsere  nationale  Existenz  zu  reiten.  Der  sünd- 
hafte Quietismus  der  österreichischen  Regieruns  ist 
für  uns  schon  unerträglich  und  verhängnisvoll.  Meine 
Herren  1  Ich  muss  jetzt  schliessen.  Aber  angesichts 
aller   schweren   angeführten  Thatsachen  will  ich   bei 

14 


210 


dem  Schlüsse  einige  Anfragen  an  Seine  Excellenz 
den  Herrn  Ministerpräsidenten  richten«  Erachtet  es 
der  Herr  Ministerpräsident  nicht  als  höchst  zeit* 
gemäss,  die  Sprachenfrage  im  Süden  der  Monarchie 
zu  regeln?  Wer  verwehrt  ihm,  wenigstens  in  Dalma- 
tien,  sofort  die  kroatische  Amtssprache  einzuführen, 
wie  dies  der  Landtag  seit  mehreren  Jahren  verlangt? 
Wer  verwehrt  ihm,  dass  er  mit  energischer  Hand 
die  Einmischung  der  italienischen  Irredenta  in  innere 
Fragen  der  südlichen  Länder  abweise  und  mit  einer 
gerechten  Politik  einer  unverschämten  Agitation  ein 
Ende  mache,  einer  unverschämten  und  frechen  Agi- 
tation, die  selbst  unter  den  feindlichsten  Staaten  der 
Welt  nicht  erlaubt  würde,  geschweige  denn  in  Staaten, 
die  mit  einander  verbündet  sind?  Hohes  Haus!  Wahr- 
scheinlich wird  Seine  Excellenz  der  Herr  Minister- 
präsident —  ich  wünsche  mich  zu  irren  —  auf  diese 
Fragen  nicht  antworten,  ebensowenig  wie  Seine  Ex- 
cellenz der  Herr  Minister  des  Aeussern,  Graf  Golu- 
chowski,  der  nach  seinem  kolossalen  Triumphe  in 
der  Angelegenheit  des  San  Girolamoinstitutes  sich 
nun  mit  einem  neuen  Arischen  Lorbeerkranz  der  ita- 
lienischen Irredenta  an  den  Gestaden  des  adriatischen 
Meeres  schmücken  kann.  Diese  Fragen  werden  aber 
schon  heute  von  den  erbitterten  Kroaten  und  Slove- 
nen  an  der  Adria  mit  dem  verzweifelten  himmel- 
schreienden Ausrufe  beantwortet:  Wir  sind  verrathert 
in  diesem  Reiche !  Für  uns  gibt  es  hier  weder  Schutz 
noch  Gerechtigkeit!  Möge  dieser  verzweifelte  Ausruf 
wenigstens  bis  zu  den  Stufen  des  Thrones  gelangen, 
wo  wir  noch  einen  Rettungsanker  erblicken  wollen. 
Das  sind  wahrhaft  schauerhafte  Bilder  innerer  Zustände 
Oesterreichs. 

XI«   Der  Antrag  der  Deutschen   zur  Regelung   der 
Sprachenfrage  im  Königreich  Böhmen. 

Auf  das  Drängen  der  Koerberischen  Regierung- 
haben  am  4.  December  1902  die  Parteigruppen  des 
verfassungstreuen  Grossgrundbesitz,  der  deutschen 
Fortschrittspartei  und  der  deutschen  Volkspartei  ein 
umfangreiches  Elaborat  zur  Regelung  der  Sprachen- 
frage im  Königreich  Böhmen  veröffentlicht. 


211 


Gegen  diesen  Vorschlag  erhoben  entschiedenen 
Widerstand  die  Deutschnationalen,  die  Schönerianer 
und  die  Alldeutschen  der  Wolfpartei.  Aber  selbst 
Organe  derjenigen  Gruppen,  welche  den  Vorschlag 
unterschrieben,  nehmen  gegen  ihn  Stellung.  So  schreibt 
das  „Tiroler Tagblatt":  „Das  unter  langer  und  „müh- 
seliger" Arbeit  zu  Stande  gekommene  Elaborat  hat 
bei  den  grossen  deutschen  Parteien  eine  merklich, 
kühle  Zustimmung  erfahren,  ein  bedenkliches  Zeichen 
gegenüber  den  vorlauten  Hoffnungen,  die  man  auf 
dasselbe  setzte.  Dieser  vernichtende  Achtungserfolg 
darf  uns  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  wir  bedenken, 
dass  er  von  den  gemässigten  und  vorsichtigen  deut- 
schen Parteien  ausgegangen  ist  und  hauptsächlich 
der  Grossgrundbesitz  ihm  Gevatterschaft  gestanden  ist. 
Wir  sind  der  Meinung,  dass  es  viel  besser  wäre,  im 
Falle  neuerlich  in  nationalen  Fragen  wichtige  Ent- 
scheidungen gefällt  werden  sollen  —  und  an  solcher 
Gelegenheit  fehlt  es  in  Oesterreich,  dem  Eldorado 
des  Sprachenstreites,  ja  nie  —  wenn  von  radikaler 
Seite  ernste  und  beachtenswerthe,  den  Wünschen 
der  überwiegenden  Wählerschaft  entsprechende  Vor-» 
schlage  gemacht  werden  würden,  denn  zum  Ab- 
schwächen allzu  hochgespannter  Forderungen  käme 
der  Grossgrundbesitz  immer  noch  zu  rechter  Zeit  in 
Aktion.  Es  wird  aber  auch  die  nationale  Bewegung 
sicherlich  nichts  verlieren,  wenn  der  Grossgrundbesitz 
trotz  seines  klingenden  Namens  nicht  die  Führung 
übernehmen  würde,  er  hat  bis  heute  allen  jenen  völ- 
kischen Unternehmen  nur  einen  schimmernden  Auf- 
putz gegeben,  keineswegs  aber  denselben  das  herz- 
liche und  aufrichtige  Interesse  für  das  Volkswohl 
beigestellt  Wir  brauchen  weder  die  Rathschläge  eines 
Baernreither's,  noch  des  aristokratischen  Grafen 
Stürgkh,  noch  überhaupt  die  vornehme  Politik  eines 
Grossgrundbesitzes,  der,  wenn  wir  auch  einigen  Ein- 
fluss  desselben  auf  das  Volk  nicht  leugnen,  doch 
nicht  dessen  Zuneigung  oder  gar  das  Verständnis 
für  die  Sache  desselben  besitzt.  Abgesehen  von  der 
nationalen  Schwäche  des  Elaborates  fällt  dem  auf- 
merksamen Leser  desselben  auch  seine  Undurchführ- 
barkeit  sofort  ins  Auge,  und  das  wäre  noch  das  Beste 

14* 


212 

daran.  Der  voluminöse  Komplex  von  Forderungen, 
denen  jeder  klare  Gedanke  fehlt,  müsste  erst  durch 
Gesetze  geregelt  werden,  die  endlose  Erörterungen 
voraussetzen  und  einen  ausgedehnten  Beamtenorga- 
nismus zur  Durchführung  beanspruchen,  um  selbst 
nach  einer  nothdürftig  erreichten  Einigkeit  den  Staat 
in  noch  grössere  nationale  Wirren  zu  stossen.  Ein 
Blatt  Papier  will  das  Schicksal  der  Deutschen  in 
Böhmen  bestimmen,  das  Blatt  aber  wird  eher  ver- 
gilben, als  dass  die  Deutschen  Böhmens  seinem  Rathe 
folgen.  Sie  werden  das  Papier  in  der  Hand  zer- 
drücken und  selbst  ihre  Stimme  erheben,  umso  lauter 
und  eindringlicher,  damit  ihren  richtigen  Klang  und 
Inhalt  selbst  die  Herren  am  grünen  Tische  nicht  mehr 
missdeuten  werden  können. u 

Die  Koerber'sche  Regierung  möchte  mit  aller 
Gewalt  den  Sprachenstreit  lösen,  allerdings  zu  Gunsten 
der  Deutschnationalen.  Die  slavischen  Völker  werden 
jedoch  derartigen  Vorschlügen  niemals  zustimmen, 
sie  rufen  nach  Wien :  gibt  uns  unser  Recht,  gibt  uns 
die  Gleichberechtigung,  die  uns  nach  sichtlichem  und 
göttlichem  Rechte  auch  gehört. 

Ein  Pressjude  schrieb  über  diesen  Antrag  der 
Deutschen  in  ein  reichs deutsches  Blatt  von  Wien 
aus  am  2.  December  1902  folgendes :  Wäre  alle 
Arbeitskraft  und  geistige  Anstrengung,  die  seit  Jahren 
an  den  unfruchtbaren  Sprachenstreit  in  Böhmen  ver- 
schwendet wird,  für  echte  Volksgüter  verwendet  worden, 
so  hätten  die  Völker  Oesterreichs  schon  ein  ganz 
hübsches  Kapital  zurückgelegt.  Jetzt  wird  aufs  neue 
an  Verständigungsformeln  gearbeitet,  und  in  erster 
Linie  ist  wieder  dem  unermüdlich  thätigen  Abgeordneten 
Dr.  Baernreither  die  Aufgabe  zugefallen,  die  Grund- 
lagen für  die  Berathung  zu  schaffen.  Sein  Entwurf 
wurde  von  einem  Komitee  deutschböhmischer  Abge- 
ordneten durchberathen,  fertiggestellt  und  wird  heute 
den  verbündeten  deutschen  Klubs  zugchen,  um  wahr- 
scheinlich morgen  bereits  der  Regierung  und  den 
Tschechen  zur  weiteren  Behandlung  übergeben  zu 
werden.  Immer  wieder  muss  man  hervorheben,  dass 
der  Grundstein  zur  gesetzgeberischen  Arbeit,  auch  in 
der  Sprachenfrage,  nur  von  den  Deutschen  gelegt  wird. 


213 


Die  Tschechen  geben  sich  nie  die  Mühe,  eine  brauch- 
bare Unterlage  zu  schaffen,  sondern  treten  einfach 
mit  ihren  nationalen  Forderungen  hervor,  ohne  den 
Versuch  einer  Lösung  der  schwebenden  Fragen  zu 
machen.  Dagegen  haben  die  Deutschen  bereits  in  dem 
Pfingstprogramm  von  1899  eine  werthvolle  Arbeit  ge- 
liefert, und  auch  jetzt  wieder  geht  von  ihnen  ein 
Gesammtvorschlag  aus.  Es  ist  dieselbe  Geschichte  wie 
bei  den  Verfassungsentwürfen  des  Kremsierer  Reichs- 
tags 1849,  wie  bei  der  Feststellung  der  jetzt  geltenden 
Verfassung  von  1867  und  wie  bei  jedem  der  Grund- 
sätze, welche  in  den  letzten  50  Jahren  die  Zustim- 
mung des  Parlamentes  und  zuletzt  auch  die  der 
Krone  erhalten  haben.  So  laut  die  Slaven  auch  lärmen, 
wenn  es  sich  um  die  Geltendmachung  nationaler  An- 
sprüche handelt,  sind  es  doch  immer  wieder  die 
Deutschen,  welche  das  beste  Stück  staatlicher  Arbeit 
in  Oesterreich  verrichten.  Man  hat  für  das  jetzige 
Verständigungsprogramm  zu  den  gediegenen  Vorar- 
beiten Pleners  über  die  nationale  Abgrenzung  in 
Böhmen  und  über  eine  daselbst  zu  schaffende  Kreis- 
einlheilung  zurückgreifen  müssen,  und  Baernreither  ist 
bestrebt  gewesen,  diese  Vorschläge  nur  in  die  für  den 
jetzigen  Augenblick  zeitgerechte  Form  zu  giessen.  Wie 
nun  werden  die  Tschechen  diese  Vorschläge  auf- 
nehmen? Man  ist  allgemein  der  Ansicht,  dass  sie 
dieselben  nicht  von  der  Schwelle  zurückweisen,  sondern 
als  Grundlage  der  Verhandlungen  akceptiren  dürften. 
Eigentlich  handeln  sie  darin  sehr  inkonsequent,  da 
die  Deutschen  gewiss  mehr  fordern  werden,  als  Hr. 
v.  Körber  in  den  bekannten  Grundzügen  vorgeschlagen 
hat.  lieber  die  letzteren  ergoss  sich  eine  ganze  Fluth 
des  Hohnes  seitens  der  tschechischen  Wortführer 
Herold,  Kramaf  und  Fort,  während  sie  sich  ver- 
muthlich  dazu  herbeilassen  werden,  die  Anträge 
der  Deutschen  zu  prüfen.  Sie  haben,  um  bei  ihren 
Landsleuten  populär  zu  bleiben,  zuerst  der  Göttin 
des  Streites  eine  Hekatombe  dargebracht,  jetzt  aber 
werden  sie  hoffentlich  einlenken,  weil  die  Unfrucht- 
barkeit ihrer  Politik  sonst  offen  zutage  läge.  Im  besten 
Falle  werden  die  Verhandlungen  eine  Basis  ergeben, 
auf  der  im  Reichsrath  und  in   der  nächsten    Session 


214 


des  böhmischen  Landtages  durch  Lösung  der  Auf- 
gaben, die  nach  der  Reichsverfassung  diesen  beiden 
Körperschaften  zustehen,  allgemach  weitergebaut 
werden  kann.  Muss  es,  der  Natur  der  Sache 
nach,  doch  Monate  dauern,  bis  der  böhmische  Land- 
tag seine  verfassungsmässig  erforderlichen  Gutachten 
über  die  Abgrenzung  der  Gerichtsbezirke  erstattet  hat. 
Die  Kernfrage,  um  die  es  sich  jetzt  handelt,  ist  die, 
ob  während  dieser  langwierigen  und  nicht  gerade 
hoffnungsreichen  Arbeit  die  Obstruktion  ruhen  wird. 
Alles  andere  ist  Zukunftsmusik.  Gegenüber  der  Ver- 
wirrung, die  jetzt  in  Oesterreich  herrscht,  wäre  es 
schon  eine  Art  Rettung,  wenn  man  sechs  oder  auch 
nur  drei  Monate  Frist  erhielte,  um  einen  Zolltarif, 
wie  überhaupt  den  Ausgleich  mit  Ungarn  durchzu- 
berathen.  Man  ist  sehr  bescheiden  geworden,  und  Herr 
v.  Körber  würde  schon-  alles  Lob  ernten,  wenn  er 
durch  seine  zähe  Geduld  dieses  Ergebnis  erzielen  könnte. 

In  dieser  Tonart  wird  systematisch  in  der  Presse 
in  und  ausserhalb  Oesterreichs  gegen  das  böhmische 
Volk  und  seine  Vertreter  gearbeitet.  Dieser  Pressjude 
weiss  nicht,  dass  Franz  Palackf  im  Jahre  1848  ein 
genau  ausgearbeitetes  Elaborat  dem  nach  Wien  zum 
erstenmal  einberufenen  Reichsrath  unterbreitete,  in 
welcher  Weise  Oesterreich  regiert  werden  sollte.  Man 
hat  natürlich  von  Seite  der  Deutschen  wie  von  Seite 
der  Regierung  diese  Vorschläge  Palacky's  hochmütig 
ignoriert.  Und  das  geschieht  bis  heute. 

Die  Sache  ist  doch  begreiflich.  Wenn  die  Deut- 
schen fort  und  fort  sagen,  sie  müssen  die  Regierer 
Oesterreichs  sein,  dann  werden  sie  doch  nicht  eine 
Regierungsform  annehmen,  welche  von  slavischen  Ver- 
tretern ausgearbeitet  ist,  und  wäre  sie  noch  so  gerecht. 
Und  nun  sagt  der  schlaue  Pressjude,  die  Slaven  haben 
überhaupt  noch  kein  klares  Verfassungsprojekt  für 
Oesterreich  ausgearbeitet.  Es  soll  nur  dieser  Pressjude 
die  Archive  des  Parlaments  in  Wien  und  des  Land- 
tages in  Prag  ein  wenig  lüften,  er  müsste  so  alt 
werden  wie  Methusalem,  wollte  er  alle  Anträge  auf 
Regelung  der  Verfassung  in  Oesterreich,  die  von  sla- 
vischen Vertretern  verschiedenmale  der  Regierung  zur 
Verfügung  gestellt  worden  sind,  durchlesen. 


215 


Die  alldeutschen  Abgeordneten  haben  dem  Dr. 
Baernreither  folgenden  Speiszettel  verabreichen  lassen. 
„In  Erwiderung  Ihrer  geschätzten  Zuschrift  vom  28. 
d.  M.  kann  ich  mit  Beziehung  auf  die  neulich  ge- 
pflogene Rücksprache  nur  wiederholen,  dass  die  All- 
deutsche Vereinigung  unverrückt  den  Standpunkt  ein- 
nimmt, dass  mit  der  gesetzlichen  Festlegung  der 
deutschen  Sprache  als  Staatssprache,  die  sie  zur  Si- 
cherung der  führenden  Stellung  unseres  Volkes  in 
Oesterreich  und  zur  Wahrung  des  deutschen  Charak- 
ters unseres  Staates  fordert,  die  Einführung  einer  in- 
neren tschechischen  Amtssprache  im  direkten  Wieder- 
spruche steht  und  unter  keiner  Bedingung  zuzugeben 
sei.  Die  der  Alldeutschen  Vereinigung  angehörigen 
Abgeordneten  aus  Böhmen  können  und  werden  daher 
ebensowenig  wie  die  Vereinigung  an  Besprechungen 
theilnehmen,  die  den  Zweck  verfolgen,  trotzdem  Bedin- 
gungen zu  vereinbaren,  unter  denen  die  innere  tsche- 
chische Amtssprache  zuzugestehen  wäre."  Das  „Prager 
Tagblatt"  brachte  folgende  Nachrichten  über  alldeut- 
sche Protestversammlungen.  Fischern  bei  Karlsbad, 
13.  December.  Im  Hotel  „Adler*  fand  heute  Abend 
eine  vom  „Alldeutschen  Verein  für  die  Ostmark"  ver- 
anstaltete, von  ca.  250  Personen  besuchte,  nur  auf 
Mitglieder  und  geladene  Gäste  beschränkte  Wander- 
versammlung statt,  in  welcher  die  Abgeordneten 
Schönerer,  Hauck,  Hofer,  Iro,  Kliemann,  Schalk  und 
Stein  sprechen  sollten.  Anwesend  waren  jedoch  nur 
die  Reichsrathsabgeordneten  Schönerer,  Stein  und 
Kliemann  und  Landtagsabgeordneter  Peters.  Letzterer 
eröffnete  die  Versammlung  underlheilte  sofort  Schö+ 
nerer  das  Wort.  Dieser,  mit  Heilrufen  begrüsst,  ent- 
schuldigte vorerst  die  durch  Unwohlsein  verhinderten 
Abg.  Schalk,  Berger,  Hauck  und  Iro.  Redner  kam  nun 
zu  seinem  Programms punkt:  „Die  Sprachenfrage  und 
die  Verständigungskonferenzen"  zu  sprechen  und  be- 
zeichnete die  neuen  Vorschläge  als  „eine  unfeierliche 
Einsegnung  der  deutschen  Staatssprache  durch  die 
nächsten  Verwandten  derselben".  Dies  sei  ein  offener 
Verrath  des  deutschen  Volkes.  Redner  streifte  das 
Pfingstprogramm,  verwarf  hauptsächlich  die  innere 
czechische  Amtssprache,  und  unterzog  die  projektirte 


216 


Kreiseintheilung  einer  Kritik.  Redner  nahm  für  sich 
das  Verdienst  in  Anspruch,  das  deutsche  Volk  recht- 
zeitig vor  einem  so  bedeutsamen  Schritte  gewarnt  zu 
haben  und  bezeichnete  es  als  eine  Frechheit,  dass 
man  sich  erlaube,  als  „deutsch-böhmische  Abgeordnete* 
den  Czechen  die  Annahme  der  Sprachenverordnungen 
zu  unterbreiten.  Er  verwahrte  sich  ferner  dagegen» 
dass  die  Abg.  Schücker,  Siegmund,  Funke  u.  s.  w. 
„im  Namen  der  deutsch-böhmischen  Abgeordneten* 
sprechen.  Nach  l'/4stündiger  Rede  schloss  Schönerer 
mit  dem  Dank  an  die  Anwesenden.  Nach  einer  kleinen 
Pause  besprach  Abg.  Kliemann  ebenfalls  die  Sprachen- 
frage und  kam  auf  die  Verhältnisse  seit  1848  zu  spre- 
chen. Im  Weiteren  beleuchtet  Redner  die  neuesten 
Vereinbarungen  der  Sprachenfrage,  insbesondere  die 
Kreiseintheilung,  die  zukünftigen  Schul-  und  Lehrer- 
verhältnisse. Die  Ansicht  des  ungarischen  Landesver- 
theidigungsministers  über  unsere  deutsche  Staats- 
sprache sei  eine  weit  freundlichere  als  die  unseres 
Ministerpräsidenten  Körber.  Redner  stellt  zwei  For- 
derungen: Feststellung  der  deutschen  Staatssprache 
und  Errichtung  eines  alldeutschen  Staatengebildes» 
Die  Sprachenfrage  könne  nicht  durch  Konferenzen» 
sondern  müsse  durch  Blut  und  Eisen  gelöst  werden  l 
(Also  preussiche  Regimenter  werden  den  Sprachen- 
streit lösen  oder  etwa  eine  Revolution?)  Abg.  Stein 
griff  verschiedene  Abgeordnete  und  Mitglieder  der 
Deutschen  Fortschrittspartei  und  der  Deutschen  Volks- 
partei in  scharfer  Weise  an  und  citirte  deren  frühere 
Aussprüche  über  die  Sprachenfrage  und  ihre  heutige 
Stellung  zu  derselben.  In  ausführlicher  Weise  ver- 
breitet sich  Redner  über  den  Ausgleich  mit  Ungarn 
und  die  Bezeichnung  „alldeutsch".  Hierauf  erhielt 
Stadtrath  Russ  aus  Fischern  das  Wort  und  bean- 
tragte die  Annahme  einer  Entschliessung,  in  der  den 
Alldeutschen  vollstes  Vertrauen  und  die  Zuslimmung 
ausgesprochen  wird.  Die  Entschliessung  gelangt  — 
nachdem  einige  Anwesende  Wolfscher  Richtung  da- 
gegen protestirt  hatten  —  zur  Annahme.  —  Hierauf 
sprach  Stadtrath  Russ  über  die  am  Donnerstag  im 
Residenz-Hotel  in  Karlsbad  stattgefundene  „ Frei-all- 
deutsche Vertrauensmänner-  Versammlung",  in  welcher 


217 


die  bereits  bekannte  Erschliessung  gegen  den  Abg. 
Franz  Stein  (V.  Kurie)  einstimmig  angenommen  worden 
war  und  ersucht  den  Abg.  Stein,  sein  Mandat  nicht 
zurückzulegen.  —  Hierauf  wurde  die  Versammlung 
geschlossen  und  unter  Absingung  der  „Schönerer- 
Hymne*  entfernten  sich  die  Theilnehmer.  Ueber  die 
gestrige  „Protestversammlung"  in  Eger  wird  uns  tele- 
graphirt:  Eger,  14.  December.  (Priv.)  Die  Protestver- 
sammlung Schönerers  gegen  die  Verständigungsvor- 
schläge war  von  höchstens  400  Personen  besucht, 
darunter  von  vielen  völkischen  Arbeitern  und  wenigen 
Bauern.  Die  Eintrittsberechtigung  wurde  sehr  strenge 
gehandhabt;  auch  dieWolfianer  hatten  keinen  Zutritt. 
Von  den  Abgeordneten  nahmen  Schönerer,  Iro,  Hofer 
und  Stein  an  der  Versammlung  Theil.  Abg.  Schöne- 
rer bezeichnete  das  Elaborat  der  Deutschen  als  ein 
bewusstes  Attentat  gegen  das  deutsche  Volksthum 
Oesterreichs  und  als  den  Anfang  des  czechischen 
Staatsrechtes.  Die  Abg.  Iro  und  Stein  sprachen  im 
ähnlichen  Sinne.  Es  wurde  einstimmig  eine  Resolu- 
tion angenommen  des  Inhaltes,  das  Verständigungs- 
operat  sei  zurückzuweisen,  bis  die  deutsche  Staats- 
sprache gesetzlich  festgelegt  sei.  Die  Versammlung 
verlief  ruhig  und  ohne  besondere  Begeisterung.  Dem 
Abg.  Schönerer  war  nichts  anzumerken,  dass  er  eine 
ernstere  Krankheit  durchgemacht  hatte. 

Wir  enthalten  uns  über  diese  Versammlungen 
eines  jeden  näheren  Gommentars.  Die  böhmischen 
Abgeordneten  veröffentlichten  ihre  Antwort  auf  die 
Vorschläge  Dr.  Baernreithers  am  18.  December  1902. 
Das  Elaborat  wurde  ausgearbeitet  vom  Abgeordneten 
Dr.  Kramaf. 

XII.  Die  Fundamentalartikel. 

Der  Pressjude  im  reichsdeutschen,  vom  preussi- 
schen  Gelde  gefütterten  Blatt,  behauptet,  dass  immer 
wieder  hervorgehoben  werden  muss,  dass  der  Grund- 
stein zur  gesetzgeberischen  Arbeit  auch  in  der 
Sprachenfrage  nur  von  den  Deutschen  gelegt  wird. 
Derartige  Presslügen  über  Oesterreichs  innere  Zu- 
stände sind  an  der  Tagesordnung.  Wie  es  sich  in 
Wirklichkeit  verhält,   wollen    wir   nur   einen    Beweis 


218 


liefern.  Als  nach  den  schweren  Niederlagen  im  Jahre 
1866  Oesterreich  blutete,  wollte  man  in  Wien  Oester- 
reichs  Völkern,  die  alle  für  das  Reich  bluteten,  glei- 
ches Recht  ausmessen.  Mit  dieser  Aufgabe  war  das 
Ministerium  Hohenwart  betraut.  Auch  in  Böhmen 
sollte  Ordnung  geschaffen  werden.  Der  Landtag  des 
Königreichs  Böhmen  reichte  dem  Kaiser  Anfangs 
Oktober  1871  eine  Adresse,  an  welche  Franz  Palack? 
seine  bekannten  Fundamentalartikel  angliederte.  In 
diesen  Fundamentalartikeln  hatte  Fr.  Palacfy  genaue 
Grundlagen  eines  gerechten  Sprachengesetzes  ausge- 
arbeitet. 

Eine  feierliche  Abordnung  des  böhmischen  Land- 
tages mit  Fürst  Georg  Lobkowicz  an  der  Spitze,  brachte 
die  Adresse  und  diese  Artikeln  nach  Wien  dem 
Mqnarchen. 

Aber  die  Fundamentalartikeln  erlangten  nie  Ge- 
setzeskraft. Seit  der  Niederlage  bei  Königgrätz  ist 
Oesterreich  nicht  mehr  Herr  im  eigenen  Hause,  es  wird 
von  Berlin  aus  stetig  einer  rücksichtslosen  Kontrolle 
unterworfen,  der  es  sich  fügen  muss.  Als  man  in 
Berlin  hörte,  Oesterreich  wolle  mit  seinen  slavischen 
Völkern,  deren  Söhne  zu  Tausenden  die  Schlacht- 
felder Nächods  und  Königgrätz  bedeckten,  Ordnung 
machen,  da  wurde  von  Berlin  aus  Verbot  eingelegt, 
und  das  Ministerium  Hohenwart  musste  weichen. 
Seit  dem  durfte  an  der  Vorherrschaft  der  Deutschen 
in  Oesterreich  nicht  gerüttelt  werden,  wie  die  Bade- 
nischen Sprachenverordnungen  und  ihre  baldige  er- 
zwungene Beseitigung  beweisen. 

Die  Abhängigkeit  Oesterreichs  von  Berlin  wird 
stetig  furchtbarer.  Anfangs  Januar  1903  schrieb  die 
Brüsseler  „L'Ind6pendance  Beige  "folgendes:  Es  be- 
steht ein  sehr  berechtigtes  Misstrauen  gegenüber  den 
Absichten  der  leitenden  Kreise  Berlins  und  der  per- 
sönlichen Politik  des  Kaisers,  die  nichtsweniger  als 
friedlich  ist,  trotz  aller  officiellen  Reden  und  aller 
beruhigenden  Erklärungen  des  Herrn  von  Bülow.  Es 
gibt  jenseits  des  Rheins  eine  beständige  Bewegung 
für  ein  grösseres  Deutschland,  wie  es  jenseits  des 
Kanals  eine  Bewegung  für  ein  grösseres  Britenreich 
gibt.   Ist  es  also  nicht  natürlich,    dass   die  anderen 


219 


Völker  misstrauisch  werden,  sich  beunruhigen  wegen 
dieses  Bestrebens,  die  Entwicklung  der  deutschen 
Macht  durch  Gewaltakte  zu  beschleunigen  ?  Was  man 
ferner  berücksichtigen  muss,  ist  "der  Umstand,  dass 
das  Berliner  Kabinet  seit  zehn  Jahren  bei  allen  inter- 
nationalen Vorfällen  eine  knickerig -selbstsüchtige 
Rolle  gespielt  hat.  Im  Orient  hat  es  die  anderen 
Eabinete  in  Stich  gelassen,  als  es  sah,  dass  die  Re- 
gelung der  kretischen  Frage  ihm  den  Verlust  der 
profitablen  Freundschaft  der  Türkei  bringen  konnte; 
im  äussersten  Osten  hat  es  für  den  Führer  seiner 
eigenen  militärischen  Expedition  das  Oberkommando 
über  alle  ausländischen  Truppen  gefordert,  weil  es 
hoffte,  die  anderen  Mächte  in  einen  Eroberungskrieg 
stürzen  zu  können,  anstatt  ihre  Intervention  auf  eine 
einfache  polizeiliche  Massnahme  zu  beschränken.  Im 
Laufe  des  südafrikanischen  Konflikts  hat  es  jeden 
Versuch  freundschaftlicher  Vermittlung  zum  Scheitern 
gebracht,  obwohl  eine  solche  die  Unabhängigkeit  dejr 
Republiken  vielleicht  noch  hätte  retten  können.  Beim 
Konflikt  mit  Venezuela  endlich  hat  es  sogleich  seine 
Zuflucht  zur  Gewalt  genommen,  ehe  es  alle  Mittel 
friedlicher  Auseinandersetzung  erschöpft  hatte.  Deutsch- 
land will  eine  Offensiv-Macht  sein;  kann  man  sich 
also  wundern,  wenn  es  von  anderen  bekämpft  wird  ? 
Offenbar  nicht,  und  wir  glauben  unsererseits,  dass 
die  gegenwärtige  deutsche  Aktion  höchst  gefährlich 
ist  und  eine  ständige  Bedrohung  für  die  Aufrechter- 
haltung des  Weltfriedens  begründet."  —  Hier  wird 
also  auch  in  aller  Form  der  Ueberzeugung  Ausdruck 
gegeben,  dass  die  Berliner  Aspirationen  die  eigent- 
liche Gefahr  für  den  Frieden  bilden,  und  diese  An- 
schauung ist  so  ziemlich  eine  allgemeine  und  sie 
vertieft  sich  umsomehr,  je  hartnäckiger  sie  von  Berlin 
aus  bestritten  wird. 

Als  der  russische  Minister  des  Aeussern  Graf 
Lamsdorff  Ende  Dezember  1902  Wien  aufsuchte,  um 
hier  eine  Vereinbarung  zu  treffen,  damit  der  grösste 
Mörder  dieses  Jahrhunderts  Abdul  Hamid  an  seiner 
Blutgier  und  dem  Morden  der  Makedonier  gehindert 
werde,  auch  da  wurde  man  in  Berlin  unruhig,  man 
fürchtet  eine  Verständigung  Oesterreichs  mit  Russ- 


220 

land  und  die  kann  man  in  Berlin  absolut  nicht 
brauchen.  Ein  Pressjude  hat  in  ein  reichsdeutsches 
Blatt,  das  vom  preussische  Gelde  gefüttert  wird,  von 
Wien  aus  folgende  Korrespondenz  geschrieben: 

Die  Bedeutung  der  Verhandlungen,  die  gestern 
und  heute  zwischen  dem  Grafen  Lamsdorflf  und  sei- 
nem austro-ungarischen  Kollegen,  dem  Grafen  Golu- 
chowski,  gepflogen  worden  sind  und  die  auch  morgen 
noch  fortgesetzt  werden  dürften,  erhellt  schon  aus 
dem  Umstände,  dass  der  neue  deutsche  Botschafter, 
Graf  Wedel,  seinen  Posten  absichtlich  früh  genug  an- 
getreten hat,  um  während  der  kritischen  Zeit  in  Wien 
anwesend  zu  sein,  und  dass  Marquis  de  Reverseaux, 
der  französische  Botschafter,  seine  Reise  nach  Frank- 
reich und  seine  Vermählung,  die  auf  die  letzten  Tage 
des  Jahres  angesetzt  war,  bis  zum  Januar  verschob. 
Wien  ist  nach  längerer  Zeit,  in  der  vorwiegend  Kolo- 
nialfragen, an  deren  Erledigung  Oesterreich-Ungarn 
wenig  oder  gar  nicht  betheiligt  war,  die  Diplomatie 
der  Grossmächte  beschäftigt  hatten,  wieder  einmal  in 
den  Mittelpunkt  der  Ereignisse  gerückt  worden.  Die 
Sachlage  ist  verhältnismässig  klar,  weil  kein  Hehl 
aus  den  Absichten  gemacht  wird,  die  den  Grafen 
Lamsdorff  nach  Wien  führten.  Man  will  die  Mittel 
und  Wege  feststellen,  durch  welche  die  Türkei  zur 
Gewährung  einer  gewissen  Autonomie  an  die  drei 
Provinzen  von  Saloniki,  Monastir  und  Uesküb,  die 
zusammen  das  vielgenannte  Makedonien  ausmachen, 
bestimmt  werden  kann.  Niemand  ausser  den  zunächst 
Betheiligten  weiss  nun  freilich,  was  Graf  Goluchowski 
auf  die  Vorschläge  des  russischen  Ministers  geant- 
wortet hat  oder  zu  antworten  gedenkt.  Aber  auch 
wenn  man  nicht  den  Anspruch  erhebt,  eingeweiht  zu 
sein,  kann  man  sich  doch  ein  Bild  davon  machen, 
was  Oesterreich-Ungarn  zur  Wahrung  seiner  Inter- 
essen verlangen  muss.  Wer  in  die  Verhältnisse  des 
Balkans  Einblick  besitzt,  weiss,  dass  Oesterreich-Ungarn 
vor  allem  daran  liegt,  die  der  Monarchie  im  Berliner 
Vertrage  1879  gewährten  Rechte  festzuhalten.  Dazu 
gehört  die  politische  und  militärische  Obergewalt 
über  das  Gebiet  südlich  von  Bosnien,  von  Novibäzar 
über  Mitrowitza  hinaus.     Dieser  Landstrich,    der  seit 


281 


jeher  den  Namen  Altserbien  führt,  bildet  den  Ueber- 
gang  vom  österreichischen  Besitz  in  Bosnien  zu  den 
südlicheren  Gebieten  von  Makedonien.  Somit  ist  die 
Vermuthung  gerechtfertigt,  der  österreichische  Mi* 
nister  des  Aeussern  werde  sich  die  bestimmte  Zu- 
sicherung ausbedingen,  dass  Altserbien,  welche  Ver- 
änderungen immer  stattfinden  mögen,  nicht  der 
Machtsphäre  Oesterreich-Ungarns  entzogen  werde. 
Die  öffentliche  Meinuug  in  Oesterreich-Ungarn  billigt 
es  durchaus,  dass  die  Monarchie  zu  einer  friedlichen 
Verständigung  mit  Russland  gelangt  Wenn  hie  und 
da  doch  eine  gewisse  Beunruhigung  sich  zeigt,  so  hat 
dies  seinen  Grund  darin,  dass  die  Freunde  des 
deutsch-österreichischen  Bündnisses  es  für  einen 
beklagenswerten  Rückschritt  betrachten  müssen, 
wenn  die  Wärme  der  Beziehungen  der  beiden  mittel- 
europäischen Reiche  durch  die  Annäherung  der  habs- 
burgischen  Monarchie  an  Russland  Einbusse  erlitte. 
In  dieser  Beziehung  macht  sich  in  der  deutschen 
Bevölkerung  Oesterreichs  in  der  That  einiges  Miss- 
trauen bemerkbar.  Man  ist  hierzulande  der  Ueber- 
zeugung,  dass  Russland  der  Monarchie  nichts  bieten 
kann,  was  für  sie  dem  deutschen  Bündnisse  an 
Wichtigkeit  gleichkommt.  Wir  hegen  indessen  die 
Zuversicht,  dass  diese  Bedenken  unbegründet  sind, 
und  dass  in  Wien  nichts  ausgemacht  wird,  wovon 
die  österreichisch-ungarische  Regierung  nicht  dem 
Berliner  Eabinete  Mittheilung  macht.  Jedes  andere 
Vorgehen  wäre  bedenklich  und  würde  Oesterreich- 
Ungarn  zuletzt  selbst  schädigen.  Denn  dasselbe  bedarf, 
wenn  es  sich  auf  altserbische  und  makedonische 
Aktionen  einlässt,  die  immerhin  Gefahren  mit 
sich  führen,  des  festen  Rückhalts  an  dem  stamm- 
verwandten Deutschen  Reiche.  So  loyal  die  Absiebten 
Russlands  auch  sein  mögen,  so  können  doch  im  Ver- 
laufe der  Dinge  zwischen  Wien  und  St.  Petersburg 
An-  und  Absichtsverschiedenheiten  auftauchen,  und 
dann  erst  würde  sich,  wie  bei  den  Verwicklungen 
von  1887,  der  hohe  Werth  des  deutschen  Bündnisses 
für  Oesterreich-Ungarn  erweisen.  Das  ist  hoffentlich 
auch  die  Auffassung  des  Wiener  Kabinets,  welches 
es  selbst   für  geboten  erachten  wird,   über   die  Kon- 


222 


ferenz  mit  dem  Grafen  Lamsdorff  der  deutschen  Re- 
gierung gegenüber  vollste  Offenheit  walten  zu  lassen." 

Zu  dieser  famosen  Korrespodenz  brauchen  wir 
kein  Wort  Erklärung  beizufügen,  sie  spricht  Bände. 
Soweit  also  haben  es  die  Hofräthe  in  Wien  gebracht! 
Sie  dürfen  sich  im  eigenen  Hause  nicht  rühren  ohne 
Erlaubniss  Berlins.  Ja  wir  erleben  es  noch,  dass 
eine  Telephonlinie  Berlin — Wien  wird  errichtet  wer- 
den, damit  sich  die  Hofrälhe  in  Wien  gleich  nach 
dem  Frühstück  für  jeden  Tag  in  Berlin  Instruktionen 
einholen  können.  Aber  eine  Schlappe  hat  die  berliner 
Politik  jüngster  Tage  erlebt.  Man  wollte  in  Berlin  eine 
Siegesfahrt  nach  Venezuela  unternehmen  und  vergass 
dabei  ganz  auf  die  Monroe-Doctrin. 

Schade,  dass  die  Monroedoctrin  nur  in  Amerika 
Anwendung  findet,  sollten  nicht  unsere  Hofräthe  in 
Wien  sich  etwas  näher  damit  befassen  und  eine 
Oesterreichische  Doctrin  zum  Schutze  vor  der  stän- 
digen berliner  Invasion  und  zum  Heile  der  Völker 
Oesterreichs  ins  Leben  rufen? 

Hat  doch  Preussen-Deutschland  absolut  keine 
Rücksichten  zu  Oesterreich.  Beweis  davon  ist  der 
neue  deutsche  Zolltarif,  dessen  Zollsätze  die  reinste 
Räuberpolitik  Oesterreich  gegenüber  bedeuten.  Hier 
muss  man  doch  einmal  in  Wien  zur  Erkenntniss  ge- 
langen, dass  Oesterreich  sich  an  seinen  östlichen 
Nachbar,  an  Russland  wenden  müsse,  um  an  diesem 
Reiche  eine  Stütze  zu  finden. 

Ueber  die  Absichten  der  Koerber'schen  Politik 
sprach  Abgeordneter  Fort  vor  seinen  Wählern  in 
Kolin  am  25.  Jäner  1903.  Unter  anderem  sagte  er 
folgendes :  Die  Gründe,  welche  uns  zwingen,  die  Ar- 
beitsfähigkeit des  Parlaments  nicht  zuzulassen,  sind: 
die  siegreiche  deutsche  Obstruktion  hält  heute  den 
ganzen  Staat  sammt  dem  Ministerium  Koerber  in 
ihrer  Zange,  denn  dieses  Ministerium  ist  die  Inkar- 
nation der  siegreichen  Obstruktion  der  Deutschen. 
Das  Kabinet  Koerber  dient  ausschliesslich  den  Inter- 
essen des  Deutschthums.  Dieser  Zustand  muss  von 
Grund  aus  beseitigt  werden ;  so  lange  Koerber  im 
Amte  bleibt,  haben  wir  nichts  zu  erhoffen,  im  Gegen- 
theil,    die   Gefahr,    dass    die  deutsche  Gentralisation 


223 


noch  weiter  vordringen  wird,  ist  noch  grösser.  Die 
Deutschen  haben  weiter  auch  das  ganze  Parlament 
in  ihrer  Gefangecschaft;  ihre  Drohung,  dass  sie  ob- 
struiren  werden,  genügt,  das  Parlament  den  Kopf 
verlieren  zu  lassen.  Der  Terror  der  Minorität  be- 
herrscht das  Parlament.  Sagen  wir  es  offen  heraus: 
die  Deutschen  haben  sich  überall  Respekt  verschafft; 
wer  es  versteht,  mit  dem  Fuss  zu  stampfen,  wer  es 
trifft,  auf  seine  Kraft  zu  pochen,  der  hat  eben  Re- 
spekt. Daraus  folgt  für  uns  die  Lehre,  dass,  wenn 
wir  nicht  dasselbe  treffen,  das  deutsche  Prestige  sich 
immer  mehr  festigen,  wir  aber  zu  einem  inferioren 
Faktor  degradirt  werden.  Wo  mit  Knüppeln  herum- 
gehauen wird,  sind  Glac6handschuhe  nicht  am  Platze. 
Das  erste  Ziel  unseres  Vorgehens  müsse  sein:  das 
Regierungssystem  zu  stürzen,  das  zweite:  den  Terro- 
rismus der  deutschen  Minorität  im  Parlamente  zu 
brechen.  Das  ist  die  einzig  mögliche,  weil  allein  rich- 
tige Taktik;  50  bis  60  Männer  sind  imstande,  das 
Parlament  dauernd  arbeitsunfähig  zu  machen.  Ge- 
schieht dies,  wird  nichts  Anderes  übrig  bleiben,  als 
das  Parlament  nach  Hause  zu  schicken  und  sich  mit 
dem  §  14  zu  behelfen.  Heute  Opportunitätspolitik 
treiben,  wie  sie  Dr.  Stränsk?  empfiehlt,  wäre  Abdika- 
tion. Für  eine  solche  Politik  wird  erst  dann  die  rich- 
tige Zeit  kommen,  bis  es  uns  gelungen  sein  wird, 
die  Blöcke  zu  beseitigen,  welche  uns  die  siegreiche 
deutsche  Obstruktion  in  den  Weg  gelegt  hat.  Früher 
zu  derselben  zu  greifen,  würde  die  kampflose  Es- 
komptirung  einer  Niederlage  bedeuten.  Denn  die  erste 
Folge  würde  sein,  dass  wir  Koerber  damit  selbst  den 
Lorbeer  aufs  Haupt  drücken  und  ihn  zum  grössten 
Staatsmann  Oesterreichs  im  Verlaufe  der  letzten  50 
Jahre  machen  würden.  Wir  würden  damit  weiter 
erreichen,  dass  durch  dieses  Kabinet  diese  Expositur 
der  Deutschen  petrificirt  würde.  Die  zweite  Folge 
wäre,  dass  die  Deutschen  im  Besitze  ihrer  Errungen- 
schaften blieben.  Aber  nicht  nur  blieben,  sondern  mit 
neuem  Muth  weiter  gehen  würden.  Wir  kennen  ja 
ihre  masslosen  Forderungen,  wir  kennen  ihre  Auf- 
fassung der  Sprachenfrage  und  kennen  ihr  Endziel, 
die  deutsche  Staatssprache.  Wenn  einmal  Alles,  was 


224 


jetzt  noch  Ursache  der  Krisis  ist,  unter  Dach  ge- 
bracht ist,  dann  hat  der  gesamrate  staatliche  Apparat 
auf  zehn  Jahre  Ruhe,  dann  kann  die  nächsten  Jahre 
ruhig  ein  Peter  oder  Zappel  an  der  Spitze  des  Kabi- 
nets  stehen.  Wir  aber,  wir  hätten  die  Ueberfuhr  ver- 
säumt. Wir  wären  der  Regierung  auf  Gnade  und 
Ungnade  ausgeliefert.  Ich  glaube,  das  Volk  würde 
eine  solche  furchtbare  Niederlage  nicht  mehr  ertragen, 
denn  zu  dem  unverschuldeten  Unglück  käme  noch 
das  selbstverschuldete.  Das  wäre  das  furchtbare  Re- 
sultat dieser  Taklik,  wie  die  Franzosen  sagen,  das 
Debakle  nach  jahrelangen  Kämpfen,  und  deshalb  muss 
auch  derjenige,  der  sonst  der  grösste  Feind  der  Ob- 
struktion ist,  einsehen,  dass  nichts  Anderes  übrig 
bleibt,  als  diesen  Schritt  zu  machen.  Wie  wir  durch 
das  Schwert  um  unseren  Staat  gekommen  sind,  ebenso 
wäre  es  auch  nur  möglich,  einen  selbständigen  böh- 
mischen Staat  durch  das  Schwert  herzustellen;  da 
uns  aber  diese  Kraft  nicht  zu  Gebote  steht,  müssen 
wir  uns  andere,  näher  liegende  Ziele  stecken.  Es 
steht  fest,  dass  nach  dieser  Richtung  hin  ein  Gährungs- 
process  das  österreichische  Staatengebilde  zersetzt. 
Diesen  zersetzenden  Process  müssen  wir  beschleunigen. 
Es  ist  zweifellos,  dass  ganz  Europa  heute  die  Gefahr 
fühlt,  dass  früher  oder  später  der  Versuch  gemacht 
werden  wird,  die  deutsche  Weltregierung  einzusetzen. 
Wir  sind  der  Vorposten  gegen  denPangermanismus; 
harren  wir  fest  und  entschlossen  auf  diesem  Posten 
aus,  und  dann  wird  Gott  geben,  dass  wir  in  unserem 
und  im  Interesse  des  ganzen  Slaventhums  unser  Land 
unseren  Nachkommen  hinterlassen.  Dass  auf  die  in- 
neren Vorgänge  in  Oesterreich  die  Augen  aller  Welt 
gerichtet  sind,  zeigt  zum  Beispiel  ein  Leitartikel  des 
„Novoje  Vremja"  Ende  Jäner  1903.  Unter  Anderem 
schreibt  das  Blatt  folgendes:  „Dass  die  böhmische 
Frage  gleichzeitig  auch  eine  slavische  Frage  ist,  braucht 
wohl  nicht  bewiesen  zu  werden.  Diese  Frage  hat  je- 
doch auch  noch  eine  europäische  Bedeutung.  Ob  sich 
die  Böhmen,  und  mit  ihnen  die  übrigen  Slaven  auf 
ihrem  Posten  im  Centrum  Europas  erhalten,  ob  sie 
dem  mächtigen  deutschen  Drucke  Stand  hallen  wer- 
den,  das  ist  eine  Frage   von  grosser  alleuropäischer 


&* 


225 

Bedeutung,    denn  Europa    kann   es    durchaus    nicht 

aJaj  gleichgiltig   sein,    dass   sich  Oesterreich  in  eine  OsK 

{m  mark  Deutschlands    verwandle    und    dass  sich  ganz 

jjjj.  Mitteleuropa    in    einen    deutschen    Zollbund    unter 

er.  preussischer  militärischer  Diktatur  vereinige.  DieUn- 

3ij  möglichkeit    der  Zulassung    einer    solchen  Evolution 

.jC  Deutschlands,    dessen    Rüstungen    schon   jetzt    die 

»  grösste  Gefahr  für  den  europäischen  Frieden  bilden, 

CJ  ist   allzu   klar.    Es    ist  darum  nicht  zu  verwundern, 

e.  dass  in  der  letzten  Zeit  immer  häufiger  in  der  euro- 

t,  päischen  Presse  in  Frankreich,  England  etc.  etc.  sich 

!  Stimmen  erheben,   welche   auf  die  hohe  Wichtigkeit 

der  sogenannten  böhmischen  Frage    vom    internatio«^ 

nalen  Gesichtspunkte  hinweisen.  Wir  als  ältere  Brüder 

der  Slaven  und  Nachbarn    des  mit  uns  befreundeten 

Oesterreich-Ungarn  können  jedenfalls  zu  dieser  Frage 

nicht  gleichgiltiger  sein,  als  Franzosen  oder  Engländer, 

denn  es  ist  für  uns,    nicht   weniger    als  für  Europa, 

ein  sehr  wesentlicher  Unterschied,   ob  es  Oesterreich 

beschieden  ist,  slavisch  zu  sein,  wie  es  nach  der  Be^ 

völkerungszahl  seiner  Völker  sein  sollte,    oder   ob  es 

auf  der  schiefen  Ebene  der  Germanisation  noch  weiter 

hinabgleiten  soll. 

XIII.  Der  Sturm  gegen  Oesterreich  in  der  Form 
der  „Los  von  Romu-Agitation. 

Wenn  wir  einen  Blick  auf  das  heutige  Frankreich 
werfen,  so  bietet  sich  uns  ein  eigenartiges  Schauspiel. 
Während  Alphonse  Rothschild  in  der  „Rue  Lafitte" 
in  Paris  ruhig  nur  von  der  französischen  Nordbahn 
jährlich  seine  Rente  von  106  Millionen  Francs  ein- 
streicht, werden  arme  Ordensleute  gewaltsam  aus 
ihrem  Heim  vertrieben.  Der  Jude  Reinach  ist  der  that- 
sächliche  Herr  der  Republik.  Das  ganze  33  Millionen 
zählende  französische  Volk  ist  unter  dem  Joche  von 
etwa  20  Tausend  Juden  und  Freimaurer.  Ebenso  sind 
die  Dinge  in  Italien  und  Spanien.  Beide  Länder  sind 
nur  noch  Schein-Monarchien,  Das  Senatoren -Haus  in 
Rom  zählt  40  Juden,  obzwar  in  ganz  Italien  unter 
30  Millionen  kaum  150  Tausend  Juden  sind.  Ebenso 
ist  der  Thron  von  Russland  in  Gefahr.  Finanzminister 
Witte  hat  eine  Jüdin  zur  Frau.    Er  richtet  Russland 

16 


226 


zu  Grunde  durch  seine  Finanzoperationen,  die  er  mit 
den  Finanzjuden  abmacht.  Böhm-Bawerk,  österrei- 
chischer Finanzminister,  ist  in  enger  Beziehung  mit 
der  Synagoge,  sein  Gesicht  sagt  es.  Die  Monarchien 
Europas  sind  es  nur  dem  Scheine  nach,  in  Wirk- 
lichkeit regieren  Judas  Finanzmänner.  Um  die  Throne 
zu  stürzen,  muss  zuvor  die  Kirche  vernichtet  sein, 
so  ist  der  Plan  der  Freimaurer-Juden.  In  Amerika 
haben  wir  den  Juden  Staatssekretär  Hey,  welcher  mit 
dem  Juden  Morgan  die  nordamerikanische  Union  be- 
herrscht. Nun  soll  Oesterreich-Ungarn  an  die  Reihe 
kommen.  Austria  est  delenda,  Oesterreich  muss  ver- 
nichtet werden,  so  beschloss  schon  der  Revolutionär 
Mazzini  vor  50  Jahren.  Die  feste  Säule  Oesterreichs, 
die  katholische  Kirche  muss  untergraben  werden,  daher 
der  Schlachtruf:  „Los  von  Rom!" 

Das  grosse  Judenblatt  die  „Neue  Freie  Presse" 
brachte  im  Abendblatte  vom  11.  December  1897  einen 
Bericht  „von  der  Universität".  Er  lautet:  „Die  deutsch- 
nationale Studentenschaft  veranstaltete  heute,  nach- 
dem gestern  die  deutsch-freisinnigen  Studenten  dem 
Rektor  eine  Adresse  überreicht  hatten,  als  Epilog  zu 
den  stürmischen  Novembertagen  eine  Kundgebung. 
Die  Aula  war  dicht  gefüllt,  alle  nationalen  Verbin- 
dungen waren  vollzählig  anwesend.  Mittags  begab  sich 
eine  Abordnung  zum  Rektor  und  lud  ihn  ein,  an 
einer  Feier  theilzunehmen,  welche  die  nationale  Stu- 
dentenschaft im  grossen  Arkadenhof  der  Universität 
veranstalten  wolle.  Der  Rektor  sagte  zu.  Die  Studenten 
begaben  sich  in  den  Hof,  wo  sich  die  Erstchargierten 
der  nationalen  Couleurs  um  einen  langen  Tisch  grup- 
pirten;  eine  tausendköpfige  Studentenmenge  umringte 
sie.  Auch  die  Fenster  des  Arkadenhofes  waren  von 
Studenten  dicht  besetzt.  Hier  wie  im  Hof  selbst  sah 
man  zahlreiche  Damen,  Studentinen  und  Angehörige 
von  akademischen  Hörern,  welche  sich  aktiv  an  der 
Demostration  betheiligten.  Ein  Student  hielt  zunächst 
eine  Ansprache,  in  welcher  er  darauf  hinwies,  dass 
es  sich  heute  darum  handle,  gegen  die  Vergewaltigung 
der  Rechte  der  Alma  mater  zu  protestiren.  Darauf 
wurde  das  Bundeslied:  „Brause  der  Freiheitsang"  ge- 
sungen und  eine  Adresse  an  den  Rektor  verlesen,  in 


227 


welcher  ihm  für  sein  Eintreten,  für  die  Grundsätze 
der  akademischen  Freiheit  für  die  Rechte  und  Ehre 
des  deutschen  Volkes  gedankt  und  ausgeführt  wird, 
die  Studentenschaft  betrachte  es  als  selbstverständ- 
liche Pflicht  für  die  Freiheit,  das  Recht  und  die  Ehre 
der  Deutschen  in  Oescerreich  einzutreten,  über  welche 
jetzt  schwere  Zeiten  gekommen  sind.  (Darunter  sind 
die  Sprachenverordnungen  Badenis  zu  verstehen.)  Nun 
erschien  Rektor  Professor  Dr.  Toldt  in  stürmischer 
Weise  begrusst.  Auch  er  hielt  eine  kurze  Ansprache 
an  die  Studenten  und  erklärte,  dass  er  jederzeit  für 
die  freie  Forschung  und  für  die  Ehre  der  deutschen 
Universität  in  Wien  eintreten  werde.  (Da  müsste  Herr 
Toldt  diese  Universität  von  den  Semiten  reinigen, 
das  wäre  die  richtige  Ehrenrettung  dieser  Universität.) 
Brausende  Heilrufe  ertönten  und  die  Studierenden 
zückten  ihre  Schläger.  (Die  Tausend  Hebräer  auch, 
wie  schön !)  Dann  nahm  wieder  ein  Student  das  Wort 
Auch  er  betonte  die  Notwendigkeit,  die  geheiligten 
Grundsätze  der  akademischen  Freiheit  zu  wahren  (für 
unreife  Jungen).  Wir  lassen,  rief  der  Student,  kein 
Theresianum  aus  der  Universität  machen.  Dann  fuhr 
der  Redner  fort:  nicht  nur  die  deutsche  Jungmann- 
schaft hat  den  Komödianten  erkannt,  der  unsere  Be- 
wegung eine  Jugendeselei  nannte,  wir  hoffen,  dass 
auch  die  deutschen  Frauen  sich  uns  anschliessen 
werden.  Unseren  Kampf  gegen  Rom  haben  wir  noch 

.  nicht  begonnen.  Wir  wissen  aber,  dass  Rom  unser 
grösster  Feind  ist.  Wir  wissen,  unsere  einzige  Rettung 
ist  im  protestantischen  Bekenntnisse,  das  auch  den 
nationalen  Gedanken  in  sich  birgt,  gelegen.  Bei  die- 
sen Worten  kam  es  zu  einem  lärmenden  Zwischen- 
fall.   Katholische    Studenten    riefen:     „Pereat!"    Sie 

*  wurden  umringt  und  hinausgedrängt.  Der  Student 
schloss  mit  den  Worten :  Jetzt  kehrt  auf  queren  Wach- 
posten zurück  und  wenn  wieder  Gefahr  droht,  und 
der  Ruf  ertönt:  „Bursche  heraus!"  dann  kommt,  und 
wäre  es  auch  zum  letzten  Gang  (Das  machen  die 
Hebräer  gewiss  nicht  mit.)  Stürmische  Prosit  und 
Heilrufe  ertönten  wieder.  Die  Studenten,  sowie  auch 
die  anwesenden  Damen  sangen:  „Die  Wacht  am 
Rhein"  und  damit  war  die  Kundgebung  zu  Ende. 

15* 


228 


So   berichtete    in    der   angeführten  Nummer   die 
„Neue  Freie  Presse" :  Der  Student,  der  zuletzt  sprach, 
war  der  Mediziner  Födisch,  der  in  seinen  Gymnasial- 
studien von  armen  Priestern  unterstützt  wurde,    wie 
ja   auch  Dr.  Eisenkolb   als    armer  Student   von    den 
Dominikanern  in  Eger  sich  futtern  liess.  Das  war  der 
Anfang   der  Abfallsbewegung  in  Oesterreich.   In    der 
Nähe    der    kaiserlichen    Burg,    auf   dem  Boden    der 
Universität,  die  von  der  katholischen  Kirche  gestiftet 
wurde,    aus    dem  Munde    unreifer  Jungen  unter  der 
Palronanz    des  Rektor  Toldt   erscholl  zuerst  der  Ruf 
nach  organisirtem  Reich-  und  Landesverrath  in  Oester- 
reich. Lassen  wir  nun  chronologisch  einige  Zeitungs- 
stimmea  folgen,    die  uns  über  den  Abfall  in  Oester- 
reich   ein    Bild    geben.   Am   21.  Juli  1901   berichtete 
das  „Vaterland".  (Abfallstatistik).  Schönerer  veröffent- 
licht in  seinen    „Unverfälschten    deutschen  Worten" 
wieder  eine  Abfallstatistik.  Dieselbe  umfasst  das  eben 
abgelaufene    Halbjahr    Jänner-Juni.    In    diesem   Zeit- 
räume sollen  bei  ihm  3416  Abfallsraeldungen    einge- 
laufen   sein.    Davon   entfallen  2538  auf  Böhmen  und 
zwar :  Bodenbach-Tetschen  729,  Türmitz  230,  Graupen 
110,  Reichenberg  129,   Sobochleben  361,  Teplitz  280 
u.  s.  w.    Niederösterreich   figurirt   mit  der  Zahl  469, 
wovon  429  auf  Wien  entfalten.  Für  Mähren  erscheinen 
119  Abfälle  ausgewiesen,    für  Steiermark    genau    200 
(106  in  Leoben),   für  Kärnten  14,  für  Oberösterreich 
10,    für  Schlesien   16,    für  Tirol   44,    für  Salzburg  4, 
für   Krain   1   und   für    „ Verschiedene"   1.    Schönerer 
rechnet  aber  diesmal  ausserdem  noch  hinzu:  Wiener 
Superintendenz  656,   oberösterreichische  Superinten- 
denz    287,    mährischschlesische   Superintendenz    531, 
galizische   Superintendenz  45,    endlich   Altkatholiken 
in  Mähren  1213.  Mit  den  letzterwähnten  Ziffern  kommt 
so  Schönerer  auf  die  Gesammtzahl  6148.    Wie  Schö- 
nerer  zu    den    letzterwähnten  Ziffern    gekommen  ist, 
darüber  gibt  der  Ausweis  keinerlei  Aufklärung.    Man 
kann    nur  vermuthen,    dass  Schönerer   und   die   ge- 
nannten   Superintendenzen    ihre    Listen     gegenseitig 
ausgetauscht  und  verglichen  haben.  Wenn  diese  Ver- 
muthung  zutrifft,  so  wäre  also  Schönerer  zum  Gene- 
ralabfallsbureau bestellt  worden.    Wie  lange  mag  es 


229 


wohl  dauern,  bis  diese  Tausende  auch  von  Schönerer 
wieder  abfallen? 

Münchener  Blätter  berichteten  im  September  1901 
aus  Wien:  Endlich  liegen  authentische  Ziffern  über 
den  Umfang  der  Los  von  Rom-Bewegung  vor.  Nach 
einer  von  dem  evangelischen  Oberkirchenrathe  in 
Wien  veranlassten  Veröffentlichung  beträgt  der  Gewinn 
des  Protestantismus  in  Oesterreich  im  Jahre  1899 
über  6000,  im  Jahre  1900  gegen  4700  und  im  ersten 
Halbjahre  1901  etwas  über  3000  Personen.  Zu  be- 
merken ist,  dass  jährlich  auch  rund  500  Personen 
von  den  protestantischen  Kirchen  zur  katholischen 
Kirche  übertreten,  ein  Konfessionswechsel,  der  ins- 
besondere bei  Mischehen  nicht  selten  ist.  Dieser  Ver- 
lust des  Protestantismus  ist  bei  den  obigen  Ziffern 
bereits  mit  in  Betracht  gezogen.  Sonach  hat  die  ka- 
tholische Kirche  in  den  letzten  2y2  Jahren  13.700 
Seelen  durch  den  Uebertritt  zum  Protestantismus 
verloren.  Hiezu  müsste  man  noch  den  Gewinn  der 
Altkatholiken  zählen,  der  nicht  genau  bekannt  ist  und 
auch  nicht  sehr  hoch  angeschlagen  werden  kann. 
Endlich  ist  zu  bemerken,  dass  rechtsgemäss  nur  die 
Kinder  unter  sieben  Jahren  dem  Religionswechsel 
der  Eltern  folgen,  während  Personen  über  14  Jahren 
die  Konfessionswahl  freisteht.  Die  Kinder  zwischen 
dem  7.  und  14.  Jahre  sind  beim  Uebertritte  der 
Eltern  katholisch  geblieben,  werden  ihnen  aber  wohl 
ausnahmslos  im  entscheidenden  Zeitpunkte  folgen. 
Man  kann  also  als  Ergebniss  der  Uebertrittsbewegung 
feststellen,  dass  15000  Menschen,  eher  etwas  mehr, 
der  Los  von  Rom-Bewegung  gefolgt  sind.  Die  Ziffer 
ist,  absolut  genommen,  nicht  sehr  hoch,  da  es  sich 
um  eine  Bevölkerungszahl  von  8  Millionen  handelt, 
innerhalb  deren  die  Bewegung  ihre  Kreise  gezogen 
hat.  Für  die  katholische  Kirche  ist  nur  beunruhigend, 
dass  der  Abbröckelungsprozess  lange  nicht  seinen 
Abschluss  gefunden  hat.  Es  ist  bekannt,  dass  die 
Kirche  durch  die  Thatsache  des  vollzogenen  Abfalls 
sich  niemals  bestimmt  gefühlt  hat,  Nachgiebigkeit  zu 
zeigen,  dass  sie  sich  vielmehr  die  schärfere  Ausge- 
staltung ihrer  Dogmen  und  ihrer  Kirchenverfassung 
angelegen  sein  Hess.  Diesmal  handelt  es  sich  jedoch 


230 


in  erster  Linie  nicht  um  religiöse  Fragen,  sondern 
um  das  Verhältnis  der  katholischen  Kirche  znr  deut- 
schen Nationalität  und  man  sollte  glauben,  dass  in 
diesem  Punkte  eine  Einkehr  möglich  sei.  Auch  steht 
die  katholische  Geistlichkeit  nicht  vor  einem  abge- 
schlossenen Prozesse  und  es  ist  nicht  zu  berechnen, 
ob  der  Uebertritt  nicht  einen  noch  grösseren  Umfang 
annehmen  wird.  Schon  heute  ist  festzustellen,  dass 
der  Katholicismus  in  Oesterreich  seit  dem  16.  Jahr- 
hundert niemals  eine  gleich  grosse  Anzahl  von  Seelen 
verloren  hat.  Weder  die  Deutschkatholiken  der  40er 
Jahre,  noch  die  Altkatholiken  der  70er  Jahre  können 
auf  solche  Erfolge  hinweisen.  Dazu  kommt,  dass  die 
Altkatholiken  bekanntlich  immer  mehr  zusammen- 
schmelzen, während  der  Protestantismus  als  eine 
gefestetere  Organisation  mit  starkem  Bückhalte  seine 
Bekenner  wohl  besser  festzuhalten  vermag.  Bei  der 
Volkszählung  von  1880  gab  es  in  Oesterreich  6134 
Altkatholiken,  deren  Zahl  in  den  nächsten  15  Jahren 
etwas  geringer  wurde.  Man  sieht  also,  um  wie  viel 
intensiver  die  jetzige  Bewegung  gegenüber  der  durch 
die  Erklärung  des  Unfehlbarkeitsdogmas  hervorgeru- 
fenen ist. 

Anfangs  Oktober  1901  sprach  vor  seinen  Wählern 
im  Bezirke  Margarethen  Dr.  Lueger  über  die  „Los 
von  Born"  Agitatation.  Er  sagte:  Man  wirft  uns,  so 
führte  der  Redner  weiter  aus,  immer  vor,  dass  wir 
eine  klerikale  Partei  sind.  Es  ist  überhaupt  sonderbar, 
in  ganz  Oesterreich  wittert  man  eine  klerikale  Gefahr 
und  dabei  könnte  man  ruhig  einen  Preis  aussetzen, 
wenn  Jemand  den  Nachweis  erbringt,  worin  die  klerikale 
Gefahr  besteht.  Die  klerikale  Gefahr  ist  ausgeschlossen, 
allein  unter  diesem  Schlagworte  betreibt  man  diegröss- 
ten  Hetzereien  gegen  unsere  Beligion  und  kein  Mensch 
rührt  sich  dabei.  Unsere  Bischöfe  sind  keine  Himmels- 
stürmer,  das  ist  wahr,  sie  sind  so  brav,  so  ruhig, 
damit  ja  den  Anderen  nichts  geschieht.  Ich  habe 
zwar  gehört,  dass  die  Bischöfe  jetzt  schärfer  auftreten, 
ich  habe  jedoch  wenig  Hoffnung,  denn,  wie  gesagt, 
Ilimmelsstürmer  sind  sie  keine.  Das  Wort  Klerika- 
lismus ist  heutzutage  nichts  Anderes  als  ein  albernes 
Märchen,    mit   dem   fp-x    -"-  ^rteien  in  Oesterreich 


231 


das  politische  Brot  bestreiche.  Es  wird  nur  gehetzt 
und  geschimpft,  für  das  Volk  wird  gar  nichts  gethän. 
Man  kümmert  sich  nicht  um  die  Gewerbetreibenden, 
nicht  um  den  Bauer  und  auch  nicht  um  den  Arbeiter. 
Die  Slaven  beschimpfen  die  Deutschen,  die  Deutschen 
die  Slaven,  kurz  Jeder  nennt  den  Anderen  einen 
Lumpen,  für's  Volk  aber  geschieht  gar  nichts.  Wir 
Christlichsociale  werden  auch  in  den  kömmenden 
schweren  Zeiten  bleiben,  was  wir  waren,  und  von 
unserem  Programme  nichts  aufgeben.  Wir  werden 
festhalten  an  unserem  deutschen  Volke,  festhalten 
an  unserem  Vaterlande  Oesterreich  und  sind  muthig 
genug,  dies  auch  zu  sagen  (stürmischer  Applaus)  und 
sind  auch  muthig  genug  gegen  alle  Landesverräther 
zu  kämpfen,  wir  werden  aber  auch  festhalten  an 
unserer  Religion  und  werden  dieselbe  zu  verth eidigen 
wissen.  Wir  sind  eine  tolerante  Partei,  wir  lassen  die 
Protestanten  in  Ruhe,  verlangen  aber  auch,  dass  man 
auch  unsere  katholische  Religion  in  Ruhe  lässt.  (De- 
monstrativer Beifall.)  Es  ist  kaum  glaublich,  so  setzte 
der  Redner  weiter  auseinander,  was  bei  uns  mit  der 
sogenannten  „Los  von  Rom  "-Bewegung  getrieben 
wird.  Es  hat  bisher  kaum  einen  Staat  gegeben  (Der 
Regierungsvertreter  beginnt  eifrigst  zu  schreiben.  — 
Dr.  Lueger  zu  demselben:  Bitte,  schreiben  Sie  es 
nur  genau  auf;  es  ist  nothwendig!),  der  eine  solche 
Bewegung,  die  ausschliesslich  politischen  Charakter 
hat,  geduldet  hätte,  wie  es  bei  uns  geschieht.  Die 
„Los  von  Rom  "-Bewegung  ist  nur  darauf  berechnet, 
Oesterreich  so  herzurichten,  damit  es  das  Deutsche 
Reich  leicht  verspeisen  kann,  ohne  Magendrücken  zu 
bekommen.  Das  ist  gewiss  noch  in  keinem  Staate 
der  Welt  vorgekommen,  dass  man  einer  solchen  Be- 
wegung ruhig  zugesehen  hat.  Es  ist  ja  offenkundig, 
dass  Millionen  Mark  nach  Oesterreich  geworfen  werden 
um  diese  Bewegung  zu  fördern  und  ungezählte  deutsche 
Pastoren  überschwemmen  die  ganzen  Länder,  um  die 
Bewegung  zu  schüren  und  zu  leiten.  (Rufe:  Schande! 
Das  kann  man  nicht  mehr  ruhig  vertragen!  u.  s.  w.) 
Die  ganze  „Los  von  Rom"-Bewegung  ist  nichts  An- 
deres als  der  organisirte  Landes-  und  Hochverrath. 
(Demonstrativer,  minutenlanger  Beifall.  Rufe;  Nieder 


282 


mit  den  Landesverräthern  1  Weg  mit  den  Schurken 
etc.*)  Nichtsdestoweniger  scheint  man  sich  in  Oester- 
reich  zu  scheuen,  dieser  Bewegung  in  die  Arme  zu 
fallen;  mit  verschränkten  Armen  sieht  man  zu,  wie 
die  einzelnen  Länder  durchwühlt  und  unterminirt 
werden.  Ich  habe  überhaupt  die  schlechte  Erfahrung 
gemacht,  dass  diejenigen  Parteien,  die  gut  öster- 
reichisch sind  und  für  das  Vaterland  und  Volk  ein- 
treten, am  schlechtesten  wegkommen.  Uns  Christlich- 
socialen  geht  es  wenigstens  so.  Da  haben  wir  gleich 
den  Statthalter,  der  offenbar  jetzt  sehr  wenig  zu  thun 
hat,  und  daher  jetzt  fortwährend  herumnörgelt.  An 
der  Verwaltung  der  Stadt  Wien  ist  entschieden  nichts 
auszusetzen,  so  kommt  er  uns  nun  mit  den  Tauben 
etc.  (Heiterkeit!)  Hingegen  die  Leute  aus  den  so- 
genannten radikalen  Lagern  werden  wie  das  liebe 
Buberl  (Heiterkeit)  behandelt.  Die  alldeutschen  Ab- 
geordneten rühmen  sich,  was  sie  Alles  bei  den  Mini- 
stern durchsetzen  können  und  manche  von  ihnen 
erzählen  öffentlich,  wie  sie  bei  den  Ministern  aus- 
und  eingehen.  Es  ist  dies  ein  Beweis,  dass  man 
diese  Parteien  fürchtet  wie  den  Teufel,  und  dass  man 
vor  ihnen  einen  grossen  Respekt  hat.  Dies  Alles 
geschieht  auf  unsere  Kosten;  nun,  wir  vertragen 
etwas,  aber  wie  lange  es  noch  das  Vaterland  ver- 
tragen wird,  das  ist  eine  andere  Frage.  Die  Herren 
Minister  wollen  ein  ruhiges  Parlament  haben  und  da 
denken  sie  sich,  die  Krakehlmacher  müssen  wir  be- 
sänftigen. Auf  diese  Art  opfert  man  den  grössten 
Radaubrüdern  unsere  Religion,  die  ungescheut  in  den 
Koth  herabgezerrt  und  geschmäht  wird,  man  opfert 
das  Vaterland  Oesterreich,  ja  diese  Leute  können 
sogar  einzelne  Mitglieder  des  Herrscherhauses  begei- 
fern, es  geschieht  nichts.  Man  spielt  bei  uns  in  Oester- 
reich die  Vogel  Strauss-Politik  und  lässt  die  Dinge 
laufen,  wie  sie  laufen.  (Allgemeine  Zustimmung.)  Es 
könnte  doch  noch  schlechter  ausgehen,  als  man  glaubt 
dann  aber  werden  die  Minister  auch  den  Muth  haben 
müssen,  die  Verantwortung  für  jenen  Moment  in  der 
Geschichte  zu  tragen,  welches  d^  ahh rutschen  so  in- 
brünstig ersehnen.  Wir  Christ"  ^rden  nach 
wie  vor  unentwegt   dafür   e  es  Pflicht 


233 


der  kaiserlichen  Behörden  ist,  Pflicht  des  Ministers 
oben  und  des  letzten  Amtsdieners  unten,  unser  Vater- 
land vor  seinen  inneren  Feinden  zu  schützen! 

Im  April  1902  brachten  reichsdeutsche  Blätter 
aus  Wien  folgende  Nachricht.  Der  evangelische  Ober- 
kirchenrath  in  Wien  hat  einen  Bericht  über  die  Be- 
wegung innerhalb  der  evangelischen  Kirche  Oester- 
reichs  herausgegeben,  dem  wir  folgende  Zahlen  ent- 
nehmen. Im  zweiten  Halbjahr  1901  sind  in  Cisleithanien 
zur .  evangelischen  Kirche  A.  G.  übergetreten  3054 
Personen  aus  der  römisch-katholischen  Kirche  und 
126  Personen  aus  anderen  Bekenntnissen-Gemeind- 
schaften,  zusammen  3180.  Ausserdem  traten  zur  evan- 
gelischen Kirche  reformirten  oder  helvetischen  Be- 
kenntnisses 265  Personen  über,  insgesammt  also  3445. 
Aus  der  evangelischen  Kirche  sind  in  derselben  Zeit 
zur  römisch-katholischen  Kirche  379  und  zu  anderen 
Kirchen  38  übergetreten,  zusammen  417  Personen. 
Es  ergibt  sich  daher  pro  zweites  Quartal  1901  für 
die  evangelische  Kirche  ein  Zuwachs  von  3028  Per- 
sonen. Für  die  letzten  drei  Jahre  ergeben  sich  folgende 
Ziffern : 

1899       1900       1901     zusammen 
Uebertritte  zur  evangel. 

Kirche 6385    5058    6639      18.082 

Davon  aus  der  römisch- 

kath.  Kirche    .    .    .    6047     4699    6299      17.045 
Austritte  aus  der  evang. 

Kirche 765      813      917        2495 

Davon  in  die  röm.-kath. 

Kirche       675      705      830        2210 

Zuwachs  an  Seelen  für 

evangel.  Kirche  .    .    5620    4245    5722     15.587. 

Die  „Ostdeutsche  Rundschau"  hat  folgendes  ver- 
öffentlicht: Die  statistischen  Mittheilungen  der  Eisen- 
acher  Kirchen-Konferenz  für  Deutschland  und  Oester- 
reich  für  die  Jahre  1880  bis  1899  zeigen,  dass  die 
Häufigkeit  des  Konfessionswechsels  im  Laufe  der 
letzten  beiden  Jahrzehnte  stetig  zugenommen  hat.  Der 
Uebertritt  vom  Katholicismus  zum  Protestantismus 
ist  in  stärkerer  Progression  gestiegen  als  der  Ueber- 
gang    vom  Protestantismus   zum  Katkolicismus.    Der 


234 


absolute  Gewinn  gegenüber  dem  Katholicismus  ist 
bedeutend  sowohl  in  Deutschland  als  auch  in  Oester- 
reich;  hier  besonders  seit  der  „Los  von  Rom"-Bewe- 
gung  des  Jahres  1898.  Die  Statistik  der  wirklich  er- 
folgten Uebertritte  ergibt  für  die  Jahre  1890  bis  1899  für 

Deutschland: 

Zum  Protestantismus  Aus  dem  Protestantismus 

vom  Katholicismus  zum  Katholicismus 

1890  .  .  3105  1890  .  .  654 

1891  .  .  3202 

1892  .  .  3342 

1893  .  .  3532 

1894  .  .  3821 

1895  .  .  3895 

1896  .  .  4366 

1897  .  .  4469 

1898  .  .5176 

1899  .  .  5549 

Oesterreich: 


Zum  Protestantismus 

vom 

Katholicismus : 

Augsb. 

Helv. 

Conf. 

Conf. 

1890. 

.  620 

379 

1891  . 

.  740 

364 

1892  . 

.  597 

424 

1893  . 

.  798 

410 

1894. 

.  755 

424 

1895. 

.  757 

410 

1896. 

.  947 

464 

1897  . 

.  927 

431 

1898  . 

.  1181 

417 

1899  . 

.  5886 

506 

1891  .  . 

442 

1892  .  . 

550 

1893  .  . 

598 

1894  .  . 

659 

1895  .  . 

588 

1896  .  . 

664 

1897  .  . 

705 

1898  .  . 

699 

1899  .  . 

660 

ch: 

Austritt  aus  der 

Augsb 

.   Helv. 

Conf. 

Conf. 

1890    302 

200 

1891  .  .  419 

212 

1892  .  .  377 

219 

1893  .  .  426 

264 

1894  .  .  406 

273 

1895  .  .  473 

238 

1896  .  .  495 

273 

1897  .  .  469 

287 

1898  .  .  469 

275 

1899  .  .  499 

286 

Bei  dieser  Tabelle  bleiben  die  Zahlen  für  Deutsch- 
land etwas  hinter  der  Wirklichkeit  zurück,  da  nicht 
alle  Landeskirchen  statistische  Angaben  geben  und 
nicht  alle  Austritte,  besonders  aus  der  evangelischen 
Kirche,  zur  amtlichen  Kenntniss  kommen.  Für  Oester- 
reich beträgt  infolge  der  evangelischen  Bewegung  die 
Zahl  der  Austritte  aus  der  katholischen  Kirche  von 
1898  bis  1901  zusammen  allein  circa  27.000  und  die 


235 


Zahl  der  Uebertritte  davon  zur  evangelischen  Kirche 
•circa  20.000.  Die  wesentliche  Richtigkeit  der  Ziffern 
vorausgesetzt,  geht  aus  denselben  deutlich  hervor, 
dass  die  Abfälle  in  Deutschland  in  den  Neunziger- 
Jahren  —  mit  Ausnahme  des  Jahres  1899  —  mehr 
als  das  Dreifache  jener  in  Oesterreich  betragen  und 
jene  der  Konversionen  in  jedem  Jahre  mindestens 
um  das  Sechsfache  überstiegen  haben.  In  Oesterreich 
betragen  die  Abfälle  selbst  in  den  letzten  Jahren,  wo 
eine  specielle  Hetze  und  Agitation  hauptsächlich  von 
Deutschland  aus  dafür  entwickelt  wird,  nicht  viel 
mehr,  als  in  Deutschland  regelmässig. 

Im  Februar  1902  veröffentlichte  Pastor  Gmelin 
im  „Protestantenblatt"  seine  Reiseeindrücke  aus 
Oesterreich.  Ueber  Lobositz,  für  welches  er  besonders 
an  den  reichsdeutschen  Klingebeutel  appelirt,  kommt 
er  nach  Leitmeritz.  Zuerst  besichtigt  er  die  Brauerei 
„Elbschloss",  dann  erst  folgt  er  den  „Abfallsspuren". 
Auf  dem  Wege  kommt  er  auch  an  der  ehemaligen 
Jesuitenkirche  vorbei,  welche  jetzt  dem  bischöfl.  Prie- 
sterseminar dient.  Der  Herr  Pastor  kann  es  sich 
nicht  versagen,  in  dieselbe  einzutreten.  „Wir  haben 
es  gut  getroffen",  so  erzählt  er,  „denn  es  findet 
gerade  eine  Uebungspredigt  statt,  indem  einer  der 
Zöglinge  auf  der  Kanzel  einen  lateinischen  Sermon 
zur  Verherrlichung  der  Kirche,  wenn  ich  recht  ver- 
standen habe,  hält,  während  der  ganze  übrige  Haufe 
—  etwa  60  an  der  Zahl  —  die  Bänke  des  Schiffs 
zur  Linken  als  andächtige  Zuhörer  füllt.  So  haben 
wir  Müsse,  uns  dieser  Andacht  anschliessend,  nicht 
nur  von  der  eleganten  Latinität  des  Redners  —  in 
Wahrheit  ein  ödes  Phrasengeklingel  —  zu  profitiren, 
sondern  auch,  was  mich  ungleich  mehr  reizte,  die 
Köpfe  dieses  Nachwuchses  der  nordböhmischen  Geist- 
lichkeit aufmerksam  zu  studiren.  Das  Ergebniss  ist 
entsprechend  dem,  was  man  sonst  weiss:  Der  Ein- 
druck von  dem  weitgehenden  Ueberwiegen  des  ßechi- 
schen  Elements.  Wenigstens  vier  Fünftel  dieser 
Schädel  gehören" dem  slavischen  Typus  an,  mit  der 
niedrigeren  Stirn  und  namentlich  der  aufgestülpten 
Nase  im  Verein  mit  der  dunkleren  Farbe  von  Haar 
und  Haut,   auch   dem   oberflächlichen  Bild  sich  ver- 


286 


rathend,  dazu  in  der  ganzen  Haltung  überwiegend 
bäuerliche  Herkunft  andeutend.  Ich  kann  nicht  sagen, 
dass  mir  das  Ganze  besondere  Hochachtung  einge- 
flösst  hätte,  wie  sie  dem  Eindruck  wirklicher  Intelli- 
genz gegenüber  jeder  Gebildete  empfindet."  —  Dem 
Herrn  Pastor  aus  dem  Schwabenlande  ist  da  ein 
kleiner  Sehfehler  passirt.  Im  Leitmeritzer  Priester- 
seminar befinden  sich,  aus  bekannten  Gründen,  kaum 
mehr  soviel  böhmische  Zöglinge,  als  Finger  an  einer 
Hand.  Die  erdrückende  Mehrheit  ist  deutsch,  ent- 
schieden deutschnational  sogar,  wie  die  einfache 
Thatsache  beweist,  dass  die  Leitmeritzer  Alumnen 
bei  dem  Akademikertage  aus  den  Fenstern  des  Semi- 
nars hinaus  die  —  „Wacht  am  Rhein*  sangen.  Nun, 
und  diese  wackeren  Jünger  Frind's  zählt  der  Herr 
Pastor  wegen  ihrer  „sla vischen  Physiognomie"  zu 
vier  Fünfteln  uns  Böhmen  zu.  Wir  müssen  dankend 
ablehnen.  Dass  es  die  „Physiognomie"  allein  nicht 
macht,  dass  sollte  der  Herr  Pastor  aus  der  „Kreuz- 
zeitung" wissen,  welche  zum  Beispiel  erst  vor  kurzer 
Zeit  darthat,  dass  der  Habitus  von  —  Martin  Luther 
ein  slavischer  war.  Den  Leitmeritzer  Neuprotestanten 
gehe  es  sehv  schlecht,  denn  der  Bischof  ist  sehr 
streitbar.  Zum  Beweise  führt  er  an,  dass  eben  erst 
eine  neue  evangelische  Kirche  mit  dem  Kostenauf- 
wande  von  32.000  fl.  erbaut  worden  sei.  Die  430  Prote- 
stanten von  Leitmeritz  haben  diese  Summe  ebenso 
wenig  aufgebracht,  wie  die  70  Abgefallenen  von  Lo- 
bositz,  die  sich  auch  eine  Kirche  um  50.000  Mark 
erbauten.  Woher  kommen  aber  diese  grossen  Summen  ? 
Von  Leitmeritz  pilgert  der  Herr  Pastor  nach  Aussig, 
hauptsächlich,  um  den  „grossen"  Dr.  Eisenkolb  kennen 
zu  lernen.  Er  fragt  auf  der  Redaktion  des  alldeut- 
schen Lokal-Blattes  an,  erfährt  aber  hier  zu  seinem 
Leidwesen,  dass  der  Herr  Doktor  eben  nach  Teplitz 
abgereist  sei,  allwo  er  als  Kandidat  für  den  Böh- 
mischen Landtag  eine  Wählerversammlung  abhalte. 
Der  Herr  Pasior  reist  ihm  also  nach  und  nimmt 
an  der  Wählerversammlung  theil,  in  der  auch  Herr 
Schönerer  spricht,  der  dem  schwäbischen  „Agen- 
ten" gewaltig  imponirt.  Auf  der  Fahrt  nach  Teplitz 
erlebt  er  aber  ein  kleines  Reiseabenteuer.  „Mir  gegen- 


23? 


über  sass  (im  Coupe),  so  erzählt  er,  ein  Herr  mit 
stattlichem  blonden  Vollbart,  eine  echt  deutsche  Er- 
scheinung, den  ich  nach  der  sonstigen  Unterhaltung 
in  unserer  Abtheilung  gleichfalls  für  einen  Anhänger 
Eisenkolb' s  hielt.  Ich  redete  ihn  also  an  mit  der  Frage, 
ob  er  den  dr.  Eisenkolb  und  die  anderen  alldeutschen 
Häupter  persönlich  kenne  und  wen  er  für  den  be- 
deutendsten Redner  unter  denselben  hält.  Darauf  er- 
widerte er:  Was  den  dr.  Eisenkolb  betrifft,  so  hat 
der  noch  nie  etwas  Gescheits  geschwätzt.  Und  als 
wir  dann  an  Karbitz  vorbeifuhren,  meinte  er  in  spi- 
tzigem Tone:  ich  solle  mir  den  Platz  da  neben  dem 
Bahnhof  nur  recht  genau  ansehen,  denn  dahin  käme 
das  Denkmal  für  den  Dr.  Eisenkolb  zu  stehen  dafür, 
dass  er  die  katholische  Kirche  von  ihren  schlechten 
Elementen  erlöse."  —  Darüber  ist  der  Herr  Pastor 
sehr  piquirt  und  er  versucht  es  nun,  den  Mann  mit 
dem  stattlichen  blonden  Vollbart  durch  ein  gespro- 
chenes Traktätlein  umzustimmen.  Aber  der  „Bekla- 
genswerte" bleibt  fest,  weshalb  der  Pastor  den  Be- 
kehrungsversuch aufgibt,  weil  der  Standpunkt  des 
Antieisenkolbianers  zu  öde  und  gering  und  es  seine 
Sache  sei,  wenn  er  sich  nicht  höher  ästimire.  Für 
diesen  Aerger  im  Goup6  wird  aber  Se.  Ehrwürden 
reichlich  in  der  Teplitzer  Versammlung  entschädigt. 
Besonders  frappirt  ihn  hier  die  Art,  in  der  Schönerer 
von  Allerhöchsten  Personen  spricht.  Dann  berichtet 
er  wörtlich :  „Für  mich  hatten  am  meisten  Einleuch- 
tendes die  Ausführungen  über  die  wirthschaftliche 
Noth  Cisleithaniens,  das,  zwischen  Ungarn  und  dem 
Deutschen  Reiche  eingesperrt  und  von  jenem  zollpo- 
litisch noch  schärfer  als  Gegner  behandelt  als  von 
diesem,  gar  nichts  Anderes  vor  sich  habe  zu  seiner 
wirthschaftlichen  Selbstverwaltung,  als  den  innigen 
und  völligen  Anschluss  an  das  grosse  deutsche  Volks- 
ganze. Auf  diese  Wiedervereinigung,  als  eine  wirt- 
schaftlich wie  politisch  gleich  nothwendige,  zielte  der 
Gedankengang  des  Redners  unverblümt  ab,  auch  um 
den  Preis  der  selbständigen  Grossmachtstellung  Oester- 
reichs."  Der  Herr  Pastor  merkt  hier  an:  „So  viel  ist 
sicher,  dass,  soviel  Wasser  auch  noch  in  den  all- 
deutschen Wein  geschüttet  werden   wird,    doch  ihre 


238 


Arbeit  so  viel  bewirkt  hat,  dass  das  Verlangen  nach 
Wiedervereinigung  mit  dem  grossen  Deutschen  Reiche 
nicht  mehr  aus  der  Seele  des  deutschen  Volkes  in 
Oesterreich  verschwinden  wird,  bis  es  eines  Tages 
seine  Verwirklichung  findet."  —  Und  nun  möchten 
wir  den  Herrn  Pastor  fragen,  was  wohl  geschehen 
würde,  wenn  in  Deutschland  ein  Redner  eine  landes- 
preisgeberische  Rede  hielte,  wie  es  die  Schönerer' s 
in  Teplitz  war,  wenn  bei  derselben  ein  katholischer 
Pfarrer  aus  Oesterreich  anwesend  wäre  und  sie  dann 
publicistisch  gutheissen  würde?  Möchte  der  Herr 
Pastor  nicht  darauf  Antwort  ertheilen?  Nach  der  Ver- 
sammlung hat  Se.  Ehrwürden  wieder  ein  Abenteuer. 
Er  erzählt  darüber:  „Nach  der  Versammlung,  die  nach 
11  Uhr  ausging,  hatte  ich  das  Vergnügen,  nach  der 
Rückkehr  in  meinen  „Anker"  mit  einer  Gruppe  junger 
Leute,  die  mich  nicht  so  rasch  los  Hessen,  noch  ein 
paar  Wörter  zu  verplaudern.  Bemerkenswert!!,  mit 
welcher  Schärfe  in  diesem  Kreise,  der  aus  lauter  ge- 
borenen Katholiken  bestand,  die  äusserlich  alle  noch 
dazu  gehörten,  über  ihre  eigene  katholische  Kirche 
geurtheilt  wurde.  Als  ich  den  Hauptunterschied  zwischen 
dem  Protestantismus  und  dem  Katholicismus  dahin 
definirte,  dass  dieser  einen  „anderen  Wahrheitsbe- 
griff" habe,  fuhr  mein  Gegenüber,  ein  junger,  leben- 
diger Mann,  Handlungsschüler,  soviel  ich  mich  erin- 
nere, dazwischen:  „Erlauben  Sie,  dass  ich  Ihnen  da 
widerspreche!  Die  katholische  Kirche  hat  gar  keinen 
Wahrheitsbegriff,  sie  hasst  vielmehr,  was  mit  Wahr- 
heit überhaupt  zusammenhängt  u.  dgl."  Natürlich 
konnte  ich  ihn  beruhigen,  dass  wir  sachlich  offenbar 
zusammenstimmen,  dass  ich  aber  in  der  Form  mich 
mass voller  ausdrückte."  —  Also  nahe  an  Mitternacht 
setzt  sich  der  Herr  Pastor  mit  ein  paar  jungen  Leuten, 
die  voll  von  Phrasen  und  Bier  sind,  zusammen  und 
disputirt  mit  ihnen  über  Religion.  Und  als  ein  Schul- 
junge behauptet,  dass  die  „katholische  Kirche  gar 
keinen  Wahrheitsbegriff  hat",  da  stimmt  der  Herr 
Pastor  „sachlich"  zu.  Und  er  ist  naiv  genug,  das 
noch  weiter  zu  erzählen.  Bieten  aber  die  Reisebrlefe 
des  schwäbischen  Pastors  nicht  sehr,  sehr  lehrreiche 
Einblicke  in  die  Werkstätte  der  Abfallsbewegung  und 


239 


sollte  man  darum  die  Lektüre  derselben  nicht   auch 
den  massgebenden  Stellen  anempfehlen? 

Die  Magdeburger  Zeitung  berichtet  ganz  vergnügt 
im  September  1901  folgendes:  Es  gibt  in  deutschen 
Sprachgebieten  Böhmens  heute  deutsch-evangelische 
Pfarr-  und  Filialgemeinden  und  Predigtstationen  in 
Trautenau,  Braunau,  Hohenelbe,  Langenau,  Hermann- 
seifen, Landskron,  Grulich,  Arnau,  Gablonz,  Böhmisch- 
Aicha,  Hermannsthal,  Friedland,  Neustadtl,  Heiners- 
dorf, Reichenberg,  Gabel,  Grottau,  Warnsdorf,  Rum- 
burg, Haida,  Böhmisch-Leipa,  Niemes,  Böhmisch- 
Kamnitz,  Steinschönau,  Rosendorf,  Haber,  Wernstadt, 
Bodenbach,  Aussig,  Lobositz,  Trebnitz,  Leitmeritz, 
Obersedlitz,  Karbitz,  Turn  bei  Teplitz,  Teplitz,  Graupen, 
Dux,  Klostergrab,  Brüx,  Görkau,  Komotau,  Weipert, 
Saaz,  Podersam,  Kaaden,  Horschowitz,  Woratschen, 
Karlsbad,  Chodau,  Graslitz,  Falkenau,  Königsberg, 
Eger,  Franzensbad,  Asch,  Rossbach,  Neuberg,  Marien- 
bad, Plan,  Pilsen,  Winterberg  und  Budweis.  „Ein 
ganzes  Netz  von  evangelischen  Seelsorgestationen  hat 
also  —  so  frohlockt  das  Blatt  —  Deutschböhmen 
überspannt."  In  Prag  gibt  es  eine  deutsch-evangelische 
Gemeinde.  „In  Mähren  gibt  es  deutsch-evangelische 
Gemeinden  nur  in  Brunn,  Mährisch-Ghrostau,  Znaim, 
Iglau,  Nikolsburg,  Zauchtl,  Hotzendorf,  Christdorf,  01- 
mütz,  Mährisch-Trübau,  Hohenstadt,  Müglitz,  Mährisch- 
Schönberg,  Mährisch-Ostrau  und  Neutischein,  während 
über  40  Gemeinden  ganz  und  gar  ßechisch  sind.  In 
Schlesien  sind  als  deutsch-evangelische  Gemeinden 
die  zu  Freiwaldau,  Freudenthal,  Jägerndorf,  Troppau, 
Kleinbressel,  Hillersdorf,  Bielitz  und  Altbielitz  zu  be- 
zeichnen; die  übrigen  15  Gemeinden  sind  grössten- 
theils  polnisch."  Das  Blatt  gibt  zugleich  Aufschluss 
über  die  Höhe  der  reichsdeutschen  Subventionen  für 
diese  Gemeinden,  indem  es  sagt:  „Im  Vereinsjahr 
1898/99  wurden  allein  454  österreichische  Gemeinden 
mit  der  stattlichen  Summe  von  374.492  Mark  durch 
den  Gustav  Adolf-Verein  bedacht;  im  Ganzen  empfin- 
gen aber  die  nothleidendeh  Gemeinden  bisher  rund 
8,357.000  Mark  milde  Gaben/  Es  wäre  interessant  zu 
wissen,  von  wem  die  „milden  Gaben"  stammen,  welche 
die   Subventionen    des    Gustav    Adolf-Vereines    über- 


240 


steigen.  Zu  gleicher  Zeit  brachten  die  Mittheilungen 
des  evangelischen  Bundes  für  Brandenburg  die  Nach- 
richt, dass  bereits  einundfünfzig  reichsdeutsche  evan- 
gelische Prediger  in  Oesterreich  thätig  sind,  und  zwar 
wird  diese  Angabe  wie  folgt  specialisirt :  „In  Böhmen 
wirken  in  Haida  Hegemann,  in  Braunau  Kinzenbach, 
in  Erammel  Satlow,  in  Karbitz  Weissbach,  in  Dux 
Schaarschmied,  in  Turn  Klein,  in  Karlsbad  Kusserow, 
in  Komotau  Spanuth,  in  Treibnitz  Haflfner,  in  Lange- 
nau  Röhrig,  in  Hohenelbe  Wirth,  in  Pilsen  Plaens- 
dorf,  in  Budweis  Kittel,  in  Warnsdorf  Zwahr,  in  Grottau 
Hermann,  in  Klostergrab  Ungnad,  in  Graslitz  Schottke. 
Aus  Falkenau  ist  Dellit,  weil  seine  Bestätigung  nicht 
zu  erlangen  war,  in  seine  Heimat  zurückgekehrt;  er 
wird  durch  den  Hessen  Bespermann  ersetzt  werden. 
Zu  diesen  achtzehn  Vikaren  treten  in  nächster  Zeit 
noch  zwei  Vikare  für  den  Komotauer,  einer  für  den 
Karlsbader,  einer  für  den  Egerer,  einer  für  den  Pil- 
sener Bezirk,  und  vermuthlich  auch  einer  für  die  Te- 
tschener  Gegend,  die  vorläufig  durch  einen  Pfarrer 
emer.  versorgt  wird.  Böhmen  wird  also  in  Bälde  24 
Vikare  haben.  —  In  Steiermark  wird  der  Bestand  von 
neun  Vikaren,  von  denen  Schaudig  in  Graz,  Kappus 
in  Mürzzuschlag,  Höhn  in  Leoben,  May  in  Gilli,  Fischer 
in  Radkersburg,  Hochstetter  in  Stainz,  Mahnert  in 
Mahrenberg,  Schiefmair  in  Rottermann,  Ilgenstein  in 
Fürstenfeld  arbeiten,  um  zwei  vermehrt  werden:  um 
eine  Stelle  in  Graz  (Lic.  theol.  Holtz  vom  1.  Mai  1901 
an)  und  eine  in  Judenburg;  das  macht  elf  Vikare.  — 
In  Mähren  stehen  auf  dem  Posten:  in  Mährisch-Trübau 
Ballerstedt,  in  Hohenstadt  Schmidt,  in  Neutitschein 
Wehrenpfennig,  in  Olmütz  Mühlpfort,  in  Zauchtl  Dr. 
Wrzecionko,  in  Nikolsburg  Jaehn,  während  für  Gru- 
lich  Peisker  gewählt  ist,  und  das  Amt  in  Mährisch- 
Chrostau  unter  unserer  Beihilfe  zum  Gehalt  Waitkat, 
bisher  in  Bielitz,  übernommen  hat,  an  dessen  Stelle 
c.  min.  Lobe  getreten  ist.  Das  sind  in  Summe  neun 
Vikare.  —  Von  den  Gemeinden  in  Kärnten  wird  Treffen 
durch  den  Evangelisten  Busse,  Villach  durch  Vikar 
Heinzelmann,  St.  Ruprecht  durch  Schacht,  Waiern 
durch  Lehmann  versorgt,  der  wahrscheinlich  nach 
Komotau  berufen  wird  und  durch  einen  anderen  er- 


241 


setzt  werden  tnuss,  während  in  Klagenfurt  Hicfcmann 
im  Mai  angetreten  ist.  Das  sind  fünf  geistliche  Kräfte. 
In  Nieder-Oesterreich  wird  Floridsdorf  durch  Kühn, 
Baden  durch  Jordan,  St.  Polten  (Krems}  durch  Monsky 
verwaltet,  während  für  Wiener-Neustadt  Walbaum 
vorgeschlagen  ist.  Rechnet  man  dazu,  dass  für  das 
in  Feldkirch  (Vorarlberg),  für  das  in  Innsbruck,  sowie 
für  das  in  Gzernowitz  (Bukowina)  errichtete  vVikariat 
schon  Vorschläge  gemacht  sind,  so  ergibt  sich  eine 
Zahl  von  56  geistlichen  Kräften,  darunter  51  Reichs- 
deutsche, die  von  uns  in  den  Dienst  der  evangelischen 
Kirche  Oesterreichs  gestellt  worden  sind."  —  Mit 
Recht  bemerkte  die  „Köln.  Volksztg."  zu  dieser  höchst 
erbaulichen  Thatsache:  „Also  unter  56  Vikaren  sind 
nicht  weniger  als  51  Reichsdeutsche.  Daraus  geht 
hervor,  dass  diese  Agitation  für  Oesterreich  zu  einem 
grossen  Bruchtheil  einen  reichsdeutschen  Importartikel 
darstellt;  ohne  die  reichsdeutsche  Unterstützung  durch 
Prediger  und  grosse  Geldsummen  wäre  sie  vielleicht 
schon  wieder  zusammengebrochen.  Wenn  es  trotzdem 
Blätter  gibt,  die  noch  über  österreichische  „Intole- 
ranz" zetern,  so  braucht  man  nur  die  Frage  zustellen, 
ob  in  Preussen  wohl  eine  katholische  Agitation  durch 
ausländische  Geistliche  gestattet  werden  würde,  zumal 
wenn  sie  noch  mit  einer  hochverrätherischen  Bewe- 
gung, die  auf  Losreissung  preussischer  Staatsgebiete 
und  ihre  Annexion  durch  eine  ausländische  Macht 
abzielt,  sich  berührte.  Diese  Frage  stellen,  heisst  zu- 
gleich sie  beantworten.  Nicht  51,  nicht  ein  einziger 
katholischer  ausländischer  Geistlicher  würde  zu  diesem 
Zwecke  hier  zugelassen  werden.  Wenn  man  Jbei  uns 
schon  reichsdeutsche  Jesuiten  und  Lazaristeh  nicht 
duldet,  wieviel  kürzeren  Process  würde  man  zum 
Beispiel  mit  Franzosen  machen,  die  in  Elsass-Loth- 
ringen  eine  Los  von  Wittenberg-Agitation  betrieben 
•  und  dadurch  das  Volk  aufregten!  In  Oesterreich  liul- 
digt  man  in  dieser  Beziehung  dem  marichesterlichen 
Princip  des  laisser  aller  et  laisser  faire. 

Das  in  Christiania  erscheinende  „Morgenbladet" 
schrieb  im  Oktober  1901  einen  Artikel  über  die  Los 
von  Rom-Bewegung.  Der  Verfasser  ist  darüber  voll- 
ständig klar,  dass  es  der  „Paugermanismus"  ist,    der 

16  ~ 


242 


sein  Augenmerk  auf  Oesterreich  gerichtet  hat,  und 
sich  im  Lande  auszubreiten  sucht  durch  Mittel  aller 
Art,  zu  denen  auch  die  sogenannte  „Los  von  Rom"- 
Bewegung  gehört.  „Für  diese  Propaganda,"  (nämlich 
die  alldeutsche)  sagt  der  Verfasser,  „hat  sich  beson- 
ders im  Laufe  des  letzten  Menschen  alters  eine  mäch- 
tige Reihe  von  Organen  in  Form  von  ausgebreiteten 
Vereinen  und  Bündnissen  entwickelt,  die  über  be- 
deutende Geldmittel  verfügen,  zahlreiche  Mitglieder 
und  eine  eihflussreiche  Presse  haben.  Diese  politische 
Propaganda  wird  vom  sogenannten  „Alldeutschen 
Verein"  geleitet,  dessen  leitender  Geist  zur  Zeit  der 
deutsche  Reichstagsabgeordnete  Dr.  Hasse  ist  und 
welcher  mit  einer  ganzen  Reihe  anderer  Vereine  in 
Verbindung  steht,  somit  dem  Gustav  Adolf- Verein 
und  dem  evangelischen  Bund,  welche  die  protestan- 
tische Propaganda  besorgen,  mit  dem  Odinsverein  in 
München,  dessen  Programm  zugleich  politisch  und 
religiös  ist  ..."  Der  Verfasser  führt  sodann  in  seinem 
Artikel  zur  Bekräftigung  seiner  Meinung  das  Urtheil 
eines  französischen  Verfassers  an:  „Es  ist,  sagt  dieser, 
besonders  nach  den  Aufklärungen,  welche  im  Jahre 
1899  der  Process  gegen  den  deutschen  Pastor  Ever- 
ling  in  Graz  brachte,  notorisch,  dass  die  „Los  von 
Rom  "-Bewegung,  welche  von  den  reichsdeutschen 
Protestanten  gestützt  wird,  eine  politische  Bewegung 
ist,  und  ein  „Los  von  Oesterreich"  anstrebt.  Diese 
Anschauung  ist  auch  im  protestantischen  Dänemark 
fast  allgemein.  Und  wenn  auch  einzelne  fanatische 
salbungstriefende  Prediger  um  milde  Gaben  bitten, 
für  die  „unter  Roms  Knechtschaft"  (!)  schmachtenden 
und  jetzt  nach  dem  Evangelium  (!)  seufzenden  Ka- 
tholiken Oesterreichs  und  besonders  Böhmens,  so 
wendet  sich  doch  der  weit  grössere  Theil  der  Pa- 
storen mit  Verachtung  von  dieser  Bewegung  und  ihren 
Aposteln  ab,  „da  sie  mit  dem  „preussischen  Chri- 
stenthum"  nichts  zu  thun  haben  wollen. 

Am  26.  März  brachte  das  „Vaterland"  einen  Be- 
richt aus  Klagenfurt.  Es  heisst  darin:  Nicht  minder 
als  in  anderen  Kronländern  hat  die  „Los  von  Rom"- 
Agitation  auch  in  Kärnten  mit  grosser  Kraft  einge- 
setzt.   Wie  Pilze  nach  dem  Regen  tauchen  „evange- 


248 


lische"  Vikare  allerorten  auf.  Man  baut  „evangelische" 
Kirchen,  hält  „Familienabende",  arbeitet  mit  Bro- 
schüren, Zeitungen  und  Geld,  dass  es  eine  helle  Freude 
ist.  Der  katholische  Klerus  hat  diese  Dinge  nicht 
schweigend  hingenommen  und  unter  den  anderen 
Werken  der .  Katholiken,  welche  dieser  Bewegung 
entgegen  gestellt  wurden,  ist  gewiss  das  von  Kaplan 
Kayser  in  Feldkirchen  gegründete  Waisenhaus  be- 
rufen, eine  ganz  hervorragende  Rolle  zu  spielen.  Un- 
weit Feldkirchen  besteht  nämlich  unter  der  Leitung 
des  evangelischen  Seniors  Schwarz  seit  Jahren  ein 
Waisenhaus,  welches  vom  evangelischen  Bund,  vom 
Gustav  Adolf-Vereine,  aber  auch  von  der  Kärntner 
Sparkasse  und  vom  Lande  selbst  ausgiebig  subven- 
tionirt  wird.  Seit  Jahren  klagen  die  katholischen 
Seelsorger  in  Feldkirchen,  dass  dieses  Waisenhaus 
mit  Vorliebe  katholische  Kinder  aufnehme  und  sie 
zum  Abfall  vorbereite,  aber  man  fand  kein  Mittel  da- 
gegen, bis  Herr  Kayser  am  Epiphaniefeste  dieses 
Jahres  das  katholische  Waisenhaus  eröffnete.  Dass  es 
an  Waisenkindern  in  einem  Lande,  wo  das  Familiek- 
leben so  darnieder  liegt,  nicht  fehle,  wird  Jedermann 
glauben,  wohl  aber  fehlt  es  an  Geldmitteln,  um  die 
schreienden  Jungen  zu  stillen. 

Was  war  da  natürlicher,  als  dass  Herr  Kaplan 
Kayser,  nachdem  er  sein  Vermögen  ganz  geopfert 
hatte,  an  die  Wohlthätigkeit  der  Mitmenschen  appel- 
lirte.  Herr  Kayser  verfasste  auch  ein  Majestätsgesuch 
um  eine  Unterstützung  dieser  in  der  „Los  von  Romw- 
Bewegung  so  dringend  nothwendig  gewordener  An- 
stalt. Das  Gesuch  kam  von  der  allerhöchsten  Kabinets- 
kanzlei  an  die  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  in  Klagen- 
furt zur  Begutachtung.  Da  geschah  denn  was  höchst 
Sonderbares !  Die  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  über- 
gab das  Gesuch  des  hochw.  Herrn  Kayser  dem  evan- 
gelischen Senior  Schwarz  zur  Begutachtung,  oder  zur 
Aeusserung,  ob  es  denn  wahr  sei,  dass  die  Anstalt 
in  Wayern  die  „Los  von  Romu-Bewegung  fördere? 
Der  Herr  k.  k.  Bezirkshauptmann  von  Klagenfurt  wird 
schon  seit  längerer  Zeit  sowohl  von  den  deutschen 
als  slovenischen  Katholiken  mit  grossem  Misstrauen 
beobachtet.    Diesmal  ist  sein  Vorgehen  unbegreiflich, 

16* 


244 


umso  unbegreiflicher,  als  der  Herr  sich  einem  kirch- 
lichen Würdenträger  gegenüber  sehr  indignirt  äusserte, 
dass  Kaplan  Kayser  konfessionellen  Unfrieden  nach 
Feldkirchen  bringe.  Vielleicht  wollte  man  das  Ordi- 
nariat gegen  den  seeleneifrigen  Kaplan  mobilisiren. 
Die  Sache  ging  aber  nicht  und  erregte  an  kompetenter 
Stelle  nur  tiefsten  Unwillen.  Herr  Schwarz  verfasste 
ein  Gutachten,  das  zur  Kenntniss  des  Herrn  Kayser 
gekommen  ist.  Kaplan  Kayser  veröffentlichte  dann  in 
der  „Kärntner  Ztg."  einen  offenen  Brief  an  Herrn 
Schwarz.  Dem  Briefe  entnehmen  wir  folgende  Stellen : 
Ich  erinnere  an  den  Abfall  des  Knaben  Joseph 
Mauer  ....  derselbe  war  der  talentir testen  einer  und 
hat  mir  im  Religionsunterrichte  nie  Anlass  zur 
Klage  oder  zum  Tadel  gegeben.  Plötzlich  mit  dem  14. 
Lebensjahre  hat  ihn  der  Hauch  des  Evangeliums  in 
Ihrer  (Herrn  Schwarz)  Anstalt  zum  Abfalle  gebracht. 
Jetzt  ist  es  mir  klar,  warum  die  Mutter  ihre  Zustim- 
mung zum  Uebertritte  ihres  Kindes  gegeben,  denn 
der  Junge  wird  ja  jetzt  auf  Ihre  (des  Seniors)  Kosten 
zum  Lehrer  ausgebildet ....  Im  Laufe  der  Zeit,  wo 
Ihre  Anstalt  besteht,  sind  nicht  weniger  als  sechs 
Kinder  vom  „Hauche  des  Evangeliums"  erwärmt 
worden  und  abgefallen  ....  und  Sie  erzählen  der 
Behörde,  dass  katholische  Geistliche  konfessionelle 
Anfeindungen  in  die  Kinder  hineingetragen  hätten ! .  . . 
Es  ist  Thatsache,  dass  vor  katholischen  Kindern  in 
Ihrer  Anstalt  die  Lehren  der  katholischen  Kirche 
und  ihre  Geremonien,  die  Muttergottes-  und  Heiligen- 
verehrung bespöttelt  und  lächerlich  gemacht  wer- 
den     Sie  selbst  können   es   sich  nicht  versagen, 

sogar  bei  Begräbnissen  die  Gefühle  der  anwesenden 
katholischen  Kinder  Ihrer  Anstalt  und  jener  Katho- 
liken, die  ihrem  protestantischen  Mitbürger  die  letzte 
Ehre  erweisen,  gröblich  zu  verletzen  .  .  .  indem  Sie 
einem  Protestanten  ins  Grab  nachriefen;  „Und  wenn 
Du  tausend  Messen  lesen  lässt,  wird  es '  dir  doch 
nichts  nützen!"  Haben  Sie  sich  nicht  bemüssigt  ge- 
fühlt, an  einem  anderen  offenen  Grabe  von  „Rosen- 
kranzplappern" zu  sprechen?  Mein  Vorgänger  hatte 
'eines  Tages  einen  Versehgang  zu  machen,  der  ihn 
durch  Wayern  führte.  Ein  Knabe  Ihrer  Anstalt  nahm 


245 


die  Mütze  ab,  während  ein  anderer  ihm  zurief:  „Lass 
das  doch,  was  geht  Dich  denn  der  PfafT  an!"  Und 
Jener,  der  sich  diese  Beschimpfung  und  Religions- 
störung zuschulden  kommen  Hess,  war  Ihr  eigener 
Sohn.  Ich  verweise  auf  das  Konfirmandenbüchlein, 
das  vielleicht  auch  katholischen  Schülern  in  die  Hand 
gedrückt  wird,  worin  es  von  Unrichtigkeiten  und 
Entstellungen  der  katholischen  Glaubenslehren  nur  so 
wimmelt!  Noch  erinnere  ich  Sie  an  die  famose  Ver- 
sammlung des  Jugendbundes  „Südwacht"  in  Feld- 
kirchen, wo  in  Anwesenheit  vieler  katholischer  Kinder 
das  Bussakrament  verhöhnt  und  in  den  Koth  gezerrt 
wurde. 

Der  Herr  Kaplan  schliesst  den  Brief:  Einstweilen 
bin  ich  mit  Ihnen  fertig,  was  ich  Ihnen  noch  mehr 
zu  sagen  habe,  können  wir  auf  später  aufsparen. 
Vorstehendes  beweist  vorläufig  zur  Genüge,  dass  die 
Störer  des  konfessionellen  Friedens  nicht  wir,  sondern 
andere  Leute  sind,  was  wir  mit  unendlicher  Ent- 
sagung des  Friedens  wegen  ertragen  haben  —  jetzt 
aber,  da  Sie  selbst  die  politischen  Behörden  mit 
Ihren  grundlosen  Beschwerden  belästigen,  sage  ich 
Ihnen:  Sobald  Sie  noch  weiter,  wie  früher,  uns  Katho- 
liken im  Geheimen  oder  offen  befehden,  treffen  Sie 
auf  einen  Gegner,  dessen  Geduld  zu  Ende  ist.  Das 
Lied  vom  Frieden  ist  ein  altes  Lied,  die  Katholiken 
sollten  immer  Frieden  halten,  und  wehren  sie  sich 
einmal  —  nun  dann  sind  sie  die  Störefriede,  selbst 
in  den  Augen  mancher  Behörden,  Gott  sein  Dank 
nicht  mehr  im  Urtheile  der  kirchlichen  Obrigkeit. 
Wenn  das  Sündenregister,  welches  hier  dem  „evan- 
lischen"  Senior  vorgehalten  wird,  den  Thatsachen 
entspricht,  worüber  kaum  zu  zweifeln  ist,  dann  mag 
der  Katholik  mit  Recht  fragen,  was  der  Protestantis- 
mus noch  mehr  thun  solle,  um  katholische  Kinder 
„Los  von  Rom"  zu  bringen.  Vielleicht  wird  sich  die 
k.  k.  Behörde  mit  der  Zeit  doch  klar,  wer  den  kon- 
fessionellen Frieden  stört?  Es  ist  eine  tief  zu  be- 
dauernde Thatsache,  dass  ein  Grosstheil  der  k.  k. 
Beamten  sich  die  Informationen  über  offenkundige 
Thatsachen  nur  aus  der  „Los  von  Rom"-  oder  doch 
nur  aus  der  radikaldeutschen  Presse  holt,   und- dann 


246 


gegenüber   den  Katholiken   eine   Stellung   einnimmt, 
die  schwer  zu  verantworten  ist. 

Am  13.  März  1902  brachte  das  „Vaterland"  aus 
Nordböhmen  diesen  Bericht.  Die  Protestanten  be- 
trachten Klostergrab  als  ihr  Heiligthum.  Zu  Anfang 
des  siebzehnten  Jahrhunderts  hatten  sie  auf  Ossegger 
Stiftsgrunde  widerrechtlich  eine  Kirche  gebaut  Trotz 
aller  Verbote  der  Behörde  wurde  der  evangelische 
Gottesdienst  fortgesetzt  und  der  katholische  Pfarrer, 
welcher  gegen  die  Aufständischen  predigte,  hinter 
dem  Hochaltare  gehängt.  Nun  schritt  die  Behörde 
energisch  ein;  wie  dabei  die  protestantische  Kirche 
in  Brand  gerieth,  ist  nicht  klargestellt.  Das  geschah 
im  Jahre  1617.  —  Am  12.  December  1900  wurde  nun 
der  Grundstein  zu  einer  neuen  evangelischen  Kirche 
gelegt;  am  nächsten  Charfreitag  soll  ihre  feierliche 
Weihe  stattfinden  —  mit  Festgeläute,  Festzug,  Fest- 
essen, Koncert  u.  s.  w.  Wahrlich,  solcher  Rücksichts- 
losigkeit und  Unverschämtheit  wären  die  Katholiken 
Sachsens,  auch  wenn  dort  solches  geduldet  würde, 
nicht  fähig !  Die  katholische  Pfarrgemeinde  zählt  über 
4000  Seelen,  die  evangelische  vielleicht  gegen  200, 
darunter  75  abgefallene  Katholiken.  Sollten  auch  dies- 
mal wieder  wie  bei  der  Grundsteinlegung  die  katho- 
lischen Lehrer  an  dieser  evangelischen  Charfreitags- 
festlichkeit  theilnehmen,  so  wäre  das  ein  unerhörtes 
Aergerniss.  —  Die  Mission,  gehalten  von  denhochw. 
Patres  Lerch  und  Pagler  vom  2.  bis  10.  März,  nahm 
einen  unerwartet  erfreulichen  Verlauf.  War  die  Kirche 
bei  der  Predigt  Früh  um  8  Uhr  gefüllt,  so  konnte 
dieselbe  Abends  die  Menschenmenge  nicht  fassen. 
Bei  1200  Erwachsene  jeden  Standes  empfingen  die 
heiligen  Sakramente  Das  Volk  ist  ausgezeichnet  gut, 
echt  österreichisch  und  katholisch  gesinnt,  aber  diese 
Hetzer!  —  Der  evangelische  Pfarrvikar,  welcher,  ob- 
schon  ein  Ausländer,  hier  pastorirt,  wurde  erst  un- 
längst wegen  Pressvergehens  und  Uebertretung  des 
Vereinsgesetzes  zu  60  Kronen  verurtheilt.  Dennoch 
nennt  ihn  der  Volksmund  als  den  Urheber  der  „Los 
von  Rom  "-Plakate,  welche  unmittelbar  vor  dem  Be- 
ginne der  Mission  überall  angeklebt  waren.  —  Die 
Mission,    die  heute   in  Mariaschein   beginnt,    ist    seit 


247 


Beginn  des  Jahres  1902  schon  die  achte,  die  im  deut- 
schen Antheile  der  Leitmeritzer  Diöcese  gehalten  wird 
—  jede  mit  gutem  Erfolge.  Nur  eine  Gemeinde  hat' 
gegen  die  Abhaltung  einer  solchen  Gnadenzeit  bei 
weltlicher  und  geistlicher  Behörde  protestirt,  und 
merkwürdig,  nicht  eine  solche,  an  deren  Spitze  ein 
öechischer  Seelsorger  steht,  sondern  ein  deutscher 
Pfarrer  mit  einem  deutschen  Kaplan.  —  Wo  fehlt  es 
in  unserem  Vaterlande  ?  An  österreichisch  und  katho- 
lisch gesinnten  Lehrern  und  Beamten.  Sollten  es  diese 
Leute  nicht  bald  herausfühlen,  wie  sie  beim  Volke  an 
Achtung  und  Liebe  immer  mehr  verlieren? 

Die  „Wartburg",  das  Organ  der  Abfallsbewegung, 
die  der  bekannte  Lehmann  in  München  verlegt, 
brachte  in  der  Pfingstnummer  1902  eine  Uebersicht 
der  Abfallsbewegung  in  Böhmen.  Es  zeigt  sich  aus 
diesen  Pastoren-Nachweisen,  dass  das  deutsche  Süd- 
böhmen und  Südwestböhmen  ebenso,  wie  das  ge- 
sammte  eigentliche  Nordböhmen  vom  Abfall  frei  ist. 
Der  Grund  dafür  ist  wohl,  weil  dort  auch  der  poli- 
tische Schönerianismus  und  Wolflfianismus  nicht  festen 
Fuss  fassen  konnte.  Dagegen  ist  das  weite  Gebiet  am 
Erzgebirge,  vom  Egerland  über  Komotau,  Teplitz, 
Aussig  bei  Leitmeritz  und  Tetschen  hin  von  diesem 
Apostatenthum  durchsetzt,  und  die  Agitationen  der 
Auslands-Pastoren  in  Verbindung  mit  den  vom  Aus- 
sland hereingeschafften  Millionen  und  den  massigen 
Agitationsschriften  haben  ihre  Wirkung  geäussert. 
Relativ  betrachtet,  ist  der  „Seelenfang"  allerdings 
bescheiden  genug,  aber  er  hat  doch  in  den  citirten 
Gegenden  und  ausserdem  im  Trautenau-Hohen^lber 
Gebiete  manchen  Katholiken  auf  andere  Wege  geführt 
und  den  Vorwand  zur  Erbauung  mehrerer  neuer 
lutherischer  Kirchen  oder  Bethäuser  gegeben.  Das 
erste  Apostasie-Gebiet,  das  Egerland,  zeigt  als  Haupt- 
orte des  Abfalls  nicht  Dörfer,  sondern  Städte,  wie 
Asch,  Eger,  Karlsbad,  dann  Falkenau  und  Chodau, 
wo  neue  Pastorate  gegründet  wurden.  Das  nächste 
Abfall-Centrum  ist  Komotau  mit  Anhängseln  in  Saaz, 
Podersam,  Kaaden,  Horschowitz  und  Weipert.  In 
diesem  lutherischen  Agitationsgebiete  gibt  es  jetzt  6f 
statt  früher  nur  einen  Pastor,   Der  dritte  Agitations- 


248 


herd  ist  Dux  mit  Teplitz,  Turn  und  Aussig  bis  Leit- 
meritz,  von  wo  die  Abfallprediger  nach  Klostergrab, 
Graupen,  Karbitz,  Boreslau  hinüberzugreifen  suchen. 
Auf  dieses  Gebiet  des  Kohlenbergbaues  das  über  3 
Meilen  im  Durchmesser  hat,  werden  ein  Drittel  der 
Apostasien  ganz  Deutschböhmens  gerechnet.  Ein  wei- 
terer Abfallkessel  ist  das  Trautenau-Langenau-Hohen- 
elbe-Gablonzer  Gebiet,  das  am  Riesengebirge  liegt. 
So  gering  auch  die  Kopfzahl  der  circa  10.000  Ab- 
trünnigen in  Deutschböhmen  im  Vergleiche  zur  Ge- 
sammtzahl  der  Katholiken  dieses  weitgedehnten  Ge- 
bietes ist,  das  massige  Geld  muckerischer  Herkunft 
aus  Deutschland  gibt  diesem  Schöhererthum  einen 
gewissen  Hintergrund.  Während  es  in  Deutschböhmen 
1898  nur  28  protestantische  Pastoren  mit  23  luthe- 
rischen Kirchen  oder  Bethäusern  für  48  Ortschaften 
gab,  werden  jetzt  54  Pastoren  mit  40  protestantischen 
Kirchen  oder  Bethäusern  für  108  Orte  gezählt*  und 
die  Mittel  der  Propaganda  werden  aus  dem  Nachbar- 
reiche mit  vollen  Händen  geboten.  Religiöser  Sinn 
ist  bei  dem  neuen  Abfallzuwachs  für  das  Lutherthum 
wohl  nicht  zu  erwarten,  denn  diese  Elemente,  viel- 
fach ungläubig,  bleiben,  was  sie  früher  waren,  kirchen- 
lustscheu.  Aber  die  religiöse  Zerrissenheit  ist  nun 
doch  ins  Volk  des  westlichen  und  nordwestlichen 
Böhmens  hineingetragen  worden,  und  dieser  Gähr- 
stoff  wird  fortwirken. 

XIV.  Die  rollende  Reichsmark. 

Es  ist  bekannt,  dass  nach  dem  siegreichen  Raub- 
zuge Preussens  im  Jahre  1866  der  damalige  preus- 
sische  König  Wilhelm  darauf  bestand,  die  böhmischen 
Länder  müssen  Preussen  einverleibt  werden,  sich  dem 
Begehr  des  Königs  Bismark  entgegensetzte,  indem  er 
darauf  hinwies,  dass  diese  Länder  katholisch  sind 
und  das  oficiell  lutherische  Preussen  könne  derzeit 
einen  Zuwachs  an  Katholiken  nicht  brauchen.  Das  im 
Jahre  1866  unvollendet  gebliebene  Werk  soll  durch 
die  „evangelische"  Agitation,  die  Los  von  Rom-Hetze 
der  Vollendung  näher  gebracht  werden. 

Die  Los  von  Rom-Agitation  braucht  viele  Geld- 
mittel,   diese    sind  unter  der  Bevölkerung  in  Oester- 


249 


reich  schwer  zu  haben,  daher  wird  von  Preussen- 
Deutschland  ausgeholfen.  Die  rollende  Reichsmark 
soll  ihre  Schuldigkeit  thun  und  das  oficielle  deutsche 
Lutherthum  hofft  für  seine  Nachkommen  reichliche 
Zinsen  durch  Annexion  der  böhmischen  Länder.  Ist 
doch  Preussen  im  Haupttheile  sehr  mager  und  san- 
dig, Böhmen  so  schön,  fruchtbar  und  reich.  Die  Geld- 
mittel für  die  Abfallsbewegung  in  Oesterreich  fliessen 
auf  verschiedenartige  Weise  ein. 

Die  in  Berlin  erscheinende  „Germania"  brachte 
am  4.  September  1901  folgenden  Artikel.  Eine  Haus- 
kollecte  in  Mecklenburg  für  die  Los  von  Rom-Bawe- 
gung.  Die  Mittheilung  des  ,^Mecklb.  TagebL",  dass 
das  Ministerium  des  Grossherzogthums  Mecklenburg-' 
Schwerin  die  Genehmigung  zur  Abhaltung  einer  Haus- 
kollekte für  die  Los  von  Rom-Bewegung  ertheilt  habe, 
wird  von  der  „Täglichen  Rundschau"  bestätigt,  und 
zwar  mit  dem  Hinzufügen,  dass  sie  „in  dem  durch 
und  durch  protestantischen  Grossherzogthum  Mecklen- 
burg allerorten  freudigen  Wiederhall  gefunden  hat". 
Letzteres  möchten  wir  doch,  zur  Ehre  der  protestan- 
tischen Bevölkerung  Mecklenburgs,  in  Zweifel  ziehen; 
Um  so  weniger  aber  können  wir  unser  Erstaunen 
darüber  unterdrücken,  dass  das  Ministerium  des  Grosse 
hsrzogthums  Mecklenburg-Schwerin  kein  Bedenken 
getragen  hat,  der  allgemeinen  Hauskollekte  für  die 
Los  von  Rom-Bewegung  seine  Genehmigung  zu  er: 
theiten.  Es  kann  der  mecklenburgischen  Regierung 
doch  unmöglich  entgangen  sein,  dass  die  Los  von 
Rom-Bewegung  in  Oesterreich  einen  ziemlich  stark 
ausgeprägten  antidynastischen  und  landesverräthe- 
rischen  Charakter  besitzt,  wie  auch  der  österreichisch-^ 
ungarische  Thronfolger  Erzherzog  Franz  Ferdinand 
es  am  17.  April  d.  J.  offen  ausgesprochen  hat,  dass 
„die  Los  von  Rom-Bewegung  zugleich  eine  Los  von 
Oesterreich-Bewegung  sei,  die  nicht  scharf  genug  be- 
kämpft werden  könne".  Und  eine  monarchische  kon- 
servative Regierung  sollte  mit  der  Genehmigung  einer 
Hauscollekte  eine  solche  revolutionäre  Bewegung 
unterstützen,  sollte  der  Begünstigung  derselben  den 
amtlichen  Stempel  aufdrücken!  Der  einzelne  Prote- 
stant mag  es  mit  seinem  Gewissen  abmachen,    ob  er 


260 


für  die  Los  von  Rom-Bewegung,  die  zugleich  eine 
Los  von  Oeslerreich-Bewegung  ist,  aus  konfessionellen 
oder  politischen  Motiven  eine  finanzielle  Unterstützung 
gewähren  will.  Dass  sich  unter  den  orthodoxen  und 
liberalen  „Romhassern "  Leute  finden,  die  sich  kein 
Gewissen  daraus  machen,  die  Los  von  Rom-Bewe- 
gung in  Oesterreich  nicht  nur  mit  ihren  Sympathien, 
sondern  auch  mit  ihren  „Liebesgaben"  zu  unter- 
stützen, kann  freilich  nicht  Wunder  nehmen.  Einsich- 
tige und  gewissenhafte  Protestanten  und  konservative 
Männer  von  monarchischer  Gesinnung,  welche  nicht 
durch  Romhass  geblendet  sind  und  sich  ein  ruhiges 
und  klares  "Urtheil  über  die  religiöse,  wie  über  die 
politische  Bedeutung  der  Los  von  Rom-Bewegung  in 
Oesterreich  verschafft  und  bewahrt  haben,  werden 
derselben  weder  religiöse  noch  politische  Sympathien 
zuwenden  und  demgemäss  auch  zu  finanziellen  „Liebes- 
gaben" nicht  geneigt  sein.  Darüber  kann  ja  kein 
Zweifel  mehr  sein,  dass  die  Los  von  Rom-Bewegung 
in  Oesterreich  nur  äusserlich  mit  einem  „religiösen" 
Mantel  paradirt,  um  den  politischen  Kern  zu  verdecken. 
Dass  die  zum  Protestantismus  übertretenden  Deutschen 
in  Oesterreich  nur  von  religiösen  Beweggründen  ge- 
leitet sind,  um  gläubige  Protestanten  zu  werden,  wie 
es  solche  in  Mecklenburg  erfreulicher  Weise  noch  in 
grosser  Anzahl  gibt,  wird  Niemand  glauben,  der  die 
Los  von  Rom-Bewegung  in  Oesterreich  auch  nur 
oberflächlich  verfolgt  hat.  Die  Führer  dieser  Bewe- 
gung wollen  nicht  Luthers  Lehre  annehmen  und  ein- 
führen, sondern  in  alldeutscher  Schwarmgeisterei  zum 
altdeutschen  Wuotansglauben  zurückkehren.  „Los  vom 
Christenthum"  ist  ihre  wirkliche  Parole.  Wir  haben 
wiederholt  auf  Aussprüche  von  den  Führen  der  Los 
von  Rom-Bewegung  aufmerksam  gemacht,  die  das 
bestätigen.  Noch  jüngst  schrieb  Schönerer  in  seinen 
„Unverfälschte  deutsche  Worte"  das  Geständniss:  So 
lange  nicht  das  ganze  deutsche  Volk  wiederum  los 
von  Rom  ist,  frei  wie  vor  mehr  als  tausend  Jahren 
—  so  lange  muss  es  um  sein  Volksthum,  um  seinen 
nationalen  Besitzstand  bangen.  Wir  müssen  in  religi- 
öser Beziehung  (den  Zeit  Verhältnissen  entsprechend 
geändert)  wieder  auf  die  Zustände  vor  Bonifacius  ge- 


251 


langen  —  nur  dann  können  wir  in  Bezug  auf  unser 
Volksthum  sorglos  sein.  Diese  modernen  Wuotans- 
verehrer  in  Oesterreich  wollen  also  vom  Christenthum, 
und  besonders  vom  orthodoxen  Protestantismus  in 
Mecklenburg  nichts  wissen.  Und  da  sollen  die  gläubigen 
Mecklenburger  Protestanten  unter  amtlicher  Approba- 
tion einer  allgemeinen  Hauskollekte  und  verleitet  durch 
eine  solche  amtliche  Genehmigung  in  ihrer  Unwissen- 
heit über  den  wahren  Charakter  der  Los  von  Rom- 
Bewegung  in  Oesterreich  noch  zu  einer  finanziellen 
Beisteuer  für  dieselbe  wenigstens  indirekt  aufgefordert 
werden!  Wenn  man  voraussetzen  muss,  däss  das 
Ministerium  im  Grossherzogthum  Mecklenburg- 
Schwerin  durch  die  Genehmigung  einer  Hauskollekte 
für  die  „Los  von  Rom  "-Bewegung  Niemanden  ab- 
sichtlich hat  täuschen  wollen,  so  kann  demselben 
doch  der  Vorwurf  nicht  erspart  werden,  dass  es  sich 
selbst  getäuscht  hat,  als  es  diese  Genehmigung  er- 
theilte.  Getäuscht  nicht  nur  über  den  religiösen,  sondern 
auch  über  den  politischen  Charakter  der  Los  von 
Rom-Bewegung  in  Oesterreich.  Der  Karbitzer  Advokat 
Dr.  Eisenkolb,  auch  ein  Führer  der  Los  von  Rom- 
Bewegung,  hat  noch  auf  der  alldeutschen  Versamm- 
lung in  Eger  am  7.  Juli  d.  J.  sogar  in  Gegewart  eines 
landesfürstlichen  Beamten  in  seinem  Aerger  über  den 
langsamen  Fortgang  der  Abfallsbewegung  rund  heraus- 
gesagt :  Wir  wollen  noch  den  ganzen  endlichen  Erfolg 
dieser  Bewegung  miterleben,  und  darum  muss  die 
Bewegung  noch  in  ein  rascheres  Tempo  kommen. 
So  lange  wir  nicht  alle  los  von  Rom  sind,  ist  auch 
eine  organische  Verbindung  mit  dem  Deutschen  Reiche 
nicht  möglich.  Damit  hat  Dr.  Eisenkolb  mit  mehr  als 
hinlänglicher  Deutlichkeit  den  wirklichen  Zweck  der 
Bewegung  „Los  von  Oesterreich"  kundgegeben,  während 
das  „Los  von  Roma  ihm  selbst  —  und  so  ist  es 
auch  in  der  Wirklichkeit  —  nur  als  Mittel  zum  Zweck 
erscheint.  Was  meint  das  Ministerium  von  Mecklen- 
burg-Schwerin wohl  dazu?  Wenn  aber  die  Dinge 
sich  so  verhalten,  wenn  die  Genehmigung  der  Haus- 
kollekte für  die  Los  von  Rom-Bewegung  in  Oester- 
reich die  politische  Förderung  einer  Bestrebung  „Los 
von  Oesterreich"  bedeutet,  dann  gewinnt  das  Verhalten 


252 


der  Regierung  von  Mecklenburg*Schwerin  eine  erhöhte 
politische  Bedeutung,  welche  die  Grenzen  dieses 
deutschen  Bundesstaats  überschreitet  und  in  das  Gebiet 
der .  Reichspolitik  in  sehr  bedenklicher  Weise  hin- 
übergreift. Die  Genehmigung  einer  Hauskollekte  an 
sich  innerhalb  der  Landesgrenzen  ist  allerdings  zu- 
erst Sache  der  Landesregierung.  Aber  auch  die  Reichs- 
regierung, welcher  verfassungsgemäss  die  Vertretung 
vor  dem  Auslande,  wozu  auch  Oesterreich  gehört^ 
allein  obliegt,  wird  dadurch  in  Mitverantwortung  und 
dadurch  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Das  Grossherzog- 
thum  Mecklenburg-Schwerin  hat  ja  keinen  besonderen 
Gesandten  in  Wien  und  kann  auch  der  österreichischen 
Dynastie  nicht  den  Krieg  erklären,  wie  es, durch  die 
Genehmigung  der  Hauskollekte  für  die  Los  von  Rom-, 
bezw.  Los  von  Oesterreich-Bewegung  geschehen  ist. 
Die  mecklenburgische  Regierung  kann  aber  auch 
nicht  verhindern,  dass  die  österreichische  Regierung 
als  eine  Art  Kriegserklärung  ihr  Vorgehen  betrachtet. 
So  kommen  hier  internationale  Beziehungen  in  Be- 
tracht, deren  Wahrung  dem  Reichskanzler,  bezw.dem 
Auswärtigen  Amte  obliegt.  Wir  dürfen  wohl  erwarten, 
dass  das  für  alle  deutschen  Katholiken  verletzende  und 
für  die  freundschaftlichen  Beziehungen  des  deutschen 
Reiches  zu  Oesterreich  störende  Verhalten  der  Landes- 
regierung von  Mecklenburg-Schwerin  bei  der  zustän- 
digen Reichsregierung  die  entsprechende  Würdigung 
und  Remedur  finden  wird  und  dass  wir  bald  in  der 
officiösen  Presse  darüber  Näheres  erfahren.  Inzwischen 
hat  bereits  die  „Köln.  Zeitung"  der  mecklenburgischen 
Regierung  ihre  Vorhaltungen  gemacht,  indem  sie 
unter  dem  Zweifel,  dass  die  Regierung  von  Mecklen- 
burg-Schwerin wirklich  ihre  Genehmigung  zu  der 
Hauskollekte  für  die  Los  von  Rom-Bewegung  gegeben 
habe,  Folgendes  schreibt :  Es  wäre  zu  bedauern,  wenn 
das  mecklenburgische  Ministerium  wirklich  zu  einer 
solchen  Kollekte  seine  Einwilligung  gegeben  hätte.  Zu- 
nächst ist  es  allgemein  bekannt,  das  die  österrei- 
chischen massgebenden  Kreise  der  Los  von  Rom- 
Bewegung  ^  keineswegs  freundlich  gegenüberstehen, 
tmd  das  die.  höchsten  Stellen  im  österreichisch-unga- 
rischen   Staate  darüber   gar  keinen    Zweifel   gelassen 


263 


haben.  Nun  scheint  man  freilich  dort  die  Bedeutung 
der  ganzen  Bewegung  nicht  unerheblich  zu  überschätzen, 
da  die  römische  Kirche  viel  zu  fest  getagt  ist,  um 
von  einer  solchen  Agitation  ernste  Qefahr  besorgen 
zu  ;müssen.  Wie  die. Dinge  aber  Hegen,-  würde  eine 
von  einer  amtlichen  deutschen  Behörde  geförderte 
Unterstützung;  dieser  Bewegung  in  Öesterreich  nicht 
als  eine  Freundlichkeit  empfunden  werden,  und  es 
wäre  daher  Pflicht  des  Kirchenregiments,  nichts  zu 
unternehmen,  was  als  ein  Eingriff  in  die  Angelegen- 
heiten des  befreundeten  und  verbündeten  Kaiserreiches 
ausgelegt  werden  könnte.  t  Wenn  aber-  die  .Kirchenbe- 
hörde sich  dieser  Erkenntniss  verschliesst,  so  sollte 
die  mecklenburgische  Regierung  ;^.ls  politische  Behörde 
sich  einer  Massnahme  widersetzen,  die  solcher  un- 
freundlichen Auslegung  unterworfen  werden  könnte. 
Aber  noch  aus  einem  anderem  Grunde  erscheint  eine 
solche  in  Deutschland  mit  behördlicher  {jrlaubniss 
unternommene  Kirchenkollekte  durchaus  unsympatisch. 
In  gewissen  Kreisen  der  katholischen  Kirche  ist  Nei- 
gung vorhanden,  mit  Mitteln,  die  nicht  zu  billigen 
sind,  sogenannte  Seelenrettungen  vorzunehmen,  und 
die  liberalen  und  protestantischen  Blätter  haben  nie- 
mals verfehlt,  sich,  wenn  solche  Fälle  vorkamen,  mit 
aller  Entschiedenheit  dagegen  auszusprechen.  rWas 
aber  die  Protestanten  bei  den  Katholiken  verürtHeileh, 
das  sollen  sie  auch  nicht  selbst  thun,  und  es,  ist  eine 
yber  die  Grenzen  des  Angemessenen  hinausgehende 
Proselytenmacherei,  wenn  man  durch  Gelds^mm- 
lungen  dazu  beizutragen  sucht,  Katholiken  zuip  Ueber- 
tritt  zur  protestantischen  Kirche  zu  veranlassen.  Wir 
Reichsdeutsche  haben  uns  nicht  in  innere  Ange- 
legenheiten Oesterreichs  einzumischen, .  wenn  es  uns 
auch  unbenommen  ist,  nach  uiiserjn  persönlichen 
: Standpunkte  den  Verlauf  .der „Los.  yon  Rom"-Bewe- 
;gung  in  Öesterreich  mit  Sympathie  p der  mit  glelih- 
.'  giltigen  Skepticismus  zu  betrachten.  Mecklenburg^  ist 
neben  Sachsen  der  einzige  Staat  in  Deutschland,  .dem 
man  mit  einigem  Recht  vorwerfen  kann,  dasi,3ie 
Katholiken  in  ihm  nicht"  mit  ganz  gleichem^  Masse 
gemessen  werden  und  in  dem  die  Katholiken  sich 
beklagen"  könnend   Schon   deshalb   sollte ;m$in dessen 


254 


Klagen  nicht  noch  eine  weitere  Berechtigung  geben 
indem  man  die  protestantische  Propaganda  auch 
über  die  Landesgrenzen  hinausträgt.  Wenn  hier  die 
politischen  Momente  ungleich  schärfer  hervortreten, 
als  die  religiösen,  so  lässt  sich  das  bei  dem  wahren 
Charakter  der  Los  von  Rom-Bewegung  in  Oesterreich 
sehr  leicht  erklären.  Der  Eingriff  in  die  Angelegen- 
heiten eines  befreundeten  und  verbündeten  Staates, 
wie  er  durch  die  mecklenburgische  Regierung  ge- 
macht worden  ist,  liegt  hier  auch  nach  dem  Zeug- 
nisse der  .Kölnischen  Zeitung"  so  offen  zu  Tage,  dass 
die  deutsche  Reichsregierung  gar  nicht  mehr  umhin 
kann,  öffentlich  dazu  Stellung  zu  nehmen.  In  welchem 
schreienden  Gegensatze  steht  aber  diese  amtliche  Los 
von  Rom-Unterstützung  in  Mecklenburg  zu  der  Unter- 
drückung der  katholischen  Kirche!  Auch  das  ist  ein 
dankbarer  Beitrag  zum  Paritätsantrage  des  Gentrums 
im  Reichstage. 

Am  29.  September  1901  brachte  die  „Germania" 
diesen  Artikel:  Die  Los  von  Rom- Agitatoren.  Die  li- 
berale „Deutsche  Zeitung"  in  Wien,  welche  einer 
Freundschaft  für  die  katholische  Kirche  nicht  im 
Mindesten  verdächtig  ist,  hat  vor  einigen  Tagen  die 
Los  von  Rom-Agitatoren  einer  näheren  Beleuchtung 
unterzogen  und  dabei  nach  einer  allgemeinen,  wenig 
schmeichelhaften  Charakteristik  auch  einige  ^Details 
an  das  Tageslicht  gebracht,  die  wir  allen  Freunden 
und  Gönnern  der  Los  von  Rom-Bewegung  in  Deutsch- 
land, besonders  aber  den  Regierungen,  welche  diese 
Bewegung  durch  Genehmigung  von  Hauskollekteh 
und  Sammlungen  unterstützen,  auch  dem  Mecklen- 
burgischen und  Sächsischen  Gotteskasten  und  last 
not  least  dem  Herrn  Superintendenten  Meyer-Zwickau, 
dem  Vorsitzenden  des  „Ausschusses  zur  Förderung 
der  evangelischen  Kirche  in  Oesterreich,"  zur  ernsten 
Beachtung  unterbreiten.  Es  heisst  in  diesem  Artikel 
der  „Deutschen  Zeitung"  unter  Anderem.  .  .  .  Mehr 
interessirt  jene  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  Agita- 
toren, denen  die  Abfallshetze  ein  Geschäft  ist,  die 
Intimen  Wolfs  und  die  Knappen  Schönerers,  welche 
überhaupt  die  Politik  als  Gewerbe  betreiben.  Diese 
Burschen   hatten  nie  was  Rechtes,  wovon  sie  lebten, 


255 


sie  erkannten  bald,  dass  sich  aus  der  protestantischen 
Proselyten macherei  Kapital  schlagen  Hesse.  Ihnen  dient 
überhaupt  der  nationale  und  freiheitliche  Idealismus 
des  deutschen  Volkes  als  Mittel  zum  Zweck,  sie  selbst 
haben  keinerlei  Ueberzeugungen,  sondern  schroten 
blos  die  herrschenden  Meinungen  und  Strömungen 
für  ihre  persönlichen  selbstischen  Zwecke  aus.  Ihnen 
ist  aber  auch  „Los  von  Romu  —  los  von  Oesterreich, 
eine  Präparirung  Deutschösterreichs  für  eine  organi- 
sche Verbindung  mit  Preussen.  Das  haben  die  Stein, 
Eisenkolb,  Schönerer  auf  offener  Tribüne  einbekannt, 
das  ist  in  jeder  Nummer  der  ,U.  d.  W.u  zu  lesen.  Mit 
reichsdeutschem  Gelde  wird  denn  auch  die  Agitation 
unterhalten.  Wir  haben  bereits  auf  die  Hauskollekten 
des  Evangelischen  Bundes  hingewiesen  und  von  der 
rollenden  Reichsmark  in  verschiedenen  Einzelfällen 
erzählt.  So  erschienen  auch  bei  der  Karbitzer  Kirchen- 
weihe Superintendent  Meyer  aus  Zwickau  und  Ober- 
konsistorialrath  Dr.  Dibelius  aus  Dresden.  Der  erstere 
überbrachte  ein  Geschenk  von  10.000  Mark,  der  letztere 
ein  solches  von  2000  Mark.  Auch  andere  Pastoren 
überreichten  Spenden.  Ebenso  haben  wir  das  Treiben 
der  Münchener  Odinleute  und  ihre  merkwürdigen 
Geldmanipulationen  einmal  geschildert,  die  ihnen  und 
anderen  gestatteten,  drei  Millionen  Flugblätter  nach 
Oesterreich  zu  schmuggeln.  Verlässlichen  Angaben 
zufolge  hat  der  Gustav  Adolf-Verein  in  drei  Jahren 
weit  über  eine  Million  Mark  nach  Oesterreich  ge- 
sandt. Nun  soll  nicht  behauptet  werden,  dass  der 
Kassettenmann  und  seine  Clique  alle  die  Unsummen 
verschlungen  haben.  Das  meiste  davon  ging  auf  Kir- 
chenbauten und  auf  die  Besfallung  der  Seelsorger 
auf.  Immerhin  blieb  ein  beträchtlicher  Bruchtheil  der 
Unterstützungssummen  für  die  „Los  von  Rom  "-Be- 
wegung den  Agitatoren  in  Wort  und  Schrift.  Es  ist 
ja  auch  klar:  In  Böhmen  fristen  heute  ein  Dutzend 
alldeutsche  Lokalblätter  mit  einem  jährlichen  Ge- 
sammtdeficit  von  mindestens  60.000  Kronen  ihr  Da- 
sein. Diese  beziehen  von  den  evangelischen  Muckern 
für  die  Uebertritts Propaganda  Subventionen,  die  dieses 
Deficit  reichlich  decken.  Desgleichen  die  alldeutschen 
Versammlungsredner,   weshilb   sich   die  Schriftleiter 


236 


und  Wanderprediger  aus  der  Wolf-Schönerer-G§sell- 
schaft  der  Ptoselytenraacherei  so  lebhaft  annahmen. 
Dass  die  Wolf-Clique  durch  die  Sammelbüchsen  und 
Spenden  (10.000  Markspende  durch  Bergwerksdirektor 
Mehlhardt  u.  v.  a.  m.)  grosse  Summen  zusammen- 
schnorrte, ist  bekannt,  nicht  minder,  dass  der  All- 
deutsche Verband,  der  ewigen  Subventionirungen 
müde,  das  Wolf-Organ  in  eigene  Regie  übernehmen 
wollte.  Weniger  bekannt  ist  z.  B.,  dass  unter  der 
Lehrerschaft  Deutschböhmens  für  den  Abg.  Schreiter 
Geld  gesammelt  wurde,  da  derselbe  bis  über  den 
Kopf  verschuldet  war.  Damals  schrieb  uns  ein  hier- 
über entrüsteter  Lehrer:  „Schreiter  wende  sich  in 
seiner  finanziellen  Bedrängniss  an  den  Millionär  Schö- 
nerer oder  an  Wolf,  der  durch  seine  Sammelbüchsen 
schon  erkleckliche  Summen  hereingebracht  hat,  oder 
wende  sich  doch  an  den  Gustav  Adolf- Verein  oder 
den  Evangelischen  Bund  in  Deutschland  oder  auch 
an  die  reichen  Juden;  für  die  Interessen  aller  dieser 
arbeitet  er  ja  mit  Feuereifer.  Die  Lehrerschaft  Deutsch- 
böhmens, die  ja  unablässig  um  eine  Gehaltsaufbes- 
serung sich  bemüht,  hat  ihr  Geld  für  solche  persön- 
lichen Zwecke  nicht  übrig.  An  diesen  Sammlungen 
und  Spenden  wäre  gewiss  nichts  Besonderes  auszu- 
setzen, wenn  nicht  durch  die  Art  der  damit  betrie- 
benen Hetzagitation  der  üble  Beigeschmack  ent- 
stünde" .... 

Es    sind    eigentlich   keine    neuen    Enthüllungen, 

welche  die  „Deutsche  Zeitung"    hier  bringt,   sondern 

ihre    Ausführungen    bestätigen    nur,    was   über    den 

wahren    Charakter  der  Los  von  Rom-Bewegung  und 

'über  die  Los   von   Rom  -  Agitatoren    in  Oesterreich 

'Sowohl,  wo  man  den  betreffenden  Verhältnissen  und 

Personen  näher  steht,  als  auch  im  deutschen  Reiche 

bereits  .zur  Genüge  bekannt  war  und  von  uns  wieder- 

-hölt   ausgeführt   worden   ist.    Rekapituliren  wir  die 

Ausführungen  der  „Deutschen  Zeitung"  über  die  „nicht 

unbeträchtliche  Zahl"  von  „Los  von  Rom  "-Agitatoren 

ün   Oesterreich,    so   ergibt  sich:  dass  denselben  „die 

'Äbfallshetze  ein  Geschäft"  ist  und  dass  sie  „aus  der 

^protestantischen  Proselytenmacherei  Kapital  zuscWä- 

'  $en"  .suchen;  dass:„sie  selbst  keinerlei  Ueberzeug^ngen 


257 


haben",  dass  ihnen  „Los  von  Rom  —  Los  von  Oester- 
*reich  ist,  eine  Präparirung  Deutsch-Oesterreichs  für 
die  organische  Verbindung  mit  Preussen",  dass  „mit 
reichsdeutschem  Gelde  die  Agitation  unterhalten" 
wird,  dass  von  den  Unsummen  dieses  Geldes  nach 
Abzug  der  Kirchenbaukosten  und  Seelsorgerbestallun- 
gen immerhin  noch  „ein  beträchtlicher  Bruchtheil 
der  Unterstützungssummen  für  die  Los  von  Rom- 
Bewegung  den  Agitatoren  in  Wort  und  Schrift  bleibt", 
dass  auch  die  böhmischen  Lokalblätter  für  die  Ueber- 
tritts-Propaganda  Subventionen  erhalten  und  desglei- 
chen die  Wanderredner  aus  der  Wolf-Schönerer-Ge- 
sellschaft,  welche  sich  der  „Proselytenmacherei"  so 
lebhaft  annahmen. 

Diese  von  der  „ Deutschen  Zeitung"  festgestell- 
ten Thatsachen  betreffs  der  Los  von  Rom- Agitatoren, 
die  sich  nach  dem  anderweitig  vorliegenden  Material, 
namentlich  bezüglich  des  irreligiösen  und  antichrist- 
lichen Charakters  der  Los  von  Rom-Bewegung  noch 
leicht  ergänzen  Hessen,  —  das  liberale  Wiener  Blatt 
scheint  darauf  weniger  Gewicht  zu  legen,  —  werden 
wohl  nicht  mehr  bestritten,  jedenfalls  aber  nicht 
widerlegt  werden  können.  Wollen  die  „Mecklen- 
burger Nachrichten"  nun  nicht  endlich  zugeben, 
dass  „ein  beträchtlicher  Bruchtheil"  der  vom  Mecklen- 
burgischen und  Sächsischen  Gotteskasten  in  Folge 
der  von  den  Regierungen  in  Mecklenburg  und 
Sachsen  bewilligten  Kollekten  zur  Unterstützung  der 
Los  von  Rom-Bewegung  aufgebrachten  Gelder  für  die 
Uebertritts-Propaganda  und  Proselytenmacherei  der 
Agitatoren  in  Wort  und  Schrift  verwendet  wird? 
Und  wenn  den  mit  reichsdeutschem  Gelde  subventio- 
nirten  Agitatoren  „Los  von  Rom"  — los  von  Oester- 
reich  ist,  eine  Präparirung  Deutsch-Oesterreichs  für 
die  organische  Verbindung  mit  Preussen",  ist  dann 
nicht  diese  Los  von  Rom-Bewegung  eine  dynastie- 
feindliche und  landesverrätherische  Bewegung?  Kann 
da  die  deutsche  Reichsregierung,  die  das  Bundes- 
und Freundschaftsverhältniss  zwischen  dem  Deutschen 
Reiche  und  Oesterreich  ungeschmälert  erhalten  will, 
ruhig  zusehen,  wie  einzelne  Landesregierungen  durch 
ihre  Förderung  der  Los  von  Rom-Bewegung  Oester- 

17 


258 


reich  brüskiren  und  an  den  Bestrebungen  zum  Ruin 
der  habsburgischen  Dynastie  mitarbeiten? 

Reichsdeutsche  Blätter  brachten  im  Mai  1901 
folgende  Notiz:  Der  Ausschuss  des  ostpreussischen 
Zweiges  des  deutschen  Hilfsvereines  für  die  evange- 
lische Bewegung  in  Oesterreich  hatte  in  der  Weih- 
nachtswoche vorigen  Jahres  etwa  2000  Mark  an  die 
kleinen  und  bedrängten  evangelischen  Gemeinden, 
die  jetzt  in  Oesterreich  neu  entstehen,  vertheilen 
können,  1000  Mark  gab  er  an  sein  Pathenkind  Krems 
dort  zu  Besoldung  des  evangelischen  Vikars.  Im  Laufe 
des  Winters  waren  dem  Ausschusse  weitere  Gaben  im 
Betrage  von  rund  3500  Mark  zugeflossen  und  eine 
in  dieser  Woche  gehaltene  Sitzung  konnte  über  die 
Verwendung  dieser  Summe  beschliessen.  Man  einigte 
sich  dahin,  wieder  in  erster  Reihe  das  Pathenkind 
Krems  zu  bedenken,  und  zwar  durch  Festlegung  eines 
Kapitals  von  2500  Mark,  dessen  Zinsen  wiederum 
für  den  Unterhalt  des  dortigen  Geistlichen  bestimmt 
wurden.  Die  Beschlussfassung  über  die  weiteren  1000 
Mark  wurde  noch  ausgesetzt,  da  man  noch  Anträge 
von  einzelnen  österreichischen  Gemeinden  abwarten 
wollte.  Jene  Festlegung  geschah  darum,  weil  einmal 
in  den  Geschenken,  die  dem  Ausschusse  zugegangen 
waren,  die  Zuwendung  eines  ungenannt  bleibenden 
Wohlthäters  sich  befindet,  die  ungefähr  die  gleiche 
Höhe  hat,  also  schon  gewissermassen  ein  Kapital  ist, 
und  weil  andererseits  es  vor  Allem  daran  gelegen 
sein  muss,  Alles  zu  thun,  damit  dauernd  in  Krems 
ein  evangelischer  Prediger  sei.  Es  hat  deshalb  auch 
der  dortige  Vikar,  Prediger  Monsky,  den  Kollekten- 
ertrag seiner  im  März  durch  Ostpreussen  gemachten 
Predigtreise  mit  rund  800  Mark  zum  Grundstock  eines 
Pfarrdotationsfonds  für  Krems  bestimmt.  Auch  aus 
dieser  Notiz  geht  hervor,  wie  planmässig  von  Preussen 
aus  die  sogenannte  „Los  von  Rom"-Bewegung  in 
Oesterreich  unterstützt  wird.  Und  was  für  Vorkehrungen 
trifft  man  bei  uns  dagegen? 

Die  55te  Hauptversammlung  des  Gustav-Adolf- 
Vereines  fand  25.  September  1902  in  Kassel  statt. 
Deutsch  sein,  heisst  lutherisch  sein.  So  wird  wenig- 
stens   überall  gerufen.     Aber  dem  ist  nicht  so.     Der 


269 


erste  Redner  war  Pastor  Duiek  aus  Kolin  in  Böhmen. 
Wie  kommt  denn  dieser  Herr  in  diese  Versammlung? 
Wir  stellen  also  den  Satz  richtig.  Lutherisch  sein, 
heisst  international,  evangelisch  sein,  unter  der  Vor- 
herrschaft Preussens.  Das  Lutherthum  strebt  einen 
grossen  Caesaropapismus  an  für  das  Haus  Hohen- 
zollern  auf  Kosten  der  Katholiken  Oesterreichs.  Pastor 
DuSek  sagte  nach  der  „Vossischen  Zeitung"  folgendes. 
Se.  Ehrwürden  brachte  zunächst  einen  kleinen  Abriss 
der  Geschichte  des  Protestantismus  in  Böhmen,  dann 
überging  er  mit  der  Behauptung  ins  Aktuelle,  dass 
sich  unter  der  Cechen  dieselbe  Bewegung  zeige,  wie 
unter  den  Deutschen.  Den  Beweis  dafür  blieb  er  frei- 
lich schuldig.  In  jedem  Cechen,  so  behauptete  er 
weiter,  sei  ein  Zwiespalt  zwischen  der  alten  Vergan- 
genheit und  dem  Verdammungsurtheile,  welches  die 
Kirche  darüber  fällt.  Das  Volksgewissen  werde  ange- 
blich nicht  früher  zur  Ruhe  kommen,  als  bis  es  den 
alten  Grund  gefunden  haben  werde.  Die  frohe  Hoffnung, 
die  sich  nach  der  Meinung  des  Herrn  Pastors  daraus 
ergebe,  werde  aber  durchkreuzt  von  dem  Zwist  zwi- 
schen Cechen  und  Deutschen.  Dieser  Zwist  hat  seine 
älteste  Wurzel  in  der  Abneigung  gegen  das  nach 
1620  eingeführte  papistische  Verwaltungssystem  — 
für  das  man  Deutsche  verantwortlich  machte,  und 
durch  welches  das  Volk  völlig  unter  das  römische 
Joch  gebeugt  werden  sollte.  Dieses  System  ist  nun 
zwar  durch  die  Liberalen  in  etwas  zu  Fall  gebracht; 
aber  während  die  Deutschen  bei  dem  Systemwechsel 
wenigstens  sich  ihre  Sprache  sicherten,  mussten  die 
Cechen  auch  dafür  fürchten,  was  ein  Grund  zu  einer 
Missstimmung  wurde.  Aber  eine  gerechte,  Allen  das 
Recht  gebende  Verwaltung  kann  Alles  beseitigen. 
Heut  ist  bei  beiden  gemeinsam  der  Zug  nach  Fort- 
schritt und  beide  müssen  zusammenstehen,  denn 
Deutsche  und  Cechen  scheinen  in  Oesterreich  die 
fähigsten  zur  Führung  des  Staates  zu  sein.  In  Böh- 
men stehen  beide  wider  einander,  ohne  dass  Einer 
den  Andern  bezwingt.  Hetzgeister  finden  sich  in  bei- 
den Lagern,  aber  diese  müssen  beseitigt  werden, 
dann  werden  sich  die  Herzen  leichter  finden.  Zum 
Schlüsse  gibt  der  Redner  dann  eine  kurze  Uebersicht 

17* 


260 

über  die  Leiden,  welche  Deutsche  und  Cechen  ge- 
meinsam um  ihres  Glaubens  willen  getragen  haben, 
und  knüpft  nochmals  die  Mahnung  zur  Einheit  im 
Dienste  des  Evangeliums  an.  —  Mit  diesem  Appell 
zur  Milde  und  Versöhnlichkeit  blieb  aber  der  böh- 
mische Redner  in  der  Versammlung  völlig  vereinzelt, 
denn  die  nachfolgenden  Ausführungen  sind  durch- 
wegs von  exklusiv  national- deutschem  Geiste  getragen. 
In  der  Abendversammlung  führte  Superintendent 
Karmann,  Seh  wetz,  den  Vorsitz.  Er  schilderte  als 
erster  Redner  des  Abends  die  Lage  in  der  Diaspora 
Westpreussens,  die  gleichermassen  gegen  Polonismus 
und  Romanismus  anzukämpfen  habe.  Ein  Untergang 
deutscher  und  evangelischer  Kultur  in  jenen  Gegen- 
den sei  jedoch  nicht  zu  befürchten,  denn  wenn  auch 
die  ehemals  deutschen  Edelleute,  wie  Hutten-Czapsky, 
v.  Kalkstein,  v.  Wollschläger,  v.  Rossow  u.  a.,  unter 
der  polnischen  Herrschaft  ihr  Deutschthum  vollstän- 
dig verloren  oder  aufgegeben  hätten,  so  habe  doch 
der  seinerzeit  aus  Weslphalen,  Friesland,  Niedersachsen 
u.  s.  w.  eingewanderte  deutsche  Bauernstand  in  den 
gesegneten  Weichselniederungen  trotz  der  jahrhun- 
dertelangen harten  Verfolgung  durch  den  polnischen 
Klerikalismus  niemals  sein  Deutschthum  und  sein 
Evangelium  verleugnet  und  sei  noch  heute  der  festeste 
Wall  gegen -alle  deutschfeindlichen  und  antievangeli- 
schen Strömungen.  (Lebhafter  Beifall.)  Aber  trotzdem 
sei  es  nöthig,  ihnen  durch  den  Gustav  Adolf-Verein 
Kirchen  und  Schulen  zu  bringen,  um  auch  ihrem 
Nachwuchs  der  Väter  Glauben  zu  erhalten.  Pastor 
May,  Cilli,  schilderte  die  Verhältnisse  in  dieser  steier- 
märkischen  Stadt,  die  zur  Zeit  mitten  in  der  Los  von 
Rom-Bewegung  stehe,  nachdem  sie  schon  vorher 
durch  den  Universitätsstreit,  die  Sprachenverordnun- 
gen u.  a.  m.  in  ihren  Tiefen  aufgeregt  worden  sei. 
Eine  bemerkenswerthe  Förderung  habe  die  Bewegung 
dort  seitens  der  Katholiken  selbst  erfahren,  die 
von  ihren  Priestern  bisher  fortgesetzt  gequält  und  getre- 
ten worden  seien.  So  sei  der  Bürgermeister  mit  seiner 
ganzen  Familie  übergetreten  und  auch  die  armen  Slo- 
venen  meldeten  sich  massenhaft,  um  des  Segens  des 
Evangeliums    theilhaftig   zu  werden.   Vom  Amtsblatt 


261 


der  Stadt  sei  der  zum  Besuch  kommende  Erzbischof 
sogai*  als  fanatischer  Agent  jener  Macht  bezeichnet 
worden,  die  seit  Jahrhunderten  Oesterreich  beunruhige 
und  die  auf  die  Ausrottung  des  Deutschthums  in 
Oesterreich  hinarbeite.  Alles  das  zeige,  wie  sehr  es 
unter  den  Katholiken  Oesterreichs  gähre,  und  wenn  da 
hie  und  dort  Uebertritte  erfolgten,  so  sollte  der 
Gustav  Adolf- Verein  für  die  religiöse  Versorgung  der- 
selben möglichst  viel  thun,  um  sie  dem  neuen  Glau- 
ben zu  erhalten.  Redner  bittet  schliesslich  um  Unter- 
stützung des  Cillier  Kirchenbaues,  zu  dem  der  katho- 
lische Bürgermeister  bereits  den  Baugrund  kostenlos 
überlassen  habe.  Pastor  Correvon,  Frankfurt  a.  M., 
verwies  auf  das  Auftreten  Abb6  Bourriers,  das  in 
Verbindung  mit  den  kürzlich  erfolgten  weiteren  Ueber- 
tritten  von  40  bis  50  französischen  Priestern  deutlich 
zeige,  wie  auch  in  Frankreich  die  Los  von  Rom- 
Bewegung  immer  weitere  Fortschritte  mache.  Die 
Priester  seien  der  Unruhe  des  katholischen  Pfarr- 
hauses müde  und  die  Unterstützung  der  aus  der 
Kirche  ausgetretenen  Geistlichen  sei  dringend  nöthig, 
da  sie  meist  so  ungebildet  seien,  dass  sie  nur  noch 
in  niederen  Berufen,  so  als  Droschkenkutscher,  Ver- 
wendung finden  könnten.  In  Paris  seien  sogar  vier 
bis  fünf  ehemalige  Geistliche  als  Rosselenker  ange- 
stellt. Auch  die  Thatsache,  dass  der  ehemalige  katho- 
lische Advokat  Reveillon,  in  dessen  Hause  der  ehe- 
malige Priester  und  jetzige  Ministerpräsident  Gombes 
seine  berühmte  Rede  in  Sachen  der  Kongregationen 
gehalten  habe,  infolge  seiner  Agitation  gegen  Rom  in 
das  französische  Parlament  gewählt  worden  sei,  gebe 
doch  zu  denken.  Die  Zeichen  der  Zeit  forderten  die 
Aufmerksamkeit  des  Vereins  heraus.  Pfarrer  Jaehne, 
Kaaden  in  Nordböhmen,  bat  um  Liebesgaben  für  die 
nordböhmischen  Gemeinden,  Die  Los  von  Rom-Bewe- 
gung habe  in  diesen  Gebieten  gegenwärtig  mit  dem 
„Inseratena-Pater  Alban  auf  der  einen  und  der  Kon- 
kurrenz der  Altkatboliken,  die  sich  den  Abfall  der 
Massen  ebenfalls  zunutze  machten,  auf  der  anderen 
Seite  zu  rechnen.  Der  Pater  Alban  bekämpfe  die  Be- 
wegung in  Inseraten  und  von  der  Kanzel  herab,  wäh- 
rend er  sich  der  öffentlichen  Debatte  stets  geschickt 


262 


entziehe.  Er  schüchtere  die  Leute  mit  der  Drohung 
ein,  dass  die  Evangelischen  alle  ins  Fegefeuer  kämen, 
und  benütze  Unglücksfalle  in  der  Familie  von  Ueber- 
getretenen  dazu,  um  die  Uebertrittsbewegung  zu  ver- 
ketzern. Gegenüber  solchem  Treiben  sei  die  Stärkung 
der  Uebergetretenen  durch  eine  unermünd liehe  Seel- 
sorge vonnöthen.  Pfarrer  Gutemar  bat  um  eine  Kirche 
und  eine  Schule  für  Arko  unter  Hinweis  auf  den 
Zuzug,  den  dieser  Kurort  demnächst  aus  Deutsch- 
land infolge  der  Eröffnung  des  kaiserlichen  Erholungs- 
hauses für  deutsche  Offiziere  erhalten  werde. 

In  der  gestrigen  zweiten  Abendversammlung  des 
Gustav  Adolf- Vereines  sprach  zunächst,  lebhaft  be- 
grüsst,  Pfarrer  Andr6  Bourrier  aus  Sevres  über  die 
Entstehung,  Entwicklung  u.  s.  w.  der  religiösen  Be- 
wegung in  Nordfrankreich,  hauptsächlich  unter  den 
katholischen  Priestern,  und  betonte,  dass  sich  heute 
schon  800  Personen  zu  der  neuen  Lehre  bekennen. 
Während  die  deutsche  klerikale  Presse  die  Richtig- 
keit der  französischen  Angaben  bestreite,  gäben  die 
französischen  klerikalen  Zeitungen  dies  bereitwilligst 
zu.  Selbst  der  Bischof  von  Nantes  habe  es  ausge- 
sprochen, dass  die  Bewegung  geradezu  erschreckliche 
Fortschritte  mache  u.  s.  w.  Ferner  melde  die  Libre 
Parole,  dass  Korsika  förmlich  überschwemmt  sei 
von  ausgetretenen  Priestern.  Viele  davon,  fast  alle, 
treten  in  das  bürgerliche  Leben,  vielfach  in  geringe 
Stellen,  denn  nicht  alle  können  Advokaten,  Bankiers 
oder  Journalisten  werden.  Man  weiss  ja  jetzt,  dass 
Ministerpräsident  Gombes  ein  ehemaliger  Priester  ist, 
und.  wenn  das  so  weiter  geht,  dann  wird  ein  ehe- 
maliger Priester  noch  Präsident  der  Republik  werden. 
Zwölf  der  ausgetretenen  Priester  sind  Journalisten 
geworden  und  eine  Anzahl  renommirter  Blätter  wer- 
den von  ehemaligen  Priestern  redigirt.  Grossen  Er- 
folg hat  das  Blatt  Le  Ghretien  Frangois  erzielt,  die 
Abonnentenzahl  wächst,  3000  Priester  in  der  Provinz 
bekommen  es  jetzt  schon  zugeschickt  und  man  kann 
sicher  annehmen,  dass  es  10.000  Leser  hat.  Im  weite- 
ren hob  Redner  die  hohe  agitatorische  Bedeutung 
der  Presse  hervor  und  meint,  wenn  der  heilige  Pau- 
lus heutzutage  wieder  auf  tiig  Wulf,  käme,   würde  er 


263 


—  Journalist  werden.  (Grosse  Heiterkeit.)  Wie  sehr 
die  Bewegung  ins  Volk  gedrungen  sei,  beweise  der 
Umstand,  dass  man  jetzt  in  Publikum  und  Presse 
schon  zwischen  Katholik  und  Christ  unterscheide. 
Und  der  Direktor  eines  renommirten  Priester-Seminars 
habe  bereits  erklärt,  es  genüge  nicht  katholisch  zu 
sein,  man  müsse  auch  Christ  sein.  Wenn  man  etwas 
tadelt,  so  ist  es,  dass  wir  aus  der  Kirche  förmlich 
ausgetreten  sind.  Man  sagt,  wir  hätten  darin  bleiben 
und  innerhalb  derselben  eine  Reformation  vorbereiten 
sollen.  Es  herrscht  zwar  nicht  förmliche  Empörung 
gegen  das  Papstthum,  aber  man  findet  die  Anmassung 
des  Klerus  unerträglich.  Man  hat  uns  vorgeworfen, 
dass  wir  zu  antiklerikal  seien.  Wir  antworten:  Wir 
können  das  niemals  genug  sein,  denn  ist  nicht  auch 
Christus  antipharisäeriscb  gewesen?  —  Herr  Pfarrer 
ßourrier  wirft  dann  einen  kurzen  Rückblick  auf  seine 
Kindheit  und  Jugend,  und  wie  er  Priester  geworden 
ist  und  betont,  dass  seine  Jugend  durch  bittere  Thränen 
vergiftet  worden.  Wie  ganz  anders  fühle  er  sich  jetzt 
gegen  früher,  wo  er  eingeschlossen  hinter  Kloster- 
mauern sass,  gebannt  durch  Vorurtheile,  Erziehung 
u.  s.  w.,  so  eine  Art  von  Kirchengeräth.  Dass  man 
es  nur  wisse:  der  Priesterstand  ist  ein  grosses  Elend, 
deshalb:  rettet  uns!  (Beifall.)  Redner  kommt  dann 
auf  die  religiöse  Bewegung  auf  dem  Lande  zu  spre- 
chen. Viele  Gemeinden  haben  sich  schon  von  der 
kirchlichen  Autorität  losgesagt  oder  doch  erklärt, 
dass  sie  sich  nicht  mehr  so  willenlos  fügen  wollen 
u.  s.  w.  Indem  Redner  an  die  Drangsale  und  das 
Heldenthum  des  30jährigen  Krieges  erinnert,  bemerkt 
er  ferner:  Und  deshalb  bin  ich  zu  ihm  gekommen, 
bei  dem  Volke  Luthers  mir  Muth  zu  neuer  Arbeit  zu 
holen,  zu  einem  christlichen  Liebeswerke.  Ein  soziali- 
stisches Blatt  hat  allerdings  gesagt,  ich  sei  nach 
Kassel  gefahren,  um  mich  an  die  Preussen  mit  Leib 
und  Seele  zu  verkaufen.  (Hört!  hört!)  Allein  das  Volk 
weiss  es  besser  und  lacht  dazu.  (Beifall.)  Redner 
schloss  mit  der  Mahnung,  nicht  zu  vergessen,  dass 
auch  jenseits  der  Grenze  die  Brüder  wohnen.  Grüsse 
von  den  evangelischen  Brüdern  in  Nordböhmen  über- 
brachte hierauf  der  Pfarrer  Spannouth  aus  der  Hopfen* 


264 


stadt  Saaz  und  gab  im  Anschluss  recht  interessante 
Schilderungen  von  Land  und  Leuten,  dortigen  reli- 
giösen Verhältnissen,  besonders  auch  von  der  eifrigen 
Arbeit  der  Gegner,  die  alles  aufböten,  die  neu  ge- 
wonnenen Glaubensbruder  wieder  abtrünnig  zu  mä- 
chen. Sodann  sprach  noch  Herr  Pfarrer  Fliedner, 
Madrid,  der  in  lebhaften  Farben  die  Verhältnisse  in 
Spanien  schilderte. 

In  der  heutigen  zweiten  Hauptversammlung  wurde 
zunächst  in  eine  Debatte  über  den  Geschäftsbericht 
des  Schriftführers  D.  Härtung,  Leipzig,  eingetreten. 
Nach  einer  Begrüssung  der  Versammlung  durch  den 
Vertreter  des  lutherischen  Landeskonsistoriums  Ober- 
konsistorinlraths  D.  Debelius,  Dresden,  sprach  der 
siebenbürgische  Landeskonsistorialrnth  Dr.  Teutsch, 
Gross-Scheuern,  über  das  Arbeitsfeld  der  evangeli- 
schen Kirche  in  Siebenbürgen.  Die  sachsische  Kirche 
in  Siebenbürgen  zählt  heute  251.380  Seelen.  5000 
Seelen  befinden  sich  in  der  Diaspora  des  benachbar- 
ten Serbien  und  Rumänien.  1765  zählte  man  124.000 
und  1863:  188.000  Seelen.  Gegenwärtig  habe  die 
siebenbürgische  Kirche,  die  ja  von  jeher  allerlei  An- 
fechtungen ausgesetzt  gewesen  sei,  schwere  Angriffe 
von  Seiten  des  Ultramontanismus  zu  bestehen.  Der- 
selbe dominire  heute  in  Ungarn  und  bereite  eine  neue 
Gegenreformation  vor.  Die  österreichischen  Jesuiten 
durchzögen  das  Land  nach  allen  Richtungen  und  er- 
freuten sich  des  Schutzes  der  staatlichen  Autorität, 
die  sich  ganz  in  den  Dienst  des  Seelenfangs  gestellt 
habe.  Redner  schliesst  deshalb  mit  der  Bitte,  der 
siebenbürgischen  Kirche  nicht  zu  vergessen.  Archi- 
diakonus  Jakobi,  Weimar,  berichtete  danach  über  die 
drei  für  die  grosse  Liebesgabe  des  Gustav  Adolf- 
Vereins  vorgeschlagenen  Gemeinden.  Bei  der  Abstim- 
mung erhielt  Villach  133,  Plantieres-Queuleu  71  und 
Wilda-Posen  36  Stimmen.  Demnach  erhielt  Villach 
die  grosse  Liebesgabe  im  Betrage  von  21.980  M., 
während  Plantieres-Queuleu  6627  M.  und  Wilda-Posen 
6742  M.  erhielt. 

Seit  seinem  Bestände  von  64  Jahren  hat  der 
Gustav  Adolf- Verein  39,590.417  Mark  ausgegeben, 
davon  kamen  nach  Oesterreich  11,800.000  Mark,    In 


265 


Oesterreich  werden  derzeit  vorn  Vereine  1363  Ge- 
meinden unterstützt.  Böhmen  erhielt  bis  dato  3  Mil- 
lionen Mark,  im  Jahre  1901  264.000  Mark.  Auf  der 
ganzen  Welt  wurden  an  5060  Gemeinden  Unterstützun- 
gen vertheilt.  Ueber  den  Ausflug  des  Kalvinisten 
Pastor  Sädek  nach  Kassel  schreibt  das  Hauptorgan 
der  jungßechischen  Partei  „Närodni  Listy"  vom  17. 
Juni  1902  folgendes.  „Neben  Rom  ist  unserem  Volke 
ein  noch  gefährlicherer  Feind  erstanden  in  Eerlin, 
von  wo  aus  ja  der  Vernichtungskrieg  gegen  alle 
Slaven  unternommen  wird.  Der  evang.  Pfarrer  Sadek 
will  das  letztere  nicht  hegreifen  und  will,  dass 
alle  Evangelische  böhmischer  Nationalität  ihre  Natio- 
nalität, ihre  nationalen  Pflichten  aufgeben  und  mit 
denen  gehen  sollen,  welche  von  Schönerer,  Iro  und 
Eisenkolb  geführt  werden.  Wir  hoffen,  dass  alle  ehr- 
lichen böhmischen  Protestanten  dem  Treiben  des 
Pastor  Sädek  sich  zur  Wehre  stellen  werden.a  So 
muss  das  Organ  der  jungßechischen  Partei  seinen 
Agitator  der  böhmischen  Protestanten  helvetischer 
Konfession  ermahnen,  er  soll  seine  Glaubensgenossen 
nicht  an  Berlin  ausliefern.  Derzeit  sind  die  grössten 
Förderer  des  Abfalles  zum  Protestantismus  im  böh- 
mischen Volke  die  Partei  des  Professor  Masaryk,  der 
mit  Dr.  Herben,  dem  Redakteur  des  „Gas"  dem 
Organe  dieser  Partei  zur  reformirten  Kirche  übertreten 
sind.  Beide  Masaryk  und  Herben  wurden  in  ihren 
Gymnasialstudien  von  katholischen  Priestern  unter- 
stützt, ansonst  sie  beide  heute  vielleicht  auf  einer 
Schusterbank  sitzen  würden- 

Die  Gustav- Adolf-Stiftung  bedachte  für  das  Jahr 
1902  folgende  Gemeinden  in  Böhmen,  Mähren  und 
Schlesien:  a)  fechoslavische  Gemeinden  Beraun  (1000 
Mark),  Bohuslavice  (300),  Bojmany  (200),  Boleho§f 
(300),  Borovä  (300),  Chrudim  (600),  Chvaltice  (600), 
Cäslav  (400),  Cernilov  (700),  Cihost  (800),  N§mecke 
Hofovice,  Krupka,  Velke  Opolany  (800),  Tfebechovice 
(900),  Vrchlabi  (300),  Vysok6  M^to  (700),  Hor§ice 
(500),  Hostomice  (500),  Hronov  (1000),  Humpolec 
(1400),  Kladno  (600),  KläSter,  Hradec  Krälove  (1600), 
Kr.  Vinohrady  (1000),  Kolin  (1800),  Krucemburk  (1000). 
Krizlice  (800),  Krounä  (600),  Kutna  Hora  (600),  Lue- 


266 


nice  (400),  Libäice  (600),  Lysä  n.  L.  (500),  Losice 
(500),  Tisovka  (1500),  Opatovice  (1600),  Pardubice 
(1200),  und  andere  mehr.  Alle  diese  böhmischen  Ge- 
meinden sind  meistens  helvetischer  Konfession.  Der 
Beitrag  für  das  Jahr  1902  ist  grösstenteils  bestimmt 
als  Gehalt  für  den  Pastor,  Lehrer,  oder  Abzahlung 
des  Baufonds  und  andere.  Sämmtliche  Industrieorte 
Nordböhmens,  wie  Reichenberg,  Aussig,  Rumburg, 
Klösterle,  Saaz,  Kaaden,  Trautenau  und  so  fort,  sind 
neben  anderen  Hunderten  von  Gemeinden  in  Oester- 
reich  im  Gabenverzeichnisse  aufgeführt.  Neben  dem 
Gustav- Adolf- Verein  sorgt  um  die  Finanzierung  der 
Abfallhetze  in  Oesterreich,  der  zweite  Verein,  es  ist 
der  evangelische  Bund.  Wir  geben  hier  seine  Statu- 
ten wieder. 

Was  will  der  evangelische  Bund?  Der  evange- 
lische Bund  ist  im  Jahre  1886  gegründet  worden  zur 
Wahrung  der  deutsch-protestantischen  Interessen  und 
will  laut  Paragraph  1  seiner  Satzungen  „gegenüber 
den  äusseren  und  inneren  Gefahren,  welche  den 
deutschen  Protestantismus  bedrohen,  dazu  mitwirken, 
dass  dem  deutschen  Volke  die  Segnungen  der  Refor- 
mation erhalten  und  immer  weiter  erschlossen  werden". 
Er  will  also  Deutschland  gegen  den  Ultramontanismus 
schützen.  Und  zwar  will  er  warnen;  zuerst  die  Prote- 
stanten: eure  evangelische  Kirche,  eure  protestan- 
tische Freiheit  ist  bedroht;  es  gilt,  der  Beeinträch- 
tigung der  deutsch-evangelischen  Interessen  durch 
Wort  und  Schrift  entgegenzutreten;  aber  auch  die 
Katholiken:  bleibt  christlich  und  deutsch,  lasst  euch 
nicht  jesuitisch  und  römisch  machen;  wehren;  ab- 
wehren die  ultramontanen  Schmähungen  und  Ver- 
dächtigungen, Angriffe  und  Uebergriffe;  stärken  den 
evangelischen  Geist  und  evangelisches  Leben  im 
ganzen  deutschen  Volk,  einigen  die  verschiedenen 
kirchlichen  Richtungen  und  Parteien  und  den  end- 
lichen Frieden  herstellen  zwischen  allen  deutschen 
Christen,  welcher  Konfession  sie  angehören.  Er  ruft 
allen  Evangelischen  zu:  Einigkeit  macht  stark!  Der 
evangelische  Bund  reicht  aber  auch  allen  Bestre- 
bungen wahrer  Katholicität  und  christlicher  Freiheit 
im  Schosse  der  katholischen  Tr-- ^-  *   ndig  die  Hand, 


267 


Was  bekennt  der  Evangelische  Bund? 
Er  bekennt  sich  laut  seinem  bei  der  Gründung  aus- 
gegebenen Programm  zu  Jesu  Christo,  dem  alleinigen 
Mittler  des  Heils,  und  zu  den  Grundsätzen  der 
Reformation.  Was  thut  der  evangelische 
B  u  n  d  ?  Er  gibt  allen  Evangelischen,  welche  von 
der  katholischen  Kirche  bedrängt  werden,  einen 
starken  Rückhalt,  Ralh  und  Hilfe.  Er  verbreitet 
Schriften,  die  für  unser  gutes  evangelisches  Recht 
und  unsere  evangelische  Kirche  eintreten,  römische 
Ränke  aufdecken  und  Rom  kennen  lernen.  Er  unter- 
stützt alle  Bestrebungen,  welche  der  Rettung  der  in 
ihrem  Glauben  bedrängten  Evangelischen  dienen. 
Deshalb  nimmt  er  sich  besonders  der  Diaspora- 
waisenhäuser und  der  Diakonissensache  an,  hat  in 
Freiburg  ein  grosses  Diakonissenhaus  gebaut,  stellt 
selbst  Diakonissen  an  und  gibt  Mittel  zur  Unter- 
haltung von  Diakonissen  und  zur  Gründung  von  Dia- 
konissenstationen in  der  Diaspora.  Insbesondere  hat 
sich  der  Bund  der  österreichischen  Los  von  Rom- 
Bewegung  angenommen;  er  steht  den  dort  übertre- 
tenden Gemeinden  mit  Rath  und  That  bei,  sendet 
ihnen  Geistliche,  hilft  ihnen  Kirchen  bauen  und  unter- 
stützt die  Bewegung  auf  jede  Weise. 

Was  sagt  die  ultramontane  Presse 
über  den  evangelischen  Bund?  Sie  klagt : 
Der  evangelische  Bund  hat  seine  Augen  überall!  Sie 
erklärt  ihn  für  durchaus  bedeutungslos  und  jammert 
zugleich,  sobald  wieder  eine  römische  Anmassung 
zurückgewiesen  oder  etwas  dem  Centrum  oder  den 
Ultramontanen  Unangenehmes  geschieht.  Da  hat 
wieder  der  böse  Evang.  Bund  seine  Hände  im  Spiel! 
Sie  sucht  ihn  durch  Bezeichnungen  wie  „Hetzbund", 
„Nihilistenbund"  u.  s.  w.  verächtlich  zu  machen  und 
klagt  ihn  aller  möglichen  Schandthaten  an.  Auf  einer 
Katholikenversammlung  in  Köln  im  April  1901  er- 
klärte der  Hauptredner  kurzweg,  von  Rechts  wegen 
gehörten  alle  evangelischen  Bundesbrüder  ins  Ge- 
fängniss!  Was  folgt  daraus  für  den  evan- 
gelischen Bund?  Dass  er  eine  höchst  erfreu- 
liche Erscheinung  ist;  dass  er  segensreich  gegen 
römische    Anmassung   wirkt,    und    dass    ohne    sein 


268 


Dasein  manches  noch  schlimmer  wäre,  als  es  schon 
ist.  Wer  soll  Mitglied  des  Evangelischen 
Bundes  werden?  Alle  diejenigen,  welche  nicht 
wünschen,  dass  die  ultramontanen  Ruhmesworte 
wahr  werden:  „Der  Papst  regiert  die  Welt!"  „Was 
wir  wollen,  geschieht  in  Deutschland!1  „Katholisch 
ist  jetzt  Trumph!"  Alle,  denen  das  Wohl  ihrer  evan- 
gelischen Kirche  und  ihres  deutschen  Vaterlandes 
am  Herzen  liegt.  Wer  kann  Mitglied  des 
Evangelischen  Bundes  werden?  Alle 
mündigen  evangelischen  Deutsche  —  Männer  und 
Frauen,  —  welche  die  Grundsätze  und  Zwecke  des 
Programms  billigen,  ihren  Beitritt  erklären  und  darauf- 
hin von  einem  Vereinsvorstand  oder  dem  Bundesvor- 
stände aufgenommen  werden.  Der  Jahresbeitrag  ist 
mindestens  eine  Mark,  wofür  in  den  verschiedenen 
Ländern  eigene  Bundes-Zeitschriften  und  Flugschriften 
umsonst  ausgegeben  werden.  Wer  drei  Mark  bezahlt, 
erhält  die  monatlich  ausgegebene,  sehr  reichhaltige 
„Kirchliche  Korrespondenz".  Jedes  Mitglied,  deren  es 
jetzt  100.000  sind,  verpflichtet  sich,  die  Bundeszwecke 
in  seinen  Kreisen  nach  Kräften  zu  fördern  und  be- 
kannt zu  machen,  auch  an  den  Arbeiten  und  Vereins- 
versammlungen soviel  als  möglich  sich  zu  betheiligen. 
Der  Cen  tra  lvor  s  t  and  des  Evangelischen 
Bundes  besteht  gegenwärtig  aus  den  Herren : 
Graf  von  Wintzingerode-Bodenstein-Bodenstein,  Post 
Worbis,  Vorsitzender;  Konsistorialrath  D.  Göbel-Halle 
a.  S.,  stellv.  Vorsitzender;  Professor  Dr.  Witte-Halle 
a.  SM  Mühlweg  11,  Schriftführer;  Senior  D.  Dr.  Bär- 
winkel-Erfurt; Landger.-Direkt.  Crönert-Halle  a.  S.; 
Pastor  Dr.  G.  Fey-Gösseln  bei  Stumsdorf ;  Geh.  Kirchen- 
rath  D.  Fricke-Leipzig;  Konsistorialrath  Professor  D. 
Haupt-Halle  a.  S.;  Militäroberpfarrer  Konsistorialrath 
Professor  Dr.  Hermens-Magdeburg;  Konsistorialrath 
D.  Leuschner- Wanzleben;  Superintendent  Meyer- 
Zwickau;  Kaiserlicher  Konsul  z.  D.  Freiherr  von 
Münchhausen-Gr.  Lichterfelde  I.  bei  Berlin ;  Professor 
D.  Nippold-Jena ;  Geh.  Regierungsrath  von  Voss-Halle 
a.  S. ;  Professor  D.  Warneck-Halle  a.  S. 

Der  „ Evangelische  Volksbote"  für  das  Jahr  1902 
im    Verlage     der    Buchhandlung    des    evangelischen 


269 


Bundes  Carl  Braun  (etwa  Hebräer?)  in  Leipzig 
schreibt  über  die  evangelische  Bewegung  in  Oester- 
reich  sehr  freudig.  Er  sagt:  Die  „alldeutsche  Partei" 
aber,  die  zuerst  von  allen  den  Ruf  „Los  von  Rom" 
erhoben  und  ihn  unter  ihren  Führern  Schönerer, 
Wolf,  Dr.  Bareuther  u.  s.  w.  unermüdlich  weiterträgt, 
zog  dreimal  so  stark  als  vordem  in  die  Hallen  ein, 
in  denen  die  Geschicke  der  Völker  Oesterreichs  sich 
entscheiden.  Aus  6—7  Abgeordneten,  welche  sie  im 
Jahre  1899  zählten,  waren  es  ihrer  21  geworden,  und 
unter  ihnen  begegnen  wir  dem  Dr.  Eisenkolb,  zu 
welchem  das  deutsch-böhmische  Volk  als  dem  ersten 
religiösen  Führer  unter  den  Politikern  seiner  neuen 
Reformationszeit  aufblickt  Aber  auch  in  den  andern 
deutschen  Parteien,  zumal  der  stärksten  von  allen, 
der  „Deutschen  Volkspartei",  fehlt  es  nicht  an  begei- 
sterten Vertretern  der  Bewegung,  die  es  sich  zum 
Ziel  gesetzt,  Oesterreich  der  Segnungen  der  deutschen 
Reformation  theilhaftig  zu  machen.  Genannt  seien 
nur  Böheim,  der  Protestant  gewordene  Vertreter  der 
oberösterreichischen  Landeshauptstadt  Linz,  und  der 
Führer  der  Altkatholiken  Steiermarks,  Abgeordneter 
Malik.  War  es  da  zu  verwundern,  dass  auch  die  Ver- 
handlungen des  neuen  Reichsraths  bisher  geradezu 
unter  dem  Zeichen  „Los  von  Romtt  standen?  Was 
niemand  ein  Jahr  vorher  auch  nur  für  möglich  ge- 
halten, haben  sie  kundgethan:  der  protestantische 
Gedanke  hat  eine  stärkere  Vertretung  im  Parlament 
des  katholischen  Oesterreichs  als  selbst  im  Reichstag 
des  protestantischen  Deutschland,  wo  infolge  der 
Lässigkeit  der  protestantischen  Wähler  und  der 
Aengstlichkeit  ihrer  Gewählten  heute  leider  immer 
noch  das  Gentrum  Trumpf  ist! 

Wie  reichsdeutsche  Pastoren  in  Böhmen  sich 
behaglich  fühlen,  davon  ein  Beleg.  Pastor  Wallenstein 
aus  der  Niederau  in  Sachsen  unternahm  eine  Reise 
durch  „Deutsch-Böhmerland "  und  erzählt  nunmehr 
in  einer  „Gustav  Adolf-Festschrift"  seine  „Reiseein- 
drücke von  der  evangelischen  Bewegung".  Der  Herr 
Pastor  fährt  zunächst  nach  Karbitz  und  traf  mit  einer 
Gesellschaft  von  deutschen  Frauen  und  Jungfrauen  (1) 
zusammen.   Er  erzählt:   „Im   gemeinsamen  Wandern 


270 


wurden  die  Deulsch-Böhminen  den  Reichsdeutschen 
innerlich  näher  gerückt.  Jene  waren  stolz  auf  ihr 
Deutschthum  und  bekannten  mit  freudiger  Begeiste- 
rung, dass  sie  bei  zwangloser  Vereinigung  gern  ein 
deutsches  Lied  anstimmten  und  beim  Singen  der 
„Wacht  am  Rhein"  ihr  deutsches  Bewusstsein  stärkten, 
„den  Deutschen  zur  Ehr',  gegen  die  Gechen  zur 
Wehr".  Das  war  zur  Zeit,  wo  Rom  zur  Niederdrückung 
seines  gewaltigen  Gegners,  des  Deutschthums,  es  für 
gut  befand,  Cechische  Priester  in  rein  deutsche  Ge- 
meinden zu  entsenden.  Da  gingen  dem  biederen 
deutschen  Volke  die  Augen  auf  ....  Unsere  Begleiter 
machen  uns  auf  die  zahlreichen  Kohlengeschäfte,  als 
auch  auf  die  mitfahrenden  jüdischen  Gestalten  auf- 
merksam, deren  Liberalismus,  religiöse  Gleichgiltig- 
keit  und  Geldwucher  so  schweres  Unheil  in  der  Ver- 
teuerung der  von  ihnen  mit  Beschlag  belegten 
Kohlen  und  auch  sonst  im  ganzen  staatlichen  und 
religiösen  Leben  herbeigeführt  hat,  dass  ausser  Ceche 
und  Jesuit  auch  der  Jude  zu  den  mit  aller  Gluth 
gehassten  Leuten  gehört.  Es  ist  eine  Lust  zu  hören, 
wie  man  hier  sinnt  und  sorgt,  neues  Leben  zu  ver- 
breiten, einen  Bismarck  und  Luther  dem  Volke  werth 
zu  machen.  Heil  Euch,  haltet  aus  im  Kampf  und 
Strauss.  Wir  Evangelische  im  Reiche  werden  werk- 
thätig  zur  Seite  Euch  stehen.  Lasset  uns  mitarbeiten 
am  Fortgang  der  Bewegung  im  Verein  mit  dem 
Namen  eines  grossen  Königs!  Lasset  uns  die  Bewe- 
gung aus  der  Nähe  selbst  anschauen,  auf  dass  wir 
umso  lieber  und  treuer  und  standhafter  mitarbeiten  ! 
Lasset  weiter  uns  mitfreuen,  wenn  drüben  in  Böhmen 
oder  anderswo  die  Evangelischen  einen  Schritt  vor- 
wärts gethan  haben.  Sehen  und  arbeiten  und  freuen 
—  welcher  Freund  des  Gustav  Adolf-Vereines  sollte 
dies  nicht  geloben !  Aber  gerade  jetzt  gilt's  zu  kämpfen. 
Wir  wollen  mit  ihnen  kämpfen,  für  die  kämpfen, 
ihnen  Bresche  zu  schlagen  suchen.  Schreiber  dieser 
Zeilen  ward  auf  das  Kampfgebiet  Klostergrab  hinge- 
führt, um  in  der  böhmischen  Ostmarkt  nach  seiner 
Kraft  in  den  Kampf  mit  einzugreifen  und  der  guten 
evangelischen  Sache  einige  Dienste  zu  erweisen.  Die 
Volkskreise    rufen   zu  uns  ins  evangelische  Sachsen: 


271 


„Kommt  herüber  über  die  Grenze  und  helft  uns!" 
Wohl  haben  wir  im  eigenen  Vaterlande  genug  zu 
thun;  aber  können  wir  dabei  es  übers  Herz  bringen, 
das  weite  im  Böhmerland  sich  ausbreitende  Erntefeld 
ohne  Arbeiter  zu  lassen?  Damit,  dass  wir  zu  ihnen 
gehen  und  ihnen  unsere  Gaben  bringen,  entziehen 
wir  den  eigenen  Gemeinden  nicht  die  Kraft.  Wir 
gehen  getrost  hinüber  und  fordern  andere  zum  Mit- 
gehen auf.  Wir  sollen  und  wollen  durch  Wort  und 
That,  durch  persönliche  und  materielle  Hilfe  das 
erwachte  Leben  pflegen  und  fördern  und  immer 
mehr  in  die  rechte  Bahn  der  religiösen  Lostrennung 
von  Rom  und  Hinwendung  zum  Evangelium  hinein- 
leiten. Denn  nicht  umsonst  wohnen  wir  an  der 
Grenze  des  Böhmerlandes." 

Der  evangelische  Bund  hat  den  Gustav  Adolf- 
Verein  zu  vervollständigen.  Während  der  Gustav 
Adolf-Verein  die  materielle  Versorgung  der  Kirchen, 
Pastoren  und  Lehrer  im  Auge  hat,  übernimmt  der 
evangelische  Bund  die  Finanzierung  der  Abfallspresse 
und  der  politisch-religiösen  Agitatoren.  Es  ist  sicher, 
dass  die  alldeutsche  Presse  Oesterreichs  ohne  die 
rollende  Reichsmark  nicht  existiren  könnte.  Sammelte 
man  ja  doch  Liebesgaben  für  Wolf  in  Deutschland. 
Die  alldeutsche  Presse  in  Böhmen  allein  soll  jährlich 
an  60.000  Mark  von  Deutschland  an  Subventionen 
erhalten.  Man  sieht,  dass  die  Agitation  für  das  officielle 
lutherische  Preussen  -  Deutschland  von  allen  Seiten 
in  Angriff  genommen  wird.  Die  verlässlichsten 
preussisch-lutherischen  Vorposten  sind  allerdings  die 
neu  erbauten  lutherischen  und  kalvinistischen  Kirchen. 
Mit  einer  jeden  neuen  wächst  die  Zahl  der  preussi- 
schen  Vorposten  mitten  im  Leibe  Oesterreichs,  sie 
sind  gleichsam  die  Bohrwürmer,  welche  den  ganzen 
staatlichen  Körper  Oesterreichs  unterwühlen  sollen, 
bis  es  ganz  unterminirt  ist. 

XV.  Oesterreichs  Regierungsmänner  und  die  Los  von 
Rom-Agitation. 

Es  ist  bekannt,  dass  im  Königreich  Sachsen  kein 
katholischer  Priester  die  hl.  Messe  celebriren  darf, 
ohne  vorher  bei  den  Behörden  um  Erlaubniss  zu  bitten. 


272 


Königreich  Sachsen  und  vorwiegend  protestantische 
Theile  Preussens  gelten  denn  auch  als  Missionsgebiete. 
Alles  das  geschieht  um  den  konfessionellen  „Frieden" 
zu  wahren.  Wagte  es  ein  Priester  die  hl.  Messe  ohne 
Erlaubniss  zu  lessen,  so  würde  er  schonungslos  mit- 
telst Polizei  und  Gensdarmerie  des  Landes  verwiesen 
werden.  So  scharf  wacht  das  officielle  Lutherthum 
über  seine  Gebiete  mit  Hilfe  der  Staatsgewalt.  In 
Oesterreich  ist  es  ganz  anders.  Zwar  ist  dieses  Reich 
zu  90  Percent  katholisch,  aber  nur  der  Zahl  nach, 
nicht  dem  Wesen  nach.  Wie  Staatsmänner  Oester- 
reichs  auf  den  konfessionellen  Standpunkt  herab- 
schauen, darüber  geben  uns  folgende  Ereignisse  ge- 
nügenden Aufschluss.  Anfangs  April  1901  brachte  das 
„Grazer  Volksblatt"  diese  Nachricht:  Der  Minister- 
präsident v.  Koerber  und  die  „Los  von  Romu-Bewe- 
gung.  Das  hiesige  socialdemokratische  Organ  ist  in 
der  Lage,  Koulissengeheimnisse  aus  der  Grazer  alt- 
katholischen Kirchengemeinde  auszuplaudern.  Unter 
anderem  erfahren  wir,  dass  der  Abg.  Malik  in  der 
Kirchenrathssitzung  vom  1.  April  einen  Bericht  über 
seine  reichsräthliche  Thätigkeit  in  der  „Los  von  Romu- 
Frage  erstattete:  „Er  wusste  dabei  gar  vieles  und 
Wichtiges  mitzutheilen.  So  habe  er  neuerlich  mit 
dem  Herrn  Ministerpräsidenten  Koerber  Verhandlun- 
gen wegen  einer  Subvention  der  altkatholischen  Kirche 
gepflogen.  Der  Ministerpräsident  sei  der  Sache  auch 
gar  nicht  abhold,  meinte  aber,  dass  es  mit  einer 
Subvention  aus  budgetären  Gründen  nicht  möglich 
sein  dürfte.  Dagegen  habe  Koerber  dem  Herrn  Malik 
versprochen,  bei  den  Altkatholiken  eine  Abschrei- 
bung (!)  an  den  direkten  Steuern  um  jenen  Betrag 
einzuwilligen,  zu  welchem  diese,  obzwar  nimmer 
römisch  -  katholisch,  zu  den  römisch  -  katholischen 
Kultuszwecken  bei  der  Steuerbemessung  herangezogen 
werden.  Auch  sonst  stehe  Ministerpräsident  Koerber 
der  altkatholischen  Reformbewegung  sympathisch 
gegenüber.  So  oft  Herr  Malik  aus  Wien  zu  einer 
Gemeindeversammlung  oder  altkatholischen  Kirchen- 
rathssitzung kam,  wusste  er  immer  so  viel  zu  er- 
zählen, was  er  und  auch  Reichsrathsabgeordneter 
Dr.  Eisenkolb  (alldeutsch)  alles  für  die  altkatholische 


273 


und  für  die  „Los  von  Rom  "-Bewegung  gethan  haben. 
So  habe  er  mit  dem  Ministerpräsidenten  Koerber 
über  die  altkatholische  Kirche  und  die  „Los  von 
Rom" -Bewegung  wiederholt  konferirt.  Der  Herr 
Ministerpräsident  Koerber  stehe  der  altkatholischen 
Bewegung  sehr  wohlwollend  gegenüber  und  wolle 
sie  auch  unterstützen.  Koerber  habe  ihm  (dem 
Herrn  Reichsrathsabgeordneten  Malik)  deshalb  auch 
eine  Subvention  für  die  altkatholische  Kirche  in 
Aussicht  gestellt.  Aber  die  Sache  sei  noch  nicht 
spruchreif  von  wegen  der  „klerikalen*  Partei.  Es 
handle  sich  aber  um  eine  grössere  Summe,  und  er, 
Malik,  sei  seiner  Sache  sicher."  Ein  österreichischer 
Ministerpräsident  als  Förderer  und  Beschützer  der 
»Lös  von  Rom"-Bewegung  wäre  die  neueste  Errungen- 
schaft in  der  österreichischen  Geschichte.  Vielleicht 
hat  der  Ministerpräsident  noch  Gelegenheit,  sich  dar- 
über zu  äussern,  ob  der  Bericht  des  Abg.  Malik  der 
Wahrheit  entspricht. 

In  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  vom 
4.  Juni  1901  sprach  Ministerpräsident  Dr.  Koerber 
folgendes.  Andere  Erörterungen  im  Laufe  der  Debatte 
bezogen  sich  theils  wirklich  auf  das  konfessionelle 
Gebiet,  theils  wollten  sie  dem  für  sich  bedauerlichen 
aber  doch  kleinen  Vorkommnisse  eine  erhöhte  Be- 
deutung geben,  indem  man  sie  auf  das  religiöse 
Terrain  hinüber  spielte.  Die  Regierung,  die,  wie  ich 
wiederhole,  die  Vorkommnisse  dieser  letzteren  Art 
nur  lebhaft  beklagt,  möchte  aber  doch  vor  einer 
Uebertreibung  der  Wirkungen  solcher  Episoden  war- 
nen, in  dem  ungleich  wichtigeren  Falle  aber,  in  wel- 
chem es  sich  um  den  Glaubenswechsel  einer  gewissen, 
nicht  grossen  Anzahl  von  Staatsbürgern  handelt,  kann 
ich  nicht  umhin  nach  einem  prüfenden  Blick  in  die 
Geschichte  zu  konstatiren,  dass  wirkliche,  tiefgreifende, 
mit  ernster  Gefahr  verbundene  religiöse  Bewegungen 
anders  aufzutreten  pflegen,  wenn  ich  erinnere,  mit 
welcher  Gewalt  das  Ghristenthum  trotz  der  schwer- 
sten Verfolgungen  sich  die  Welt  eroberte,  und  wenn 
ich  abgesehen  von  der  Rapidität,  mit  welcher  andere 
Bekenntnisse  sich  grosser  Reiche  bemächtigten,  wenn 
ich  des  Tempos  gedenke,   mit  welchem   sich  spätere 

18 


274 


derlei  Bewegungen  in  Europa  vollzogen  haben,  so 
erscheint  mir  diese  Furcht  nicht  begründet,  welche 
die  Vorkommnisse  unserer  Tage  begleitet  und  halte 
es  für  ausgeschlossen,  dass  die  katholische  Kirche  in 
Oesterreich  irgendwie  bedroht  ist  oder  auch  nur  be- 
droht werden  kann.  Ihre  Gewalt  über  die  Herzen  ist 
zu  gross  und  die  Sorge  für  sie  nicht  nur  in  zu  si- 
cheren Händen,  als  dass  irgend  eine  Agitation  ihr 
nahekommen  könnte.  Wirkliche  Umwälzungen  sind 
stets  nur  durch  neue,  der  Gedankenwelt  und  der 
Empfindungs  weise  des  Volkes  zusagende  Ideen  her- 
vorgerufen worden,  während  es  sich  jetzt  um  die 
Bekehrung  zu  einem  in  seinem  Wesen  und  seinen 
Formen  längst  bekannten  Glauben  handelt,  dem  keine 
Leidenschaften  mehr  voraneilen.  Allerdings  wenn 
eine  Ungesetzlichkeit  dabei  unterliefe,  hat  die  Staats- 
verwaltung einzugreifen  und  die  Herren  werden  wohl 
überzeugt  sein,  dass  wir  es  gegebenen  Falls  daran 
nicht  fehlen  lassen  werden.  Ein  Uebermass  von  Polizei 
scheint  mir  unter  allen  Umständen  bedenklich,  über- 
dies solchen  Bewegungen  gegenüber  unwirksam  und 
ich  glaube,  dass  die  katholische  Kirche  sich  beruhigt 
auf  ihre  Kraft  verlassen  kann.  So  weit  sprach  Dr. 
Koerber  über  die  Los  von  Rom-Agitation.  Man  muss 
sagen,  dass  er  schlau  geredet  hat  und  doch  auf  an- 
derer Seite  viel  zu  albern,  er  selbst  wird  seinen 
eigenen  Worten  nicht  glauben.  Das  Lob,  welches 
hier  Dr.  Koerber  der  katholischen  Kirche  in  Oester- 
reich spendete,  ist  Scheinlob,  ja  die  ganze  Rede 
Koerbers  ist  ein  diplomatischer  Lug  und  Trug,  um 
die  Nachlässigkeit  der  österreichischen  Regierungs- 
organe zu  decken,  Ist  ja  doch  Dr.  Koerber  Busen- 
freund der  Schoenerergruppe. 

Die  Judenpresse  und  die  Alldeutschen  geizten 
denn  auch  nicht  mit  dem  Lobe  für  diese  Leistung 
des  Ministerpräsidenten  Dr.  Körber.  Denn  so  etwas 
bringt  nur  ein  Ministr  in  Oesterreich  zu  Stande.  Das 
Organ  des  Juden  Rudolf  Mosse,  das  „Berliner  Tage- 
blatt4* schrieb  darüber  folgendes:  Ministerpräsident 
von  Körber  über  die  Los  von  Rom-Bewegung.  In  der 
gestrigen  Sitzung  des  österreichischen  Abgeordneten- 
hauses   gab    der  Ministerpräsident   von    Körber   eine 


275 


bedeutsame  Erklärung  über  die  Los  von  Rom-Bewe- 
gung ab,  wodurch  er  die  von  den  Klerikalen  verlangte 
Unterdrückung  der  Bewegung  durch  polizeiliche  Macht- 
mittel ablehnte.  Aus  Wien  wird  darüber  telegraphirt : 
Das  Abgeordnetenhaus  setzte  in  der  gestrigen  Abend- 
sitzung die  Berathung  des  Budgetprovisoriums  fort. 
Der  Deutschfortschrittler  Gross  sprach  die  Geneigtheit 
zum  nationalen  Friedensschluss  aus  unter  der  Vor- 
aussetzung, dass  die  tschechische  Bevölkerung  ihre 
nationalen  Eroberungsgelüste  aufgebe.  Nachdem  der 
Sozialdemokrat  Rieger  gegen  und  Treuinfels  Namens 
des  Centrums  für  das  Budgetprovisorium  gesprochen 
hatte,  hob  Ministerpräsident  von  Körber  hervor,  er 
werde  nicht  erlahmen,  das  verfassungsmässige  Leben 
zu  sichern,  dem  Gesetze  für  und  gegen  Jedermann 
Geltung  zu  verschaffen,  das  Ansehen  der  Volksver- 
tretung, soweit  es  an  ihm  liege,  zu  mehren  und  die 
Verwaltung  zeitgemäss,  nur  wohlwollend  und  mit 
Festigkeit  zu  führen.  „Wir  werden,"  fuhr  der  Minister- 
präsident fort,  „niemals  gegen  das  deutsche  Volk  in 
Oesterreich,  gegen  kein  Volk  dieses  Reiches  regieren, 
wir  wollen  Gerechtigkeit  für  alle  Völker.  Darin  er- 
blicken wir  unsere  politische  Ehre,  die  wir  unbefleckt 
erhalten  werden.  Ein  nationalpolitisches  Programm 
mag  wohl  hohen  Werth  für  einen  national  einheit- 
lichen Staat  haben,  taugt  jedoch  nicht  für  ein  Reich, 
dem  so  viele  Nationalitäten  angehören,  weil  es  zu 
einer  Spaltung  in  lauter  schwache,  einander  bekäm- 
pfende Theile  führen  würde.  Wir  sind  zu  der  Erkennt- 
niss  gelangt,  dass  die  gemeinsamen  Interessen  aller 
Nationalitäten,  ihre  kulturellen,  materiellen  und  so- 
zialen Aufgaben  zusammengefasst  und  in  den  Vorder- 
grund gestellt  werden  müssen,  weil  sie  ohne  Schädi- 
gung des  nationalen  Gedankens  die  Völker  zu  ver- 
binden im  Stande  sind".  Die  Los  von  Rom-Bewegung 
berührend,  betonte  der  Ministerpräsident,  dass  wirklich 
tiefgreifende,  mit  ernstlichen  Gefahren  verbundene 
Religionsbewegungen  anders  aufzutreten  pflegten.  Red- 
ner hält  es  für  ausgeschlossen,  dass  die  katholische 
Kirche  in  Oesterreich  irgendwie  bedroht  sei  oder 
auch  nur  bedroht  sein  könne,  ihre  Gewalt  über  die 
Herzen  sei  zu  gross.  Wenn  dabei  allerdings  Ungesetz- 

16* 


276 


lichkeit  unterlaufe,  habe  die  Staatsverwaltung  einzu- 
schreiten, und  die  Regierung  werde  es  gegebenenfalls 
daran  nicht  fehlen  lassen.  Ein  Uebermass  von  Polizei 
erscheine  aber  bedenklich  und  überdies  bei  solchen 
Bewegungen  unwirksam.  Die  katholische  Kirche  könne 
sich  ruhig  auf  ihre  Kraft  verlassen.  Redner  setze 
voraus,  dass  das  patriotische  Moment  bei  allen  Parteien 
volle  Berücksichtigung  finde.  Ueber  die  büdgetären 
Konsequenzen  des  Regierungsprogrammes  erklärte  der 
Ministerpräsident,  dass  die  Regierung  ein  Deficit  in 
den  Staatshaushalt  nicht  werde  einziehen  lassen. 
(Beifall.)  Er  betonte  die  Nothwendigkeit  eines  defini- 
tiven nationalen  Friedensschlusses  zwischen  den 
Parteien.  Die  Volksvertretung,  welche  eine  mächtige 
Lebenskraft  zur  wirthschaftlichen  Wiederaufrichtung 
des  Reiches  gefunden  habe,  werde  sich  nicht  den 
Ruhm  entgehen  lassen,  die  politische  Ordnung  wieder- 
hergestellt zu  haben.  Die  Regierung  habe  keine  höhere 
Pflicht,  als  die  Wege  hierzu  zu  ebnen.  (Lebhafter 
Beifall  im  ganzen  Hause.) 

Nachdem  noch  mehrere  Redner  gesprochen  hatten 
wurde  die  Verhandlung  abgebrochen  und  die  Sitzung 
um  1  Uhr  Nachts  geschlossen.  Der  Eindruck  der 
Rede  des  Ministerpräsidenten  von  Körber  ist  im 
ganzen  Lande  ein  sehr  bedeutender.  In  liberalen 
Kreisen  Oesterreichs  erblickt  man  darin  eine  direkte 
Kundgebung  des  verantwortlichen  Staatsleiters  gegen 
den  Erzherzog  Franz  Ferdinand  und  seine  bekannter- 
massen  von  der  Regierung  nicht  sanktionirten  Aeusse- 
rungen  bei  Uebernahme  des  Protektorats  über  den 
katholischen  Schul  verein.  Von  unserem  Wiener  Kor- 
respondenten erhalten  wir  dazu  folgendes  Privat- 
Telegramm :  Das  meiste  Aufsehen  erregte  in  der  ge- 
strigen Rede  des  Ministerpräsidenten  von  Körber  jene 
Stelle,  wo  Körber  über  die  Los  von  Rom-Bewegung 
sprach,  ohne  sie  bei  diesem  Namen  zu  nennen.  Man 
betrachtet  diese  Stelle  als  gegen  den  Erzherzog  Franz 
Ferdinand  und  gegen  seine  Reden  bei  der  Ueber- 
nahme des  Protektorates  des  katholischen  Schulver- 
eins gerichtet.  Die  Worte  des  Ministerpräsidenten 
wurden  von  den  freisinnigen  Parteien  mit  lebhaltem 
Beifall  aufgenommen. 


277 


Die  „Neue  Freie  Presse"  schreibt  hierüber:  Der 
Ministerpräsident  hat  ganz  freimüthig  gesagt,  dass 
er  angesichts  der  riesigen  Macht  der  katholischen 
Kirche  gewisse  Vorkommnisse  der  letzten  Zeit  für# 
gerechtfertigt  halte.  Zu  diesen  Vorkommnissen  gehört 
auch  die  Begründung,  mit  welcher  der  Erzherzog 
Franz  Ferdinad  das  Protektorat  über  den  katholischen 
Schulverein  übernommen  hat.  Der  Erzherzog  hatte 
gesagt:-  Die  Los  von  Rom-Bewegung  sei  zugleich 
eine  Los  von  Oesterreich-Bewegung  und  könne  nicht 
genug  bekämpft  werden.  Der  Standpunkt  des  Minister- 
präsidenten ist  durchaus  entgegengesetzt.  Körber  er- 
klärt, er  werde  ungesetzliche  Ausbreitungen  mit  der 
höchsten  Energie  niederhalten,  glaube  jedoch  nicht, 
dass  die  befürchtete  Gefahr  wirklich  drohe.  Die  katho- 
lische Kirche  ist  nach  der  Meinung  des  Herrn  von 
Koerber  und  in  Wahrheit  so  mächtig,  dass  sie  wirklich 
keine  Gefahr  zu  fürchten  hat.  Es  war  ein  dringendes 
Bedürfniss,  dass  der  Ministerpräsident  sich  über  die 
Frage  mit  voller  Klarheit  geäussert  hat.  Täglich  werden 
die  Worte  des  Erzherzogs  nicht  allein  benutzt,  sondern 
verfälscht  und  missbraucht,  um  den  religiösen  Streit 
anzufachen  und  den  Schein  hervorzurufen,  als  wäre 
die  österreichische  Gesinnung  die  besondere  Eigen- 
thümlichkeit  und  das  Vorrecht  einer  Partei,  die  sich 
aus  tiefem  moralischen  Niedergange  wieder  in  die 
Höhe  schmeicheln  will,  und  deren  Fäulniss  die  sitt- 
lichen Anschauungen  der  katholischen  Kirche  genau 
so  beleidigt,  wie  die  Kultur  und  Menschlichkeit.  Der 
Ministerpräsident  hat  die  widerwärtigen  Denuncia- 
tionen  dieser  Partei  gebrandmarkt,  indem  er  sagte, 
dass  ihm  ein  Uebermass  von  Polizei  unter  allen  Um- 
ständen bedenklich  scheine.  Man  sieht,  wie  das  Juden- 
blatt schmunzelt,  dass  in  Oesterreich  der  Minister- 
präsident mächtiger  ist  als  der  angehende  Herrscher, 
dass  höchst  berufene  Hüter  des  Staates  de  facto 
seine  grössten  Schädiger  sind.  Das  hat  denn  auch  Ab- 
geordneter Dr.  Kramaf  in  den  Delegationen  in  einer 
längeren  Rede  bewiesen.  Dr.  Kramaf  hielt  Anfangs 
Juni  1902  in  den  österreichischen  Delegationen  eine 
längere  Rede  über  die  Los  von  Rom-Agitation. 

Die  Rede  des  Abgeordneten  Dr.  Kramaf  hat  denn 


278 


auch  ihre  Wirkung  gehabt,  sie  hat  den  oesterreichi- 
schen  Minister  des  Aeussern  Grafen  Goluchowski  von 
Goluchowo  aufgerüttelt  und  in  seiner  Ruhe  gestört.  . 
.Diesem  Minister  wurde  in  den  Delegationen  vorgeworfen 
dass  er  sein  Amt  meistens  im  Schlafrock  und  der 
Schlafhaube  versieht.  Das  hat  er  denn  auch  wirklich 
mit  seiner  Antwort  auf  die  Rede  des  Dr.  Kramäf 
bewiesen.  Man  höre  nnd  staune,  wie  ein  oesterreichi- 
scher  Minister  Fragen  behandelt,  die  den  Staat  bis 
in  sein  inneres  Mark  aufrütteln.  Goluchowski  ant- 
wortete: Der  Deligierte  Dr.  Kramäf  hat  in  einer 
langen  Rede  die  „Los  von  Romu-  Bewegung  erörtert 
und  mich  aufgefordert,  auch  bei  der  Bekämpfung 
mitzuwirken.  Ich  muss  gestehen,  dass  ich  nicht  weiss, 
in  welcher  Form  ich  seiner  Aufforderung  nachkommen 
kann. 

Dass  diese  Bewegung  besteht,  das  leugne  ich 
nicht;  ich  leugne  auch  nicht,  dass  es  evangelische 
Vereine  gibt,  insbesondere  den  Gustav  Adolf- Verein, 
die  diese  Bewegung  unterstützen.  Das  sind  private 
Angelegenheiten.  Soweit  es  sich  aber  um  die  deutschen 
Regierungen,  und  zwar  die  preussische,  sächsische, 
bayerische  handelt,  kann  ich  nur  konstatieren,  dass 
sie  ausserordentlich  korrekt  vorgegangen  sind  und 
mir  keinen  Anlass  gegeben  haben,  in  dieser  Hinsicht 
aufzutreten.  Es  kann  ja  vorkommen,  dass  diese  Agi- 
tation, die  Vorstösse  dieser  evangelischen  Vereine  in 
Oesterreich  nicht  immer  mit  den  hiesigen  Gesetzen 
übereinstimmen.  Da  ist  es  Aufgabe  der  österreichi- 
schen Regierung,  dagegen  aufzutreten  und  solche 
Uebelstände  abzuschaffen.  Es  ist  allerdings  wahr  und 
bedauerlich,  dass  wir,  was  die  Vikare  anbelangt,  auf 
den  Zuzug  aus  der  Fremde  angewiesen  sind.  Aber 
das  hängt  mit  der  Thatsache  zusammen,  dass  wir  in 
Oesterreich  nicht  das  genügende  Material  erziehen, 
und  wenn  ich  nicht  irre,  hat  das  Protestantenpatent 
vom  Jahre  1864  die  Verfügung  getroffen,  dass,  soferne 
diejenigen  Seelsorger,  die  für  die  evanglischen  Ge- 
meinden nothwendig  sind,  nicht  in  Oesterreich  erzogen 
werden,  sie  aus  dem  Ausland  bezogen  werden  können. 
Selbstverständlich  haben  diese  Seelsorger  sich  hier 
korrekt  zu  benehmen.  Thun  sie  das  nicht,    so  ist  es 


279 


Sache   der  österreichischen   Regierung,    dagegen  auf- 
zutreten und  die  notwendigen  Massregeln  zu  treffen. 

In  China  würde  man  einen  solchen  Grossmann 
darin  nach  einer  derartigen  Leistung  den  anderen 
Tag  ganz  einfach  um  den  Kopf  kürzer  machen.  Aber 
wir  sind  ja  in  Oesterreich.  Ein  reichsdeutsches  Blatt 
quittirte  denn  schmunzelnd  diese  Leistung  Golu- 
chowski's  mit  folgenden  Worten;  „Diese  Aeusserungen 
gewinnen  an  Wert,  wenn  man  im  Auge  behält,  dass 
die  unter  der  Flagge  „Gegen  die  Los  von  Rom-Be- 
wegung" von  den  Tschechen  und  Polen  nach  Deutsch- 
land hin  unternommenen  Vorstösse  den  Zweck  haben, 
das  Deutschthum  in  dem  Augenblicke  im  Südwesten 
des  Reiches  zu  erschüttern,  indem  Preussen  im 
Nordosten  gegen  die  grosspolnische  Agitation  mit  so 
grossen  Opfern  Schutzwälle  für  das  Reich  errichten 
muss".  Wie  anders  haben  Oesterreichs  Herrscher  gleich 
beim  Auftreten  des  Protestantismus  und  einem  Ein- 
dringen nach  Oesterreich  die  Gefahren  erkannt  und 
rechtzeitige  Abwehr  ergriffen.  Selbst  der  nachgiebige 
Kaiser  Rudolf  wehrte  sich  gegen  das  Eindringen  der 
Pastoren.  Er  liess  ein  Mandat  gegen  die  Pastoren 
publiciren,  dessen  Wortlaut  wir  hier  anführen. 

Mandat  an  die  Evangelischen  Prediger 
im  Lande.  Wir  Rudolf  der  andere  von  Gottes 
Gnaden  erwählter  Römischer  Kayser,  zu  allen  Zeiten 
Mehrer  des  Reichs  etc.  fügen  N.  allen  und  jeden  un- 
catholischen  Prädicanten,  so  sich  bissher  in  unserm 
Stätten  und  Märkten,  Herschaften,  wie  auch  in  unsern 
der  Geistlichen  und  Gatholischen  Stände  und  Land- 
leuth  Kirchen  und  Pfarhen  hin  und  wieder  in  unserm 
Ertz-Herzogthum  Oesterreich  ob  der  Enss  aufgehalten, 
denen  diss  unser  offen  General  fürkommt,  zu  Wissens, 
Ob  wir  wol  nach  verschienen  97  Jahrs  allen  unsern 
nachgesetzten  Obrigkeiten,  Ständen,  Landleuthen  und 
Unterthanen  durch  unsere  publicierte  offene  General 
und  Mandata  ernstlich  befohlen,  alle  Prädicanten, 
die  in  Oesterreich  ob  der  Enss  bei  unserm  und  der 
Gatholischen  Stände  Pfarhen  oder  sonst  eingeführt 
und  ausgestelt  worden,  oder  sich  eingetrungen  haben, 
aufnehmen  und  bestellen  lassen,  alsobald  abzuschaffen 
und  feiner  nicht  aufzuhalten  oder  zu  gedulden,  son- 


280 


dem  auf  dieselbe   gute   fleissige   Achtung  zu  geben, 
und,   da  sie  nach  Publicierung  obberührter   unserer 
Kayserlicher  Patenten  im  Land  antroffen  oder  betretten 
werden,  sie  gefänglich  einzuziehen,  die  Pfarren  durch 
diejenigen,    denen    sie  zugehörig  und   von  Alters  zu 
bestellen  gebührt,  mit  tauglicheu  Priestern  und  Pfar- 
herrn   ersetzen  und  bestellen  zu  lassen,  ferners  und 
mehrers  Inhalt  solcher  unserer  aussgangenen  Patenten. 
So   haben   wir  doch  bisshero    im  Werck    befunden, 
dass  Ihr,  die  Prädicanten  ungeachtet  jetzt  angezogener 
und  anderer  von  Uns  hernach  beschehenen  Verordnung 
Euch  in  unterschiedlichen  unser  Stätten.  Herrschaften 
und  Märckten,  auch  andern  Unsern  und  der  Geistlichen 
und   Catholischen   Ständen  zugehörigen  Oertern  und 
Pfarren  noch  biss  dato  ein  Weg  als  den  andern  ver- 
messentlich    und    ungehorsamlich    aufgehalten,    und 
alle  unsere  Kayserliche  und  Landsfürstliche  Mandata 
und    Befelch    bisher    in  Windeln    geschlagen   habet. 
Wann   uns    aber  tragenden  Ammts  und  Gewissens 
halber   solches    keines   wegs   länger   zuzusehen  noch 
zu  gedulden  ist  hierum    so  gebieten   Wir  Euch  den 
obbemelten    Prädicanten    samt    und  sonders    hiemit 
von  Römisch  Kayserlicher  und  Landsfürstlicher  Macht 
und  wollen,  dass  ihr  innerhalb  8  Tagen  den  nähesten, 
nachdem    diese  unsere  leztte   Warnung   und  Mandat 
verkündet   und  publiciert   wird,   Euch   aus    unserm 
gantzen  Ertzhertzogthumb    Oesterreich  ob  und  unter 
der  Enss  alsbald  begebet,  und  weiter  drinnen  keines- 
wegs aufhaltet  oder  betretten  lasset.    Denn  da  einer 
oder  der  ander  diesem  nicht  nachkommen  würde,  so 
solle    der   oder  dieselben    als  ungehorsame   alsgleich 
gefänglich    eingezogen    und    an  Leib    und   Guth  £e- 
straffet  werden.  Weil  wir  auch  zu  mehrmalen  berichtet 
worden,  wasgestalt  in  gedachten  unserm  Ertzhertzog- 
thumb Oesterreich   ob  der  Enss  sich  viel  apostasirte 
Priester,    Mönch    und    Ordens-Persohnen    hin    und 
wieder   im  Land,    so   wohl   bev   unsern  Landleuten, 
als   unsern   eigenthümblichen   Stätten,    Herrschafften, 
Märckten  und   Pfarren    aufhalten,    und    vor    andern 
wider  unsere  Catholische  Religion  und  derselben  zu* 
gethane   geistliche   und  weltliche  Obrigkeit  und  Vor- 
steher öffentlich  gantz  schimpfflich  und  ärgerlich  pre- 


281 


digen,  dardurch  gegen  gemeinen  Mann  und  Layhen 
nit-  allein  schändlich  verführen,  sondern  auch  in 
Irrthum  stecken,  verbittern  und  zu  allem  Ungehorsam 
und  Halsstarrigkeit  Ursach  und  Anleitung  geben,  so 
ist  hiemit  weiter  unser  ernstlicher  Befelch,  Willen 
und  Meinung,  dass  alle  und  jede  apostasierte  Priester, 
Mönch  oder  Ordens-Persohnen  sich  alsbald  hinweg 
aus  dem  Land  machen,  dasselbige  räumen  und  dar- 
innen keines  wegs  länger  aufhalten  wollen,  von 
einigen  Landleuten,  Pflegern,  Stätten,  Märckten  oder 
Gemeinden,  vielweniger  von  unserm  Amtleuthen, 
Officirn  und  Dienern  im  Land,  wer  die  auch  seyen, 
und  unter  was  Schein  es  seyen  möcht,  aufhalten, 
sondern  alsbald  abgeschafft  werden  sollen,  alles  bey 
Vermeidung  unserer  Kayserlichen  Ungnad  und  Leibs- 
Strafif  auch  den  Poen  geklagten  Gewalts,  so  nit  allein 
dem  Ordinario  und  dem  Prälaten,  sondern  auch 
einem  jedweden  Interessirten  einzubringen  bevor- 
stehen solle.  Wie  wir  denn  unserm  Landshauptmann 
und  den  Landräthen  hiemit  ernstlich  auferlegen  und 
befehlen,  drauf  schleunig  zuerkennen,  und  wo  sie 
dergleichen  Persohnen  betretten,  dieselben  gefänglich 
einziehen  zu  lassen,  und  fürters  dem  Ordinario  oder 
ihrem  Professori  zuzuliefern,  auch  alles  dasjenige, 
was  zu  Straflfung  solcher  glaubbrüchigen  und  schäd- 
lichen Persohnen  von  nöthen  ist,  unnachlässig  und 
alles  Fleiss  fürzunehmen  und  zu  exequiren.  Das 
meinen  wir  ernstlich.  Geben  auf  unserm  Schloss  zu 
Podiebradt  den  18.  Octobr,  Anno  1598,  unserer  Reiche 
des  Römischen  im  23,  des  Hungarischen  im  27  und 
des  Boheimischen  im  24.*)  Rudolph. 

Bekanntlich  haben  die  Abfallführer  für  ihre  Agi- 
tationen den  Kaiser  Josef  IL  für  sich  und  ihre  un- 
sauberen Zwecke  in  Beschlag  genommen,  aber  ganz 
mit  Unrecht. 

Es  sei  hier  ausdrücklich  erwähnt,  dass  Kaiser 
Josef  II.  anbefahl,  dass  auch  in  jenen  Ortschaften, 
wenn  sie  auch  nicht  700  Einwohner  zählen,  eine  ka- 
tholische Pfarrei  zu  errichten  sei,  wo  für  die  Katho- 
liken wegen  des  engen  Zusammenwöhnens  mit  Pro- 
testanten eine  Gefahr  des  Abfalls   bestehen   möchte. 


*)  Raupach,  Das  evangelische  Oesterreich. 


282 


XVI.  Die  Los  von  Rom-Agitation  und  der  konfes- 
sionelle Standpunkt. 

Auf  den  berechtigten  Hinweis,  dass  die  Los  von 
Rom-Agitation  nichts  anderes  sei  als  eine  feindliche 
Invasion  des  oflciellen  lutherischen  Preussenthums 
nach  Oesterreich,  wollen  seine  hervorragenden  Treiber 
behaupten,  sie  hätten  dabei  nur  die  Absicht  das 
„reine  Evangelium"  zu  verbreiten.  Pastor  Bräunlich 
sagt  in  seinem  Flugblatt:  „Die  Zustände  in  der  deutsch- 
evangelischen Kirche  Oesterreichs"  (bei  Lehmann  in 
München  1902)  unter  anderem  folgendes:  Eine  evan- 
gelische Kirche  hatte  aufgehört  in  Oesterreich  zu  exi- 
stieren, seitdem  der  dreissigjährige  Krieg  mit  ihren 
letzten  Resten  aufgeräumt  hatte.  Erst  im  Jahre  1707 
war  durch  König  Karl  XII.  von  Schweden,  und  zwar 
zunächst  für  Schlesien,  ein  neuer  Grund  zu  ihr  ge- 
legt worden.  In  der  Altranstädter  Konvention  hatte 
dieser  Erbe  Gustav  Adolfs  den  Kaiser  Josef  I.  dazu 
genötigt,  von  1000  einst  den  Evangelischen  entrissenen 
Kirchen  ihnen  120  zurückzugeben  und  ausserdem  den 
Bau  von  sechs  ,; Gnadenkirchen"  zu  gestatten.  Von 
diesen  sechs  steht  heute  nur  noch  eine  einzige,  die 
von  Tetschen,  auf  österreichischem  Boden.  Sie,  die 
8000  Zuhörer  fasst,  ist  als  die  Mutterkirche  der  gegen- 
wärtigen Kirche  der  Reformation  in  Oesterreich  zu 
betrachten.  Diesem  Rettungswerk  des  Schweden- 
königs ist  es  zu  verdanken,  dass  es  in  Oesterreich- 
Schlesien  heut  90.000  Protestanten  gibt,  d.  i.  20% 
aller  österreichischen  Protestanten  oder  14%  der  Be- 
völkerung dieses  Kronlandes.  Sonst  erhielt  sich  auf 
heut  österreichischem  Gebiet  der  Protestantismus  nur 
in  dem  bis  1772  zu  Polen  gehörigen  Biala,  auf  den 
Besitzungen  der  Grafen  von  Zedtwitz  im  Ascher  Land- 
zipfel und  in  dem  durch  Karl  VI.  zum  Freihafen  er- 
hobenen Triest.  Neue  Protestantengemeinden  kamen 
zu  diesen  durch  besondere  Umstände  bewahrten 
alten  hinzu,  als  Maria  Theresia  seit  1772  deutsche 
Ansiedler  in  das  Polen  abgenommene  Galizien  rief. 
Zwar  nicht  öffentliche,  aber  doch  wenigstens  eine  be- 
schränkte private  Religionsübung  gestattete  endlich 
der  edle  Kaiser  Josef  II.  in  dem  berühmten  Toleranz- 
edikt vom  13.  Oktober  1781   seinen  protestantischen 


283 


Unterthanen.  74.000,  die  für  katholisch  gegolten,  traten 
damals  in  den  verschiedenen  Theilen  und  Volks- 
stämmen Oesterreichs  (so  besonders  auch  in  Kärnten, 
Steiermark  und  Oberösterreich)  mit  ihrem  evange- 
lischen Bekenntniss  hervor.  Ihre  Lage  blieb  eine  in 
vielfacher  Hinsicht  ausserordentlich  beengte,  bis  das 
kaiserliche  Patent  vom  4.  März  1849  endlich  Glaubens- 
freiheit und  öffentliche  Religionsübung  zugestand,  um 
freilich  schon  zweieinhalb  Jahre  später  von  der  trau- 
rigen Reaktions-  und  Konkordatzeit  (1855)  wieder 
verdrängt  zu  werden,  welche  alles  bisher  Erlangte  in 
Frage  stellte  und  heute  noch  als  eine  Zeit  der  Recht- 
losigkeit Beängstigung  erregend  in  der  Erinnerung 
der  protestantischen  Generation  fortlebt,  die  jene 
Tage  mit  eigenen  Augen  gesehen. 

Nach  den  Niederlagen  auf  den  italienischen 
Schlachtfeldern  brach  der  Tag  der  Freiheit  für  unsere 
Glaubensgenossen  in  Oesterreich  mit  dem  Erlass  des 
Protestantenpatentes  vom  8.  April  1861  endlich  an. 
Auf  Grund  desselben  entwickelte  sich  die  presbyterial- 
synodale  Verfassung  der  dortigen  evangelischen  Kirche, 
welche  am  6.  Januar  1866  in  der  dann  noch  einmal 
(15.  December  1891)  revidierten  Kirchenverfassung 
einen  vorläufigen  Abschluss  fand.  Seitdem  und  zumal 
von  dem  „interkonfessionellen  Gesetz"  des  25.  Mai  1868 
ab  geniessen  die  Protestanten  in  Oesterreich  gesetz- 
lich volle  Gleichberechtigung.  Die  zwei  bis  drei  Jahre, 
welche  seit  jener  Anfangszeit  vergangen  sind,  haben 
eine  neue  kraftvollere  Generation  im  geistlichen  Stand 
des  österreichischen  Protestantismus  in  den  Vorder- 
grund gerückt  und  jene  unbestimmten  Gestalten  mehr 
und  mehr  zurückgedrängt.  Dies  zeigt  sich  vor  allem 
in  der  durchweg  der  Bewegung  begeisternd  zustim- 
menden Haltung  sämmtlicher  deutsch-österreichischer 
Kirchenblätter.  Vor  allem  ist  hier  die  bekannte  vier- 
zehntägig erscheinende  und  stetig  an  Abonnenten  zu- 
nehmende „Evangelische  Kirchenzeitung"  in  Bielitz 
und  der  (monatliche)  „Oesterr.  Protestant"  in  Klagen- 
furt zu  nennen,  denen  wir  hier  viele  Notizen  ent- 
nehmen. Daneben  aber  auch  der  „Christliche  Alpen- 
bote" in  Gilli  (monatlich),  der  „Grazer  Kirchenbote" 
(monatlich),  der  „Evang.  Hausfreund"   in  Wien  und 


284 


das  „Ev.  Vereinsblatt  aus  Oberösterreich u.  Neu  hinzu 
kam  1901  die  „Wiener  Oesterr.  Evang.  Gemeinde- 
zeitung" (vierzehntägig).  Die  Herausgeber  dieser  Blätter, 
nämlich  die  Pastoren  Dr.  Schmidt  und  Modi  in  Bie- 
litz,  May  in  Cilli,  Eckardt  in  Graz,  Professor  P.  D. 
v.  Zimmermann,  Oberkirchenrath  Dr.  Witz  in  Wien 
und  P.  Schwarz  in  Waiern  sind  wie  manch  andere, 
vor  allem  Superintendent  Gummi  in  Aussig,  Pastor 
Antonius  in  Wien,  Molin  in  Gablonz  u.  s.  w.  ebenso 
viele  energische  Vertreter  eines  tapferen  Protestan- 
tismus und  warme  Fürsprecher,  ja  oft  begeisterte 
Vorkämpfer  der  evangelischen  Bewegung.  Soweit  der 
Protestantismus  in  Oesterreich  heute  in  der  Oeffent- 
lichkeit  sich  bemerkbar  macht,  hat  man  den  erfreu- 
lichen Eindruck,  als  wäre  aller  Orten  ein  neuer  mehr 
oder  minder  apostolischer  Geist  in  die  Reihen  seiner 
Pastoren  eingezogen,  wie  er  sich  zuerst  in  jenen  ver- 
traulichen Konferenzen,  die  eine  Anzahl  österreichischer 
Pfarrer  zu  Anfang  December  1898  in  Wien  abhielten, 
sowie  in  dem  aus  ihnen  hervorgegangenen  öffentlichen 
Protest  zuerst  der  15  Theologen  gegen  Johanny,  dann 
der  Erklärung  der  über  100  evangelischen  Pfarrer  und 
Presbyterien  für  die  Los  von  Rom-Bewegung  und 
endlich  in  den  Beschlüssen  der  Landessynode  hin- 
sichtlich der  Los  von  Rom-Bewegung  vom  5.  No- 
vember 1901  kund  gab.  Letztere  lauteten  bekanntlich 
folgendermassen :  „1.  Die  evangelische  Generalsynode 
A.  B.  als  eine  rein  kirchliche  Körperschaft  findet  es 
nicht  in  ihrem  Wirkungskreis  gelegen,  über  die  in 
der  römisch-katholischen  Kirche  entstandene  „Los  von 
Rom-Bewegung"  zu  urtheilen,  soweit  dieselbe  poli- 
tischen Beweggründen  entspringt  und  von  solchen 
genährt  wird.  2.  Die  Generalsynode  begrüsst  aber 
freudig  alle  aus  Ueberzeugung  erfolgten  Uebertritte 
und  erhofft  von  den  Uebergetretenen  eine  gewissen- 
hafte Erfüllung  der  übernommenen  sittlichen  und  re- 
ligiösen Verpflichtungen.  3.  Angesichts  der  Schwierig- 
keiten der  kirchlichen  Versorgung  der  neuentstandenen 
Gemeinden  spricht  die  Generalsynode  allen  Freunden 
und  Förderern  dieser  Bewegung  den  Dank  aus.  4.  Die 
Generalsynode  erwartet,  dass  die  Geistlichen  und 
Amtsträger  der  evangelichen  Kirche  ebenso   frei^von 


285 


agitatorischem  Auftreten,  wie  frei  von  Menschenfurcht 
in  patriotischer  und  dynastischer  Treue  ihre  Amts- 
pflichten zum  Heile  der  Kirche  und  des  Staates  auch 
fernerhin  erfüllen.  5.  Die  Generalsynode  beklagt  es 
aufs  tiefste,  dass  von  Seiten  der  Staatsbehörden,  zumal 
der  unteren  Instanzen,  gegenüber  der  Bewegung  ein 
Uebelwollen  platzgegriffen  hat,  das  bereits  durch  Straf- 
versetzungen wegen  Uebertrittes  zum  Ausdruck  ge- 
kommen ist.  6.  Die  Generalsynode  gibt  ihre  Entrüstung 
kund  über  die  gegen  Luther  und  die  Reformation 
sogar  von  der  Kanzel  herab  gerichteten  Verleum- 
dungen. 7.  Sie  legt  entschiedenste  Verwahrung  ein 
gegen  die  von  derselben  Seite  erhobenen  Verdächti- 
gungen des  Patriotismus  und  der  Treue  gegen  den 
Kaiser,  in  welchem  die  Evangelischen  den  Verleiher 
des  Protestantenpatentes  in  aufrichtiger  Dankbarkeit 
verehren." 

Bräunlich  beschwert  sich  über  die  Konfiskation 
protenstantischer  Schand-Flugblätter  und  tröstet  sich 
mit  folgenden  Worten  :  Uebrigens  gibt  es  für  jeden 
Hieb  eine  Parade.  So  schrieb  mir  zum  Beispiel  Eisen- 
kolb  (1901)  über  die  Konfiskation  von  evangelischen 
Flugschriften,  dass  er  nunmehr  die  Aufnahme  fast 
aller  unserer  Flugblätter  in  das  stenograpraphische 
Protokoll  des  Reichsraths  als  Interpellationen  er- 
zwungen habe,  so  dass  sie  nun  als  „Auszüge  aus 
dem  stenographischen  Protokoll  des  Reichsrathes" 
beliebig  öffentlich  verbreitet  werden  könnten.  Dann 
setzte  er  hinzu:  „Ferner  haben  unsere  Flugschriften 
auf  Kosten,  aber  zum  Segen  Oesterreichs  (durch  das 
stenographische  Protokoll)  in  allen  Kronländern  Ver- 
breitung gefunden  und  drangen  in  solche  Kreise,  in 
welche  wir  sonst  keinen  Zutritt  gehabt  hätten.  Alle 
425  Abgeordneten  und  überdies  die  Herrenhausmit- 
glieder bekommen  das  stenographische  Protokoll  un- 
entgeltlich; dazu  kommen  noch  die  Abonnenten." 
Wass  wollen  wir  eigentlich  mehr?  Fällt  einem  da 
nicht  unwillkürlich  das  Wort  ein:  „Die  Menschen 
gedachten  es  böse  zu  machen,  aber  Gott  machte  es 
gut?"  Und  ähnlich  ist's  schliesslich  mit  aller  Verfol- 
gung. Vor  1898  hatten  die  Protestanten  in  ganz 
Oesterreich  kein  einziges  Tagesblatt,    das  direkt  ihre 


286 


Interessen  verfocht,  heut5  ist  die  ganze,  überaus  zahl- 
reiche alldeutsche  Presse  stramm  protestantisch,  pro- 
testantischer als  die  protestantischeste  Zeitung  im 
protestantischen  deutschen  Reich.  Und  die  übrigen 
nichtultramontanen  Blätter  geben  ihr  zum  Theil  kaum 
etwas  nach,  oder  sind  uns  doch  in  ihren  Sympathien 
ein  gut  Stück  näher  gerückt.  Und  wie  sie  nur  die 
Volksstimmung  wiederspiegeln,  das  haben  die  Wahlen 
zum  Reichsrath  Neujahr  1900  bewiesen  mit  ihren 
Siegen  der  alldeutschen  Los  von  Rom-Partei,  die  von 
7  Abgeordneten  auf  21  heraufschnellte,  und  mit  der 
Wahl  von  Männern  anderer  Parteien,  die  theils  sich 
schon  von  Rom  los  gemacht  haben,  theils  recht  nahe 
daran  sind.  Im  Sommer  1901  aber  haben  die  böh- 
mischen Landtags  wählen  den  gleichen  Beweis  er- 
bracht, bei  welchen  der  eine  Abgeordnete  Wolf  allein 
mehr  Stimmen  in  seinem  Wahlkreis  erhielt,  als  alle 
klerikalen  Kandidaten  zusammengenommen,  wo  von 
den  beiden  bisherigen  christlich-socialen  (krypto- 
klerikalen)  Abgeordneten  der  Pater  Opitz  nicht  wieder 
gewählt  wurde,  die  Alldeutschen  aber  zu  den  bishe- 
rigen 10  noch  15  Mandate  mehr  hinzu  eroberten, 
während  sie  auch  dort,  wo  ihre  Kandidaten  nicht 
durchdrangen,  beträchtliche  Minderheiten  erzielten. 
Zum  Schlüsse  seiner  Flugschrift  sagt  Bräunlich  fol- 
gendes. Man  darf  als  Resultat  dieser  dreijährigen 
ausserordentlichen  Entwicklung  wohl  zusammenfassend 
erklären:  „Die  Befürchtungen,  welche  von  evangelisch- 
kirchlicher Seite  an  die  Los  von  Rom-Bewegung  an- 
fangs geknüpft  wurden,  sind  in  keiner  Weise  einge- 
troffen, vielmehr  gab  diese  Bewegung  für  die  evange- 
lische Kirche  Oesterreichs  das  Signal  zu  einem  glän- 
zenden Vormarsch  in  jeder  Beziehung."  Man  sieht 
aus  der  Resolution  der  Landessynode,  dass  ihre 
Thoilnehmer  getrieben  vom  schlechten  Gewissen  die 
Los  von  Rom-Agitation  als  eine  rein  religiöse,  den 
Bedürfnissen  der  evangelischen  Bekenner  entsprun- 
gene Bewegung  darzustellen  suchen.  Aber  Niemand 
wird  dieser  Proklamation  der  Synode  Glauben  schen- 
ken, wiederlegt  sie  doch  Pastor  Bräunlich  mit  seinen 
eigenen  Worten  später  selbst.  Wir  können  uns  hier 
unmöglich  mit  der  theologischen  Seite  des  Protestan- 


287 


tismus  befassen,  um  darzuthun,  dass  das  officielle 
preussische  Lutherthum  weder  früher  noch  heute 
noch  in  der  Zukunft  berechtigt  ist  die  katholischen 
Länder  Oesterreichs  zu  unterwühlen  mit  der  angeb- 
lichen Absicht  das  reine  Evangelium  zu  verbreiten. 
Ueber  das  Entstehen  und  das  Wesen  des  Protestan- 
tismus haben  wir  ja  eine  ungeheuere  Literatur.  Wer 
sich  nur  die  Mühe  nehmen  wollte  und  Janssen's  „Ge- 
schichte des  deutschen  Volkes  seit  Ausgang  des 
Mittelalters",  dann  das  grosse  Werk  Georg  Evers: 
„Martin  Luther",  der  wird  ein  derartig  massenhaftes 
wissenschaftlich  geschichtliches  und  theologisches 
Material  hier  vorfinden,  dass  er  zum  Schlüsse  dazu- 
kommen muss,  um  dem  Protestantismus  als  solchem 
jede  Berechtigung  abzusprechen  eine  Invasion  in 
katholische  Länder  zu  unternehmen,  es  sei  denn, 
dass  dieser  Einbruch  nicht  das  „Evangelium",  wohl 
aber  das  Schwert  des  Eroberers  im  Hintergrunde 
führt. 

Die  grösste  Zahl  der  Pastoren  beider  protestan- 
tischen Konfessionen  glaubt  heute  weder  an  Christus 
als  Sohn  Gottes  und  Welterlöser,  noch  an  die  Gött- 
lichkeit des  Evangeliums.  Im  Mai  1902  tagte  eine 
Synode  der  Pastoren  der  westlichen  Schweiz  in  Lau- 
sanne. Professor  Emery  aus  Bern  behauptete  im  länge- 
ren Vortrag,  dass  es  überhaupt  eine  göttliche  Offen- 
barung und  ein  göttliches  Erlösungswerk  nicht  gebe. 
Weder  Christus  noch  Paulus  haben  eine  göttliche 
Lehre  verkündigt.  Die  Mehrheit  der  anwesenden 
Pastoren  akceptirte  den  Inhalt  des  Emeryschen  Vor- 
trages. Es  gibt  massenhafte  Beweise,  dass  ein  grosser 
Percentsatz  der  Pastoren  beider  Konfessionen  über- 
haupt an  eine  göttliche  Sendung  der  christlichen 
Kirche  nicht  glauben. 

Im  Jahre  1890  schrieb  Paul  de  Lagarde,  eine 
protestantische  Autorität,  eine  Schrift  (neugedruckt 
Tübingen  1897)  mit  dem  Titel:  Ueber  einige  Berliner 
Theologen  und  was  von  ihnen  zu  lernen  ist.  In  die- 
ser Schrift  steht  folgendes  zu  lesen :  „Der  erste  Schritt 
zum  Besseren  muss  die  Einsicht  sein,  dass  es  mit 
dem  Protestantismus  vorbei  ist."  (S.  97.)  —  „Die 
Kirche    der   ^Reformation'    würde    die    sie  jetzt  Ver- 


288 


tretenden  ausstossen."  (S.  98.)  Dass  es  mit  dem 
Protestantismus  in  Deutschland  endgiltig  vorbei  ist, 
erhellt  aber  auch  noch  aus  viel  wichtigeren  anderen 
Thatsachen.  Das  Volk  ist  nicht  mehr  protestantisch, 
vorausgesetzt,  dass  man  den  Namen  Protestantismus 
in  seinem  ursprünglichen  Sinne  nimmt.  Die  Bibel 
wird  als  Ganzes  nicht  mehr  gelesen.  Die  Gemeinde 
begnügt  sich  mit  einzelnen,  oft  in  ungehörigster  und 
lächerlichster  Weise  aus  dem  Zusammenhang  gerisse- 
nen und  missverstandenen  Sprüchen.  Weil  sie  dies 
thut,  lehnt  sie  sich  nicht  gegen  Luther' s  ihr  als  Ganzes 
unbekannt  bleibende  Uebersetzung  auf,  welche  im 
19.  Jahrhundert  ein  Recht  geduldet  zu  werden  noch 
in  erheblich  geringerem  Masse  besitzt,  als  die  in  der 
Zeit  des  Humanismus  angefertigten  Uebersetzungen 
klassischer  Werke  der  lateinischen  Literatur.  Die 
Grundlehre  Luther's,  dass  der  Mensch  gerechtfertigt 
werde  ohne  Werke,  allein  durch  den  Glauben,  ist  so 
weit  vergessen,  dass  die  ernsthafteren  protestantischen 
Geistlichen  nur  durch  gute  Werke  sich  in  ihren  Ge- 
meinden Duldung  verschaffen.  Sie  nehmen  sich  der 
Armenpflege  an:  um  die  für  diese  nöthigen  Mittel 
zu  erwerben,  heissen  sie  Lampenteller  oder  Stroh- 
decken flechten,  sammeln  sie  Apfelkerne,  Postmarken, 
Gigarrenabschnitte,  verkaufen  sie  Arzeneien  gegen  die 
Fallsucht  und  Aehnliches.  Auch  die  Krankenpflege 
des  Katholicismus  hat  Aufnahme  gefunden.  Der 
»Glaube4  verbleibt  der  Predigt:  aus  dem  Leben  ist 
er  verschwunden.  Diejenigen  Geistlichen,  welche  nicht 
die  guten  Werke  für  sich  in  den  Kampf  führen,  helfen 
sich  mit  der  Pose  und  mit  der  Phrase  pflegen  aller- 
dings so  unverändert  dieselben  zu  bleiben,  wie  Kolle- 
gienhefte eines  pflichtvergessenen  Professors,  und 
helfen  darum  auf  die  Dauer  soviel,  wie  diese.  Sehr 
gering  ist  die  Zahl  der  Geistlichen,  welche  auf  pro- 
testantischen Kanzeln  wirksam  predigen:  aber  keiner 
von  ihnen  gedenkt  auch  nur  mit  einer  Silbe  des  Pro- 
testantismus und  der  Reformation:  die  Liebe  solcher 
Männer  gehört  Zeiten  und  Ideen,  welche  weit  vor 
der  „Reformation"  des  16.  Jahrhunderts  liegen.  Der 
Protestantismus  ist  im  Volke  eine  Macht  nur,  soferne 
er  die  dem  Volke    genehmen  Stichwörter  der  Politik 


289 


und  Gesellschaft  wiederholt,  also  nicht,  weil  er  über, 
sondern  weil  er  unter  dem  Volke  steht:  soferne  er 
sich  dazu  hergibt,  Anschauungen  und  Menschen  zu 
weihen,  welche  sich  mit  irgend  welcher  christlichen 
Frömmigkeit  nicht  vertragen  und  doch  geweiht  sein 
wollen.  Er  ist  eine  Macht  nicht  als  Leiter  des  Volkes, 
sondern  als  Mundstück  aller  hinter  den  Anforderun- 
gen des  Lebens  zurückgebliebenen,  werdefaulen  und 
bedenklichen  Reste  früherer  Tage.  Der  Kultus  des 
Heros  Luther  ist  die  Maske  für  diese  Bestrebungen. 
Der  Protestantismus  ist  dem  Volke  so  gleichgiltig, 
dass  es  die  gleich  zu  schildernde  Kirchenpolitik  der 
Regierungen  gar  nicht  als  Tyrannei  empfindet.  Die 
Regierungen  sehen  in  dem  Protestantismus  ein  Mate* 
rial,  das  hier  und  da  dienen  kann,  um  irgend  welche 
durch  Wildwasser  der  politischen  Entwickelung  ver- 
ursachte Deichbrüche  zu  stopfen.  Sie  haben  daher 
dem  Protestantismus  so  viele  Päpste  gesetzt,  als  es 
in  Deutschland  selbstständige  Kirchenverwaltungen 
gibt,  und  diese  Verwaltungen  sind  gewöhnt,  für 
Protestantismus  stets  das  auszugeben,  was  höheren 
Ortes  gerade  gewünscht  wird.  Die  Könige  Friedrich 
der  Zweite,  Friedrich  Wilhelm  der  Erste,  Zweite, 
Dritte,  Vierte  haben  sehr  von  einander  verschiedene 
Protestantismen  vertreten,  die  Minister  Wöllner,  Alten- 
stein, Eichhorn,  Ladenberg,  Raumer,  Bethmann-Holl- 
weg,  Mühler,  Falk  haben  dasselbe  gethan.  Jeder  dieser, 
die  anderen  ausschliessenden  Machthaber  findet  in 
dem  reichen  Vorrathe  Protestanten,  den  Deutschland 
beherbergt,  sofort  Personen,  die  zu  seiner  Hilfe  an- 
getanzt kommen,  wann  Hilfe  verlangt  wird.  Sowie  der 
Maschinenmeister  klingelt,  verschiebt  sich  die  Dekora- 
tion. Sydow  und  Websky  verschwinden  in  der  Ver- 
senkung, und  Stöcker  tritt  aus  den  Kulissen.  Oder 
aber  umgekehrt.  Einheit  des  Kostüms  der  Protestanten 
ist  höheren  Ortes  unerwünscht,  da  man  für  die  ver- 
schiedenen Scenen  auch  verschiedene  Staffage  braucht. 
Die  Leute  stehen  bereit  und  kommen  auf  das  Stich- 
wort. Ein  ,an  die  Wand  drücken',  wie  es  politischen 
Parteien  gegenüber  ab  und  zu  nöthig  wird,  ist  den 
kirchlichen  Parteien  gegenüber  nicht  erforderlich.  Der 
Protestantismus  frisst  aus  jeder  Hand.     Die  Wissen- 

19 


290 


schaft  ist  mit  dem  Protestantismus  fertig.  Die  Bibel 
ist  ihr  nicht  das  irrthumlose  Wort  Gottes.  Nur  doch 
die  „Missourier"  glauben  in  diesem  Artikel  dem 
lutherischen  Bekenntnisse  gemäss :  sogar  in  Mecklen- 
burg muss  der  rechtgläubige  Pfarrer  Brauer  das  Feld 
räumen.  Selbst  die  nur  wenig  heller  als  die  Missourier 
gefärbten  Theologen  Leipzigs  holen  als  Ausleger  des 
alten  Testaments  den  Dänen  Buhl,  da  Deutschland 
sogar  in  seinen  gläubigsten  Kindern  kritisch  «durch- 
seucht' ist . .  .  Die  Geschichte  ist  mit  dem  Protestan- 
tismus fertig.  Denn  wo  der  Protestantismus  in  Deutsch- 
land den  Fuss  hingesetzt  hat,  verarmten  die  Herzen  . . . 
Es  ist  durch  den  Protestantismus  alles  ordinär  ge- 
worden .  .  .  Weiter :  der  grosseste  politische  Fehler 
unseres  Jahrhunderts,  die  Gründung  Kleindeutschlands, 
ist  ein  Werk  protenstantischer  Furcht  vor  dem  katho- 
lischen Oesterreich.  Wenn  es  irgend  möglich  ist,  darf 
die  Kirchenpolitik  Deutschlands  den  Fehler  nicht 
wiederholen,  welchen  —  vom  eigentlich»  politischen 
schweige  ich  —  die  sogenannte  Reformation  began- 
gen hat.  Man  muss  die  alten  Formen  nicht  zerschlagen, 
sondern  mit  neuem  Inhalte  füllen  .  .  ,u 

Die  grösste  Revolution  im  protestantischen  Lager 
hat  wohl  der  berliner  Theologieprofessor  Harnack 
hervorgerufen  durch  seine  Vorlesungen  „über  das 
Wesen  des  Christentums"  im  Wintersemester  1899- 
1900  an  der  Universität  in  Berlin.  In  kurzer  Zeit 
wurden  150.000  Exemplare  dieser  in  Druck  erschiene- 
nen Vorträge  verbreitet.  Sämmtliche  jüngere  Genera- 
tion der  Pastoren  schwört  auf  Harnack.  Harnack  sagt 
folgendes:  Wunder  sind  nicht  möglich.  Wir  wissen 
von  Jesu,  dem  Stifter  der  Kirche,  bis  zu  seinem  30 
Jahre  nichts  und  wissen  von  ihm  nach  seinem  Tode 
und  seinem  leergefundenen  Grabe  auch  nichts.  Jesus 
gehöre  selbst  nicht  in's  Evangelium,  das  nichts  an- 
deres als  Gott  und  die  Seele  allein  zum  Inhalt  habe ; 
Jesus  sei  aber  irgendwie,  was  eben  sein  Geheimniss 
bleiben  müsse,  zu  dem  Gedanken  gekommen,  Gottes 
Sohn  zu  sein,  in  doch  anderem  Sinn,  wie  wir  Gottes 
Kinder  sind;  dieser  Sinn  erschöpfe  sich  jedoch  in  der 
tieferen  Gotteserkenntniss ;  wir  dürfen  aus  dem  Chri- 
stenthum  ja  keine  Lehre  machen;    das  Ghristenthum 


291 


sei  eben  nichts  anderes  als  das  Erlebniss,  dass  Gott 
unser  Vater  sei;  wir  mögen  allenfalls  das  von  Jesus 
gestiftete  Abendmahl  als  Gemeinsamkeitszeichen  bei- 
behalten, und  ebenso  die  Taufe  als  Gemeindesitte  un- 
bekannten Ursprungs  (Taufe  noch  immer  auf  den  drei- 
einigen Gott?  oder  auf  wen?!?);  nur  als  Sacramente 
oder  Gnadenmittel  soll  man  sie  nicht  ansehen;  in's 
Evangelium  gehöre  nur  dreierlei,  nämlich:  a)  die 
Erkenntniss  vom  innerlichen  Kommen  des  Reiches 
Gottes,  b)  dieses  sei  identisch  mit  dem  Erleben  und 
der  Erkenntniss  Gottes,  als  unseres  Vaters,  wodurch 
uns  denn  auch  der  unendliche  Werth  der  Menschen- 
seele aufgehe,  c)  diese  Erkenntniss  treibe  uns,  ein- 
ander lieb  zu  haben,  und  diese  Menschenliebe,  mit 
der  Demuth  geeint,  sei  der  einzige  denkbare  Gottes- 
dienst. Ausser  diesen  einfachen  Erkenntnissen  gehört 
nichts,  gar  nichts  in's  Evangelium,  namentlich  keine 
Gnadenmittel  und  Sacramente,  keine  Riten,  Lehren 
und  Bekenntnisse  (cf.  5).  Der  katholische  Professor 
Reinhold  in  Wien  sagt  in  seiner  Gegenschrift,  pag.  92 : 
Das  Gesammt-Resultat  der  Darlegungen  Harnack's 
über  das  Wesen  des  Christenthums  ist  jedenfalls  ein 
verblüffendes.  Dieses  Ghristenthum  ist  mosaikmässig 
zusammengesetzt  aus  Naturalismus,  Humanitäts-Moral 
und  Pietismus,  die  durch  eigens  dazu  ausgewählte 
evangelische  Texte  eine  christliche  Färbung  erhalten. 
In  diesem  Ghristenthum  gibt  es  nichts  Uebernatür- 
liches.  Jesus  war  ein  Mensch,  wie  alle  Andern,  pre- 
digte eine  edle  Sittenlehre,  aufgebaut  auf  das  Gebot 
der  allgemeinen  Menschenliebe.  Nur  Bornirtheit  der 
Zeitgenossen  dichtete  ihm  Wunder  an.  —  Dieses 
Wesen  des  Christenthums  ist  ein  sehr  einfaches  und 
bequemes,  es  hat  nur  einen  Fehler,  —  es  ist  nicht 
das  Christenthum  der  Evangelien.  Harnack  sagt  von 
der  katholischen  Kirche,  „dass  es  das  gewaltigste  Ge- 
bilde sei,  welches  die  Geschichte  kennt,  dass  sie  die 
romanisch-germanischen  Völker  zur  Kultur  erzogen, 
ihnen  bis  zum  14.  Jahrhundert  Führerin  und  Mutter 
gewesen,  und  noch  jetzt  sich  der  politischen  Bewe- 
gung gewachsen  gezeigt,  die  Selbständigkeit  der  Re- 
ligion und  Kirche  aufrecht  erhalten,  zu  allen  Zeiten 
und  noch  jetzt  Heilige   erzeugt  habe,   während   dem 

19* 


292 


gegenüber  nach  Harnack's  Zeugniss  die  evangelische 
Kirche  in  Staatskirchen  getheilt,  innerlich  zerspalten, 
nach  noch  mehr  Freiheit  und  Individualität  verlange, 
von  Anfang  an  sittlich  lax  gewesen,  nur  ein  Zerrbild 
der  in  den  Evangelien  gezeichneten  Kirche  Christi 
darstelle. 

Man  kann  sich  nun  vorstellen,  dass  ältere  PastorenT 
die  sich  noch  zur  alten  lutherischen  Ueberlieferung 
bekennen,  gegen  Harnack  sich  wehrten,  und  Gegen* 
Schriften  herausgaben,  aber  sie  fanden  nur  bei  den  älte- 
ren Lutheranern  Anklang,  Die  Masse  der  jüngeren  prote- 
stantischen Generation  denkt  nach  Harnacks  Recept 
Was  der  Protestantismus  auf  dem  religiösen  Gebiete 
leistet,  davon  gibt  einen  Beweis  Max  Bewers  Buch 
„Gedanken".  Im  Kapitel  „Christus"  steht  folgendes 
zu  lesen:  Es  ist  durch  Forschung  festgestellt,  dass 
ungefähr  1Ö00  Jahre  vor  Christus,  aber  vielleicht  auch 
sehr  viel  früher  schon,  eine  deutsche  Einwanderung- 
in  Galiläa  stattgefunden  hat.  Eine  blonde,  blauäugige 
Rasse  mischte  sich  mit  dem  schwarzen  Typus  des 
Orients.  Abel  und  Kain  sind  so  verschieden  wie  Esau 
und  Jakob;  aus  dem  Wohllaut  der  Psalmisten,  aus 
dem  Muth  der  Makkabäer,  aus  der  geistigen  Energie 
der  Propheten,  aus  dem  seelischen  Ernst  des  Täufers 
Johannes,  aus  den  ehrlichen  Aposteln  spricht  deutsches 
Blut.  Von  Christus  selbst  sagt  bekanntlich  eine  jüdische 
Sage,  dass  Esaus  Geist  in  ihn  gefahren.  Von  seinen 
leiblichen  Brüdern  ist  er  nach  seinen  eigenen  Worten 
jedenfalls  nicht  weniger  verschieden,  wie  Esau  von 
Jakob«  Markus  erzählt:  „Und  es  kam  seine  Mutter 
und  seine  Brüder  und  standen  draussen,  schickten 
zu  ihm  und  Hessen  ihn  rufen.  Und  sie  sprachen  zu 
ihm :  Siehe,  Deine  Mutter  und  Deine  Brüder  draussen 
fragen  nach  Dir.  Und  er  antwortete  ihnen  und  sprach : 
Wer  ist  meine  Mutter  und  meine  Brüder?  Und  er 
sah  ringsum  auf  die  Jünger,  die  um  ihn  im  Kreise 
sassen  und  sprach:  Siehe,  das  ist  meine  Mutter  und 
meine  Brüder.  Denn  wer  Gottes  Willen  thut,  der  ist 
mein  Bruder  und  meine  Schwester  und  meine  Mutter"- 
Weiter  berichtet  Markus :  „Und  er  ging  aus  von  dannen 
und  kam  in  sein  Vaterland.  Und  da  der  Sabbath  kam. 
hob  er  an  zu  lehren.    Und  Viele  verwunderten   sich. 


293 


und  sprachen:  Woher  kommt  denn  solches?  Ist  er 
nicht  der  Maria  Sohn  und  der  Bruder  Jakobi  und 
Josas  und  Judä  und  Simonis?  Sind  nicht  auch  seine 
Schwestern  bei  uns?    Und  sie  ärgerten  sich  an  ihm. 

Es  ist  bekannt,  dass  gerade  um  die  Zeit  vor 
Christi  Geburt  sehr  viele  Deutsche  unter  den  Römern 
Kriegsdienste  thaten.  Hundert  Jahre  vor  Christus 
waren  ungezählte  Heereszüge  von  Schleswig-Holstein 
in  Oberitalien  erschienen,  deren  Blut  trotz,  ihrer 
Niederlage  nicht  ganz  im  römischen  umgekommen 
sein  wird.  Seit  Caesars  Zeiten  war  der  Blutverkehr 
zwischen  Rom  und  dem  Niederrhein  ein  äusserst  leb- 
hafter geworden.  Kurz  vor  der  Zeit  vor  Christi  Geburt, 
liat  in  Galiläa  deutsches  Blut  gewirkt.  Dem  Gott,  der 
zart  in  ihm  Christ  erwachte,  trat  der  Teufel  in  voll- 
gerüsteter Person  entgegen.  Nach  dem  höchsten 
jüdischen  Glückbegriff  will  er  ihm  Macht  geben,  so 
weit  sein  Auge  reicht.  Alle  Völker  der  Erde  fressen, 
das  ist  ja  eines  Juden  Gottessegen.  Es  ist  das  gesammte 
jüdische  Gesetz,  das  ihm  im  Tempel  mit  geistvol- 
lem Rabbinerwitz  beigebracht  wurde,  das  er,  hier 
mit  einem  Schlag  und  einem  Wort  überwindet. 
Apage!  Gott  hat  in  ihm  gesiegt;  deutsches  über  jüdi- 
sches Blut.  Vater  und  Sohn  sind  ihm  vereinigt,  und 
es  beginnt  der  göttliche  Enthusiasmus  seiner  heim- 
gekehrten Seele.  Wenn  Christus  sagt,  das  Heil  kommt 
von  den  Juden,  so  sagt  und  denkt  er  nichts  andres, 
als  der  Tag  kommt  aus  der  Nacht.  Er  meint  hier 
das  Gleiche,  was  Goethe  von  den  Farben  sagt,  dass 
sie  durch  eine  Trübung  gegangenes  Licht  sind.  Alle 
Schöpfung  beruht  auf  einer  Mischung  und  einer  Aus- 
einandersetzung. Vater  und  Mutter  mischen  sich  in 
einer  wonnigen,  Kind  und  Mutter  scheiden  sich  in 
einer  bitteren  Stunde.  .  .  .  „Weib,  was  habe  ich  mit 
Dir  zu  schaffen?"  .  .  .  Die  Welt  ist  ein  ewiger  Tod, 
der  stets  mit  einer  Geburt  endigt.  Die  Wiedergeburt 
Christi  ist  der  Tod  der  Juden,  so  zäh  ihr  Leben  ist. 
Dehn  Christus  bedeutet  die  fortgesetze  Auseinander- 
setzung des  Guten  mit  dem  Bösen. 

Ein  Jenseits  von  Gut  und  Böse  gibt  es  nicht. 
Gut  und  Böse  erfüllen  die  Welt  bis  auf  den  letzten 
Winkel,  bis  in  das  letzte  Geschöpf.    Gott  und  Teufel 


294 

horrent  Tacuum  ;  wo  der  Eine  nicht  ist,  ist  der  Andere. 
Also  muss  der  eine  dem  andern  bis  in  den  letzten 
Winkel  der  Welt  Platz  machen  oder  Platz  streitig 
machen.  „Wer  nicht  mit  mir  ist,  der  ist  wider  mich1/ 

So  spricht  nur  ein  Blut,  das  auf  Tod  und  Leben 
vom  Kampf  wieder   das  Böse  erfüllt  ist.     Und  Gott 
und  Teufel  können  zur  einer  entscheidenden  Schlacht 
nicht  anders  zusammengeraten,  als  in  Blut  In  Christus 
gerieten  sie  aneinander;  der  Kampf  der  ganzen  Schöp- 
fung tobte  in  dieser  einen  Brust;  aber  noch  am  Kreuz: 
bekannte  er  ungebeugt   die   Farbe   Gottes    und    des 
Guten.  Die  Farbe,  die  am  kräftigsten  aus  dem  Prisma 
hervorbricht,  ist  Roth;  die  am  längsten  an  ihm  haften 
bleibt,  ist  Blau.  Rothes  und  blaues  Blut.   Das  eine  ist 
die  Farbe   reiner   Geschlechter,  die   in   der    Heimat 
edle,    ritterliche   Gesinnung  pflanzen.  Das  andere  ist 
die  Farbe  kämpfender  Helden,   die  auf  fremder  Erde 
die  Gesinnung  der  Väler   mit  ihrem   Blut  bezeugen. 
Christus  gehört  zu  diesen.    In  der  Fremde  bezwingt 
er  das   schwarzseelige    Judenthum  mit   seinem    Blut. 
Und  indem  er  im  Gold  der  Zukunft  als  Richter  und 
Sieger  leuchtet,   kündet   er   prophetisch   die  Farben 
seiner  wahren  Heimat  an:  Schwarzrothgold. 

Er  selbst  sagt,  dass  er  sich  mit  seinem  Gottesthum 
von  den  Juden  und  zu  den  Deutschen  wenden  werde. 
„Ich    sage    euch:    das   Reich   Gottes   wird  von  euch 
genommen   und   einem    Volke  gegeben  werden,  dass 
die  Früchte   desselben   hervorbringt."     „Es  wird  den 
Heiden  gegeben  werden,"    übersetzt  Luther  ungenau. 
Im  Gegensatz   zu   dem  auserwählten  jüdischen    Volk 
kann  nur  dasjenige  Volk   unter  den  Heiden  gemeint 
und  auserwählt  sein,  welches  die  göttlichsten  Früchte 
hervorbringt.    Denn  Christus    richtet  nach  der  Güte. 
Die  Letzten  macht   er  zu  den  Ersten.    Die  Ersten   zu 
den  Letzten.    Er  ist  Aristokrat.    Und  die  Besten   und 
Ersten    unter   den  Heiden   sind  die  Deutschen.      Das 
deutsche  Gemüth   ist  der  Boden,    der   tausendfältige 
Frucht   getragen    hat;    das   jüdische    Herz    war     der 
steinige  Grund,  auf  der  Christi  Milde  unter  die  Dornen 
des  Spottes  und  der  Leiden  fiel.  Wie  man  den  Baum 
an  seinen  Fruchten  erkennt,  so  erkennt  man  Christus 
an  den  Deutschen.  An  den  Früchten,  die  der  Christ- 


295 


liehe  Geist  unter  den  Deutschen  getragen,  erkennt 
man,  dass  Christus  deutsch  ist;  Saft  von  ihrem  Saft; 
Blut  von  ihrem  Blut. 

Die  rührende  Häuslichkeit  seines  Geistes,  die 
ihn  wie  ein  Kind  mit  den  Dingen  der  Natur  spielen 
lässt  mit  den  Lilien  auf  dem  Felde,  den  Trauben 
am  Weinstock,  den  Vögeln  in  der  Luft,  mit  Sonne, 
Mond  und  Sternen,  ist  von  deutscher  Tiefe  und  Ein- 
falt. Er  geht  so  zart,  so  sinnig  und  feinfühlend  mit 
ihnen  um,  wie  ein  Kind,  das  krank  war  und  dem 
zu  Wiedergenesung  der  Vater  die  schönsten  Dinge 
des  Himmels  und  der  Erde  als  Spielzeug  für  die 
verfeinerten  Hände  und  Sinne  gab.  Wie  nach  einem 
schwerem  Gewitter  scheinen  sich  die  Lilien  auf  dem 
Felde  vor  seinen  Augen  rein,  frisch,  doppelt  klar  und 
hell  zu  wiegen.  Die  kranke  Schwüle  des  Orients  ist 
von  ihm  geweht.  Das  deutsche  Rembrandtbuch  spricht 
von  Christi  trüber  Freundlichkeit;  aber  diese  Trübe 
ward  brunnenklar  im  Todesernst  aus  Menschenliebe. 
Klar  und  hart  wie  ein  Stahlbrunnen,  der  für  den 
Sanftmütigen  und  Bescheidenen  Kühlung,  für  schamlos 
und  sündig  erhitzte  Geister  den  Tod  in  sich  trägt. 
Die  Zunge,  die  ihm  nach  rnessianischer  Weissagung 
stockend  am  Gaumen  klebte,  löste  sich  gleich  der 
seelischen  Trübung  und  „seine  Rede  ward  gewaltig." 
Ueber  seine  Gestalt  schüttelten  die  Leute  den  Kopf; 
alle  die  ihn  sahen,  spotteten  seiner  und  hielten  ihn 
für  einen  Aussätzigen;  „Gestalt  und  Schöne  hatte  er 
nicht."  Und  tief  bescheiden,  wie  sein  Aussehen  war, 
fragte  er  den  Petrus  mit  kindlicher  Zartheit:  „Hast 
du  mich  lieb,  Petrus  ?"  Und  alle,  die  ihn  kannten 
und  früher  vielleicht  über  ihn  gespottet,  liebten  ihn 
nun.  Denn  von  seiner  Seele  kann  man  schreiben,  wie 
von  seinen  Kleidern  geschrieben  ist,  „sie  wurde 
glänzend  und  überaus  weiss  wie  der  Schnee."  Aus 
dem,  was  hier  Max  Bewer  geschrieben  hat,  sieht 
man,  dass  der  deutschnationale  Wahn  nicht  ein- 
mal die  Person  Christi  verschont.  Das  sind  aber  die 
Früchte  der  freien  protestantischen  Bibelforschung. 
Dass  die  Invasion  der  protestantischen  Pastoren  nach 
Oesterreich  mit  der  Religion  nichts  zu  thun  hat, 
erhellt  auch  daraus,    dass  die  protestantischen  Seel- 


296 


sorger,  wenn  es  ihnen  wirklich  nur  um  das  „Evan- 
gelium" ginge,  zu  Hause  in  Preussen-Deutschland 
mehr  als  genug  zu  thun  hätten,  um  die  eigenen 
Glaubensgenossen  zu  ihren  religiösen  Pflichten  an- 
zuhalten. Sind  doch  allgemein  bekannt  die  Klagen, 
dass  protestantische  Kirchen  Sonntags  sehr  öde  aus- 
sehen, die  Zahl  der  Kirchenbesucher  protestantischer 
Konfessionen  ist  eine  sehr  geringe,  besonders  in  den 
grösseren  Städten.  Die  Unfruchtbarkeit  des  Protestan- 
tismus auf  dem  moralischen  Gebiete  ist  beson- 
ders erwiesen  durch  die  stetig  wachsende  Kriminalität 
im  heutigen  Preussen-Deutschland.  Machen  wir  nun 
einige  Einblicke  in  die  Kriminal  Statistik  Deutschlands 


Jahr 


Zahl 

der  verurtheilten  Per- 

Von  den  Verurtheilten 

sonen 

in  Deutschland  we- 

waren   noch    nicht  18 

gen  Verbrechen  and  Vergehen 

Jahre  alt 

gegen  die  ßeichsgesetze 

1891 

391664 

42312 

1892 

422327 

46496 

1993 

430403 

43746 

1894 

446110 

45554 

1895 

454211 

44384 

1896 

456999 

44275 

1897 

463385 

45329 

1898 

477807 

47986 

1899 

478139 

47512 

1900 

469819 

48657 

Wir  haben  hier  nur  eine  Generalübersicht  der 
Kriminalstatistik  gegeben,  um  nur  darauf  hinzuweisen, 
dass  die  Zahl  der  justificirten  Personen  in  Deutschem 
Reiche  stetig  zunimmt,  besonders  ist  die  Zunahme 
der  jugendlichen  verurtheilten  Personen  im  stetigen 
Steigen  begriffen.  Nach  der  Volkszählung  vom  J.  1890 
hatte  Deutschland  31,026.810  Protestanten  und 
17,674.921  Katholiken.  Demnach  können  mir  mit  Fug 
und  Recht  behaupten,  dass  die  protestantischen  Pa- 
storen, falls  es  ihnen  um  das  Evangelium  zu  thun 
wäre,  zu  Hause  mehr  als  genug  zu  thun  hätten. 

Sehr  interessant  ist  die  Rubrik  der  Verurtheilten 
Personen  wegen  Unzucht  und  Nothzucht.  Demnach 
war  die  Zahl  der  Verurtheilten  in  Deutschland  folgende : 


297 


Zahl  der  Verartheüten'      davon  noch  nicht  18  Jahre  alt 

im  J.  1891  3332  807 

1892  3440  870 

1893  •  3859  914 

1894  4144  1017 

1895  4221  948 

1896  4539  976 

1897  4222  826 

1898  4560  921 

1899  4650  907 

1900  4812  935 


Wir  haben  diese  Rubrik  abgesondert  angeführt, 
weil  gerade  die  Unzucht-Kriminalstatistik  ein  Spiegel- 
bild der  Moralität  der  Bevölkerung  in  besonders 
qualificirter  Bedeutung  ist  Und  auch  in  dieser  Ru- 
brik ist  ein  stetiges  Steigen  zu  verzeichnen;  also, 
meine  Herren  Pastoren,  an  Arbeit  zu  Hause  fehlt  es 
wahrlich  nicht,  bleibt  also  daheim  und  verkündigt 
die  Lehren  des  Evangelium  zu  Hause,  wo  euch  unter 
der  Hand  die  Zahl  der  Justificirten  stetig  wächst, 
also  die  Zahl  derjenigen,  die  vom  Evangelium  nichts 
wissen  und  nichts  hören  wollen. 

Dass  protestantische  Pastoren  genug  zu  Hause 
zu  thun  hätten,  glauben  wir  durch  einen  anderen 
Hinweis  auf  pathologische  Zustände  im  heutigen 
Preussen-Deutschland  beweisen  zu  können,  wir  meinen 
die  Selbstmorde.  Die  Zahl  der  Selbstmorde  im  Deut- 
schen Reiche  ist  folgende: 


Zahl  der  Selbstmorde. 

Jahr  1895 

10510 

„  1896 

10888 

,  1897 

11013 

„  1898 

10835 

„  .  1899 

10761 

„  1900 

11393 

Schon  diese  kurze  Reihe  von  Jahren  gibt  einen 
sehr  traurigen  Beweis,  dass  die  pathologischen  gesell- 
schaftlichen Verhältnisse  in  Preussen-Deutschland 
durchaus  nicht  rosig  sind,  die  Zahl  der  Selbstmorde 
im  Deutschen  Reiche  ist  im  stetigen  Steigen  begriffen. 
Auf  diesem  Gebiete  dürfte  wohl  Deutschland  an  erster 


298 


Stelle  unter  den  sogenannten  Kulturstaaten  Europas 
stehen,  was  doch  nicht  für  den  Protestantismus  sehr 
empfehlend  wäre. 

Die  Selbstmorde  in  Deutschland  rekrutiren  sich 
vornehmlich  aus  protestantischen  Provinzen.  Hier 
sind  die  ziffernmässigen  Belege  dazu. 

Absolute  Zahl  der  Selbst-    Auf  100.000  Einwohner 
morde.  entfallen  Selbstmorde. 

Jahr  1895  1896  1897     1895  1896  1897 


Ostpreussen         „ 

291     290    301 

15 

14 

15 

Westpreussen      „ 

195    208     189 

13 

14 

12 

Berlin                   „ 

480    531    520 

29 

31 

30 

Brandenburg       „ 

791     873    853 

28 

31 

29 

Pommern 

271     275    804 

17 

17 

19 

Schlesien             „ 

1067  1132  1078 

24 

25 

24 

Sachsen                „ 

806    861     881 

32 

32 

31 

Schlesswig-H.      „ 

396    378    431 

31 

29 

33 

Hannover             „ 

541     492    505 

22 

20 

20 

Hessen-Nassau    „ 

363    392    381 

21 

22 

21 

Königr.  Sachsen  „ 

1036  1182  1213 

38 

31 

31 

Braunschweig      „ 

151     153     122 

35 

35 

27 

Sachsen-Koburg  „ 

107       87      98 

50 

40 

44 

Katholische   Provinzen    und  Xänder  mit   starker 

katholischer  Bevölkerung. 

Absolute  Zahl  der  Selbst- 

Auf 100.000  Einwohner 

morde. 

kommen 

Selbstmorde. 

Jahre  1895  1896  1897 

1895  1896 

1897 

Posen                   n 

171     173     141 

9 

9 

8 

Westphalen         „ 

287     325     298 

11 

12 

11 

Rheinland            „ 

506     557     600 

10 

11 

11 

Bayern 

rechts  d.  R.         „ 

619     667     694 

12 

13 

ia 

links  d.  R.           „ 

129     130     125 

17 

17 

16 

Elsass 

208     243     257 

13 

15 

15 

An  diesen  Zahlen  sieht  man,  dass  die  Zahl  der 
Selbstmorde  relativ  zu  der  Bevölkerung  in  katholi- 
schen Landestheilen  in  Deutschland  um  das  Doppelte» 
ja  Dreifache  geringer  ist  als  in  den  protestantischen 
Landestheilen.  Nehmen  wir  noch  die  Statistik  der 
Selbstmorde  in  den  darauf  folgenden  Jahren  zum  Belege. 


299 


% 

ir.t'; 


Absolute  Zahl  der  Selbst- 
morde. 

Auf  100.000  Einwohner 
kommen  Selbstmorde. 

Jahre  1898 

1899  1900 

1898 

1899 

1900 

Ostpreussen  .   .  „ 

274 

275     286 

13 

13 

14 

Westpreussen    .  „ 

219 

217     193 

14 

14 

12 

Berlin     .    .    .    .  „ 

491 

478    484 

28 

26 

26 

Brandenburg     .  „ 

894 

901     948 

30 

30 

31 

Pommern   .    .    .  „ 

206 

260    260 

18 

16 

16 

Schlesien       .   .  „ 

1070  1115  1111 

24 

24 

24 

Sachsen      ...» 

795 

807    859 

29 

29 

30 

Schleswig-H.     .  „ 

407 

412    440 

30 

30. 

32 

Hannover  .   .   .  „ 

540 

505    551 

21 

20 

21 

Hessen-Nassau    „ 

338 

330    357 

19 

18 

19 

Königr.  Sachsen  „ 

1025 

1221  1282 

30 

30 

31 

Sachsen-Weimar  „ 

97 

103     107 

28 

29 

30 

Sachsen-Coburg-G. 

98 

84    102 

44 

37 

45 

Reuss  jung.  .    .  „ 

44 

49      44 

32 

35 

32 

Lübeck   .    .   .    .  „ 

18 

27       25 

20 

30 

26 

Bremen  ...    .  „ 

77 

60      79 

37 

28 

36 

Hamburg   .    .   .  „ 

241 

225     207 

33 

30 

27 

Katholische  Landestheile  und  Länder  mit  starker 
katholischer  Minorität, 

Absolute  Zahl  der  Selbst-    Auf  100.000  Einwohner 
morde.  kommen  Selbstmorde. 

Jahre  1898  1899  1900    1898  1899  1900 

Posen „      175    151     172  9        8        9 

Westphalen   .    .  „       294    286    355        10       10       10 

Rheinland  ...»      564    600    637         11       11       11 

Bayern 

rechts  d.  R.  .    .  r 

links  d.  R.    .    .  Ti 

Baden     .    .   .   .  r 

Hessen   ....,, 

Elsass-Loth.  .    .  „ 

Kommentare  zu  diesen  Zahlen  sind  überflüssig. 
Wir  möchten  die  Herren  protestantischen  Prediger 
damit  auffordern,  sie  möchten  fleissig  die  Ergebnisse 
der  Statistik  des  Deutschen  Reiches  studiren,  vielleicht 
werden  sie  dadurch  zum  Nachdenken  über  die  mora- 
lischen Früchte  des  Protestantismus  ein  wenig  mehr 
angeeifert.     Dasselbe  ist  es  mit  den  unehelichen  Ge- 


619 

660 

732 

12 

13 

14 

125 

126 

153 

16 

15 

19 

359 

351 

370 

20 

19 

20 

222 

258 

277 

20 

24 

25 

242 

222 

232 

14 

13 

14 

300 


burten;  auch  diese  sind  in  protestantischen  Landes- 
theilen  in  Deutschland  2-  bis  3fach  zahlreicher  als  in 
katholischen.  Dass  die  Herren  protestantischen  Pastoren 
ihren  Gottesacker  in  Preussen-Deutschland  brach 
liegen  lassen  und  in  fremde  Gebiete  einbrechen, 
um  da  eine  fragliche  Ernte  zu  halten,  davon  geben 
deutlichen  Beweis  die  moralischen  Zustände  in 
Preussen-DeutschJand.  Im  Jahre  1900  wurden  in 
Berlin  18  uneheliche  Kinder  geboren,  deren  Mütter 
erst  15  Jahre  alt  waren,  daneben  gab  es  noch  4  un- 
eheliche Kinder,  deren  Mütter  noch  nicht  15  Jahre 
alt  waren.  Die  Zahl  der  unehelichen  Kinder  im  Deut- 
schen Reiche  war  folgende: 

Jahr  1894  :  178298  Jahr  1898  :  185220 

„     1895  :  176271  „     1899  :  183504 

„     1896  :  185359  „     1900  :  179644 
„     1897  :  184034 

Die  Zahl  der  unehelichen  Kinder  wächst  stetig. 
So  war  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  in  Deutsch- 
land im  Jahre  1871:  144.394,  im  Jahre  1881:  158.454, 
im  Jahre  1891:  172.456.  In  Berlin  allein  wurden  im 
Jahre  1900  uneheliche  Kinder  geboren  in  der  Zahl 
von  7722.  „Deutsche  Tageszeitung"  klagte  in  einem 
Aufsatze  über  moralische  Volksvergiftung  im  Deutschen 
Reiche.  Sie  schrieb :  „Welche  sittlichen  Verwüstungen 
durch  schlechte,  schlüpfrige  Unterhaltungsliteratur 
unter  der  heranwachsenden  Jugend  insbesondere  an- 
gerichtet werden,  ist  zu  bekannt,  als  dass  es  noth- 
wendig  wäre,  darüber  sich  eingehend  zu  verbreiten. 
Wohl  aber  erscheint  es  angezeigt,  auf  die  äusseren 
Aenderungen  und  Wandlungen  aufmerksam  zu  machen, 
denen  diese  Art  Literatur  von  Zeit  zu  Zeit  unterliegt, 
und  die  vorgenommen  werden,  um  das  Interesse  der- 
jenigen Kreise,  auf  welche  dieser  Schund  berechnet 
ist,  an  demselben  rege  zu  erhalten.  In  unserer  rasch- 
lebigen Zeit  nun  nämlich,  die  möglichst  viel  Abwechs- 
lung verlangt,  werden  auch  die  Gourmands,  die  lite- 
rarischen und  die  kulinarischen,  ihrer  Lieblingsge- 
richte doch  nach  und  nach  überdrüssig,  wenn  sie 
ihnen  nicht  ab  und  zu  unter  anderen  Namen  oder  in 
wechselnder  Garnitur  und  Ausstattung  geboten  werden. 


301 


Ein  Berliner  Blatt  nun,  das  Organ  des  Bundes  der 
Landwirthe,  die  „Deutsche  Tageszeitung"  (Nr.  387)  weist 
darauf  hin,  dass  seit  einiger  Zeit  eine  neue  Art  Lite- 
ratur entstanden  ist,  die  in  10  Pf.-Heftchen  verbreitet 
wird,  und  nach  der  Fülle,  in  der  sie  'ausgeboten  wird, 
zu  urtheilen,  nur  zu  gut  zu  prosperiren  scheine.  Bis- 
her  waren  es  billige  Witzblätter,  die  für  einige  Pfen- 
nige ausgeboten  wurden  und  ihre  Käufer  durch  illu- 
strirte  Schnurren  nach  dem  Recept:  „Du  sollst  und 
muss  lachen"  zu  unterhalten  suchten.  Die  Zeit  dieser 
Witzblätter  scheint  vorüber  zu  sein,  denn  nur  wenig 
mehr  werden  sie  auf  den  Strassen  ausgerufen.  Dem 
durch  diese  Lücke  entstandenen  „Bedürfniss"  sucht 
nun  die  neue  Spezies  Literatur  abzuhelfen,  die  na- 
türlich auch  zugkräftiger  sein  muss,  als  ihre  Vorgän- 
gerin. Während  letztere  sich  mit  wenn  auch  oft  recht 
derben,  so  doch  verhältnissmäsig  noch  harmlosen 
Kalauern  begnügte,  ist  die  neue  „Volks "-Literatur 
weit  kräftiger  gepfeffert:  durch  Schilderungen  und 
Anspielungen,  die  man  schon  mehr  als  ein  zweideu- 
tiges bezeichnen  muss,  spekulirt  sie  auf  die  Lüstern- 
heit des  derartige  Lektüre  bevorzugenden  Publikums» 
Und  wo  etwa  der  Text  über  den  wahren  Charakter 
des  Gebotenen  noch  etwa  in  Zweifel  lassen  könnte, 
da  klären  entsprechende  Illustrationen  auf.  Treffend 
kennzeichnet  das  genannte  Blatt  diese  neuen  Sumpf- 
pflanzen. „Man  hütet  sich  wohl,  die  Grenze  zu  er- 
reichen, jenseits  deren  der  Staatsanwalt  eingreifen 
müsste,  aber  man  streift  hart  an  sie  heran.  Man  ver- 
zichtet auf  die  Darstellung  der  Nacktheit,  weckt  aber 
die  Lüsternheit  durch  die  mangelhafte  oder  berech- 
nete Gewandung.  Der  Ekel  vor  derartigen  Darbietungen 
ist  bei  normalen  Menschen  so  gross,  dass  er  alle  an- 
deren Empfindungen  überwuchert."  Wenn  dann  das 
Blatt  weiter  bemerkt:  „Gerade  das  ist  das  Bedauer- 
liche, dass  dieser  Schund  von  Backfischen  und  halb- 
wüchsigen Jungen  in  der  Hauptsache  gekauft  wird. 
In  der  Stadtbahn,  in  den  Vorortbahnzügen  kann  man 
dann  beobachten,  wie  die  Jugend  sich  an  dieser  ekel- 
haften Kost  den  Magen  verdirbt"  —  so  ist  das  leider 
nur  zu  richtig.  Hauptsächlich  auch  der  Jugend  preisen 
die   Strassenkolporteure    diesen   Schund   an,    dessen 


302 


Titel  gewöhnlich  schon  auf  die  Reizung  der  Sinnlich- 
keit berechnet  sind.  Es  steht  fest,  dass  diese  Sorte 
Lektüre  seit  dem  bedauerlichen  Ausgang  der  Be- 
ratungen der  lex  Heinze  ganz  besonders  üppig  ins 
Kraut  geschossen  und  durch  freisprechende  Urtheile 
der  in  diesen  Dingen  ausserordentlich  weitherzigen 
Berliner  Gerichte  auf  Anklagen  wegen  Verbreitung 
unsittlicher  Schriften  bedeutsam  gefördert  worden  ist. 
Deshalb  kann  man  es  verstehen,  wenn  die  Polizei 
manches  durchgehen  lässt,  was  ihr  unzulässig  erscheint. 
Denn  wiederholt  schon  ist  es  vorgekommen,  dass  sie 
zweifelhafte  Presserzeugnisse  beschlagnahmt  hat,  die 
später  von  dem  zuständigen  Gerichte  als  harmlos 
„freigegeben"  wurden.  Und  der  Polizei  wird  gewiss 
niemand  übertriebene  Prüderie  in  diesen  Dingen  vor- 
werfen. 

Wie  in  dieser  auf  die  grosse  Masse  berechneten 
Unterhaltungsliteratur,  macht  sich  auch  in  der  für 
„fernere"  Kreise  bestimmten,  eine  für  die  „sittliche 
Nation"  tief  beschämende  Erscheinung  bemerkbar : 
Die  Zunahme  dersittenlosen,  von  weiblichen 
Autoren  geschriebenen  Romane.  Es  ist  eines  der 
traurigsten  Zeichen  unserer  Zeit,  dass  eine  ganze 
Reihe  der  schändlichsten  Romane  „Damen"  zu  Ver- 
fassern hat,  und  dass  es  Dinge  gibt,  die  niederzu- 
schreiben ein  Mann  Anstand  nimmt,  wenn  er  auch 
noch  so  tief  gesunken  ist,  vor  deren  Schilderung  aber 
weibliche  Personen  sich  nicht  schämen.  Von  einer 
solchen  Romanschreiberin,  die  dazu  noch  adelig  ist, 
sagt  eben  in  der  „Kreuzzeitung"  (Nr.  387)  der  Heraus- 
geber einer  Monatsschrift,  er  könne  Stilproben  ihrer 
Sudeleien  nicht  geben,  weil  er  mit  Auszügen  aus  den- 
selben sein  Blatt  nicht  besudeln  dürfe.  Und  diese 
Schweinereien,  so  klagt  er,  erleben  Auflage  über  Auf- 
lage, sind  in  Leihbibliotheken  und  werden  gelesen  — 
meist  von  Backtischen.  Und  das  sind  dann  die  Kreise, 
die  Sitte  und  Ordnung  besonders  pflegen  und  dem 
deutschen  Volke  mit  gutem  Beispiel  voranleuchten 
sollen!  In  dem  erwähnten  Artikel  der  „Kreuzzeitung" 
wird  das  deutsche  Volk  aufgefordert,  sich  aufzuraffen, 
um  endlich  dem  Treiben  ein  Halt  zuzurufen,  das  ganz 
geeignet  ist,    der  deutschen  Literatur  den  Todesstoss 


303 


zu  versetzen  und  die  Seele  unseres  Volkes  zu  ver- 
giften. Wir  fürchten,  dass  der  unbequeme  Mahner  in 
den  Kreisen,  an  die  er  sich  wendet,  ein  Rufer  in  der 
Wüste  sein  wird.  Die  sittliche  Fäulniss  ist  in  weiten 
Schichten  unseres  Volkes  schon  zu  weit  vorgeschritten, 
als  dass  sie  ganz  ohne  Katastrophe  beseitigt  werden 
könnte.  Eine  Berliner  Korrespondenz  im  Wiener 
„Deutschen  Volksblatte"  klagte  im  folgenden  Ton : 
Auf  der  HaUptstrasse  der  Reichshauptstadt  haben 
sich  zwei  feindliche  Brüder  aus  Israel  niedergelassen, 
der  Eine  unten,  der  Andere  oben:  Tietz  und  Wert- 
heirn,  beide  von  edlem  Geschlechte  der  Waaren- 
häusler,  das  für  sich  das  Recht  in  Anspruch  nimmt, 
die  Welt  mit  Waaren  aller  Art  zu  beglücken.  Hinter 
riesigen,  aus  Glas  gebildeten  Häuserfronten  verkaufen 
diese  beiden  Beherrscher  der  Leipzigerstrasse  um  die 
Wette  Alles,  was  ein  moderner  Mensch  nur  brauchen 
kann,  von  Kunst  bis  zum  Häring  im  Ramsch.  Ein 
ebenso  ergiebiges,  als  volkswirtschaftlich  nachthei- 
liges Geschäft.  Jetzt  ist  das  edle  Dioskurenpaar  aus 
Eifersucht  in  Streit  verfallen,  und  das  kam  so :  Wert- 
heim, der  ältere,  hatte  sich  seit  Langem  schon  als 
Abzeichen  für  sein  Geschäft  die  Erdkugel  patentiren 
lassen,  offenbar  in  der  Absicht,  damit  kundzuthun, 
dass  er  die  ganze  Welt  beglücken  wolle.  Diese  Wert- 
heim'sche  Erdkugel  soll  nun  Tietz  wiederrechtlich 
sich  angeeignet  und  auf  dem  Giebel  seines  Bazars 
angebracht  haben.  Thatsächlich  krönt  das  neue,  mit 
Reptilien  nnd  nackten  Gestalten  geschmückte  Tietz'sche 
Waarenhaus  ein  grosser  Globus  aus  Glas,  der  all- 
abendlich elektrisch  beleuchtet  wird.  Dies  hat  Wert- 
heim so  verdrossen,  dass  er  jetzt  seinen  hebräischen 
Konkurrenten  darauf  verklagt  hat,  die  Erdkugel  vom 
Dache  herabzunehmen,  da  diese  ihm  (Wertheim) 
gehöre.  So  streitet  sich  dieses  feindliche  jüdische 
Brüderpaar  munter  um  den  Besitz  der  Erdkugel,  ein 
Symbol  unserer  Zeit.  —  Während  die  Riesenbazare 
immer  mehr  überhand  nehmen,  wächst  das  sociale 
Elend  unaufhörlich  weiter.  Das  schlimmste  Kapitel 
desselben  ist  die  Verrohung  der  Jugend.  Vater  und 
Mutter  müssen  von  Morgens  früh  bis  Abends  spät 
dem  Brote  nachgehen,  während  die  Kinder  wild  auf- 


304 


wachsen,  frühzeitig  auf  die  Strasse  gestossen  werden 
und  dort  dank  der  zahlreichen  schlechten  Beispiele 
verkommen.  Kein  Wunder,  dass  das  jugendliche  Ver- 
brecherthum  eine  stehende  Rubrik  der  Kriminal* 
Statistik  darstellt.  Was  nützt  da  alles  Klagen?  Wo 
kein  Heim,  da  kann  das  Gemüth  des  Kindes  nicht 
gedeihen,  und  ohne  Gemüth,  wie  leicht  ist  dort  der 
Weg  zum  Verbrechen?  Mit  kleinen  Vergehen  beginnt 
der  Lauf  des  Verbrechers,  um  defeinst  blutig  zu 
enden.  Die  Verwilderung  der  Berliner  Jugend  hat 
solchen  Umfang  angenommen,  dass  es  bereits  ganze 
Banden  jugendlicher  Verbrecher  gibt  Erst  kürzlich 
hat  man  eine  solche  Sippschaft  hinter  Schloss  und 
Riegel  gebracht,  welche  14  Mitglieder  zählte,  die 
bis  auf  zwei  sämmtlich  strafunmündig  waren.  Die 
Bengel  hausten  in  einem  grossen  Kanalisations- 
rohre, in  dem  sie  sich  aus  zusammengestohlenen 
Pferdedecken,  Heu  und  Stroh  eine  richtige  Räuber- 
höhle eingerichtet  hatten,  wo  sie  übernachteten. 
Eine  Abtheilung  des  Rohres  hatten  sie  zur  Küche 
eingerichtet,  in  der  geheizt  und  gekocht  wurde. 
Ihren  Lebensunterhalt  gewannen  die  Burschen  durch 
Einbrüche  und  Diebstähle  in  der  Umgebung.  Während 
diese  wohlorganisirte  Bande  wochenlang  ihr  Unwesen 
trieb,  hauste  in  einem  anderen  Stadttheile  eine  jugend- 
liche Diebsgesellschaft  von  acht  Köpfen.  Diese  kulti- 
virte  besonders  Taschen-  und  Laden diebstähle.  Ihre 
Mitglieder  waren  alle  strafunmündig.  —  Das  sind 
in  der  That  sehr  bedenkliche  Zustände.  Das  einzige 
Mittel,  denselben  abzuhelfen,  liegt  auf  dem  Gebiete 
der  Erziehung  zur  Arbeit.  Das  jugendliche  Verbrecher- 
thum  ist  übrigens,  wie  die  deutsche  Kriminalstatistik 
beweist,  keine  Eigenart  Berlins.  Es  hat  sich  bereits 
über  das  ganze  Land  verbreitet  und  wächst  zusehends» 
Im  Jahre  1882  gab  es  nur  30.719  jugendliche  Per- 
sonen, die  wegen  Verbrechen  und  Vergehen  bestraft 
werden  mussten,  1897  waren  es  schon  45.251.  Gewiss 
sind  nicht  alle  begangenen  Delikte  gemeingefährlicher 
Art,  aber  es  bleibt  doch  eine  unheimliche  Masse 
wirklich  verbrecherischer  Handlungen  übrig,  selbst 
wenn  man  dem  Leichtsinne  und  Uebermuthe  der 
Jugend  viel  zugute  hält.  Besonders  gefährlich  erscheint 


305 


die  hohe  Zahl  der  Vorbestraften,  also  Rückfälligen, 
unter  den  verurtheilten  Jugendlichen.  Das  deutet  auf 
verbrecherische  Anlagen  hin.  1889  entfielen  auf  36.790 
verurtheilte  Jugendliche  5590  Vorbestrafte,  1894  schon 
8470  auf  45.554  Verurtheilte.  Die  menschliche  Gesell- 
schaft wird  gut  thun,  solche  Symptome  nicht  zu 
unterschätzen ;  sonst  dürfte  zuletzt  der  Franzose  recht 
behalten,  der  einst  schrieb:  „Die  Hunnen,  welche  in 
Zukunft  unsere  Kultur  bedrohen,  kommen  nicht  von 
Osten,  sie  wachsen  in  unserer  Mitte  auf. u  Das  Haupt- 
köntingent  der  von  Jugendlichen  begangenen  Ver- 
brechen entfällt  auf  Gewalttätigkeiten  und  Sach- 
beschädigungen. So  wurden  zum  Beispiel  im  Jahre 
1889  nicht  weniger  als  7330  Jugendliche  wegen  ge- 
fährlicher Körperverletzung  verurtheilt.  Ein  Sechstel 
aller  Sachbeschädigungen,  ein  Drittel  aller  Brand- 
stiftungen, die  zur  Aburtheilung  kamen,  entfiel  auf 
Jugendliche.  Man  geht  nicht  fehl,  wenn  man  die  von 
Zeit  zu  Zeit  unsere  Reichshauptstadt  heimsuchenden 
Massenbrände  auf  Brandstiftung  junger  Burschen 
zurückführt.  Es  ist  erst  ein  paar  Jahre  her,  dass  ein 
Stadttheil  von  Berlin  vor  den  unsichtbaren  und  bis 
heute  unentdeckten  Brandstiftern  zitterte,  die  frech 
ihre  Brandbriefe  an  die  Ecken  hefteten.  Damals  ging 
kein  Abend  vorüber  ohne  Dachstuhlbrand  in  jenem 
Stadtviertel.  Die  Hunnen  sind  nicht  mehr  sehr  ferne. 
Dass  im  preussischen  „Musterstaate"  protestan- 
tische Pastoren  viel  zu  thun  hätten,  wollten  sie  nur 
das  Evangelium  Christi  dem  Volke  verkündigen,  be- 
weist die  Skandalafaire  von  Trakhenen.  Im  vierten 
Verhandlungstag  kam  im  Gerichtssaale  folgende  Scene 
vor.  Die  ersten  Zeugenaussagen  beziehen  sich  auf 
einzelne  kleine  Momente.  Apotheker  Schenker  soll 
bekunden,  dass  der  Gastwirth  Grab  gewöhnlich  vier, 
manchmal  auch  sechs  Pferde  gehabt  und  sowohl  für 
diese  als  auch  für  seine  Kühe  Futter  nie  gekauft 
habe.  Der  Zeuge  kann  nur  sagen,  dass  er  nie  gesehen 
hat,  dass  Grab  Heu  oder  dergleichen  gekauft  habe. 
In  einem  Falle  hat  der  Zeuge  geglaubt,  annehmen 
zu  müssen,  dass  Grab  Häcksel  vom  Gestüt  sich  mit- 
bringe. Der  Zeuge  bekundet  auf  Befragen  der  Ver- 
teidigung:  In  einem  Falle  hat  er  auf  Wunsch   des 

20 


306 


Bautechnikers  Kübart  diesem  eine  Quittung  über  ge- 
lieferten Firniss  in  Höhe  von  300  Mark  unterschrieben 
und  diesen  Betrag  auch  erhalten,  obgleich  er  zu  jener 
Zeit  nur  etwa  100  Mark  zu  fordern  hatte.  Er  hat 
dann  nach  und  nach  soviel  geliefert,  bis  die  über- 
schüssigen 200  Mark  erschöpft  waren.  —  Zeuge 
Kübart  erklärt  diesen  Vorgang  dahin,  dass  er  die 
sämmtlichen  Feuerlöschgeräthe  habe  neu  firnissen 
lassen,  den  Firniss  zunächst  aus  vorhandenen  Vor- 
räthen  entnommen  habe  und  zu  Abrechnungszwecken 
zunächst  einen  Betrag  in  der  Höhe  von  300  Mark 
haben  wollte.  Irgend  ein  unlauterer  Zweck  sei  damit 
nicht  verfolgt  worden.  —  Der  Zeuge  Apotheker 
Schenker  bestätigt  dem  Rechtsanwalt  Sonnefeld  auf 
Befragen,  dass  er  einmal  dem  Rossarzt  Matthias  an- 
gedroht habe,  sich  durch  Vermittlung  eines  konser- 
vativen Abgeordneten  an  den  Landwirthschaftsminister 
zu  wenden,  wenn  er  noch  mehr  bedrückt  würde. 
Staatsanwalt  Beeck:  Der  Lehrer  Nickel  soll  ein  voll- 
ständiges Verhör  mit  seinen  Schulkindern  darüber 
angestellt  haben,  was  sie  alles  gestohlen  haben,  und 
durch  wen  sie  zu  Diebstählen  angestiftet  worden 
seien.  Er  habe  dann  darüber  ein  vollständiges  Pro- 
tokoll aufnehmen  lassen.  —  Angekl.  Nickel:  Er  habe 
in  der  Religionsstunde  die  Kinder  pflichtgemäss  immer 
wieder  verwarnt,  nicht  das  7.  Gebot  zu  übertreten, 
es  seien  aber  immer  wieder  Diebstähle  vorgekommen. 
Als  er  dann  seine  Schulkinder  einmal  wieder  auf- 
gefordert habe,  dass  Diejenigen,  die  gestohlen  haben, 
sich  erheben  sollten,  habe  sich  die  ganze  Klasse  er- 
hoben. Zeuge  Gastwirth  Grab  gibt  zu,  dass  ihm  Stroh, 
Häcksel  und  Streu  geliefert  worden  seien,  bestreitet 
aber,  dass  dies  zu  Unrecht  geschehen  sei.  Er  be- 
hauptet, dass  er  nach  seinem  mit  der  Gestüts  Verwal- 
tung abgeschlossenen  Vertrage,  nach  welchem  das 
Gestüt  den  Dung  von  ihm  erhielt,  auch  Anspruch 
auf  Häcksel  hätte  und  auch  seine  Vorgänger  den 
Häcksel  erhalten  hätten.  —  Rechtsanwalt  Sonnen  fei  d 
bestreitet,  dass  er  Häcksel  zu  beanspruchen  habe. 
In  Trakhenen  haben  also  Schulkinder  den 
preussischen  Aerar  bestohlen.  Der  evangelische  Bund 
hat  in  Halle  ein  eigenes  Heim  errichtet,  in  welchem 


307 


abgefallene  katholische  Priester  aus  Oesterreich  selbst 
böhmischer :  Nationalität  aufgenommen  werden,  um 
hier  protestantische  Theologie  zu  betreiben.  Der  ver- 
storbene Theologieprofessor  Beyschlag  pflegte  solche 
Kandidaten  damit  zu  begrüssen,  dass  die  Bildung 
eines  katholischen  Priesters  höchstens  zum  Berufe 
eines  Stiefelputzers  geeignet  mache.  Nichts  über  pro- 
testantische Bescheidenheit.  Zum  Schlüsse  dieses 
Kapitels  führen  wir  einige  Worte  des  P.  Alban 
Schachleithner  an,  die  er  in  seiner  Rede  gegen  die 
Invasion  der  Pastoren  gehalten  in  Wien  am  15.  No- 
vember 1902  vorbrachte.  Er  sagte  unter  anderem 
folgendes:  „Vor  Gott,  vor  der  gesammten  Christen- 
heit klage  ich  sie  an,  sie,  die  die  Fahne  des  religiösen 
Aufruhrs  unter  uns  aufgerollt,  dass  sie  die  Leugnung 
der  Gottheit  Christi,  die  Leugnung  der  heiligsten  Drei- 
faltigkeit, die.  Leugnung  der  göttlichem  Inspiration 
der  heil.  Schrift  in  ihrem  Bekenntnisse  dulden.  Ich 
fordere  die  Herren  Pastoren  und  Superintendenten 
auf  vor  aller  Welt,  ihr  Bekenntniss  abzulegen.  Sie 
sollen  erklären:  Wir  glauben  und  bekennen,  dass 
Christus  die  zweite  Person  der  heiligsten  Dreifaltig- 
keit ist.  Und  ich  sage  Ihnen:  Die  Herren  werden 
dieses  Bekenntniss  nicht  ablegen,  sie  werden  Phrasen 
gebrauchen  vom  Anschluss  an  den  rechten  Mittler 
des  Heiles,  votn  göttlichen  Meister  und  .dergleichen, 
aber  seine  Gottheit  werden  sie  nicht  bekennen!  Ich 
weiss  nicht,  ob  die  Sonne,  seit  die  Welt  steht,  je 
eine  Heuchelei  beschienen  hat,  so  riesengross,  so 
riesenfrech,  wie  die  Heuchelei  dieser.  Prediger  des 
Abfalles."  „Die  wahre  Kirche,"  so  führte  P.  Alban 
weiter  aus,  „ist  nur  da,  wo  die  Einrichtungen  sich 
befinden,  die  Christus  für  eine  Kirche  vorgesehen 
hat.  Eine  Kirche,  die  das  von  Christus  eingesetzte 
Lehramt  zurückweist  und  Lehrfreiheit  verkündet, 
eine  Kirche,  die  die  Binde-  und- Lösegewalt  nicht 
kennt,  nicht  ausübt,  die  kein  oberstes  Hirtenämt  über 
alle  ihre  Glieder  anerkennt,  die  ist  nicht  die  wahre 
Kirche,  so  wahr  Christus  Gott  ist!" 

„Die  von  Christus  gegründete  Kirche  konnte  und 
kann  nie  aufhören,"  so  schloss  P.  Alban,  „die  wahre 
Kirche  zu  sein.    Die  wahre  Kirche  ist  jene,  die  nach 

20* 


308 


dem  unwidersprechlichen  Zeugnisse  der  Geschichte 
hinaufreicht  in  die  Zeiten  der  Apostel:  die  Kirche 
der  Päpste,  die  römisch-katholische  Kirche.  Sie  konnte 
nie  sich  ändern,  nie  verderben,  nie  durch  schlechte 
Menschen,  auch  nicht  durch  schlechte  Päpste,  Bi- 
schöfe und  Priester  verdorben  werden!  Nie  konnte 
es  für  irgend  Jemandem  in  der  Welt  einen  recht- 
mässigen Grund  geben,  von  ihr,  der  allein  wahren 
Kirche  sich  zu  trennen.  Wo  Petrus,  da  die  Kirche  !u 


der  kathoL  Konfession 

1871  1900 


XVII.  Das  Anwachsen  des  Protestantismus  in 
Preussen-Deutschland. 

Seit  dem  Preussen  die  übrigen  kleineren  Staaten 
unter  seine  Botmässigkeit  gebracht  hat,  wächst  auch 
stetig  die  Zahl  der  Angehörigen  der  officielen  preus- 
sisch-landesherrlichen  Konfession.  Die  konfesionelle 
Statistik  von  Preussen-Deutschland  bietet  folgendes 
Bild  dar.  Zahl  der  Angehörigen 

der  eyangelifhen 

I  |           Jahr      1871  1900 

Ostpreussen 1,560.865  1,698.465 

Westpreussen     ....    633.548  730.685 

Berlin 735,783  1,590.115 

Brandenburg 1,987.891  2,907.863 

Pommern 1,397.467  1,579.080 

Posen   . 511.292  569.564 

Schlesien 1,760*441  2,042.583 

Sachsen 1,966.696  2,610,080 

Schleswig-Holstein   •  .  1,034.363  1,349.297 

Hannover 1,711.728  2,227.816 

Westphalen 806.464  1,537.948 

Hessen-Nassau  ....    988.041  1,308.016 

Rheinland 906.867  1,663218 

Hohenzollern 1.766  2.847 

Königreich  Bayern     .   .  1,342.592  1,749.206 

Königreich  Sachsen  .   .  2,493.556  8,972.063 

Württemberg 1,248.860  1,497.299 

Baden 461.008  704.058 

Hessen 584,391  746.201 

Mecklenburg-Schwerin      558.492  597.268 

Sachsen-Weimar  .   .   .    275.492  847.144 

Mecklenburg-Streliti     .      96.329  100.568 

Oldenburg; 242.945  309.510 

Braunschweig     ....     302.989  436.976 

Sachsen-Meiningen  .   .     181.964  244.810 

Sachsen-Altenburg  .   .     141.901  189.885 


238.007 

641.572 

51.729 

84.530 

16.858 

1,009.491 

1,896.136 

126.735 

6.276 

233.631 

949.118 

371.736 

2,628.137 

63.051 

3.464.864 

53.642 

553  542 

942.560 

239.008 

1.336 

9.404 

167 

71.205 

7030 

1.564 

193 


268.412 
800.342 
187.846 
159.865 
38.121 
1,280.077 
2,569.336 
205.861 
30.424 
338.767 
1,616.377 
630.317 
4,021.177 
63.363 
4,362.563 
197.005 
650.311 
1,131.413 
341.480 
8.127 
14.095 
1.522 
86.917 
24.120 
4.160 
4.718 


309 


Anzahl  der  Angehörigen 

der  evangelischen 

Jahr    1871  1900 

Sachsen-Koburg    .   .   .  172.786  225.074 

Gotba-Anhalt 198.107  301.953 

Schwarzb.-Rudolfstadt  75.294  92.298 

Schwarzb.-Sondershaus.  66.824  79.593 

Waldeck 54.055  55.285 

Reuss  alt.  L 44.898  66.860 

Reuss  j.  L 88.782  135.918 

Schaumburg-Lippe   .   .  31.216  41.908 

Lippe 107.462  182.798 

Lübeck 51.085  98.671 

Bremen 118.103  208.815 

Hamburg 806.653  712.338 

Elsass-Lothringen     .   .  270.251  372.078 

Deutsches  Reich     .     25,581.685  35,231.104 


der  kathol.  Konfesston 

1871  1900 


1.263 

3.378 

104 

176 

1.305 

150 

187 

386 

2.638 

400 

3.550 

7.748 

1,235706 

14,869.292 


3.314 

11.602 

637 

1.092 

1.830 

1.041 

2.575 

785 

6.157 

2.176 

13.380 

30.731 

1,810.891 

20,321.441 


Ein  sehr  genaues  Bild  des  Anwachsens  des  evan- 
gelischen Elementes  geben  die  relativen  Zahlen.  Unter 
1000  Einwohner  der  Gesammtbevölkerung  kamen. 


Angehörige 

der  evangelischen 

der  kathol.  Konfession 

Jahr     1871 

1900 

1871 

1900 

Ostpreussen     .    .    . 

860 

850 

1278 

134 

Westpreussen     .    . 

481 

467 

488 

511 

Berlin 

890 

841 

62 

99 

Brandenburg  .    .    . 

976 

935 

17 

51 

Pommern     .... 

976 

965 

11 

23 

Posen 

322 

301 

637 

678 

Schlesien      .... 

475 

437 

511 

550 

Sachsen 

935 

921 

60 

72 

Schleswig-Holstein 

989 

972 

6 

21 

Hannover    .... 

872 

869 

119 

130 

Westphalen     .    .    . 

454 

482 

534 

507 

Hessen-Nassau    .    . 

705 

689 

265 

279 

Rheinland    .... 

253 

288 

734 

698 

Hohenzollern  .   .    . 

26 

42 

961 

948 

Königreich  Bayern 

276 

283 

712 

706 

Königreich  Sachsen  . 

975 

945 

20 

46 

Württemberg  .    .   . 

686 

690 

304 

299 

Baden  

336 

376 

645 

605 

Hessen     .... 

685 

666 

280 

304 

Mecklenburg-Schwerii 

i         992 

982 

2 

13 

310 

Angehörige 

evangelischen  der  kathol.  Konfession 

'Jahr      1871      1900      1871       1900 
Sachsen-Weimar    .    .  962        956  33  38 

Mecklenb*rg-Strelitz  993        980        .    1  14 

Oldenburg 767        775        224        217 

Braunschweig.    ...  971        941  22  52 

Sachsen-Meiningen     .  968        976  8  16 

Sachsen-Altenburg     .         998        974  1    .       24 

Sachsen-Koburg-Gotha        991        980  7  14 

Anhalt 983        955  16  36 

Schwarzburg-Rudolst.         996        991  1  7 

Schwarzburg-  994        988  2  13 

Sondershausen 

Waldeck 961        954  23  31 

Reuss  ältere  L.  .    .    .  995        977  3  15 

Reuss  jüngere  L.  .    .  997        976  2  18 

Schaumburg-Lippe     .  973        971.  1  18 

Lippe 967        955  23  37 

Lübeck 979        967  7  22 

Bremen 964        928  29  59 

Hamburg 904        927  23  40 

Elsass-Lothringen  .    .  174        216        797         762 

Deutsches  Reich      .  623        625        362         360 

Diese  percentuelle  Tabelle  zeigt  sehr  genau  die 
konfessionellen  Verschiebungen  in  Preussen-Deutsch- 
land  in  den  letzten  30  Jahren.  Diese  Zahlen  bedürfen 
keines  Kommentars,  sie  sprechen  zu  deutlich  für 
sich  selbst.  Wenn  heute  Windhorst  leben  und  diese 
Tabellen  studiren  möchte,  so  würde  er  wohl  die 
Wirkungen  Preussens  im  heutigen  Deutschland  sehr 
klar  erkennen.  Er  würde  vielleicht  sich  zu  einem 
heroischen  Kampf  aufraffen,  wie  ihn  seinerzeit  gegen 
Preussen  der  grosse  Görres  führte.  Die  grossen  katho- 
lischen Führer  der  Katholiken  Deutschlands  ruhen  im 
Grabe.  P.  Krose  taxirt  den  Verlust  der  katholischen 
Kirche  im  Deutschen  Reiche  in  den  letzten  4  Decennien 
auf  2  Millionen  Seelen.  Wenn  im  Deutschen  Reiche 
katholische  Priester  böhmischer  Nationalität  in  der 
Seelsorge  wirken  möchten,  würde  der  Weihbischof 
Frind  von  Prag  und  sein  Gefolge  P.  Opitz,  Theologie- 
Professor  Dr.  Hilgenreiner  in   Prag   und    die  Presse 


311 


des  P.  Opitz  diesen  Verlust  der  katholischen  Kirche 
auf  die  Schultern  der  böhmischen  Priester  laden, 
wie  sie  es  mit  der  Los  von  Rom-Bewegung  in 
Böhmen  thun. 

Wie  das  landesherrliche  Lutherthum  in  Preussen- 
Deutschland  arbeitet,  das  spüren  die  Katholiken 
sehr  gut,  alle  hohen  Staatsämter,  die  Universitäten 
und  dergl.  sind  den  Katholiken  unzugänglich  und 
will  ein  Katholik  in  Preussen-Deutschland  etwa  eine 
Professur  bekommen,  muss  er  die  Preussen  loben 
wie  Prof.  Dr.  Spahn,  welcher  „Den  grossen  Ghurfirst" 
schrieb  und  dafür  die  Professur  bekam.  Ein  junger 
Mann  trat  ins  Kloster  und  frug  einen  bejahrten 
Ordensmann,  was  er  thun  solle,  damit  er  in  der 
Ordensgemeihde  doch  ein  gutes  Vorwärtskommen 
erziele,  kurz  dass  er  prosperire,  darauf  sagte  ihm 
der  bejahrte  Ordensmann,  man  müsse  immer  den 
Guardian  loben.  Also  ist  es  auch  in  Preussen-Deutsch- 
land. Man  muss  die  Preussen  loben.  Wie  das  landes- 
herrliche Lutherthum  in  Preussen-Deutschland  arbeitet, 
davon  gibt  einen  traurigen  Beweis  das  furchtbare 
Vorkommniss  am  Hofe  in  Dresden. 

Das  in  München  erscheinende  „Deutsches  Volks- 
blatt" schreibt  in  der  Nummer  von  ll.  Januar  1903 
folgendes:  Der  Dresdener  Hofskandal  gibt  der  Presse 
nach  wie  vor  reichen  Stoff,  ihre  Spalten  zu  füllen, 
doch  sind  selbst  die  Judenblätter  nach  und  nach 
gezwungen,  die  Frau  und  ihren  Galan  fallen  zu 
lassen.  Die  tadellose  Haltung  des  Kronprinzen  von 
Sachsen  in  dieser  Angelegenheit,  dem  selbst  die 
entlaufene  Gattin  das  Zeugniss  eines  treuen,  biederen 
Charakters  und  vollendeten  Ehrenmannes  aufstellen 
muss,  wird  von  keiner  Seite  mehr  bestritten;  die 
Märchen  von  der  allzustrengen  sächsischen  Hofetikette 
und  dem  überfrommen  religiösen  Leben  dortselbst, 
welches  der  tugendlichen  Prinzessin  das  Leben  so 
verbittert  hat,  dass  sie  zur  Ehebrecherin  worden  und 
ihrem  Manne  und  ihren  Kindern  davon  laufen  musste, 
haben  sich  gleichfalls  als  haltlos  erwiesen.  Dagegen 
versucht  man  jetzt,  das  in  seiner  grossen  Mehrheit 
protestantische  Volk  in  Sachsen  gegen  seine  katho- 
lische Dynastie  zu  verhetzen,  weil  sich  der  Kronprinz 


312 


nach    der  Vorschriften    seines   Glaubens  wohl   von 
seiner    ehebrecherischen   Frau  trennen,   aber    nicht 
scheiden   lassen  kann.    Wir   begreifen   vollkommen, 
dass  man  im  sächsischen  Volke,  in  welchem  andere 
konfessionelle  Anschauungen  über  die  Ehe  vorhanden 
sind  als  am  Hofe,  eine  Scheidung  sehr  gerne  sehen 
würde,    aber    es  wäre    doch    geradezu    kindisch    zu 
nennen,  wenn  die  Sachsen  ohne  eine  Königin  absolut 
nicht  auskommen  könnten,  noch  dazu,  nachdem  die 
Thronfolge  durch  die  schon    vorhandene  Nachkom- 
menschaft  des  Kronprinzen   gesichert  ist.   Dass    die 
Prinzessin   sich  selbst   für   immer   aus   dem  Lande, 
vom  Hofe  und  ihrer  Familie  verbannt  hat,  kann  den 
Sachsen    nach    unserem    Ermessen     genügen,    alles 
übrige  ist  wesentlich   Privat-  und  Familien  sache  des. 
sächsischen   Königshauses.    Hocherfreulich   wäre  es* 
wenn   man  angesichts  des  jüngst  erlebten  traurigen 
Falles  in  Dresden  mit  dem  guten  Beispiele  voranginge» 
mit  den  veralteren  Hausgesetzen  regierender  Familien 
zu  brechen,  wonach  nur  „ebenbürtige"  Ehen  geschlos- 
sen werden   dürfen.    Wenn   die  fortgesetzte   Inzucht 
in  den  Herrscher fa  in  ilien  nicht  aufhören  wird,  werden 
die  schon  vielfach    zu  Tage   getretenen   Entartungs- 
erscheinungen (die  auch  bei  den  Hohenzollern  schon 
mehrfach   zu  konstatiren   gewesen   sind)   schliesslich 
den  Bestand  der  Dynastien  ernstlich  gefährden.  Aber 
das  hat   mit  dem,   was   wir   hier   sagen  wollen   nur 
nebensächlich  zu  thun.     Wenn  man  gegenwärtig  das 
„protestantische  Bewusstsein"  im  Volke  erwecken  und 
gegen    die   Wettiner   auszuspielen  sucht,   so    ist    die 
Ursache   davon   nicht  in  religiösen,    ethischen    oder 
sonst  auf  idealem  Gebiete  gelegenen  Beweggründen  zu 
suchen,  sondern  neben  der  in  den  Judenblättern  zuin 
Ausdruck  gelangten  Gier  nach  Auflösung  aller  BandeT 
welche  die  christlichen  Staaten  und  Völker  zusammen- 
halten,   in  der   in  Deutschland   immer   frecher   und 
unverhüllter   auftretenden  Absicht,    die    mittel-    und 
kleinstaatlichen  Dynastien  zu  diskreditiren   und    dem 
Einheitsstaat  dadurch  Vorschub  zu  leisten.  Alles  übrige 

—  eine  frische  fröhliche    Hetze  gegen  die  „römische 
Papstkirche"    wird  natürlich    gerne  damit  verbunden 

—  ist  Schwindel,  nackler  Betrug  und  bewusste  Irre- 


313 


führung  der  öffentlichen  Meinung,  Wer  das  nicht 
erkennt,  der  kann  uns  aufrichtig  leid  thun.  Damit 
bei  dieser  kurzen  Betrachtung  der  Dresdener  Affaire 
die  Hauptmacher  nicht  um  die  ihnen  gebührenden 
Ehren  kommen,  wollen  wir  doch  auch  feststellen, 
dass  kein  einziges  Blatt,  das  uns  zu  Gesicht  gekom- 
men ist,  mit  einer  derartigen  Schamlosigkeit  die 
ganze  Angelegenheit  in  dem  von  uns  gebrandmarkten 
Sinne  ausgebeutet  hat,  als  die  „Münchener  Neuesten 
Nachrichten.*  Es  ist  selbstverständlich,  dass  dieses 
Blatt,  welches  in  seinem  Feuilletonromanen  den  Por- 
nographen Zola  zu  überbieten  sucht,  und  darin,  wie 
das  z.  B.  in  dem  zu  Neujahr  beendeten  Roman  ge- 
schehen ist,  Gespräche  zwischen  Verliebten  bringt, 
wie  sich  der  Kindersegen  verhüten  lasse  (!),  die 
Skandalaffaire  der  sächsischen  Kronprinzessin  auch 
nach  erotischen  Seite  hin  eifrigst  auszuschlachten 
bemüht  ist,  seine  jüdischen  Mitarbeiter  haben  sich 
darin  selbst  übertroffen.  Doch  darüber  wollen  wir 
diesem  Blatte  gegenüber  nicht  viel  Worte  verlieren, 
dagegen  sei  konstatirt,  dass  die  „Neuesten"  das  ein- 
zige Blatt  gewesen  sind,  welches  schamlos  genug 
war,  die  bodenlos  gemeinen  Erfindungen  schweinischer 
Wiener  Juden  über  die  angebliche  Erkrankung  der 
Kronprinzessin  durch  das  Verschulden  ihres  Gemahls 
in  Deutschland  zu  verbreiten,  wie  es  ja  auch  das- 
jenige Blatt  gewesen  ist,  das  den  Skandal  im  Sinne 
der  angestrebten  Verpreussung  Gesammtdeutschlands 
in  der  gewissenlosesten  und  frechsten  Weise  ausge- 
beutet hat,  wobei  es  ihm  selbst  auf  die  gröbsten 
Lügen  nicht  angekommen  ist,  die  es  in  wenigen 
Tagen  selbst  zu  widerrufen  gezwungen  war. 

Die  „Münchener  Neuesten  Nachrichten",  Publi- 
kationsorgan der  Behörden,  sind  Hauptorgan  des 
Münchener  liberalen  Bildungspöbels  und  liegen  zudem 
in  zahlreichen  Ministerial-,  Regierungs-  und  Magistrats- 
bureaus auf.  Man  braucht  angesichts  dieser  Thatsache 
über  die  Zustände  in  Bayern  und  München  kein  Wort 
weiter  mehr  zu  verlieren.  Auch  das  Manifest  König 
Georgs  gegen  die  Prinzessin  Luise  wird  auf  direkten 
Druck  Berlins  zurückgeführt.  Berlin  arbeitet  mit  Hoch- 
druck auf  die  Beseitigung  des  Hauses  Wettin. 


314 


XVIII.  Der   Hauskrieg   im  Lager  der  Alldeutschen. 

Es  war  am  8.  December  1898,  an  welchem  Tage 
die  Führer  der  alldeutschen  Partei  Schoenerer,  Wolf 
und  Eisenkolb  die  Verabredung  getroffen  haben,  die 
Abfallshetze  systematisch  zu  betreiben.  Schoenerer 
behauptete,  in  der  Frist  eines  einzigen  Jahres  werden 
sicher  10.000  Personen  aus  der  katholischen  Kirche 
in  Oesterreich  den  Austritt  vollzogen  haben.  Wolf 
selbst  meldete  seinen  Austritt  aus  der  katholischen 
Kirche  am  Grünen  Donnerstag  1899  um  gleichfalls 
den  Judas  zu  imitiren.  Schoenerer  fiel  später  ab.  Am 
16.  November  1902  feierte  Schoenerer  in  Wien  seinen 
60jährigen  Geburtstag,  wo  ihm  Ovationen  dargebracht 
wurden.  Schoenerer  brüstete  sich,  dass  auf  sein  Zu- 
thun  35.000  Personen  in  Oesterreich  aus  der  katho- 
lischen Kirche  ausgetreten  sind  und  theils  altkatholisch 
oder  protestantisch  geworden  sind.  In  der  Sitzung 
vom  7.  Juni  1898  spielte  sich  im  Abgeordneten  Hause 
folgende  Scene  ab : 

„Abg.  Wolf  verweist  sodann  auf  das  Edikt  des 
Fürstbischofs  von  Trient  gegen  die  „Bozener  Zeitung", 
in  welcher  er  den  Geistlichen  und  Diöcesanen  ver- 
bietet, diese  Zeitung  zu  lesen  und  zu  verbreiten  und 
bemerkt  dazu:  Leben  wir  denn  in  einem  Rechtsstaate, 
dass  ein  übermüthiger  oder  verrückt  gewordener 
Pfaffe  sich  herausnehmen  darf,  ein  so  freches  Edikt 
zu  erlassen?  (Lebhafte  stürmische  Unterbrechungen 
und  Entrüstungsrufe  rechts.)  Abg.  Fischer  stürzt  mit 
geballten  Fäusten  erregt  auf  den  Abg.  Wolf  zu.  Abg. 
Dr.  2itnik:  Das  ist  die  deutsche  Kultur!  Abg.  Hagen- 
hofer  (zu  den  Deutschen  gewendet):  Das  ist  Euer 
Führer!  Schämt  Euch!  Pfui!  Abg.  Wolf:  Leben  wir 
denn  in  einem  Rechtsstaate,  dass  ein  übermüthiger 
oder  verrückt  gewordener  Pfaffe  .  . .  (Neuerliche  stür- 
mische Unterbrechung  rechts.)  Ich  achte  alle  Priester, 
die  ihres  Rockes  Würde  achten,  aber  nicht  einen 
Pfaffen,  der  sich  herausnimmt,  sich  so  frech  über  die 
Staatsgrundgesetze  zu  stellen.  Vicepräsident  Ferjanöic  : 
Das  ist  ein  Ausfall  gegen  einen  geachteten  Stand, 
und  ich  rufe  Sie  deshalb  zur  Ordnung.  Abg.  Wolf: 
Sorgen  Sie  lieber  dafür,  dass  diesen  Pfaffen  das  Hand- 
werk gelegt  werde.  Wohin  kämen  wir  denn,  wenn  es 


315 


gestattet  wäre,  dass  irgend  so  ein  verrückter  oder  toll 
gewordener  Pfaffe  (Entrüstungsrufe  rechts)  das  Recht 
hat,  gegen  irgend  einen  von  uns  das  Interdikt  zu 
schleudern  oder  uns  in  der  Bethätigung  unserer  staats- 
bürgerlichen Hechte  zu  hemmen?  Ich  mache  einen 
grossen  Unterschied  zwischen  Priestern  und  Pfaffen. 
Ich  habe  Priester  kennen  gelernt,  welche  die  gross te 
Hochachtung  verdienen.  Aber  das  geistliche  Kleid 
darf  nicht  entwürdigt  werden,  der  Geistliche  darf  nicht 
zum  Büttel,  zum  Polizeiknecht  •  und  auch  nicht  zum 
politischen  Agitator  herabsinken.  Er  darf  nicht  her- 
absteigen in  die  politische  Arena,  wo  man  mit  Liebe 
allein  nicht  auskommt,  sondern  wo  man  auch  aus 
dem  Grunde  seines  Herzens  hassen  können  muss. 
Was  soll  man  aber  zu  einem  Geistlichen  sagen,  der 
beispielsweise  in  Brüx  seinen  ganzen  rhetorischen 
Eifer  aufbietet,  um  Schönerer  und  Wolf  in  Grund 
und  Boden  zu  treten  und  sich  in  den  Dienst  jener 
Faktoren  zu  stellen,  die  gegen  das  Deutschthum  ar- 
beiten? Das  ist  der  Kanzelredner  P.  Abel.  Es  ist 
dringend  nothwendig,  dass  alle  Diejenigen,  denen  an 
den  Idealen  des  höheren  Christenthums  und  der 
katholischen  Kirche  gelegen  ist,  Alles  aufbieten,  um 
solche  Uebergriffe  zu  verhindern,  denn  sonst  treiben 
sie  uns  geradezu  dem  Protestantismus  in  die  Arme. 
Sie  werden  schon  sehen,  welchen  Umfang  diese  Be- 
wegung in  dem  Augenblicke  annehmen  wird,  wenn 
wir  die  Zeit  für  gekommen  erachten,  uns  an  die 
Spitze  derselben  zu  stellen.  Heute  stehen  wir  noch 
nicht  auf  diesem  Standpunkte.  Denn  wir  wollen  nicht, 
dass  die  Kluft  zwischen  den  Alpen-  und  Sudeten- 
ländern neuerlich  erweitert  wird.  Aber  wenn  es  so 
weiter  geht,  dann  wird  es  dazu  kommen.  Wir  werden 
dazu  gezwungen  sein  durch  solche  Erlässe,  wie  sie 
der  verrückt  gewordene  Bischof  von  Trient  erlassen 
hat  (Lebhafte  Entrüstungsrufe  rechts),  und  durch 
solche  Kanzelreden,  wie  sie  der  P.  Abel  hält.  Abg. 
Kittl:  Hüten  Sie  sich,  Sie  werden  in  den  Bann  ge- 
than  werden.  Abg.  Wolf.  Ich  bin  ohnedies  mit  dem 
Bann  belegt,  aber  ich  mache  mir  Nichts  daraus 
(Heiterkeit),  das  heisst,  ich  bin  nur  ein  sogenannter 
toleratus.    Man  hat  mich  nämlich    als  Taufpathe  für 


316 


meinen  Neffen  nicht  anerkennen  wollen,  and  ich 
massle  mir  die  Anerkennung  erst  dadurch  erzwingen, 
dass  ich  und  meine  Familie  von  beiden  Seiten  ge- 
droht haben,  dass  wir  in  dem  Augenblicke,  in  dem 
ich  nicht  als  Taufpathe  zugelassen  werde,  zum  Pro- 
testantismus übertreten.  Da  scheint  man  denn  doch 
ein  wenig  Angst  bekommen  zu  haben,  und  man  hat 
mich  dann  zugelassen."  Während  Schoenerer  längere 
Jahre  die  alldeutsche  Propaganda  in  den  Händen 
hatte  und  als  Führer  der  Partei  alleingebietend  da 
stand,  wurde  er  allmählig  gewahr,  dass  Wolf  ihm 
bedeutend  an  Popularität  überlegen  werde.  Schoenerer 
begann  um  seine  Führerrolle  zu  fürchten. 

Um  des  gefürchteten  Nebenbuhlers  los  zu  wer- 
den, kamen  auf  die  Initiative  Schoenerers  nun  über 
Wolf  Dinge  an  den  Tag,  welche  über  die  Führer  der 
alldeutschen  Bewegung  ein  grelles  Licht  werfen. 

Den  Hauptschlag  gegen  Wolf  führte  der  alldeutsche 
Abgeordnete  Dr.  Schalk  aus  anfangs  Mai  1902,  wo  er 
den  Führer  Karl  Herrmann  Wolf  öffentlich  in  einer 
Flugschrift  für  ehrlos  erklärte. 

Anfangs   November   1902   wurde  Wolf  in  Wien 
verklagt   vom  Verlagskonsortium    der   „Ostdeutschen 
Rundschau",  er  soll  Rechnung  legen  und  wurde  ihm 
zur  Last  gelegt,   dass  er  dieses  Zeitungsunternehmen 
financiell   zu   Grunde   gerichtet   habe.    Trotz    diesen 
Skandalscenen  fährt  Karl  Herrmann  Wolf  fort  in  Ver- 
sammlungen zu  reden,    und  weiter  als  Hauptagitator 
der   alldeutschen  Sache   zu   wirken.    Diese   Männer* 
welche   im   Abgeordnetenhause   unerhörten    Schimpf 
der   katholischen    Kirche    anthaten,    die    Lehrbücher 
des   Kirchenlehrers    hl.  Alfons   von  Liguori   als   un- 
sichtlich bezeichneten,  dabei  die  unfläthigsten  Läster- 
worte   auf  Priester   und    die   Kirche  häuften,    diese 
Männer   stehen   nun   da  in  ihrer  furchtbar  sittlichen 
Verkommenheit    und    trotzdem    treten     sie    wieder 
öffentlich  auf.  Es  gibt  eben  bei  den  Deutschnationaleix 
keine  Moral  mehr. 

Von  Schoenerer  ist  es  bekannt,  dass  er  in  Wien: 
seine  Häuser  an  öffentliche  Dirnen  vermiethet  hatte 
und  auf  diese  Weise  aus  dem  Sündenlohn  reich  ge- 
worden ist.  Das  sind  Führer  der  Alldeutschen.    Aber 


317 


auch  andere  kleinere  Grössen  und  Zutreiber  der 
Deutschnationalen,  Völkischen  und  Alldeutschen  sind 
nicht  viel  besser.  In  Mähren  ereignete  sich  folgender 
Fall.  Der  Gemeinderath  der  Stadt  Hranice  ist  künst- 
lich in  der  Hand  der  Deutschnationalen.  Bürgermeister 
Dr.  Plachky,  vom  Beruf  Advokat,  verheiratet  mit  der 
Tochter  des  Juden  Mandl,  wurde  bei  einer  Sitzung 
des  Gemeinderathes  von  der  Frau  Brunka  öffentlich 
aufgefordert,  er  solle  ihr  Geld  und  Ehre  wiedergeben. 
Die  Frau  kam  als  junge  Witwe  vor  13  Jahren  wegen 
der  Verlassenschaft  in  die  Kanzlei  des  Advokaten 
Dr.  Plachky,  der  sie  bei  dieser  Gelegenheit  unsittlich 
ausnützte,  dieses  Verhältniss  13  Jahre  fortpflegte  und 
die  Verlassenschaft  der  Frau  so  „verwaltete",  dass  der 
Armen  nichts  übrig  blieb.  Interessant  ist  auch  das 
Geständniss  der  „Alldeutschen  Gorrespodenz",  dass 
Dr.  Eisenkolb  deshalb  das  Mandat  eines  Abgeordneten 
besitzen  müsse,  um  den  Schutz  der  Immunität  zu  ge- 
messen !  Das  bedarf  keines  Kommentars.  Armer  Staat, 
dessen  grösste  Verräther  und  Schädiger  —  Abgeordnete 
sind.  — 

Nachdem  durch  die  Veröffentlichung  der  un- 
lauteren Thaten  des  Volkstribun  Wolf  dieser  von 
seinem  Siegeslauf  in  den  Abgrund  der  Vernichtung 
zu  gerathen  drohte,  griff  Wolf  zur  Abwehr  und  klagte 
seine  Gegner,  damit  er  einer  politischen  und  existen- 
tiellen Ermordung  entgehe.  Wie  halten  uns  an  den  Be- 
richt des  „Prager  Tagblattes".  Das  Judenblatt  schreibt : 
Brüx,  28.  November  1902. 

Die  mit  so  viel  Spannung  erwartete  Verhandlung 
hat  heute  begonnen,  ohne  dass  eine  sonderliche  Auf- 
regung in  der  Bevölkerung  wahrzunehmen  gewesen 
wäre.  Kaum  50  Personen  standen  vor  dem  Gerichts- 
saale und  keine  Hand  regte  sich,  als  Abg.  Wolf  auf 
dem  Wege  in  das  Gerichtsgebäude  die  Strassen  pas- 
sirte.  Auch  die  Verhandlung  gestaltete  sich  anfangs 
durch  die  massenhaften  Verlesungen  monoton.  Aber 
als  dann  Abg.  Schalk  die  erwartete  erbarmungslose 
Rede  hielt,  begann  es  in  dem  Gesichte  Wolfs  nervös 
zu  zucken  und  bald  darauf  geriethen  auch  schon  die 
Gegner  hart  aneinander.  Mit  allem  Aufgebot  seiner 
bekannt  mächtigen  Stimmittel  und  mit  den  Worten, 


318 


er  verwahre  sich  gegen  eine  solche  verächtliche  Kam- 
pfes weise,  protestirte  Wolf  dagegen,  dass  seine  Frau 
und  sein  Familienleben  von  den  Gegnern  in  die  Ver- 
handlung  hineingezerrt  werden.  Der  Vorsitzende  musste 
eingreifen  und  Wolf,  der  sich  immer  wieder  von  seinem 
Temperamente  hinreissen  liess,  derartige  Bemerkungen 
untersagen.  Es  steht  zu  erwarten,  dass  die  Erregbar- 
keit Wolfs  noch  öfter  solche  Scenen  hervorrufen  wird, 
trotzdem  sich  sein  Vertheidiger  bemüht,  ihn  zurück- 
zuhalten.  Dagegen  ist  Schalk  von  einer  geradezu  be- 
rechneten Ruhe  und  vollkommenen  Sicherheit.  In  den 
Verhandlungssaal  selbst  sind  nur  wenige  Personen 
zugelassen.  Der  Andrang  war  kein  sonderlicher.  Unter 
den  heute  noch  zu  vernehmenden  Zeugen  befinden 
sich  der  Herausgeber  des  „ Scherer",  Habermann  und 
Abg.  Iro.  Doch  ist  es  wahrscheinlich,  dass  nur  zwei 
oder  drei  Zeugen  im  Laufe  der  Nachmittagsverhandlung 
aussagen  werden.  Wie  verlautet,  haben  die  Schüler 
der  hiesigen  Mittelschulen  heute  seitens  der  Direk- 
tionen den  strengsten  Befehl  erhalten,  sich  vom  Kreis- 
gerichtsgebäude überhaupt  fernzuhalten  und  vor  Allem 
nicht  an  den  Demonstrationen  für  die  eine  oder  an- 
dere Partei  theilzunehmen. 

Die  Anklage  besagt:  Ich,  Karl  Hermann  Wolf, 
Reichsraths-  und  Landtagsabgeordneter  in  Wien,  VII. 
Kandlgasse  4,  erhebe  gegen  1.  Anton  Karl  Wüst,  am 
11.  Januar  1863  in  Prag  geboren,  nach  Weitentrebetisch 
zuständig,  evangelisch,  verheirathet,  Schriftleiter  und 
Herausgeber  der  „Nationalen  Zeitung"  in  Saaz,  bereits 
vorbestraft,  2.  Fritz  Kränzle,  am  12.  Februar  1844 
in  Dillingen  (Bayern)  geboren,  dahin  zuständig,  katho- 
lisch, verehelicht,  Buchdrucker  in  Saaz,  3.  Dr.  Wil- 
helm Feistner,  am  16.  November  1854  in  Wartenberg 
geboren,  dahin  zuständig,  katolisch,  verheirathet,  ver- 
antwortlicher Redakteur  der  „Reichenberger  Zeitung" 
in  Reichenberg,  bereits  vorbestraft,  4.  Wilhelm  Stiepel, 
am  24.  März  1854  in  Prag  geboren,  nach  Reichenberg  zu- 
ständig, evangelisch,  Buchdruckereibesitzer  in  Reichen- 
berg, wiederholt  abgestraft,  5.  Dr.  Anton  Schalk,  am 
23.  Mai  1869  geboren,  dahin  zuständig,  evangelisch, 
ledig,  Reichsraths- und  Landtagsabgeordneter,  in  Wien 
VII.,    Sieben stern g9*~-   QO     -orbestraft,    die   Anklage. 


319 


Der  Gerichtshof  bestand  aus:  Den  Vorsitz  führt  als 
Vorsitzender  OLGR.  Dr.  Balling,  als  Votanten  fun- 
giren  LGR.  Strausä  und  Dr.  Pittner,  als  Ersatzrichter 
LGR.  Müller,  als  Schriftführer  Auskultant  Dr.  Feig. 
Dem  Namen  nach  zu  schliessen,  mag  wohl  Auskultant 
Dr.  Feig  Hebräer  sein.  Landesgerichtsrath  Strauss  über- 
häufte den  Wolf  während  des  ganzen  Processes  mit 
seinem  Wohlwollen.  Es  ist  bekannt,  dass  ein  beträch- 
tlicher Procentsatz  der  deutschen  Staatsbeamten  in 
Oesterreich  Schoenerianisch  oder  Wolfianisch  gesinnt 
ist.  Schalk  sagte  beim  ersten  Zeugenverhör  über  Wolf 
unter  anderejn  folgendes  aus.  „Huber  habe  die  Ein- 
wendung erhoben,  dass  die  Affaire  Wolf-Seidel  eine 
gewöhnliche  Liebesaffaire  gewesen  wäre  und  in  dem 
unglücklichen  Eheleben  Wolfs  begründet  sei.  Um 
dieser  Behauptung  entgegenzutreten,  habe  der  Ange- 
klagte erklärt,  dass  ein  Verschulden  an  dieser  un- 
glücklichen Ehe  die  Frau  Karl  Hermann  Wolfs  nicht 
treffen  könne.  Die  ehelichen  Verhältnisse  lägen  bei 
Weitem  nicht  so,  wie  in  der  Öffentlichkeit  besprochen 
wurde,  und  wenn  die  Ehe  wirklich  eine  unglückliche 
wäre,  so  sprechen  Thatsachen  dafür,  dass  dies  auf 
Verschulden  Wolfs  zurückzuführen  sei."  Der  Ange- 
klagte fährt  dann  weiters  fort:  „Ich  wies  darauf  hin, 
dass  alle  erotischen  Abenteuer  von  Wolf  mit  dem 
Hinweise  auf  seine  unglückliche  Ehe  eingeleitet  wur- 
den. Daflials  hiess  es  thatsächlich  auch,  dass  Wolf 
das  Geld  mit  vollen  Händen  ausgebe,  während  seine 
Frau  Mangel  leide,  dass  es  sogar  vorgekommen  sei, 
dass  er  verlangtes  Geld  seiner  Ffau  vor  die  Füsse 
geworfen  hätte.  Dass  er  seine  Frau  geschlagen  habe, 
habe  ich  nie  behauptet.  Das  bestreite  ich.  Ich  habe 
aber  erklärt,  dass  bei  dem  Charakter  des  Gegners  es 
leicht  möglich  sei,  dass  er  auch  im  Stande  sei,  seine 
Frau  gegebenen  Falles  zu  schlagen.  Das  Gespräch 
kam  dann  auf  das  Verhältniss  Wolfs  zu  Fräulein 
Tschan,  jetzt  verehelichte  Frau  Professor  Seidel.  Da 
sagte  ich:  Wenn  das  Verhältniss  wirklich  aus  der 
Leidenschaft  entsprungen  ist,  so  müsste  man  Nach- 
sicht haben.  Aber  auch  wenn  es  eine  schöne  ideale 
Liebe  gewesen  wäre,  auch  dann  hätte  die  alldeutsche 
Vereinigung  die  Pflicht  gehabt,    Stellung  dagegen  zu 


320 


nehmen  und  Karl  Hermann  Wolf  aus  der  Vereinigung 
auszuschliessen.  Ich  habe  aber  bestritten,  dass  von 
einer  sittlich  ethischen  Leidenschaft  die  Rede  sein 
kann.  Sowie  Wolf  sich  im  Falle  Seidel  benommen 
hat,  so  hat  er  es  auch  in  den  anderen  Fällen  gemacht. 

Der  Angeklagte  führt  diesbezüglich,  ohne  einen 
Namen  zu  nennen,  einen  Fall  an  und  bemerkt,  dass 
er  für  seine  Behauptung  den  Beweis  in  Gestalt  eines 
Liebesbriefes  in  Händen  habe.  Der  Privatankläger 
habe  dem  Angeklagten  selbst  erzählt,  er  habe  an- 
lässlich einer  Versammlung  in  Bischofteinitz  Bezie- 
hungen zu  einem  Mädchen  angeknüpft  Dr.  Schalk 
solle  ihm  das  nicht  weiter  übel  nehmen,  nach  den 
Aufregungen  einer  politischen  Versammlung  bedürften 
seine  Sinne  immer  einer  Auflösung.  Dass  der  Ange- 
klagte aber  erklärt  habe,  der  Privatankläger  habe  ein 
Mädchen  im  juristischen  Sinne,  im  Sinne,  des  Gesetzes 
vergewaltigt,  sei  unwahr.  Ich  habe  —  sagt  Dr.  Schalk 
—  ausdrücklich  erklärt,  dass  von  einer  Vergewaltigung 
im  juristischen  Sinne  nicht  gesprochen  werden  könne. 
Darum  habe  es  sich  auch  gar  nicht  gehandelt. 

Der  Zeuge  Dr.  Huber  sagte  über  Wolf  folgendes. 
Dr.  Adolf  Huber  gibt  bei  Abnahme  der  Generalien 
an,  dass  er  28  Jahre  alt,  altkatolisch  und  Schriftleiter 
in  Linz  ist.  Ueber  das  Gespräch  lässt  er  sich  folgender- 
massen  vernehmen :  Es  war  am  25.  Februar  d.  J.,  da 
kam  Dr.  Schalk  zu  einer  Besprechung  der  alldeutschen 
Partei  nach  Linz,  der  nicht  ich  beigewohnt  habe, 
sondern  Schriftleiter  Sträucher.  Dieser  erzählte  mir 
nun  nachher,  es  seien  da  schreckliche  Dinge  über 
Wolf  ausgesagt  worden.  Es  wäre  die  Rede  gewesen 
von  Vergewaltigung  und  Wechselfälschungen.  Später 
leistete  ich  einer  Einladung  Dr.  Schalks  zu  einer  Kon- 
ferenz über  eine  private  Unternehmung  Folge.  Herr 
Schalk  erörterte  u.  A.  den  Plan  der  Gründung  eines 
alldeutschen  Tagblattes.  Er  kam  auch  auf  Wolf- 
Affairen  zu  sprechen,  deren  Details  schon  längst  vor- 
her in  allen  Blättern  zu  lesen  waren.  Dr.  Schalk 
äusserte  sich  nun  zu  mir,  dass  es  ausser  diesen  be- 
reits bekannten  Fällen  noch  einige  ganze  Menge 
schmutziger  Weibergeschichten  gebe.  Bei  einer  Ver- 
sammlung in  Bischofteinitz  sei  Wolf  mit  einem  Mäd- 


321 


chen  verschwunden;  dieses  Mädchen  habe  sich  dann 
an  Dr.  Schalk  gewendet  und  diesem  mitgetheilt,  dass 
Wolf  sie  zu  einem  unsittlichen  Akte  gezwungen 
habe.  Diesen  Brief  hätte  er  (Dr.  Schalk)  im  Besitze. 
Weiter  wurden  die  schlechte  Geldwirthschaft  und  die 
Bilanzfälschungen  in  der  „Ostdeutschen  Rundschau" 
erörtert.  Auch  auf  die  Familienverhätnisse  K.  H. 
Wolfs  kam  die  Rede.  Es  wurde  erzählt,  Wolf  brauche 
eine  ganze  Menge  Geld  fürs  Haus,  6000  fl.  wurden 
genannt,  Wolf  werfe  seiner  Frau  das  Haushaltungs- 
geld in  einzelnen  Geldstücken  vor  die  Füsse.  Dann 
erzählte  Dr.  Schalk  noch  einige  intime  Vorgänge.  Die 
Bilanzfälschungen  könnten  unmöglich  ohne  Wolfs 
Wissen  vollzogen  worden  sein.  Dann  wurden  auch  die 
Wechselfäschungen  zur  Sprache  gebracht.  Dr.  Schalk 
brachte  Gerstgrasser  damit  in  Verbindung;  dessen 
zweifelhafte  Persönlichkeit  könne  Wolf  nicht  un- 
bekannt gewesen  sein,  denn  Wolf  soll  sich  geäussert 
haben :  Diesen  Kerl  könnte  ich  ins  Kriminal  bringen. 
Warum  thut  das  Wolf  nicht?  Die  Frage  Dr.  Rosas, 
ob  Schalk  auch  grundlos  andere  Personen  verdächtigt 
habe,  verneint  der  Zeuge. 

Dann  wurde  Schriftleiter  Quido  List  vorgenommen. 
Seine  Aussage  erregt  Sensation  theils  durch  ihren 
Inhalt,  theils  durch  die  Fragen,  die  Wolf  daran  knüpfte. 
Der  Zeuge  sagte  aus:  Die  Sache  ist  ziemlich  lange 
her.  Ich  habe  ihr  damals  keine  Bedeutung  beigelegt. 
Einmal  kam  Schaufler  zu  mir  und  erzählte,  er  habe 
mit  einem  russischen  Staatsrathe  gesprochen,  der  ein 
Blatt  suchte,  das  Propaganda  für  die  Einführung 
russischen  Getreides  machen  würde.  Er  stellte  dafür 
eine  Subvention  von  30.000  fl.  in  Aussicht.  Ich  war 
damals  ein  intimer  Freund  von  Wolf  und  kannte 
seine  Geldangelegenheiten.  Ich  dachte,  ich  könnte  ihm 
damit  helfen,  und  schrieb  ihm  die  Sache  in  einem 
Briefe,  der  die  Aufschrift  „ Persönlich!"  trug.  Darauf 
kam  zuerst  Redakteur  Sedlak  zu  mir,  dem  gegenüber 
ich  mich  sehr  reservirt  verhielt.  Ich  fragte  ihn,  wie 
er  dazu  komme  den  Brief  zu  öffnen,  und  er  antwor- 
tete, dass  er  geglaubt  habe,  es  handle  sich  um  ein 
Feuilleton.  Dann  bin  ich  mit  Wolf  zusammengetroffen 
und  er  sagte  mir  nach  einigem  Nachdenken,  das  wäre 

21 


322 

zwar  kein  Verbrechen,  aber  es  müsste  geheim  bleiben. 
Dann  hat  Wolf  mit  Schaufler  darüber  gesprochen.  Er 
sagte  mir  noch  bei  der  Unterredung:  Du,  wenn  die 
Sache  zu  Stande  kommt,  will  ich  Dir  fürstliche  Hono- 
rare zahlen.   (Bewegung.)   Dr.  Rosa:  Woher  wissen 
Sie   denn,   dass  Wolf  mit  Schaufler   gesprochen  hat. 
Zeuge:  Wolf  hat  es  mir  selbst  gesagt.  Dr.  v.  Berger: 
Sagen  Sie  mir  nochmals  genau,  was  Ihnen  Wolf  gesagt 
hat.  Zeuge:   Er  hat  mir  gesagt,   er  sieht  nichts  Un- 
rechtes   darin,   aber   nachdem   er   von   allen    Seiten 
beobachtet  werde,  müsse  er  sich  sehr  in  Acht  nehmen. 
Für   sich   brauche  er  das    Geld  nicht,   aber  es  wäre 
ihm    lieb,    wenn  er   seine    Familie   besser  ernähren 
könnte.  (Neuerliche  Bewegung.)  Ueber  die  Geldwirth- 
schaft  in   der   „Ost.  Rundschau"  gibt  Zeuge  Dr.  Ba- 
reuther  an,  dass  die  „Ostdeutsche  Rundschau"  öfters 
in    Geldknappheit    war.     Es    wurden    auch    wieder- 
holt Sanirungsaktionen  zur  Verbesserung  der  Verhält- 
nisse  eingeleitet.    Dabei   wurde   aber   die  Bedingung 
aufgestellt,  dass  die  Geschäftsgebarung  unter  Kontrole 
gestellt  werde.     Darauf  ging  aber  Wolf  nicht  ein,  da 
er  fürchtete,  seine  Selbstständigkeit  verlieren  zu  können. 
Eine  derartige  Aktion  ist  auch  im  Frühjahre  unter- 
nommten  worden,   aber  sie  führte  zu  keinem  Resul- 
tate.   Auf  Anregung  des  Verwalters  Gutmann  wurde 
nämlich  eine  Versammlung  einberufen,  welche  erklärte, 
dass  eine  künftige  Sanirung  nur  durch  Umwandlung 
der  „Ostdeutschen  Rundschau"  in  eine  Genossenschaft 
möglich  sei.  Es  wurde  ein  Komite  eingesetzt,  welches 
Wolf,    der   an    dieser  Versammlung  nicht  theilnahm, 
von   den   gefassten  Beschlüssen    in  Eenntniss  setzte. 
Gerstgrasser,    Administrator    der   „Ost.   Rundschau*" 
gibt  an,  dass  Wolf  in  diesem  Blatte  monatlich  125  fl, 
dann  Quartiergeld   und   Agitationspesen,   im   Ganzen 
nicht  über  200  fl.  hatte. 

Wenn  man  noch  hinzurechnet  die  Gelder,  welche 
Wolf  als  Reichsrath-  und  Landtagsabgeordneter  be- 
kommt, die  sicherlich  jährlich  über  2000  Gulden  aus- 
machen, ersehen  wir,  dass  für  Wolf  die  Politik  kein 
schlechter  Erwerb  ist.  Der  Prokurist  der  Firma  Schoeller 
Herr  Gniess  gab  an,  dass  das  Zuckerkartell  für  die 
„Ost.  Rundschau"  ein  jährliches  Pauschale  von  4000 


323 


Kronen  festgesetzt  habe.  Wolf  gab  zu,  dass  sein  Organ 
vom  Zuckerkartell  im  Ganzen  1200  Krönen  erhalten 
hat.  Nun  kam  im  Processe  die  heisse  Stunde  für 
Wolf.  Es  sollte  der  Ehebruch  mit  der  Frau  des  Prof. 
Seidel  gerichtsmässig  zur  Verhandlung  kommen.  Dr. 
Berger  sagte:  Abg.  Wolf  hat  sich  mit  der  Tochter 
eines  Gesinnungsgenossen,  mit  der  Frau  eines  Partei- 
genossen, in  ein  intimes  Verhältniss  eingelassen.  Er 
ist  als  Brautzeuge  gestanden,  wo  er  sich  des  schweren 
Verbrechens  gegen  die  Sittlichkeit  bewusst  war.  Durch 
seine  Handlungsweise  ist  seiner  Partei  ein  grosser 
Schade  zugefügt  worden  und  alle  Blätter  des  In-  und 
Auslandes  haben  diese  Affaire  ausführlich  besprochen. 
Es  ist  darüber  in  der  breitesten  Oeffentlichkeit  ge- 
sprochen worden,  es  wurde  die  Sache  an  die  grosse 
Glocke  gehängt,  es  entfällt  daher  der  Einwand  des 
Gesetzes,  dass  der  Wahrheitsbeweis  für  private  und 
Familienangelegenheiten  nicht  zulässig  sei.  Er  spricht 
sich  für  die  Zulässigkeit  des  Wahrheitsbeweises  auch 
noch  insofern  aus,  als  ja  diese  Angelegenheit  der 
eigentliche  Kern  der  Sache  sei  und  alles  Andere  nur 
begleitende  Umstände  seien.  Es  sprechen  alle  Gründe 
dafür,  dass  diese  Angelegenheit  durchgeführt  werde. 
Dr.  Rosa,  der  Vertheidiger  Wolfs  spricht  sich 
gegen  die  Zulassung  des  Wahrheitsbeweises  aus,  nicht 
etwa  weil  sich  sein  Klient  fürchte,  dass  diese  Ange- 
legenheit hier  erörtert  werde.  Er  ist  der  sicheren 
Ueberzeugung,  dass  es  seinen  Gegnern  nicht  gelingen 
werde,  den  Beweis  für  die  in  der  Broschüre  ausge- 
sprochenen Beschuldigungen  zu  erbringen.  Mein  Klient 
will  lieber  Unrecht  leiden,  ehe  er  als  Mann  einem 
Weibe  gegenüber  als  Angreifer  erscheint  Das  ist  der 
eine  Grund,  warum  wir  gegen  diesen  Punkt  der 
Broschüre  keine  Anklage  erhoben  haben.  Ein  weiterer 
Grund  hiefür  ist,  das  es  auf  Grund  der  heutigen  Ehr- 
begriffe üblich  ist,  eine  Angelegenheit  als  abgethan 
zu  betrachten,  wenn  man  für  ein  Vergehen  Genug- 
thuung  geboten  und  sein  Leben  aufs  Spiel  gesetzt 
hat.  Wolfs  Vergehen  motivirt  aber  deshalb  noch  immer 
nicht  den  Begriff  der  Ehrlosigkeit,  denn  man  kann 
dies  nur  von  einem  Weibe  sagen,  wenn  sich  dieses 
preisgibt,  von  einem  Manne  jedoch  nicht,    der  sonst 

21* 


324 


seine  Pflicht  erfüllt.  Es  heisst  nicht  umsonst:  Wer 
nicht  liebt  Wein,  Weib  und  Gesang,  der  bleibt  ein 
Narr  sein  Leben  lang.  Vom  Standpunkte  der  Moral 
wird  mau  sagen :  Das  gehört  sich  nicht,  man  kann 
aber  deshalb  einen  Menschen  nicht  für  ehrlos  erklären. 
Nur  dann  könne  der  Wahrheitsbeweis  zugelassen 
werden,  wenn  Wolf  selbst  diese  Angelegenheit  in  die 
Oeflfentlichkeit  gezerrt  hätte,  aber  nicht,  wenn  er  ein- 
sieht, dass  er  gefehlt  habe,  und  erst  dann  in  dieser 
Angelegenheit  in  die  Oeffentlichkeit  getreten  ist,  als  er 
gezwungen  war,  unwahren  Gerüchten  entgegenzutreten. 
Der  Kern  der  ganzen  Sache  ist  der  Kampf  zweier 
politischer  Parteien,  und  das  soll  geeignet  erscheinen, 
dass  eine  Mutter  gegen  ihr  Kind  im  Gerichtssaale 
aussagen  soll?  Das  kann  und  darf  nicht  geschehen. 
Es  sei  sehr  bedauerlich,  dass  hier  ein  Kampf  geführt 
werde,  der  eine  politische  Persönlichkeit  wie  Wolf 
vernichten  soll.  Man  lasse  es  darauf  ankommen, 
dass  Personen  in  ihren  heiligsten  Gefühlen  verletzt 
werden,  (mit  erhobener  Stimme)  dass  eine  Frau  ihre 
Schande  eingestehen  soll,  weil  Herr  Dr.  Schalk  frei- 
gesprochen werden  will.  Das  kann  nicht  sein  und 
wäre  im  Widerspruche  mit  dem  Gesetze.  Der  einzige 
Richter  in  dieser  Sache  waren  seine  Wähler,  und  die 
haben  mit  Begeisterung  durch  die  Wiederwahl  Wolfs 
zu  erkennen  gegeben,  dass  sie  ihn  nicht  verdammen. 
Dr.  Rosa  bittet  daher  die  gestellten  Beweisanträge 
abzulehnen. 

Nun  ergriff  auch  Wolf  für  seine  Person  das  Wort. 
Hoher  Gerichtshof !  Meine  Herren  Geschworenen  !  Die 
Peinlichkeit,  welche  die  Erörterung  des  in  Frage 
stehenden  Falles  für  mich  hat,  entspricht  nicht  der 
Befürchtung,  dass  durch  die  Darlegung  derselben 
der  mir  gemachte  Vorwurf  begründet  und  erwiesen 
wird,  sondern  der  Befürchtung,  dass  wir  Zeugen  von 
Scenen  werden,  wo  die  Mutter  die  Tochter  beschul- 
digt, der  Mann  gegen  die  mitschuldige  Dame  auftritt. 
Und  so  müsste  ich  bei  der  Peinlichkeit,  die  es  für 
mich  hat,  in  diesem  Punkte  mich  dadurch  verthei- 
digen,  dass  ich  nach  einer  Seite  hin  anklage,  der 
gegenüber  ich  als  Mann  schonend  vorgehen  sollte. 
Diese  Peinlichkeit    wird  jeder  anständige   Mann  be- 


325 


greifen,  vielleicht  Erleichtert  es  das  ganze  Verfahren, 
vielleicht  den  Beschluss  des  Gerichtshofes,  als  auch 
die  Schöpfung  eines  Urtheiles,  wenn,  ich  die  Erklä- 
rung abgebe:  Ich  habe  in  dieser  Sache  gefehlt.  Ich 
weiss,  dass  ich  gegen  die  allgemein  üblichen  Grund- 
sätze, gegen  die  Anschauungen  der  Moral  gefehlt 
habe,  gefehlt  in  der  Aufwallung  und  Erregung  sinn- 
licher Leidenschaft.  Es  war  dies  eine  Verwirrung, 
die  gewiss  nicht  zu  entschuldigen  ist,  gegen  die  nur 
solche  als  Kläger  auftreten  können,  die  sich  salbst 
makellos  und  rein  fühlen.  In  der  Bibel  steht:  Wer 
sich  rein  fühlt  und  ohne  Schuld,  der  werfe  den 
ersten  Stein.  Ich  weiss  nicht,  wer  von  uns  Anwesen- 
den, ich  weiss  nicht,  ob  der  Verfasser  der  Broschüre 
berufen  ist,  den  ersten  Stein  gegen  mich  zu  schleu- 
dern. Ich  gestehe  es,  dass  ich  es  tief  bedauere,  nicht 
deshalb,  weil  ich  dadurch  Nachtheile  erlitten  habe, 
sondern  aus  politischen  Gründen  bedauere  ich  es.  Es 
geschah  dies  zu  einer  Zeit,  in  welcher  wir,  böhmische 
Abgeordnete,  in  stürmischen  Zeiten  uns  befanden, 
wo  wir  den  czechischen  Pöbelmassen  ausgesetzt  waren. 
Da  eilte  ich  von  Versammlung  zu  Versammlung, 
meine  Leidenschaften  waren  entflammt  und  die  Ver- 
sucher waren  in  mannigfacher  Form  an  mich  her- 
angetreten. Ich  habe  gefehlt.  Ich  weiss  nicht,  ob  nicht 
auch  ein  Stärkerer  unterlegen  wäre.  Eine  Verführung 
im  strafgerichtlichen  Sinne  liegt  nicht  vor.  Es  war 
keine  Verführung;  auch  das  Alter  der  beiderseitigen 
Personen  lässt  das  als  ausgeschlossen  erscheinen.  Es 
war  auch  keine  Verletzung  des  Gastrechtes,  denn  den 
Vater  der  Dame  habe  ich  nur  oberflächlich  kennen 
gelernt:  von  intimen  freundschaftlichen  Beziehungen 
war  damals  noch  gar  nicht  die  Rede.  Ich  bin  erst 
nach  diesem  traurigem  Fall  mit  dem  Vater  der  Dame 
bekannt  geworden  und  wurde  mit  ihm  später  in 
einer  Weise  befreundet,  dass  ich  es  ohne  Weiteres 
über  mich  bringen  konnte,  von  dem  betreffenden 
Herrn  ein  Darlehen  für  die  „Ostdeutsche  Rundschau" 
anzunehmen. 

Wolf  beruft  sich  darauf,  dass  er  sich  sittlich  in 
einer  Zeit  vergangen  habe,  wo  die  deutsch-böhmischen 
Abgeordneten    in  stürmischen   Zeilen    sich  befanden, 


326 


wo  sie  den  czechischen  Pöbelmassen  ausgesetzt  waren. 
Hier    hat    Wolf   auf   die  Geschworenen    eingewirkt 
dass   sie    ihm    das   Sittlichkeitsverbrechen   als     dem 
Vorkämpfer  und  Helden   des  deutschen  Volkes  nicht 
anrechnen  dürfen.  Das  böhmische  Volk  als  solches  hat 
sich  mit  der  Person  des  Wolf  noch  nirgends  abgegeben 
und    soll    es   nun    als   Sündenbock   für  alldeutsche 
Schweinereien    dienen!     Wolf    hat    vergessen    dem 
Schwurgerichte  mitzutheilen,   dass  ihm  zum  Schutze 
seiner   Person   während   der  Landtagsession  in  Prag 
2  Geheimpolizisten  zugegeben  waren,  die  ihn  überall 
folgten,   und  als   sie  sahen,   dass  Wolf  mit  Vorliebe 
solche   Gassen   der   ehemaligen    Judenstadt   in    Prag 
aufsuche,  wo  verrufene  Lupanare  dicht  neben  einander 
sind,  haben  sich  die  Geheimpolizisten  um  Wolf  nicht 
mehr  gekümmert,  sie  wussten,  er  sei  gut  aufgehoben. 
Dr.  Schalk  erwiderte,  Wolf  habe  hier  weitschweifig 
Dinge  enthüllt,  über  welche  er  angeblich  den  Schleier 
ziehen  wollte.  Was  er  vorgebracht  hat,  sind  Entschul- 
digungen führ  ihn,  und  Beschuldigungen  für  Jene,  die 
er   vernichtet   hat.     Es   geht   hier   nicht,    dass     man 
Grenzen     zwischen    privater    und    öffentlicher     Ehre 
zieht.     Wer  als  Privatmann    keine  Ehre    hat,  der    ist 
auch  nicht  berufen  im   öffentlichen  Leben  eine  Rolle 
zu  spielen. 

Der  Gerichtshof  entschied,  dass  der  Fall  Wolf- 
Seidel  in  die  Verhandlung  nicht  hineingezogen  wurde. 
Der  Berichterstatter  des  „Pr.  Tagblat"  schreibt  von 
Brüx  aus  am  1.  Dezember.  Abg.  Schönerer  wird  morgen 
nicht  bei  der  Verhandlung  erscheinen.  Der  Wiener 
Arzt  Dr.  Pilz  hat  dem  Abg.  Schönerer  ein  Zeugniss 
ausgestellt,  nach  welchem  dieser  an  einem  akuten 
Bronchialkatarrh  erkrankt  und  in  Folge  dessen  am 
Erscheinen  im  Gericht ssaale  verhindert  ist.  Die  Ver- 
treter des  Abg.  Wolf  und  Dr.  v.  Berger  als  Vertreter 
der  beiden  Angeklagten  Schalk  und  Wüst  haben  sich 
daraufhin  in  einer  gemeinsamen  Konferenz  mit  dem 
Vorsitzenden  LGR.  Balling  dahin  geeinigt,  selbst  von 
der  Einvernahme  des  Abg.  Schönerer  im  Requisitions- 
wege abzusehen.  Hiedurch  ist  dem  Angeklagten  Dr. 
Schalk  ein  Zeuge  entgangen,  von  dessen  Aussagen  er 
sich    einen    schwerwiegenden   Eindruck    versprochen 


327 


hatte.  Für  den  morgigen  Tag  ist  überdies  seitens  der 
Angeklagten  eine  Reihe  von  Alldeutschen  und  seitens 
des  Klägers  eine  Anzahl  ostdeutscher  Abgeordneter 
und  Parteigänger  zur  Zeugenaussage  vorgeladen.  Von 
diesen  sind  auch  die  meisten  in  Brüx  bereits  einge- 
troffen. Auf  die  Einvernahme  des  Abg.  Beurle,  der 
krankheitshalber  nicht  erscheinen  kann,  haben  beide 
Parteien  verzichtet.  Es  verlautet,  dass  heute  mit  dem 
Druckereibesitzer  der  Saazer  „Nationalen  Zeitung", 
der  neben  dem  Landtagsabg.  Wüst  wegen  des  Ab- 
druckes der  Broschüre  angeklagt  ist,  ein  Ausgleich 
auf  einer  ähnlichen  Grundlage  zu  Stande  gekommen 
ist  wie  mit  Dr.  Feistner  und  Herrn  Stiepel  von  der 
j,Reichenberger  Zeitung".  Von  den  ursprünglich  fünf 
Angeklagten  bleiben  demnach  bloss  Dr.  Schalk  und 
Landtagsabg.  Wüst  übrig.  Morgen  wird  die  russische 
Bestechungsaffaire  noch  zur  Verhandlung  gelangen. 
Der  Kronzeuge  Schaufler  verlangte  einen  Vorschuss 
von  100  K,  der  ihm  auch  bewilligt  wurde.  Ausserdem 
sind  die  bereits  einvernommenen  Zeugen  Lisst,  Flis- 
singer  und  der  Bruder  des  Angeklagten  Schalk,  der 
Wiener  Buchhändler  Friedrich  Schalk,  vorgeladen, 
um  mit  Schaufler  konfrontirt  zu  werden.  Dr.  v.  Berger 
hat  wegen  Ablehnung  seines  Beweisantrages  in  der 
Affaire  Seidel  die  Nichtigkeitsbeschwerde  eingebracht. 
Damit  war  auch  Dr.  Schalk  verrathen  und  verloren. 
Schönerer  hatte  ihn  zum  Process  aufgestachelt  und 
ihn  dann  im  Stiche  gelassen.  Die  Krankheit  hat  Schö- 
nerer simulirt.  Ueber  Wolfs  politische  Haltung  sagte 
Dr  Berger,  dass  sich  darüber  wenig  vorbringen  lasse. 
Trotz  des  weitgehendsten  Entgegenkommens  der  all- 
deutschen Vereinigung  und  Schönerers,  der  sich  stets 
-ihm  als  uneigennütziger  Freund  gezeigt  habe,  habe 
Wolf  stets  aus  eigennützigen  und  selbstsüchtigen  Grün- 
den etwas  zu  erzwingen  gewusst,  —  trotz  derUeber- 
zeugung,  dass  er  dadurch  der  von  ihm  vertretenen 
Sache  einen  empfindlichen  Schaden  zufügen  könnte. 
Der  beste  Beweis,  dass  er  die  nationale  Begeisterung  nur 
ausgenützt  habe  und  dass  er  nicht  nur  nach  seinen  glän- 
zenden Reden  beurtheilt  werden  solle,  sei,  dass  er 
nach  einer  Bismarckfeier,  bei  der  eine  Stunde  vorher 
das  hohe  Lied  der  Begeisterung  gesungen,    in  einem 


328 

öffentlichen  Lokale  unzuchtige  Handlungen  begehen 
konnte.  Zu  Wolf  gewendet  sagte  Dr.  Berger :  Sie 
waren  der  Mephisto  der  Partei.  Zeuge  Abgeordneter 
Stein  erläutert  ausführlich,  dass  schon  im  Jahre  1895 
zwischen  ihm  und  Wolf  ein  Streit  ausgebrochen  ist, 
weil  Wolf  damals  ein  Wahlkompromiss  mit  den 
Christlich-Socialen  eingehen  wollte.  Eine  Folge  dieser 
Verstimmung  war  auch  der  Rücktritt  Schönerers.  Gleich 
nach  den  Reichsrathswahlen  im  Jahre  1899  hat  es 
geheissen,  dass  eine  Spaltung  im  Alldeutschen  Lager 
bevorstehe.  Er  (Zeuge)  habe  sich  daraufhin  in  die 
„Ostdeutsche  Rundschau"  begeben  und  dortmit  Schalk, 
den  er  dort  antraf,  im  Einverständnisse  mit  Wolf  eine 
Briefkastennotiz  veröffentlicht,  in  welcher  Wolf  unter 
seinem  Namen  dieses  Gerücht  energisch  widerruft. 
Der  Zeuge  erzählt  weiter,  dass  die  politische  Hal- 
tung Wolfs  immer  bedenklich  war.  Wolfs  Haltung 
war  immer  bedenklich,  weil  es  die  alldeutsche  Ver- 
einigung für  unmöglich  hielt,  gegen  die  Liguori-Moral 
aufzutreten,  solange  sie  Wolf  in  ihrer  Mitte  hatte. 
Wolf:  Auf  wessen  Vorschlag  haben  Sie  das  Mandat 
in  den  Landtag  erhalten  ?  Stein :  Ich  war  dort  bereits 
sehr  beliebt  und  allseitig  aufgefordert  worden,  zu 
kandidiren.  Wolf:  Sie  sind  auf  meinen  Vorschlag  hin 
gewählt  worden.  Stein :  Das  ist  nicht  wahr.  Uebrigens 
haben  Sie  damals  zu  Zwecken  der  Agitation  1000  Mark 
aus  Hamburg  bekommen  und  mir  nur  50  fl.  gegeben. 
Wolf  springt  erregt  auf  und  ruft:  Das  ist  nicht  wahr. 
Ich  habe  diese  Summe  für  die  gesammte  Wahlbewe- 
gung erhalten.  Sie  zeihen  mich  hier  der  Unterschla- 
gung. Warum  haben  Sie  denn  das  nicht  für  die  Bro- 
schüre Schalks  verwendet? 

Das  ist  eine  sehr  wichtige  Etappe  im  Bruxer 
Process.  Hier  liegt  es  offen,  dass  die  Alldeutschen 
Oesterreichs  mit  reichsdeutschen  Unterstützungen 
ihre  Agitationen  unternehmen.  Die  Hofrathe  in  Wien 
spielen  hier  die  Politik  des  Vogel  Strauss. 

Am  6.  Dezember  wurde  das  Beweisverfahren  ge- 
schlossen. 

Der  Vertheidiger  Dr.  Schalks,  Advokat  Dr.  Berger 
sagte  unter  anderem  Folgendes:  Keine  Partei  kann 
und    darf  das   Verschulden    eines   Mitstreiters,    und 


329 


stünde  er  noch  so  hoch,  übersehen,  ohne  sich  selbst 
herabzuwürdigen.  Der  Kampf  gegen  den  Klerikalis- 
mus und  gegen  die  Liguori-Moral  ist  eine  der  wich- 
tigsten Aufgaben  unserer  Partei.  „Hütet  Eure  Frauen 
und  Mädchen  vor  den  Liguori-Pfaffen",  rief  Herr 
Wolf  erst  vor  Kurzem  im  Parlamente  aus.  Die  all- 
deutsche Partei  wäre  zum  Gespötte  aller  Uebrigen 
geworden,  wenn  sie  durch  Herrn  Wolf  diesen  Schlacht- 
ruf fortan  ertönen  Hesse.  „Hütet  vor  Allem  Eure 
Frauen  und  Töchter  vor  Wolf",  hätte  geantwortet 
werden  können.  Dies  konnte  sich  Herr  Wolf  selbst 
sagen  und  es  wurde  ihm  von  allen  seinen  Freunden 
in  allen  Tonarten  vorgehalten.  Wolf  beharrte  jedoch 
bei  seinem  Entschlüsse  trotz  der  höchst  derben  und 
eindringlichen  Mahnung,  die  ihm  durch  den  Beschluss 
der  alldeutschen  Vereinigung  zutheil  wurde  Er  wusste, 
dass  bei  jener  Sitzung  die  näheren  Umstände  des 
Falles  Seidel  zur  Kenntniss  gebracht  worden  waren 
und  bei  allen  seinen  bisherigen  Verbandsgenossen 
den  tiefsten  Eindruck  hinterlassen  hatten.  Er  selbst 
habe  sich  dadurch  in  die  Zwangslage  versetzt,  seine 
politische  und  damit  auch  wirtschaftliche  Existenz 
auf  den  Trümmern  seiner  bisherigen  Partei  aufzu- 
bauen. Damit  war  aber  auch  für  seine  bisherigen 
Kampfgenossen  die  Notwendigkeit  gegeben,  gegen 
ihn  Stellung  zu  nehmen.  Wolf  hielt  eine  lange  Rede ; 
unter  Anderem  sagte  er:  Ich  habe  nicht  gerade  ein 
ruhiges  Leben  geführt ;  die  Umstände  der  Zeit,  in  der 
ich  lebte,  brachten  es  mit  sich,  dass  mein  Leben 
stürmisch  war,  dass  darin  die  Leidenschaft  eine 
grössere  Rolle  spielte,  als  es  sonst  vorkommt  und 
ich  strauchelte.  Ich  strauchelte  auf  einem  Gebiete, 
auf  welchem  wir  alle  sterblich  sind  und  es  werden 
auf  diesem  Gebiete  nur  wenige  ganz  Gute  und  ganz 
Reine  sein,  die  sich  als  Richter  aufwerfen  dürfen. 
Ich  habe  diesen  Fehler  offen  eingestanden,  nicht  dass 
ich  mich  im  Büsserhemde  vor  die  Kirchenthüre  ge- 
setzt hätte.  Ich  habe  das  Ganze  in  mir  niedergerungen 
und  mit  meinem  Weibe  ausgemacht  und  der  Gesell- 
schaft habe  ich  Sühne  gegeben  nach  den  in  unseren 
Kreisen  üblichen  Begriffen,  indem  ich  mich  vor  die 
Pistole  meines  Gegners  stellte.    Dann  habe  ich  mein 


330 


Mandat  niedergelegt.  Ich  hatte  die  Absicht,  nie  mehr 
zu  kandidiren.  Von  den  Vertrauensmännern  meiner 
Wähler  wurde  mir  aber  mitgetheilt,  dass  sie  diesen 
Fehler  nicht  für  geeignet  halten,  mein  völliges  Aus- 
scheiden aus  dem  politischen  Leben  zu  begründen. 
Da  erklärte  ich  mich  bereit,  das  Mandat  wieder  an- 
zunehmen. Nach  dem  Vorfalle  hätte  man  noch  ein 
Bischen  geflüstert,  aber  in  einigen  Tagen  wäre  davon 
nicht  mehr  die  Rede  gewesen.  Das  aber  passte  ge- 
wissen Leuten  nicht  in  den  Kram,  denen,  von  wel- 
chen die  Worte  Schillers  im  „Gang  zum  Eisenhammer 
gelten:  „Es  nährten  früh  und  spat  den  Brand  die 
Knechte  mit  geschäftiger  Hand."  Das  war  ihnen  nicht 
recht,  die  mein  Verschwinden  aus  dem  öffentlichen 
Leben  wollten,  weil  ich  ihnen  im  Wege  stand.  In 
solchen  Sachen  sind  nur  wenige  berufen,  Richter  zu 
spielen,  denn  auf  sexuellem  Gebiete  sind  nur  wenige 
ohne  Fehl  und  „Richtet  nicht,  auf  das  Ihr  nicht  ge- 
richtet werdet  !u  steht  in  der  Bibel  und  es  gibt  nichts 
Scheusslicheres  als  das  Bild  ctes  Pharisäers,  der 
augenverdrehend  sagt :  „Herr,  ich  danke  Dir,  das  ich 
nicht  bin  wie  dieser  Zöllner."  Und  der  Heiland  nennt 
die  Pharisäer  übertünchte  Gräber.  In  wenigen  Tagen 
wäre  das  Gerede  verstummt,  aber  man  wollte  es  nicht 
zur  Ruhe  kommen  lassen.  Es  war  darauf  abgesehen, 
mich  zum  politischen  und  anderen  Krepirten  zu  brin- 
gen, wie  es  in  einer  Schrift  meiner  Gegner  heisst, 
mich  zum  Selbstmord  zu  treiben.  Dann  hätte  es  ge- 
heissen:  „Tragt  die  Leiche  weg.  Das  Spiel  kann 
weiter  gehen." 

Dr.  Schalk  sagte  unter  Anderem  folgendes:  Für 
mich  ist  die  Politik  kein  Gewerbe,  ich  habe  auch 
Ehre  und  Leben  ohne  Mandat  Nichts  ist  unwahrer, 
als  dass  vielleicht  das  Motiv  unseres  Kampfes  poli- 
tischer Neid  gewesen.  Sie  haben  hier  zugehört,  dass 
man  gegen  mich  vielleicht  in  gutem  Glauben  gehässig 
aussagte,  aber  Keiner  hat  sagen  können,  dass  ich 
gegen  Wolf  vielleicht  in  den  Versammlungen  gehässig 
gesprochen  habe.  Nicht  nur  ich,  sondern  auch  alle 
meine  Kollegen  haben  dasselbe  gethan,  weil  wir  den 
notwendigen  Rückzug  unseres  Kampfgenossen  decken 
wollten.     Dass  dieser  Rückzug  nothwendig   war,    hat 


331 


Wolf  selbst  eingesehen,  der  seine  Handlungen  als 
Schlechtigkeit  bezeichnete.  Es  handelt  sich  hier  nicht 
um  galante  Abenteuer,  obwohl  bei  einer  Partei  wie 
der  unseren  es  nothwendig  ist,  auf  sittlichem  Ge- 
biete vorwurfsfrei  zu  sein.  Das  Mandat  soll  ja  nicht 
nur  Rechte  geben,  sondern  auch  Pflichten.  Die  Pflicht 
vor  Allem,  dass  unser  Leben  unseren  Worten  ent- 
spreche. Es  wäre  peinlich  gewesen,  dass  einem  der 
Unserigen  eine  Entgleisung  passirt  wäre,  aber  das 
wäre  zu  verwinden  gewesen.  Was  aber  hier  geschah, 
war  keine  Entgleisung,  sondern  eine  That,  die  zur 
Ausscheidung  des  Thäters  aus  unseren'Reihen  führen 
musste.  Ich  glaube,  dass  keiner  von  Ihnen  Gemein- 
schaft mit  einem  Manne  halten  würde,  der  sein  Haus 
geschändet,  seine  Tochter  verführt  hat.  Auch  in  un- 
serer Gemeinschaft  konnte  ein  solcher  Mann  nicht 
verbleiben.  Wer  das  Eigene  nicht  rein  hält,  der  ist 
auch  nicht  berufen,  für  die  Ehre  seines  Volkes  ein- 
zutreten. Der  Gerichtshof  fällte  folgendes  Urtheil :  Das 
k.  k.  Kreisgericht  als  Schwurgericht  in  Brüx  hat  nach 
durchgeführter  und  heute  beendeter  Verhandlung  in 
Sachen  K.  H.  Wolf  gegen  Karl  Anton  Wüst  wegen 
des  Vergehens  der  Ehrenbeleidigung  und  gegen  Anton 
Schalk  wegen  Uebertretung  der  Ehrenbeleidigung 
nachfolgendes  Urtheil  gefällt:  Karl  Anton  Wüst  ist 
schuldig  des  Vergehens  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre 
nach  den  §§  5,  487,  488  und  491  des  St.-G.  und  wird 
nach  §  493  des  St.-G.  unter  Anwehdung  des  ausser- 
ordentlichen Milderungsrechtes  nach  den  §§  266,  261 
und  267  der  StPO.  zu  einer  Geldstrafe  von  1000  K, 
eventuell  20  Tagen  Arrest  verurtheilt.  Nach  dem  §  39 
des  PG.  ist  der  Schuldige  verpflichtet  das  Straferkennt- 
niss  nach  Rechtskraft  binnen  einer  Woche  an  der 
Spitze  nachstehender  Blätter:  „Nationale  Zeitung* 
und  „Deutsche  Bauernzeitung"  in  Saaz,  „Ostdeutsche 
Rundschau",  „Trautenauer Zeitung"  und  „Die Deutsche 
Volkswacht"  in  Teplitz  auf  seine  Kosten  zu  veröffent- 
lichen. Dr.  Anton  Schalk  ist  schuldig  der  Uebertre- 
tung gegen  die  Sicherheit  der  Ehre  nach  den  §§  5, 
487,  488,  489  und  491  des  StG.  und  wird  nach  §§ 
493  unter  Anwendung  der  §§  66,  267  und  261  der 
StPO.   zu    einer   Geldstrafe   von  800  K,  in  Nichtein- 


332 


bringungsfalle  zu  16  Tagen  Arrest  verurtheilt.  Wüst 
ist  schuldig,  die  Kosten  der  Geschworenenbank  zu 
tragen.  Die  Kosten  der  Parteienvertreter  zahlt  zu  zwei 
Drittel  Wüst,  ein  Drittel  Schalk.  Der  Privatkläger  ist 
mit  Rücksicht  auf  das  erste  freisprechende  Erkennt- 
niss  verpflichtet,  an  Dr.  Schalk  ein  Drittel  der  Ver- 
tretungskosten rückzuerstatten.  Dr.  v.  Berger  meldete 
sofort  die  Nichtigkeitsbeschwerde  an  und  bat  um  Zu- 
stellung des  Urtheils.  Nach  der  Urtheilsverkündigung 
wurden  im  dichtgedrängten  Zuschauerraum  des  Ge- 
richtssaales lebhafte  Heil-Rufe  laut. 

Der  Berichterstatter  schliesst.  Schon  zu  Beginn 
der  Berathung  der  Geschworenen  sammelte  sich  die 
Menge  an.  Als  die  Geschworenen  nach  Schluss  der 
Verhandlung  den  Saal  verlassen  hatten,  wurden  sie 
mit  Heil-Rufen  begrüsst.  Diese  Heil-Rufe  wurden 
sehr  stürmisch  als  Wolf  mit  seinem  Vertreter  Dr.  Rosa 
und  dem  Führer  der  Ostdeutschen  von  Brüx  Dr.  He- 
rold das  Gerichtsgebäude  verliess.  Die  grosse  Menge 
begleitete  Wolf  unter  Heil-Rufen  und  Hütenschwenken 
zum  Hotel  „Im  Löwen",  wo  Wolf  mit  seinem  Ver- 
treter Wohnung  genommen  hat.  Vor  dem  Hotel  wur- 
den Wolf  eine  stürmische  Ovation  und  Heil-Rufe  dar- 
gebracht, sodann  wurde  die  „Wacht  am  Rhein"  ge- 
sungen. Auch  im  Gastzimmer  des  Hotels  wurde  Wolf 
und  seinem  Vertreter  eine  begeisterte  Ovation  bereitet. 
Dann  zerstreute  sich  die  Menge,  um  sich  in  die  Turn- 
halle dem  abendlichen  Versammlungsorte  der  Ost- 
deutschen, zu  begeben. 

Unter  dem  Eindrucke  des  Brüxer  Processes  mel- 
deten die  Blätter  am  10.  Dezember  folgendes  aus 
Wien.  Die  alldeutsche  Vereinigung  wurde  zu  einer 
besonderen  Sitzung  einberufen,  um  zu  dem  Ergeb- 
nisse des  Brüxer  Processes  Wolf-Schalk  Stellung  zu 
nehmen.  Es  wurde  darin  folgende  Erklärung  beschlos- 
sen: „Die  Brüxer  Geschworenen  haben  gegen  uns 
entschieden.  Die  Korruption  erhebt  nunmehr  kühner 
denn  je  ihr  Haupt.  Der  Verurtheilte,  unser  bekannter 
Mitkämpfer  Abg.  Dr.  Schalk,  dem  in  der  wichtigsten 
Processangelegenheit  der  Wahrheitsbeweis  verwehrt 
wurde,  mag  unseres  steten,  aufrichtigen  Dankes  ver- 
sichert sein.    Es  musste  sich  uns  die  Frage  aufdrän- 


33a 


gen,  ob  wir  den  Kampf  für  den  alldeutschen  Einheits- 
und Reinheitsgedanken  fortführen  oder  denselben 
als  vergeblich  einstellen  sollen.  Wir  haben  uns  für 
das  erstere  entschieden  und  werden  somit  im  Glauben 
an  den  endlichen  Sieg  unserer  gerechten  Sache  auch 
künftighin  trotz  der  vielfach  vorherrschenden  Ver- 
ständnisslosigkeit  im  Kampfe  für  des  Volkes  höchste 
Güter  ausharren  und  die  falschen  Freunde  unseres 
Volkes  unschädlich  zu  machen  trachten.  Wir  sind 
daher  vollauf  berechtigt  und  verpflichtet,  den  Kampf 
gegen  Wolf  fortzusetzen,  dessen  Gesinnung  und  Cha- 
rakter genügend  dadurch  gekennzeichnet  erscheint* 
dass  er  den  Erwecker  und  Festiger  des  alldeutschen 
Gedankens  in  der  Ostmark,  den  Abg.  Schönerer  auch 
im  Gerichtssaale  einen  „grauhaarigen  Schurken"  ge- 
nannt hat.  Wir  halten  fest  an  unserer  Ueberzeugung 
und  sind  entschlossen  in  Bethätigung  unserer  Grund- 
sätze auch  in  Zukunft  alles  Undeutsche  und  Gemeine 
von  unseren  Reihen  fern  zu  halten.  Wir  sagen  mit 
Bismarck:  „Wir  Alldeutsche  werden  den  Weg,  den 
wir  im  Interesse  unseres  Volkes  für  den  rechten  er- 
kennen, bis  ans  Ende  gehen,  unbeirrt,  ob  wir  Hass 
oder  Liebe  dafür  ernten.  Wien,  9.  Julmond  1902.  Die 
alldeutsche  Vereinigung.**  Der  „Wiener  Allgemeinen 
Zeitung"  zufolge  stellte  in  der  letzten  Sitzung  der 
alldeutschen  Vereinigung  Abg.  Schalk  mit  Rücksicht 
auf  den  Ausgang  des  Brüxer  Processes  sein  Mandat 
zur  Verfügung.  Sämmtliche  Abgeordnete  der  Vereini- 
gung erklärten,  die  Verzichtleistung  Schalks  nicht 
annehmen  zu  können,  zumal  die  Schrift  Schalks  vor 
deren  Veröffentlichung  von  der  alldeutschen  Vereini- 
gung gutgeheissen  wurde.  Die  Vereinigung  sprach 
Schalk  den  Dank  aus  und  beschloss,  den  Kampf  gegen 
die  ostdeutsche  Korruption  auch  in  Zukunft  mit 
allen  Mitteln  fortzusetzen.  Die  Wirkung  des  Brüxer 
Proceses  war  die,  dass  fast  alle  Blätter,  die  früher 
zu  Schönerer  hielten,  nun  zu  Wolf  übergingen.  Ebenso 
dürften  bei  den  künftigen  Wahlen  die  Verbündeten 
Schönerers  vom  Schauplatz  verschwinden. 

Dieser  Process  in  Brüx  brachte  den  Führern  der 
alldeutschen  Bewegung  keinen  Gewinn.  Die  brüxer 
Moral  lautet:  jedes  noch  so  demoralisirte  Individuum 


334 


kann  Führer  des  Volkes  sein,  wenn  es  dazu  die 
nöthige  freche  Stirn  und  ein  Rednergabe  besitzt  dem 
Nationalgätzen  und  den  Leidenschaften  des  Volkes 
zu  schmeicheln. 

Die  Gruppe  der  alldeutschen  Abgeordneten  hat 
in  den  Monaten  Januar  bis  Mai  1901  im  österreichi- 
schen Reichsrath  jede  Arbeit  durch  wüstes  Treiben 
unmöglich  gemacht  Fast  in  jeder  Sitzung  brachten 
Schönerer  und  Genossen  Interpellationen  und  An- 
fragen vor,  welche  massenhafte  Spalten  des  steno- 
graphischen Protokolls  ausfüllen  und  die  nur  voll  von 
den  gemeinsten  und  niederträchtigsten  Angriffen  auf 
die  katholische  Kirche  und  Priester  sind.  Hat  doch 
Wolf  am  1.  März  1901  eine  Anfrage  an  den  Präsi- 
denten gerichet,  die  wir  hier  wiedergeben.  „Wir 
haben  gestern  2  Interpellationen  eingebracht  eine 
durch  den  Herrn  Kollegen  Schönerer,  eine  2.  durch 
den  Herrn  Kollegen  Lindner.  In  diesen  Interpellatio- 
nen wurde  der  Justizminister  gefragt,  ob  er  einver- 
standen sei,  dass  ein  Staatsanwalt  dort  und  ein  Staats- 
anwalt da  2  Artikel  in  den  Zeitungen  konfiscirt 
haben.  In  dieser  Anfrage  war  nicht  ein  einziges  Wort, 
welches  unanständig  oder  unsittlich  genannt  werden 
könnte.  Es  waren  lediglich  Angriffe  gegen  die  poli- 
tische Macht  der  Klerikalen,  nicht  etwa  die  katho- 
lische Religion  als  solche,  sondern  gegen  die  Miss- 
bräuche, die  in  der  katholischen  Religion  zu  Tage 
treten,  gegen  die  Art  wie  Frauen  und  Mädchen  im 
Beichtstuhle  von  Geistlichen  nach  der  Vorschrift  der 
Liguorimoral  ausgefragt  werden. 

Ich  denke  also,  wenn  solche  Niederträchtigkeiten 
in  der  Welt  vorkommen,  dass  einer,  der  die  Religion, 
dieses  heilige  Gut,  zu  pflegen  hat,  den  Beichtstuhl 
missbraucht  um  Gedanken  der  Unzucht  und  der 
Schamlosigkeit  in  der  heranwachsenden  Jugend  zu 
wecken,  wenn  ein  Diener  der  Religion  den  Beichtstuhl 
missbraucht,  um  an  die  Frauen  schamlose  Fragen  zu 
stellen,  so  ist  das  zweifellos  etwas  Entsetzliches 
Trauriges,  Fürchterliches.  Aber  wir  als  Männer  haben 
da  nicht  die  Pflicht  mit  gesenkten  Augen  an  diesem 
Scheusslichen  vorüberzugehen,  sondern  haben,  wenn 
wir  wirkliche    Volksvertreter    sind,    im  Interesse   der 


.^^A 


335 


Sittlicheit  dafür  zu  sorgen,  dass  dem  mit  Entschie- 
denheit entgegen  getreten  werde.*  So  sprechen  all- 
deutsche Mädchenschänder  und  Ehebrecher  im  öster- 
reichischen Parlament  gegen  katholische  Priester.  Die 
alldeutschen  Abgeordneten  haben  durch  derartige 
wüste  Scenen  das  österreichische  Parlament  in  aller 
Welt  der  Verachtung  preisgegeben.  So  sagte  am  1. 
Dezember  1902  Abgeordneter  Richter  im  deutschen 
Reichstag  folgendes :  »Wir  stehen  vor  der  Thatsache, 
dass  zwei  Drittel  des  Reichstages  sich  über  die  mate- 
riellen Fragen  geenigt  haben,  und  dass  für  die  Herren 
nur  noch  die  Frage  offen  ist,  wie  sie  in  legitimer 
Weise  zu  einem  Ausdruck  ihres  Willens  gelangen. 
War  der  Antrag  Kardorff  nicht  für  legitim,  nicht  für 
zulässig  erachtet,  dann  weiss  ich  nicht,  wie  es  über- 
haupt weiter  werden  soll.  Eins  aber  weiss  ich,  dass, 
wenn  in  dieser  Weise  fort  verhandelt  werden  soll 
bis  zum  April,  dann  der  Parlamentarismus  an  Auto- 
rität und  Ansehen  tief  erschüttert  wird.  (Sehr  rich- 
tig!) Kämpfen  wir  so  immer  weiter,  immer  heftiger, 
sind  wir,  ehe  wir  uns  versehen,  in  österreichischen 
Zuständen,  und,  wenn  dieser  Reichstag,  dem  ich  seit 
31  Jahren  angehöre,  jemals  ein  Bild  darbieten  sollte 
wie  der  österreichische  Reichsrath,  dann  würde  ich 
es  für  keine  Ehre  mehr  halten,  überhaupt  einer  solchen 
Körperschaft  anzugehören.  (Lebhafter  Beifall  rechts. 
—  Unruhe  links.)  Der  deutsche  Reichstag  soll  nach 
unserer  Meinung  ein  Muster  sein  in  korrekten  For- 
men des  Parlamentarismus." 

Im  deutschen  Reichstage  handelte  es  sich  um 
den  Zolltarif,  welchen  die  Socialdemokraten  auf  jede 
Weise  vereiteln  wollten" nach  dem  Muster  der  Schö- 
nerianer.  Auf  Antrag  Kardorff  wurde  der  Zolltarif  ohne 
Debatte  en  bloc  angenommen  und  hiemit  der  Ob- 
struktion der  Socialisten  ein  Ende  gemacht.  In  Oester- 
reich  aber  geschah  das  Gegentheil.  Die  Regierung 
ergriff  wilde  Flucht  vor  Schönerer  und  Wolf,  kapitu- 
lierte und  anerkannte  so  die  Herrschaft  politischer 
Räuber,  Ehebrecher  und  Mädchenschänder. 

Zum  Schlüsse  dieses  Kapitels  bringen  wir  noch 
Folgendes.  Das  „Trautenauer  Wochenblatt"  brachte 
Anfangs  März  1903  diese  Nachricht:     „Die  Frau  des 


336 


Abg.  K.  H.  Wolf  hat  gegen  ihren  Gatten  durch  den 
Advokaten  Dr.  Friedrich  Förster  beim  k.  k.  Landes- 
gerichte in  Wien  die  Ehescheidungsklage  eingebracht. 
Die  Ehescheidungsklage  wurde  von  der  unglücklichen 
Frau  Wolfs  wegen  fortgesetzter  roher  Beschimpfung 
und  thätlicher  Misshandlung  durch  ihren  Gatten  gegen 
diesen  eingebracht.  Um  weiteren  Misshandlungen  zu 
entgehen,  hat  sich  die  Arme  mit  ihren  Kindern  zu 
ihren  Eltern  nach  Cilli  geflüchtet,  wo  sie  sich  gegen- 
wärtig aufhält.  Die  Ehescheidung  wird  von  Frau 
Wolf  auch  wegen  grober  sittlicher  Verfehlungen  und 
8Verirrungentt  des  Abg.  Wolf  begehrt.  In  dem  Ehe- 
scheidungsprocesse  wird  auch  die  durch  den  Process 
Wolf-Schneider  enthüllte  Thatsache  eine  Rolle  spielen, 
dass  Abg.  Wolf  eine  nahe  minderjährige  Verwandte 
seiner  Frau*  die  in  seinem  Hause  zu  Gaste  war,  zu 
schwerer  Unsittlichkeit  verleiten  wollte,  ein  Vergehen, 
das  Abg.  Wolf  mit  Volltrunkenheit  zu  entschuldigen 
und  zu  bemänteln  suchte.  Der  Process,  durch  den 
die  Frau  des  Abg.  Wolf  ihre  Befreiung  von  einem 
langen  Martyrium  sucht,  wird  schon  demnächst  durch- 
geführt werden."  —  Im  Brüxer  Proce*se  führte  Wolf 
seine  Frau  als  „braven  deutschen  Kameraden"  vor, 
der  ihm  verziehen  habe.  Herr  Wolf  scheint  es  auch 
in  diesem  Exempel  mit  der  Wahrheit  nicht  genau 
genommen  zu  haben,  was  seine  Getreuen  nicht  hindern 
wird,  ihn  auch  fernerhin  als  „hehre  Siegfriedsgestalt", 
als  „Perle  des  deutschen  Volkes"  zu  feiern. 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  nur  folgendes  bemer- 
ken. Man  beachte  doch  die  „sittlichen"  Anschauungen 
des  Vertheidigers  Dr.  Rosa  und  des  Abg.  Karl  Wolfs 
selbst  und  vergleiche  sie  mit  den  Angriffen,  welche 
Wolf  und  seine  Genossen  gegen  katholische  Priester 
und  die  gelehrten  Werke  des  hl.  Alfons  von  Liguori 
massenhaft  gerichtet  haben.  Die  Alldeutschen  ver- 
decken ihre  eigene  Unmoral  durch  Verleumdung  und 
Schmähung  Unschuldiger. 

XIX.  Der  Kampf  um  die  Nationalität   dringt  in  die 
katholische  Kirche  ein. 

Der  Mensch  im  Getriebe  der  blinden  Leidenschaf- 
ten macht  kein  *"  einmal  vor  den  heiligen 


337 


Thoren  der  Kirche.  Im  Mittelalter  haben  Verbrecher 
das  Recht  genossen,  wenn  sie  die  heiligen  Räume  der 
Kirche  betraten,    dass  sie  hier  vor  der  Justificierung 
geschützt  waren.  In  unseren  Tagen  machtder  Nationa- 
litätenhass   nicht   einmal  Halt  vor  dem  Altare.   Wir 
wollen    hier    nicht    auf   die    erhabenen   Lehren  des 
Ghristenthums  eingehen,  wie  sie  über  das  Wesen  des 
Menschen,    die  Gleichheit   aller  Menschen   vor  Gott, 
die  Zuwendung  der  Erlösungsgnade    allen  Menschen 
auf  Erden  gelehrt  werden,   das  sind  Lehren,  welche 
der  katholische  Katechismus  klar  und  deutlich  enthält 
Aber  wie  anders  sieht  es  im  Leben  aus.  Wer  das  öffent- 
liche  Leben   heute   beobachtet,    muss    unwillkürlich 
zur   Erkenntniss    gelangen,    dass    das    Christenthum 
wohl    gelehrt,    aber   nicht  befolgt  wird.    Die  Lehren 
Christi   finden   bei  den  Menschen  keine  Anwendung. 
Man  predigt  auf  der  Kanzel  Liebe  und  wenn  man  von 
der  Kanzel  heruntersteigt,  prakticiert  man  den  Hass, 
man  lehrt  in  der  Schule,  dass  alle  Menschen  vor  Gott 
einander  gleich  sind,  aber  in  der  Wählerversammlung, 
oder   in  der  Sitzung   des  Gemeinderathes   wird  pro- 
klamiert, dass  alle  Nichtdeutschen  minderwertig  sind. 
Kurz   überall  finden   wir   das  Gegentheil   von    dem, 
was  gelehrt  wird.    Die  Lehre  Christi  findet  im  wirk- 
lichen Leben  nur  selten  Anwendung.  Mit  Moral  baut 
man  keine  Eisenbahnen,  mit  der  christlichen  Nächsten- 
liebe hätte  Bismarck  sicher  nicht  das  heutige  Preussen- 
Deutschland      aufgebaut.     Die     Nationalitätenpolitik, 
wie  sie   heute  von   allen   Grossmächten   gehandhabt 
wird,  kann  die  Lehren  Christi  für  ihre  Zwecke  absolut 
nicht  brauchen.    Wenn  man   systematisch    auf  Raub 
ausgeht,    wenn    man    den    Nachbar   plündern    will, 
nimmt   man   doch  nicht  den  Katechismus  zur  Hilfe, 
sondern  man  greift  zum  Pulver  und  Blei.  Das  Recht 
ist  heute  nur  dort,  wo  es  mit  der  Gewalt  vertheidigt 
werden  kann.  So  war  es,  und  wird  es  auch  bleiben. 
Je  mehr  die  Völker  und  Staaten  vom  Christen- 
thum   abfallen,    desto   furchtbarer  und   wilder  wird 
der  Hass  und  Kampf  unter  ihnen  wüthen.    Gemäss 
der  Weisung  des  göttlichen  Stifters :  gehet  und  lehret 
alle  Völker,   hat  die  katholische  Kirche  überall   die 
erhabene  Lehre  Christi  den  Völkern  in  ihrer  Mutter- 

22 


S38 


spräche  verkündigt  und  gelehrt.  Das  Organ  des 
österreichischen  Episcopats  das  Wiener  „Vaterland8 
brachte  am  12.  Februar  1898  einen  Artikel  über  die 
Sprache  des  Religionsunterrichtes.  Der  Artikel  sagt,  es 
handelt  sich  hier  nicht  um  eine  innerpolitische  Er- 
örterung —  schon  deswegen  nicht,  weil  der  Gegen- 
stand kein  politischer  ist,  —  noch  auch  um  ein 
Zurückgreifen  auf  eine  jüngsthin  öffentlich  behandelte 
Angelegenheit,  sondern  um  Hinweis  auf  die  einschlä- 
gigen Principien,  und  dieser  Hinweis  erscheint  wahr- 
lich nicht  überflüssig,  erwägt  man  die  Anschauungen, 
die  in  der  bewussten  Interpellation  der  Urteutonen 
zutage  traten.  Die  Interpellanten  betrachten  es  offen- 
bar als  etwas  ganz  Selbstverständliches,  gar  keinem 
Zweifel  Unterliegendes,  dass  es  das  ureigenste  Recht 
der  staatlichen  Schulbehörde  sei,  ganz  selbständig 
zu  bestimmen,  in  welcher  Sprache  der  Religions- 
unterricht in  den  öffentlichen  Schulen  zu  ertheilen 
sei;  ja  sie  möchten  sogar  vorschreiben,  in  welchem 
Idiom  vor  der  Beicht  zu  beten  sei;  fehlt  nur  noch, 
dass  der  Staat  auch  dekretirt,  in  welcher  Sprache 
die  Kinder  zu  beichten  haben.  Da  haben  wir  wieder 
ein  Resultat  moderner  Begriffsverwirrung.  Demgege- 
nüber ist  als  Princip  festzuhalten :  So  wie  die  Kirche 
und  sie  allein  das  angeborne  Recht  besitzt,  alles  auf 
den  Religionsunterricht  Bezügliche  (Inhalt,  Methode, 
Lehrbücher)  zu  bestimmen,  so  steht  es  an  und  für 
sich  nur  der  kirchlichen  Autorität  zu,  auch  die  Sprache 
zu  bezeichnen,  in  welcher  der  Religionsunterricht  zu 
ertheilen  ist.  Massgebend  für  die  kirchliche  Autorität 
ist  hierin  das  Bedürfniss,  Ob  und  wie  die  kirchliche 
Autorität  sich  mit  der  staatlichen  Schulbehörde  ins 
Einvernehmen  setzt,  welchen  Einfluss  sie  bei  der 
Ausübung  dieses  ihr  ganz  unabhängig  und  selbst- 
ständig zukommenden  Rechtes  der  staatlichen  Gewalt 
gestattet,  ist  wieder  ihre  Sache  und  ihrer  Einsicht 
und  Klugheit  zu  überlassen.  Aus  dem  Gesagten  ergibt 
sich  schon,  dass  dem  Staate  an  sich  das  Recht  nicht 
zusteht,  die  Sprache  des  Religionsunterrichtes  ein- 
seitig und  ohne  ^Rücksicht  auf  die  kirchliche  Autorität 
zu  bestimme-    ~   *  dies  ebensowenig,  wie  anord- 

nen,   in  we  die  Sakramente  gespendet 


339 


Dder  gepredigt  oder  gebetet  werden  müsse.  Es  wäre 
ein  rechts  verletzender  Uebergriff,  es  wäre  offene  Ge- 
waltthat,  wollte  der  Staat  den  Religionslehrer  zwingen 
den  Kindern  in  einer  für  sie  unverständlichen  oder 
schlechtverständlichen  Sprache  den  Religionsunterricht 
zu  ertheilen, 

Der  zweite  principielle  Punkt  betrifft  die  Frage: 
Wie  hat  es  die  Kirche  in  Bezug  auf  die  Sprache  der 
religiösen  Unterweisung  stets  gehalten?  Die  Antwort 
auf  diese  Frage  gibt  schon  das  Pfingstwunder.  Es 
wurde  den  Aposteln  das  Sprachen-Charisma,  die 
Gabe  verliehen,  sich  ihren  Zuhörern  in  deren  ver- 
schiedenen Sprachen  verständlich  zu  machen  —  ein 
göttlicher  Fingerzeig  für  das  Verhalten  der  Kirche 
in  aller  Zukunft.  Und  in  der  That  hat  die  Kirche 
stets  den  Grundsatz  hochgehalten  und  bethätigt,  dass 
jedem  Volke,  ja  jedem  Stamme  das  Evangelium  in 
der  ihm  verständlichen  und  geläufigen  Sprache  ver- 
kündet werden  müsse,  und  sie  hat  es  ihren  Dienern 
?ur  Pflicht  gemacht,  sich  zu  diesem  Zwecke  mühsamen 
Sprachstudien  zu  unterziehen,  und  gestattet  ihnen 
nicht,  irgend  ein  Volk  zur  Aneignung  einer  fremden 
Sprache  zu  nöthigen,  um  die  christliche  Lehre  ver- 
nehmen zu  können.  Die  Belege  hiefür  zählen  nach 
Tausenden.  Aus  älterer  Zeit  sei  nur  hingewiesen  auf 
das  Verhalten  der  Heiligen  Cyrillus  und  Methodius, 
des  heiligen  Bonifazius  und  anderer  irischer  und 
angelsächsischer  Glaubensboten  in  Deutschland,  auf 
die  zahlreichen  Synodal dekrete  im  Fränkischen,  welche 
die  Predigt  je  nach  Bedürfniss  in  romanischer  oder 
deutscher  Sprache  vorschrieben,  auf  die  altromanischen 
und  althochdeutschen  Sprachdenkmäler,  welche  Gebete, 
Katechismusstücke  usw.  in  der  Volkssprache  enthalten. 
Und  so  wurde  es  in  der  Kirche  stets  und  wird  es 
noch  gehalten.  Zeuge  dessen  die  immense  linguistische 
und  populärreligiöse  Literatur  in  Hunderten  von 
amerikanischen,  afrikanischen,  asiatischen  und  austra- 
lischen Idiomen,  die  Frucht  namenloser,  kaum  vor- 
stellbarer Mühen  und  Anstrengungen  katholischer 
Missionäre,  die  mit  Paulus  sagen:  „Griechen  und 
Nichtgriechen,  Weisen  und  Unweisen  bin  ich  Schuld- 
ner." Nehmen  wir  in  Frankreich  die  bekanntlich  einen 

22* 


340 

keltischen  Dialekt  sprechenden  Bretonen.  Keinem  bei 
ihnen  wirkenden  Priester  wird  es  je  einfallen,  etwa 
um  die  Kinder  im  Französischen  vorwärts  zu  bringen 
französischen  Religionsunterricht  zu  ertheilen,  und  es 
wurde  z.  B.  die  bekannte  in  Einsiedeln  erschienene- 
biblische  Geschichte  von  Businger  für  den  bretonischen 
Religionsunterricht  ins  Bretonische  übersetzt  („Histor. 
an  Testament  Coz  hag  an  Testament  Newez").  Ebenso 
existiren  für  die  Rhätoromanen  im  Canton  Graubündter* 
eigene  Katechismen  und  Lehrbücher  der  biblischen 
Geschichte,  und  Niemanden  fällt  es  ein,  ihnen 
deutschen  Religionsunterricht  aufzwingen  zu  wollen* 
So  lange  die  Sette  Gomuni  in  Benetin  nicht  italienisirt 
waren,  wurden  sie  in  ihrem  Dialekt  in  der  Religion 
unterrichtet,  wie  aus  dem  Büchlein  hervorgeht:  „Dar 
klodne  Gatechismo  etc."  (erschienen  1813,  wieder 
abgedruckt  zu  „Padebe"  —  Padua  —  1842).  Es  kann 
aus  Rücksicht  auf  den  Zweck  des  Religionsunter- 
richtes  gar  nicht  anders  sein,  und  die  Kirche  Gottes- 
kann  nie  zugeben,  dass  es  anders  gehalten  werde. 
Der  Katechet  hat  nie  und  nimmer  die  Aufgabe,  den 
Kindern  Sprachkenntnisse  beizubringen,  am  allerwe- 
nigsten chauvinistischen  Zwecken  sich  dienstbar  zu 
machen.  Der  Religionsunterricht  hat  sich  an  Verstand 
und  Willen  der  Kinder  zu  wenden,  um  sie  zu  einer 
solchen  Erfassung  und  Uebung  der  geoffenbarten 
Wahrheit,  zu  einem  solchen  Denken  und  Leben  in 
und  nach  dem  Glauben  zu  führen,  dass  sie  dadurch 
zum  ewigen  Heile  gelangen.  Es  wäre  eine  Gewissen- 
losigkeit sondergleichen,  diese  Aufgabe  durch  An- 
wendung einer  unverständlichen  Sprache  zu  erschweren 
oder  unmöglich  zu  machen.  Das  ist  die  wieder  in 
neuester  Zeit  unzweideutig  ausgesprochene  Auffasung* 
und  Willensmeinung  der  kirchlichen  Autorität,  wie- 
sich  aus  der  Instruktion  der  Kongregation  der  Bischöfe 
und  Regularen  an  den  ungarischen  Episkopat  vom 
28.  Mai  1896  ergibt,  wozu  wir  bemerken,  dass  diese 
Instruktion  auch  in  vielen  diesseitigen  Diöcesan- 
blättern  zur  Beachtung  mutatis  mutandis  publicirt 
und  im  „Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht u  mit 
Recht  als  „ein  förmliches  Programm  für  das  Leben 
und  die  Thätigkeit   des  Klerus   aller  Länder,  will  er 


341 


unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  seiner  Aufgabe 
gerecht  werden",  bezeichnet  wurde.  In  Punkt  9  der 
Instruktion  heisst  es  nun:  „Die  Bischöfe  mögen  die 
Pfarrer  und  Katecheten  der  sich  nicht  der  ungarischen 
Sprache  bedienenden  Gläubigen  nachdrücklich  (vehe- 
menter) mahnen  .  .  .  ihnen  die  christliche  Lehre 
iiicht  eher  in  ungarischer  Sprache  vorzutragen,  als 
bis  die  Kinder  diese  Sprache  vollständig  erlernt  haben. 
Das  fordert  ebensosehr  das  ewige  Heil  der  Kinder 
wie  das  Wohl  des  Gemeinwesens."  Die  Natur  der 
Sache  verlangt  schon,  dass  diese  autoritative  An- 
ordnung überall  Geltung  habe  und  sinngemässe  An- 
wendung finde,  und  keine  Regierung,  kein  Wuotanis- 
mus,  keine  deutsche  „Gemeinbürgschaft"  oder  „Eid- 
genossenschaft" vermag  hierin  etwas  zu  ändern.  Es 
handelt  sich  hier  um  viel  zu  heilige  Interessen,  als 
dass  man  ephemeren  Tagesmotionen  auf  sie  Einfluss 
gestatten  dürfte. 

Das  „Vaterland"  hat  aber  unterlassen  den  Lesern 
xnitzutheilen,  dass  die  meisten  ungarischen  Bischöfe 
diese  Weisung  des  apostolischen  Stuhles  ganz  ein- 
fach unter  den  Tisch  warfen  und  ihre  Publikation 
dem  Klerus  ganz  einfach  unterliessen.  Das  geschah 
im  Namen  des  magyarischen  Staatsgottes.  Für  die 
ungarischen  Bischöfe  gilt  nicht  das  Wort  Christi, 
man  müsse  Gott  mehr  gehorchen  als  den  Men- 
schen, denn  wenn  sie  diese  Worte  Christi  je  be- 
folgt hätten,  so  wären  sie  eben  in  Ungarn  nie  eines 
Bischofsitzes  theilhaftig  geworden.  Welche  Leiden  ein 
gewissenhafter  Bischof  zu  ertragen  hat,  in  dessen 
Diöcese  der  Nationalitätenhass  wüthet,  das  hat  der 
von  den  Italianissimi  so  grimmig  gehasste  Bischof 
Sterk  in  Triest  erfahren.  Bischof  Sterk  wehrte  sich 
in  einem  Hirtenbrief  gegen  die  Italianissimi  Anfangs 
April  1898.  Unter  anderem  sagte  er  darin  Folgendes: 
Treu  der  Aufgabe  eines  wahren  Hirten  wollte  ich,  da 
feh  sah,  wie  mit  freigebiger  Hand  Unkraut  auf  den 
Acker  des  Herrn  gestreut  wird,  und  dass  die  gewöhn- 
lichen Predigten,  wo  der  gute  Same  des  Wortes  Gottes 
gestreut  wird,  von  wenigen' Menschen  gehört  werden, 
nach  dem  Beispiele  anderer,  eifriger  und  frommer 
Bischöfe,    zunächst   hier   in  Triest   den  Leuten,    na- 


342 


inentlich  der  arbeilenden  Klasse,  leichte  Gelegenheit 
bieten,  das  Wort  Gottes  zu  hören.  Darum  hatte  ich. 
angeordnet,  einen  Gyklus  von  Abendpredigten  noch 
Art  von  Konferenzen  in  den  drei  Sprachen  abzuhalten,, 
in  denen  jeden  Sonn-  und  Feierlag  in  unseren  Kirchen 
gepredigt  wird,  nämlich  in  einer  Kirche  in  italieni- 
scher und  deutscher,  in  San  Giacomo  in  slavischer 
Sprache,  wie  ja  dort  schon  mehreremale  derartige 
ausserordentliche  Predigten  stattgefunden  haben. 
Nachdem  ich  später  gehört,  dass  auch  die  Gläubigen 
von  San  Giacomo  italienische  Konferenzen  zu  haben 
wünschen,  habe  ich  ihr  heiliges  Verlangen  gesegnet 
und  verordnet,  dass  dies  sofort  nach  den  Osterfeier- 
tagen  geschehen  soll.  —  Sodann  weist  der  hochw» 
Bischof  den  Vorwurf,  er  wolle  durch  die  Predigten 
in  San  Giacomo  die  Italiener  slavisiren,  zurück  und 
stellt  Folgendes  fest:  „Seitdem  ich  mich  als  Bischof 
in  Triest  befinde,  habe  ich  bezüglich  der  Slaven  in 
Stadt  und  Territorium  die  Sachen  gelassen,  wie  ich 
sie  gefunden  und  keinerlei  Neuerung  getroffen.  Wenn 
ich  Neuerungen  getroffen  habe,  so  sind  nur  solche 
zugunsten  der  Italiener  gewesen.  Ich  hatte  noch  vori- 
ges Jahr  beobachtet,  dass  bei  S.  Antonio  Nuovo  am 
Charfreitag  keine  italienische  Nationalpredigt  statt- 
fand, und  sogleich  gab  ich  den  Auftrag,  eine  solche 
zu  halten,  was  grossen  Gefallen  gefunden  hat.  Das- 
selbe that  ich  heuer  bei  S.  Antonio  Vecchio.  Wenn 
sich  gegenwärtig  in  Rojano  ein  Kooperatcr  für  die 
italienische  Predigt  befindet,  wie  von  meinem  Vor- 
gänger versprochen  worden,  so  kann  ich  sagen,  das 
ist  mein  Werk,  und  es  kostete  mich  in  Anbetracht 
des  Priestermangels  ein  grosses  Opfer.  Und  ich  bin 
auch  bereit,  wie  schon  beschlossen  worden,  einen 
nach  Barcola  und  einen  anderen  nach  Servola  zu 
schicken,  sobald  ich  einen  verfügbaren  Priester  habe» 
Seit  längerer  Zeit  hege  ich  den  lebhaften  Wunsch* 
für  S.  Antonio  Nuovo  einen  täglichen  Fastenprediger 
zu  besorgen."  -—  Hierauf  legt  der  Oberhirt  eine 
Tabelle  vor  über  die  Predigten  in  den  drei  Sprachen 
im  Jahre  1857  und  im  Jahre  1897.  Danach  wurden 
gewöhnliche  Predigten  jeden  Sonn  und  Feiertag  ge- 
halten: 1857:  italienische  7,  slaviscfee  6,  deutsche  2; 


343 


1897:  italienische  14,  slavische  6,  deutsche  1.  Ausser- 
ordentliche Predigten  wurden  gehalten  im  Laufe  des 
Jahres  1857  italienische  70,  slavische  8,  deutsche  18 ; 
1897  italienische  350,  slavische  8,  deutsche  18.  Dabei 
sind  nicht  gerechnet  die  vom  Pfarrer  von  S.  Giusto 
gehaltenen  120  sogenannten  fervorini,  das  heisst,  ganz 
kurze  eindringliche  Ansprachen.  Daraus  ist  zu  er- 
sehen, dass  sich  seit  den  letzten  40  Jahren  sowohl 
die  ordentlichen  nls  die  ausserordentl.  italienischen 
Predigten  stark  vermehrt  haben,  die  slaviöchen  hin- 
gegen stationär  geblieben  sind.  —  Uebrigens  haben 
nicht  nur  italienische,  sondern  auch  slavische  Blätter 
den  Bischof  verleumdet.  „Und  warum  dies  Alles  ? 
Weil  ich,  dem  Himmel  sei  Dank,  weder  ein  italie- 
nischer, noch  ein  slavischer,  noch  ein  deutscher 
Bischof  bin,  sondern  einzig  und  allein  ein  katholi- 
scher Bischof,  ein  Bischof  der  heiligen  römisch-katho- 
lischen Kirche,  wo  Jesus  Christus  alle  Scheidemauern 
zwischen  den  Nationen  niedergerissen  hat . .  .  Darum 
muss  ich  Alle  lieben,  seien  es  Italiener,  Slaven  oder 
Deutsche,  muss  das  Wohl  Aller  fördern,  allen  Alles 
sein.  Und  mit  Gottes  Hilfe  thue  ich  das  auch,  so- 
weit meine  Kräfte  es  erlauben."  —  Der  hochw.  Ordi- 
narius kommt  ferner  auf  das  der  städtischen  Kapelle 
ertheilte  Verbot  zu  sprechen,  beim  Gottesdienste  in 
San  Giusto  mitzuwirken.  Der  Podesta  wollte  das  Ver- 
bot nur  unter  der  Bedingung  zurücknehmen,  wenn 
der  Bischof  die  slavischen  Konferenzen  von  San 
Giacomo  nach  Servola  verlegte.  Darauf  erwidert  das 
Hirtenwort:  „Urtheilet  selbst,  ob  ein  Bischof,  der  sich 
seines  heiligen  Amtes  bewusst  ist,  die  gegebene  An- 
ordnung widerrufen  könne,  das  Wort  Gottes  zu  pre- 
digen, eine  Anordnung,  mit  der,  wie  ich  oben  aus- 
einandergesetzt, keinerlei  Neuerung  eingeführt,  son- 
dern ein  mehr  vierzigjähriger  —  nämlich  seit  dem 
Bestände  der  Pfarre  San  Giacomo  —  Gebrauch  bei- 
behalten wurde.  Man  legt  mir  nahe,  die  Konferenzen 
nach  Servola  zu  verlegen.  Die  italienischen  und  sla- 
vischen Pfarrkinder  von  San  Giacomo  haben  das 
Recht,  ja  die  Christenpflicht,  das  Wort  Gottes  in  ihrer 
Pfarrkirche  zu  hören,  und  darum  wird  es  jeden  Sonn- 
und  Feiertag  zweimal  italienich  und  zweimal  slavisch 


344 


gepredigt.  Nicht  minder  haben  die  Einen  wie  die  An- 
deren das  Recht,  die  heiligen  Missionen  und  andere 
ausserordentliche  Predigten  in  ihrer  eigenen  Kirche 
zu  haben."  —  Der  wahre  Grund  der  Opposition  gegen 
die  slavischen  Predigten  liegt  ganz  wo  anders.  Der 
Bischof  gibt  ihn  ohne  Umschweife  an  mit  den  Worten : 
„Mir  scheint,  ja  ich  bin  überzeugt,  dass  dieser  ganze 
in  den  letzten  Tagen  losgebrochene  Sturm  nicht  gegen 
die  Predigten  gerichtet  ist,  denn  diese  fürchtet  Nie- 
mand, wohl  aber  gegen  Jesus  Christus,  gegen  seinen 
Gesalbten,  gegen  den  Bischof.  Man  sucht  den  Bischof 
mit  Koth  zu  bewerfen,  und  wie  an  eine  Säule  ge- 
bunden, wird  er  mit  Beschimpfungen  und  Verleum- 
dungen aller  Art  gegeisselt.  Diese  Leute  wissen  wohl, 
dass  wir  in  der  Fastenzeit  uns  befinden  und  in  der 
heiligsten  Woche  des  Jahres,  und  rechnen  darauf, 
dass  die  Schwachen,  wie  die  Apostel  in  der  Nacht, 
in  welcher  der  Herr  gefangen  genommen  wurde, 
Aergerniss  nehmen  und  sich  leicht  abhalten  lassen 
werden,  in  die  Kirche  und  zu  den  heiligen  Sakra- 
menten zu  gehen.  „Ich  will  den  Hirten  schlagen, 
und  die  Schafe  werden  zerstreut  werden."  — -  Die 
Ausstreuung,  er  habe  beim  Charwochengottesdienste 
in  einigen  Kirchen  Aenderungen  zum  Nachtheile  der 
Italiener  vorgenommen,  bezeichnet  der  Oberhirt  als 
eine  „Unverschämtheit"  und  kennzeichnet  dann  einen 
anderen  Anwurf  mit  den  Worten:  „Man  hat  mich 
verleumdet,  auf  der  Kanzel  gelogen  zu  haben,  indem 
man  behauptete,  aus  sicherer  Quelle  zu  wissen,  dass 
die  Stimmen  der  Kanonici  des  hiesigen  hochw.  Kapitels 
in  der  Angelegenheit  der  slavischen  Konferenzen  bei 
San  Giacomo  drei  gegen  drei  waren,  während  wir, 
wie  ich  auf  der  Kanzel  sagte,  hierin  Alle  einig  waren. 
Hier  wird  nicht  nur  der  Bischof  verleumdet,  sondern 
auch  das  Kapitel,  da  wenigstens  Einer  aus  demselben 
nicht  nur  eidbrüchig,  sondern  auch  ein  Lügner  hätte 
sein  müssen.  Das  ist  ein  blutiger  Schimpf  auf  die 
hochw.  Kanonici,  indem  man  sie  einer  so  gemeinen 
und  sakrilegischen  Handlung  für  fähig  hält.  Ich  wehre 
das  mit  Entrüstung  von  den  hochw.  Herren  ab.  Wenn 
Ihr  mich  schlagen  wollt,  so  schlagt  zu,  nur  sage  ich 
euch  mit  Jesus  Christus:  Lasst  meine  Kanonici  in  Ruhe." 


345 


Schliesslich  erklärt  der  Oberhirt,  seinen  Verleum- 
dern zu  verzeihen  und  wünscht  allen  den  Frieden 
unseres  Herrn  Jesu  Christi.  Bischof  Sterk  starb  vor- 
zeitig an  Nervenzerrütlung.  Seinen  Tod  haben  die 
wüsten  Treibereien  der  Irredenta  herbeigeführt. 
Sein  Nachbar  der  berüchtigte  Bischof  Flapp  von 
Parenzo-Pola  macht  es  ganz  anders.  Er  bedrückt  die 
kroatischen  Diöcesanen,  wo  er  nur  kann,  und  arbeitet 
vereint  mit  den  Italianissimi  an  der  Unterdrückung 
der  kroatischen  Bevölkerung. 

XX.    Irrige  Ansichten  zweier  katholischer  Priester 
über  die  Nationalitätenfrage. 

Es  gibt  wohl  keinen  Wahn  auf  der  Welt,  der 
nicht  seine  Verlheidiger  findet.  Dass .  der  Nationali- 
tätenwahn, wie  er  von  den  Alldeutschen  propagiert 
wird,  oder  wie  er  von  Nietsche  in  der  Lehre  vom 
Herrenvolk  vorgetragen  wird,  auch  seine  Fürsprecher 
in  den  Reihen  katholischer  Priester  findet,  das  ist 
eine  Errungenschaft,  die  hier  näher  gewürdigt  werden 
soll.  Es  ist  bekannt,  dass  einen  richtigen  Begriff 
„Nationalität"  sehr  schwierig  aufzustellen  ist.  Im 
Kirchenlexikon  hat  Moy  folgendes  fixirt:  „Nationalität 
ist,  in  objektivem  Sinne  aufgefasst,  der  gesammte  Be- 
stand eines  Volkes  (man  merke  diesen  Ausdruck  wohl), 
in  subjektivem  Sinne  ist  es  das  Bewusstsein  davon, 
das  heisst  das  innige  Durchdrungensein  aller  Einzelnen 
im  Volke  von  dem  Gedanken  und  Gefühle,  dass  sie 
einem  so  gearteten  Ganzen  mit  Blut,  Leben,  Vortheil 
und  Pflicht  angehören.  Die  Nationalität  setzt  also  in 
den  Einzelnen,  die  sie  umfasst,  voraus :  Gemeinschaft 
des  Blutes  und  der  Abstammung,  Gemeinschaft  der 
Sprache,  der  Sitten  und  des  Rechtes,  Gemeinschaft 
der  durch  den  Wohnort  und  Nahrungserwerb  begrün- 
deten und  bedingten  Interessen,  Gemeinschaft  des 
politischen  und  religiösen  Verbandes  .  .  .  Zur  Begrün- 
dung einer  Nationalität  gehören  also  ursprünglich  drei 
Dinge:  1.  gemeinsame  Religion,  2.  Familienverband 
oder  gemeinsame  Abstammung  und  Sprache,  3.  ma- 
terielle Notwendigkeit  des  Zusammenhaltens  und 
Zusammenwirkens  im  Erwerb  und  Austausch  der 
Lebensbedürfnisse    und    zur    gemeinsamen    Verthei- 


346 


digung.  Dieses  letztere  Moment,  der  materiellen  Not- 
wendigkeit, ist  so  wesentlich  und  unerlässlich,  dass 
da,  wo  es  wegfallt,  selbst  eine  schon  begründete  Na- 
tionalität sich  nicht  ferner  zu  halten  vermag,  denn 
auf  diesem  Momente  beruht  der  politische  und 
staatliche  Verband,  und  von  diesem  hängt  die  Ge- 
meinschaft des  Rechtes  und  zum  Theil  auch  der  Sitte 
ab,  ohne  welche  die  Nationalität  nicht  denkbar  ist." 
Nun  bemühen  sich  katholische  Gelehrte,  um  dem 
Nationalgott  auch  ihren  Obolus  zu  bringen,  andere 
Begriffe  aufzustellen  und  darauf  die  „nationalen 
Pflichten  auf  christlicher  Grundlage"  aufzubauen.  Das 
Gebahren  dieser  Herren  muss  näher  beleuchtet  werden. 
Wir  nennen  hier  zuerst  das  Werk  von  Dr.  Wendelin 
Heidegger,  Professor  an  der  theologischen  Lehranstalt 
zu  Brixen,  betitelt:  „Der  nationale  Gedanke  im  Lichte 
des  Christen thums".  Das  Buch  ist  versehen  mit  der 
Erlaubniss  des  Bischofs  Simon  Aichner  zum  Drucke. 
Man  hat  es  offenbar  beim  Konsistorium  in  Trient 
mit  der  Lesung  des  Manuscriptes  nicht  besonderlich 
genau  genommen.  Gehen  wir  nun  ein  wenig  näher 
auf  den  Inhalt  dieses  Buches  ein,  welches  vom  An- 
fang bis  Ende  von  Irrthümern  schwersten  Kalibers 
förmlich  wimmelt,  so  dass  der  Recensent  des  „Vater- 
fand" mit  Recht  behauptete,  von  dem  Buche  sei  nur 
der  Umschlag  ohne  Fehler.  Was  ist  nach  Dr.  Hei- 
degger Nationalität?  „Nationalität  bedeutet  etymolo- 
gisch Geburt,  Abstammung".  Genetisch  wird  „Nation" 
so  erklärt: 

„Aus  der  Familie  entstehen  weitere  Familien  und 
aus  diesen  wieder  andere,  welche  alle  miteinander 
blutsverwandt  sind.  Daher  kann  „Nation"  also  definirt 
werden:  sie  ist  eine  grosse  Anzahl  von  Menschen, 
welche  einen  gemeinsamen  Stammvater  haben  und 
daher  durch  Abstammung,  angeborene  Eigenthümlich- 
keiten,  Sitten  und  Gewohnheiten  und  besonders  durch 
eigene  Sprache  mitsammen  verbunden  sind."  Nach 
Heidegger  beruht  also  die  Nationalität  auf  der  gemein- 
samen Abstammung  und  der  daraus  resultirenden 
Blutsverwandtschaft  Volksgenossen,  Gonnationale  sind 
zugleich  Blutsverwandte.  Wie  diese  Theorie  Heideggers 
in  der  Wirklichkeit  aussieht,  davon  bringen  wir  sogleich 


347 


einen  schlagenden  Beweis,  Die  Juni-Nummer  der 
katholischen  Missionen  1902  enthält  einen  Artikel 
über  das  heutige  türkische  Reich,  einen  Auszug  aus 
dem  Werke  des  Kanonikus  Paul  Pisani :  „Les  Missions 
Gatholiques  Francaises  au  XIX.  siecle."  Da  lesen  wir 
über  das  Türken  volk  folgendes:  „Gewöhnlich  be- 
zeichnet man  die  mohamedanische  Bevölkerung  der 
europäischen  Türkei  und  Kleinasien  einfachhin  als 
Türken.  Es  wäre  aber  ein  arger  Irrtum,  sie  ohne  wei- 
teres als  die  Abkömmlinge  der  alten  turkomanischen 
Eroberer  zu  fassen.  „Man  kann  sogar  sagen,"  meint 
Pisani,  „dass  die  türkische  Rasse  als  solche  heute  in 
diesen  Ländern  überhaupt  nicht  mehr  existiert.  Jener 
feine  Typus  des  schmucken  tataro-finischen  Reiters, 
behend  und  kraftvoll,  von  mittlerem  Wuchs,  mit  leb- 
haftem Blick,  hervorspringenden  Oberwangen,  gerader 
Nase,  mit  dem  langen,  wie  ein  Krummsäbel  gebo- 
genen Schnurrbart,  tollkühn,  keine  Ermüdung  ken- 
nend, mit  dem  lebhaften,  unternehmenden  Geiste  — 
dieser  Typus  ist  verschwunden,  oder  richtiger,  er 
findet  sich  nur  noch  bei  den  Magyaren  Ungarns,  die 
ja  mit  den  Türken  die  Abstammung  teilen,  aber 
auf  den  Bahnen  einer  ganz  verschiedenen  christlichen 
Civilisation  umgewandelt  und  veredelt  wurden."  Die 
heutigen  Türken  haben  mit  ihren  Ahnen,  die  einst, 
wie  die  Windsbraut  über  den  christlichen  Orient  her- 
einbrechend, das  morsche  byzantinische  Kaiserreich 
in  Trümmer  schlugen  und  das  christliche  Byzanz  in 
das  türkische  Stambul  verwandelten,  fast  nichts  mehr 
gemein.  Die  seit  der  Eroberung  beliebt  gewordene 
Gewohnheit,  die  Harems  mit  Töchtern  fremder  Völker, 
besonders  Tscherkessinnen,  Griechinnen,  Syrerinnen 
und  selbst  mit  den  Kindern  der  lateinischen,  sla- 
vischen  und  germanischen  Rasse  zu  bevölkern,  hat 
durch  jahrhundertelange  Mischung  des  Blutes  den 
ursprünglichen  Typus  völlig  verändert.  Dazu  kam 
noch  der  Brauch,  den  unterworfenen-:  christliehen 
Völkern  eine  jährliche  Blutsteuer  von  Knaben  —  zöit- 
weise  waren  es  25.000  —  aufzulegen,  welche,  im 
Islam  erzogen  und  zu  Soldaten  herangebildet,  bald  den 
Kern  der  berühmten  Janitscharentruppen  bildeten  und 
dem  absterbenden  Herrschervolke   stets  frisches.  Blut 


348 


zuführten.  Die  eigentlichen  Türken  von  heute,  zumal 
die  Klasse  der  Effendis  (Effendi  =  Herr  ist  der  Ehren- 
titel des  türkischen  Beamten  und  sogen.  Gebildeten) 
ist  eine  Mischung  der  verschiedenartigsten  Rassen, 
ein  abgekommenes,  sittlich  erschlafftes  Geschlecht, 
ohne  geistige  Regsamkeit,  ohne  Charakter.  Die  tür- 
kische Trägheit  ist  sprichwörtlich,  die  Verlogenheit 
und  Käuflichkeit  des  Beamtenstandes  weltberüchtigt 
(vgl.  das  scharfe  Urtheil  von  VambSry,  Sittenbilder 
aus  dem  Morgenlande  S.  256).  Was  an  Fortschritt  in 
der  Türkei  zu  finden,  ist  fast  alles  den  Fremden  zu 
danken.  Das  war  übrigens  schon  früher  der  Fall. 
„Das  türkische  Reich",  schreibt  Geizer  (Geistliches 
und  Weltliches  aus  dem  türkisch-griechischen  Orient 
[1900]  S.  179),  „ist  so  gross  geworden  durch  die 
Christen.  Seine  genialen  Grossverziere,  Kapudan- 
paschas  und  Statthalter  sind  seit  der  Eroberung  Kon- 
stantinopels nahezu  ausnahmslos  Griechen,  Kroaten, 
Herzegowiner  und  Serben,  Albanesen,  Armenier,  Geor- 
gier und  Italiener  gewesen.  Der  regelmässig  geübte 
Knabenraub  hat  dem  Reiche  nicht  nur  seine  tapfersten 
Generale,  sondern  auch  seine  bedeutendsten  geistigen 
Kapacitäten  geliefert.*  Beispielsweise  waren  während 
der  Glanzepoche  unter  der  Regierung  Suleimans  und 
Selims  von  10  Grossverzieren  8  Renegaten.  Die  heu- 
tigen Osmanlis  sind  eine  aussterbende  Rasse;  von 
ihnen  selbst  ist  eine  Besserung  der  Zustände  in  keiner 
Weise  zu  erwarten.  Nicht  der  Türke,  sondern  der 
Araber  ist  heute  der  eigentliche  Träger,  die  Kern- 
truppe des  Islams  und  seiner  religiösen  Machtstellung." 
So  schaut  die  Theorie  über  den  Begriff  der  Nation 
nach  Dr.  Heidegger  in  Wirklichkeit  aus.  Wir  geben 
noch  ein  anderes  Beispiel. 

Die  Nordamerikanische  Union  zählte  sammt  Schütz- 
gebieten Ende  1901  eine  Bevölkerung  von  85,551.963 
Köpfen.  Diese  Bevölkerung  ist  entstanden  aus  fol- 
genden Elementen:  Vom  Jahre  1821  bis  1900  sind  in 
Nordamerika  eingewandert  aus 
Grossbritanien  und  Irland    .    .    .  7,063.140  Menschen 

Deutschland 5,097,869         „ 

Schweden  u.  Norwegen     ....  1,280.276 
Italien 1,057.918         „ 


349 


Oesterreich-Ungarn     ......  1,050.732  Menschen 

Russland 932.615         „ 

Frankreich 405.454         „ 

Kanada 1,049.711         „ 

Die  ansässige  Bevölkerung  Nordamerikas  im 
J.  1820  war:  9,633.822  Köpfe.  Daraus  das  obige  Re- 
sultat. Und  doch  verfolgt  das  heutige  Nord-Amerika 
eine  nationale,  nordamerikanische  Politik,  bei  welcher 
die  Sprache  eigentlich  keine  Rolle  spielt.  Noch  weiter. 
Was  sind  die  Engländer?  Sind  sie  wahrhaft  unter- 
einander blutsverwandt?  Keinesfalls.  Auf  den  Zuwachs 
der  Deutschen  in  Oesterreich  aus  slavischen  Elementen 
haben  wir  ja  schon  hingewiesen.  Man  kann  mit  Fug 
und  Recht  behaupten,  dass  fast  kein  Volk  blutrein 
ist.  Nur  die  weiter  von  einander  abstehenden  Ra§en 
vermischen  sich  nicht.  Es  ist  geradezu  auffallend, 
dass  Volksgenossen,  welche  zu  einer  Nation  ihre 
Zugehörigkeit  reklamieren,  ohne  von  ihr  durch  Geburt 
abzustammen,  gerade  die  wüthendsten  Nationalange- 
hörige sind.  So  kann  heute  jeder  Jude  in  Ungarn 
für  1  Krone  Stempel  Vollblutmagyar  werden,  und  was 
für  ein  wüthender  Magyar!  Lajos  Kossuth  war  ein 
Slowake  von  Geburt  Heute  wird  er  als  erster  Sohn 
des  Magyarenvolkes  gefeiert,  auf  den  eigentlichen 
Schöpfer  der  Grösse  und  Macht  Ungarns,  auf  Fr.  Deak 
denkt  man  nicht.  Die  wüthendsten  Deutschnationalen 
in  Oesterreich  und  die  Alldeutschen  wimmeln  von 
Namen  Jaksch,  Polak,  Bohaty,  Krepfca,  Peschka,  Wra- 
betz,  Schmeykal,  Kolisko,  Chlumetzky,  Dubsky,  also 
durchwegs  slavische  Namen,  daher  auch  slavische 
Abkunft.  In  Folge  dessen  sind  auch  die  weiteren 
Conclusionen,  welche  im  Werke  Heideggers  auf  dieser 
Blütverwandtschaft  beruhen,  vollständig  falsch. 

Wir  können  uns  nicht  weitläufig  mit  der  Arbeit 
Heideggers  befassen.  Welche  gefährlichen  Experimente 
im  Namen  des  Christenthums  in  der  Schrift  Heideg- 
gers vorkommen,  davon  ein  Beleg.  Auf  Seite  50 
(1  Auflage)  sagt  Heidegger:  Die  nationale  Thatkraft 
muss  sich  weiterhin  darin  zeigen,  dass  man  der  Nation 
und  den  Gonnationalen  wirksam  zu  Hilfe  kommt, 
dass  man  die  eigene  Nation  vertheidigt  und  ihren 
gegenwärtigen  nationalen  Besitzstand  gegen  ungerechte 


350 


Angriffe  schützt  etc.  Praktisch  angewendet  darf  nach 
Heidegger  der  Papst  von  dem  geeinigten  Italien  das 
Patrimonium  Petri  nicht  zurückverlangen,  denn  die 
italienische  Regierung  sagt  —  Rom  sei  unantastbar 
auch  für  die  Ansprüche  des  Papstes.  Und  ein  Theo- 
logieprofessor unweit  von  Rom  sagte  es  auch.  Der 
nationale  Besitzstand,  und  wäre  sein  Ursprung  noch 
so  verbrecherhaft,  darf  nicht  angetastet  werden !  Doch 
genug.  Die  Herren  spielen  mit  Feuer,  es  wird  die 
Frucht  nicht  ausbleiben.  Ein  zweites  Werk,  welches 
von  einem  katholischen  Theologieprofessor  geschrieben 
wurde,  ist  „Das  sprachliche  und  sprachlich-nationale 
Recht  vom  sittlichen  Standpunkte  aus"  von  Dr. 
Wenzel  Frind,  Kanonikus  des  Metropolitakapitels  in 
Prag,  ehedem  Professor  der  Moral  an  der  deutschen 
theolog.  Fakultät  in  Prag,  nunmehr  Weihbischof  von 
Prag.  (Erschien  in  Wien  1899  bei  Manz.)  Es  ist  noch 
ein  Glück,  dass  Dr.  Frind  seinem  Buche  nicht  den 
Titel  gab  „vom  christlich-sittlichen  Standpunkte  aus", 
denn  dann  hätte  er  der  christlichen  Moral  als  ehema- 
liger katholischer  Moralprofessor  einen  sehr  schlechten 
Dienst  gethan.  Das  ganze  Werk  Frinds  ist  aufgebaut 
auf  den  Sophisma  im  §  13,  Seite  97,  wo  verhandelt 
wird  über  die  Gleichwerthigkeit  der  Sprachen.  Dr. 
Frind  sagt  da  Folgendes:  „Die  Frage,  ob  die  Sprachen, 
beziehungsweise  welche  Sprachen  gleichwerthig  sind, 
setzt  die  Fixirung  des  Sinnes  voraus,  in  welchem  die 
Gleichwerthigkeit  verstanden  werden  will.  Im  Affekt- 
werthe  sowie  in  der  Benützung  derselben  Sprache 
seitens  der  Sprachgenossen  sind  selbstverständlich 
alle  Sprachen  gleichwerthig.  Allein  die  Frage  der 
Gleichwerthigkeit  geht  nicht  auf  den  Vergleich  des 
subjektiven  Verhaltens  der  Sprachgenossen  zu  ihren 
Muttersprachen,  sondern  auf  den  Vergleich  objektiver 
Momente.  Hier  tritt  zunächst  die  Verschiedenheit  der 
inneren  Sprachqualität  auf.  Die  Mischsprachen  stehen 
an  Formenkraft  den  Originalsprachen  nach.  Die 
klassischen  Sprachen  sind  noch  heute  die  Zierde 
unserer  Gymnasien  und  Niemand  wird  ihnen  die 
Mischsprachen  und  die  modernen  Sprachen  als  gleich- 
werthig an  die  Seite  stellen.  (Herr  Kanonikus  Frind 
ist  sehr  schlau,  er  lobt  die  Todten;   er  weiss  genau, 


351 


sie  werden  nach  der  Einführung  ihrer  Sprache  als 
Staatssprache  in  Oesterreich  nicht  schreien  wie  Wolf 
und  Schönerer.) 

Wichtiger  jedoch  und  ausschlaggebend  für  das 
Leben  und  für  die  Gewinnung  der  Anhaltspunkte 
zur  Beurtheilung  der  Rechtsseite  der  Sprachen 
ist  ihr  Gebrauchs werth.  Der  Gebrauchswerth  einer 
Sprache  hängt,  allgemein  genommen,  von  der  Summe 
der  sie  Sprechenden,  von  der  territorialen  Vertheilung 
dieser  Sprachgenossen,  sowie  auch  davon  ab,  welche 
kulturelle  und  gesellschaftliche  Interessen  in  dieser 
Sprache  vermittelt  werden."  Nachdem  Dr.  Frind 
diesen  überaus  schlauen  und  wichtigen  Fund  vom 
Affektions-  und  Gebrauchswerth  der  Sprachen  gemacht 
hat,  folgert  er  auf  Grund  der  offlciellen  Nationalitäten- 
statistik in  Oesterreich  (Seite  170),  dass  der  Gebrauchs- 
werth des  Deutschen  zum  Gechischen  ist  wie  60 : 6 
(Seite  195).  Folgert  weiter  die  Notwendigkeit  der 
deutschen  Staatssprache  für  Oesterreich  und  das 
»auf  sittlicher"  Grundlage.  Das  Buch  Frinds  trägt 
glücklicherweise  kein  imprimatur  vom  Erzbischof  oder 
vom  Konsistorium  in  Prag,  übrigens  ist  dieser  Um- 
stand nicht  ausschlaggebend.  Uns  fällt  der  eine  Ein- 
wand ein,  ob  der  Herr  Kanonikus  bei  Verfassung 
seines  Werkes  selbst  dem  lieben  Herrgott  eins  aufs 
Zeug  flicken  wollte?  War  denn  schon  bei  der  Sprach- 
verwirrung in  Babel  der  Unterschied  der  Sprachen 
nach  Affektion  und  Gebrauchswerth  etwa  von  Gott 
selbst  eingesetzt?  Uns  würde  es  nicht  wundern,  wenn 
Herr  Dr.  Frind  auch  dieses  in  seinem  Werke  bewiesen 
hätte.  Nichts  ist  unmöglich  und  das  Papier  ist  geduldig. 
Man  kann  sich  nun  vorstellen,  welche  Purzelbäume 
die  deutsche  Presse,  vorab  die  von  Hebräern  bediente, 
in  Oesterreich  geschlagen  hat,  als  das  genannte  Werk 
des  Prager  Domherrn  Dr.  Frind  auf  dem  Büchermarkt 
erschien.  Jetzt  haben  wir  es,  die  deutsche  Staats- 
sprache und  zwar  —  auf  sittlicher  Grundlage,  wer 
da  opponieren  wird,  der  ist  ein  Heide. 

Die  Judenpresse  war  ob  dieser  Leistung  des 
Prager  Kanonikus  Dr.  Frind  ausser  sich  vor  Freude, 
vielleicht  hätte  sie  nicht  einmal  solche  Freude  em- 


352 


pfunden,    wenn   Dr.   Frind   für   das   Hebräische   als 
Staatssprache  für  Oesterreich  eingetreten  wäre. 

Die  Partei-Organe  des  Pressfreundes  Dr.  Frinds, 
P,  Opitz,  erklärten  das  Werk  Dr.  Frinds  als  eine 
politische  grundlegende  Arbeit.  Oesterreichische  Volks- 
zeitung vom  7.  Jänner  1902  schreibt  zum  Beispiel 
Folgendes:  „Zweimal  lesen  muss  man,  um  seinen 
Augen  zu  trauen,  folgenden  Erguss  des  Cechisch- 
nationalen  Chauvinismus  in  der  „Politik"  gegen  einen 
katholischen  deutschen  Bischof,  dessen  einziges  „Ver- 
brechen" es  war,  dass  er  in  einem  Werke  klar  und 
logisch  die  christlichen  und  moral-philosophischen 
Grundsätze  darlegte,  welche  beim  sprachlich-nationalen 
Streite  namentlich  in  Böhmen  einzuhalten  sind.  Da 
nun  diese  christlichen  Grundsätze,  die  bisher  von 
keiner  Weise  zu  widerlegen  auch  nur  versucht  wurde, 
in  vielen  Punkten  den  Bestrebungen  und  Phantomen 
eines  Grosstheils  des  ßechischen  Volkes  zuwiderlaufen, 
so  hat  man  nun  den  ganzen  Hass,  dessen  ein  leiden- 
schaftlich nationales  Herz  fähig  ist,  gegen  diesen  von 
der  Kirche  inzwischen  zum  Bischof  erhobenen  Mann 
gekehrt,  einen  Hass,  der  aber  eigentlich  den  christ- 
lichen Grundsätzen  gilt,  welche  gewisse  Cechische  Be- 
strebungen in  die  sittlichen  Grenzen  weisen."  So  weit 
wir  wissen,  hat  die  katholische  Presse  der  Alpen- 
länder das  Werk  Dr.  Frinds  mit  Stillschweigen  über- 
gangen, was  nur  zu  bedauern  ist,  dass  sich  leider 
Niemand  fand,  um  den  heidnischen  Standpunkt  des 
Werkes  Dr.  Frinds  scharf  nachzuweisen.  Während 
Priester  in  Oesterreich  soweit  sie  in  der  Seelsorge 
beschäftigt  und  unter  der  Last  ihrer  Pflichten  oft 
zusammenbrechen,  haben  gewisse  Theologieprofesso- 
ren oder  Kanonici  nichts  besseres  zu  thun,  als  Theo- 
rien über  Nationalitätspflichten  in  den  Umlauf  zu 
setzen,  welche  nur  geeignet  sind  noch  mehr  Oel  in 
den  Brand  zu  giessen.  Anstatt  zu  versöhnen  und  zu 
mildern,  wird  da  von  einem  katholischen  Bischof 
eine  Theorie  der  Minderwerthigkeit  der  Sprachen 
nach  Gebrauchs  wer  th  in  Umlauf  gesetzt,  um  vom 
„sittlichen"  Standpunkt  aus  die  Unterjochung  und  Er- 
drückung nichtdeutscher  Völker  zu  Sanktioniren.  Kann 
es  etwas  Frivoleres  geben?   Merkwürdig  ist  es,   dass 


353 


beide  Werke  sowohl  Dr.  Heideggers  wie  Dr.  Frinds 
von  Rom  aus  vom  Index  keine  Gensur  erhielten, 
obzwar  beide  Arbeiten  die  schwersten  Irrthümer  der 
gefährlichsten  Art  enthalten,  und  zwar  deshalb,  weil 
beide  Arbeiten  von  katholischen  Priestern  sind  und 
als  solche  im  Umlauf  sich  befinden. 

XXI.  Streiflichter  Ober  kirchliche  Verhältnisse 
in  Böhmen. 

Es  ist  bekannt,  dass  über  innere  Verhältnisse 
in  Oesterreich  sehr  wenig  Wahres  in  die  Oeffent- 
lichkeit  kommt.  Die  Ursache  liegt  darin,  dass  die 
Presse  in  Oesterreich  zu  90  Prozent  in  den  Händen 
der  Press-Hebräer  ruht.  Das  grosse  Publikum  wird 
von  dieser  Presse  wie  ein  blödes  Kind  am  Gängel- 
band herumgeführt.  Daher  kommt  es,  dass  auslän- 
dische Blätter  viel  besser  unterrichtet  sind  über 
innere  Vorgänge  in  Peking,  als  zum  Beispiel  von 
Prag,  der  Hauptstadt  Böhmens.  Die  kirchlichen  Ver- 
hältnisse in  Oesterreich  sind  im  Allgemeinen  sehr 
trauriger  Natur.  Es  gibt  zum  Beispiel  in  Nordböhmen 
Gegenden,  wo  ein  Priester  überflüssig  ist,  kein  Mensch 
geht  das  ganze  Jahr  hindurchv  in  die  Kirche,  nicht 
als  ob  der  Priester  etwa  ein  Cechoslave  wäre,  nein, 
auch  wenn  er  ein  Deutscher  ist.  Hat  ja  Schönerer 
ausdrücklich  öfters  ausgesprochen,  dass  die  All- 
deutschen überhaupt  mit  den  Pfaffen  nichts  zu  thun 
haben  wollen.  Daran  wird  nichts  geändert,  und  mögen 
Dr.  Heidegger  und  Dr.  Frind  sich  noch  so  sehr  vor 
dem  nationalen  Götzen  beugen  und  die  katholische 
Religion  und  Kirche  auf  Gnade  und  Ungnade  dem 
furor  teutonicus  preisgeben,  es  wird  ihnen  nichts 
nützen,  Schönerer,  Wolf  et  Gonsortes  wollen  über- 
haupt nichts  von  katholischer  Religion  wissen  und 
hören,  sie  schwören  auf  Odin.  Im  Maiheft  1902  der 
„Wahrheit"  schreibt  „Austriacus"  auf  Seite  217  folgen- 
des über  die  Stellung  der  katholischen  Priester  in 
Oesterreich. 

Wie  wird  Rom,  die  Kirche,  in  Osterreich  behan- 
delt? Die  Geistlichkeit  befindet  sich  in  der  Gewalt  des 
Staates,  d.  h.  eines  kirchenfeindlichen  Beamtenthums, 
in  dessen  Händen  sich  auch  das  Kirchengut  (Religions- 

28 


854 


fond)  befindet.  Durch  das  Lutherthum,  die  daraus 
erfolgten  Kriege  und  Verwüstungen,  ist  die  Zahl  der 
Pfarreien  sehr  vermindert  worden.  Und  ein  Bischof  in 
Böhmen  blieb  sechs  Jahre  ohne  Antwort,  als  er  die 
Genehmigung  zur  Erhebung  einer  geldlich  genügend 
ausgestatteten  Filiale  zur  selbständigen  Pfarrei  ver- 
langte. Dabei  hatte  er  auf  die  Gefahr  des  Abfalls, 
angesichts  der  ungenügenden  Seelsorge  und  der  Schü- 
rungen  der  benachbarten  (nichtösterreichischen)  Pro- 
testanten, hingewiesen.  Trotz  schreienden  Bedürf- 
nisses bleibt  die  Zahl  der  Pfarreien  klein,  die  meisten 
Priester  haben  nur  eine  unselbständige,  ärmliche  Stel- 
lung. Dagegen  wird  jeder  Prediger,  der  einige  Prote- 
stanten um  sich  sammelt,  sofort  als  selbständiger 
Pfarrer  anerkannt.  Als  die  Prediger  aus  dem  Deut- 
schen Reich  in  Oesterreich  einbrachen,  um  die  Los 
von  Rom-Bewegung  hervorzurufen,  gegen  Kirche  und 
Oesterreich  zu  hetzen,  beeilten  sich  die  Behörden, 
ihnen  Pfarrechte  und  Naturalisation  entgegenzubrin- 
gen. Die  Behörden,  obenan  der  Minister  v.  Koerber, 
verhalten  sich  sehr  wohlwollend  gegen  die  Bewegung, 
rühmen  die  protestantischen  Blätter  Deutschlands 
Wie  der  geistliche  Stand  durch  die  amtliche  Bevor- 
mundung, die  Ueberladung  mit  unnützem  Schreibwerk, 
geringes  Einkommen,  oft  geradezu  verächtliche  Be- 
handlung seitens  der  Behörden  herabgedrückt  wird, 
ist  bekannt.  Trotzdem  zeigt  das  Volk  noch  immer 
Achtung  für  seine  Priester.  Aber  wie  oft  liest  man 
in  den  Blättern,  welche  jedenfalls  nur  einige  der 
grellsten  Fälle  aufweisen,  wie  Priester  in  den  Städten 
auf  öffentlicher  Strasse,  selbst  in  Ausübung  ihres 
Amtes,  angefallen,  verhöhnt,  beschimpft  werden.  Es 
sind  immer  sogenannte  Gebildete,  Leute  aus  den 
wohlhabenden  Klassen,  Künstler,  Aerzte,  besonders 
aber  Studenten,  welche  in  dieser  Weise  ihr  Müthchen 
kühlen,  die  Priester  anlümmeln.  Wie  die  Studenten 
den  Mitgliedern  katholischer  Studentenvereine  mit- 
spielen, zeigen  gar  zu  viele  Vorfälle,  während  die 
akademischen  Behörden  sich  dadurch  auszeichnen, 
dass  sie  die  Lümmel  eher  in  Schutz  nahmen,  als 
tadelten.  Die  Herabdrückung  und  Einengung  des  Prie- 
sterstandes,   die  Entchristlichung  der  Schulen  haben 


355 


dem  Nationalitätenhader  unendlichen  Vorschub  ge- 
leistet, steigern  denselben  noch  jeden  Tag.  Der 
Nationalitätenkampf  ist  Gift  für  Oesterreich,  hat  dabei 
auch  auf  die  Geistlichkeit  selbst  zurückgewirkt.  Es 
giebt  leider  Geistliche,  welche  die  ihnen  fremde 
Nationalität  ganz  unchristlich  hassen.  Soweit  „Austri- 
acus".  Wenn  wir  auf  die  kirchlichen  Verhältnisse  in 
den  böhmischen  Ländern  des  Näheren  eingehen, 
müssen  wir  konstatieren,  dass  die  Seelsorge  bis  zu 
den  80ger-Jahren  auch  in  deutschen  Gemeinden  in 
Böhmen,  Mähren  und  Schlesien  zum  grossen  Theil 
von  Priestern  böhmischer  Nationalität  versehen  wurde. 
In  der  Zeit  der  Hochfluth  des  Judenliberalismus,  in 
der  Zeit  des  ungeahnten  wirtschaftlichen  Aufschwun- 
ges, wo  der  Staat,  Eisenbahnen,  Geld-  und  Kredit- 
institute, Geschäfts-  und  Fabriksunternehmungen  alle 
jungen  Männer  als  Arbeitskräfte  aufbrauchten  und 
placierten,  da  fiel  es  in  den  böhmischen  Ländern  fast 
keinem  deutschen  Abiturienten  ein  sich  dem  Priester- 
stande zu  widmen.  Wozu  denn  ?  Alle  Welt  stand  offen. 
Und  so  gingen  Abiturienten  aus  den  böhmischen 
Gymnasien  in  Priesterseminare,  die  bis  zum  Jahre 
etwa  1890  wohl  über  die  Hälfte  böhmische  Priester- 
kandidaten hatten.  Söhne  armer  böhmischer  Eltern 
fanden  dadurch  ein  Fortkommen,  da  sie  ja  gewöhnlich 
die  Mittel  zu  Studien  an  der  Universität  nicht  zur 
Verfügung  hatten.  Das  deutsche  Landvolk  war  mit 
seinen  böhmischen  Pfarrern  und  Kaplänen  zufrieden, 
kein  Mensch  fragte  darnach,  ob  der  Pfarrer  oder 
Kaplan  ein  verhasster  Böhm  hoder  aber  Vollblut- 
Teutone  ist.  Aber  mit  der  Hocfluth  der  nationalen 
Hetze  haben  sich  auch  hier  die  Verhältnisse  gründ- 
lich zum  Schlechten  gewendet  Die  Deutschnationalen 
gaben  das  Losungswort  —  kein  böhmischer  Pfaff  im 
deutschen  Sprachgebiet,  und  wagt  einer  zu  kommen 
—  so  Abfall  zum  Luther  oder  sonst  Austritt  aus  der 
katholischen  Kirche. 

Damit  wurde  denn  ein  Druck  auf  die  Konsistorien 
geübt,  sobald  sich  um  die  Besetzung  einer  Pfründe 
mit  vorwiegend  deutscher  Seelsorge  handelte.  Sämmt- 
liche  Konsistorien  kapitulierten  vor  den  Deutschnati- 
onalen.   Wie    die  Sachen  heute  stehen,,  darf  in  Böh- 

23* 


356 


men,  Mähren  und  Schlesien  in  deutschen  Gemeinden 
kein  Priester  böhmischer  Nationalität  als  Pfarrer  an- 
gestellt werden,  wenn  nicht  zuvor  die  Gemeinden 
dem  Konsistorium  ihre  Zustimmung  geben  und  wenn 
der  böhmische  Pfarrkandidat  selbst  20  Jahre  als 
Kaplan  hier  gedient  und  in  Arbeit  und  Mühe  grau 
geworden  ist,  —  er  ist  kein  Deutscher  —  er  darf 
nicht  Pfarrer  werden  —  wenn  die  Gemeinden  nicht 
einwilligen.  Diese  Dinge  wären  nicht  so  rasch  zum 
Abschluss  gekommen,  wenn  nicht  mit  den  Deutsch- 
nationalen ähnlich  gesinnte  Priester  deutscher  Natio- 
nalität an  diesem  Boykott  mit  ihre  Hand  angelegt 
hätten.  Das  grösste  Verdienst  in  dieser  Angelegenheit 
gebührt  unbestritten  dem  Priester  Ambros  Opitz, 
Dieser  Priester  fieng  an,  etwa  vor  20  Jahren,  also 
Anfangs  1880  in  Warnsdorf  ein  katholisches  Wochen- 
blatt „Warnsdorfer  Volkszeitung"  herauszugeben,  die 
jetzt  unter  dem  Namen  „Oesterreichische  Volkszeitung" 
herauskommt.  Das  Blatt  hatte  sich  anfangs  zur 
Aufgabe  gestellt,  gegen  den  Liberalismus  in  Nord- 
Böhmen  und  die  altkatholische  Abfallsbewegung  zu 
kämpfen.  Zahlreiche  böhmische  Pfarrer  haben  bereit- 
willig dem  Presspriester  Opitz  Geldmittel  gegeben. 
Opitz  wurde  wohlhabend,  erwarb  eine  Buchdruckerei 
in  Warnsdorf  und  damit  gieng  mit  ihm  eine  Wand- 
lung vor;  er  wurde  Führer  der  deutschgesinnten  Prie- 
ster, es  wurde  Herr  der  Leitmeritzer  Diöcese,  vor 
ihm  zitterte  der  Bischof,  ihm  musste  auch  das  Konsi- 
storium gehorchen.  Die  Opitzianer  verfügten  über 
wichtige  Stellen  im  Konsistorium,  und  fast  alle  Theo- 
logie-Professoren waren  und  sind  Förderer  und  Gön- 
ner des  P.  Opitz.  Etwa  inmitten  der  90ger-Jahre 
fieng  das  Organ  P.  Opitz'  die  deutschnationale  Fahne 
zu  entfalten. 

Es  vergieng  fast  keine  Nummer  des  Warnsdorfer 
Organes  P.  Opitz',  wo  nicht  an  verschiedenen  Stellen 
die  Behauptung  aufgestellt  wurde,  der  böhmische 
Priester  könne  in  deutschen  Gemeinden  als  Seelsorger 
nicht  wirksam  auftreten,  kurz  er  könne  sich  mit  einem 
deutschen  Priester  nicht  messen.  Diese  Brandfackel 
wirkte  sehr  bald.  Sobald  eine  Stelle,  sei  es  ein  Ka- 
nonikat,    oder   ein    Lehrstuhl  oder  ein  grösseres  Be* 


357 


neficium  zu  besetzen  war,  hatte  das  Organ  des  P. 
Opitz  sofort  seinen  Kandidaten  und  setzte  seinen 
ganzen  Terrorismus  ein,  dass  kein  böhmischer  Kan- 
didat es  wagen  darf  um  ähnliche  Stellen  zu  petiren, 
nur  arme  Gebirgspfarren  werden  den  böhmischen 
Priestern  überlassen  und  letztere  Zeit  auch  diese 
nicht  mehr.  Als  vor  Jahren  der  damalige  Vicerektor 
P.  Bernat  um  ein  Kanonikat  eingereicht  hatte,  flehte 
der  Bischof  ihn  an,  er  solle  sein  Gesuch  zurück- 
nehmen und  sagte  ihm,  wenn  er  es  nicht  thue,  so 
wird  ihm  die  Opitzpartei  die  Residenz  erstürmen.  Ein 
Bezirksdekan  drückte  sich  in  der  Pastoralkonferenz 
offen  aus,  er  werde  nicht  früher  ruhen,  bis  der  letzte 
böhmische  Kaplan  aus  seinem  Dekanat  hinaus  sei. 
Die  böhmischen  Priester  müssen  beim  Konsistorium 
in  Leitmeritz  den  Pfarrkonkurs  in  deutscher  Sprache 
ablegen,  dabei  werden  sie  von  den  Domherren  der 
Opitzpartei  hämisch  kritisirt,  falls  sie  einen  Sprach- 
fehler machen.  Ein  deutscher  Alumnus  sagte  dem 
Vicerektor  Bernat :  Ich  als  Deutscher  gelte  mehr  als 
ein  böhmischer  Theologe.  Ein  Theologieprofessor  sagte 
in  seinen  Vorlesungen  über  die  Moral :  Ein  böhmischer 
Arbeiter  im  deutschen  Sprachgebiet  muss  so  viel 
deutsch  können,  dass  er  in  der  Beichte  deutsch 
beichten  kann  —  er  habe  gestohlen.  Kurz  der  wildeste 
Hass  gegen  alles  böhmische,  hauptsächlich  gegen 
böhmische  Priester  ist  in  ganz  Deutschböhmen  auch 
durch  das  zweite  Ogan  des  Opitz  der  „Reichspost" 
auch  in  Nieder-Oesterreich,  Mähren,  Schlesien  ein- 
gerissen. In  Folge  dieser  wüsten  Treibereien  gegen 
Priester  böhmischer  Nation  hörte  der  Zudrang  böh- 
mischer Priesterkandidaten  nach  Leitmeritz  nach  dem 
Jahre  1890  allmählig  auf.  Seminardirektor  Kordaö, 
ein  Gzechoslave,  berief  nun  reichsdeutsche  Theologen, 
bereiste  in  Ferien  reichsdeutsche  Diöcesen  und  warb 
dort  alle  Jahre  Kandidaten.  Diese  Kandidaten  werden 
vom  Konsistorium  in  Leitmeritz  ausgehalten,  da  der 
Religionsfond  für  Ausländer  nicht  beansprucht  werden 
kann.  Die  Geldmittel  zur  Erhaltung  der  reichsdeutschen 
Theologen  im  Seminar  in  Leitmeritz  verschaffte  sich 
das  Konsistorium  aus  dem  Nachlasse  des  verstorbenen 
Domkapitular  Rehäk,  der  ein  ansehnliches  Vermögen 


358 


hinterliess.  Also  Ersparnisse  eines  verhassten  böh- 
mischen Prälaten  ermöglichen  reichsdeutschen  Theo- 
logen den  Zutritt  zum  Priesterberuf  in  Böhmen, 
während  die  Söhne  des  eigenen  Landes  wie  ein  Wild 
proskribirt  sind.  Das  sind  die  Früchte  der  Hetze 
der  Opitz-Partei.  Aber  eine  Genugthuung  ist  doch 
schon  da.  Selbst  deutsche  Pfarrer  haben  dem  Konsi- 
storium nach  Leitmeritz  Proteste  eingeschickt,  sie 
wollen  reichsdeutsche  Eapläne  nicht  haben.  Der  be- 
jahrte Kanzler  Seyfert  wetterte  im  Konsistorium :  das 
soll  auch  schon  der  Teufel  holen,  jetzt  wollen  deut- 
sche Pfarrer  deutsche  Priester  nicht  haben.  Diese 
Experimente  werden  dem  Nationalgott  zu  Liebe  ge- 
bracht, das  Konsistorium  glaubt  die  Wuotansanbeter 
milder  zu  stimmen.  Und  doch  ist  im  Deutschen 
Reiche  eine  bittere  Noth  um  katholische  Priester.  Nur 
die  Diöcese  von  Breslau  hat  derzeit  70  bis  90  Pfarreien 
unbesetzt! 

Hier  in  der  Kirche  wiederholt  sich  dasselbe 
Schauspiel  wie  im  Staate.  Die  Deutschnationalen 
sagen :  wir  sind  der  Mörtel,  wir  die  Mehrwerthigen,  wir 
die  allein  Berufenen  als  Bureauchefs,  die  Söhne  der 
böhmischen  Nation  als  Minderwerthige  dürfen  Kanzlei- 
diener sein.  Wir  deutschnational  gesinnte  Priester, 
wir  als  Mehrwerthige  haben  allein  Anrecht  auf  Bischof- 
stühle, Kanonikate,  Lehrkanzel,  bessere  Praebenden, 
—  böhmische  Priester,  als  Minderwerthige,  mögen 
Hungerpfarreien  pastoriren,  die  wir  selbst  nicht  pa- 
storiren  mögen.  So  ist  der  Nationalitätenkampf  in 
seinem  Wesen  nicht  der  Kampf  um  die  Sprache, 
nein  und  tausendmal  nein,  er  ist  ein  Kampf  um  das 
Brod,  wie  er  schmutziger  nicht  sein  kann,  umso 
niederträchtiger  als  er  auch  mit  dem  Deckmantel 
des  Christenthums  umhüllt  wird.  Der  bejahrte  ehren- 
werthe  Theologie-Professor  Dr.  Hackel,  ein  Deutscher, 
am  Priesterseminar  in  Leitmeritz,  pflegte  unverhohlen 
den  Opitzjüngern  ins  Gesicht  zu  sagen,  er  habe 
böhmische  Theologen  lieber,  weil  sie  im  Allgemeinen 
bescheiden  und  arbeitsam  sind,  während  deutsche 
Theologen  ans  ihrer  Nationalität  für  ihre  Person 
Kapital  schlagen  und  nichts  studiren.  Die  Kirche 
müsse  sich  ja  zur  Ehre  anrechnen,  dass  ein  deutscher 


359 


Jüngling  den  Priesterstand  wähle.  Während  Priester- 
kandidaten für  die  Diöcese  Leitmeritz  draussen  im 
Reiche  um  schweres  Geld  angeworben  werden,  irren 
oft  Priester  dieser  Diöcese  böhmischer  Nation  in  der 
Fremde  herum  als  förmliche  Bettelpriester  und 
müssen  froh  sein,  wenn  sie  irgend  wo  in  Nieder- 
oder Ober-Oesterreich  ein  Messleserposten  erhalten, 
der  sie  vor  dem  Hunger  schützt.  Nicht  allein  die 
böhmischen  Priester  leiden  furchtbar  unter  dieser 
Nationalitätenhetze  die  von  Jahr  zu  Jahr  an  Schärfe 
zunimmt,  auch  das  Laienvolk,  meistens  Arbeiter,  obweil 
sie  im  deutschen  Sprachgebiet  ihr  Brod  suchen, 
haben  viele  Leiden  zu  ertragen.  Vor  allem  wird  den 
böhmischen  Arbeitern  jeder  geistliche  Beistand  gänz- 
lich vorenthalten.  Die  Opitzianer 'sagen:  im  deutschen 
Sprachgebiete  gibt  es  keine  nationalböhmischen  Mi- 
noritäten, daher  muss  die  Seelsorge  deutsch  sein. 
Am  17.  Jänner  1898  sprach  auf  dem  böhmischen 
Landtag  P.  Opitz,  der  Führer  des  deutschnational 
gesinnten  deutschen  Klerus  in  Oesterreich  folgendes: 
„Ich  achte  ihre  Sprache  (die  böhmische),  ich  bedauere, 
dass  ihre  heutige  Entwicklung  nicht  früher  voraus- 
gesehen wurde,  dass  wir  nichtf  rüheran  geleitet  wurden, 
die  zweite  Landessprache  uns  zu  eigen  zu  machen. 
Wir  Deutsche  sind  durch  unsere  Lebensverhältnisse 
nicht  in  der  Lage,  dass  wir  uns  der  czechischen 
Sprache  bemächtigen  müssen."  Die  deutschen  Theo- 
logen in  Leitmeritz  haben  denn  auch  diese  Worte 
P.  Opitz  konsequent  prakticirt  und  haben  nie  böhmisch 
gelernt,  im  Gegentheil,  immer  nach  der  Sentenz  der 
Organe  des  P.  Opitz  offen  und  unverhohlen  im  Se- 
minar ihre  Verachtung  zur  böhmischen  Sprache  an 
den  Tag  gelegt.  Weiter  sagte  P.  Opitz  in  derselben 
Sitzung  des  Landtages  über  das  deutsche  Sprach- 
gebiet folgendes:  „Das  Land  Böhmen  ist  in  jenen 
Theilen,  wo  der  deutsche  Volksstamm  kompakt  ge- 
schlossen zusammenwohnt  durch  die  Geschichte, 
durch  die  ganze  Entwicklung  Eigenthum  der  Deut- 
schen." Daraus  folgt  die  praktische  Anwendung,  alle 
böhmischen  Priester  müssen  hinausgejagt  werden,  und 
böhmischen  armen  Arbeitern  braucht  man  in  ihrer 
Muttersprache  keinen  geistigen  Beistand   leisten,  denn 


360 


sie  essen  deutsches  Brot,  müssen  also  auch  deutsch 
verstehen. 

Böhmische  Minoritäten,  velche  besonders  in  gros- 
seren Industriestädten  in  Nordböhmen  Tausende 
Angehörige  zählen,  haben  nicht  einmal,  auch  dreimal 
schriftlich  um  eine  entsprechende  böhmische  Seel- 
sorge beim  Konsistorium  in  Leitmeritz  angesucht,  aber 
sie  bekommen  auf  ihre  Eingaben  vom  Konsistorium 
konsequent  überhaupt  keine  Antwort  und  wenn  über- 
haupt eine  gegeben  wird,  dann  ist  sie  ausweichend. 
Im  Bischofsitze  selbst  in  Leitmeritz  ist  eine  natio- 
nale böhmische  Minorität  von  gut  5000  Menschen. 
Ihnen  wird  in  der  Stadtkirche  nur  in  der  Fasten- 
zeit Nachmittag  böhmisch  gepredigt,  die  Kirche  kann 
die,  welche  zuhören  kommen,  nicht  fassen.  Andere 
Kirchen  sind  leer.  In  Lobositz  sind  1800  Böhmen. 
Die  Predigten,  die  Seelsorge  sind  nur  deutsch.  Aussig 
a.  d.  Elbe  hat  8000  Böhmen,  Schönpriesen,  Türmitz, 
Proedlitz,  Nestomitz,  alle  diese  Ortschaften  beher- 
bergen Tausende  von  Böhmen;  aber  die  Seelsorge 
überall  nur  deutsch.  In  Aussig  a.  d.  Elbe  ist  in  der 
Fastenzeit  ein  Cyklus  böhmischer  Predigten,  die  Theil- 
nahme  an  denselben  ist  regelmässig  eine  so  massen- 
hafte, dass  wahre  Gotteshirten  eine  überaus  reiche 
Ernte  hätten,  aber  dem  Wuotan  müssen  Tausende 
Christenseelen  geopfert  werden,  das  Konsistorium  in 
Leitmeritz  zittert  vor  diesem  Götzen.  In  Karbitz  sind 
800  Böhmen,  in  den  anliegenden  Gemeinden  sind 
auch  zahlreiche  Böhmen,  die  Seelsorge  war  deutsch. 
In  Bodenbach,  Tetschen  und  Umgebung  sind  Tau- 
sende von  Böhmen,  die  Seelsorge  nur  deutsch.  Die 
Bezirke,  Teplitz,  Dux,  Brüx  sind  total  vermischt  mit 
nationalen  böhmischen  Minoritäten.  Die  böhmische 
Schule  in  Teplitz  hat  über  300  Kinder  böhmischer 
Nationalität,  die  böhmische  Schule  in  Thurn  hat 
700  Kinder,  in  Kosten  bei  Teplitz  hat  die  böhmische 
Schule  über  300  Kinder.  In  allen  diesen  grossen 
Gemeinden  ist  von  einer  böhmischen  Seelsorge  keine 
Spur,  die  Kinder  böhmischer  Schulen  sehen  dass 
ganze  Jahr  überhaupt  keinen  Priester,  auch  den  Beicht- 
und  Kommunionsunterricht  geniessen  sie  nicht,  sie 
wachsen  heran   in  religiöser  Hinsicht  ganz  ohne  Pa- 


361 


storation  von  Seite  katholischer  Priester.  Dux  allein 
hat  mindestens  5000  böhmischer  Einwohner,  Ladowitz 
hat  ihrer  über  2000,  Bruch  zählt  8000  Einwohner, 
zwei  Drittel  davon  sind  böhmischer  Nationalität.  Die 
böhmische  Schule  in  Bruch  hat  über  600,  in  La- 
dowitz über  250,  in  Dux  über  750  Kinder  böhmischer 
Nationalität.  In  Schwatz  hat  die  böhmische  Schule 
400  Kinder.  Osseg  zählt  10.000  Einwohner,  ein  gutes 
Drittel  ist  böhmischer  Nationalität.  Die  böhmische 
Schule  hat  hier  400  Kinder.  Neu-Warnsdorf  bei  Klo- 
stergrab ist  mit  seinen  400  Einwohner  fast  ganz  böh- 
misch, selbst  die  Deutschen  nennen  diese  Gemeinde 
das  böhmische  Dorf.  In  Ladowitz  darf  der  Pfarrer  in 
der  Kirche  keine  böhmische  Predigt  abhalten,  die 
250  böhmische  Schulkinder  dürfen  in  der  Kirche 
keine  böhmischen  Kirchenlieder  singen.  Brüx  zählt 
mindestens  8000  Einwohner  böhmischer  Nationalität. 
Die  böhmische  Schule  zählt  hier  über  700  Kinder.  In 
Tschausch  sind  3500  Einwohner,  a/s  davon  sind  böh- 
mischer Nationalität.  Die  böhmische  Schule  hat  hier 
über  300  Kinder.  Kopist  hat  3000  Einwohner,  die 
Mehrzahl  davon  böhmischer  Nationalität.  Die  böh- 
mische Schule  zählt  hier  über  500  Kinder.  Oberleutens- 
dorf  zählt  12.000  Einwohner,  davon  sind  min- 
denstens  5000  böhmischer  Nationalität.  Als  die  erste 
Klasse  der  böhmischen  Schule  hier  eröffnet  wurde, 
waren  in  ihr  150  Kinder  eingeschult.  Niedergeorgenthal, 
Wiese  und  die  umliegenden  Gemeinden  zählen  Tau- 
sende böhmischer  Einwohner.  In  Saaz  sind  1500  Ein- 
wohner böhmischer  Nationalität.  Die  Schule  zählt 
hier  250  Kinder.  In  Reichenberg  sind  mindestens 
9000  Gzechoslaven.  Gablonz,  Grünwald,  Tannwald 
haben  starke  böhmische  Minoritäten.  In  Trautenau 
sind  4000  Böhmen. 

Böhmischer  Gottesdienst  wird  hier  in  einem 
Privathaus  abgehalten,  wie  vor  1800  Jahren  zu  Zeit 
der  Ghristenverfolgungen  im  römischen  Reiche.  In 
Hohenelbe,  Braunau  und  Arnau  sind  ebenfalls  starke 
Minoritäten.  Ueberall  wird  für  diese  Angehörigen 
böhmischer  Nationalität  absolut  keine  Rücksicht  geübt. 
Der  rücksichtsloseste  furor  teutonicus  verwehrt 
diesen   Hunderttausenden   von   Arbeitern   und   ihren 


362 


Angehörigen  jeglichen  geistlichen  Zuspruch,  der  nicht 
einmal  den  wilden  Indianern  in  Amerika  und  den  Negern 
und  Hottentotten  in  Afrika  vorenthalten  wird.  Hunderte 
von  Kindern,  welche  die  böhmischen  Schulen  in  den 
hier  nur  beispielsweise  angeführten  Industriecentren 
besuchen,  sehen  das  ganze  Jahr  hindurch  keinen 
Priester,  werden  überhaupt  nicht  zu  den  hl.  Sacra- 
menten  geführt,  sie  wachsen  heran  wie  die  heid- 
nischen Kinder  an  den  Ufern  der  Ubanghi  in  Central- 
afrika.  Wir  wollen  hier  besonders  auf  eine  Gruppe 
der  Verlassenen  hinweisen.  In  den  Braunkohlenbe- 
zirken von  Teplitz,  Dux,  Brüx,  Falkenau  sind  be- 
schäftigt rund  32.000  Arbeiter,  welche  sicher  zu  80 
Prozent  böhmischer  Nationalität  sind.  Man  kann  hier 
also  mit  einer  Bevölkerung  von  150.000  Menschen 
rechnen.  Diese  bilden  dort  die  Arbeiterkolonien  wie 
in  Ladowitz,  Bruch,  Kosten,  Zuckmantel  und  andere. 
In  Folge  der  vollständigen  Vernachlässigung  dieser 
Arbeitermassen  von  Seite  der  Seelsorge  herrscht  eine 
furchtbare  Demoralisation  in  diesen  Kolonien.  Sämmt- 
liehe  Kohlenarbeiter  sind  denn  auch  Angehörige  der 
rothen  sozialistischen  Internationale.  Das  hat  man 
deutlich  gesehen  beim  grossen  Kohlenstreik  im  Jänner 
1900.  Welche  Zustände  der  wilde  und  gerade  teuf- 
lische Hass  gegen  Angehörige  der  böhmischen  Nation 
auch  schon  in  den  Reihen  der  Priester  zeitigt,  davon 
gibt  folgender  Vorfall  einen  traurigen  Beleg.  Die 
Gemeinde  Schumburg,  polit  Bezirk  Gablonz,  zählt  rund 
3500  Einwohner. 

Sie  war  eingepfarrt  zur  Pfarre  Pfichovic.  Die 
Bevölkerung  ist  hier  stark  durcheinander  gemischt 
Aus  dem  Religionsfond  wurde  hier  eine  Pfarrei  und 
Pfarrkirche  gebaut,  der  Monarch  spendete  zum  Baue 
der  Kirche  aus  den  allerhöchsten  Privatmitteln  10.000 
Kronen.  Das  Patronatsrecht  gehört  dem  Bischof.  Als 
erster  Pfarrer  wurde  hier  ernannt  vom  Bischof  der 
Priester  Franz  Symon,  der  11  Jahre  als  Kaplan  in 
Karbitz  bei  Teplitz  wirkte.  Als  er  seine  Stelle  als 
Pfarrer  vom  Schumburg  antreten  wollte  und  in  die  Ge- 
meinde kam,  verweigerte  ihm  der  Gemeinderath  die 
Herausgabe  der  Schlüssel  sowohl  von  der  Pfarre  wie 
von  der  Kirche.  Die  „Ostdeutsche  Rundschau"  schreibt 


363 


ganz  vergnügt  in  der  Nummer  vom  7.  Dezember  1902 
über  diesen  Vorfall  folgendes:  Aus  Schumburg  a.  d. 
Desse  (Bezirk  Gabi onz)  wird  uns  geschrieben:  Wie 
wir  bereits  gemeldet,  verweigerte  die  Gemeinde  Schum- 
burg die  Ausfolgung  der  Kirchenschlüssel  an  den  für 
hier  ernannt  gewesenen  tschechischen  Pfarrer  P.  Sy-> 
mon,  welcher  in  Folge  dessen  wieder  abreisen  musste. 
Die  hierüber  mit  dem  Konsistorium  in  Leitmeritz  ge- 
pflogenen Verhandlungen  und  Vorstellungen  haben 
endlich  zu  dem  Ergebnisse  geführt,  dass  ein  deutscher 
Pfarrer  in  der  Person  des  P.  Andreas  Böhm,  derzeit 
Kooperators  in  Sebastiansberg,  in  den  nächsten  Tagen 
in  Schumburg  seinen  Einzug  halten  wird.  Dieser  be- 
rechtigte Wunsch  der  Bevölkerung  von  Schumburg, 
die  Anstellung  eines  deutschen  Pfarrers,  ist  somit  in 
Erfüllung  gegangen.  Rom  hat  sich  vor  dem  deutschen 
Volkswillen  verbeugen  müssen,  damit  die  Deutschen 
von  Schumburg  sich  wieder  unter  das  Joch  Roms 
beugen.  Die  Gemeinde  Schumburg,  das  ist  ihre  Ver- 
tretung, hätte  sicher  dies  nicht  gethan,  wäre  sie  nicht 
lange  Zeit  vorher  vom  Priester  Kamshof  einem  Reichs- 
deutschen gehetzt  worden,  der  selbst  auf  diese  Pfarr- 
stelle reflektirte.  Kamshof  wurde  hier  vom  Konsi- 
storium zum  Katecheten  eingesetzt.  Die  Zeit  benützte 
er  zu  Agitationen  für  seine  Ernennung  zum  Pfarrer, 
was  ihm  aber  misslang.  Der  Priester  Franz  Symon 
wirkte  11  Jahre  als  Kaplan  in  Karbitz.  Er  sollte  nach 
den  üblichen  Gewohnheiten  die  Patronatspfarre  Kulm 
erhalten.  Aber  sein  Gegner  Herlt,  Kaplan  in  Kulm 
verhetzte  die  Gemeinde  derart,  dass  sie  mit  einem 
Massenabfall  drohte,  falls  Symon,  ein  böhmischer 
Priester,  zum  Pfarrer  von  Kulm  ernannt  werden  sollte, 
zudem  drohte  Herlt  dem  Konsistorium  und  dem 
Patronatsamt,  er  werde  sich  erschiessen,  wenn  er  die 
Pfarre  Kulm  nicht  erhalte.  P.  Herlt  ist  erst  4  Jahre 
in  der  Seelsorge,  P.  Simon  schon  13  Jahre  thätig.  So 
erkämpfen  sich  die  Opitzianer  in  der  Leitmeritzer 
Diöcese  Pfarrbeneficien.  Die  böhmischen  Priester 
werden  wie  ein  rechtloses  Wild  gehetzt  und  öffentlich 
in  deutschnationalen  Zeitungen  oder  auch  in  den 
Organen  des  P.  Opitz  an  den  Pranger  gestellt.  So 
brachte   am    11.    März   1902   das   Organ   der  Prager 


364 


Judenschaft  das  „Prager  Tagblattu  folgende  Nachricht. 
„Gzechisehe  Priester"  in  deutschen  Seelsorgestationen. 
Besonders  auffallend  ist  die  Zahl  der  czechischen 
Priester  in  der  Leitmeritzer  Diöcese.  Laut  dem  Gata- 
logus  cleri  sind  von  den  470  Seelsorgestationen  324 
deutsch  und  in  121  der  letzteren  wirken  438  cze- 
chische  Priester,  82  Pfarrer  und  56  Kapläne.  Gze- 
chische  Pfarrer  sind:  in  Hrobisch,  Medenost,  Ru- 
schowan,  Struschnitz,  Wegstädtl  des  Auschaer,  in 
fiiela,  Böhm.  Pockau,  Neschwig,  Seesitz,  Stäben  des 
Aussiger,  in  Moldau,  Radowessitz,  Sellnitz  des  Billiner, 
in  Kleinhahn  des  Brüxer,  in  Neuendorf  des  Fried- 
länder, in  Brims,  Dobrn,  Krombach,  Kunnersdorf, 
Seifersdorf  des  Gabler,  in  Albrechtsdorf,  Josephsthal, 
Irzikowitz,  Schumburg  des  Gablonzer,  in  Borzira, 
Hühnerwasser,  Klein-Bösig,  Kroh,  Töschen,  Tuhan, 
Woken  des  Hirschberger,  in  Chmeleschen,  Oberklee, 
Podersanka,  Scheles,  Strojeditz  des  Jechnitzer,  in 
Lametitz  des  Kaadner,  in  Gersdorf,  Herrnskretschen, 
Ober-Ebersdorf,  Ober-Preschau  des  Böhm.-Kamnitzer, 
in  Horatitz,  Platz,  Schössl,  Strähn,  Trauschkowitz 
des  Komotauer,  in  Hraidisch,  Netschenitz,  Roscha, 
Postelberg,  Wittosess,  Zuscha  des  Launer,  in  Fal- 
kenau,  Straussnitz,  Wolfersdorf  des  Leipaer,  in  Libo- 
chovan,  Pitschowitz,  Praskowitz,  Saubernitz,  Schütte- 
nitz,  Taucherschin,  Zahorzan  des  Leitmeritzer,  in 
Suttom,  Tschischkowitz,  Wellemin,  Meronitz  des  Libo- 
chowitzer,  in  Hermansthal,  Langenbruck,  Liebenau, 
Reichenau  des  Reichenberger,  in  Spollititz,  Knöschitz, 
Liebotitz,  Michelob,  Mohr,  Stankowitz  des  Saazer,  in 
Böhm.-Kahn,  Boreslau,  Ebersdorf,  Peterswald,  Schima, 
Tschochau  des  Teplitzer-Vikariats.  Czechische  Ka- 
pläne wirken :  in  Leitmeritz,  Wegstädtl  des  Auschaer, 
in  Aussig  a.  E.,  Biela,  Bodenbach,  Gartitz,  Königs- 
wald, Mosern,  Reschwitz,  Schwaden,  Tetschen,  Tür- 
mitz  des  Aussiger,  in  Bill  in,  Dux,  Nie  der- Georgen thal, 
Ober-Georgenthal,  Oberleutensdorf  des  Biliner,  in  Brüx, 
Tschausch  des  Brüxer,  in  Grottau,  Heindorf,  Wiese 
des  Friedländer,  in  Gabel,  Reichstadt  des  Gabler,  in 
Morchenstern,  Polaun,  Schumburg,  Tannwald  des  Ga- 
blonzer, in  Dauba,  Hirschberg,  Hühnerwasser  des 
Hirschberger,    in    Podersam    des   Jechnitzer,   in  Klö- 


365 


sterle  des  Kaadner,  in  Bensen,  Steinschönau  des 
Böhm.-Kamnitzer,  in  Pressnitz,  Sonnenberg  des  Ko- 
motauer,  in  Postelberg,  Wittosess  des  Launer,  in 
Leipa,  des  Leipaer,  in  Lobositz  des  Leitmeritzer,  in 
Tschiskowitz  des  Li bocho witzer,  in  Liebenau,  Maffers- 
dorf,  Oschitz,  Reichenau  des  Reichenberger,  in  Bo- 
reslau,  Schwaz,  Weisskirchlitz  des  Teplitzer  Vikariats, 
Diese  Hetze  ist  systematisch,  sie  wird  in  allen  deutsch- 
geschriebenen Blättern  ganz  straflos  ausgeübt.  Als  die 
ersten  Missionäre  nach  Tibet  kamen,  wurden  sie 
schonungslos  niedergemacht.  Heute  noch  darf  kein 
Europäer  Tibet  straflos  betreten.  In  Böhmen  werden 
ehrliche  Arbeiter,  Beamte,  Priester  an  den  Pranger 
gestellt,  ihr  Verbrechen  besteht  darin,  dass  sie  nicht 
deutscher  Nationalität  sind.  Die  Behörden  reichen 
da  nicht  einen  Finger  zum  Schutze  der  Verfolgten, 
Sollten  es  mal  die  Schumburger  versuchen,  einem 
Rabbiner  die  Schlüssel  zur  Synagoge  zu  verweigern,  da 
käme  sicher  Militär  hin,  zum  Schulze  des  bedrohten 
Staatsbürgers. 

Wenn  es  sich  um  Juden  handelt,  da  soll  man 
sehen,  wie  energisch  die  Behörden  in  Böhmen  auf- 
treten. So  schreibt  das  Organ  der  Prager  Judenschaft 
am  27.  August  1898  folgendes:  Eger,  25.  August. 
(O.-C.)  (Behördliche  Aufhebung  eines  antisemitischen 
Beschlusses  der  Gremialkrankenkassa.)  In  der  General- 
versammlung der  hiesigen  Gremialkrankenkassa  vom 
6.  Juni  1.  J.  wurde  von  radikal-nationaler  Seite  der 
Antrag  eingebracht,  dass  die  bei  der  Kassa  beste- 
hende freie  Aerztewahl  aufzuheben  und  als  Kassa- 
ärzte in  Hinkunft  nur  deutsche  Aerzte  arischer  Ab- 
kunft zu  bestimmen  seien.  Dieser  Antrag,  dessen 
Spitze  sich  gegen  die  hier  domicilirenden,  allgemein 
geachteten  jüdischen  Aerzte  lichtete,  gelangte  fast 
einstimmig  zur  Annahme  und  mit  1.  Juli  d.  J.  zur 
Durchführung.  Eine  Anzahl  von  Gehilfen  rekurrirte 
jedoch  sofort  gegen  die  Durchführung  eines  solchen 
Statuten-  und  gesetzwidrigen  Beschlusses  bei  der 
k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  und  diese  hat  mit  Ent- 
scheidung vom  17.  August  d.  J.  jenen  Beschluss  im 
Grunde  des  §  127  der  Gewerbe-Ordnung  behoben 
und    die  weitere    Durchführung    desselben  untersagt 


366 


mit  der  Begründung,  "dass  nicht  nur  dieser  Beschluss 
den  Statuten  zuwiderläuft,  sondern  auch  mit  den 
Staatsgrundgesetzen  über  die  allgemeinen  Rechte  der 
Staatsbürger  für  die  im  Reichsrathe  vertretenen 
Königreiche  und  Länder  im  Widerspruche  steht. u 

In  den  Staatsgrundgesetzen  Oesterreichs  ist 
nämlich  ausdrücklich  festgestellt,  dass  jede  Stelle 
einem  jeden  Staatsbürger  zugänglich  ist  im  Rahmen 
der  gesetzlichen  Bestimmungen.  Wir  brechen  hier  ab. 
Es  würde  uns  zu  weit  führen,  wollten  wir  diesen 
Gegenstand  noch  weiter  verfolgen.  Wer  Wind  sät, 
wird  Sturm  ernten.  Es  können  Zeiten  kommen,  wo 
auch  Priester  deutscher  Nationalität  vor  den  Odin- 
anbetern nicht  geschützt  sein  werden. 

Das  mögen  Opitz  und  Dr.  Frind,  sowie  ihre 
Parteimänner  in  den  Konsistorien,  welche  den  böh- 
mischen Priester  der  wilden  Jagd  der  Deutschnatio- 
nalen preisgeben,  bei  Zeiten  bedenken.  Die  Zukunft 
ist  trübe.  An  den  Thoren  der  wetterschwangeren 
zukünftigen  Zeit  steht  das  Gespenst  der  rothen 
Internationale,  die  sociale  Revolution,  die  Kommune 
ist  auf  dem  Sprunge.  Dann  wird  kein  Unterschied 
gemacht  zwischen  Pfafif  und  Pfafif,  ob  deutsch  oder 
böhmisch,  ganz  gleichgiltig,  dann  wird  auch  nichts 
helfen  die  nationale  Scheidung  der  Diöcesen. 

Wehe  denen,  welche  aus  Egoismus  noch  Oel  in 
den  nationalen  Brand  hineingiessen.  Das  Volk,  soweit 
es  noch  christlich  denkt,  nimmt  durchaus  keinen 
Anstoss  daran,  ob  der  Seelsorger  einer  anderen  Na- 
tionalität angehört,  es  beurtheilt  den  Priester  nach 
seinem  Wirken,  seinem  Eifer.  Wenn  die  Opitzianer 
fortwährend  behaupten,  dass  nur  ein  deutscher 
Priester  bei  deutschen  Pfarrkindern  Vertrauen  haben 
kann,  dann  dürfte  Rom  überhaupt  keine  Missio- 
näre zu  den  noch  andersgläubigen  und  heidnischen 
Völkern  aussenden.  Konsequent  müsste  nach  den 
Grundsätzen  des  P.  Opitz,  des  Weihbischof  Dr.  Frind 
und  Konsortes  das  Institut  Propaganda  de  tide  in 
Rom  vom  Erdboden  rasirt  werden.  Dass  das  Volk, 
wenn  es  noch  christlich  denkt,  den  Priester  nach 
seinen  Leistungen  beurtheilt,  davon  geben  selbst 
deutschnational     gesinnte     deutsche    Priester    einen 


367 


Beweis,  Der  berüchtigte  Pfarrer  Kaspar  Rank  in 
BHZejov,  in  der  budweiser  Diöcese,  der  von  seinen 
böhmischen  Pfarrkindern  ob  seines  geradezu  brutalen 
Benehmens  zu  ihnen  beim  Konsistorium  in  Budweis 
wiederholt  angeklagt  wurde,  erfuhr  an  sich  eine 
Lynchjustiz  von  Seite  seiner  deutschen  Pfarrkindern. 
Er  wurde  von  ihnen  in  der  Nikolonacht  1902  gegen 
3  Uhr  Früh  in  einem  deutschen  Wirthshaus  durch- 
geprügelt. In  die  Zeitungen  aber  gab  Pfarrer  Rank 
die  Nachricht,  die  bösen  czechischen  Pfarrkindern 
hätten  ihn  überfallen.  Die  deutschen  Pfarrkinder 
gaben  ihrem  Seelsorger  ein  Denkzettel,  dass  es  für 
ihn  nicht  passe,  die  Nächte  in  Wirthshäusern  durch- 
zuschwärmen. 

Uebrigens  sind  die  Opitzianer  nicht  allein  schlecht 
zu  sprechen  auf  die  böhmischen  Priester.  Wer  hat 
denn  in  der  „Reichspost",  dem  Organe  dieser  Frak- 
tion, so  viel  Giftiges  und  Gehässiges  aufgehäuft  gegen 
die  katholischen  Abgeordneten  aus  Ober-Oesterreich 
und  den  Alpenländern,  weil  sie  nicht  nach  der  Pfeife 
des  Opitz  tanzen  wollen,  welches  Blatt  brachte  gifti- 
gere Angriffe  gegen  katholische  Blätter,  gegen  das 
„Vaterland,"  das  „Linzer  Volksblatt "  und  andere 
katholische  Blätter,  als  die  „Reichspost"  (ein  angeb- 
lich katholisches  Organ !),  weil  diese  Organe  nicht  die 
Nationalitätenhetze  mitmachen  wollen?  Wer  hat 
den  Bischof  Dr.  Schoebel  von  Leitmeritz  so  weit  ge- 
bracht, dass  dieser  sich  fürchtet  einen  abgehetzten 
böhmischen  Priester  anzuhören  und  seine  Beschwerden 
vorzubringen?  Wenn  ein  solcher  in  seine  Residenz 
kommt,  lässt  ihm  Se.  Excellenz  einfach  sagen,  man 
solle  die  Ruhe  ihm  nicht  rauben.  Doch  genug,  es 
würde  uns  zu  weit  führen.  Die  Herren  vom  Opitz- 
lager mögen  sicher  sein,  dass  wir  uns  vor  ihren  So- 
phismen nicht  fürchten. 

XXII.  Oesterreichs  konfessionelle  Statistik. 

Nach  dem  Zahlenverhältniss  ist  Oesterreich  katho- 
lisch. Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  als  ob  in 
Oesterreich  die  katholische  Kirche  einen  grossen  Ein- 
fluss  hätte  auf  das  öffentliche  Leben  und  das  Volk 
überhaupt.  Darüber  wollen  wir  an  dieser  Stelle  keine 


368 


Kritik  üben.  Wir  können  nur  das  Eine  feststellen, 
da  ss  heute  zwischen  den  sogenannten  katholischen 
und  nichtkatholischen  Ländern  wohl  kein  grosser 
Unterschied  ist;  die  Religion  ist  den  meisten  Men- 
schenkindern nicht  das  wichtigste  LebenskapiteL  Das 
ist  eben  das  Kennzeichen  des  jetzigen  Zeitalters.  Das 
Volk  hat  unter  dem  Drucke  der  Sorgen  um  das 
Brod  einerseits  und  unter  dem  Drucke  der  Gier 
nach  Genuss  und  Befriedigung  der  Leidenschaften 
andererseits  kaum  Zeit  über  die  Fragen  der  Religion 
bei  sich  Einkehr  zu  halten.  Die  Zahl  der  katho- 
lischen Bevölkerung  Oesterreichs  ist  folgende: 

Absolute  Zahl  In  Perzenten 

Jahr        1857            1900  1857  1900 

Nieder-Oesterreich    1,350.684  2,867.533  98*5  92-49 

Ober-Oesterreich    .     673.404       790.270  97*9  97*53 

Salzburg 140,132       191.230  999  99-20 

Steiermark  ....  1,004.919  1,339.358  995  93-74 

Kärnten 307.642       346.660  94-8  94-83 

Krain 466.768       507.274  99-8  99-83 

Triestu.  Küstenland     502.729       745.989  99  98-60 

Tirol  u.  Vorarlberg  .     864.889       975.818  99-9  99-37 

Böhmen 4,601.335  6,067.012  96*3  96-20 

Mähren     ...       .  1,784593  2,325.574  951  95-40 

Schlesien     ....     396.843       576.497  85-9  84-73 

2,072.633 

r,  ,.  .  lateinisch.  R. 

Galizien  2,077.112 

griech.  R. 

Bukowina 51.846       110.483  175  15-13 

Dalmatien    ....     337.800       496.966  81-3  83.69 


44-8    88-42 
6,456.147     ^.g 


Die  Bewegung  des  katholischen  Elementes  in 
Oesterreich  innerhalb  43  Jahre  ist  also  eine  abwärts- 
gehende, wie  man  sehr  deutlich  bei  den  Perzentzahlen 
ersehen  kann.  Den  grössten  Niedergang  des  katho- 
lischen Elementes  weist  Niederösterreich  auf,  woran 
allerdings  Wien  den  grössten  Antheil  hat.  Dass  diese 
Zahlen  nicht  absonderlich  erfreulich  sind,  liegt  auf 
der  Hand.  Was  die  Zukunft  noch  bringen  wird, 
weiss  Gott. 


369 


Gesammtergebniss : 

Absolute  Zahl  der  In 

Katholiken  Perzenten 

Jahr     1857  1900         1857     1900 

16,634.190    23,796.814    926    90*99 

Die  Zahl  der  Angehörigen  evangelischen  Konfes- 
sionen in  Oesterreich  ist  folgende : 

Absolute  Zahl    .  In  Perzenten 

Jahr        1857  1900  1857  1900 

Nieder-Oesterreich    .    9.140  65.460  0-8  2-11 

Ober-Oesterreich  .    .  14.882  18.373  21  2-27 

Salzburg 65  1.284  01  0-67 

Steiermark 5.112  13.159  0*5  0*97 

Kärnten 16.679  20.383  5-2  5-55 

Krain 100  413  O'O  0-03 

Küstenland     ....       458  2.623  0'1  0-35 

Tirol  und  Vorarlberg      115  4.767  0-0  0-49 

Böhmen 90.936  144.658  1-9  2*29 

Mähren 51.765  66.365  2-7  5*27 

Schlesien 61.917  91.741  134  13-48 

Galizien 31100  45.331  0-7  0'63 

Bukowina 8.733  19.272  2  2*64 

Dalmatien 25  182  0*0  0-03 

Gesammtergebniss : 

292.227         494.011       16       1-89 

Wir  haben  hier  die  Ergebnisse  der  offiziellen  Sta- 
tistik zusammengestellt.  Grosse  Erklärungen  dazu 
sind  überflüssig.  Innerhalb  43  Jahre  hat  die  Zahl 
der  Angehörigen  beider  protestantischen  Konfessionen, 
absolut  zugenommen,  sich  fast  verdoppelt.  Relative 
Zahlen  sind  folgende:  Im  Jahre  1857  waren  unter 
10.000  Personen  160  Individuen  Angehörige  der  beiden 
evangelischen  Konfesionen.  Im  Jahre  1900  stieg 
diese  Zahl  auf  189  Personen,  damit  ist  auch  das  re-> 
lative  Anwachsen  der  Protestanten  genau  angegeben. 
Die  Ergebnisse  der  Statistik  des  weiteren  Decenniums 
1910  werden  jedenfalls  noch  trauriger  sein. 

Auf  die  näheren  Details  der  letzten  Jahre  wollen 
wir  verzichten.  Dr.  Zemmrich  verbreitet  sich  in  der 
„Wartburg"  vom  9.  und  16.  Januar  1903  folgender- 
massen  :• 

24 


370 


Die  vor  Kurzem  veröffentlichten  summarischen 
Ergebnisse  der  Volkszählung  von  1900  geben  ein  im 
Ganzen  recht  erfreuliches  Bild  des  Wachsthums  der 
evangelischen  Bevölkerung.  Während  die  Römisch- 
Katholischen,  die  vier  Fünftel  der  Gesammtbevölkerung 
ausmachen,  sich  im  letzten  Jahrzehnt  nur  um  9*1 
v,  H.  vermehrten,  betrug  die  Vermehrung  der  Evan- 
gelischen Augsburger  Konfession  15'7  v.  H.  gegen 
9'3  im  vorletzten  Jahrzent.  Abgesehen  von  einigen 
Sekten,  deren  Anhänger  nur  nach  Hunderten 
zählen,  übertreffen  nur  die  Altkatholiken  mit  57-0 
v.  H.  die  Zunahme  der  Evangelischen.  Den  abso- 
luten Zahlen  nach  besteht  naturgemäss  das  um- 
gekehrte Verhältniss.  Die  Römisch-Katholischen  wuch- 
sen um  1,726.113,  die  Evangelischen  A.B.  um  49.626, 
die  Altkatholiken  um  4697.  Die  Evangelischen  Hel- 
vetischer Konfession  gewannen  nur  8055  Seelen  = 
6'7  v.  H.,  sie  gehören  meist  dem  tschechischen 
Sprachstamm  an.  In  absoluten  Zahlen  sind  die  wich- 
tigeren Bekenntnisse  wie  folgt  vertreten : 

Römisch-Katholische      .    .    .  29,660.279  =  79'0  v.  H. 

Griechisch-Unirte 3,134.439  =  120  „ 

Juden 1,124.899=    4-7  „ 

Griechisch-Orientalische     .    .  606.764  =    2*3  „ 

Evangelische  A.  B 365.454  zz    1-4  „ 

Evangelische  H.  B 128.557  =    0-5  „ 

Altkatholiken 12.937  =    005  „ 

Am  günstigsten  stellt  sich  für  die  Evangelischen 
der  Vergleich  mit  dem  natürlichen  Wachsthum  der 
Bevölkerung.  Oesterreich  hat  im  vorigen  Jahrzehnt 
398.441  Menschen  durch  Ueberschuss  der  Auswan- 
derung über  die  Einwanderung  verloren.  Von  diesem 
Verlust  gegenüber  der  natürlichen  Vermehrung  kom- 
men 232.881  auf  die  Römisch-Katholischen,  104-758 
auf  die  Juden,  60.023  auf  die  Griechisch-Katholischen. 
Die  Evangelischen  hatten  dagegen  eine  Zunahme  zu 
verzeichnen,  die  ihren  Geburtenüberschuss  um  5429 
übertrifft.  Hierin  drückt  sich  theilweise  der  Gewinn 
durch  Uebertritte  aus,  welche  die  gewiss  auch  bei 
den  Evangelischen  stärkere  Aus-  als  Einwanderung 
mehr  als  ausglichen.    Folgende  Tabelle   gibfr  die  ab- 


371 


soluten  Zahlen  für  die  Kronländer,  in  denen  minde- 
stens 10.000  Evangelische  A.  B.  wohnen,  sowie  das 
Wachsthum  der  Evangelischen  in  Vergleich  mit  dem 
der  Bevölkerung  seit  1890: 

Zunahme  v.  H. 
Evangelische  A.  B.        Evang.       Bevölkerung 

Schlesien 91.264  8*2  12-4 

Böhmen 72-922  201  81 

Niederösterreich  .    .    .  57.052  37-0  165 

Galizien 40.004  45  107 

Mähren      26.605  12*9  7  1 

Kärnten 20.100  8-1  1*8 

Bukowina 18.383  15  9  12*9 

Oberösterreich     ...   18.143  5*9  3 1 

Steiermark    ....       12.675  25*9  5*8 

Also  nur  in  Schlesien  und  Galizien  bleibt  das 
Wachsthum  der  Evangelischen  hinter  dem  ^ier  Ge- 
sammtbevölkerung  zurück.  Der  Grund  hiefür  liegt  in 
der  zunehmenden  Auswanderung  aus  den  rein  deut- 
schen Bezirken  Westschlesiens  und  den  deutschen 
Kolonistendörfern  Galiziens.  In  Schlesien  drückt 
ausserdem  die  massenhafte  Einwanderung  galizischer 
Arbeiter  in  das  Ostrauer  Kohlenrevier  den  Antheil 
der  Evangelischen  wie  der  Deutschen  herab.  Die 
Ziffern  für  Niederösterreich,  Steiermark,  Böhmen  und 
Mähren  lassen  den  Einfluss  der  Los  von  Rom-Bewe- 
gung am  deutlichsten  erkennen. 

Die  übrigen  Kronländer  werden  nur  von  wenigen 
Tausenden  Evangelischen  A.  B.  bewohnt,  es  zählen 
Tirol  2806,  Triest  1346,  Salzburg  1211,  Vorarlberg 
346,  Istrien  290,  Krain  285,  Görz  269,  Dalmatien  153. 
Die  meist  tschechischen  Evangelischen  H.  B.  kommen 
nur  in  Böhmen  und  Mähren  in  Betracht.  Böhmen 
7ählt  71.756,  Mähren  37.760.  Ihre  Zunahme  bleibt 
hinter  dem  Landesdurchschnitt  zurück.  Ueber  1000 
Evangelische  H.  B.  haben  nur  noch  Niederösterreich 
(7408)  und  Galizien  (5327).  Prozentual  ist  der  Antheil 
der  Evangelischen  A.  B.  in  den  einzelnen  Kronländern 
am  grössten  in  Schlesien  mit  134  v.  T.  Mehr  als  10 
vom  Tausend  bilden  sie  noch  in  Kärnten  (55),  Bu- 
kowina (25),  Ober-Oesterreich  (22),  Nieder-Oesterreich 
(19),  Böhmen  (12)  und  Mähren  (11).    Dazu  kommen 

24* 


372 


in   den   beiden    letztgenannten   Provinzen   noch    llt 
bezw.  16  v.  T*  Evangelische  H.  B. 

Die  Vertheilung  der  Protestanten  auf  die  einzelnen 
Gemeinden  werden  erst  die  später  erscheinenden 
Gemeindelexika  erkennen  lassen.  Jetzt  liegen  nur  die 
Zahlen  für  die  politischen  und  Gerichtsbezirke  vor, 
in  denen  vereinzelte  protestantische  Gemeinden  wenig 
zur  Geltung  kommen.  Wir  geben  im  Folgenden  das 
Wichtigste  aus  diesen  summarischen  Ziffern.  In 
Niederösterreich  zählt  Wien  54.264  Protestanten,  das 
sind  3!/4  v.  H.  der  Einwohner.  Die  verhältnismässig* 
meisten  Evangelischen  wohnen  im  Bezirk  Lilienfeld 
(6*7  v.  H.).  Oberösterreich  besitzt  drei  konfessionell 
gemischte  Bezirke.  Ischl  mit  191,  Linz-Umgebung: 
mit  10*9  und  Eferding  mit  10*5  v.  H.  Evangelischen. 
Hier  handelt  es  sich  bereits  um  überwiegend  evan- 
gelische Orte  in  katholischer  Umgebung.  In  Salzburg 
wird  der  höchste  Antheil  in  der  Stadt  Salzburg  mit 
901  =2-7  v.  H.  erreicht.  In  Steiermark  beherbergt 
die  Hauptstadt  Graz  fast  4000  Protestanten,  doch 
bilden  sie  hier  nur  2*9  v.  H.  Hingegen  bedeuten  im 
Bezirk  Schladming  die  dortigen  3318  Evangelischen 
fast  die  Hälfte  der  Bevölkerung  (47-3  v.  H.).  Weitere: 
protestantische  Gemeinden  bringen  den  evangelischen 
Antheil  in  den  Bezirken  Gröbming  auf  11*9,  Mautem 
9*2,  Rottenmann  6*1  v.  H.  Die  absoluten  Ziffern  be- 
tragen 670,  554  und  592  Köpfe.  Unter  den  Kärntner 
Bezirken  steht  Villach  mit  4660  Evangelischen  (13*5 
v.  H.)  der  Zahl  nach  obenan,  im  Verhältniss  jedoch 
der  Bezirk  Paternion,  dessen  3716  Protestanten  436 
v.  H.  gleichkommen.  Weitere  ansehnliche  evange- 
lische Minderheiten  haben  die  Bezirke  Hermagor 
(21-3  v.  H.),  Gmünd  (28-6),  Millstadt  (21-4),  Feld- 
kirchen (117),  Kötsschach  (9-0)  und  Sputa  (6-6). 
Von  den  Protestanten  in  Tirol  fällt  fast  die  Hälfte- 
auf den  Bezirk  Meran,  zumeist  sind  es  Kurgäste. 
Gegen  700  kommen  auf  Innsbruck  mit  Vororten,  so 
dass  nur  1100  verstreut  über  das  übrige  Land  wohnen. 
Die  wenigen  Evangelischen  Vorarlbergs  wohnen  meist 
im  Bregenzer  Bezirk. 

Böhmen    hat    einen  einzigen    Bezirk,   Asch,    mit 
überwiegend  protestantischer  Bevölkerung  (67*7  v.  H.). 


373 


Auf  diesen  kommt  über  ein  Drittel  (26*547)  der  Evan- 
gelischen A.  B.  in  ganz  Böhmen.  Von  den  übrigen 
politischen  Bezirken  haben  noch  folgende  über  1000 
Evangelische  A.B.:  Stadt  Prag  1708,. Stadt  Reichen- 
berg 1144,  Aussig  3141,  Brüx  1021,  Eger*  3326, 
Gablonz  1477,  Hohehelbe  1233,  Reichenberg  1521, 
Rumburg  1209,  Tetschen  2397.  Dies  sind  deutsche 
Protestanten,  von  den  tschechischen  Bezirken  haben 
über  1000  Lutheraner  nur  Starkenbach  (2405), 
Oaslau  (1057)  und  Ghotöbof  (1040).  Die  fast  genau 
so  zahlreichen  Evangelischen  H.  B.  gehören  mit 
geringen  Ausnahmen  zum  tschechischen  Sprachgebiet, 
sie  wohnen  meist  im  mittleren  Böhmen,  von  dem 
Zusammenfluss  der  Elbe  und  Moldau  nach  Osten  bis 
zur  mährischen  Grenze.  Ihr  Maximum  erreichen  sie 
in  der  Bezirkshauptmannschaft  Podebrad  mit  9201 
Köpfen.  Prozentual  tritt  in  den  deutschen  Landes- 
theilen  die  evangelische  Bevölkerung  noch  sehr  zurück. 
Die  Lutheraner  erreichen,  abgesehen  von  Asch,  ihren 
höchsten  Antheil  im  Gerichtsbezirk  Starkenbach  (8*7 
v.  H.),  also  im  tschechischen  Gebiet.  Von  den  deut- 
schen Bezirken  stehen  Wildstein  bei  Eger  (6 '4  v.  H.), 
Friedland  (5*7),  Katharinaberg  im  Erzgebirge  (5*3), 
Eger  (4*8)  obenan,  3—4  v.  H.  Lutheraner  finden  sich 
in  der  Stadt  Reichenberg  und  den  Gerichtsbezirken 
Aussig,  Arnau,  Kratzau,  Teplitz  und  Tetschen  auf 
deutscher,  in  den  Bezirken  Chotebof  und  Prelautsch 
auf  tschechischer  Seite.  Prozentual  fallen  die  Tschechen 
H.B.  in  ihren  dünnen  besiedelten  landwirtschaftlichen 
Bezirken  viel  mehr  ins  Gewicht.  Obenan  steht  in  der 
Nähe  der  mährischen  Grenze  der  Gerichtsbezirk 
Skutsch  mit  21*9  v.  H.  Evangelischen  H.  K.  Die  im 
Osten  und  Westen  angrenzenden  Bezirke  Politschka 
(9-7  v.  H.)  und  Hlinsko  (86  v.  H.)  haben  gleichfalls 
ansehnliche  evangelische  Minderheiten;  in  einer  Reihe 
weiterer  Bezirke  des  mittleren  Ostböhmen  betragen 
diese  noch  2—5  v.  H.  Weiter  nördlich  wird  ein  Ma- 
ximum von  7*4  v.  H.  im  Bezirk  Opotschno  östlich 
von  Königgrätz  (5*1  v.  H.)  erreicht.  Das  mittlere  Eib- 
gebiet bildet  das  Zentrum  der  tschechischen  Prote- 
stanten, sie  stellen  im  Bezirke  Prelautsch  westlich  von 
Pardubitz  7"9  v.  H.  der  Bevölkerung,  hieran  schliessen 


374 


sich  nach  Westen  die  Bezirke  Kolin  (9*4),  Caslau 
(8-9),  PodSbrad  (17-3),  Nimburg  (115)  und  König- 
stadtl  (5*0  v.  H.).  An  der  Mündung  der  Moldau  er- 
reichen die  Evangelischen  H.  B.  noch  einmal  das 
Maximum  von  10*6  v.  H.  im  Bezirk  Melnik,  dem  sich 
westlich  der  Bezirk  Raudnitz  mit  9*0  v.  H.  anschliessh 
Die  Altkatholiken  entfallen  fast  ganz  auf  den  deut- 
schen Landestheil  an  der  Lausitzer  Grenze;  der  Be- 
zirk Warnsdorf  mit  3265  =  8-8  v.  H.  bildet  ihren 
Mittelpunkt.  An  der  schlesischen  Grenze  erreichen  sie 
im  Bezirk  Tannwald  8*5  v.  H.,  kleinere  altkatholische 
Minderheiten  kommen  noch  in  den  Bezirken  Haida 
(3*7),  Rumburg,  Gablonz  (je  25)  und  Böhmisch- 
Kamnitz  (1*4  v.  H.)  vor. 

In  Mähren  kommt  der  Haupttheil  der  Protestanten 
auf  das  tschechische  Gebiet.  Obenan  steht  der  Bezirk 
Wsetin  an  der  ungarischen  Grenze,  ein  Ausläufer 
des  slowakisch-protestantischen  Gebietes.  Hier  er- 
reichen sowohl  die  Evangelischen  A.  B.  mit  8358 
Köpfen  =  24-2  v.  H  wie  die  H.  B.  mit  8086  =  234 
v.  H.  ihre  Höchstziffer.  Beide  zusammen  kommen 
fast  den  Katholiken  (514  v.  H.)  gleich.  Der  Sprache 
nach  ist  der  Bezirk  Wsetin  ganz  tschechisch-slowakisch, 
nur  214  Deutsche  wurden  ermittelt.  Die  Evangelischen 
A.  B.  sind  auch  in  den  westlich  anschliessenden 
Bezirken  Wisowitz  (12-9  v.  H.)  und  Bistritz  (54  v.  H.) 
mit  ansehnlichen  Minderheiten  vertreten  Sonst 
kommen  sie  nur  im  Gesenke  an  der  schlesischen 
Grenze  in  grösserer  Zahl  vor,  hier  sind  sie  Deutsche. 
In  Betracht  kommen  die  Bezirke  Fulnek  (8'2),  Neutit- 
schein (56)  und  Hof  (3'6  v.  H.).  Die  Evangelischen 
H.  B.  gehören  auch  in  Mähren  ganz  zum  tschechi- 
schen Gebiet,  sie  schliessen  im  Westen  an  ihre 
Glaubensgenossen  in  Böhmen  an  und  ziehen  sich 
nach  Osten  bis  in  die  Karpaten  hin.  Im  Ganzen  haben 
11  Bezirke  über  4  v.  H.  Evangelische  H.  B.,  davon 
7  im  Karpatengebiet.  Hier  treten  neben  Wsetin. 
Neustadtl  mit  27*5  und  Bistritz  mit  14*1  v.  H.  hervor. 
Westlich  von  der  March  stehen  die  Bezirke  Klobuk 
(18-7)  südlich  und  Kunstadt  (12*0  v.  H.)  nördlich  von 
Brunn  obenan. 

Die   Protestanten    Schlesiens    gehören    fast  aus- 


375 


schliesslich  den  Evangelischen  A.  B.  an  und  wohnen 
zumeist  in  dem  kleineren  östlichen  Landestheil.  In 
Westschlesien  ist  nur  der  Bezirk  Olbersdorf  mit 
3906  =  32-5  v.  H.  Evangelischen  A.  K.  und  303  = 
2-5  v.  H.  H.  K.  zum  grossen  Theil  protestantisch. 
Die  Bezirke  Würbenthai  (9-5),  Freudenthal  (21)  und 
Jägerndorf  (3*4  v.  H.)  leiten  zu  den  evangelischen 
Deutschen  in  den  genannten  nordmährischen  Bezirken 
hinüber.  In  Ostschlesien  wohnen  in  der  Gegend  von 
Teschen  und  Bielitz  ebensoviel  Evangelische  A.  B. 
wie  in  ganz  Böhmen.  Der  Nationalität  nach  sind  sie 
theils  Deutsche,  zumeist  aber  Polen,  wie  aus  nach- 
stehender Tabelle  hervorgeht. 

Evangel.  Deutsche 

Stadtbezirk  Bielitz 28*1  v.  H.  8-34  v.  H. 

Gerichtsbezirk  Bielitz    ....  34-8  „  37  7        „ 

„  Schwarzwasser  16  6  „  6*7        „ 

„  Skotschau    .    .  47*0  „  *j  70 

„  Freistadt  .    .    .  12*6  „  5*4        „ 

„  Jablunkau     .    .45*6  „  2-7        ., 

„  Teschen    .   .    .  41*2  „  209 

Wir  werden  zu  diesen  Ausführungen  des  Dr. 
Zemmrich  in  einem  anderen  Kapitel  noch  zurück- 
kommen. Es  sei  hier  nur  darauf  hingewiesen,  dass 
der  Hauptstock  der  Bekenner  Luthers  und  Kalvins 
in  Oesterreich  die  böhmischen  Länder  abgeben,  und 
zwar  sind  es  nicht  Deutsche,  sondern  Gzechoslaven. 
Es  sind  dies  die  Nachkommen  der  böhmischen  Brüder, 
welche  bekanntlich  nach  dem  Tode  des  Bischof 
Augustus  zum  Kalvinismus  und  Lutheranismus  über- 
gingen. Diese  Bevölkerung  evangelischer  Konfession 
czechosla  bischer  Nationalität  hat  bekanntlich  Friedrich 
dem  Grossen  in  seinen  Raubzügen  gegen  Maria 
Theresia  die  wichtigsten  Dienste  erwiesen.  Wenn 
wir  die  Abfallstatistik  bis  in  ihre  jüngsten  Zeitpunkte 
befolgen,  haben  wir  folgende  Zahlen  vor  uns. 

In  den  letzten  vier  Jahren  sind  folgende  Abfälle 
vom  katholischen  Glauben  in  Gisleithanien  geschehen : 

1899       1900       1901       1902    Zusammen 

Uebertritte  zur    evang. 
Kirche  A  B.  und  H.  B.  6385  5058  6639  4624  22.706 


376 

1809       1900       1901       1902   Zusammen 

davon  aus römisch-kath. 
Kirche 6047  4699  6299  4247  21.292 

Austritte  aus  derevang. 
Kirche  A.B. und  H.B.     765    813    917  1078    3.573 

davon  in  die  römisch- 
katholische Kirche  .    .    675    705    830    928    31.38 

Zuwachs  für  die  evang. 
Kirche  A.B.  und  H.B.  5620  4254  5722  3546  19.133 

Unter  allen  Diöcesen  ist  am  stärksten  von  der 
Abfallsbewegung  die  Diöcese  Leitmeritz  betroffen.  Es 
beziffern  sich  die  Uebertritte  vom  Jahre  1898  bis 
Ende  1902,  und  zwar  zum  Protestantismus  auf  6366, 
zum  Altkatholicismus  auf  2894,  zusammen  auf  9260. 
In  dieser  Zeit  sind  zur  katholischen  Kirche  zurück- 
gekehrt: 611  Protestanten,  128  Altkatholiken,  12 
Konfessionslose;  ausserdem  traten  11  Israeliten  über, 
zusammen  812,  so  dass  sich  die  Verlustziffer  auf 
8448  vermindert.  Auf  die  einzelnen  Vikariate  entfallen: 

Protestanten  Altkatholiken 

Teplitz 1725 14; 

Aussig 1416 43 

Gablonz 1156 2077 

Reichenberg 415 46 

Bilin 320 1 

Komotau 235 39 

Brüx 211 — 

Saaz 179 42 

Libochowic 85 — 

Friedland 83  ....    .  18 

Gabel 78 43 

Kaaden 67  ...    .  27 

Böhm.-Leipa 58 127 

Böhm.-Kamnitz 49 183 

Jectinitz 48  .       ...  — 

Hainspach 44 227 

Leitmeritz 4\\ _ 

Auscha 49 — 

Nach  den  einzelnen  Jahren  stellen  dich  die  Ueber- 
tritte wie  folgt  dar ; 


377 


Protestanten  Altkatholiken 

1898 182 762 

1899 1847 764 

1900 1209  .    .       .    .    454 

1901 2068 590 

1902 1080 824 

Den  Gipfelpunkt  hat  die  Bewegung  im  Jahre 
1901  erreicht;  im  Jahre  1902  weist  sie  in  der  Leit- 
meritzer  Diöcese  bereits  einen  Rückgang  auf.  Was 
die  Zahl  der  evangelischen  Kirchen  in  der  Leitmeritzer 
Diöcese  betrifft,  so  bestanden  daselbst  16  vor  dem 
Jahre  1898,  zugewachsen  sind  seitdem  18  neue; 
Predigtstationen  gibt  es  3,  eine  alte  und  2  neue, 
evangelische  Schulen  7.  Altkatholische  Kirchen  zählt 
die  behandelte  Diöcese  ebenfalls  7,  und  zwar  3  alte 
und  4  neue. 

Wir  haben  darauf  hingewiesen,  dass  von  Seite 
der  Opitzianer  der  Vorwurf  erhoben  wird,  dass  im 
sogenannten  deutschen  Sprachgebiet  die  Anwesenheit 
von  Priestern  böhmischer  Nationalität  der  Abfalls- 
bewegung einen  ganz  besonderen  Vorwand  darbiete. 
Wir  erlauben  uns  nun  auf  der  Hand  der  Abfalls- 
statistik die  Seelsorger  derjenigen  Gemeinden  anzu- 
führen, wo  die  Abfallstatistik  die  meisten  Resultate 
aufweist. 

Name  des  Pfarrers 

Teplitz Laurenz  Rössel 

Aussig Anton  Zimmler 

Gablonz .         Franz  Günter 

Reichenberg Josef  Bergmann 

Bilin >    .    .  Karl  Trautzel 

Komotau Franz  Sendner 

Brüx  ...       .  • Josef  Güntner 

Saaz Alois    Hanl 

Friedland Stephan  Neumann 

Gabel .       Josef  Tschörsch 

Wir  könnten  die  ganze  Reihe  der  vordem  ange- 
führten Brennpunkte  der  Abfallsbewegung  anführen 
und  würden  hier  finden,  dass  genannte  Seelsorgsta- 
tionen  nicht  einem  einzigen  Priester  böhmischer  Na- 
tionalität anvertraut  sind.  Die  deutschnational  ge- 
sinnten Priester    deutscher  Nationalität  suchen  einen 


378 


Sündenbock  und  haben  ihn  gefunden,  aber  damit 
haben  sie  sich  selbst  nur  einen  schlechten  Dienst 
erwiesen.  Die  Wahrheit  soll  allen  Priestern  heilig  sein. 
Die  Abfallshetze  geht  vorwärts  trotz  des  Importes 
reichsdeutscher  Theologen  nach  Leitmeritz,  sie  geht 
ihre  Wege  ungefragt  ob  ein  deutscher  oder  böhmischer 
Priester  da  ist,  den  Abfallsführern  ist  und  bleibt  der 
katholische  Priester  —  ein  Pfaff  —  seine  Nationalität 
ist  Nebensache. 

XXIII.  Die  Sprachenfrage  innerhalb  der  katholischen 

Kirche. 

Die  katholische  Kirche  lehrt  mehrere  grund- 
legende Wahrheiten,  welche  ihr  Verhältniss  zu  den 
Völkern  der  Erde  genau  kennzeichnen.  Das  jetzige 
menschliche  Geschlecht,  das  ja  ungefähr  1560  Millionen 
lebende  menschliche  Wesen  zählt,  hat  nach  Schätzung 
der  Sprachforscher  mehr  als  1000  verschiedene 
Sprachen,  die  sich  von  einander  derartig  unterscheiden, 
dass  wer  eine  dieser  Sprachen  spricht,  den  andern, 
der  eine  andere  von  ihnen  spricht,  nicht  versteht.  Die 
katholische  Kirche  lehrt:  1.  Alle  Menschen  stammen 
von  einem  Elternpaar,  sie  sind  in  ihrem  Wesen  ein- 
ander vollständig  gleich  aus  Seele  und  Leib  bestehend. 
Die  katholische  Kirche  hat  von  ihrem  göttlichen 
Stifter  Jesum  Christum  die  Sendung  erhalten,  aller 
Welt,  allen  Völkern  die  Lehre  Christi  zu  verkündigen. 
Stellen  aus  der  hl.  Schrift  werden  wir  zum  Belege 
dafür  nicht  anführen,  sie  sind  ja  zu  bekannt.  Da 
nun  der  christliche  Glaube,  welcher  allen  Völkern 
der  Erde  ohne  Unterschied  verkündigt  werden  soll, 
nur  dann  Annahme  findet,  wenn  die  Glaubensboten 
ihn  dort  verkünden,  wo  er  noch  nicht  bekannt  ist, 
folgt  doch  von  selbst,  dass  die  Glaubensboten  vor 
allem  sich  des  Mittels  aneignen  müssen,  um  sich 
denen,  die  sie  belehren  wollen,  verständlich  zu 
machen.  Der  Glaube  kommt  ja  vom  Hören.  Deshalb 
studiren  katholische  Missionäre  bevor  sie  ihr  Missions- 
gebiet betreten,  die  Sprache  oder  auch  mehrere  Spra- 
chen jener,  in  deren  Mitte  sie  Christenthum  predigen 
wollen.  Darum  haben  die  Apostel  für  ihr  Wirken 
direkt  von    Gott    die   Gabe    der   Sprachen    erhalten, 


379 


damit  sie  ohne  Aufschub  Christenthum  verkündigen 
konnten.  Alles  dies  ist  klar  und  einfach,  ohne  dass  es 
gelehrter  Beweise  bedarf.  Das  Bestreben  der  modernen 
Staaten,  einen  centralen  einheitlichen  Nationalstaat  zu 
schaffen,  hat  auch  in  die  Kirche  und  ihr  heiliges 
Gebiet  hineingegriffen ;  die  kleineren  Völker  sollen 
auch  hier  in  ihren  Rechten  verkürzt  werden  und 
man  diktirt  ihnen  einfach  :  ihr  müsst  das  Evangelium 
in  der  Sprache  euerer  Bedrücker,  Beherrscher  und 
Ausbeuter  anhören,  und  traurig  ist  es,  dass  sich  dazu 
selbst  katholische  Priester  und  auch  höhere  Würden- 
träger hergeben. 

Es  ist  doch  klar,  dass  mit  einem  derartigen 
Vorgehen  ja  direkt  das  Christenthum  geleugnet  wird. 
Wer  da  kommt,  um  die  Lehre  Christi  zu  verkündent 
welcher  in  die  Welt  rief:  kommet  alle  zu  Mir,  die 
ihr  mühselig  beladen  sei,  und  sagt  aber  seinen 
Hörern,  sie  müssen  diese  Lehre  Christi  in  der  Sprache 
ihrer  Bedrücker  anhören,  der  gibt  damit  offen  zu, 
dass  Gewalt  vor  Recht  geht.  Damit  ist  aber  die  Lehre 
Christi  selbst  begraben  und  ihr  Verkünden  der  Welt 
überflüssig,  denn  der  Inhalt  der  Lehre  wird  durch 
ein  entgegengesetztes  Handeln  in  Wirklichkeit  ge- 
leugnet. Das  bestätigt  auch  die  Geschichte.  Karl  der 
Grosse  vergrösserte  sein  franko-germanisches  Reich 
auf  Kosten  des  Christenthums,  das  er  auszubreiten 
vorgab,  in  Wahrheit  aber  Eroberungen  im  Sinne  hatte, 
daher  auch  der  verzweiflungsvolle  Widerstand  der 
Sachsen  nicht  gegen  die  Lehre  Christi,  aber  der  mit 
ihrer  Annahme  drohenden  Knechtung.  Die  Elbeslaven 
widerstrebten  nicht  dem  Kreuze,  wohl  aber  der  poli- 
tischen Knechtung,  der  sie  sogar  ihre  eigene  völlige 
Ausrottung  vorzogen.  Der  deutsche  Ritterorden  hat 
seine  ursprüngliche  Aufgabe  das  Christenthum  zu  ver- 
breiten bei  Seite  geschoben  und  hat  das  Eroberungs- 
und Kriegshandwerk  zu  seiner  Beschäftigung  erwählt. 
Das  böhmische  Volk  hat  das  Christenthum  erst  im 
Laufe  des  9ten  Jahrhundertes  angenommen.  Der 
christliche  Glaube  musste  doch  in  Böhmen  längst 
bekannt  sein.  Hat  ja  doch  im  öten  Jahrhundert  der  hl. 
Severin  im  nachbarlichen  Noricum  Christenthum  ge- 
predigt, im  7ten  Jahrhunderte  evangelisirte  in  Bayern 


380 


der  hl.  Emeran.  Im  8ten  Jahrhunderte  wirkte  im 
mittleren  Deutschland  der  hl.  Bonifaz.  Die  Südslaven 
im  heutigen  Makedonien  nahmen  den  christlichen 
Glauben  schon  im  7ten  Jahrhunderte  an.  Also  war 
der  Same  des  christlichen  Glaubens  ringsum 
Böhmen  schon  längst  ausgesäet. 

Es  kamen  Glaubensboten  nach  Böhmen  aus 
Bayern,  aber  sie  waren  der  böhmischen  Sprache  un- 
kundig, sie  kamen  an  die  Grenzen  des  Böbmerwaldes, 
aber  tiefer  in  das  Land  drangen  sie  nicht  vor.  Wie 
konnten  sie  predigen,  da  das  Volk  ihre  Worte  nicht 
verstand?  Zudem  war  im  böhmischen  Volke  die 
Furcht  vor  Glaubensboten  aus  deutschen  Landen  sehr 
gross,  denn  das  Beispiel  an  den  Sachsen  und  Elbeslaven 
war  ja  hier,  dass  mit  dem  Kreuze  gleichzeitig  auch 
das  Schwert  des  Eroberers  sich  einstellte.  Das  Miss- 
trauen und  die  Furcht  vor  den  Glaubensboten  aus 
deutschen  Landen  war  darum  die  Hauptursache,  dass 
das  Christenthum  in  Böhmen  so  spät  anfing  zu 
keimen.  Im  Jahre  845  Hessen  sich  14  böhmische 
Vladyken  aus  Opposition  zum  Herrscher  des  Landes, 
dem  Fürsten  Hostivit,  am  Hofe  Ludwig  des  Deutschen 
taufen.  Auf  dieses  hin  vindicirten  sich  die  Erz- 
bischöfe von  Regensburg  die  kirchliche  Oberhoheit 
über  die  böhmischen  Länder,  welcher  Umstand  auf 
die  spätere  Entwicklung  kirchlicher  Zustände  in 
Böhmen  von  grösster  Bedeutung  geworden  ist.  Die 
Bischöfe  von  Passau  usurpirten  für  sich  die  kirchliche 
Jurisdiktion  über  Mähren  und  die  Bischöfe  von  Salz- 
burg über  Nord-Ungarn.  Damals  spielten  für  die  kirch- 
liche Jurisdiktion  eine  Hauptrolle  die  Zehentabgaben 
und  darum  begreifen  wir  auch  den  geradezu  ver- 
zweifelten Widerstand  genannter  Bischöfe,  den  sie 
jahrhundertelang  der  Errichtung  selbständiger  Bischof- 
sitze in  dem  Bereite  der  böhmischen  Länder  entgegen- 
setzten. Der  Fürst  Mährens  Rostislav  wollte  darum 
von  einer  Apostolisirung  von  Seite  genannter 
deutscher  Bischöfe  nichts  wissen,  wohl  fürchtend,  dass 
mit  dem  Kreuze  nicht  zugleich  auch  das  Schwert  des 
Eroberers  ins  Land  käme,  und  darum  bat  er  den 
Kaiser  Michael  III.  von  Byzanz  um  slavische  Glaubens- 
boten.    Diesem    Ansuchen   wurde    denn    auch  Folge 


381 


gegeben  und  nach  Mähren  kamen  die  beiden  Brüder 
Cyrill  und  Method  aus  Salonichi.  Sie  predigten  Christi 
Lehre  in  slavischer  Sprache  und  wurden  vom  Volke 
auch  vollständig  verstanden.  Während  das  Volk 
überall  die  Glaubensboten  freudig  empfing,  würden 
sie  von  Seite  der  deutschen  Bischöfe,  welche  sich  die 
Jurisdiktion  über  die  böhmischen  Länder  vindicirten 
als  „fremde"  Priester  mit  Protest  empfangen.  Beide 
Glaubensboten  Gyrill  und  Method  wurden  von  den 
deutschen  Bischöfen  beim  Kaiser  und  Papst  als  ver- 
dächtige Menschen  angeklagt,  welche  keine  Gewähr 
für  Rechtgläubigkeit  bieten.  Nachdem  Cyrill  und 
Method  51/2  Jahre  in  Mähren  und  Böhmen  evange- 
lisirt  hatten,  begaben  sie  sich  im  Jahre  867  nach 
Rom,  unterwarfen  sich  hier  dem  Informationsprocesse 
und  wurden  dann  zu  Bischöfen  geweiht;  Gyrill  starb 
im  Jahre  869  in  Rom,  der  hl.  Method  kehrte  nach 
Mähren  zurück.  Papst  Hadrian  erneuerte  das  alte 
Bisthum  Illirikum,  als  Bischofsitz  erwählte  sich 
Method  die  Stadt  Srem.  Kaum  begann  Method  seine 
apostolische  Arbeit  in  Nord-Pannonien,  geriethen  in 
Zorn  Adalvin  in  Salzburg,  Hermenerik  in  Passau  und 
Hanna  von  Freising.  Alle  drei  proklamirten  den 
hl.  Method  als  „Eindringling"  in  ihr  Jurisdiktions- 
gebiet, Hessen  ihn  mit  Gewalt  und  Trug  gefangen 
nehmen  und  der  Bischof  von  Passau  hieb  auf  Method 
mit  der  Peitsche.  Drei  und  ein  halbes  Jahr  wurde 
der  hl.  Method  von  den  deutschen  Bischöfen  wider-, 
rechtlich,  trotz  seiner  Bischofsweihe,  im  Kerker  ge- 
halten und  erst  als  Papst  Johann  VIII.  die  Peiniger 
mit  Bann  belegte,*liessen  sie  ihn  frei.  (Vacek,  Kirchen- 
geschichte.) 

Der  hl.  Method  entwickelte  nun  eine  rührige 
apostolische  Thätigkeit  im  ganzen  sl avischen  Reiche 
Svatopluks,  taufte  in  Prag  die  hl.  Ludmila  und  den 
Fürsten  Bofivoj.  Den  deutschen  Bischöfen  war  die 
apostolische  Arbeit  Methods  ein  Dorn  im  Auge  und 
voll  hämischen  Neides  klagten  sie  Method  beim 
apostolischen  Stuhl,  er  sei  nicht  rechtgläubig.  Aber 
das  Resultat  war,  dass  Method  zum  Metropoliten  des 
mährischen  Reiches  wurde  mit  dem  Sitze  in  Vele- 
hrad.  Sein  erster  Suffragan  wurde   der  durchtriebene 


382 


Viching  mit  dem  Sitze  in  Neutra.   Böhmen    war  der 
Jurisdiktion   des  mährischen  Metropoliten   zugetbeilt. 

Deutsche  Kirchenhistoriker  behaupten,  Böhmen 
sei  der  kirchlichen  Jurisdiktion  der  Erzbischöfe  von 
Regensburg  unterstanden,  was  aber  total  falsch  ist. 
Der  hl.  Method  wirkte  nach  seiner  Erhebung  zum 
Metropoliten  im  Jahre  880  noch  5  Jahre.  Er  starb 
am  6.  April  885.  Nach  seinem  Tode  begann  Viching 
zu  wirtschaften,  die  slavische  Liturgie  wurde  unter- 
drückt, die  böhmischen  Priester  wurden  vertrieben. 
Viching  ging  vollends  ins  deutsche  Lager  über  und 
wurde  Bischof  in  Passau.  Mojmir  IL  bat  den  Papst 
Johann  IX.  um  die  Wiederaufrichtung  der  mährischen 
Metropole.  Das  geschah  auch,  es  wurde  ein  Metro- 
polit und  2  Suffragane  geweiht  und  eingesetzt,  alle 
drei  waren  slavische  Priester,  ihre  Namen  sind  un- 
bekannt (Dudik,  Geschichte  Mährens  I,  223).  Die 
deutschen  Bischöfe  reichten  nach  Rom  ihren  Protest 
ein  gegen  diese  Wiederbesetzung.  In  diesem  Proteste 
wird  die  slavische  Bevölkerung  Mährens  „als  ein  ge- 
wisses Volk,  welches  gutwillig  oder  nicht  den  Deutschen 
müsse  unterwürfig  werden,  sie  seien  ein  rainder- 
werthiges  Volk  (pars  pejor,  inferior)".  (Vacek,  Kirchen- 
geschichte.) Man  sieht,  dass  Weihbischof  Frind  von 
Prag  und  seine  Trabanten  Theologieprofessor  Dr. 
Hilgenreiner,  P.  Opitz  und  diese  ganze  Partei  nichts 
Neues  sagen,  sie  haben  schon  vor  mehr  denn  1000 
Jahren  ihre  würdigen  Vorgänger  gehabt.  Boleslav 
bemühte  sich  nun  beim  Papst  Johann  XIIL,  dass  die 
Metropole  von  Mähren  nach  Prag  verlegt  werde, 
weil  ja  Boleslav  fast  über  alle  Gebiete  Mojmirs 
herrschte.  Der  Papst  wollte  von  einer  slavischen 
Liturgie  nichts  wissen,  es  begann  schon  damals  die 
östliche  Kirche  ihren  Abfall  von  Rom  vorzubereiten. 
Der  Papst  fürchtete  durch  die  Errichtung  einer  sla- 
vischen Metropole  in  Prag  den  zum  Schisma  neigen- 
den Osten  zu  stärken.  Vor  100  Jahren  wäre  die  Sache 
leichter  gegangen. 

Die  Päpste  des  X.  Jahrhunderts  waren  von  den 
Ottonen  derartig  abhängig,  dass  sie  die  germanisi- 
rende  Thätigkeit  dieser  Herrscher  zu  unterstützen  ge- 
zwungen   wurden.     Otto  I.    setzte    es  durch,  dass  in 


383 


Prag  ein  Bischofsitz  errichtet  wurde  mit  lateinischem 
Ritus  in  Abhängigkeit  vom  Bischof  von  Mainz.  Das 
Bisthum  Prag  wurde  973  gegründet  auf  Grund  eines 
Abkommens  Otto  I.  und  Boleslav  IL  des  Frommen. 
Papst  Benedikt  VI.  sanktionirte  dieses  Abkommen. 
Otto  I.  setzte  es  durch,  dass  zum  ersten  Bischof 
Prags  Ditmar,  der  deutscher  Abkunft  war,  eingesetzt 
wurde.  Ditmar  erlernte  die  böhmische  Sprache. 
Ditmar  wurde  von  Otto  I.  in  Quedlinburg  973  in- 
vestirt  und  vom  Mainzer  Metropoliten  konsekrirt 
Leider  müssen  wir  uns  wegen  Raummangel  weitere 
geschichtliche  Reminiscenzen  versagen.  Das  böhmische 
Volk  hat  den  Glauben  Christi  angenommen  und  ihn 
auch  mit  der  ganzen  Glut  der  Seele  erfasst.  Man 
kann  fest  behaupten,  dass  die  Geschichte  des  böh- 
mischen Volkes  zugleich  seine  Religionsgeschichte  ist. 
Sind  doch  die  grössten  Religions-Kriege,  der  Hussiten- 
Krieg  und  der  30jährige  Krieg  mitten  aus  dem  böh- 
mischen Volke  hervorgegangen.  Nach  den  Stürmen 
der  napoleonischen  Kriege  und  dem  Revolutionsjahre 
1848  wurde  Oesterreich  bis  zum  Jahre  1867,  also  über 
ein  halbes  Jahrhundert,  im  absolutistischen  Sinne 
regiert.  Das  böhmische  Volk  war  unter  einem  eisernen 
Regime  an  seinen  nationalen  Rechten  gekürzt.  Nur 
in  der  Kirche  erklang  in  voller  Freiheit  die  Sprache 
des  Volkes.  Darum  liebte  das  Volk  seine  Priester 
und  sah  in  ihnen  seine  geborenen  Berather  und 
Führer.  Die  Zeiten  haben  sich  nun  gründlich  zum 
Schlechten  gewendet.  Der  furchtbare  Nationalitäten- 
kampf, der  auf  politischem  Gebiete  gekämpft  wird  und 
Oesterreich  mit  aller  Gewalt  zu  einem  deutschen 
Staatengebilde  machen  will,  greift  nur  zu  tief  auch 
in  die  kirchliche  Interessensphäre  hinein.  Die  Deutsch- 
nationalen verlangen  vollständige  administrative 
Theilung  und  Trennung  einzelner  Kronländer,  in  erster 
Reihe  des  Königreichs  Böhmen,  nach  nationalen 
Kreisen.  Bisher  ist  nun  jeder  Versuch  der  Zerreis- 
sung  der  historischen  Kronländer  erfolgreich  zurück- 
gewiesen worden,  die  massgebenden  Kreise  scheuen 
selbst  davon  zurück,  eine  Brücke  zu  schlagen  zwischen 
Preussen  und  Böhmen  durch  Schaffung  des  berüch- 
tigten geschlossenen  deutschen  Sprachgebietes.  Was  so 


384 


auf  politischem  Gebiete  sich  noch  Niemand  traute 
durchzusetzen,  das  wagte  man  nun  auf  kirchlichem 
Gebiete.  Es  ist  zwar  unglaublich,  aber  wahr.  Die 
Kirche  sollte  als  Sturmbock  der  deutschnationalen 
Pläne  dienen,  von  welchen  das  Endziel  wäre :  die 
Degradirung  Oesterreichs  zur  preussischen  Ostmark. 
Dieser  Vorschlag  ist  gemacht  worden  in  einer  Schrift, 
welche  in  Prag  erschien.  Sie  führt  den  Titel:  „Zur 
Frage  deutscher  Bisthümer  in  Böhmen".  Ein  Wort 
zur  Aufklärung  und  Beruhigung  aus  der  Mitte  des 
deutschen  Clerus  in  Böhmen.  Im  Verlag  der  Calve- 
schen  Buchhandlung.  Die  Schrift  ist  also  anonym. 
Dass  die  Verfasser  dieser  Schandschrift  nicht  den 
Muth  besassen,  das,  was  sie  niederschrieben,  auch 
mit  ihren  vollen  Namen  zu  verbürgen,  richtet  die 
Schrift  selbst.  Wir  werden  uns  nur  sehr  gedrängt 
fassen.  Die  Verfasser  dieser  Schrift,  falls  sie  katho- 
lische Priester  sind,  müssen  wohl  aus  dem  Kathe- 
chismus  die  Sünden  wider  den  hl.  Geist  kennen, 
von  denen  Christus  sagt,  dass  sie  weder  hier  noch 
jenseits  vergeben  werden.  Die  genannte  Schrift  ist 
in  ihrem  vollen  Inhalt  eine  solche  Sünde.  Ohne  uns 
in  das  Meritorische  dieser  Schrift  einzulassen,  was 
ja  ein  Gegenstand  ist,  welcher  in  die  Machtsphäre 
des  päpstlichen  Stuhles  gehört,  wollen  wir  uns  nur 
einige  Grundsätze  näher  anschauen,  welche  hier 
niedergelegt  sind.  Auf  Seite  46  der  zweiten  Auflage 
steht  geschrieben :  „Ein  einsprachiges  Gebiet  ceteris 
paribus  ist  in  ruhigen  Zeiten  viel  leichter  zu  pasto- 
riren,  als  ein  sprachlich  gemischtes,  dass  ein  mehr- 
sprachiges Gebiet  der  Diöcesenleitung  Arbeiten  und 
Schwierigkeiten  bereitet,  welche  ein  einsprachiger 
Kirchensprengel  gar  nicht  kennt".  Mit  diesem  „Grund- 
satze" wird  dann  in  der  ganzen  Schrift  der  Beweis 
geführt  und  die  Forderung  gestellt,  mit  welcher  die 
Schrift  endigt:  neue  Bisthümer,  aber  den  Czechen 
czechische,  den  Deutschen  deutsche  Bisthümer.  Die 
Forderung  der  anonymen  Schreiber,  auch  die  Diöcesen 
sollen  einsprachig  sein,  ist  natürlich  eine  Kopie  des 
einheitlich  centralistisch  regierten  Staates,  in  welchem 
die  Minoritäten  ganz-  einfach  niedergemacht  werden 
kraft   des  Rechtes  des  Stärkeren.   Und  das  soll  auch 


385 


in  der  katholischen  Kirche  Anwendung  finden?  Dass 
einsprachige  Diöcesen  leichter  zu  pastoriren  sind, 
als  mehrsprachige,  begreift  ein  Jeder ;  besonders  ist 
die  Sache  sehr  bequem  für  alle  privilegirten  Fau- 
lenzer, welche  da  sagen:  wir  werden  doch  nicht  die 
Sprache  eines  minderwerthigen  Volksstammes  er- 
lernen. Wären  die  Schreiber  genannter  Schrift  katho- 
lische Priester,  müssten  sie  doch  wissen,  dass  in  allen 
Seminarien,  in  welchen  Priesterkandidaten  erzogen 
werden  für  Länder  mit  gemischter  Bevölkerung,  alle 
diese  Sprachen  erlernt  werden  müssen.  So  wird  vom 
Priesterseminar  in  Jassy  in  Rumänien  folgendes 
berichtet :  „Die  bunte  Vielsprachigkeit  Rumäniens,  wo 
neben  Rumänen  zahlreiche  Ungarn,  Polen,  Ruthenen, 
Böhmen,  Deutsche  und  Franzosen  wohnen,  musste 
natürlich  im  Schulplan  besonders  berücksichtigt 
werden.  Daher  wurde  die  deutsche  und  französische 
Sprache  als  Pflichtfach  für  alle  aufgenommen.  Von 
den  übrigen  Sprachen  wählt  sich  jeder  Priesterkan- 
didat  die  eine  oder  die  andere  nach  Belieben.  Von 
den  12  Erstlingen  des  Seminars  spricht  jeder  ziem- 
lich geläufig  wenigstens  je  fünf  lebende  Sprachen. 
(Kathol.  Missionen,  Jahrg.  30,  Seite  132.)  Gehen  wir 
nach  Ostindien.  In  der  Stadt  Bombay,  mit  einer  Ein- 
wohnerzahl von  776.006  Personen,  werden  diese 
Sprachen  gesprochen:  Gujarati,  Kanary,  Marathi, 
Sindbi,  Hindustani,  Marwari,  Malayalam,  Tamil, 
Telagu,  Arabisch,  Chinesisch,  Englisch  und  Portu- 
giesisch. Der  Apostolische  Delegat  von  Ostindien 
Monsign.  Zaleski  gibt  den  katholischen  Missionären 
von  Ostindien  das  Zeugniss,  dass  die  Meisten  von 
ihnen  bis  10  lebender  Sprachen  geläufig  mächtig 
sind.  Katholische  Priester  in  Nordamerika  müssen, 
falls  sie  für  die  Seelsorge  brauchbar  sein  wollen, 
neben  des  Englischen  noch  mehrere  andere  lebende 
Sprachen  erlernen.  Wo  könnte  in  diesen  riesigen 
Ländern,  denen  gegenüber  Böhmen  so  klein  ist  wie 
eine  Handmappe,  der  obige  „Grundsatz"  der  Ein- 
sprachigkeit Anwendung  finden  P  Soll  auch  das  Land 
Böhmen  wegen  einer  handvoll  geistfauler  Theologen 
in  einsprachige  Diöcesen  eingerichtet  werden?  Wir 
brechen   ab.     Wenn  der  Grundsatz   der  Einsprachig- 

25 


386 


keit  im  kirchlichen  Interesse  zulässig  wäre,  wozu 
hätten  die  Apostel  am  Pfingstfeste  die  Sprachengabe 
erhalten  ? 

Schon  dieser  eine  Satz,  den  wir  aus  der  genannten 
Schrift  citirt  haben,  genügt  zu  beweisen,  dass  sie 
eine  Sünde  wider  den  hl.  Geist  ist.  Doch  genug,  wir 
wollen  uns  mit  dem  Inhalte  dieser  Schandschrift 
nicht  mehr  befassen,  sie  ist  nur  ein  Beleg,  dass  der 
nationale  Wahn  auch  Priester  hinreissen  kann  zu 
Werken,  die  wohl  eines  Priesters  vollständig  un- 
würdig sind.  Die  Hetze  über  die  nationale  Theilung 
der  Diöcesen  in  Böhmen  dauerte  fast  3  Jahre.  Der 
Impuls  ging  offenbar  von  den  Treibern  der  Körbe- 
rischen Regierung  aus.  In  der  päpstlichen  Nuntiatur 
in  Wien  wurden  schon  Berathungen  gepflogen  und 
die  Seele  von  Allem  war  Weihbischof  Frind  in  Prag. 
Da  erhob  sich  der  böhmische  Rudigier,  der  leider 
zu  früh  verstorbene  Bischot  Brynych  von  Königgrätz 
und  legte  sein  Veto  ein,  überreichte  dem  Monarchen 
in  dieser  Angelegenheit  ein  grosses  Memorandum. 
Darob  waren  denn  Dr.  Körber  und  Weihbischof  Frind 
dem  verstorbenen  Oberhirten  nicht  absonderlich  dank- 
bar. Uebrigens  hätten  sich  ja  die  anonymen  Schreiber 
genannter  Schandschrift  ihre  Arbeit  ersparen  können. 
Viel  kürzer  und  preciser  hat  ihr  Geschäft  der  Genera- 
lissismus der  Abfallsarmee  Schönerer  besorgt.  In  der 
Sitzung  vom  27.  Februar  1901  stellte  Abgeordneter 
Schönerer  und  Genossen  folgende  Anfrage: 

In  der  Erwägung,  dass  im  Laufe  der  letzten  20 
Jahre  immer  häufiger  die  Wahrnehmung  gemacht 
werden  konnte,  dass  in  Pfarrsprengeln  von  rein  deut- 
scher oder  überwiegend  deutscher  Bevölkerung  die 
Pfarrstellen  mit  solchen  Geistlichen  besetzt  werden, 
velche  nicht  der  deutschen  Nationalität  angehören; 
in  der  weiteren  Erwägung,  dass  es  eine  Kränkung 
der  heiligsten  Gefühle  der  deutschen  Bevölkerung 
genannt  werden  muss,  wenn  derselben  die  Tröstungen 
der  Religion  nicht  von  Männern  ihres  eigenen  Stam- 
mes, sondern  von  fremdnationalen,  nur  zu  oft  dem 
Deutschthume  feindlich  gesinnten  und  diese  feind- 
selige Gesinnung  sehr  häufig  zu  überlautem  Ausdrucke 
bringenden  Geistlichen  gespendet  werden ;  endlich  in 


38T 


der  Erwägung,  dass  nicht  deutsche  Priester  durch 
ihre  ausgesprochen  deutschfeindliche  Gesinnung  nur 
zu  oft  den  Keim  der  Zwietracht  in  die  deutsche 
Bevölkerung  tragen,  stellen  die  Gefertigten  die  An- 
frage: 

„Ist  die  k.  k.  Regierung  geneigt  die  unterste^ 
henden  Statthaltereien  und  Landesregierungen  dahin 
zu  beauftragen,  bei  Vorschlägen  zur  Besetzung  von 
Pfarrstellen  in  rein  deutschen  oder  überwiegend 
deutschen  Pfarrgemeinden  stets  nur  Priester  deut- 
scher Abstammung  zu  berücksichtigen  ?u 


Schönerer. 

Hatick. 

Dr.  Bareuther. 

Berger. 

Herzog. 

Schreiter. 

Lindner. 

Dr.   Eisenkolb. 

Johann  Laurenz  Hofer. 

Stein. 

Iro. 

Alvin  Hanich. 

Kutscher. 

Dötz. 

Kittel. 

Kliemann. 

Dr.  Tschan. 

Am  28.  Februar  1903  stellten  die  Alldeutschen 
im  Wiener  Reichsrath  den  Antrag  auf  nationale  Tren- 
nung der  Diöcesen  in  den  böhmischen  Ländern. 
Weihbischof  Frind  und  seine  Gefolgschaft  und  Schö- 
nerer mit  seinen  Manen  liegen  sich  da  einig  in 
Armen.  Wahrhaftig  eine  saubere  Gesellschaft  das  1 
Welche  Früchte  diese  Hetze  brachte,  dafür  ein  Bei- 
spiel. Ein  reichsdeutsches  Blatt  brachte  Anfangs 
Jänner  1902  folgenden  Bericht.  „Wie  der  „N.  Fr.  Pr.a 
aus  Prag  berichtet  wird,  wird  die  Agitation  der 
Tschechen  gegen  die  von  deutscher  Seite  nachdrück- 
lich befürwortete  nationale  Theilung  einzelner  bischöf- 
licher Diöcessen  in  Böhmen  mit  aller  Kraft  fortgesetzt. 
Aus  den  Kreisen  des  böhmischen  Klerus  erhielt  das 
in  deutscher  Sprache  erscheinende  Prager  Tschechen- 
blatt, die  „Politik",  genaue  Angaben  über  den  Umfang 
dieser  Agitation.  „Die  Parole,  dass  die  Bisthümer  in 
Böhmen  nach  der  Nationalität  getheilt  werden  sollen", 
heisst  es  in  dieser  Mittheilung,  „findet  bei  dem  deut- 
schen Klerus  in  Böhmen  mehr  und  mehr  Wohlge- 
fallen. Es  wurden  mehrere  Petitionen  nach  Wien  ge- 

25* 


388 

sendet,  in  welchen  die  Theilung  verlangt  wird;  es 
wurden  auch  viele  Konferenzen  darüber  abgehalten. 
Der  tschechische  Klerus  wurde  durch  diese  Agitation 
tief  beunruhigt.  Er  hat  eine  Petition  an  die  Nuntiatur 
in  Wien  verfasst,  in  welcher  die  religiösen  und 
nationalen  Zustände  in  Böhmen  erörtert  werden» 
Diese  Petition  wurde  vom  tschechischen  Klerus  in 
allen  Vikariaten  reichlich  unterschrieben,  namentlich 
in  der  Königgrätzer  Diöcese,  wo  der  Bischof  Dr. 
Eduard  Brynych  selbst  mit  dieser  Aktion  völlig  ein- 
verstanden war  und  dann  noch  im  privaten  Wege 
als  Oberhirt  bei  der  Wiener  Regierung  und  beim 
päpstlichen  Stuhl  in  Rom  intervenirte.  Infolge  dieser 
nicht  zu  unterschätzenden  Bewegung  setzte  die  Regie- 
rung die  Angelegenheit  von  der  Tagesordnung  abt 
wie  es  auch  thatsächlich  an  die  einzelnen  bischöf- 
lichen Ordinariate  mitgetheilt  wurde".  Der  tschechische 
Klerus,  versichert  der.  Schreiber  dieser  Mittheilung 
an  die  „Politik",  ist  tief  beunruhigt,  denn  es  sei 
offenbar,  dass  es  sich  dem  deutschen  Klerus  um  die 
Vernichtung  der  tschechischen  Minoritäten  handle. 
Dies  werde  durch  die  deutschen  Diöcesankataloge 
erwiesen,  wo  früher  bei  den  sprachlich  gemischten 
Städten  und  Gemeinden  beide  Sprachen,  nämlich 
lingua  germanica  et  bohemica,  angeführt  wurden. 
Aber  in  den  letzten  Diöcesankatalogen  liest  man  bei 
vielen  Städten,  z.  B.  Reichenberg,  Brüx,  Teplitz,  Dux, 
Aussig  a.  d.  Elbe,  Trautenau,  Gablonz,  Saaz  lingua 
germanica.  Die  Worte  et  bohemica  sind  verschwunden. 
Und  das  soll  als  eine  amtliche  Nachweisung  gelten. 
Die  tschechischen  Geistlichen,  so  klagt  der  Berichter- 
statter der  „Politik",  führen  in  dem  „geschlossenen 
Sprachgebiete"  kein  angenehmes  Leben.  Aber  ihre 
ärgsten  Gegner  seien  nicht  die  deutschen  Bewohner 
der  einzelnen  Pfarrsprengel,  sondern  die  deutschen 
Priester  selbst.  Auf  den  Vikariats-Konferenzen  dienen 
die  tschechischen  Priester  den  deutschen  Priestern 
als  Stichblat  der  grössten  Invektiven.  Das  Konsisto- 
rium und  die  obersten  Kirchenbehörden  würden  in 
diesen  Konventikeln  auf  eine  solche  Art  kritisirt, 
wie  dies  der  tschechische  Priester  nie  wagen  dürfe* 
„Der  tschechische   Klerus",   heisst   es   dann    weiter. 


389 


*  erwartet,  dass  die  kompetenten  Behörden  ein  ent- 
scheidendes Wort  sprechen  werden,  denn  unter  die- 
sen Umständen  müssten  die  tschechischen  Priester 
aus  dem  gemischten  Sprachgebiete  wirklich  fortgehen, 
wie  es  der  heisseste  Wunsch  des  deutsch-national 
gesinnten  Klerus  verlangt.  Diese  Reinigung  wäre  ein 
Unglück  für  die  Kirche  und  für  das  ganze  Reich." 
Dass  man  auf  deutscher  Seite  die  Schaffung  der 
deutschen  Diöcesen  und  die  Berufung  deutscher  Priester 
mit  Fug  und  Recht  wünscht,  beweisen  die  Klagen 
über  das  provokatorische  Vorgehen  der  tschechischen 
Kapläne,  die  es  als  ihre  Pflicht  ansehen,  in  deutschen 
Gemeinden  mit  aller  Macht  zu  tschechisiren.  So 
meldet  die  mit  ruhiger  Entschiedenheit  für  die  Inter- 
essen des  Deutschthums  eintretende  „Bohemia" 
über  Vorgänge  in  der  deutschen  Sprachinsel  Bowitz 
und  Unter-Groschum,  welche  der  tschechischen  Pfarre 
Netolitz  zugetheilt  sind :  „Früher  wurde  die  Acht-Uhr- 
Frühmesse  deutsch  gehalten,  und  es  wurde  hiebei 
deutsch  gesungen.  Das  hat  aufgehört.  Nur  das  Evan- 
gelium wird  in  beiden  Sprachen  gelesen  Sobald  der 
Priester  deutsch  zu  lesen  beginnt,  da  geht  ein  Räu- 
spern los,  so  dass  man  die  deutschen  Worte  nicht 
vernehmen  kann.  In  Netolitz  ist  ein  Kaplan,  der  als 
glühendster  Hasser  alles  Deutschen  bekannt  ist. 
Während  der  Weihnachtsfeiertage  hielt  er  eine  Predigt, 
die  vollends  jedem  Deutschen  das  Kirchengehen  ver- 
leidet Die  ganze  Predigt  handelte  nur  von  der 
„Nemci".  Nicht  einmal  andeutungsweise  können  die 
einzelnen  Kraftstellen  wiedergegeben  werden.  Als 
zahm  können  noch  die  Worte  bezeichnet  werden: 
„In  Böhmen  sieht  es  jetzt  traurig  aus.  In  den  deut- 
schen Schulen  ist  es  verboten  tschechisch  zu  beten, 
und  doch  leben  diese  „Nemci"  in  Böhmen,  im  Lande 
des  heiligen  Wenzel,  der  doch  nur  Eine  Zunge  hatte, 
die  tschechische  u.  s.  w."  So  gehen  nach  der  leiden- 
schaftslosen Schilderung  der  „Bohemia"  die  Tschechen 
vor.  Dieselben  Leute  aber,  die  den  Deutschen  in 
Bowitz  und  Groschum  den  Gottesdienst  in  deutscher 
Sprache  verwehren  wollen,  ereifern  sich  über  den 
„barbarischen  Hakatismus"  der  preussischen  Regie- 
rung, die  in  einem   seit  mehr   denn  100  Jahren  mit 


390 


Preussen  vereinigten  ehemals  polnischen  Landestheil 
nicht  etwa  den  polnischen  Gottesdienst  einzuschrän- 
ken sucht  —  denn  davon  ist  in  Posen  und  West- 
preussen  nirgends  die  Rede  —  sondern  nur  so  „rück- 
sichtslos und  gewaltthätig  ist",  den  des  Deutschen 
vollkommen  mächtigen  Schulkindern  in  der  Schule 
den  Religionsunterricht  in  deutscher  Sprache  er- 
theilen  zu  lassen  und  ihnen,  wenn  sie  die  Renitenz 
gegen  den  Gebrauch  der  deutschen  Sprache  bis  zum 
Aeussersten  treiben,  unter  Anwendung  der  überall 
gebräuchlichen  Mittel  der  Schul disciplin  eine  durch- 
aus berechtigte  Lektion  zu  ertheilen.  Die  ungebärdigen 
Rangen  werden  dann  nicht  nur  als  die  Blüthe  des 
Polenthums  gefeiert,  sondern  als  Märtyrer  ihres  na- 
tionalen Empfindens  und  ihrer  religiösen  Ueberzeugung 
in  allen  Tonarten  gepriesen!  Es  ist  wirklich  schwer* 
hier  keine  Satire  zu  schreiben  !u 

So  weit  das  reichsdeutsche  Blatt.  Wir  wollen 
noch  einige  Bilder  aus  anderen  Ländern  hinzufügen» 
Die  Regierung  des  Sagasta  hatte  Mitte  1902  ange- 
ordnet, dass  in  Katalonien  nur  die  spanische  Sprache 
in  den  Schulen  anzuwenden  sei,  und  auch  der  Reli- 
gionsunterricht dürfe  im  Katalonischen  nicht  ertheilt 
werden.  Die  Folge  dieses  Regierungsaktes  war  ein 
Aufstand  in  ganz  Katalonien.  Die  Lehrer  und  Priester 
durften  der  Anordnung  gar  nicht  Folge  leisten,  das 
Volk  hätte  sie  gelyncht.  Kardinal  Casanas,  Erzbischof 
von  Barcelona,  sagte  bei  der  Ertheilung  der  Firmung 
in  Kaldetas  den  versammelten  Gläubigen  folgendes: 
Die  Lehre  Christi  soll  jedem  Volke  in  seiner  Volks- 
sprache verkündigt  und  gelehrt  werden.  Darum  gab 
Gott  den  Aposteln  die  Sprachengabe. 

Die  Kirche  darf  sich  um  die  Massnahmen  der 
Politiker  und  Regierungsmänner,  die  etwa  die  Gewalt 
in  Händen  haben,  nicht  kümmern.  Die  Politiker  kom- 
men und  gehen,  die  Kirche  aber  bleibt  und  sie  darf 
nichts  von  ihren  Traditionen  preisgeben.  Gebrauchet 
also  die  Sprache  beim  Unterricht  der  hl.  Religion, 
welche  ihr  von  euerer  Mutter  erlernt  habt.  Die  ruch- 
losen Gauner,  welche  in  Frankreich  die  Gewalt  iri 
Händen  haben  und  dieselbe  zur  völligen  Ausrottung 
der    katholischen   Kirche  nun  anwenden»  graben  auch 


391 


für  die  Bretagne  das  Verbot,  die  Priester  dürfen  in 
der  bretonischen  Mundart  weder  predigen  noch  in 
der  Schule  Religionsunterricht  ertheilen.  Der  Abge- 
ordnete Lamy  brachte  am  16.  Jänner  1903  eine  Inter- 
pellation in  der  Kammer  vor.  Der  Interpellant  er- 
klärte, da  die  bretonische  Mundart  vor  den  Friedens- 
gerichten gestattet  sei  und  überdies  Predigten  in  bas- 
kischer, deutscher  und  italienischer  Sprache  geduldet 
würden,  sei  es  ungerecht,  Predigten  in  bretonischem 
Dialekt  zu  verbieten. 

Minister-Präsident  Gombes  erwiderte,  er  habe  sich 
den  von  Falliäres  und  Waldeck-Rousseau  erlassenen 
Cirkulären,  durch  welche  sämmtliche  lokalen  Dialekte 
bei  religiösen  Uebungen  verboten  worden  seien,  an- 
gepasst.  In  der  Kirche  wie  in  den  staatlichen  Schulen 
müsse  einzig  und  allein  die  französische  Sprache  zur 
Anwendung  gelangen.  In  der  Bretagne  werde  sicher- 
lich Friede  einkehren,  jedoch  nur  durch  die  Unter- 
werfung des  Klerus  unter  die  Befehle  der  Regierung. 
Bald  darauf  wurde  über  40  Pfarrern  in  der  Bretagne 
die  Gehaltssperre  von  der  Regierung  verhängt.  Ist  das 
nicht  eine  Warnung  für  unsere  Opitzianer,  sie  sollen 
nicht  ins  Feuer  Oel  giessen  und  die  germanisirende 
Regierung  auch  in  die  Kirche  hineinrufen,  wie  sie  es 
in  der  verruchten  Schrift  über  die  Errichtung  ein- 
sprachiger Diöcesen  in  Böhmen  gethan  haben  ?  Es  ist 
bekannt,  dass  die  Bretagne  ein  treues  katholisches 
Volk  hat,  über  welches  die  Juden,  Freimaurer  bis 
jetzt  absolut  keine  Gewalt  haben  erlangen  können. 
Wir  können  uns  über  diesen  wichtigen  Gegenstand 
nur  sehr  gedrängt  fassen.  So  könnten  wir  die 
furchtbaren  Verheerungen  in  der  katholischen  nicht- 
magyarischen Bevölkerung  in  Ungarn  durch  Aufzwin- 
gung der  magyarischen  Sprache  beschreiben.  Wir 
geben  hier  nur  folgendes  an.  Am  9.  Jänner  1903 
brachte  das  grosse  Judenblatt,  der  „Pester  Lloyd"  diese 
Nachricht : 

(Labor  omnia  vincit!)  Mit  diesem  alten  Wahr- 
spruche ermuthigt  Kardinal-Fürstprimas  Klaudius 
Vaszary  die  Schulinspektoren  seiner  Erzdiözese  in 
einem  Rundschreiben,  das  der  Verbreitung  der  unga- 
rischen   Sprache   gewidmet  ist.     Se.  Eminenz  fordert 


392 


die  erwähnten  Organe  auf,  dahin  zu  wirken,  dass  der 
Religionsunterricht  in  den  gemischtsprachigen  Schulen 
ungarisch  erfolge,  damit  derart  der  Boden  für  rein 
ungarische  Predigten  vorbereitet  werde.  Er  ersucht 
sie,  vor  etwaigen  Schwierigkeiten  und  Mühseligkeiten 
nicht  zurückzuschrecken  und  ertheilt  praktische,  be- 
herzigenswerte Weisungen,  wie  diese  Verfügung  am 
zweckmässigsten  auch  dort  durchzuführen  wäre,  wo 
die  Kinder  jetzt  der  ungarischen  Sprache  noch  gar 
nicht  mächtig  sind.  Wenn  diese  von  wahrem  patrio- 
tischen Geiste  diktirte  Verordnung  des  Fürstprimas 
streng  eingehalten  wird,  dann  wird  sie  die  von  un- 
serer Unterrichtsverwaltung  mit  dem  Volksschulwesen 
verknüpften  edlen  Ziele  jedenfalls  wesentlich  fördern. 
Also  Fürstprimas  Kardinal  Vaszary  ordnet  an,  dass 
auch  in  den  Schulen,  wo  die  Kinder  das  Ungarische 
gar  nicht  verstehen,  die  Religion  doch  in  dieser  Sprache 
unterrichtet  werden  sollte.  Wir  wollen  uns  weiterer 
Kritik  enthalten,  fügen  jedoch  bei,  dass  alle  ehrlichen 
Priester  die  Pflicht  hätten,  den  Kardinal  in  Rom  an- 
zuzeigen, denn  seine  Weisung  bedeute  wohl  einen 
massenhaften  Seelenmord  und  keine  Seelsorge.  Am 
12.  Februar  1903  brachte  der  „ Pester  Lloyd"  diese 
Nachricht : 

(Bestrafung  eines  ungarnfeindlichen  Katecheten.) 
Wie  dem  „Pol.  Ert."  aus  Deva  gemeldet  wird,  hat 
Kultus-  und  Unterrichtsminister  Julius  Wlassics  den 
griechisch-katholischen  Katecheten  Johann  Stupinianu, 
welcher  an  der  staatlichen  Elementarschule  den  Re- 
ligionsunterricht besorgt,  dieser  Funktion  enthoben 
und  gegen  ihn  vor  dem  kompetenten  Strafgerichte  die 
Anzeige  erstatten  lassen.  Der  Seelsorger  rief  den 
Knaben,  welche  ihn  in  ungarischer  Sprache  begrüssten, 
wiederholt  zu:  „Ihr  seid  keine  Ungarn;  grüsset  mich 
nur  in  rumänischer  Sprache!"  Das  Lugoser  Konsisto- 
rium hat  wohl  die  gegen  den  Katecheten  erhobene 
Beschwerde  des  Schulinspektors  als  unbegründet  zu- 
rückgewiesen, der  Minister  enthob  Stupinian  jedoch, 
wie  erwähnt,  seiner  Funktion. Welches  werden  denn 
die  Folgen  sein?  Was  die  Jahrhunderte  dauernde 
Türkenherrschaft  nicht  zu  Wege  brachte,  die  Ent- 
christlichung  Ungarns,    das   werden  wohl  in  kurzer 


393 


Zeit  ungarische  Bischöfe  zu  Wege  bringen,  sie  sollen 
nur  sofort  dem  Staate  dienen,  und  die  Kirche  miss- 
achten, es  wird  die  Zeit  kommen,  wo  die  Bischöfe 
selbst  dann  überflüssig  sein  werden.  Das  Gericht  Gottes 
stellt  sich  über  kurz  oder  lang  mit  eiserner  Konse- 
quenz ein.  Wen  würde  denn  das  Drama  in  Wreschen 
das  Herz  nicht  erschüttern,  wo  kleine  polnische  Kinder 
vor  den  Richtern  aussagten,  sie  könnten  das  „Vater 
unser"  in  deutscher  Sprache  nicht  über  die  Lippen 
bringen!  Und  da  wagt  ein  Kardinal  Vaszary  selbst 
die  Herzen  der  Kleinen  zu  vergiften?  Kennt  er  den 
Ausspruch  des  Heilandes  vom  Mühlstein?  Fürchtet 
er  sich  nicht  vor  der  Strafe  Gottes?  Man  könnte 
ganze  Bände  darüber  schreiben,  wie  das  ganze  Volk 
der  Slovaken,  welches  doch  über  3  Millionen  Seelen 
zählt,  selbst  vom  ungarischen  Episkopat  preisgegeben 
wird,  es  soll  ganz  ausgerottet  werden  und  die  unga- 
rischen Bischöfe  helfen  mit,  trotz  des  Veto,  das  der 
apostolische  Stuhl  ihnen  gegeben  hat.  Ebenso  traurige 
Zustände  herrschen  im  Süden  Oesterreichs,  also  sehr 
nahe  an  Rom. 

Ende  Januar  1903  schrieb  der  „Edinost"  folgen- 
des. In  der  Diözese  Parenzo-Pola  sind  zur  Zeit  10  Ka- 
nonikate,  34  Pfarr-  und  12  Kaplanstellen,  zumeist  im 
kroatischen  Gebiete,  nicht  besetzt  Es  werden  die  be- 
treffenden Titulare  nicht  ernannt  und  die  Stellen 
bleiben  entweder  ganz  unbesetzt  oder  werden  von 
minder  besoldeten  Hilfsgeistlichen  versehen.  Die  Geist- 
lichkeit der  Diöcese  wird  dabei  um  eine  Einnahme 
von  rund  600.000  Kronen  gebracht,  welche  für  die 
Titulare  sonst  aus  dem  Religionsfonde  gezahlt  würden. 
Der  Diöcesanbischof  verfolgt  dabei  den  Zweck,  dass 
die  slavischen  Priester  in  keine  ständige  Stellung 
kanonisch  investirt  werden,  so  dass  sie  jederzeit  amo- 
virbar  sind.  Dieses  System  besteht  in  beiden  Diöcesen 
der  Halbinsel  Istrien  zur  Förderung  der  Italienisirung 
der  slavischen  Diöcesanen.  Diesem  Zwecke  werden 
die  kirchlichen  Interessen  der  katholischen  Kirche 
rücksichtslos  preisgegeben  und  geopfert.  Die  Folgen 
davon  beginnen  sich  schon  zu  zeigen !  Zur  Versiege- 
lung von  Kirchen  wird  sich  wohl  immer  genug  Sie* 
gelwachs  finden,  aber  die  Entsiegelung  dürfte  schon 


._ 


394 


mit  einigen  Schwierigkeiten  verbunden  sein.  Die  Ge- 
meinde Ricmanje  wollte  die  altslavische  Liturgie  vom 
Konsistorium  bestätigt  haben.  Da  dies  verweigert 
wurde,  meldete  sich  die  Gemeinde  zur  unirten  grie- 
ehisch-orientalischen  Kirche.  Die  Protestanten  machten 
der  Gemeinde  ein  Angebot  von  280.000  Gulden,  falls 
alle  Einwohner  zum  Protestantismus  übertreten  woll- 
ten. Das  Angebot  wurde  zurückgewiesen.  Der  „Edi- 
nost*  berichtet  weiter: 

Angesichts  der  Strenge,  welche  das  bischöfliche 
Ordinariat  von  Triest  gegen  Ricmanje  entwickelt  hat, 
traten  die  Triester  Slovenen  mit  der  Forderung  her- 
vor, das  Ordinariat  möge  mit  entsprechender  Energie 
auch  dafür  sorgen,  dass  die  willkürliche,  Nichtchristen 
zuliebe  verfügte  Ausschliessung  der  slovenischen 
Sprache  aus  den  Kirchen  zurückgenommen  und  dem 
slovenischen  Volk  sein  ungesetzlich  entzogenes  Recht 
wieder  zurückerstattet  werde.  So  wird  denn  vom 
Ordinariat  die  Wiedereinführung  der  slovenischen 
Predigten  in  den  Triester  Kirchen  zu  Set.  Justus  und 
Antonius  Major  gefordert,  wo  sie  seit  Menschenge- 
denken stattgefunden  haben,  bis  sie  auf  Betreiben  des 
Triester  Magistrats  beseitigt  worden  sind.  Sie  fordern, 
dass  der  Religionsunterricht  den  slovenischen  Kindern 
in  ihrer  Muttersprache  ertheilt  werde,  wie  dies  seit 
jeher  geschah,  bis  italienische  Priester  kamen,  welche 
dem  slovenischen  Volke  die  italienische  Sprache  auf- 
zwingen wollen.  „Es  ist  bekannt,"  heisst  es  im  Auf- 
rufe weiter,  „dass  in  Oesterreich  preußische  Agita- 
toren für  das  Lutherthum  arbeiten  und  thatsächlich 
Tausende  der  katholischen  Kirche  abwendig  gemacht 
und  sie  zum  Lutherthum  hinübergezogen  haben.  Wie 
gehen  kirchliche  Behörden  in  diesen  Fällen  vor  und 
welche  politische  Behörde  unterstützt  sie  dabei?  Ein 
uniatischer  Geistlicher  durfte  in  Ricmanje  keinen 
Gottesdienst  halten,  weil  er  kein  österreichischer 
Unterthan  war.  Wann  aber  sind  jene  Pastoren,  welche 
aus  Deutschland  nach  Oesterreich  kommen,  um  hier 
den  Lutherglauben  zu  verbreiten,  österreichische 
Unterthanen  geworden?"  Während  man  aber  die 
germanische  Irredenta  im  Norden,  wenn  auch  nicht 
bekämpft,  so  doch  wenigstens  nicht  direkt  unterstützt, 


395 


erfreut  sich  die  italienische  Irredenta  im  Süden  der 
Unterstützung  der  kirchlichen,  wie  der  staatlichen 
Behörden,  welche  ihr  zuliebe  die  Sprache  der  einhei- 
mischen Bevölkerung  aus  der  Kirche  und  der  Seel- 
sorge, aus  Amt  und  Schule  aüsschliessen,  damit  die 
Irredenta,  welche  offen  die  Losreissung  dieser  Länder 
und  deren  Vereinigung  mit  Italien  betreibt,  behaupten 
könne,  dass  sie  italienisch  seien!  Im  Norden  wird 
„pour  le  roi  de  Prusse",  im  Süden  „pour  le  roi 
d'Italie*  gearbeitet;  dass  man  gar  nicht  dazu  kommt, 
sich  auch  einmal  des  Kaisers  von  Oesterreich,  des 
legitifnen  Landesherrn  zu  erinnern,  ist  bei  einem  sol- 
chen System  nur  zu  begreiflich !  . 

Ein  weiterer  Bericht  desselben  Blattes  sagt.  In 
Ricmanje  gab  es  Donnerstag  (den  5.  Februar  1903) 
um  9  Uhr  Früh  wieder  eine  Kommission.  Es  fanden 
sich  eine  grössere  Anzahl  von  Beamten  mit  dem 
Bezirkshauptmann  an  der  Spitze  ein,  in  deren  Mitte 
drei  Priester,  unter  denen  sich  auch  der  neue  Kaplan 
von  Ricmanje  befand.  Die  ganze  Kommission  begab 
sieh  in  die  Kaplanei,  blieb  dort  etwa  fünf  Minuten^ 
schloss  sie  wieder  ab.  Der  Bezirkshauptmann  und  die 
Gensdarmen  grüssten  nach  allen  Seiten  freundlich, 
aber  Niemand  nahm  von  ihnen  Notiz.  Erst  später 
erfuhren  die  Leute,  dass  die  Kommission  der  Instal- 
lirung  des  neuen  lateinischen,  recte  italienischen  Orts- 
kaplan galt.  Die  Kirche  blieb  jedoch  vorläufig  ver- 
siegelt. Der  Name  „Ricmanje"  bürgert  sich  allmälig 
als  Fachbezeichnung  für  den  Widerstand  gegen  die 
Italienisirung  der  katholischen  Kirchen  im  Küsten- 
lande ein.  Dieser  Tage  erschien  eine  Slovenin  in  der 
Pfarre  zu  Set.  Jakob  in  Triest,  um  dort  einen  Sterbe- 
schein für  ihren  Gatten  zu  erheben.  Die  Geistlichen 
verweigerten  ihr  die  Ausfertigung  eines  slovenischen 
Sterbescheins,  weil  sie  gar  nicht  slovenisch  verstehen* 
Auch  der  Kirchendiener  und  sein  Gehilfe  wollten 
nicht  slovenisch  verstehen.  Der  Katechet  Bullo,  an 
den  sich  die  Frau  dann  wendete,  bemerkte  zu  ihr,  ob 
sie  denn  aus  Ricmanje  sei?  Der  Pfarrer,  an  den  sich 
die  Frau  zuletzt  wenden  wollte,  schlug  ihr  die  Thür 
vor  der  Nase  zu !  So  werden  gläubige  Katholiken  auf 
katholischen    Pfarren  'behandelt  —  wenn  sie  —  Slo- 


396 

venen  sind!  Wir  schliessen  dieses  Kapitel  und  über- 
lassen den  Lesern  ihre  Betrachtungen  über  die  hier 
angeführte  Thatsachen  anzustellen.  Ferne  sei  von  uns 
jedes  herbe  Wort,  das  wir  mit  Recht  hier  anbringen 
könnten.  Wir  sind  der  Ueberzeugung,  dass  auch  die 
Vorsehung  Gottes,  wann  die  Zeit  reif  sein  wird,  hier 
Wandel  schaffen  wird.  Das  Eine  ist  sicher,  dass  dort, 
wo  Menschen  unterdrückt  werden,  von  einem  Christen- 
thum  nicht  die  Rede  sein  könne  und  wäre  der  Ort 
selbst  eine  Kirche.*) 

XXIV.  Zukunftspläne  des  Protestantismus. 
Die  Weitpolitik  Preussen-Deutschlands. 

Die  katholische  Kirche  hat  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte schwere  Verluste  erlitten.  Der  erste  grosse 
Verlust  war  das  Schisma  im  Osten,  welches  vollendet 
wurde  im  Jahre  1050  durch  den  Patriarchen  Michael 
Gaerularius.  Durch  dieses  Schisma  gieng  fast  der  ganze 
asiatische  Orient  der  katholischen  Kirche  verloren  und 
wurde  Beute  des  Islam.  Der  europäische  Osten  gieng 
an  den  russischen  Gar,  welcher  das  Oberhaupt  der 
russischen  orthodoxen  Kirche  ist,  verloren.  Den  zweiten 
grossen  Verlust  erlitt  die  katholische  Kirche  im  Westen 
Europas  durch  die  deutsche  und  englische  Glaubens- 
spaltung. Das  Schicksal  der  katholischen  Kirche  wurde 
in  den  Gebieten  des  jetzigen  Deutschen  Reiches,  dann 
in  Dänemark,  Schweden  und  Norwegen  durch  den 
30jährigen  Krieg  entschieden.  Diese  Länder  vordem 
einig  und  zugehörig  zu  Rom,  giengen  der  katholischen 
Kirche  zum  grossen  Theil  verloren.  Luthers  Saat  trug 
tausendfache  Früchte  Eine  grosse  Anzahl  Landes- 
fürsten wurde  protestantisch  und  mit  ihnen  ein  Theil 
des  Adels,  die  sich  alle  einig  um  die  grossen  Kirchen- 
güter th  eilten.  Der  Protestantismus  ist  in  seiner  Wiege 
und  seinem  Wesen  nach  ein  Raubzug  an  den  Gütern 
der  katholischen  Kirche.  Historische  Belege  dazu  liefert 
ja  massenhaft  Janssens  „Geschichte  des  deutschen 
Volkes"  und  Döllingers  „Die  Reformation".  Was  nach 


*)  Anmerkung.  Als  Urheber  der  Schrift  „Zur  Frage  der 
Errichtung  deutscher  Bisthümer  in  Böhmen"  werden  hier  in  Prag 
allgemein  bezeichnet  Weihbischof  Frind  und  Theologie-Professor 
Dr.  Hil genreiner  in  Prag. 


397 


dem  Westphälischen  Friedensschluss  in  den  Ländern 
des  jetzigen  Deutschen  Reiches  der  katholischen  Kirche 
verblieb,  das  wurde  nach  den  napoleonischen  Kriegs- 
wirren und  während  derselben  der  katholischen  Kirche 
vollends  weggenommen.  So  schrieb  Anfangs  März  1903 
das  „Bayerische  Vaterland"  folgendes  nieder.  „1803  bis 
1903.  Vor  100  Jahren  hat  der  sog.  Reichsdeputation- 
hauptschluss  im  deutschen  Lande  sog.  Ordnung  ge- 
schaffen. 420  Millionen  rheinische  Gulden  Kirchengut 
wurden  säkularisirt. 

Kostbare  Paramente  und  Kirchengefässe,  Reli- 
quiarien  sammt  ihrem  heil.  Inhalt  wurden  an  Juden 
verkauft,  werthvolle  Bibliotheken  beraubt  und  ver- 
schleudert" (Kirchenlexikon).  Ja  die  Juden  haben  allen 
Grund,  den  25.  Feber  als  die  Gentenarfeier  des  Be- 
ginnes ihrer  finanziellen  Grossmachtstellung  in  Deutsch- 
land zu  begehen,  denn  der  grösste  Theil  des  geraubten 
Kirchenvermögens  fiel  den  Juden  in  die  Hände.  Auf- 
fallend, dass  gerade  nach  1803  das  Vermögen  der 
Rothschild  so  rapid  in's  Wachsen  kam,  nachdem  doch 
der  alte  Rothschild  im  Jahre  1800  noch  so  viel  wie 
gar  nichts  hatte.  Bezeichnend  ist  auch  die  Vorliebe 
der  Rothschilds  für  alte  Altäre  und  sonstige  kirchliche 
Einrichtungsgegenstände ;  ihre  Sammlungen  geniessen 
Fächruf.  x 

Freilich  wird  die  säkularisirte  Masse  auch  vielen 
christlichen  und  besonders  katholischen  Kapitalisten 
der  damaligen  Zeit  in  die  Augen  gestochen  haben, 
aber  ihr  Gewissen  hielt  sie  davon  ab,  sich  mit  ge- 
raubtem Kirchengut  zu  bereichern  und  so  hatten  die 
Juden  dank  dieser  frommen  Scheu  christlicher  Kapi- 
talisten vor  dem  Fluche,  der  auf  dem  Verbrechen  des 
Sakrilegiums  und  der  Beihilfe  dazu  lag,  freies  Spiel 
und  konnten  mit  dem  um  wahre  Schleuderpreise  er- 
kauften Kirchengute  schachern  und  wuchern  ganz  nach 
Herzenslust.  Unsere  Herren  Altphilologen  können 
nicht  genug  jammern  über  den  Vandalismus  der  Türken, 
die  die  Bibliothek  von  Alexandrien  verbrannten  und 
dadurch  der  Literatur  einen  unersetzbaren  Schaden 
zufügten.  Ueber  die  Juden  vom  Jahre  1803  aber  jammern 
die  Herren  nicht,  gerade  als  ob  sie  nicht  wüssten, 
dass  diese  ganze  Stösse  von  Urkunden  und  kostbaren 


398 


Bachern  und  Handschriften  den  ehrsamen  Metzgern, 
Käsern  und  Bäckern  am  Anfange  des  vorigen  Jahr- 
hunderts pfundweise  als  Makulatur  verkauften.  Den 
Juden  gegenüber  ist  Alles  feige,  was  liberal  ist  oder 
aus  dem  Liberalismus  hervorgegangen  ist."  Wie  wir 
gesehen  haben,  ist  der  Protestantismus  seit  30  Jahren 
im  geeinigten  Deutschen  Reiche  im  stetigen  Wachsen 
begriffen  und  das  auf  Kosten  der  katholischen  Kirche. 
Preussen  führt  im  geeinten  Deutschen  Reiche  die  poli- 
tische Hegemonie  und  diese  führt  nothwendig  nach 
sich  auch  die  Oberherrschaft  des  Protestantismus  auf 
allen  anderen  Gebieten  im  Deutschen  Reiche.  Die 
Bestrebungen  der  Alldeutschen  sind  denn  auch  darauf 
hingerichtet,  die  deutsche  Nation  in  der  Glaubens- 
einheit zu  organisiren  durch  die  Schaffung  einer  deut- 
schen Nationalkirche  unter  der  Oberhoheit  der  hohenzol- 
lerischen  Dynastie,  also  ein  deutscher  Cäsaropapismus 
nach  Art  des  russischen.  Der  Traum  der  Hohenstaufen 
soll  nun  nach  1000  Jahren  in  Erfüllung  gehen.  Was 
die  Hohenstaufen  gegen  Innocenz  III.  nicht  erkämpfen 
konnten,  das  soll  nun  Wilhelm  IL  und  seinen  Nach- 
kommen gelingen.  Der  letzte  mächtige  Hohenstaufe 
Friedrich  II.  starb  1250  und  bald  nach  ihm  seine 
Nachkommen.  Die  Hohenstaufen  unterlagen  völlig  im 
Kampfe  mit  dem  Papst.  Die  Hohenzollern  haben 
grössere  Pläne  als  die  Hohenstaufen. 

Das  Organ  der  deutsch-socialen  Partei  „Der 
Hammer"  schreibt  in  Nr.  14,  Jahrgang  1903,  folgendes : 
»Als  in  der  Mitte  der  70er  Jahre  die  deutsche  Social- 
demokratie  am  heftigsten  tobte,  die  blutrothen  Most 
und  Hassel  mann,  glaubten  viele  junge  Handwerker 
und  Arbeiter,  dass  die  sociale  Revolution  sehr  bald 
schon  dem  ganzen  „Kaiser-Rummel"  ein  Ende  be- 
reiten würde  Der  kluge  Herr  August  Bebel  verkün- 
dete späterhin  noch  im  offenen  Reichstag,  dass  der 
„grosse  Kladderadatsch"  höchstens  noch  fünf  Jahre 
auf  sich  warten  lasse.  Wilhelm  I.  ist  schon  14  Jahre 
todt ;  wir  hatten  inzwischen  einen  Kaiser  Friedrich  III. 
und  haben  gegenwärtig  einen  prononcirt  monarchi- 
schen Wilhelm  II. ;  die  Deutschen  werden  wohl  auch 
noch  einen  Wilhelm  III.  und  IV.  und  einen  V.  und  VI. 
haben.  Sollten  die  Hohenzollern  einmal  abblühen,  so 


399 


wird  ein  Wettiner  oder  ein  anderer  königlicher  Bun- 
des-Fürst  das  deutsche  Kaiser-Scepter  ergreifen ;  durch 
die  Bundes-Verfassung  erscheint  das  Kaiserthum  in 
Deutschland  stark  und  fest  vernietet.  Es  wankt  nicht 
so  leicht,  wie  die  Throne  in  Frankreich.  Diese  weite 
historische  Perspektive  thut  dem  deutschen  Auge 
wohl,  wo  die  Socialdemokratie  immer  noch  ihren 
kurzgesehenen  Kladderadatsch  verkündet.  Der  sichere 
Ausblick  in  eine  weite  Ferne  gibt  Ruhe  für  die  Ge- 
genwart und  Geduld  und  Sinn  und  behagliche  Be- 
dachtsamkeit, die  Fundamente  des  deutschen  Glücks 
tiefer  zu  legen,  als  es  die  jüdische  Nervös  -Macherei 
dulden  möchte.  Herrn  Paul  Singer,  der  kürzlich  erst 
im  Reichstag  die  Republik  für  das  Ziel  der  Social- 
demokratie erklärte,  wird  diese  weite  und  sichere 
Kaiser-Perspektive  in  die  deutsche  Reichs-Zukunft 
nicht  passen,  um  so  mehr  sollten  die  Deutschen  sich 
durch  sie  politisch  beruhigt  und  aufgerichtet  und  zu 
weittragenden  Volks-Ideen  angeregt  fühlen.  Deutsch- 
land steht  erst  im  Jünglings-Alter  seines  historischen, 
und  erst  im  Kindesalter  seines  inneren  Staatslebens. 
Die  männlichsten  Aufgaben  harren  seiner  noch,  nach 
aussen  wie  nach  innen.  Die  Aufgaben  nach  aussen 
kann  man  leicht  an  den  Gefahren  ermessen,  die  dem 
central  gelegenen  Deutschland  von  allen  Seiten  drohen 
können. 

Die  Aufgaben  nach  innen  sind  nicht  kleiner. 
Man  denke  nur,  welch  ein  Riesengeist  dazu  gehören 
wird,  den  Deutschen  nach  der  jetzt  errungenen  Reichs-, 
Rechts-,  Münz-  und  Heeres-Einheit  die  —  Glaubens- 
Einheit  wiederzugeben,  ein  Problem,  das  noch  kaum 
in  Angriff  genommen  wurde.  Schwer  lasten  fernerdie 
socialen  Räthsel  aut  dem  deutschen  Gemüth,  das  bis 
jetzt  auf  seinem  eigenen  Grund  und  Boden  noch  kein 
rechtes  Behagen  gefunden  hat.  Hier  gilt  es  Riesen- 
Arbeiten  zu  verrichten ;  aber  alle  diese  Aufgaben  kann 
das  deutsche  Volk  lösen,  wenn  es  nur  eben  soviel 
guten  Willen,  wie  es  kraft  seiner  Jugendlichkeit  gute 
Zeit  dazu  hat.  Wie  ein  Gebet  klingen  die  herrlichen 
Verse  Freiligrath's,  die  er  in  der  48er  Zeit  dichtete, 
die  aber  weit  besser  für  das  heute  in  der  Kaiserknospe 
ruhende  Deutschland  passen  : 


400 


.Der  Du  die  Blumen  auseinanderfaltest, 
0  Hauch  des  Lenzes,  weh  auch  uns  heran! 
Der  Du  der  Völker  heiFge  Knospen  spaltest, 
0  Hauch  der  Freiheit,  weh  auch  diese  an! 
In  ihrem  tiefsten,  stillsten  Heiligthume 
0,  küss'  sie  auf  zu  Duft  und  Glanz  und  Schein  — 
Herr  Gott  im  Himmel,  welche  Wunderblume 
Wird  einst  vor  allen  dieses  Deutschland  sein!" 

Heinrich  Heine  verspottete  die  Deutschen,  die 
den  Kölner  Dom  nie  fertig  bringen  würden ;  sie  haben 
es  nach  vielen  harten  Jahrhunderlen  endlich  doch 
gethan,  trotz  Kriegsnoth,  Philisterthum  und  Judenspott. 
So  werden  sie  auch  den  Idealbau  ihres  Volksthums 
vollenden,  der  politisch  weit-  und  wetterfest,  religiös 
erhaben  und  social  gemüthvoll  und  behaglich  weit 
in  die  Ferne  der  Zeiten  ragen  wird.  Dann  wird  man 
erkennen,  dass  die  Zeit  des  alten  Wilhelm,  Bismarck's 
und  Moltke's,  die  man  in  leichten  Festreden  so  gern 
als  die  eigentliche  Zeit  des  deutschen  Reichs-Früh- 
lings anpreisen  hört,  in  Wahrheit  nur  eine  schwere 
Zeit  der  Wintersaat  war.  Bismarck  ist  im  April  und 
der  alte  Wilhelm  im  März  geboren  und  um  beide  hat 
es  gewiss  genug  geschneit,  gehagelt  und  gestürmt. 
Die  lieblichsten  Tage  des  Vaterlandes  kommen  erst 
und  sie  kommen  so  sicher,  wie  aus  den  frischen 
Zügen  des  im  Mai  geborenen  Kronprinzen  uns  das 
Bild  des  ersten  deutschen  Frühlings-Kaisers  entgegen 
blickt!" 

Hier  haben  wir  deutlich  die  Forderung  nach  der 
Einheit  des  Glaubens  für  die  ganze  deutsche  Nation 
ausgesprochen.  Der  Führer  diese  Partei  ist  der  Abge- 
ordnete Liebermann  von  Sonnenberg.  Ganz  präcise 
verlangt  „Die  Wartburg"  vom  2.  Jänner  1903  die 
Glaubenseinheit  für  die  deutsche  Nation  und  fordert 
natürlich,  dass  dazu  nur  der  Protestantismus  als  solcher 
berechtigt  sein  könne.  Die  „Wartburg"  schreibt:  »Das 
innerliche  Recht  zu  dem  Kampf,  der  gegen  den  Pa- 
pismus  im  Interesse  unseres  Volkes  und  im  Namen 
der  christlichen  Religion  zu  führen  ist,  wird  durch 
das  Wort  des  grossen  Theologen  Schleiermacher  be- 
zeichnet: „Die  evangelische  Kirche  kann  mit  gutem 
Gewissen  dahin  streben,  die  Reformation  über  alle 
germanischen  Völker   als    die  ihnen  eigentlich  ange- 


40i 


messene  Form  des  Christenthums  zu  verbreitend  Das 
ist  eben  deutsch-evangelisch.  Wir  sind  nicht  der 
Meinung,  als  würde  der  Protestantismus  nur  als  Aus- 
fluss  und  Besitzthum  unserer  Volksart  erklärt.  Warum 
sollten  nicht  Romanen  und  Slaven  für  das  hohe  Gut 
des  romfreien  Evangeliums  empfänglich  sein?  Die 
Geschichte  bezeugt,  dass  die  Franzosen  einst  in  kräf- 
tigster Weise  das  biblische  Chiistenthum  vertraten; 
Flammenzeichen  am  Horizont  unserer  Tage  wecken 
die  Hoffnung,  der  Tag  sei  nahe,  wo  sie  gesta  dei,  die 
Thaten  Gottes,  wieder  allein  unter  der  Führung  des 
Herrn  Jesu  Christi  vollbringen  und  nicht  mehr  unter 
dem  Banner  des  Pontifex  sich  sammeln.  Ja,  wir  hegen 
auch  die  Zuversicht,  dass  sich  die  Tschechen  auf  ihre 
im  Widerspruch  gegen  Rom  rege  Vergangenheit  be- 
sinnen und  durch  Hinkehr  zum  Evangelium  ihrem 
Volke  eine  bessere  Zukunft  sichern  werden.  Die 
Menschheit  wird  nicht  eher  frei  aufathmen,  als  bis  sie, 
vom  Druck  des  Ultramontanismus  erlöst,  auf  die 
Strasse  der  Reformation  einbiegt. 

Wenn  wir  deutsch-evangelisch  sagen,  so  sprechen 
wir  damit  die  Thatsache  aus,  dass  unser  Volk  durch 
das  Werk  Luthers  die  ihm  zusagende  und  entspre- 
chende Form  des  Christenthums  gefunden  hat,  eine 
Form,  in  der  es  mit  heisser  Liebe  an  dem  Heiland 
hangen,  mit  festem  Muth  auf  den  himmlischen  Vater 
vertrauen,  sein  gesammtes  Leben  in  sittlicher  Kraft  zum 
Gottesdienste  weihen  und  durch  dies  alles  zugleich 
seine  geistigen  Kräfte  auf  allen  Gebieten  des  Daseins 
frei  und  glücklich  entfalten  konnte.  Deutsch  und 
evangelisch  gehören  zusammen.  Gott  hat  die  beiden 
in  einander  gefügt,  und  niemand  soll  sie  scheiden. 
Niemand  vermag  es.  Luther  bleibt  der  Heros  und  der 
Liebling  unseres  Volkes,  Luther  in  seiner  Frömmig- 
keit. Es  ist  ein  Schandfleck  der  Ultramontanen,  dass 
sie  diesen  Helden  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehen- 
den Mitteln  ins  Gemeine  herabzuziehen  beflissen 
waren ;  selbst  auf  sein  Sterbebett  schleuderten  sie 
giftige  Verleumdung.  Es  ist  die  Grösse  Luthers,  dass 
er  trotz  allem  den  obersten  Platz  im  Herzen  der  deut- 
schen Protestanten  behauptete,  durch  römische  Hand 
nicht  zu  beflecken,  dass  er  selbst  einen  Döllinger,  der 

26 


402 


einst  in  römischer  Art  wider  ihn  geschrieben  hatte, 
dazu  zwang,  ihn  später  als  den  gewaltigsten  Volks« 
mann  anzuerkennen.  Dass  aber  Luther  aas  seiner  gei- 
stigen Führerstellung,  aus  der  Liebe  und  Verehrung 
seines  Volkes,  aus  der  deutschen  Geschichte  nicht 
verdrängt  worden  konnte,  dass  er  heute  wieder  in 
der  vollen  Macht  seiner  Persönlichkeit  unter  uns  lebt 
und  auf  dem  Plane  der  Gegenwart  arbeitet,  das  war 
nur  möglich,  weil  in  ihm  und  seinem  Glauben  unser 
deutsches  Volk  den  klarsten  Ausdruck  seiner  Geistes- 
art und  seines  religiösen  Sehnens  und  Bedürfens  er- 
kannt hat.  Deutsch  und  evangelisch  gehören  zusammen. 
Gewiss  sieht  es  jetzt  in  Deutschland  traurig  aus;  aus 
dem  schlechten  Metall  des  Ultramontanismus  ist 
manche  Münze  geprägt,  die  in  der  Politik  ihren  Kurs 
hat.  Das  Gentrum  sitzt  oben  auf;  romanisches  Wesen 
und  italienische  Anschauungen  schwirren  durch  die 
Berliner  Luft.  Aber  sie  leisten  schliesslich  doch  nur 
den  Dienst,  den  der  feindliche  Gegensatz  in  der  Ge- 
schichte zu  vollbringen  hat.  Der  Uebermuth  des  Ro^ 
manismus,  der  nach  der  vollen  Herrschaft  über  das 
Deutsche  Reich  seine  begehrlichen  Finger  ausstreckt, 
der  unsere  Gauen  mit  Kutten  und  Jesuiten  besiedeln 
will,  der  unsere  Universitäten  zu  ^eineT  Domäne, 
unsere  Volksschule  zu  seiner  Dienerin  machen  möchte, 
der  auf  heimlichen  Pfaden  und  laut  polternd  jede 
energische  Regung  des  evangelischen  Ghristenthums 
lahm  zu  legen  sich  bestrebt,  wird  gerade  das  Gegen- 
theil  von  dem,  was  er  erträumt,  erreichen.  Er  hilft 
dazu,  den  Protestantismus  zu  neuem,  kräftigem  Be- 
wusstsein  seines  Werthes  und  seiner  Wahrheit,  zu 
der  Einigung  seiner  mannigfaltigen  Richtungen  und 
kirchlichen  Gestaltungen,  zu  entschiedenem,  ihatkräf? 
tigern  Widerspruch  gegen  den  archaistischen  (alter- 
thümelnden)  Versuch  zu  bringen,  das  deutsche  Volk 
auf  die  romanische  Frömmigkeit  zurückzuschrauben 
und  zu  einer  Figur  auf  dem  Schachbrett  der  Pontifex- 
politik  zu  benutzen. 

Schliesslich  werden  die  Ultramontanen  auch  in 
ihrer  noch  geduldigen  Gefolgschaft  den  Boden  veiv 
lieren;  bei  dieser  muss  und  wird  das  Gefühl  des 
deutschen    Volksthums   lebendiger  werden    und    die 


403 

Ueberzeugung  vorbereiten,  dass  die  romanische  Form 
des  Ghristenthums,  welche  ihre  Priester  zu  Gunsten 
des  Bischofs  in  Rom  vertreten,  nicht  auf  das  deutsche 
Volksthum  zugeschnitten  ist;  sie  werden  das  Wort 
Sehleiermachers  verstehen  lernen,  däss  die  evange- 
lische Kirche  mit  gutem  Gewissen  dahin  streben  dürfe, 
die  Reformation  über  alle  germanischen  Völker  als 
die  ihnen  eigentlich  angemessene  Form  des  Ohristen- 
thums  zu  verbreiten." 

Soweit  die  „Wartburg".  Man  tnuss  diese  Aus- 
führungen sehr  genau  erwägen.  Die  „Wartbürg44  erklärt 
hier,  dass  der  Protestantismus  nicht  allein  die  ganfce 
deutsche  Nation,  sondern  auch  andere  Nationen  er- 
obern solle,  also  Welteroberung. 

Wie  reimt  sich  das  aber  mit  der  Erklärung,- 
dass  der  Protestantismus  die  Nationalkirche  der 
deutschen  Nation  sein  wolle  ?  Wie  sollen  da  noch 
andere  Völker  aufgenommen  werden"?  Das  kann  nur 
offenbar  geschehen  auf  Kosten  ihrer  Nationalität.  Als 
Welteröberung  durch  den  Protestantismus  auch  in 
politischer  Beziehung,  ein  grossartiger  Cäesaropapis- 
mus  der  Dynastie  Hohenzollern.  Wie  de*  Protestant 
tismus  im  Osten  des  Deutschen  Reiches  arbeitet, 
davon  geben  folgende  Zahlen  ein  Beleg.  Der  Bericht 
der  Kolonisationskommission  füi*  Posen  sagt:  Der 
Gesammtankauf  im  Jahre  1902  beträgt  22.007  Hektar 
zum  Kaufpreise  von  19,094.531  M.  Unter  Hinzurech- 
nung der  Erwerbungen  aus  den  Vorjahren  umfasst 
der  Gesammtgrunderwerb  der  Ansiedlungskommission 
am  Schlüsse  des  Jahres  1902  an  Gutsareal  180.761 
Hektar  zum  Kaufpreise  von  127,378.773  M.,  an  bäu- 
erlichem Areal  5740  Jlektar  zum  Kaufpreise  von 
5,630.743  M.>  zusammen  186.501  Hektar  zum  Kauf- 
preise von  133,009.516  M.  Seit  dem  Jahre  1886  bis 
Ende  1902  betrug  die  Zahl  der  Anfragen  seitens 
evangelischer  17.637,  seitens  katholischer  Anwärter 
1327,  die  Zahl  der  Zuschläge  bei  Evangelischen 
5627  -34  y.  H.,  bei  Katholiken  279  ==21  v.  H. 
Hierbei  ist  zu  bemerken,  dass  von  den  katholischen 
Bewerbern  einmal  zahlreiche  unerfüllbare  Anträge 
auf  Ueberlassung  grösserer  Güter  gestellt  wurden, 
andererseits  auch  verhältnismässig  viel  Eingesessene 

26* 


404 


der  Ansiedlungsprovinzen  sich  meldeten,  bei  denen 
die  Erfüllung  der  nationalen  Bedingungen  für  die 
Zulassung  als  Ansiedler  nicht  zweifelfrei  war." 

Also  der  officiell  preussische  Bericht  spricht 
hier  offen  seinen  Argwohn  zu  Ansiedlern  katholischer 
Konfession  aus.  Zu  dem  muss  erwähnt  werden,  dass 
katholische  Ansiedler  absolut  keine  Priester  erhalten 
zur  Errichtung  einer  Kirchengemeinde.  Der  Protestan- 
tismus arbeitet  nicht  nur  innerhalb  des  Deutschen 
Reiches,  sondern  auch  ausserhalb  desselben,  wo 
immer  die  preussisch-deutsche  Politik  eine  feste 
Unterlage  für  ihre  Zukunftspläne  haben  will.  Einen 
sehr  interessanten  Einblick  gewährt  uns  der  Bericht 
aus  Eski-Schehir  in  Klein-Asien  (Kathol.  Missionen 
Nov,  1902,  Seite  37).  Die  Oberin  der  dortigen  Ordens- 
schwestern schreibt :  „Unsere  Schule  hat  sich  gut  ent- 
wickelt, fühlt  aber  immer  mehr  die  starke  Konkurrenz 
der  Schismatiker  und  Protestanten.  Aus  politischen 
Rücksichten  suchen  namentlich  die  Deutschen  unsere 
Missionsunternehmungen  zu  kopieren,  um  so  die 
französische  Sprache  durch  die  deutsche  zu  ver- 
drängen und  eifersichtig  die  Sympathie  der  Bevölke- 
rung zu  gewinnen,  die  sich  bislang  uns  zugewandt 
hat.  Bis  vor  Kurzem  hielt  sich  dieser  Wettbetrieb 
innerhalb  der  Grenzen  der  Loyalität  und  Gerechtigkeit 
und  brachte  uns  wenig  Schaden.  Letztes  Jahr  jedoch 
haben  unsere  Gegner,  angesichts  der  Fruchtlosigkeit 
ihrer  bisherigen  Versuche  sich  entschlossen,  einen 
grossen  Schlag  gegen  uns  zu  führen. 

Um  nur  von  der  deutschen  protestantischen 
Schule  zu  reden,  die  hier  kurzweg  die  „Schule  der 
Gesellschaft"  genannt  wird,  weil  sie  auf  Kosten  der 
Anatolischen  Bahngesellschaft  unterhalten  wird,  so 
sehen  wir  mit  Schmerz,  wie  man  auf  die  Leute  den 
gehässigsten  Druck  ausübt.  Von  vielen  nur  ein  Bei- 
spiel aus  jüngster  Zeit.  Einer  der  Oberingenieure  in 
den  Werken  der  Gesellschaft  liess  die  Eltern  eines 
der  Kinder,  das  unsere  Schule  besucht,  vor  sich 
kommen  und  stellte  folgendes  Verhör  mit  ihnen  an. 
„In  welche  Schule  gehen  eure  Kinder?"  —  Zu  den 
Schwestern,  Herr  Ingenieur.*  —  »Wie,  zu  den  Schwe- 
stern? Kennt  ihr  denn  nicht  das  Rundschreiben  der 


405 


Bahndirektion,  das  allen  Angestellten  zur  Pflicht 
macht,  ihre  Kinder  in  die  deutsche  Schule  zu  schicken  ? 
Wenn  innerhalb  3  Tage  euer  Mädchen  nicht  in  der 
Schule  der  Gesellschaft  ist,  werdet  ihr  aus  dem 
Dienste  entlassen."  —  Was  sollten  diese  braven 
Katholiken  thun?  Wollten  sie  nicht  ihren  Verdienst 
verlieren,  so  durften  sie  ihr  Kind  nicht  länger  in 
unsere  Schulen  schicken.  Es  schien  ihnen  aber  besser; 
dasselbe  zu  Hause  zu  behalten,  als  es  einem  Lehrer 
anzuvertrauen,  der  keine  Gelegenheit  unbenutzt  vor- 
übergehen lässt,  unsere  heilige  Religion  und  ihre 
Uebungen  zu  verunglimpfen.  Leider  haben  nicht  alle 
Katholiken  gleichen  Muth,  und  so  sehen  wir  mit 
Schmerz,  wie  manche  unserer  Kinder  ihren  religiösen 
Grundsätzen  entfremdet  werden.  Um  diesem  Uebel-» 
stände  nach  Kräften  entgegenzuwirken,  halten  wir  in 
der  Bahnkapelle,  die  unweit  von  der  protestantischen 
Schule  liegt,  wöchentlich  zweimal  Christenlehre. 
Freilich,  was  vermögen  diese  wenigen  Unterrichte 
gegenüber  dem  schädlichen  Beispiele  der  Gottlosigkeit 
und  Sittenlosigkeit,  welche  die  Kinder  täglich  vor 
Augen  haben !  Wir  haben  auch  bei  den  betreffenden 
Behörden  Schritte  gethan,  um  auf  Abstellung  sowohl 
der  erwähnten  Zwangsmassregeln  wie  des  antireli- 
giösen Unterrichtes  zu  dringen«  Von  110—130  Zög- 
lingen wird  die  Mehrzahl  gratis  unterrichtet,  die 
übrigen  zahlen  monatlich  1—2  Fr.  Schulgeld.  Die  15 
Internen  werden  meist  umsonst  gehalten.  Ihre  Eltern 
wohnen  weithin  zerstreut  längs  der  Bahnlinien  Eski- 
Schehir — Angora  und  Eski-Schehir— Ruiah."  Dies 
alles  bedeutet  für  die  Schwestern  eine  schwere 
finanzielle  Last,  die  sie  nur  mit  Hilfe  grossmüthiger 
Seelen  in  Europa  tragen  können.  Dieser  Brief  der 
französischen  Schwester  ist,  mögen  auch  einige 
Stellen  durch  nationales  Vorurtheil  etwas  gefärbt  sein, 
recht  beachtenswerth,  weil  er  auf  die  Thatsache  hin- 
weist, dass  das  Deutschthum  in  der  Türkei,  speciell 
in  Kleinasien,  immer  mehr  an  Bedeutung  gewinnt. 
Dass  das  Deutsche  Reich  dort  umfassende  koloniale 
Pläne  verfolgt  und  ihnen  durch  die  deutsche  Bahn- 
linie, die  bis  Bagdad  reichen  soll,  einen  mächtigen 
Stützpunkt   schafft,    ist    kein  Geheimnis,    und   jeder 


406 

Deutsche  wird  diese  Bestrebungen  freudig  begrüssen. 
Dass  dieselben  naturgemäss  zu  einer  Verdrängung  des 
französischen  Einflusses  führen,  ist  klar  und  vom 
Standpunkt  der  Mission  aus  nur  insofern  zu  bedauern, 
als  die  Begriffe  französisch  und  katholisch  im  Orient 
vielfach  zusammenfallen.  Wir  glauben  nicht,  dass  die 
deutsche  Bahngesellschaft  religiöse  Propaganda  treibt. 
Sie  befürwortet  aber  die  deutschen  Schulen  aus 
nationalen  Gründen.  Wir  glauben  sicher,  dass  deut- 
sche katholische  Schulen  auch  auf  die  Unterstützung 
der  Regierung  rechnen  könnten.  Es  ist  daher  lebhaft 
zu  bedauern,  dass  das  katholisch-deutsche  Missions- 
element in  diesen  Ländern  so  schwach  vertreten  ist 
und  speciell  dass  unsere  blühenden  .  katholischen 
Schwesterschaften  nicht  in  grösserem  Masstabe  sich 
dort  ein  Wirkungsfeld  schaffen.  Bislang  sind  sie  unseres 
Wissens  blos  durch  einige  deutsche  Borromäerinnen 
von  Neisse  in  Alexandrien,  Haiffa  und  Jerusalem  ver- 
treten. Deutsch  darf  im  Orient  nicht  länger  gleich- 
beteutend  mit  protestantisch  gelten." 

Die  Kritik,  welche  die  Redaktion  der  katholischen 
Missionen  an  den  Bericht  der  französischen  Ordens- 
schwester knüpft,  ist  nach  Art  des  Weihbischofs  frind 
gehalten.  Der  Bau  der  Bagdadbahn  ist  der  erste, 
grössere  Versuch  der  preussischen  Eroberungspolitik, 
aber  es  scheint  mit  dem  Baue  nicht  recht  vorwärts 
gehen  zu  wollen,  das  Geld  geht  aus.  Der  englische 
Ministerpräsident  Balfour  sprach  über  den  Bau  der 
Bagdadbahn  in  der  Sitzung  des  engl.  Abgeordneten- 
hauses am  8.  April  1903  Folgendes:  Die  deutschen 
und  die  französischen  Finanzgruppen  sind  darüber 
einig,  dass  früher  oder  später  das  Unternehmen 
ausgeführt  werden  wird.  Eine  Schwierigkeit  der 
Geldbeschaffung  ist  nicht  vorhanden.  Freilich  steht 
es  in  der  Macht  der  englischen  Regierung,  jedem 
Projekt  Unbequemlichkeiten  zu  bereiten,  aber  dass 
das  Projekt  schliesslich  mit  oder  ohne  unsere 
Zustimmung  oder  Theilnahme  durchgeführt  werde» 
wird,  ist  ausser  Frage,  Der  Punkt,  über  den  die 
Regierung  sich  schliesslich  zu  entscheiden  haben 
wird,  ist  der,  ob  qs  nicht  wünschenswerth  ist, 
dass,,  wenn  diese  Bahn,  die  die  Operationsbasen  des 


407 


Mittelmeers  mit  dem  Persischen  Golf  verbindet,  gebaut 
werden  soll,  britisches  Kapital  und  britische  Interessen 
dabei  in  ebenso  hohem  Masse  vertreten  sein  sollen, 
als  Kapital  und  Interessen  irgend  einer  anderen 
Macht.  Es  sind  noch  wichtige  Nebenfragen  zu  berück- 
sichtigen, aber  die  eben  erwähnte  ist  die  Hauptfrage. 
Die  geplante  Erhöhung  der  türkischen  Eingangszölle 
verdient  unsere  sorgfältige  Aufmerksamkeit  Wir 
würden,  ehe  wir  unsere  Zustimmung  zu  der  Zoller- 
höhung geben,  ganz  abgesehen  v  n  der  Frage  der 
Bagdad-Eisenbahn  ein  quid  pro  quo  verlangen  in 
Bezug  auf  Abänderung  der  für  .  das  Sanitätswesen 
geltenden  Bestimmungen  und  andere  für  den  briti- 
schen Handel  sehr:  wichtige  Dinge;  diese  Forde- 
rungen würden  wir  an  die  türkische  Regierung  gegen 
die.  Bedingung  stellen,  dass.  wir  mit  den  anderen. 
Machten  dahin -übereinkommen,  der  Türkei  in  der 
Frage  der  türkischen  Eingangszölle  grössere-.  Erleichte* 
rungen  zuzugestehen.  Sie- würde  zu  erwägen  haben, 
oh  es  erwünscht  ist, .  dass  das,  was  unzweifelhaft  der. 
kürzeste  Weg  nach  Indien  sein  würde,  gänzlich  in 
Händen  französischer  oder  deutscher  Kapitalisten 
sein  soll,  ferner  ob  es  wünschenswerth  ist,  dass  die 
Erschliessung  des  Handels  im  Persischen  Golf  in  den 
Gebieten  eines  Scheiks  erfolgt,  der  unter  unserem 
besonderen  Schutz  steht  und  mit  dem  wir  besondere 
Verträge  haben,  oder  in  einem  Theil  des  Persischen 
Golfes,  in  dem  wir  keine  solche  Vorzugsrechte  besitzen* 
Wir  haben  vor  allem  zu  erwägen,  ob  es  rathsam  ist, 
den  Rtaöeverkehr  gänzlich  unter  der  Kontrole  anderer 
Nationen  zu  lassen,  die  nicht  mit  uns  die  gleichem 
Interessen  haben.  Unsere  Politik  bezüglich  jener  we* 
aiger  ciyHisierten  Welttheile  geht  dahin,  eine  oder* 
mehrere  andere  -Nationen  dort  thätig  zu  sehen,  als 
allein  zu  handeln.'  Ob  in  diesem  Falle  ein  Schritt  in 
der  Richtung  dieser  allgemeinen  Politik  geschieht, 
darüber  können  Zweifel  bestehen,  aber  im  grossen 
und  ganzen  liegt  es  in  unserem  Interesse,  dass  Länder 
die  wir  nicht  aufsaugen  können, .  auch  nicht  gänzlich 
von  irgend  einer  anderen  Macht  aufgesaugt  werden. 
Es  ist; besser,  dass  solche  ip  Händen  von  drei  grossen 
Mächten   sind,   als  in  denen  von  zweien   oder  einer» 


408 


und  wenn  sie  in  europäischen  Händen  sein  sollen, 
so  lässt  sich  viel  dafür  sagen,  dass  sie  theilweise  in 
Händen  von  England,  Deutschland  und  Frankreich 
sind.  Ueber  eine  etwaige  baldige  Entscheidung  der 
Regierung  kann  ich  noch  nichts  sagen." 

In  den  Preussischen  Jahrbüchern  (Feberheft  1903) 
verlangt  Arnold  Diezmann  eine  gänzliche  Umänderung 
des  Unterrichtes  der  Geschichte  und  der  Erdkunde 
im  Sinne  des  Alldeutschthums.  Hier  werden  die  Um- 
risse der  grossen  Weltpolitik  der  Dynastie  Hohen- 
zollern  deutlich  angegeben. 

Diezmann  sagt,  „dass  das  deutsche  Staatsgefühl 
in  deutsches  Nationalgefühl  umgeprägt  werden  müsse, 
dass  darum  politische  Grenzen  nicht  zu  gelten  haben 
und  dass  in  diesem  Geiste  die  gesammte  deutsche 
Jugend  zu  erziehen  sei."  „Das  etwas  unklare  National- 
gefühl, das  sich  zur  Zeit  der  Sänger-  und  Schützen- 
feste regte/  so  führt  der  Autor  aus,  „ist  nicht  zur 
Reife  gelangt,  sondern  von  dem  neu  aufgekommenen 
Staatsgefühle  verdrängt  worden  .  .  .  Das  Staatsgefühl, 
das  so  gerne,  aber  mit  Unrecht  Nationalgefühl  ge- 
nannt wird,  hat  Alles  überwuchert,  hat  auch  den 
Geschichts-  und  Geographieunterricht  in  den  Mittel- 
schulen in  seine  Bande  geschlagen  und  lässt  schon 
bei  der  heranwachsenden  Jugend  das  Moment  der 
politischen  Erziehung  völlig  in  den  Hintergrund  tre- 
ten. Interesse  soll  geweckt  werden  für  das  neue  Reich, 
mit  Recht  —  aber  weiter  auch  keins,  und  das  ist 
der  Mangel.  Der  Unterricht  in  der  Geschichte  berück- 
sichtigt vor  Allem  Deutschland,  aber  nicht  etwa  das 
gesammte  von  Deutschen  in  Europa  besetzte  Gebiet, 
sondern  nur  das  neue  Reich  und  soll  Liebe  wecken 
nur  für  diejenigen  Volkstheile,  die  im  Reiche  zu- 
sammengeschlossen sind,  als  ob  die  jetzigen  Reichs- 
grenzen schon  vom  Vertrage  von  Verdun  an  zu  Recht 
bestanden  hätten  oder  wenigstens  hätten  zu  Recht 
bestehen  sollen.  Was  ausserhalb  liegt,  ist  nicht 
„Deutsch*  im  modernen  staatlichen  Sinne  und  geht 
uns  daher  nichts  an.  Wenn  ein  Buch  für  die  reifere 
Jugend  erscheint,  in  dem  etwa  Deutschland  oder  gar 
„Alldeutschlands"  Heerführer  zu  Lande  und  zur  See 
geschildert   werden,  so  hält  man  sich  streng  an  die 


409 


schwarz-weiss-rothen  Grenzpfähle.  Die  eigenartige 
Stammesentwickelung  der  Niederländer,  Schweizer 
und  Balten  seit  ihrer  Loslösung  vom  alten  Reiche 
wird  kaum  mit  einem  Worte  gestreift,  ebenso  wenig 
der  Ausbau  des  österreichischen  Staates  seit  der 
Wiedererwerbung  Ungarns  von  den  Türken.  Da 
müssen  die  Slaven  erst  recht  zu  kurz  kommen,  nicht 
nur  die  Polen  und  Russen,  sondern  sogar  die  Ge- 
chen,  die  bei  den  Husitenkriegen  plötzlich  auftauchen, 
dann  in  der  Versenkung  verschwinden,  zu  Beginn 
des  30jährigen  Krieges  nochmals  auftreten  und  dann 
völliger  Vergessenheit  anheimfallen.  Ebenso  steht  es 
mit  der  Urkunde.  Wenn  in  dem  bekannten  Daniel'- 
sehen  Leitfaden  noch  heute  daran  festgehalten  wird, 
dass  das  geographische  Deutschland  von  der  Rhein- 
mündung bis  Pressburg  und  vom  Memel  bis  zum 
Waadtlande  reicht,  wenn  unter  der  allgemeinen  Ueber- 
schrift  „Deutschland"  die  einzelnen  deutschen  Staaten, 
und  zwar  1.  Deutsches  Reich,  2.  Oesterreich,  3.  Schweiz, 
4.  Niederlande,  5.  Belgien  abgehandelt  werden,  so  ist 
das  von  Seiten  des  Herausgebers  eine  politische  That, 
für  die  ihm  jeder  politisch-denkende  Deutsche  seine. 
Anerkennung  aussprechen  muss.  Leider  steht  sie  ganz 
vereinzelt  da  .  .  .  Das  sind  vielleicht  alles  Kleinig- 
keiten, aber  in  ihnen  spricht  sich  der  Mangel  an  po- 
litischem Denken  aus,  der  jetzt  geflissentlich  gross- 
gezogen wird.  Wir  sollen  aus  einem  Geschlechte,  das 
an  so  bescheidene  Selbstgenügsamkeit  gewöhnt  wird, 
Männer  in  grösserer  Zahl  hervorgehen,  die  über  das 
enge  Staatsgefühl  hinaus  die  Augen  offen  zu  halten 
verstehen,  die  begreifen,  dass  das  Deutsche  Reich, 
wenn  es  sich  nun  einmal  mit  Alldeutschland  und 
dem  deutschen  Volksthum  gerne  identificirt,  Aufgaben 
nicht  nur  innerhalb  seines  jetzigen  Bereiches  zu  lösen 
hat,  sondern  Lebensinteressen  in  Nord,  Süd,  Ost  und 
West  wahrzunehmen  hat?  Wo  sollen  die  Männer 
herkommen,  die  bei  Verhandlungen  mit  Russen  und 
Engländern  ihren  Parten  die  Stange  zu  halten  ver- 
mögen und  ihnen  an  Weite  des  Blickes  und  der  aus 
dieser  Weite  entspringenden  Entschlossenheit  des 
Handelns  gleichzusetzen  wären?  Wir  müssen  und 
werden   den  Kürzeren  ziehen,  so  lange  wir  auf  dem 


410 

Standpunkte  des  reichsdeutschen  Partifcularismus^er- 
harren  und- in  unserem  Denken  und  Wollen  nicht 
mehr  Bein  wollen,  als  ein  etwas  stattlicherer  Terri- 
torialstaat.  Wenn  wir  mit  den  Allüren  einer  aolchen 
Weltpölitik  treiben  wollen,  werden  wir  immer  unter- 
liegen, nicht  nur  den  Engländern  und  Nordameri- 
kanern, sondern  auch  den  Russen  gegenüber.4? 

Diesem  Ziele  der  .alldeutschen  Politik  kamt 
nur  eine  dauernde  Unterlage  gegeben  Werden,,  werm 
zuvor  der  Protestantismus  in  besagten  Ländern  festen 
Fuss  fttsst.  Die  Ausätze  der  preußisch-deutschen  Welt- 
pölitik sind  nach  dem  Beispiele  aus  den  preussischeit 
Jahrbüchern  grossartig  angelegt,  ob  sie  nun  einmal 
verwirklicht  werden,  das  können  sterbliche  Menschen 
nicht  voraus- sicherstellen,  Schoeriörer  hat  sich;  zwar 
gebrüstet  in  einer'  altdeutschen  Volksversammlung  in 
Troppau  Ende  Mftrz  1903,  das*  ihm,  dem  Schoenerer, 
Ministerpräsident  Koerber  mitgetheilt  habe,  er  betrachte 
die  Pläne  der  Alldeutschen  nicht  für  undurchführbar. 
Bis  heute  hat  Preussen-Deutschland  mit  seiner  Welt-« 
Politik  kein  absonderliches  Glück  gehabt.  Seine  afri- 
kanischen Besitzungen  Deutsch-Ost  und  Deutsch-Süd- 
westafrika sind  zur  Kolonisation  für  Europäer  wegen 
des  mörderischen  Klima  und  der  Unfruchtbarkeit  des 
Bodens  absolut  unbrauchbar.  Die  Bahnen,  welche 
Deutschland  in  diesen  Kolonien  gebaut  hat,  haben 
solche  Güterzüge,  dass  oft  im:ganzen  solchen  Güterzug 
blos  10  Metereentner  Kaffee  aufgeladen  sind,  welche 
kostbare  Ladung  von  einer  Plantage  zur  rKüste  g4-. 
Jahren  wird.  Wäre  es  Gold,  dann  wäre  die  Regia 
gedeckt.  ■„  Wenn  deutsche  Landwirthe  -  eine  Anfrage 
richten  an  die  Gouverneure  dieser  .afrikanischen 
Kolonien*  so  bekommen  sie  im  vertraulichen  Brief r.tHfe 
Antwort,  sie  sollen  ruhig  zu  Hause  im  Deutschem 
Reiche  bleiben.  Die  Weltpölitik  Freusseus  besorgt 
vorderhand  die  Geschäfte  einiger  (gieriger  Spekulanten 
von  der  bekannten  Rage,  die  auch  dem  Deutschen 
Reiche  mit  Fug  und  Recht  den  Namen  „deutsch* 
jüdisches"  Reich  geben.  Das  hat  mehr  als  genug  die 
Campagne  nach  China  bewiesen,  aber  noch  mehr  die 
Afaire  mit  Venezuela. 

Der  belgische  Generalkonsul   berichtete ,  Anfangs 


411 


Fehrupr  1903  über  Venezuela  folgendes :  „Am  1.  Jäner 
1901  betrugen  die  inneren  Schulden  der  Republik 
Venezuela  insgesammt  73,391.058  Bolivar  (ä  81  P£)> 
Die  äussere  Schuld  belief  sich  am  gleichen  Tage  auf 
120,041.476'  Bol.,  darunter  die*  sog.;  britische  3proc, 
Anleihe  mit  66,614.650  BoL, ,  die  öproc.  Anleihe  bei 
der  Diskontogesellschaft  mit  46,880.000  Bpl.  An  fällige 
Zinsen  sind  36,297.8.72  Bol.  rückständig.  :Als  Schpldein 
posten  müssen  ferne?  in  Betracht  gesogen  werden  di$ 
seitens  der  Regierung  bei  -der  „Banco  Venezuela" 
gegen  Verpfändung  von  Antheilen  der  staatlichen  S&Ui 
Bergwerke  aufgenommene  Anleihe  von  5,500,000  Bol; 
ijiid  ferner  10,000*000  Bol.,  welche.  das.Debefealdq  in 
laufender^  Rechnung  dqr-  Staatskasse  bei  der  oben- 
genannten Bank  darstellen.  Als  Gesammtbetrag  det 
venezolanischen  Staatsschulden  ergibt -sich  denmaslj 
die  Summe  von  245,280.406.  Bol.  —  Der  letzte  Etat 
der  Republik  (für  die  Z^it  vom  1.  Juni  1901  bis  dahin 
1902)  schlops  in.  Ausgabe  mit  37,000.000  Bol.  ab* 
wobei  die  zur  Tilgung  von'  Schuldenzinsen  vorg^ 
tehene  Summe  derartig  bemessen  war,  dass  sie  zur 
Bezahlung  von  50  pCt.  der  fälligen  Kupons  ausreichte* 
Für  d^LS  Jahr  1901  belief  sich  das  Deficit  der  Staats-^ 
annahmen  (41J6&919  Pol.)  auf  2,607.956  Bol.;  die 
Einnahmen  aus  den  Eingangszöllen  betrugen  24,267.67$ 
Bolivar.  Im  Verlaufe  der  Streitigkeiten  mit  Kolumbien 
wurde  die  Zinszahlung  völlig  eingestellt,  und  die. 
gegenwärtigen  kriegerischen  Wirren  lassen  den  Zeit- 
punkt nicht  voraussehen,  mit  welchem  dieselbe  wieder* 
beginnen  wird.  Fast  alle  in  Venezuela  vorhandenen: 
Handelshäuser  von  Bedeutung  betreiben  Bankgeschäfte. 
Die  Zahl  der  ausgesprochen  reinen  Bankgeschäfte  be- 
läuft sich  auf  drei :  Die  Banco  Venezuela,  die  Banco 
Caracas  und  die  Banco  de  Maracaibo. .  Die  Banca 
Venezuela  wurde  1882  mit  einem  Kapital  von  12  Mill.> 
Bolivar  gegründet.  Seit  1883  ist  sie  zugleich  Staats- 
bank und  verwaltete  die  Finanzen  der  venezolani- 
schen Regierung.  An  Dividende  wurden  in  den  letzten, 
zehn  Jahren  durchschnittlich  12  pCt.  pro  Jahr  ver^ 
theilt,  Die  Banco  Caracas  ist  eine  Handelsbank  mit 
hinein  Kapital  von  6,000.000  Bolivar,-  wovon,  drei 
Viertel  zur  Einzahlug  gelangt  sind.    An  Dividenden 


412 


hat   die  Bank   seit  1890  durchschnittlich   8  pCt.  pro 
Jahr  vertheilt.    Was  schliesslich  die  Banco  de  Mara- 
caibo  anbelangt,  so  beschränkt  sich  deren  Geschäfts- 
betrieb auf  den  Geldverkehr  in  Venezuela ;  das  Grün- 
dungskapital betrug   1,250.000   Bolivar.    Der   Haupt- 
erwerbszweig auf  landwirtschaftlichem  Gebiete  bildet 
die  Produktion  von  Kaffee,  zu  dessen  Kultur  sich  der 
Boden  Venezuelas  sehr  gut  eignet.  Ausser  Kaffee  pro- 
ducirt  Venezuela  Gacao,   Tabak,    Kautschuk,   Baum- 
wolle, Indigo,  Bananen  und   in  beträchtlichem  Masse 
Zuckerrohr.  Die  ausgedehnten  Waldungen  Venezuelas 
bergen  reiche  Vorräthe  an  tropischen  Produkten  und 
Hölzern  aller  Art.  Die  mit  der  Ausfuhr  solcher  Hölzer 
gemachten  Versuche  sind  indess  bisher  an  der  Unzu- 
länglichkeit der  Transportmittel  und  den  bedeutenden 
Frachtunkosten   gescheitert.     Die  Viehzucht,    die    vor 
dem  Unabhängigkeitskriege  in  hoher  Blüthe  gestanden 
hatte,  ist  sehr  zurückgegangen;  Massregeln  zur  Wieder- 
belebung derselben  werden  getroffen.  Die  industriellen 
Anlagen  Venezuelas  sind  durchweg  von  nur  geringem 
Umfange.  Beträchtlich   ist  der  Reichthum  Venezuelas 
an  Mineralien.  Kupfererze  sind  in  Venezuela  imUeber- 
fluss  vorhanden.  Die  Kupfererzminen  bei  Aroa  nehmen 
eine  Fläche   von  111.336  ha.   ein;    in  dem  Zeitraum 
vom  Jahre  1878—1891  sind  dort  insgesammt  72,267.060 
Tons  Kupfer  gewonnen  worden,  die  in  Grossbritannien 
abgesetzt   wurden    und   3,902.421    Lstrl.    eingebracht 
haben.    Im  Jahre  1896    sind   die  Bergwerke  in  Aroa 
dem  Kupfertrust  einverleibt  und  seitdem  nicht  weiter 
ausgebeutet  worden.    Mit  der  Asphaltgewinnung  be- 
fassen sich  drei  Gesellschaften,  von  denen  die  bedeu- 
tendste   die  „Newyork    and  Bermudez"- Gesellschaft 
ist.     Das  Eisenbahnnetz  Venezuelas    hat   eine  Länge 
von  827  Km.    Gebaut  sind  die  Bahnen  von  verschie- 
denen Gesellschaften,  die  zusammen  über  ein  Kapital 
im  Nennwerthe  von  192,300.000  Fr.  verfügen." 

Einer  der  grössten  financiellen  Ausbeuter  Vene- 
zuelas ist  also  die  Berliner  Diskontogesellschaft.  Diese 
saubere  Gesellschaft  hielt  Ende  März  1903  ihre  General- 
versammlung ab,  also  nachdem  die  deutschen  Kriegs- 
schiffe wieder  von  der  Blokade  heimgekehrt  waren. 
Die  Finanzjuden  hatten  also  ruhiges  Blut.  Der  Berliner 


413 


Börsencourier  berichtet  Folgendes:  „In  der  General- 
versammlung war  ein  Gommanditkapital  von  2,219.400 
M.  mit  3699  Stimmen  vertreten.  Von  einem  Comman- 
ditisten  (M,  Stern,  Hannover)  wurde  etwa  Folgendes 
ausgeführt:  Wie  bekannt,  habe  sich  die  Norddeutsche 
Bank  in  Hamburg,  deren  Kapital  bekanntlich  im  Be- 
sitz der  Diskontogesellschaft  ist,  mit  4  Millionen  Mark 
bei  dem  Bankhause  Ephraim  Meyer  &  Sohn  betheiligt. 
Dieses  habe  grosse  Verluste  bei  dem  Konkurse  Ter- 
linden, Gewerkschaft  Dahlhausen  etc.  erlitten.  Es  frage 
sich  nun,  ob  diese  Verluste  auch  die  Norddeutsche 
Bank  und  damit  indirekt  die  Diskontogesellschaft  be- 
rühren könnten.  Das  genannte  Bankhaus  in  Hannover 
habe  ferner  eine  Gesellschaft  für  industrielle  Unter- 
nehmungen ins  Leben  gerufen  und  durch  diese  Werthe 
unter  das  Publikum  gebracht,  wegen  deren  Processe 
schweben.  So  seien  die  Aktien  der  hannover-braun- 
schweigischen  Kohlenwerke,  die  jetzt  nichts  werth 
seien,  zu  60  pCt.  erworben  und  bald  darauf  zu  135  pCL 
in  grossen  Beträgen  in  hannoverschen  Adelskreisen 
untergebracht  worden.  Wegen  dieser  Angelegenheit 
schwebe  ein  Process  in  zweiter  Instanz,  bei  dem  die 
Norddeutsche  Bank  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden 
könne,  wenn  die  Processe  zu  Ungunsten  von  Ephraim 
Meyer  &  Sohn  entschieden  würden.  Geh.  Kommerzien- 
rath  v.  Hansemann  bemerkte  hierzu,  dass  die  ganze 
Angelegenheit  nicht  die  Generalversammlung  der 
Diskontogesellschaft  beschäftigen  könne.  Was  die 
Aktien  der  Norddeutschen  Bank  betreffe,  so  seien 
diese  ein  werthvoller  Besitz  für  die  Diskontogesell- 
schaft und  viel  mehr  werth,  als  sie  zu  Buch  stünden. 
Er,  Redner,  zweifele  nicht  daran,  dass  bei  der  Bilanz- 
aufstellung dieser  Bank  derartige  Angelegenheiten, 
wie  sie  zur  Sprache  gebracht  worden  sind,  genügende 
Berücksichtigung  gefunden  hätten.  Im  übrigen  seien 
in  den  Darstellungen  des  Gommanditisten  sicherlich 
Uebertreibungen  vorhanden.  Der  Geschäftsinhaber 
Schinkel  erklärte,  dass  auch  nach  seiner  Ansicht  die 
ganze  Angelegenheiten  nicht  vor  die  Generalver- 
sammlung der  Diskontogesellschaft  gehöre.  Die  Be- 
hauptung, dass  Aktien  zu  60  pCt.  erworben  und  zu 
135  pCt.  verkauft  worden  seien,  entspreche  nicht  den. 


414 

Thatsachen.  Iin  übrigen  sei  der  Process  in  diesei* 
Sache  in  zweiter  Instanz  zu  Gunsten  des  Bankhauses 
Ephraim  Meyer  &  Sohn  entschieden  worden.  Die 
Norddeutsche  Bank  bedauere  jedenfalls  nicht,  sich  an 
diesem  Bankhause  betheiligt  zu  haben.  Däss  in  den 
hinter  uns  liegenden  Jahren  auch  von  dem  Bankhause 
Ephraim  Meyer  &  Sohn  Geschäfte  gemacht  worden 
seien,  die  Verluste  gebracht  hätten,  sei  nicht  zu  be- 
streiten. Diese  seien  dann  aber  auch  in  den  Bilanzen 
berücksichtigt  worden.  Der  Gommanditist  Stern  hielt 
seine  Behauptungen  vollkommen  aufrecht  und  ver- 
wahrte sich  dagegen,  dass  er  sich  Uebertreibungen 
schuldig  gemacht  hätte.  Er  könne,  um  nur  einen 
Namen  zu  nennen,  mittheilen,  dass  einem  Herrn  Baron 
v.  Gotzenbach  zu  135  pCt.  ein  grösserer  Posten  der 
bezeichneten  Aktien  verkauft  vvorderi  sei.  Wenn  auch 
der  Process  in  zweiter  Instanz  zu  Gunsten  von  Ephraim 
Meyer  <fc  Sohn  entschieden  sei,  so  sei  er  damit  noch 
nicht  aus  der  Welt  geschafft,  denn  er  werde  sicher 
bis  zum  Reichsgericht  verfolgt  werden.  Der  Jahres- 
abschluss  für  19Ö2  wufde  hierauf  genehmigt  und  die 
sofort  zahlbare  Dividende  auf  8  pCt.  für  das  Gomtaandit- 
kapital  von  130,000.000  M.  und  auf  2%  pCt.  für  die 
neu  ausgegebenen  Coijimanditantheile  von  20,000.000 
M   festgesetzt."  - 

Geschäftsinhaber  der  Diskontogesellschaft,  Sitz  in 
Berlin  W.  unter  den  Linden  35,  ist  A.  v.  Hansemann, 
geheimer  Gommerzienrath,  E.  Rüssel,  Generalkonsul, 
A.  Lent,  Baurath,  A.  Schoeller,  geheimer  Seehandlungs- 
rath,  Moses  Schinckel,  Hamburg,  Dr.  Arthur  Sala- 
monsohn,  sämmtlich  in  Berlin.  Der  Aufsichtsrath 
wimmelt  von  Excellenzen  ausser  Dienst.  Eis  sind: 

JUDr.  Karl  Herzog,  Staatssekretär  a.  D.,  Excellenz, 
F.  Bail,  Moritz  Böninger,  Alex.  Borgnis,  Hermann 
Brauns,  Commerzienrath,  Dr.  Fischer,  Unterstaats- 
sekretär a.  D.,  Excellenz,  Albert  Ballin,  Direktor  der 
Hamburg-Amerika-Linie,  Max  v.  Duttenhofer,  Com- 
merzienräth*  Dr.  Wiegand,  Generaldirektor  des  Nordd. 
Lloyd,  etc. 

Das  fetteste  Jahr  der  Diskontogesellschaft  war 
das  Jahr  1872,  Dividende  24%,  Jahr  1873  Dividende 
27%,  Wahrscheinlich  hat  damals  die  DiskontogöseÜ- 


415 


schaft  Frankreichs  Kriegstribut  einkassirt.  Es  fand 
sich  im  deutschen  Reichstage  nur  ein  Mann,  derauf 
diese  Art  von  Preussens  Vorkämpfer  für  die  Welt- 
politik hinzuweisen  den  Muth  und  den  richtigen  Bück 
hatte.  Abg.  Ahlwardt  war  seinerzeit  Rektor  einer  Ge- 
meindeschule in  Berlin.  Seine  Stellung  entsprach  bei* 
läufig  der  eines  Oberlehrers  in  München.  An  die  brei- 
tere Oeffentlichkeit  trat  Ahlwardt  zuerst  mit  einer 
Broschür:  „Der  Verzweiflungskampf  der  arischen  Yöl* 
ker  gegen  das  Judenthum".  Ahlwardt-  hatte  in  den 
achtziger  Jahren  eine  Bürgschaft  für  einen  Lehrer- 
kollegen übernommen,  wurde  für  eine  höhe  Summe 
zur  Zahlung. herangezogen  und  kam  dadurch  in  die 
Hände  jüdischer  Wucherer.  Es  nahm  sich  dann  seiner 
anscheinend  in  menschenfreundlichster  Absicht  der 
damalige  Chef  des  kaiserlichen  Givilkabinets,  Geheim- 
rath  Manchee,  ein  getaufter  Jude,  an,  um  ihn  noch 
tiefer  in  das  Judennetz  zu  verstricken  und  selbst 
finanzielle  Vortheile  daraus .  zu  ergattern.  In  dieser 
Broschür,  die  ungeheueres  Aufsehen  erregte  und  als- 
bald beschlagnahmt  wurde,  schilderte  Ahlwardt  den 
schändlichen  Judenwueher,  die  ,  schamlosen  Machina- 
tionen des  kaiserlichen  Geheimrathes  und  gewisse 
Manipulationen  jüdischer  Spekulanten  in  der  Berliner 
Gemeindeverwaltung.'  Das  Judenthuih  schrie  Zeter. und 
Mordio,  Behörden^  erwiesen  sich  als  die  dienistbereiten 
Helfer  der  Juden,  und  der  Staatsanwalt  erhob  sofort 
gegen  Ahlwardt  Anklage  wegen  Beleidigung  des  Ge- 
heimrathes Manchee  und  des  Berliner  Städtmagistrates. 
In  der  Untersuchungssache  Manchee  hatte  Ahlwardt 
allein  40  Vernehmungen,  man  schleppte  ihn  von 
einer  Gerichtsstube  in  die  andere,  —  um  schliesslich 
das  Verfahren  gegen  Ahlwardt  in  dieser  Sache  einzu- 
stellen, ja  man  war  genöthigt  gegen  Manchee  selbst 
vorzugehen.  Es.  stellte  sich  heraus,  dass  der  saubere 
Chef  des  kaiserlichen  Givilkabinets  ein  ganz  gemeiner 
Schacherer  gewesen  war,  Handel  mit  Titeln  und  Orden 
und  sonstigen  kaiserlichen  Gnadenerweisungen  trieb 
und  erhebliche  Geldbeträge  und  andere  Vortheile 
daraus  gewann.  Obwohl  man  die  Untersuchung  auf 
möglichst  wenige  Fälle  beschränkte,  wurde  Manchee, 
der  bei  seinen  unsauberen  Geschäften  mit  einem  ganzen 


416 


Heere  von  Juden,  jüdischen  Gommerzienräthen  und 
Wucherern  verbunden  war,  schliesslich  doch  zu  neun 
Monaten  Gefängnis  verurtheilt.  Die  Klage  des  Berliner 
Magistrates  gegen  Ahlwardt  dagegen  zog  sich  jahre- 
lang hin,  seiner  Beweisführung  stellten  sich  die  grössten 
Schwierigkeiten  entgegen  und  Ahlwardt  wurde  zu  drei 
Monaten  Gefängnis  verurtheilt,  was  seine  Dienstent- 
lassung zur  Folge  hatte.  Gleiches  Aufsehen  erregte  Ahl- 
wardt durch  seine  Angriffe  auf  den  jüdischen  „Meineid* 
baron"  Gerson  von  Bleichröder.  Bleichröder  hat  die 
Beschuldigung,  einen  Meineid  geleistet  zu  haben,  auf 
sich  sitzen  lassen,  freilich  gelang  es  auch  dem  gewalti- 
gen Einflüsse  Bleichröders,  zu  verhindern,  dass  gegen 
ihn  ein  Verfahren  wegen  dieses  Meineides  zur  Durch- 
führung gelangte.  Die  grösste  Sensation  erregte  Ahl- 
wardt durch  seine  Broschür  über  die  Löwj^schen 
„Judenflinten".  Obwohl  Ahlwardt  in  dem  dieser  Ver- 
öffentlichung folgenden  Processe  den  grössten  Theil 
seiner  Behauptungen  erweisen  konnte  —  bei  einem 
einzigen  Bataillon  fielen  während  eines  kurzen  Manö- 
vers von  den  neuen  aus  der  Löwy*  sehen  Fabrik  be- 
zogenen Armeegewehren  hunderte  von  Visieren  her- 
unter —  wurde  Ahlwardt  doch  auch  hier  zu  schwerer 
Gefängnisstrafe  verurtheilt.  Es  war  damals  ja  eine 
„herrliche  Zeit".  Der  Jude  Lasker  herrschte  im  Reichs- 
parlament, der  Jude  Friedberg  war  Justizminister,  der 
Jude  Friedländer  sass  im  Polizeipräsidium,  an  dessen 
Spitze  ein  Madai  stand,  im  kaiserlichen  Civilkabinet 
war  ein  Manchee  möglich  gewesen.  Wie  konnte  es 
an  den  schärfsten  Bestrafungen  für  alle  Verbrechen 
gegen  die  Majestät  des  Judentums  und  seiner  niedrig- 
oder  hochgestellten  Zuhälter,  Schmuser  und  Gewinn- 
betheiligten  fehlen?  1893  wurde  Ahlwardt  in  Arns- 
walde  und  Neustettin  gleichzeitig  und  mit  grossen 
Majoritäten  in  den  Reichstag  gewählt,  die  Versamm- 
lungen, in  denen  der  „Rektor  aller  Deutschen"  sprach* 
waren  von  riesigen  Menschenmassen  besucht,  im 
„Münchner  Kindl"  in  München  drängten  sich  zu  seinem: 
ersten  Vortrage  im  Jahre  1895  an  zehntausend  Per- 
sonen. Ahlwardt  zeigte  sich  als  ein  glänzender  Redner  ; 
er  dürfte  als  Agitator  unerreicht  dastehen.  Als  Po- 
litiker bewährte  sich  Ahlwardt  indessen  ebensowenig 


417 


wie  als  Parteiführer.  Er  hat  sich  vielfach  irreführen 
lassen  und  sah  sein  Vertrauen  häufig  getäuscht.  So 
gab  er  sich  manche  Blossen,  die  von  seinen  hass- 
erfüllten Gegnern  in  unglaublich  skrupelloser  und 
gemeiner  Weise  gegen  ihn  ausgebeutet  wurden. 

Die  Judenpresse  bezeichnete  den  Ahlwardt  immer 
als  einen  Narr,  wie  sie  es  ja  auch  dem  Abgeordneten 
Schneider  in  Wien  konsequent  anthut,  und  die  „blöden* 
Gojims  müssen  es  glauben.  Das  ist  bekannte  Juden- 
manier. Gefährliche  Gegner  schickt  man  in  das  Irren- 
haus* Der  Begründer  des  Deutschen  Reiches  Bismarck 
und  sein  kaiserlicher  Herr  Wilhelm  I.  hatten  ja  über 
30  Jahre  ihr  Geldvermögen  beim  Eohn  in  Dessau  in 
Verwaltung,  der  sich  auch  überall  als  des  preussischen 
Königs  treuester  Diener  unterschrieb. 

Am  18.  Februar  1903  sagte  auf  dem  deutschen 
Reichstag  Ahlwardt  zu  der  Partei  BebeFs  gewendet: 
„Im  Zukunftsstaat  gibt  es  also  nur  eine  grosse,  viel- 
leicht gut  gefütterte  Herde  ohne  Willen  und  Freiheit. 
Dem  Handwerk  fehlt  eine  Entfesselung  seiner  Kräfte. 
Das  kann  erzielt  werden  durch  einen  ausreichend 
hohen,  langfristigen  Credit,  der  den  Organisationen 
von  der  Reichsbank  gewährt  werden  könnte.  Dadurch 
werden  die  Leute  von  der  Börse  abgehalten,  wo  im 
Schaukelspiel  ihnen  das  Geld  doch  abgenommen  wird, 
um  in  die  Hände  einiger  weniger  abzufliessen,  von 
denen  ich  hier  nicht  sprechen  will,  damit  mein  Vor- 
trag nicht  unterbrochen  wird.  (Heiterkeit.)  In  der 
Brotfrage  haben  Sie  (nach  links  zeigend)  recht  (Heiter- 
keit), und  Sie  (nach  rechts  zeigend)  auch  (Heiterkeit). 
Da  sitzt  aber  jemand  dazwischen  (Heiterkeit).  Der 
Producent  bekommt  zu  wenig,  der  Konsument  zu  viel, 
ein  Dritter  heimst  die  Millionen  ein.  Das  ist  das 
Wesen  der  socialen  Frage  überhaupt.  Ueberlegen  Sie 
einmal  und  bedenken  Sie  das  ernsthaft!  Was  kann 
helfen?  Nur  Verstaatlichung  der  Reichsbank  und  des 
Getreidehandels.  Damit  können  wir  Russland  sofort 
zahlungsunfähig  machen.  Dies  mein  Programm  hat 
seinerzeit  sogar  bei  meinen  Freunden  Kopfschütteln 
erregt.  Den  Aufkauf  von  Gütern  im  Osten  billige  ich 
nicht;  viel  werthvoller  ist  es,  die  Kanalvorlage  aus- 
zuführen. Die  Grossmächte  haben  sich  in  Geldmächte 

27 


418 


verwandelt,  das  hat  auch  Frankreich  mit  dem  Erwerb 
seiner  afrikanischen  Kolonie  gethan.  Fragen  Sie  die 
Wähler,  ob  sie  das  wollen!  Wenn  die  Kandidaten 
das  nicht  wollen,  sollen  die  Wähler  einen  Antise- 
miten wählen,  der  wird  dafür  eintreten.4  Ahlwardt 
behandelt  sehr  richtig  sowohl  die  Juden,  wie  ihre 
Agenten  die  Socialisten,  deren  sich  Preussen-Deutsch- 
iand  heute  in  Frankreich  bedient,  um  in  der  franzö- 
sischer Nation  den  Revanchegedanken  zu  unterdrücken 
und  das  Elsass-Lothringen  auf  immer  sich  zu  sichern. 
Am  25.  Januar  1903  sprach  der  Führer  der  franzö- 
sischen Socialisten  Jaures  vom  Weltfrieden  und  sagte 
zum  Schluss  folgendes: 

„Aber  hier  steht   Frankreich   vor   der   schmerz- 
lichsten Alternative,  dem  tragischesten  Problem.     Ja, 
wir  gehen  dem  Frieden,  gehen  einer  Neuordnung  der 
Nationen  entgegen,   aber  unsere  Nation  hat   vor   32 
Jahren  eine  schwere  Antastung  erlitten,  die  nicht  nur 
eine   Antastung    seiner   Grösse,    sondern   auch   eine 
Rechtsverletzung  war.    Menschliche  Wesen   sind   ge- 
waltsam dem  von  ihnen  gewünschten  und  erwählten 
Vaterlande  entrissen  worden.  Wenn  es  also  wahr  ist, 
dass  das  Recht  verletzt  worden,  und  wenn  es  richtig 
ist,  dass  man  die  Wiederherstellung  des  Rechtes  nur 
von  einer  Rückkehr  zur  Gewalt  erwarten  kann,  welch 
tragische  Alternative  für  unser  Land  .  . .  Meine  Herren, 
bei  den  gegenwärtigen   Verhältnissen   Europas    kann 
nicht  der  Krieg  die^e    Frage   lösen.    Er  könnte   nur 
endlose  Gewalthaten  auf  diejenigen  herabbeschwören, 
die  wir  der  Gewalt  entreissen  wollen.  Nein,  die  einzige 
Lösung  besteht  in   der  Befestigung  des   allgemeinen 
Friedens,   in    der   Befreiung   der   Demokratien   .    .    . 
Frankreich   bedarf  keiner   brutalen  und  wilden    Re- 
vanche.   Ah,   wenn  es  vor  32  Jahren  in  diesen  tra- 
gischen Tagen  sich  einer  Schwäche  überlassen,  wenn 
es  nicht  der  Welt  und  sich  selber  seinen   Muth    be- 
wiesen, könnte  es,  um  sich  in  seinen  eigenen  Augen 
wieder  zu  erheben,  den  Kampf  neu  beginnen  wollen. 
Aber  Frankreich  bedarf  keines  neuen  Zeugnisses,    es 
ist  besiegt,   nicht  gedemüthigt   worden.     Es   hat    bis 
zum  letzten  Athemzuge  gekämpft,  hat  seinen  Herois- 
mus und  sein  Blut  verausgabt,  hat  alle  seine   Söhne 


419 


zum  verzweifelten  Widerstände  vereinigt,  von  den 
Royalisten  des  Westens  bis  zu  den  Revolutionären 
Blanquis,  die  in  Paris  die  Sturmglocke  für  das  ,> Vater- 
land und  Gefahr"  läuteten  ...  Es  hat,  unter  dem 
'glühenden  und  organisatorischen  Ansporn  Gambettas, 
seine  unablässige  Zähigkeit  gegenüber  all'  den  nie 
endenden  Schicksalsschlägen,  seine  feste  Hoffhungs- 
freudigkeit,  die  seinen  Stolz  überdauerte,  seine  immer 
erneute  Willenskraft,  die  dem  Unglück  standhielt,  be- 
wiesen. Es  hat  bei  dem  plötzlichen  Erstehen  der  Re- 
publik eine  wunderbare  Wiedergeburt  der  nationalen 
Energie  gehabt,  den  Stolz  eines  verwundeten  Volkes, 
das  von  seinem  wiedergefundenen  Ideal  die  Kraft  zu 
leben  und  zu  siegen  erhofft,  den  Stolz  des  verwun- 
deten Adlers,  der  die  Sonne  anfleht,  ihm  die  Kraft 
zum  weiteren  Fluge  zu  geben.  Nein,  Frankreich  be- 
darf keiner  neuen  Zeugnisse  der  Geschichte  für  seinen 
Heroismus  und  seinen  Muth,  und  wenn  es  ihm  morgen, 
in  einem  weitsichtigen  Verstehen  der  Zukunft,  gefällt 
den  grossen  Menschheitsfrieden  anzubahnen,  schleppt 
es  keine  erniedrigenden  Erinnerungen  hinter  sich 
her.  Selbst  wenn  die  Kriege  von  1870,  wie  wir  es 
hoffen  und  wie  wir  es  wollen,  die  letzten  Kriege 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland  bleiben,  strahlen 
sie  einen  solchen  Heroismus  aus,  dass  wir  ohne 
Zaudern  das  abscheuliche  Buch  des  Krieges  bei  dieser 
schmerzlichen  aber  grossen  Seite  schliessen  dürfen." 
Die  Herrschaft  der  Socialisten  und  der  von  Elsass 
eingewanderten  Juden  mit  Reinach  an  der  Spitze, 
die  jetzt  über  Frankreich  besteht,  wird  von  Berlin 
aus  kräftig  unterstützt.  Mit  solchen  Waffen  arbeitet 
das  oficielle  evangelische  Preussen.  Genau  so  benimmt 
sich  Preussen  in  der  Orientfrage.  Ende  April  1903 
berichtete  der  „Ikdan"  in  Konstantinopel,  Kaiser 
Wilhelm  hat  den  Waffenfabriken  Krupps  und  Mausers 
den  Befehl  ertheilt  alle  anderen  Bestellungen  bei 
Seite  zu  schieben  und  nur  die  Bestellungen  für  die 
türkische  Armee  schleunigst  zu  eflfektuiren. 

Also  dem  grössten  Mörder  der  Christen  Abdul 
Hamid  liefert  Wilhelm  II,  die  Waffenvorräthe.  Die 
Absichten  sind  ja  klar;  genau  so  ging  Friedrich  der 
Grosse  gegen  die  'Kaiserin  Maria  Theresia  vor.    Die 

27* 


420 


Alleinherrschaft  des  Protestantismus  und  des  Preussen- 
thums  innerhalb  des  Deutschen  Reichs  haben  die 
Bundesstaaten  in  Hölle  und  Fülle  zu  verkosten«  Am 
meisten  seufzt  darunter  Bayern.  Ein  Bajuvare  Ingenieur 
Kuhn  gab  Anfangs  März  1902  in  München  bei  Seyfried 
die  Schrift  heraus:  Die  Mobilisierung  der  Reichsidee 
in  Bayern.  Wir  führen  aus  dieser  Schrift  folgendes  an. 
„  Wer  die  wirtschaftliche  Entwicklung  Bayerns  seit  187 1 
objektiv  verfolgt,  der  wird  obigem  Satze  zustimmen 
müssen.  An  dieser  Thathsache  ändert  auch  der  Um- 
stand nichts,  dass  heute  in  ganz  Deutschland  gedrückte 
Verhältnisse  an  der  Tagesordnung  sind.  Bayern  trat  als 
der  reichste  und  wohlhabendste  Bundesstaat  in  das 
Deutsche  Reich,  und  ist  der  erste  geworden,  der  seine 
wirtschaftliche  Erschöpfung  zugestehen  muss.  Es  gab 
im  Jahre  1871  in  Preussen  eine  Sekte,  welche,  als 
sich  die  Thüre  nach  längerem  freundlichen  Zureden 
geöffnet  hatte,  die  den  Eintritt  in  das  gesegnete  Bayer- 
land gestattete,  sich  zur  Aufgabe  machte,  die  Schätze 
zu  heben,  die  in  dem  Märchenlande  voll  blauer  Seen, 
blühender  Felder  und  wilder  Gebirge  vergraben  waren. 
In  dichten  Schaaren  wallfahrteten  die  Schatzgräber 
durch  das  offene  Thor  und  erregten  vor  allem  bei  dem 
Bayern volk  durch  ihren  Dialekt  und  durch  die  Hurtig- 
keit, sich  auf  die  Hochschullehrstuhle  zu  schwingen, 
stumme  Verwunderung.  —  Diesen  ersten  Pionieren 
folgte  auf  dem  Fusse  ein  Heer  kleiner  Commis- 
Voyageure,  meist  orientalischen  Exterieurs,  jeder  mit 
einem  Musterkoffer  voll  der  entzückendsten  Sächelchen 
beladen,  diesen  folgte  gemessenen  Schrittes  die  Horde 
mit  dem  Gründerblick,  unter  ihnen  manch  zweifel- 
hafte Erscheinung  mit  geflickten  Sandalen,  dann  kam 
ein  schier  endloser  Zug  von  Maschinen,  von  denen 
jede  mit  mindestens  drei  goldenen  Medaillen  auf  den 
Ausstellungen  in  San  Francisco,  Baltimore  und  Berlin 
prämiirt  war.  —  Der  ganze  wilde  Zug  schritt  unter 
dem  Banner  des  neuen  Reichsadlers  und  unter  dem 
Liede:  „Deutschland,  Deutschland  über  alles!" 

Und  siehe  da,  das  Eselein  streckte  sich ;  wie  flogen 
die  alten  guten  Thaler  aus  den  altdeutschen  Truhen 
der  Städter  und  Bauern.  (Hier  folgt  nun  eine  humor- 
volle Schilderung  der  lächerlichen  Manie,  alles  Preussi- 


421 


sehe  besser  zu  finden  als  das  Einheimische,  wie  sie 
durch  die  [aus  dem  Reptilienfond  genährte]  Presse 
großgezogen  und  von  dem  Minister  Lutz  auf  allen 
Gebieten  begünstigt  wurde.)  Auf  allen  Gebieten  des 
öffentlichen  Lebens  in  Bayern  konnte  man  bald  den  ein- 
gebornen  Liberalen  und  den  Eingewanderten,  welchem 
Vorspanndienste  geleistet  wurden,  in  festen,  gut  do- 
tierten Stellungen  schalten  und  walten  sehen,  und 
die  neuen  Fabriken  und  Geschäfte  blühten,  aber  das 
bayerische  Geld  wurde  immer  weniger.  In  den  zehn 
Jahren  von  1889—1899  wurde  an  bayerischen  Post- 
schaltern durch  Postanweisungen  die  Summe  von 
5y2  Milliarden  einbezahlt  Die  Summe  der  eingegan- 
genen Postanweisungen  betrug  während  dieser  Zeit 
um  300  Millionen  Mark  weniger.  —  Diese  300  Millionen 
sind  zum  grösste  i  Theil  in  barem  Geld  aus  dem  Be- 
sitz der  bayerischen  Bevölkerung  nach  Preussen  ge- 
wandert —  Leider  fehlt  uns  eine  amtliche  Aufstellung 
darüber,  .welche  Einbusse  das  Vermögen  des  bayeri- 
schen Volkes  in  denjenigen  Fällen  erlitten,  in  welchen 
die  Zahlungen  nicht  durch  die  Postbehörden,  sondern 
durch  die  Banken  etc.  etc.  vermittelt  wurden.  Da  es 
sich  in  letzterem  Falle  um  höhere  Beträge  handelt, 
so  dürfte  es  nicht  zu  hoch  gegriffen  sein,  wenn  man 
einen  Baarverlust  von  circa  einer  Milliarde  in  zehn 
Jahren,  also  drei  Milliarden  innerhalb  der  Zeit  von 
1871—1901  verzeichnet.  Kann  man  sich  da  wundern, 
dass  Bayern  heute  seine  Erschöpfung  zugestehen 
muss?u  Berlin  hatte,  um  gegen  die  Eigenart  der  Bayern 
erfolgreich  zu  arbeiten,  seine  Männer  in  München  an 
die  preussischen  Vorposten  gestellt,  so  das  Ministerium 
Lutz  und  Crailsheim.  Welche  Zustände  in  Bayern 
herrschten,  darüber  veröffentlichte  das  Münchener 
Volksblatt  ein  Schreiben  eines  ansehnlichen  bajuvari- 
schen  Patrioten  am  29.  März  1903.  Es  heisst  da: 

„Die  Vorgänge  der  jüngsten  Zeit,  welche  mit  zum 
Rücktritt  des  Grafen  von  Crailsheim  geführt  haben 
dürften,  haben  unser  offieiöses  Presswesen  wieder 
einmal  in  einem  ausserordentlich  widerlichen  Lichte 
erscheinen  lassen.  Dinge,  die  der  leitende  Minister 
zur  Kenntnis  seiner  Landesangehörigen  bringen  wollte, 
kamen  diesem  auf  Um-  und  Schleichwegen  und  mei- 


422 


stens  durch  Vermittlung  von  Pressjuden  via  Karlsruhe 
zu.  Diese  und  unzählige  andere  Vorgänge  im  Laufe 
der  Zeit  haben  bewiesen,  dass  für  eine  Regierung» 
die  sich  ihrer  Rechte  und  Pflichten  eingedenk  ist, 
namentlich  seit  dem  Regierungsantritt  Wilhelms  IL, 
ein  eigenes  Pressorgan  als  Sprachrohr  unentbehrlich 
ist.  Die  bayerische  Regierung  braucht  wieder  eine 
Zeitung,  durch  welche  sie  ihre  Stellungnahme  zu  wich- 
tigen Fragen  und  ihre  Willensmeinung  nach  allen 
Seiten  offen  kundgibt.  Diese  Zeitung  darf  vor  allem 
im  Volke  niemals  Zweifel  über  die  strikte  Wahrung 
unserer  verfassungsmässigen  Rechte  durch  die  Regie- 
rung aufkommen  lassen,  wie  dies  bisher  häufig  in  so 
hohem  Masse  der  Fall  gewesen  ist.  Die  Art,  wie  die 
Regierung  bisher  die  Presse  für  ihre  Zwecke  benützte, 
ist  auf  die  Dauer  nicht  mehr  angängig.  Verfügte 
man  in  Bayern  schon  vor  einem  halben  Jahrhundert 
über  ein  officiöses  Presspigan  —  die  „Neue  Münchener 
Zeitung*,  —  so  kann  der  Nutzen  eines  officiösen 
Blattes  für  die  Regierung  in  der  Gegenwart  erst  recht 
nicht  verkannt  werden.  Auf  die  Gründe,  welche  anno 
1867  zur  Einstellung  des  officiellen  bayerischen  Press- 
organs führten,  soll  hier  nicht  näher  eingegangen, 
sondern  nur  "der  Thatsache  gedacht  werden,  dass  die 
amtlichen  Bekanntmachungen  und  die  verschiedenen 
Inserate  etc.  der  Staats-  und  Gemeindebehörden  u, 
s,  w.  damals  zum  grössten  Theile  auf  die  „Münchner 
Neuesten  Nachrichten"  übergegangen  sind  und  wesent- 
lich zum  Aufschwung  dieses  Blattes  mit  beigetragen 
haben.  Das  Konsortium,  in  dessen  Besitze  sich  die 
„Neuesten44  befinden  und  an  welchem  die  Juden  einen 
erheblichen  Antheil  besitzen,  streicht  aHjährlich  für 
die  amtlichen  Inserate  horrende  Summen  ein  und  er- 
freut sich  der  Thatsache,  dass  Tausende  ein  Zwangs- 
abonnement auf  die  „Neuesten"  nehmen  müssen,  für 
welche  das  Lesen  dieser  Bekanntmachungen  unent- 
behrlich ist.  Und  in  welcher  Weise  übt  dieses  Blatt 
—  im  Volksmund  Preussen-  und  Judenblatt  genannt  — 
seine  Erkenntlichkeit  gegen  den  bayerischen  Staat 
und  seine  Bevölkerung  aus  ?  Herrschte  bis  vor  dreissig 
Jahren  tiefster  Frieden  und  Eintracht  unter  den  ver- 
schiedenen cv~  ,,#  '       Konfessionen  in  unserer  Münch- 


423 


ner  Stadt,  so  begann  mit  der  Aera  Knörr  und  Hirt 
eine  unerhörte  Minier-  und  Wühlarbeit  zugunsten  des 
preussischen  Einheitsstaates  und  des  Hauses  Hohen- 
zollern  und  zugleich  der  Krieg  gegen  den  Katholicis- 
mus  in  der  hässlichsten  Form,  als  erste  Etappe  auf 
dem  Wege  der  erstrebten  Zerstörung  des  Christen^ 
thums  überhaupt.  Seit  jener  Zeit  leuchtet  aus  jeder 
Zeile  der  „M.  N.  N."  ein  infernalischer  Hass  gegen 
die  katholische  Kirche,  ihre  Diener  und  Einrichtungen, 
während  der  Protestantismus  zunächst  noch  möglichst 
geschont,  ja  als  Sturmbock  gegen  den  Katholicismus 
missbraucht  und  als  solcher  begünstigt  wird.  Der 
Rabbiner  ist  a  priori  sakrosankt.  Bayern,  seine  Ge- 
schichte, seine  Bevölkerung  und  ihre  Eigenart  wird 
in  der  gemeinsten  Weise  verhöhnt,  beschimpft  und 
herabgewürdigt;  sein  Herrscherhaus  unter  dem  Deck- 
mantel der  Loyalität  und  Verehrung  für  den  greisen 
Regenten  herabgesetzt  und  degradiert.  Vielfach  hört 
man  im  Publikum  die  Meinung  äussern,  dass  mit 
dem  Geiste,  der  dieses  Blatt  durchzieht,  die  Leser 
tropfenweise  vergiftet  werden.  Jeder  erfahrene  Mann, 
jeder  denkende  und  vorurtheilsfreie  Zeitungsleser,  der 
ausser  der  „Kuhhaut"  noch  Blätter  anderer  Richtung 
liest,  wird  zugeben,  dass  die  „Münchner  Neuesten 
Nachrichten"  das  grösste  und  raffinierteste  Hetzblatt 
in  Bayern,  wenn  nicht  im  Reiche  sind.  Die  Verleger 
dieses  Blattes  scheinen  keine  Ahnung  zu  haben,  mit 
welcher  Missachtung  das  Gros  der  Bevölkerung  und 
selbst  die  politischen  Gesinnungsgenossen  der  „Neue- 
sten" von  dieser  Zeitung,  ihrer  Verleumdungssucht, 
ihrer  Arroganz  und  unausgesetztem  Hetzen  spricht* 
Die  »Münchner  Neuesten"  können  es  anscheinend  nicht 
erwarten  und  die  Verstellung  fällt  ihnen  offenbar  recht 
schwer,  bis  die  letzte  Perle  aus  der  Krone  Bayerns 
verschwunden  ist.  Sie  haben  die  Katze  schon  zu  oft 
aus  dem  Sacke  gelassen,  um  dies  noch  leugnen  zu 
können.  Wenn  ein  in  Berlin  erscheinendes  notorisches 
Bayernblatt  gegen  den  preussischen  Staat,  seine  Dy- 
nastie, das  Volk  und  den  Protestantismus  eine  solche 
Sprache  führen  würde,  wie  die  „Neuesten"  umgekehrt 
in  München,  man  würde  seine  Redakteure  längst 
wegen    Hochverrath,  Beschimpfung  der  Religion  und 


424 


Störung  des  konfessionellen  Friedens  verurtheilt,  seine 
Herausgeber  mit  dem  Besen  aus  dem  Lande  gejagt 
haben. 

Eine  würdige  Genossin  hat  das  Färbergrabenblatt 
an  der  „Münchener  Allgemeinen  Zeitung",  welche  von 
dem  ehedem  so  hochangesehenen  und  vornehm  ge- 
haltenen Blatte,  als  welches  es  in  Augsburg  erschienen 
war,  nur  mehr  den  Namen  besitzt,  sonst  aber  zur 
reinen  Stadtfraubas  herabgesunken  ist,  die  mit  fast 
völligem  Ausschluss  der  Oeffentlichkeit  erscheint. 
Dieses  Blatt,  dessen  Redakteure  von  bayerischen  Ver- 
hältnissen nicht  die  geringste  Kenntnis  besitzen,  zieht 
mit  seiner  Gesinnungsschwester,  den  „Neuesten",  an 
einem  Strange.  Das  merkwürdigste  ist,  dass  dieses 
Blatt,  welches  unter  den  Zeitungslesern  nur  „das 
preussische  Reptil"  genannt  wird,  vom  Ministerium 
den  bayerischen  Behörden  zum  Abonnement  empfoh- 
len wird." 

Der  Abgeordnete  Dr.  Schädler  sagte  Ende  Januar 
1903  am  Delegirtentag  der  Gentrumspartei  in  München 
unter  anderem  Folgendes :  „Meine  Herren !  Wir  haben 
dem  Ministerium  unser  Misstrauen  erklärt,  das  Miss- 
trauen unserer  Wähler,  des  katholischen  Volkes  im  Lande. 
Und  in  diesen  Tagen,  mit  Stolz  kann  ich  es  konstatiren, 
haben  wir  den  Beweis  dafür  erhalten,  dass  unsere  Wähler 
im  ganzen  Lande  mit  Begeisterung  zu  uns  stehen,  dass 
sie  mit  uns  eins  sind  in  diesem  Misstrauen,  in  der 
Vergangenheit  und  für  die  Zukunft,  Würden  die  hohen 
Herren  einmal  herumhören  im  Volke,  so  könnten  sie 
erfahren,  dass  nicht  bloss  die  Herren  Dalier,  Hebel, 
Schädler,  Pichler,  lauter  geistliche  Herren,  wie  es  in 
einem  liberalen  Blatte  hiess,  sich  zum  Mundwalt  der 
kochenden  Volksseele  gemacht  haben,  sie  würden  sich 
überzeugen,  dass  die  Volksseele  nicht  bloss  kocht, 
sondern  dass  sie  am  Ueberschäumen  ist  Uiid  all  die 
Bitterkeit  und  all  der  Schmerz,  der  sich  seit  weit 
über  ein  Decennium  hinaus  aufgehäuft  darüber,  dass 
in  einem  zu  zwei  Dritteln  katholischen  Lande  der 
katholische  Theil  systematisch  auf  allen  Gebieten  zu- 
rückgesetzt, als  quantite  negligeable  behandelt  wird, 
diese  Bitterkeit  und  dieser  Groll  ist  aufgekocht  und 
das  Volk  ruft  energisch:  Bis  hieher  und  nicht  weiter! 


425 


Und  es  fordert  seine  Vertreter  auf,  dem  durch  die 
That  Ausdruck  zu  geben.  Und  das,  meine  Herren,  das 
soll  der  sanfte  Wind  sein,  der  vom  blauen  Himmel 
weht?  Was  hat  sich  denn  geändert  eigentlich  seit 
Schluss  des  Landtags?  Im  wesentlichen  gar  nichts! 
Ist  denn  die  Entscheidung,  die  bezüglich  der  Schule 
in  Weissenburg  getroffen  wurde,  eine  Koncession  an 
uns?  Betrachtet  man  e3  vielleicht  schon  als  eine 
solche,  dass  ein  bestehendes  Gesetz  nicht  gedreht  und 
gewendet  wird  gegen  uns?  Oder  ist  vielleicht  die 
Ernennung  eines  neuen  Justizministers  eine  Konces- 
sion an  uns?  Dann  scheint' es  fast,  als  ob  schon  der 
Besitz  eines  katholischen  Taufscheins  bei  der  Beför- 
derung gefährlich  werden  kann.  Hat  etwa  die  Hetze 
gegen  uns  abgenommen  im  Lande  von  gewisser  Seite  ? 
Ich  glaube,  wir  werden  es  auch  in  sehr  naher  Zeit 
erleben,  dass  die  Klage,  dass  katholische  Gelehrte  mit 
Absicht  hintangesetzt  werden,  eine  neue  Bestätigung 
finden  wird.  Und,  meine  Herren,  was  soll  man  denn 
dazu  sagen,  wenn  man  in  Bayern  von  München  aus 
einen  katholischen  Bischof  herunterreissen  darf,  wie 
es  in  der  ^Freistatt"  geschehen  ist,  in  deren  Nr.  4 
geredet  wird  von  einem  Pöbel  in  der  Soutane! 
(Der  Redner  verliest  eine  längere  Stelle  aus  diesem 
Artikel.)  Das  Blatt  hat  sich  damit  als  eine  Freistatt 
der  Gemeinheit  erwiesen.  Da  möchte  man  doch  fragen, 
ob  man  nicht  von  München  aus  einmal  den  Hebel 
ansetzen  sollte;  das  wäre  doch  angezeigter,  als  dass 
man  es  gegen  unseren  Kollegen  Hebel  gethan  hat. 
Nicht  zu  vergessen,  wie  in  der  dem  Ministerium  oder 
besser  einzelnen  Ministern  nahestehenden  Presse  gegen 
einzelne  Abgeordnete  scharfgemacht  wird  und  sie  zu 
diskreditiren  gesucht  werden,  die  auf  sich  wohl  mit 
mehr  Recht  als  die  Schreiber  in  der  Preussenfiliale 
an  der  Bayerstrasse  das  Wort  des  Königs  Jakob  an- 
wenden dürfen  an  Archibald  Douglas:  Der  ist  in 
tiefster  Seele  treu,  der  die  Heimat  so  liebt  wie  du. 
Meine  Herren!  Wohin  kommen  wir,  wenn  wir  die 
Kaiseridee  fassen  nach  der  Anschauung  des  Volkes? 
Welches  Volk  ist  denn  da  gemeint?  Gehören  wir 
nicht  auch  noch  dazu?  (Zuruf:  „F  moa'  do'  scho' !" 
Grosse  Heiterkeit)  Wie  nun,  wenn  vielleicht  die  Kaiser- 


426 


idee  im  Sinne  des  Volkes  sich  dahin  entwickeln  würde 
im  Laufe  der  Jahre,  dass  auch  die  Abrundung  dazu 
gehörte,  dass  es  vielleicht  besser  wäre,  wenn  etwa 
auch  Bayern  das  Schicksal  von  Hannover  theilte. 
Meine  Herren!  Man  hat  uns  heute  ein  Bouquett  dar- 
gebracht in  der  Mittheilung  der  „Münchener  Neuesten 
Nachrichten",  wonach  sie  erfahren  haben,  dass  der 
Prinz-Regent  sich  mit  besonderer  Freude  und  Aner- 
kennung über  die  Rede  des  Reichskanzlers  geäussert 
und  dass  er  den  Ministerpräsidenten  beauftragt  habe, 
den  hiesigen  preussischen  Gesandten  davon  in  Kenntnis 
zu  setzen.  Meine  Herren !  Wir  anerkennen  aus  vollem 
Herzen  die  edle  Ritterlichkeit  des  Regenten,  der  dem 
Mitverbündeten  Verlegenheiten  erspart.  Wir  haben 
diese  nicht  zu  üben;  wohl  aber  stehen  wir  da  als 
Vertreter  der  bayerischen  Rechte  gegen  Ansprüche» 
von  woher  sie  auch  kommen  mögen.  Und  in  diesem 
Sinne  sage  ich:  Wir  schützen  das  Haus  Witteisbach 
und  seinen  Regenten  gegen  diese  Kaiseridee!  Einzig 
und  allein  gibt  es  für  uns  die  Kaiseridee,  nicht  wie 
sie  in  Bülow's  Kopf  sich  ausmalt,  sondern  wie  sie 
Artikel  11  der  Reichsverfassung  klipp  und  klar  aus- 
spricht: als  Präsidium  unter  den  Gleichen." 

Der  bekannte  Wiener  Schriftsteller  Houston  Ste- 
wart Ghambarlain,  der  Konfession  nach  offenbar  ein 
Protestant,  sagt  in  der  Vorrede  seines  Werkes  „Die 
Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts":  „Ein  ganz  anderes 
Gebilde  ist  „Romu.  Es  ist  das  imperium  romanum 
in  seiner  letzten  und  verhängnissvollsten  Gestalt;  der 
Geist  des  grossen  Reiches  ohne  dessen  Leib;  eine 
ausschliesslich  politische  und  —  wohl  betrachtet  — 
durchaus  unreligiöse  Gewalt,  die  den  religiösen  Wahn 
nur  grosszieht,  um  ihn  seinen  Zwecken  dienstbar  zu 
machen.  Es  ist  nicht  nur  erlaubt,  eine  solche  Macht 
als  eine  politische  zu  kennzeichnen,  vielmehr  müssen 
wir  einsehen  lernen,  dass  hier  gleichsam  die  Quint- 
essenz aller  Politik  in  die  Erscheinung  tritt.  Das  ja 
gerade  ist  es,  was  sie  so  gefährlich  macht;  denn 
aberall  anderswo  ist  alle  Politik  nichts  weiter  als 
ein  System  von  ewig  erneuten  Kompromissen  zwischen 
den  Bedürfnissen  gewisser  Gruppen  lebender,  arbei- 
tender Menschen  und  den  Bedürfnissen  änderer  Grup- 


427 


pen  eben  solcher  Menschen;  überall  und  immer  ist 
Politik  ein  Mittel,  nicht  ein  Ziel,  ein  ewiges  Ungefähr 
nie  eine  Doktrin;  sie  ist  gleichsam  ein  unvermeid- 
liches Uebel  und  findet  ihre  Rechtfertigung  nur  in 
ihren  nichtpolitischen  Erfolgen.  Born  dagegen  —  das 
"heutige  Rom  —  ist  abstrakte,  absolute  Politik,  Politik 
als  Selbstzweck,  Die  Givitas  Dei,  mit  dem  Papst  an 
der  Spitze  als  unumschränktem  Gebieter,  ist  ein 
Ideal;  es  wächst  nicht  aus  thatsächlichen,  praktisch 
gegebenen  Verhältnissen  heraus,  sondern  soll  von 
oben  her  diesen  Verhältnissen  aufgezwungen  werden ; 
kurz,  es  ist  nicht  Leben,  sondern  Lehre.  Und  Das 
heisst  nichts  Anderes  als  absolute  Politik.  Von  Be- 
dürfnissen, denen  diese  Politik  dienen  sollte,  kann 
keine  Rede  sein;  die  Männer,  die  sie  betreiben, 
entsagen  —  mehr  oder  weniger  -—  aller  völkischen 
Gemeinschaft  und  treten  sogar  aus  der  Familie  aus; 
mit  anderen  Worten:  sie  scheiden  aus  der  mensch- 
lichen Gesellschaft;  folglich  existirt  für  sie  die  un- 
erlässliche  Politik  der  praktischen  Bedürfnisse  nicht 
mehr,  sondern  sie  sind  frei,  das  eine  grosse,  doch 
sonst  allseitig  bedingte  Werkzeug  aller  Politik  —  die 
Gewalt  —  als  deren  Zweck  zu  erfassen  und  sich 
diesem  einen  Zweck  —  der  Allgewalt  —  ungetheilt 
zu  widmen.  Und  je  reiner  und  uneigennütziger — 
uneigennützig,  meine  ich,  im  Sinii  weltlicher  Genüsse 
—  eine  solche  Politik,  um  so  gefährlicher  ist  sie  für 
die  Staaten.  Die  Berechtigung  aller  praktischen  Po- 
litik und  die  Entschuldigung  für  die  Gewaltsamkeiten 
zu  denen  sie  häufig  greifen  muss,  ist  gerade,  dass 
materielle  Vortheile  auf  dem  Spiel  stehen  und  dass 
die  Völker,  wie  die  Einzelnen,  eine  materielle  Grund- 
lage nicht  entbehren  können ;  das  ideale  Element  des 
Lebens  muss  das  Volk  aus  anderen  Quellen  speisen, 
die  Politik  dagegen  kann  gar  nicht  zu  ausschliesslich 
„real"  sein.  Hingegen  greift  eine  Politik  wie  die 
Roms  um  so  tiefer  in  das  Leben  der  Völker  ein,  je 
abstrakter  und  reiner  sie  ist ;  hier  ist  Logik,  was  bei 
den  Staaten  Kanonen  sind;  und  je  selbstloser  und 
sittenreiner  die  führenden  Männer,  um  so  fanatischer 
werden  sie  auf  das  Ziel  losgehen.  Ein  Papst,  der 
Maitressen  hält  und  Künstler  beschäftigt,  ist  hannlos 


428 

gegenüber  dem  milden  Greis,  der  jetzt  auf  dem  Thron 
sitzt.    Es   liegt  auf   der  Hand,  dass   eine  politische 
Macht  dieser  Art  die  Schwächung  und  endliche  Ver- 
nichtung jedes    Staatwesens   unausgesetzt   betreiben 
muss ;  hier  nützen  selbst  die  besten  Absichten  —  wo 
solche  vorhanden  sind  —  nichts,  denn  die  Logik  der 
Situation  ist  stärker  als  der  stärkste  Einzelwille.     Es 
ist  nur  konsequent,    wenn   das   katholische    Staats- 
lexikon die  Bildung  der  europäischen  Nationalstaaten 
als  einen  „Zerfall  der  Christenheit"  beklagt.  Treitschke 
bemerkt:  „Die  katholische  Kirche  nimmt  immer  Partei 
für  die  Sprache   der  geringeren  Kultur";    wir  sehen 
es   in    diesem   Augenblick  in  Posen,   wo  Rom    das 
ganze   Gewicht   seines   Einflusses   in    die  Wagschale 
des  Polenthumes  wirft,   —  hier,   wo  es  die  schönste 
Gelegenheit  hätte,  sich  als  staaterhaltend  zu  erweisen, 
wenn   es  das  wäre;   wir   sehen   es  in  Böhmen,    wo 
Rom     rein   deutsche     Gegenden    mit    tschechischen 
Pfarrern  überfluthet   und  so  die  mächtigste  Förderin 
der  Entdeutschung  wird;  wir  sehen  es  in  Irland,  wo 
Rom  allein  das  für  heutige  Verhältnisse  völlig  nutz- 
lose keltische  Idiom   am  Leben   erhält  und  von  der 
Kanzel  herab  die  „Teufelsprache"  der  Engländer  ver- 
flucht ;  wir  sehen  es  in  der  Bretagne,  wo  die  Ordens- 
schulen so  viel  wie  irgend  möglich   die  französische 
Sprache    unterdrücken    und   wo    selbst   in    Städten, 
deren  Einwohner  zum  grossen  Theil  nur  französisch 
verstehen,  dennoch  vielfach  ausschliesslich  bretonisch 
gepredigt  wird.  Das  kann  aber  gar  nicht  anders  sein 
und  man  darf  mit  apodiktischer  Gewissheit  behaupten, 
dass,   was  wir  bei    den  Sprachen  deutlich  erblicken, 
auf  jedem  einzelnen  Gebiet  des  Lebens  in  genau  der- 
selben Weise  geschieht  und  dass  Rom  ausnahmslos 
Das  thut,   Das   züchtet,    Das  fördert,   was   den  Staat 
—  als   solchen    —  schwächt.   Dazu  ist  ja   Rom  da. 
Das  ist  seine  raison  d'Stre;  und  wenn  es  heute  sein 
politisches   Ideal  aufgäbe,  so   wäre   es  morgen  ver- 
schwunden;   denn   Religion   an  und  für  sich  bedarf 
solcher  gewaltigen  Zurüstungen  nicht;  im  Gegentheil." 
Man    beachte    doch    diese    Schreibweise.    Jeder 
Satz   ist  ein  protestantischer  frecher  Schwindl,  nichts 
wird  bewiesen,  alles  frech  nur  behauptet,  ganz  nach 


429 


Judenart.  Wo  steht  geschrieben,  dass  das  päpstliche 
Rom  eine  auschliesslich  politische  Gewalt  sei?  Das 
schreiben  die  Protestanten,  den  Beweis  bleiben  sie 
schuldig.  Dass  die  katholische  Kirche  die  kleineren 
Nationen  und  ihre  Sprache  achtet,  ist  nur  ein  Beleg 
ihrer  göttlichen  Sendung,  wie  ja  der  göttliche  Heiland 
mit  Vorliebe  die  Schwachen  und  Unterdrückten  zu 
sich  rief  und  aufsuchte.  Dann  sagt  Herr  Charaber- 
lain  in  der  Vorrede  noch  folgende  Liebenswürdigkeit. 
Der  gewaltigen  Erscheinung  der  römischen  Hier- 
archie gegenüber  achtlos,  skeptisch,  gleichgiltig,  in 
blasser  Sympathie  oder  blasser  Antipathie  —  wie 
Millionen  von  Protestanten  und  Katholiken  —  zu  ver- 
harren :  Das  kann  nur  Blindheit  oder  geistige  Schwäche 
erklären.  Wer  dagegen  erkennt,  was  hier  vorgeht  und 
wie  hier  die  Zukunft  der  ganzen  Menschheit,  insbe- 
dere  aber  die  Zukunft  alles  Germanenthumes  auf 
dem  Spiele  steht,  hat  nur  die  eine  Wahl:  entweder 
Rom  zu  dienen  oder  Rom  zu  bekämpfen;  abseits  zu 
bleiben,  ist  ehrlos.  Grundlegend  ist  aber  hierbei 
die  Erkenntnis,  dass  man  Rom,  diese  rein  politi- 
sche Macht,  der  auch  einzig  politisch  beizukommen 
ist,  bekämpfen  kann,  ohne  darum  die  katholische 
Religion  zu  bekämpfen;  im  Gegen theil:  indem  man 
ihr  selbst  angehört  oder  ihr  herzliche  Sympathie  ent- 
gegenbringt und  fühlt,  die  Welt  wäre  ärmer  ■—  auch 
ärmer  an  Hoffnungen  für  die  Zukunft,  —  wenn  sie 
nicht  wäre.  Nicht  auf  Worte  kommt  es  uns  an,  sondern 
auf  Dinge,  auch  nicht  auf  Theorien  über  Das,  was 
sein  müsste,  sondern  auf  die  Thatsachen,  wie  sie 
sind.  „Römisch"  und  „Katholisch"  sollten  —  nach 
den  Lehren  der  Hierarchie  —  das  Selbe  sein;  sie 
sind  es  aber  nicht ;  darum  unterscheiden  wir  sie.  Ich 
schliesse  mit  einem  oft  gehörten,  doch  nie  zu  oft  wieder- 
holten Worte  Kant's :  „Das  Reich  Gottes  auf  Erden : 
Das  ist  die  letzte  Bestimmung,  des  Menschen  Wunsch. 
Dein  Reich  komme!  Christus  hat  es  herbeigerückt; 
aber  man  hat  ihn  nicht  verstanden  und  das  Reich 
der  Priester  errichtet,  nicht  das  Gottes  in  uns.  Im 
ganzen  Weltall  sind  tausend  Jahre  ein  Tag.  Wir 
müssen  geduldig  an  diesem  Unternehmen  arbeiten 
und  warten."    Auf  uns   machen   diese   anscheinend 


430 


frommen  protestantischen  Phrasen  keinen  Eindruck 
und  können  wir  uns  mit  ihnen  nicht  eingehend  be- 
fassen. Die  Geschichte  der  Völker  lenkt  die  göttliche 
Vorsehung,  daran  glauben  wir  fest.  Hat  auch  die 
katholische  Kirche  grosse  Verluste  erlitten,  kann  sie 
wieder  bei  anderen  Völkern  willige  Aufnahme  finden. 
Ob  jemals  die  Zukunftspläne  des  deutschen  Protestan- 
tismus in  Erfüllung  gehn  werden,  ob  das  Alldeutsch- 
thum  von  der  Ost-See  und  Nord-See  über  ganz  Oester- 
reich  bis  hinab  in  die  sonnigen  Gestade  des  Bosporus 
und  Salonichi  hinreichen  wird,  darüber  werden  wir 
uns  den  Kopf  nicht  zerbrechen.  Die  angegriffenen 
Völker  werden  sich  wehren  und  der  Sieg  wird  doch 
der  gerechten  Sache  zufallen.  Hoffen  wir,  dass  Preussen- 
Deutschland  seinen  friedlichen  Nachbar  Oesterreich- 
Ungarn  nicht  verschlingen  wird,  wie  sehr  es  auch  die 
Pastoren  wünschen. 

XXV.    Die  Früchte  des  Nationalitätenhaders.   Vor- 
gänge bei  der  Volkszählung. 

Das  Leben  ist  für  die  meisten  Menschen  eine 
ununterbrochene  Kette  von  Sorgen  um  das  tägliche 
Brot.  Millionen  Menschen  gehn  an  diesen  Sorgen  vor- 
zeitig zu  Grunde,  ihre  Lebensdauer  wird  durch  un- 
genügende Nahrung  und  Entkräftung  abgekürzt.  Je 
grösser  die  Lebenssorgen,  je  furchtbarer  die  Kämpfe 
um  das  Brot,  je  schrecklicher  der  Konkurrenzkampf 
der  Hungernden  und  Nahrungsuchenden,  desto  mehr 
wächst  die  Bürde,  und  die  Verachtung  des  Lebens,  es 
mehren  sich  die  Selbstmorde.  Je  rücksichtsloser  die 
Menschen  gegeneinander  werden,  desto  mehr  wächst 
die  Verbitterung  der  Gemüther,  der  Krieg  aller  gegen 
alle  verbreitet  sich,  der  Bruder  verräth  den  Bruder, 
das  eigene  Blut  wird  nicht  geschont,  alles  wird 
käuflich.  Man  findet  wohl  nirgends  auf  der  Welt  die 
Lebensverachtung  so  allgemein  verbreitet  wie  in  Japan, 
China  und  Ostindien,  besonders  wenn  die  Reisernte 
missrathet  und  Hungersnoth  einbricht.  Diese  heidni- 
schen Völker  mit  der  grausamen  Mandarinen-  und 
Brahmanenherrschaft  kennen  weder  Gerechtigkeit 
noch  Nächstenliebe,  hier  herrscht  überall  das  kalte 
Recht  des  Stärkeren,    das  Recht    der  oberen  Kasten. 


431 


Darum  finden  wir  massenhaft  den  Selbstmord  vor, 
die  Lebensverachtung,  das  Harakiri.  Unter  den  christ- 
lichen Völkern  hat  die  christliche  Religion  die  Men- 
schen gelehrt  das  Leben  zu  lieben  und  dem  notlei- 
denden Mitmenschen  nach  Kräften  in  seiner  Noth  bei- 
zustehen. Aber  je  mehr  die  sociale  Noth  wächst,  die 
Menschen  sich  mehren,  die  Erwerbsverhältnisse  immer 
schwieriger  werden,  der  Reichthum  einiger  Weniger 
meist  Juden  zum  wahnsinnigen  Luxus  und  bestiali- 
sche Hartherzigkeit  zur  Noth  Anderer  sich  breit 
machen,  schwinden  mehr  und  mehr  die  Grundsätze 
der  christlichen  Nächstenliebe,  es  verbreitet  sich  der 
Krieg  der  Individuen  gegeneinander,  von  denen  viele 
glauben,  wenn  sie  den  Nachbar  zu  Grunde  richten, 
sich  selbst  einen  guten  Dienst  zu  erweisen.  Unter 
diesen  Umstanden  gewinnt  auch  der  Nationalitäten- 
hader einen  fast  revolutionären  und  bestialischen 
Charakter. 

Wenn  in  Oesterreich  für  den  Loskauf  der  Neger- 
sklaven in  Afrika  milde  Gaben  gesammelt  werden, 
so  möge  doch  nicht  vergessen  werden,  dass  zürn 
Beispiel  in  Ried  und  anderen  Ortschaften  Nieder- 
Oesterreichs  auch  Märkte  gehalten  werden,  arme  böh- 
mische Kinder  verdingen  sich  da  als  landwirtschaft- 
liches Gesinde.  Was  kostet  der  Böhm?  So  fragen  die 
Bauern  die  Vermittler.  Was  könnte  ein  böhmischer 
Lehrling  erzählen,  der  in  einer  Werkstätte  in  Wien 
seine  Leidensjahre  durchmacht,  der  nicht  anders  be- 
nannt wird  als  der  böhmische  Sau-  und  Dickschädel 
und  der  mit  ungezählten  Schlägen  und  Misshandlungen 
Vorlieb  nehmen  muss.  Man  braucht  nicht  nach  Afrika 
zu  gehen,  wir  haben  zu  Hause  Sklaverei  mehr  als 
genug.  Am  6.  Juli  1902  war  im  Gasthaus  des  Eduard 
Hörnig  in  BlaZim  bei  Postelberg  eine  Tanzunterhaltung. 
Es  kamen  auch  hin  4  Dragonersoldaten  Jelinek,  Mi- 
kulä§,  SafaHk  und  Derfl.  Gegen  7  Uhr  Abends  bei 
einer  Pause  fiengen  die  Dragoner  ein  böhmisches 
Soldatenlied  an  zu  singen.  Das  brachte  die  anwesen- 
den Deutschen  so  in  Wuth,  dass  sie  die  Dragoner, 
welche  ihre  Seitenwaffe  abgelegt  hatten,  umzingelten 
und  den  Dragoner  Jelinek  in  den  Hofraum  schleppten. 
Dort   versetzte    ihm  Anton    Schweiger   einen    Schlag 


432 


mit  einer  3  m  langen  Wagendeichsel  und  erschlug  ihn» 
Jelinek  starb  am  7.  Juli  zu  Mittag,  nachdem  er  infolge 
des   Schlages  das  Bewusstsein  verlor  und  bewusst- 
los  auch  blieb.  Am  19.  September  wurde  Ant.  Schweiger 
von  den  Geschworenen  in  Brfix  für  unschuldig  erklärt 
und  freigelassen.  Sein  Vertheidiger  der  Advokat  Jude 
Kornfeld   bezeichnete   ganz   ungestraft  die  Aussagen 
böhmischer  Zeugen   als   unglaubwürdig,    wegen    der 
Nationalitätsangehörigkeit     zum    Ermordeten.     Ende 
September  1902  veröffentlichte  die  berüchtigte  „Brüxer 
Zeitung"  (Nr.  T9)  folgende  Aufforderung  an  die  Deut- 
schen in  Brüx:   Dem  Einwandern   von  Angehörigen 
böhmischer  Nationalität  muss  Einhalt  gethan  werden. 
Angehörigen   böhmischer  Nationalität   soll  nicht 
gestattet  werden,  dass  sie  sich  in  Brüx  dauernd  nieder- 
lassen, dass  sie  Häuser  erwerben.   Gewerbetreibende 
und   Handwerksgesellen   sollen   aus   dem   deutschen 
Reiche  berufen  werden,  um   die  böhmischen  Arbeits- 
kräfte zu  verdrängen.    Ueber  diese  Arbeitskräfte  soll 
ein  Evidenzkataster  geführt  werden.    Eine  Dienstver- 
mittlung für  Deutsche  soll  gegründet  werden,  damit 
böhmische  Dienstboten,  Arbeiter,  Gesellen,  Gewerbe- 
treibende,   Eisenbahnbedienstete    und    Staatsbeamte 
verdrängt  werden."  Derartige  Aufforderungen  bringen 
deutschnationalle    Blätter    in    Böhmen    fortwährend. 
„Gablonzer  Tagblatt"  veröffentlichte  Anfangs  Oktober 
1902  (in  Nr.  2ö0)  die  Namen  böhmischer  Eisenbahn- 
angestellten auf  der  Gablonzer  Linie,  darauf  meldeten 
sich  bei  der  Cent  ralle ihm g  in  Prag  diese  Angestellten 
zur  deutschen  Nationalität  aus  Angst,   dass  sie  nicht 
brodlos    werden.    In    Dux   Hess    der    Bürgermeister 
Franzel  alle   Grabsteine  mit  böhmischen   Inschriften 
demolieren.    Das  Grab  der  Tochter  des  Lehrers  der 
Duxer    böhmischen    Schule    wurde   verwüstet    nebst 
anderen  Gräben,  wo  böhmische  Grabsteine  waren.  In 
Ervönic  bei  Brüx  erschoss  der  Wachmann  Rieger  am 
Gemeindeplatz  einen  Bergmann.    Rieger  ging  straflos 
aus,  der  Bergmann  war  ein  Böhme.    Der  Gemeinde- 
rath  in  Ladowitz  bei  Brüx,  dann  der  Gemeinderath  in 
Karbitz  affichierte  die  Bekanntmachung,  dass  auf  dem 
Friedhofe  nur  deutsche  Inschriften  geduldet  werden. 
Aus  den  Textilfabriken  Liebigs  werden  von  schöneriani- 


433 


sehen  Beamten  böhmische  Arbeiter  entlassen,  wenn 
sie  nicht  ihre  Kinder  in  deutsche  Schulen  senden 
wollen.  Johann  Hilger  war  in  der  Fabrik  in  Eisen- 
brod  seit  dem  Jahr  1867  beschäftigt,  nach  35  Jahren 
ist  er  entlassen  worden.  In  Hainspach  war  im  Thun- 
schen  Brauhause  der  Obermälzer  Prochazka  angestellt. 
Er  diente  hier  zur  vollen  Zufriedenheit  10  Jahre.  Im 
J.  1897  kam  Wolf  nach  Hainspach  und  wurde  beim 
Braumeister  bewirtet.  Bei  dieser  Gelegenheit  forderte 
Wolf  den  Braumeister  auf,  keine  böhmischen  Mälzer 
und  Arbeiter  zu  beschäftigen. 

Daraufhin  bekam  der  Obermälzer  Prochazka  die 
Kündigung;  trotzdem  dass  er  Vater  einer  zahlreichen 
Familie  war,  ist  er  ins  Elend  hinaus  gestossen  worden. 
Es  wird  auf  allen  Linien  ein  Vernichtungs-Kampf  ge- 
führt, der  an  Grausamkeit  nichts  zu  wünschen  übrig 
lässt.  Das  alldeutsche  „Gablonzer  Tagblatt",  alldeutsche 
Zeitung  für  die  Provinz  Böhmen,  wie  es  im  Kopf  des 
Blattes  gedruckt  steht,  schreibt  am  23.  Lenzmond  1902: 
Deutscher  Hausfrauen- Verein.  Derselbe  hielt  am  Frei- 
tag Nachmittags  unter  Leitung  der  Obmännin  Frau 
Adelheid  Rössler  seine  Jahreshauptversammlung  ab» 
Dem  Berichte  der  Schriftführerin  Frau  Lilie  sei  Fol- 
gendes entnommen:  Der  Verein  kann  mit  den  im 
letzten  Geschäftsjahre  erzielten  Erfolgen  zufrieden  sein. 
Es  wurden  von  der  deutschen  Dienstboten-Herberge 
120  deutsche  Mädchen  herangezogen,  265  Vermittelun- 
gen  abgeschlossen  und  455  Posten  in  Vormerk  ge- 
nommen. Seit  dem  Jahre  1898  sind  durch  Vermittelung 
des  Vereines  620  deutsche  Mädchen  von  auswärts 
nach  Gablonz  in  Dienst  gebracht  worden.  Mit  jeder 
derselben  sei  ein  Stück  nationaler  Arbeit  thatsächlich 
geleistet  und  eine  tschechische  überflüssig  gemacht 
worden.  Kein  anderer  der  örtlichen  nationalen  Schutz- 
vereine leiste  das  Gleiche,  und  doch  werde  keiner 
mehr  benörgelt  und  missachtet,  als  der  Hausfrauen- 
Verein.  Es  könne  nicht  genug  betont  werden,  dass 
der  Verein  besonders  die  Deutscherhaltung  des  hei- 
mischen Gewerbes  fördere.  Hunderte  von  deutschen 
Dienstboten,  die  der  Verein  mit  Aufwand  vieler  Mittel 
und  Arbeit  heranziehe,  wendeten  sich  der  Haus- 
industrie  zu,    gründeten    einen   Hausstand   und   ver- 

28 


434 


mehrten  den  Grundstock  deutscher  Familien  der 
Heimat  Von  dieser  Seite  aus  werde  die  Wirksamkeit 
des  Vereines  gar  nicht  betrachtet"  In  der  Nummer 
vom  3.  Ostermond  1902  schreibt  dasselbe  Blatt 
Folgendes:  „Vom  Bunde  der  Deutschen  in  Böhmen. 
Aus  Grünwald  wird  uns  geschrieben:  In  letzter 
Zeit  macht  der  Name  „Cilli"  viel  Staub,  so  auch 
Troppau,  Brunn,  Budweis.  Das  Slaventhum  sucht  mit 
Gewalt  überall  die  deutsche  Linie  zu  durchbrechen. 
Schritt  für  Schritt,  ohne  dass  es  beachtet  wird,  ge- 
schieht dieses  Vordringen  fast  naturgemäss.  Dieses  Vor- 
dringen aber  lässt  sich  durch  den  Willen,  durch  den 
festen  Willen  des  Angegriffenen  zurückhalten  oder 
wenigstens  doch  vermindern.  Durch  die  Gründung 
völkischer  Schutzvereine  ist  an  manchen  Orten  das 
Vordringen  zum  Stillstande  gebracht  worden,  manche 
gefährdeten  Orte  sind  gerettet  worden.  Der  mächtigste 
Schutzverein  ist  für  Böhmen  der  Bund  der  Deutschen. 
Auch  Grünwald  besitzt  eine  Ortsgruppe  des  Bundes. 
Aber  leider  steht  dieselbe  nicht  auf  jener  Stufe,  auf 
welcher  sie  sollte  und  könnte.  Darüber  werden  und 
können  sich  unsere  Gegner,  leider  auch  Deutsche,  nur 
freuen.  Die  Ursachen,  warum  viele  fernbleiben  und 
sogar  austreten,  sind  mitunter  sonderbarer  Art  Wenn 
vielleicht  eine  missliebige  Person  im  Vereine  ist,  wenn 
vielleicht  jemand  von  einem  Mitgliede  beleidigt  wird, 
so  kann  das  doch  keine  rechte  Ursache  sein,  den 
Verein  oder  die  gute  deutsche  Sache  dafür  büssen  zu 
lassen.  Viele  andere  ähnliche  Ursachen  halten  manchen 
zurück;  vielleicht  auch  nur  angeblich.  Möchte  sich  jeder 
vor  Augen  halten,  dass  der  Bund  nicht  politisch  ist,  dass 
er  nur  dem  Volke,  dem  bedrohten  und  armen  Deutschen 
dienen  soll;  möchte  jeder  bedenken,  welche  Erfolge  der 
Bund  erreicht  hat,  Erfolge,  welche  wir  hier  nicht  wahr- 
nehmen, welche  aber  an  der  Sprachengrenze  (Adlerge- 
birge, Trebnitz)  erzielt  worden  sind ;  möchte  jeder  be- 
denken, dass  die  Abwehr  der  slavischen  Gefahr  ein 
Nutzen  für  jeden  Einzelnen  und  für  seine  Nachkommen 
ist !  Möchte  jeder  bedenken,  dass  der  Mitgliedsbeitrag  (1 K 
20  h)  ein  sehr  geringer  ist,  dass  mit  Geld  viel  erreicht 
wird,  und  daher  jeder  Deutsche  dieses  kleine  Opfer  leiste, 
damit  die  gefährdetsten  Orte,  denen  keine  Geldmittel 


435 

zur  Verfügung  stehen,  gerettet  werden.  Soll  auch 
unsere  Heimat,  unser  Ort  nicht  in  Gefahr  gerathen, 
so  heisst  es,  jetzt  schon  auf  der  Hut  zu  sein.  Da  gibt 
■es  nur  ein  Mittel :  Deutsche,  unterstützet  den  deutschen 
Arbeiter,  den  deutschen  Handwerker  und  nehmt  in 
Eure  Familie  und  Euer  Haus  nur  Deutsche !  Dann 
ist  kein  Feind  hier,  dann  bleibt  uns  und  unseren 
Nachkommen  ein  Kampf  erspart,  ein  recht  lästiger 
und  schädlicher  Kampf.  Also  Deutschgesinnte  von 
Grünwald!  tretet  dem  Bunde  bei  und  wirkt  im  Sinne 
«des  Bundes."  Das  sind  nur  kleine  Beispiele  von  der 
Art,  wie  die  deutschnationale  und  alldeutsche  Presse 
:gegen  Angehörige  des  böhmischen  Volkes  hetzen. 

Die  „Politik"  schreibt  darüber  am  24.  September  1902 
folgendes :  Die  Spukgeister  des  Aufruhrs  wirken  eben 
fort  in  den  deutscljen  Landen  und  allüberall  herrscht 
hier  der  Obstruktionstrieb,  der  schon  einmal  in  solcher 
Ueberfülle  sieghaft  war.  Am  meisten  aber  ist  diese 
Willkür  im  Norden  Böhmens  zu  spüren,  der  ohnehin 
seit  jeher  ein  Gau  der  Lieblosigkeit  und  Unduldsam- 
keit war.  Was  hier  seit  Jahr  und  Tag  das  zur  Furiosität 
aufgestachelte  Nationalgefühl  gesündigt  hat,  das  hat 
in  erschreckender  Weise  den  von  Griliparzer  vorher- 
gesagten Entwickelungsgang  wahr  gemacht:  „Vom 
Humanismus  durch  den  Nationalismus  zum  Bestialis- 
mus."  Es  ist  ein  wahrer  Vertilgungskrieg,  der  hier 
wider  Alles  geführt  wird,  was  böhmisch  ist. 

Die  meisten  der  Städte  im  „geschlossenen  Sprach- 
gebiete" sind  böhmischen  Ursprunges.  Breite  Land- 
striche weisen  noch  heute  die  alten  böhmischen  Flur- 
namen auf.  Der  grösste  Theil  des  Ackerbodens  da- 
selbst ist  von  den  böhmischen  Ansiedlern  urbar  ge- 
macht worden,  die  meisten  Deutschen,  sofern  sie 
nicht  selber  böhmischer  Abkunft  sind,  haben  es  der 
Berufung  böhmischer  Könige  zu  danken,  dass  sie 
überhaupt  ins  Land  kamen.  Und  auch  heute  noch 
ist  das,  was  man  mit  Stolz  als  deutsche  Industrie 
bezeichnet,  zu  nicht  geringem  Theile  ein  Ergebniss 
böhmischen  Fleisses  und  böhmischer  Arbeit.  Trotz 
Alledem  aber  werden  unsere  Minoritäten,  die  doch 
«ine  wirtschaftliche  Nothwendigkeit  und  die  unerläss- 
iiche  Ergänzung  der  deutschen  Unternehmerlust  dar- 

28* 


436 


stellen,   wie   entrechtete   Eindringlinge,    wie  enterbter 
Parias   behandelt    Man   verkümmert   ihnen  mit  den 
brutalsten  Mitteln    des  Boycotts    die  Geltendmachung 
ihrer  staatsbürgerlichen  Rechte,  man  verweigert  ihnen 
das    Wort  Gottes   in    der    Muttersprache,   man    will 
ihnen    sogar    das   freie    Verfügungsrecht    über    die 
eigenen  Kinder  entreissen,  um  diese  schon  im  zarte- 
sten Alter   dem  angestammten   Volksthum    abtrünnig 
zu  machen.  In  jüngster  Zeit  hat  sich  zu  diesem  alten 
Brauche   noch   eine   ganze  Reihe  neuer  Trics  hinzu- 
gesellt. In  einer  Dorfschule  ist  der  Lehrer  verdächtig, 
ein  „Gechenfreund*    zu  sein,   flugs  wird  ein  Schüler- 
strike  veranstaltet,  und  kurze  Zeit  darauf  ist  der  miss-: 
liebige  Lehrer  beseitigt.   Ein  Kaplan  oder  Pfarrer  gilt 
als  Böhme;    die   Gemeinde    droht   mit   dem  Abfalle,, 
und   die  Verfügung   der  kompetenten  Instanzen  wird 
skrupellos  umgestossen.  In  einem  besonders  strammen 
Wetterwinkel  beschliessen  die  deutschen  Kleinstädter, 
einem  zutransferirten  böhmischen  Beamten  Wohnung 
und  Speisung  zu  verweigern  und  seine  Vorgesetzten 
revociren   pünktlich  die  Ernennung.    Die  Väter  einer 
Gemeinde,    die  eine   Bahn   erhalten  soll,    dekretiren, 
dass   blos   Beamte    deutscher  Nationalität   angestellt 
werden  dürfen,  und  die  Bahnverwaltung  sucht  dieselben 
gehorsamst  in  allen  Ecken  und  Winkeln  Oesterreichs 
zusammen.  Ein  besonders  kühner  Bürgermeister  ver- 
bietet die  Anbrigungen  zweisprachiger  Bahninschriften 
und  es  bleibt   bei  dem   angemassten  Diktate.    Ja,  in 
einem  Orte  ging  man  sogar  so  weit,   dass  man  vom 
Staate  das  urkundliche  Gelübde  abverlangte,  er  werde 
nie    und  nimmer,   was  auch  kommen    möge,    in  den 
Gau  einen  böhmischen  Beamten  entsenden.  Böhmische 
Vereine  wollen  ihr  statutarisches  Befugniss  geselliger 
Zusammenkünfte    ausüben;     irgend     ein    nationaler 
Schriftleiter  oder   sonst  ein   müssiger  Leuteverhetzer 
wiegelt   die  deutschen   Ortsbewohner  auf,    die  Lokal- 
blätter bringen  Aufrufe,   in  welchen   sie   zu  Massen- 
demonstrationen   und    förmlicher    Anwendung     von 
Brachialgewalt   animiren,    und  die  Behörde   schreitet 
gegen   die  böhmischen  Festveranstalter  ein  und  ver- 
bietet   ihnen    die  Ausübung   ihres  statutarischen  Be- 
fugnisses,   ihres  staatsbürgerlichen  Rechtes.    Auf  der- 


437 


^anderen  Seite  aber  wird  den  Deutschen,  wie  es  das 
Littauer  Exempel  zeigt,  der  Einbruch  in  böhmische 
Städte  zu  dem  eingestandenen  Zwecke  der  Auf- 
wühlung des  Bürgerfriedens  anstandslos  gestattet. 
Wo  immer  man  hinblicken  mag,  überall  drängt  sich 
-der  Geist  der  Auflehnung  hervor  und  überall  im 
deutschen  Lager  bleibt  er  sieghaft.  Die  Obstruktion 
und  der  Triumph,  der  ihr  zutheil  wurde,  wirken  all- 
überall in  ungeschwächter  Kraft  nach;  sie  dringen 
in  die  Städte  und  Dörfer  ein,  lösen  überall  die  Bande 
■des  Rechtes  und  erfüllen  die  Bewohner  mit  Unbot- 
mässigkeit  und  Unverträglichkeit  und  lassen  die  Geister 
-der  Revolte  nicht  zur  Ruhe  kommen.  Die  gouverne-* 
mentalen  Kreise  aber  nähren  und  fördern  diese  Stim- 
mung noch  durch  die  Benevolenz,  mit  der  sie  allen 
-diesen  Aeusserungen  des  überströmenden  deutschen 
Kraftgefühles  gewähren  lassen,  und  werden  dabei  gar 
nicht  inne,  dass  sie  damit  sich  selber  weit  mehr 
schaden,  als  uns  Böhmen.  Die  Kapitulation  vor  der 
deutschen  Obstruktion  hat  unserem  Volke  zwar  eine 
herbe  Enttäuschung  gebracht,  aber  unser  Recht  wird 
und  muss  über  kurz  und  lang  doch  wieder  zur  Geltung 
kommen;  weit  ärger  aber  wurde  der  Staat  in  die 
Mitleidenschaft  gezogen,  denn  er  wird  noch  lange 
:nicht  die  Erschütterungen  zu  überwinden  vermögen, 
welche  diese  Beugung  seiner  Autorität  rief.  Auch 
unsere  Minoritäten  werden  die  Drangsale  überdauern, 
welchen  sie  jetzt  ausgesetzt  sind;  ja,  sie  werden  da- 
durch nur  vor  Verweichlichung  und  Entnationalisirung 
bewahrt.  Aber  wohin  ein  Staatswesen  steuert,  das 
nicht  den  Willen  hat,  den  sich  immer  tiefer  einnisten- 
den Geist  der  Unbotmässigkeit  in  einem  grossen  Theile 
-seiner  Unterthanen  zu  bannen,  das  zu  errathen,  setzt 
wohl  keinen  allzugrossen  Scharfsinn  voraus.  Eine  Re- 
gierung, deren  Chef  sich  den  Deutschen  in  einem 
harten  Veto  verschrieb,  deren  Unterrichtsminister  sich 
an  alldeutschen  Redewendungen  gefällt,  deren  Justiz- 
minister durch  Geheimweisungen  die  Beamtenschaft 
irritirt  und  deren  Eisenbahnminister  vor  jeder 
Aeusserung  —  deutschen  Trotzes  zurückweicht:  eine 
solche  Regierung  besitzt  wohl  nicht  die  Eignung,  der 
-verkümmerten  Staatsautorität  wieder  zu  uneingeengtem 


438 


Respekte  zu  verhelfen.  Wohin  aber  steuern  wir  dann 
in  Oesterreich  ?u 

Das  stenographische  Protokoll  wimmelt  von  An- 
trägen alldeutscher  und  völkischer  Abgeordneten* 
welche  hinzielen  auf  Vertreibung  der  Angehörigen 
böhmischer  Nation.  So  enthält  das  stenographische 
Protokoll  der  Sitzung  vom  26.  Februar  1901  auf  Seite 
630  Folgendes:  „Anfrage  der  Abgeordneten  Dr.  Tschan,, 
Kittel,  Iro,  Berger,  Johann  Laurenz  Hofer,  Dr.  Eisen- 
kolb,  Eliemann  und  Genossen  an  Seine  Excellenz  den 
Herrn  Eisenbähnminister.  Die  k.  k.  Staatsbahn,  Di- 
rection  Pilsen,  Strecke  Dux-Pilsen,  durchfährt  von 
Dux  bis  Scheles  in  einer  Ausdehnung  von  100  Km. 
lediglich  rein  deutsches  Gebiet.  Nichtsdestoweniger 
sind  alle  Stationen  mit  doppelsprachigen  Aufschriften 
deutsch  und  Cechisch  versehen  und  ebenso  sind  auch* 
die  von  diesen  Stationen  ausgegebenen  Fahrkarten 
deutsch  und  öechisch.  In  einem  geradezu  entwürdi- 
genden Verhältnisse  stehen  aber  die  deutschen  Be-? 
amten  und  Diener  zu  den  Gechen,  wie  nachstehende 
Aufzählung  darthut: 
Orte 

Ladowitz     . 
Bilin    .    .    . 
Potscherad 
Postelberg 
Lischan  .    . 
Saaz    .    .    . 
Saaz  Heizhaus 
Schaboglück 
Kaschitz 
Podersam 
Rudig  .    . 
Kriegern 
Petersburg 
Pladen     . 
Scheles    . 

Im  Procenten  ausgedrückt  sind  in  diesen  rein 
deutschen  Stationen  18  Procent  deutsche  und  82 
Procent  öechische  Beamte   und   15  Procent  deutscher 


Beamte 


Diener 


iutsch 

b  techische 

deutsche 

Cechisc 

2 

4 

10 

90 

3 

4 

60 

40- 

— 

4 

14 

8& 

1 

3 

15 

85 

— 

3 

— 

100» 

3 

5 

15 

88- 

— 

— 

11 

89 

1 

2 

20 

80 

— 

5 



100- 

1 

4 

15 

8& 

— 

3 

15 

85 

— 

3 

— 

100 

— 

3 

33 

67 

— 

4 



100 

— 

3 

17 

83 

439 


und  85  Procent  cechische  Diener  angestellt.  Warum 
in  rein  deutschen  Stationen  auch  die  Diener  Gechen 
sein  müssen,  lässt  sich  nur  dadurch  erklären,  dass 
die  k.  k.  Staatsbahn  die  Cechisirung  in  diesen  rein 
deutschen  Gebieten  systematisch  betreibt.  Infolge 
dieses  ganz  unqualificirbaren  Vorgehens  der  k.  k. 
Staatsbahn  ist  auch  das  deutsche  Volk  auf  das  ärgste 
verbittert  und-  aufgeregt.  Es  erfolgt  deshalb  die  An- 
frage: „„Was  gedenkt  Seine  Excellenz  der  Herr  Eisen- 
bahnminister zu  veranlassen:  1.  Um  diesen  mit  den 
bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  in  Wider- 
spruch stehenden  Zustand  der  doppelsprachigen 
Stationsaufschriften  und  Fahrkarten  zu  beseitigen? 
2.  Um  in  diesen  rein  deutschen  Stationen  dem  deut- 
schen Volke  sein  Recht  auf  deutsche  Beamte  und 
deutsche  Diener  zu  wahren  ?uu  Wien,  23.  Februar  1901. 

Dagegen  brachte  der  Abgeordnete  Schneider  in 
der  Sitzung  vom  20.  März  1901  ein  anderes  Bild  zur 
Ansicht.  Es  heisst  im  stenographischen  Protokoll 
Seite  1533: 

„Interpellation  des  Abgeordneten  Schneider  und 
Genossen  an  Seine  Excellenz  den  Herrn  Eisenbahn- 
minister. Seit  der  mit  1.  Mai  1897  erfolgten  Ueber- 
nahme  der  Amtsleitung  der  Staatsbahndirektion  in 
Lemberg  durch  den  Direktor  Wierzbicki,  welcher  als 
Personalreferenten  seine  Vertrauten,  den  bisherigen 
Vorstand  des  Personalbureau  Georg  Guttmann  mit 
einigen  anderen  Beamten  mitgebracht  hat  (der  erste 
Fall  in  Oesterreich,  wo  ein  versetzter  Chef  seine  ganze 
Clique  mitnimmt),  wird  das  jüdische  Element  im 
Personalstande  des  Staatsbahndirektions-Bezirkes  Lem- 
berg in  erschreckender  Weise  successive  derart  ver- 
mehrt, dass  es  nur  noch  einer  kurzen  Zeit  bedarf, 
dass  dieses  Element  alles  beherrscht,  was  aus  nach- 
folgender Darstellung  entnommen  werden  möge;  Es 
wurden  als  Beamtenkandidaten  aufgenommen: 

im  Jahre  1897  1  Jude, 

„        „      1898  10  Juden, 
,        „      1899  11       „ 
„        „      1900  12      „ 

Die  Kandidaten  für  niedere  Posten  werden  nicht 
in  Berücksichtigung  gezogen.    Die  Bevorzugung  des 


440 


jüdischen  Elementes  tritt  bei  der  Besetzung  der  Posten 
bei  der  Staatsbahndirektion  selbst  sehr  drastisch  her- 
vor, und  zwar  waren  bei  dieser  Direktion  beschäftigt : 
im  Jahre  1896  31  Juden, 

»    »    KKK    ■ 

*        *      1898  40      , 
„        „      1899  42      „ 

und  ist  dieser  Stand  in  den  letzten  Monaten  auf  64 
gestiegen.  Die  meisten  Juden  sind  in  den  kommer- 
ziellen und  Eontrolbureaux  und  als  Erhebungskom- 
missäre beschäftigt  (auf  fünf  Erhebungskommissäre 
in  Verkehrsangelegenheiten  sind  vier  Juden  und  nur 
ein  Christ).  Bei  der  Exekutive  sind  die  Verhältnisse 
nicht  günstiger ;  in  der  Station  Lemberg  zum  Beispiel 
sind  unter  58  Beamten  18  Juden  beschäftigt  (und 
zwar  gegen  jede  Vorschrift  zwei  Brüder  Dubsky).  Die 
sich  um  Versetzung  von  einer  Station,  Dienststelle 
oder  von  einem  Status  in  den  anderen  zum  Zwecke 
eines  rascheren  Fortkommens  bewerbenden  Juden 
werden  sofort  berücksichtigt.  So  sind  viele  Juden  von 
der  Krakauer  und  Stanislauer  Direktion  zur  Lem- 
berger  Direktion  versetzt  worden  (in  letzterer  Zeit 
sind  zwei  solcher  Fälle,  und  zwar  die  Versetzung  des 
Bier  von  Krakau  und  die  des  Dubsky  von  Stanislau 
zu  verzeichnen).  Es  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Er- 
örterung, dass  das  fernere  Bestehen  der  bisherigen 
Verhältnisse  bei  der  Staatsbahndirektion  Lemberg, 
namentlich  das  Belassen  des  Personalreferates  in  den 
Händen  des  Guttmann,  welcher  das  unbeschränkte 
Vertrauen  seines  Chefs  in  einer  für  die  Verwaltung 
äusserst  schädlichen  Weise  missbraucht,  unberechen- 
bare Folgen  nach  sich  ziehen  würde." 

In  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  am  12. 
März  1901  war  die  Debatte  über  die  Bewilligung  des 
erhöhten  Rekrutenkontingents.  Der  verstorbene  Abge- 
ordnete Hofica  sagte  Folgendes:  (Stenogr.  Protokoll 
12.  März  1901,  Seite  1245.) 

„Seine  Excellenz  der  Herr  Landesvertheidigungs- 
minister  hat  die  Güte  gehabt,  uns  mitzutheilen,  dass 
er  den  sinnwidrigen  Erlass,  durch  den  die  Gendarmen 
in    böhmischen    Bezirken    und    Städten     gezwungen 


441 


waren,  bei  Gericht  in  rein  böhmischen  Streitsachen 
-deutsch  auszusagen,  schon  aufgehoben  hat.  Seine  Ex- 
zellenz hat  also  festgestellt,  dass  ich  ihm  Unrecht 
gethan  habe,  wenn  ich  diesen  Erlass  angegriffen  habe. 
Es  ist  nun  wieder  geheim  geblieben,  dass  dieser  Er- 
lass nun  hoffentlich  wirklich  bereits  aufgehoben  wurde. 
Dagegen  ist  die  Oeflfentlichkeit  gedrungen,  wie  noch 
vor  kurzem  kannibalisch  die  Gendarmen  bestraft 
wurden,  die  sich  erlaubten,  bei  Gericht  böhmisch  zu 
sprechen.  Wenn  also  Seine  Excellenz  diesen  Erlass 
aufgehoben  hat,  so  hat  er  gewiss  energisch  und  human 
gehandelt,  und  ich  hoffe,  geradeso  energisch,  wie  er 
versichert  hat,  dass  er  die  Dienstsprache  zu  wahren 
verstehe.  Aber  ich  will  nun  dazu  schreiten,  thatsäch- 
lich  zu  berichtigen,  was  uns  Seine  Excellenz  ver- 
schwiegen hat.  Seine  Excellenz  hat  nämlich  mit  keinem 
Worte  davon  Erwähnung  gethan,  in  welcher  Weise 
•die  Militärverwaltung  bei  der  Volkszählung  eine  ganz 
sonderbare  Politik  getrieben  hat.  Bei  uns  werden 
nämlich  die  statistischen  Ausweise  nicht  nach  der 
Umgangssprache,  sondern  nach  der  Nationalität  ge- 
geben, und  daraus  ergibt  sich  das  etwas  seltsame 
Schauspiel,  dass  es  in  der  österreichischen  Armee 
ungarische  und  polnische  Offiziere,  aber  keine  böh- 
mischen, keine  slovenischen  oder  kroatischen  Offi- 
ziere gibt.  Die  werden  geschmuggelt.  Wie  das  ge- 
schieht, das  wissen  wir  alle.  Wir  haben  doch  selbst 
gedient.  Man  nimmt  den  Mann,  wenn  man  sein  Grund- 
buchsblatt macht,  her  und  fragt  ihn,  ob  er  deutsch 
kann.  Wenn  er  sagt:  Ja,  ein  wenig  deutsch,  dann 
heisst  es,  seine  Umgangssprache  ist  deutsch,  und  in 
•der  Volkszählung  werden  auf  diese  Weise  bei  rein 
böhmischen  Regimentern  alle  Unteroffiziere  und  Offi- 
ziere, ob  sie  nun  Pospischil  oder  Kratochwill,  ob  sie 
nun  Nowak  oder  Nowotny  heiesen,  ob  sie  nun  ein 
gut  böhmisches  Herz  und  eine  feste  böhmische  Zunge 
haben  —  das  nützt  ihnen  nichts,  als  deutsch  einge- 
tragen. Es  ist  das  wichtig  zu  sagen,  weil  immer 
Herren  kommen,  welche  sagen,  wir  Deutsche  zahlen 
zwei  Drittel  aller  Steuern  in  Oesterreich.  Mit  diesen 
zwei  Dritteln  •  ist  es  gerade  so  wie  mit  der  Umgangs- 
sprache, die  dann  in  Nationalität  umgewandelt  wird. 


442 


Die  ganzen  Nationalitäten  verschwinden  durch  einen 
Zähluogsschwinde],  der  leider  auch  so  energisch  beim 
Militär  betrieben  wird,  und  durch  den  die  öechische 
Nation  um  Tausende  und  Abertausende  braver  öechi- 
scher  Söhne  ganz  einfach  betrogen  wird.  Ich  weiss, 
wie  zum  Beispiel  im  letzten  Jahre  bei  der  letzten 
Volkszählung  in  der  Kadettenschule  in  Prag  gezählt 
wurde.  Da  hat  man  natürlich  niemand  gefragt.  Die 
Umgangssprache  aller  war  die  deutsche  und  sind  alle 
400  Frequentanten  als  Deutsche  eingeschrieben  worden. 
Meine  Herren!  Man  wundert  sich,  dass  die  Leute 
jetzt  so  wenig  in  die  Kadettenschule  gehen,  denn, 
wie  Sie  wissen,  ist  jetzt  ein  grosser  Mangel  an  Fre- 
quentanten. Ja,  warum  denn?  Wenn  der  böhmische 
Beamte  seinen  Sohn  in  eine  Kadettenschule  gibt, 
dann  ist  der  arme  Teufel  moralischen  Misshandlungen 
preisgegeben,  und  es  ist  in  der  Armee  gang  und  gäbet 
dass  die  Kameraden  einen  solchen  Frequentanten  als 
„Sauböhm"  ansprechen.  Ja,  meine  Herren,  das  ist 
aber  etwas  Erlaubtes,  das  ist  nämlich  keine  Beleidi- 
gung, und  der  Beschimpfte  kann  nicht  zum  Rapport 
gehen  und  gehorsamst  melden,  er  sei  von  dem  und 
dem  „Sauböhm u  geschimpft  worden.  Da  sagt  ihm 
sogleich  der  Oberlieutenant:  „Sind  Sie  denn  kein 
Sauböhm?  Ist  denn  das  eine  Beleidigung?"  Das 
mochte  im  Mittelalter  geschehen  oder  vielleicht  noch 
in  vormärzlicher  Zeit,  wo  der  adelige  Offizier  da  war* 
der  schnell  vorwärts  gekommen  ist,  und  der  dienst- 
leistende Offizier,  der  arme  Teufel,  der  als  Koch  an^ 
gefangen  hat  und  endlich  mit  60  Jahren  Hauptmann 
geworden  ist." 

Am  schrecklichsten  entbrennen  die  nationalen 
Leidenschaften  in  Oesterreich  und  zwar  auf  allen 
Seiten  im  Norden  und  Süden  der  Monarchie  während 
d^r  Volkszählung.  Ueber  diese  Vorgänge  entspann 
sich  im  Abgeordnetenhause  am  20.  März  1901  eine 
eingehende  Debatte,  die  wir  wiederzugehen  uns  leider 
versagen  müssen  aus  Raummangel.  Wir  führen  hier 
nur  an  einige  Interpellationen  und  zwar  nach  dem 
stenographischen  Protokoll  der  12.  Sitzung  der  XV1L 
Session  vom  27.  Februar  1901,  Seite  681 : .  „Interpel- 
lation der   Abgeordneten   Silen?,   Dr.   Kurz,   Wenzel 


443 


Hruby  und  Genossen  an  Seine  Excellenz  den  Herrn 
Minister  des  Innern  in  Angelegenheit  der  Volkszäh- 
lung in  Znaim  und  in  Selletitz  bei  Znaim.  Auch  in 
Znaim  wurde  die  letzte  Volkszählung  am  31.  De- 
zember 1900  derart  durchgeführt,  dass  das  Resultat 
derselben  nicht  richtig  sein  kann  und  dass  diese 
Volkszählung  ungiltig  ist.  Dieselbe  wurde  etwa  unter 
solchen  Umständen  durchgeführt,  wie  in  der!  übrigen 
Orten  mit  (böhmischen)  Minoritäten  unter  dem  gegen 
das  böhmische  Volk  ausgeübten  deutschen  Terro- 
rismus. Diese  Volkszählung  hat  die  Stadtgemeinde 
Znaim  nicht  durch  ihre  „amtlichen"1  Zählungskom- 
missäre vorgenommen,  sondern  die  Zählungsbogen 
wurden  in  den  Häusern  vertheilt  und  zwar  aus  dem 
Grunde,  weil  diese  Zählungskommissäre  denn  doch 
für  die  „deutsche  Umgangssprache"  nicht  so  frei 
wirken  konnten,  als  wenn  die  Bogen  an  die  einzelnen 
Parteien  zur  Vertheilung  gelangen.  Durch  die  Zeitun- 
gen wurde  allerdings  bekanntgegeben  und  dann  durch 
besondere  gedruckte  Girkulare  den  Hausherren  strenge 
aufgetragen,  dafür  zu  sorgen,  dass  den  in  ihren  Häu- 
sern wohnenden  Parteien  niemand  die  Zählungsbogen 
ausfülle,  als  entweder  der  Hausherr  selbst  oder  die 
anlässlich  der  Volkszählung  von  der  Gemeinde  be- 
orderten Vertrauensmänner,  welche  jedermann  mit 
Rath  behilflich  sein  werden.  Und  diese  Vertrauens- 
männer haben  in  böhmischen  Familien  gehörig  ge- 
wüthet.  Vor  der  Volkszählung  schrieben  die  hiesigen 
Zeitungsblätter,  insbesondere  das  „Znaimer  Tagblatt" 
(welches  dem  preussischen  Staatsangehörigen  Karl 
Bornemann  gehört,  der,  obwohl  er  das  Druckerge- 
werbe nicht  erlernt  hat,  trotzdem  eine  Druckereikon- 
cession  besitzt),  dass  alle  in  Znaim  lebenden  Böhmen 
als  Deutsche  angemeldet  werden  müssen  und  dass 
jedermann,  der  Einfluss  und  Macht  besitzt,  einen 
jeden  Böhmen  als  Deutschen  anmelden  müsse.  Des- 
gleichen hat  der  Verein  „Eiche"  Plakate  affichirt,. 
womit  alle  Deutschen  aufgefordert  wurden,  ihre  Pflicht 
zu  thun  und  alles  als  deutsch  anzumelden.  Obwohl 
dieses  Beginnen  eine  Aufforderung  zu  gesetzwidrigen 
Handlungen  involvirte,  hat  der  Staatsanwalt  dennoch 
die  Konfiskation  nicht  verfügt.    Der  Hergang  bei  der 


444 


Volkszählung  war  nun  folgender :  1.  Zahlreiche  Haus- 
herren deutscher  Nationalität  haben  die  Zahlungs- 
höhen ihren  böhmischen  Miethsparteien  gar  nicht  zur 
Ausfüllung  übergeben,  sondern  von  denselben  bloss 
die  erforderlichen  Dokumente  (Tauf-  und  Heimat- 
scheine, Matrikenauszüge  etc.)  eingeholt,  selbst  aber 
die  Bogen  ausgefüllt,  ohne  in  die  letzteren  ihren 
Miethsparteien  Einsicht  zu  gewähren,  indem  sie  vorher 
die  nicht  ausgefüllten  Bogen  von  ihnen  fertigen  Hessen 
oder  aber  nicht  einmal  dieses  thaten.  Der  Feldwebel 
Slavik  des  99.  Regimentes  in  Znaim  hat  in  seinem 
Hause  in  Znaim  elf  Miethsparteien.  Die  Zählungsbogen 
hat  derselbe  diesen  Miethsparteien  gar  nicht  ausgefolgt, 
sondern  erst  als  sie  der  Wachmann  sammeln  kam, 
hat  dieselben  entweder  er  selbst  ausgefüllt  oder  der 
Wachmann  und  zwar  mit  der  deutschen  Umgangs- 
sprache, obwohl  dies  grösstenteils  böhmische  Par- 
teien sind ;  erst  nachher  Hess  er  die  Bogen  durch  die 
Parteien  fertigen.  Ein  Hausherr,  namens  Gandl,  hat, 
als  ihm  ein  Miether  den  Bogen  böhmisch  ausgefüllt 
hat,  in  seiner  Wuth  den  Bogen  in  den  Ofen  geworfen 
und  angeordnet,  dass,  wenn  der  betreffende  Miether 
den  zweiten  Bogen  nicht  deutsch  ausfüllt,  derselbe 
sofort  die  Wohnung  verlassen  müsse.  Ein  anderer, 
Herr  Habrdle,  Hausbesitzer  auf  dem  Ringplatze,  hat 
den  Miethsparteien  gleichfalls  alle  böhmisch  ausge- 
füllten Bogen  zurückgestellt.  Herr  Hosinsfy,  Sattler, 
hat  seinen  Leuten  die  Bogen  gleichfalls  gar  nicht  vor- 
gelegt und  Hess  sie  bloss  unterfertigen.  Als  die  letz- 
teren dagegen  protestirten,  sagte  er:  „Gut,  wenn  Ihr 
die  Bogen  böhmisch  ausgefüllt  haben  wollt,  so  packet 
Euch  gleich  aus  dem  Hause  !u  Auf  diese  und  ähnliche  Art 
wurden  sehr  viele  böhmische  Bewohner  durch  die 
Wuth  der  deutschen  Hetzer  dazu  gebracht,  dass  sie 
nachgegeben  haben,  indem  sie  sich  zur  deutschen 
Umgangssprache  anmeldeten.  Welchen  Werth  hat 
dann  eine  solche  „Volkszählung"?  2.  Andere  Haus- 
herren stellten  ihren  Miethsp'arteien  die  böhmisch  aus- 
gefüllten Zählungsbogen  zurück,  indem  sie  erklärten, 
es  sei  nicht  gestattet,  die  Bogen  böhmisch  auszu- 
füllen, noch  auch  die  böhmische  Umgangssprache  an- 
zugeben, da  —  wie   sie   hinzufügten    —  jedermann, 


445 


der  sich  zur  böhmischen  und  nicht  zur  deutschen: 
Umgangssprache  bekennen  würde,  aus  Znaim  abge- 
schoben werden  wird.  Böhmisch  ausgefüllte  Zählungs- 
bogen  wurden  von  den  Hausherren  zerrissen  und 
verbrannt,  den  Miethsparteien  aber  neue,  deutsch  aus- 
gefüllte  Bogen  (mit  der  deutschen  Umgangssprache) 
neuerdings  zur  Unterschrift  vorgelegt.  Diesem  Terro- 
rismus unterlagen  zahlreiche  böhmische  Arbeiter-  und 
Handwerkerfamilien,  wenn  sie  auch  kein  Wort  deutsch 
gekannt  haben.  3.  Als  die  böhmischen  Parteien  (böh- 
mische und  deutsche  Hausherren)  die  Zählungsbogen 
am  Rathhause  abgegeben  haben,  wurden  die  betref- 
fenden Familien  von  den  Vertrauensmännern  der  Ge- 
meinde (insbesondere  Fleischhacker,  Säckel  und  an- 
dere) überlaufen,  welche  deutsche  Abschriften  der 
ursprünglich  böhmisch  und  mit  der  böhmischen  Um- 
gangssprache ausgefüllten  Zählungsbogen  mitbrachten,, 
in  denen  jedoch  die  deutsche  Umgangssprache  ein- 
getragen war,  und  verlangten  von  den  böhmischen 
Parteien,  ja  zwangen  dieselben,  diese  Bogen  zu  unter- 
fertigen, weil  ihre  bei  der  Gemeinde  abgegebenen 
Zählungsbogen  unrichtig  und  ungiltig  seien,  sie  aber 
von  der  Gemeinde  entsendet  worden  seien,  diese 
neuen  korrekten  Bogen  unterfertigen  zu  lassen.  Unter 
diesen  Leuten,  die  so  manipulirt  haben,  befanden 
sich  auch  städtische  Wachleute  (wie  Smejkal  und 
der  Gemeindebeamte  Haase).  Die  Gemeiridebeamten 
hatten  zu  diesem  Zwecke  Amtsferien.  Diese  Aktion 
hatte  auf  das  Zählungsresultat  einen  bedeutenden 
Einfluss,  obwohl  hiezu  kein  Grund  vorhanden  war, 
denn  die  böhmisch  ausgefüllten  Bogen  waren  richtigt 
da  dieselben  von  drei  böhmischen  Kommissionen  aus- 
gefüllt worden  sind,  welche  in  verschiedenen  Stadt- 
theilen  errichtet  und  mit  genauen  Instruktionen  ver- 
sehen waren.  Die  böhmisch  und  mit  der  böhmischen 
Umgangssprache  ausgefüllten  Zählungsbogen,  welche 
bei  der  Gemeinde  abgegeben  worden  sind,  wurden 
beim  Polizeiamte  von  Polizisten  in  deutsche  umge- 
schrieben, wobei  auch  die  böhmische  Umgangssprache 
in  die  deutsche  umgewandelt  wurde.  Diese  Bogen 
wurden  sodann  von  den  Polizisten  und  sonstigen 
Agenten  zur  Unterschrift   mit  dem  Bemerken  ausge- 


446 


tragen,  dass  die  ursprunglichen  Bogen  unkorrekt  ge- 
wesen seien.  Belege  dieser  Unkorrektheiten  befinden 
sich  in  den  Händen  der  Vertreter  der  böhmischen 
Bevölkerung.  Die  weitaus  meisten  Arbeitgeber  haben 
ihre  Angestellten  als  Deutsche  angemeldet,  wenn  sie 
auch  kein  Wort  deutsch  gekannt  haben.  Solcher  An- 
gestellten gibt  es  in  Znaim  etwa  90  Percent  Böhmen  — 
ganz  abgesehen  von  den  Dienstmädchen.  Als  ein 
markanter  Fall  wird  bloss  angeführt,  dass  der  Bau- 
meister Schweighofer  die  Familien  der  bei  ihm  in  der 
Ziegelei  beschäftigten  Leute,  135  Personen  an  der 
Zahl,  als  Deutsche  angemeldet  hat,  obwohl  von  ihnen 
niemand  deutsch  kann  und  er  selbst  mit  ihnen  böh- 
misch sprechen  muss.  4.  In  denjenigen  Stadttheilen, 
wo  namentlich  die  ärmere  Arbeiterklasse  wohnt, 
wurde  durch  Gemeindewachleute  und  andere  Per- 
sonen verkündigt,  dass  jedermann,  der  sich  nicht  zu 
den  Deutschen  melden  wird,  ausgewiesen  werden 
wird." 

Auf  Seite  683  desselben  Protokolls  steht  fol- 
gende Interpellation: 

„Interpellation  der  Abgeordneten  Dr.  Kurz,  Dr. 
Sileny  und  Wenzel  Hrub^  und  Genossen  an  Seine 
Excellenz  den  Herrn  Ministerpräsidenten  als  Leiter 
des  Ministeriums  des  Innern. 

Bei  der  diesjährigen  Volkszählung  in  Budweis 
wurden  seitens  der  hiesigen  Deutschen  solche  Unkor- 
rektheiten verübt  und  eine  derartige  Pression  auf  nur 
halbwegs  abhängige  Gechen  ausgeübt,  dass  die  bei 
der  Volkszählung  erhobenen  Daten  gänzlich  unrichtig 
sind,  und  wenigstens,  was  die  Umgangssprache  be- 
trifft, der  Wahrheit  und  den  thatsächlichen  Verhält- 
nissen der  Bevölkerung  in  Budweis  ganz  und  gar 
nicht  entsprechen.  Da  die  Deutschen  in  Budweis 
sahen,  dass  ihre  Zahl  sich  fortwährend  vermindert 
und  daher  mit  Recht  besorgten,  dass  die  eben  durch- 
zuführende Volkszählung  ihre  Schwäche  im  richtigen 
Lichte  zeigen  wird,  so  wendeten  sie  alle  Mittel  an, 
um  die  grösstmögliche  Zahl  von  Cechen  auf  Deutsche 
umzuschreiben.  Zu  diesem  Behufe  scheuten  sie  weder 
Gewalt  noch  Betrug,  ja  ihre  Zutreiber  fürchteten  und 
schämten  sich  nicht,  selbst  als  gemeine  Diebe  in  die 


447 

AVohnungen  der  Cechen  einzubrechen,  daselbst  den 
Zählungsbogen  ohne  Wissen  des  Wohnungsinhabers 
zu  stehlen  und,  unrichtig  ausgefüllt,  dann  abzugeben. 
Es  klingt  dies  zwar  unglaublich,  nichtsdestoweniger 
ereignete  es  sich  so  im  Hause  Nr.-C.  31./UL  in  der 
Klaudiusgasse,  woselbst  in  die  Wohnung  einer  ge- 
wissen Katharina  J.  der  städtische  „Fleischrevisor" 
Winkler  mit  dem  Hausherrn  Ed.  Bayer  eindrang,  in 
ihrer  Abwesenheit  aus  dem  Koffer  ihren  Zählungs- 
bogen zugleich  mit  dem  Zählungsbogen  des  Jak.  Mayer, 
Gemeindestrassenkehrers,  nahm  und  ohne  Wissen  und 
gegen  den  Willen  dieser  Personen  die  Bogen  deutsch 
ausfüllte  und  abgab.  Der  eben  erwähnte  Mayer  wurde 
später,  als  er  verlangte,  mit  böhmischer  Umgangs- 
sprache eingeschrieben  zu  werden,  aus  den  Gemeinde- 
diensten entlassen.  Der  Gemeinde  Budweis  gebührt 
allerdings  an  allen  verübten  Inkorrektheiten  der  Lö- 
wenantheil,  denn  sie  übte  an  ihren  Angestellten  und 
an  nur  halbwegs  von  der  Gemeinde  abhängigen  Leuten 
die  unmoralischeste  Gewalt.  Nicht  nur  die  Gemeinde- 
wachmänner in  Givilkleidung,  sondern  auch  eine  ganze 
Meute  sogenannter  „ Meerschweinchen"  —  von  der 
Gemeinde  gezahlten  Agitatoren  niedrigster  Kategorie 
—  zerstreute  sich  in  der  ganzen  Stadt,  drang  in  alle, 
nur  halbwegs  von  der  Gemeinde  abhängige  Familien 
ein,  bot  sich  unter  dem  Vorwande  an,  dass  sie  aus 
dem  Rathhause  behufs  Ausfüllung  der  Fragebogen 
geschickt  sei,  und  machte  aus  den  Cechen  durch  einen 
Federstrich  Deutsche,  ohne  das  mindeste  nach  ihrer 
Umgangssprache  zu  fragen.  Wie  sie  sich  dabei  be- 
nahmen, davon  zeugen  folgende  Fälle : 

In  das  Haus  Nr.-G.  277./III.  kam  der  bereits  er- 
wähnte „Fleischrevisor"  Winkler,  bot  sich  an,  -dass 
er  die  Zählungsbogen  denMiethparteien  selbst  schreiben 
wird,  frug  sie  (allerdings  böhmisch)  über  ihr  Nati- 
onale aus,  Hess  dann  die  Bogen  in  bianco  unter- 
schreiben und  trug  sie  mit  dem  Bemerken  davon, 
dass  er  dieselben  zuhause  selbst  ausfüllen  werde.  So 
geschah  es  bei  Jakob  Weiss  (5  Familienmitglieder), 
bei  Katharina  Dvofäk  (2  Familienmitglieder),  bei  Franz 
Fiedler  (7  Familienmitglieder),  bei  Martin  Formänek 
(6  Familienmitglieder),   bei  J.  Hartl   (6   Familienmit- 


448 


glieder)  und  noch   bei   zwei   weiteren   Miethparteier* 
(6  Familienmitglieder),  sämmtlich   im   Hause   Nr.-CL 
27 7. /HL    Diese   sämmtlichen    Personen,    obwohl    sie 
Cechen  sind  und  obwohl  ihre  Umgangssprache  einzig 
und  allein  die  böhmische  Sprache  ist,  wurden  gegen 
ihren  Willen  und  ohne  ihr  Wissen  seitens  des  Winkler 
mit  deutscher  Umgangssprache  eingeschrieben.     Erst 
infolge  der  persönlichen  Intervention  des  Herrn  Jakob 
Weiss,  welcher  durch   Zeitungen   auf   die   betrügeri- 
schen Praktiken  Winklers  aufmerksam  gemacht  worden 
war,    geschah  es,    dass  bei  ihm   und   bei   Katharina 
Dvorak  die  Bogen  nachträglich  und  zwar  bereits   im 
Rathhause,  richtig  gestellt  wurden.  Die  Zählungsbogen 
der  übrigen  eben  genannten  Familien  blieben  jedoch 
auch  weiterhin  ohne  Korrektur,  obschon  die  in   den- 
selben von  Winkler  gemachten  Angaben  wissentlich 
falsch  und   nach   §   40    der    Volkszählungsvorschrift 
strafbar  sind.    Marie  Zabehlickä,  in  der  Bischofgasse 
Nro.  7,   hat  den  richtig   ausgefüllten   Zählungsbogen 
für  sich  und  ihre  Familie  abgegeben.    Nach  einigen 
Tagen  kam  zu  ihr  ein  gewisser  Doöekal,  „städtischer 
Angestellter",   brachte  ihr  einen  neuen  Bogen   unter 
dem  Vorwande,  dass  der  alte  Bogen  schlecht  ausge- 
füllt sei,  und  erlangte,    dass  ihm  dieser  neue  Bogen 
von  der  Frau  Zabehlickä  in  bianco  unterfertigt  wurde. 
Wie  sich  herausgestellt  hat,  bestand  die  von  Docekal 
durchgeführte  Korrektur  darin,  dass  er  die  ganze  Fa- 
milie gegen  deren  Willen,    ohne   deren  Wissen  mit 
der  deutschen  Umgangssprache  einschrieb,  obzwar  es 
eine  böhmische  Familie   ist.     Derselbe   Doßekal   hat 
auch  der  Frau  Kalät  in  demselben  Hause  die  Ferti- 
gung eines  leeren   Zählungsbogens   unter   dem   Vor- 
wande  herausgelockt,    dass    der   bereits    abgegebene 
Zählungsbogen  richtiggestellt  werden  müsse.  Auch  in 
diesem  Falle  wurde  die  Fertigung  des  neuen  Bogens 
nur  zu  dem  Zwecke  erschwindelt,  damit  diese  Familie 
sammt  dem  Aftermiether  Dr.   Sachs   unkorrekt   und 
gegen  ihren  Willen  mit  der  deutschen  Umgangssprache 
eingeschrieben  werde.  Bei  Herrn  Ernst  Laager  in  der 
Wienergasse  Nr.  10  wohnten  Frl.  Johanna  Laager  und 
M.  Zabehlickä  jun.,    die  beide  sich  in  den  Zählungs- 
bogen mit  böhmischer  Umgangssprache  eingeschrieben 


449 


haben.  Ihre  Angabe  wurde  jedoch  am  Rathhause  (un- 
bekannt durch  wen)  ohne  ihr  Wissen  und  gegen  ihren 
Willen  korrigirt  und  sie  beide  wurden  mit  deutscher 
Umgangssprache  eingeschrieben.  Benedikt  Mathias, 
Fabriksarbeiter,  und  Eozäk  Johann,  Schuhmacher, 
beide  wohnhaft  auf  der  Linzerstrasse  Nr.  76,  haben 
leere  Bogen  unterschrieben,  die  ihnen  Johann  Sleha, 
Gemeindeschreiber,  abnahm  und  sodann  ausfüllte; 
dieselben,  sowie  ihre  Familien  sprechen  nur  böhmisch, 
sind  aber  seitens  des  erwähnten  Sleha  mit  deutscher 
Umgangssprache  angemeldet.  Kohout  Peter,  Kutscher, 
Stadtpark  Nr.  38,  wurde  gegen  seinen  Willen  von 
Kajetan  Princ,  Gemeindeschreiber,  sammt  der  ganzen 
Familie  mit  deutscher  Umgangssprache  eingeschrieben. 
Eben  dasselbe  geschah  bei  Marie  Tichä,  Landstrasse 
Nr.  121,  der  ein  gewisser  Neubauer,  Gemeindeschreiber, 
den  Bogen  abgenommen  hat.  Der  deutsche  Lehrer 
Gans  kam  in  die  Wohnung  der  Frau  Ber  und  Herrn 
Koöi  in  der  Böhmgasse  Nr.  20  neu,  bot  sich  zur  Aus- 
füllung der  Zählungsbogen  an  und  schrieb  die  eben 
genannten  Familien  mit  deutscher  Umgangssprache 
ein,  obwohl  diese  Familien  deutsch  überhaupt  nicht 
sprechen. 

Aber  die  Gemeinde  Budweis  hat  noch  in  einer 
anderen  Weise  dafür  Sorge  getragen,  dass  die  Zahl 
der  Deutschen  bei  der  Volkszählung  vermehrt  werde. 
Die  böhmischen  Gemeindeangestellten  wurden  aufge- 
fordert, sich  im  Rathhause  einzufinden,  wo  ihnen  die 
Zählungsbogen  ausgefüllt  und  sogleich  auch  abge- 
nommen wurden.  Die  Gemeindestrassenkehrer  Mayer, 
Lexa  und  Bukaö  wurden  aus  der  Arbeit  entlassen, 
weil  sie  sich  zur  böhmischen  Umgangssprache  bekannt 
haben.  Die  Folge  davon  war,  dass  sich  alle  übrigen 
durchwegs  als  Deutsche  meldeten,  mancher  von  ihnen 
vielleicht  nach  hartem  Kampfe  in  seinem  Innern.  Es 
sind  dies  insbesonders  folgende  Gemeindearbeiter 
und  Angestellte,  welche  gezwungen  waren,  sich  und 
ihre  Familien  mit  deutscher  Umgangssprache  anzu- 
melden, obschon  sie  nach  ihrer  Abstammung  und 
Sprache  Cechen  sind: 

Piskäöek  Josef,  Kneisselgasse  Nr.  160, 

BlaZek  Laurenz,  Wienergasse  Nr.  8, 

29 


450 

Stfcpän  Felix,  Plactrfgasse  Nr,  184, 
Rataj  Johann,  Plach^gasse  Nr.  21, 
Liäka  Josef,  Schanzgasse  Nr.  16, 
Heller  Franz,  Altstädtergasse  Nr.  29  a), 
Sima  Thomas,  Backhausgasse  Nr.  288, 
Zahrädka  Johann,  Backhausgasse  Nr.  75  neu, 
Moudry  Anton,  Backhausgasse  Nr.  89  neu, 
Holy  Kaspar,  Backhausgasse  Nr.  89  neu, 
Prokeä  Peter,  Todtengräber  am  jüdischen  Fried- 
hof Nr.  646/IL, 

Noväk  Franz,  Haasgasse  Nr.  32, 
Vlöek  Augustin,  Pflasterer  (hat   Gemeindearbeit), 
Gymnasium gasse  Nr.  521, 

Subrt  A„  Chorsänger,   Gymnasiumgasse  Nr.  404, 
Pechotsch  Wenzel,  Girowetzgasse  Nr.  513, 
Toman  Kamillo,  Fischgasse  Nr.  64, 
Urban  Matthäus,    Musiker   bei   den    „Schützen", 
Linzerstrasse  Nr.  29  a), 

PuCelik  August,  Arbeiter  im  Wasserthurm, 
Komärek  Adalbert,  Wunderlichgasse  Nr.  35, 
Nuska  Josef,  Pragerstrasse  Nr.  724, 
Libl  M.,  städtische  Hebamme,  Wienergasse  Nr.  8, 
Höffer  M.,  Wienergasse  Nr.    8  (bezieht   von    der 
Gemeinde  eine  Unterstützung). 

Dass  auf  die  bei  der  Gemeinde  beschäftigten 
Arbeiter  thatsächlich  eine  Pression  ausgeübt  wurde, 
dies  beweist  besonders  klar  der  folgende  Fall :  Thomas 
Krfcka,  Gemeindearbeiter,  kam  zum  Redakteur  der 
„Jihoöesk6  Listy",  Herrn  Kubicek,  und  Hess  sich  bei 
ihm  aus  eigener  Motion  den  Zählungsbogen  ausfüllen. 
Dieser  füllte  den  Bogen  natürlich  böhmisch  aus,  weil 
die  sämmtlichen  Mitglieder  der  Familie  böhmischer 
Nationalität  sind,  und  zwar:  Thomas  Kröka,  seine 
Frau  Marie,  die  Nichte  Emilie  Einöder,  Fabriksarbei- 
terin, und  die  vierjährige  Rosa  Bernardickä,  welche 
bei  der  Familie  KrCka  erzogen  wird.  Als  Kröka  jedoch 
den  Bogen  abgeben  sollte,  kam  er  mit  seiner  Frau 
wieder  zum  Redakteur  Kubißek  und  ersuchte  sicht- 
lich bewegt,  ihm  einen  anderen  Bogen  zu  verschaffen 
und  deutsch  auszufüllen,  weil  die  Gemeinde  jene 
Arbeiter,  welche  sich  zur  böhmischen  Umgangssprache 
bekennen,  aus  der  Arbeit  entlasse,  und  machte  gleich 


451 


einige  Arbeiter  namhaft,  welche  entlassen  wurden. 
Als  Redakteur  Kubiöek  dieses  sein  Ersuchen  abwies, 
verschaffte  er  sich  selbst  einen  anderen  Bogen  und 
liess  ihn  auf  dem  Rathhause  so  ausfüllen,  wie  es  die 
Herren  bei  der  Gemeinde  wünschten,  das  heisst  mit 
-der  deutschen  Umgangssprache.  Aus  Furcht  vor  dem 
Verluste  seiner  Existenz  gab  also  Krcka  wissentlich 
-eine  Unwahrheit  an,  und  zwar  nicht  nur  rücksicht- 
lich seiner  selbst,  sondern  auch  rücksichtlich  seiner 
Frau  und  der  beiden  übrigen  Mitbewohner,  von  denen 
überhaupt  niemand  deutsch  kann,  was  übrigens  be- 
züglich der  Familien  aller  eben  genannten  Gemeinde- 
Angestellten  gilt. 

Gharakterisch  ist  auch  der  folgende  Fall:  Georg 
Frey,  städtischer  Wachmann,  Mühlfeldgasse  Nr.  1.95, 
liess  seine  Frau  und  seüie  zwei  Kinder  mit  deutscher 
Umgangssprache  einschreiben,  obwohl  weder  sie  noch 
■die  Kinder  deutsch  können  und  auch  nicht  sprechen. 
In  seinem  Familienbogen  sind  noch  zwei  andere  Per- 
sonen eingetragen,  welche  bei  ihm  überhaupt  nie 
wohnen  und  auch  am  Tage  der  Volkszählung  nicht 
wohnten.  Dieser  Fall  deutet  darauf  hin,  dass  die  Zahl 
der  deutschen  Bewohner  in  Budweis  künstlich  erzeugt 
wurde,  und  gibt  es  viele  solche  Fälle,  was  wir  be- 
weisen werden,  wenn  unserem  Vertrauensmanne  ge- 
stattet werden  wird,  in  die  amtlichen  Zählungsbogen 
Einsicht  zu  nehmen.  Hinter  der  Gemeinde  Budweis 
blieb  das  hiesige  deutsche  Bräuhaus  keineswegs  zurück. 
Die  Bräuhausangestellten  wurden  kontroliert,  was  sie 
in  den  Zählungsbogen  und  insbesondere  in  die  Rubrik  13 
eintragen,  die  Zählungsbogen  mussten  sie  in  der 
Kanzlei  vorlegen  und  dort  wurde  ihnen  die  deutsche 
Umgangssprache  hineingeschrieben,  wenn  auch  die 
Mehrzahl  der  Arbeiter  gar  nicht  deutsch  kann.  Und 
wehe  dem  Arbeiter,  der  es  wagen  würde,  gegen  den 
Willen  der  Brauereiverwaltung  den  Bogen  auszufüllen. 
So  geschah  es,  dass  die  folgenden  Angestellten  des 
bürgerlichen  Bräuhauses  sich  und  ihre  Familie  mit 
deutscher  Umgangssprache  anmeldeten,  obzwar  ihre 
Frauen  und  Kinder  deutsch  überhaupt  nicht  kennen 
und  im  Familien  verkehr  nur  böhmisch  gesprochen 
wird : 

29* 


452 


Bauer  Wenzel,  Girowetzgasse  Nr.  453, 
Ploner  Wenzel,  Moosgasse  Nr.  44, 
Neuzil  Martin,  Linzerstrasse  Nr.  49, 
Bina  J.,  Kutscher,  Linzerstrasse  Nr.  11, 
Spfcvak  Franz,  Böttcher,  Moosgasse, 
Zerl  Anton,  Arbeiter,  Mühlfeldgasse  Nr.  17 
u.  s.  w. 
Die  sämmtlichen  Fälle,  wo  die  Brauereiangestellten 
infolge  Pression  von  Seite   der  Verwaltung  der  deut- 
schen Brauerei  unkorrekt  gemeldet  sind,   werden  wir 
nach  Einsichtnahme  in  die  Zählungsbogen  anführen; 
die  eben  genannten  Fälle  sind  nur  eine  kleine  Probe 
davon."  ^ 

Damit  haben  wir  nur  einige  Beispiele  angeführt 
wie  die  Nationalitätenzählung  in  Oesterreich  betrieben 
wird.  Auf  dieser  Art  Zählung  wird  dann  das  be- 
rüchtigte geschlossene  deutsche  Sprachgebiet  kon- 
struirt,  auf  welchem  auch  das  berüchtigte  Buch  über 
die  nationale  .  Theilung  der  Diöcesen  im  Königreich 
Böhmen  beruht.  Wenn  wir  die  Interpellationen  eines 
Schoenerer  lesen  oder  die  furchtbaren  Hetzerein  der 
alldeutschen  und  völkischen  Presse,  so  finden  wir 
eine  Erklärung,  diese  Leute  suchen  und  finden  darin 
ihr  Brod.  Aber  was  sollen  wir  sagen,  wenn  die  ano- 
nymen Schreiber  der  schon  citierten  Schandschrift 
„Zur  Frage  deutscher  Bisthümer  in  Böhmen"  auf 
Seite  76  (2.  Auflage)  folgendes  leisten:  „Man  fürchtet 
also  angeblich  für  die  Seelsorge  der  öechischen  Mi- 
noritäten in  dem  Falle,  dass  die  Diöcesen  sprachlich 
getrennt  wären.  Es  läge  die  Antwort  nahe,  dass  unser 
Augenmerk  wohl  vor  allem  auf  die  Seelsorge  der  er- 
drückenden Majoritäten  der  deutschen  Bevölkerung 
gerichtet  sein  müsse,  welche  durch  die  Theilung  be- 
fördert werden  soll  (werden  die  Opitzianer  nach  der 
Durchführung  der  nationalen  Theilung  der  Diöcesen 
etwa  eifriger  in  der  Seelsorge  arbeiten  als  sie  es 
jetzt  thun,  wer  hindert  sie  am  Eifer?  Schamlose  Pha- 
risäer!), damit  sie  nicht  als  „Indianer",  als  „Schwarze 
irgendwo  in  Mittelafrika"  behandelt  werden  (diesen 
Vorwurf  müsste  man  nur  auf  Rechnung  der  Opitzianer 
setzen),  indem  das  zusammenhängende  deutsche 
Sprachgebiet  Böhmens  (welches  in  Wirklichkeit  eben 


453 


nicht  besteht)  in  dem  oben  berührten  Sinne  zum 
„Missionsland"  herabgedrückt  wird.  Erst  wenn  diese 
besorgt  sein,  so  könnten  wir  auch  an  die  Minoritäten 
denken.  (Welche  Logik!)  Doch  nein,  wir  wollen  gerade- 
aus unsere  Meinung  sagen,  indem  wir  uns  auf  die  Worte 
«ines  ruhig  prüfenden  Autors  beziehen  (Weihbischof 
Frind :  Das  sprachliche  und  sprachlich  nationale  Recht, 
Seite  109):  Wer  ob  seines  Broterwerbes  unter  einer 
fremden  Nation  sich  ansiedelt,  hat  es  sich  selbst  zu- 
zuschreiben, wenn  er  auf  manches  Liebe  und  Schöne 
verzichten  rauss,  das  ihm  die  eigentliche  Heimat  ge- 
boten. Dahin  gehört  auch  der  Verzicht  auf  seine  Spra- 
che als  Verkehrsmittel.  Das  eigene  Gesammtinteresse 
nöthigt  den  Einwanderer  in  den  Verkehr  mit  der  Be- 
völkerung zu  treten.  Aus  seinem  Interesse  folgt  die 
natürliche  und  sittliche  Notwendigkeit  (wie  kommt 
hierher  das  Wort  sittlich?  Ist  der  böhmische  Arbeiter, 
der  sein  Brod  im  Schweisse  seines  Angesichtes  ver- 
dient und  sein  Leben  daran  setzt,  ein  Sünder,  wenn 
er  die  Sprache  seines  Ausbeuters  nicht  erlernt?),  dass 
er  die  Sprache  des  neuen  Domicils  erlerne.  Nur  selten 
wird  das  Interesse  ein  umgekehrtes  sein  oder  er  selbst 
uninteressiert  bleiben  oder  beruflich  ausser  Zusammen- 
hang mit  der  Bevölkerung  stehen,  das  mag  eine  Last 
für  ihn  sein,  die  der  bereits  Ansässige  nicht  hat,  aber 
diese  Ungleichmässigkeit  der  Vertheilung  der  Last 
gründet  sich  auf  die  Natur  des  Gesellschaflskörpers, 
demzufolge  nicht  der  winzige  Theil  dasselbe  bedeutet, 
wie  die  moralische  Gesammtheit."  Man  muss  wirklich 
alle  Kraft  zusammennehmen,  um  diese  Ergüsse  einer 
solchen  edlen  Seele  zu  lesen.  Es  wurde  noch  nie  in 
einer  ekelhafteren  Form  das  Recht  des  Stärkeren 
gelehrt,  als  es  hier  geschieht.  Wir  wollen  uns  mit 
diesen  Ergüssen  „der  Nächstenliebe"  des  Dr.  Frind 
nicht  weiter  abgeben. 

Damit  wir  doch  das  ganze  Trauerspiel  der  Unter- 
drückung der  slavischen  Nationen  in  Oesterreich  er- 
kennen, wollen  wir  die  Staatsgrundgesetze  anführen, 
welche  von  den  Deutschen  am  21.  Dezember  1867 
ausgegeben  und  vom  Monarchen  sanktioniert  worden 
sind.  Artikel  II.  Vor  dem  Gesetze  sind  alle  Staats- 
bürger  gleich.     Artikel   III.    Die    öffentlichen  Aemter 


454 


sind  für  alle  Staatsbürger  gleich  zugänglich.  Artikel  IV. 
Die    Freizügigkeit    der   Person   und   des   Vermögens 
innerhalb    des   Staatsgebietes    unterliegt   keiner  Be- 
schränkung.   Artikel  VI.    Jeder  Staatsbürger  kann  an 
jedem  Orte  des  Staatsgebietes  seinen  Aufenthalt  und 
Wohnsitz  nehmen,  Liegenschaften  jeder  Art  erwerben 
und   über   dieselben   frei   verfügen,    sowie  unter  den 
gesetzlichen  Bedingungen  jeden  Erwerbzweig  ausüben. 
Artikel  VIII.  Die  Freiheit  der  Person  ist  gewährleistet. 
Artikel  XIX.  Alle  Volksstämme  des  Staates  sind  gleich- 
berechtigt  und  jeder  Volksstamm    hat  ein  unverletz- 
liches Recht  auf  Wahrung  und  Pflege  seiner  Nationa- 
lität und  Sprache.  Die  Gleichberechtigung  aller  landes- 
üblichen  Sprachen   in  Schule,  Amt  und  öffentlichen 
Leben   wird  vom  Staate  anerkannt.  An  der  Kxeiirung* 
dieser  Staatsgrundgesetze  waren    damals  die  böhmi- 
schen Abgeordneten  nicht  betheiligt,  sie  sind  nur  von 
Deutschen  abgestimmt  worden.   Man  vergleiche  doch 
mit  diesen  Staatsgrundgesetzen   die  nackte  Wirklich- 
keit.   Schon    der   IV.  Artikel    von   der   Freizügigkeit 
macht  doch  alle  sogenannten  geschlossenen  Sprach- 
gebiete  unmöglich.    Man  versuche   nur  einem  Juden 
auf  die   Zehe   zu  treten,    so   schreit   er  gleich   nach. 
Wahrung  der  Rechte  des  Staatsbürgers  und  zu  seinem 
Schutz  rückt  gleich  Militär  aus.  Der  böhmische  Arbeiter 
aber  ist  ein  Parias  in  Oesterreich. 

XXVI.  Die  Ausbeutung  der  Völker  durch  das  inter- 
nationale Kapital. 

Während  die  Regierungen  der  Weltmächte  darnach 
streben,  ihre  Herrschaft  möglichst  zu  verbreiten,  haben 
sie  im  Laufe  der  letzten  50  Jahre  eine  andere  Macht 
über  sich  heranwachsen  lassen,  welcher  sämmtliche- 
sogenannte  Kullurstaaten  ohne  Ausnahme  jetzt  unter- 
worfen sind,  es  ist  das  internationale  Kapital,  welches 
weder  Geschichte  noch  Abstammung,  noch  Vaterland 
kennt  und  lediglich  auf  Gewinn  ausgeht  und  in  der 
Gewalt  einiger  weniger  Besitzer  sich  befindet.  Niemand 
lässt  seine  Tasche  freiwillig  von  Jemandem  anderen 
visitieren  und  so  können  auch  die  Angaben  über  das 
Kapitalsvermögen  nur  den  Werth  der  Wahrscheinlich- 
keit beanspruchen.     Der  Werlh    des  Eigenthums  der 


455 


Welt  in  Geld  ausgedrückt  soll  etwa  450.000  Millionen 
Dollars  betragen.  Das  geprägte  Silber  und  Goldgeld 
soll  etwa  7500  Millionen  Dollars,  davon  das  Goldgeld 
allein  etwa  3750  Millionen  Dollars  betragen. 

Nach  Mulhall  betrüg  der  Reichthum  Europas 
am  Ende  des  19.  Jahrhundertes  1,175.000  Millionen 
Mark,  davon  das  bewegliche  Kapital  allein  500.000 
Millionen  Mark.  Hinsichtlich  des  Gesammtreichthums 
ordnen  sich  die  Hauptstaaten  Europas  iti  folgender 
Reihenfolge:  England  295  Milliarden,  Frankreich  247, 
Deutschland  201,  Russland  160,  Oesterreich  103,  Ita- 
lien 79,  Belgien  25,  Holland  22  Milliarden.  —  Die  Ent- 
wicklung des  Reichsthums  im  19.  Jahrhundert  ist  be- 
sonders in  England  eine  ungewöhnliche  gewesen, 
während  sie  für  Frankreich  weit  geringere  Verschie- 
bungen aufweist.  Das  bewegliche  Kapital  wird  für  die 
wichtigeren  Staaten  wie  folgt  angegeben :  England  106 
Milliarden,  Frankreich  65,  Deutschland  37,  Russland  14, 
Oesterreich  10,  Italien  und  Belgien  je  7,  Holland  6 
Milliarden.  Die  Reihenfolge  ist  also  dieselbe  wie  bei 
dem  Gesammtreichthum,  aber  das  Verhältniss  ist 
schwankend,  am  grössten  ist  es  bei  den  Industrie- 
ländern, am  schwächsten  bei  denen,  deren  Industrie 
und  Handel  erst  am  Anfang  ihrer  Entwicklung  stehen. 
Während  es  in  England  35  v.  H.  beträgt,  in  Belgien 
28,  in  Holland  27,  in  Frankreich  26,  in  Deutschland 
18,  fällt  es  in  Russland,  Oesterreich  und  Italien  auf 
9  v.  H.  Wenn  das  Gesammtvermögen  der  einzelnen 
Länder  auf  die  Kopfzahl  der  Bevölkerung  berechnet 
wird,  so  gelangt  man  zu  einer  anderen  Reihenfolge. 
Jeder  Engländer  besitzt  durchschnittlich  etwa  5920 
Mark,  der  Franzose  5290,  der  Holländer  3680,  der 
Belgier  und  Deutsche  je  3120,  der  Oesterreicher  und 
Italiener  je  2000  und  der  Russe  1200  Mark.  Wenn 
nur  das  bewegliche  Kapital  in  Betracht  gezogen  wird, 
so  besitzt  der  Engländer  im  Durchschnitt  2120  Mark, 
der  Franzose  1360  Mark,  der  Holländer  1000,  der 
Belgier  855,  der  Deutsche  und  Italiener  je  560,  der 
Russe  115  Mark.  Die  Belastung  des  Budgets  für  die 
verschiedenen  Staaten  Europas  wird  in  runden  Ziffern 
folgendermassen  angegeben :  Deutschland  4  Milliarden, 
also  2  Proc.    seines   Gesammtreichthums,   England  3 


456 

Milliarden  oder  1  Proc,  Frankreich  3y2  Milliarden 
oder  1*4  Proc,  Russland  2  Milliarden  700  Millionen 
oder  17  Proc,,  Oesterreich  2  Milliarden  oder  1-8  Proc, 
Italien  1  Milliarde  800  Millionen  oder  2-3  Proc.,  Belgien 
375  Millionen  oder  15  Proc,  Holland  300  Millionen 
oder  1*4  Proc.  Danach  würde  die  Belastung  des  Na- 
tionalvermögens durch  die  Staatsausgabe  in  Italien 
am  grössten  sein  und  es  folgen  weiter:  Deutschland, 
Oesterreich,  Russland,  Belgien,  Frankreich,  Holland 
und  England. 

Nach  den  Schätzungen  des  internationalen  stati- 
stischen Institutes  war  das  bewegliche  Vermögen 
Europas  Ende  1897  folgendermassen  konskribiert : 

im  Milliarden 
Francs 

England 7.246,902.736  Pfund  Sterl.     .  =  182-6 

Niederlande 6.486,480.000  Gulden      .   .   .  =  13*6 

Belgien 6.193,419.000  Francs      .   .   .  =  6-2 

Deutschland      ....  78.641,000.000  Mark =  92*0 

Oesterreich 11.680,800.000  Gulden  ö.  W.  .  =  24-6 

Italien 17.500,000.000  Lire =  175 

Rumänien 1.214,048.000  Lei =  1-2 

Norwegen 600—600  MilL  Kronen    .  =  0'7 

Dänemark 2.045,679.000  Kronen     .  .   .  =  2  7 

Frankreich     80.000,000.000  Francs      .    .   .  =  80-0 

Russland 25.439,000.000  Francs      .   .   .  =  25*4 


Zusamen  rund  .    .  446*4 

Dieses  riesige  Vermögen  erfordert  eine  jährliche 
Verzinsung,  welche  in  die  Kassen  der  Kapitalisten 
strömt.  Die  christlichen  Völker  Europas  dürften  jähr- 
lich an  das  Kapital  4000  Millionen  Mark  reichsdeut- 
scher  Währung  Zinstribut  entrichten,  dabei  sind  nicht 
gerechnet  die  Steuern  und  die  Hypothekarschulden 
in  ihrem  ganzen  Umfang.  In  der  angeführten  Summe 
des  beweglichen  Besitzes  sind  die  Staatsschuldscheine 
und  auch  Hypothekarbelastungen,  nämlich  die  Pfand- 
briefe einbegriffen.  Aber  die  übrigen  Grundbuch- 
schulden sind  hier  nicht  angegeben.  Sie  werden  für 
Europa  auf  60.000  Millionen  Mark  geschätzt.  Das  ist 
eine  Zinsenlast  jährlich  von  mindestens  240  Millionen 
Mark.  Nehmen  wir  noch  dazu  die  Staatsausgaben  von 
ganz  Europa,  die  sich  jährlich  auf  ungefähr  25.000 
Millionen  Mark  belaufen,  so  haben  wir  folgende  Lasten : 
Zinsen  des  Kapitalsvermögens  4000  MilL  Mark,  Zinsen 


457 


für  die  Hypothekarschulden  240  Mill.  M.,  öffentliche 
Lasten  u.  Steuern  25.000  MilL  M.  Diese  furchtbare  Last, 
welche  auf  den  Völkern  Europas  ruht,  ist  nicht  einmal 
50  Jahre  alt.  Wie  lange  können  die  Völker  diese  Last 
ertragen  ?  Wir  sind  der  Ueberzeugung,  dass  der  Zeit- 
punkt kommen  wird,  wo  die  Völker  den  Nationalitäten- 
streit  werden  fallen  lassen,  und  werten  genöthigt 
sein,  ihre  Existenz  zu  wahren  vor  dem  Erdrückt- 
werden durch  das  internationale  Kapital.  Während 
die  Deutschen  in  Oesterreich  nach  der  deutschen 
Staatssprache  rufen,  zahlen  die  Steuerträger  Oester- 
reichs,  worunter  also  auch  die  Deutschen  sind,  ruhig 
jährlich  400  Mill.  Kronen  Zinsen  in  das  Ausland  für 
österreichische  Wertpapiere,  die  sich  in  den  Händen 
ausländischer  Kapitalisten  befinden.  Dabei  wissen 
auch  die  Deutschen  nicht,  ob  dieser  riesige  Tribut 
dem  Kaiman  Levy  in  Paris  oder  dem  Bleichröder  in 
Berlin  in  die  Taschen  fliegst  Wir  geben  nun  eine 
gedrängte  Darstellung  der  Kapitalskräfte  einzelner 
Staaten,  soweit  wir  eben  das  Material  bei  der  Hand 
haben. 

ö)  Der  Kapitalismus  in  Oesterreich. 

Nach  dem  Raubzuge  Preussens  gegen  Oesterreich 
im  J.  1866  begann  in  diesem  Reiche  die  Herrschaft 
der  Judenliberalen,  die  nur  durch  eine  kurze  Pause 
des  Ministeriums  Hohenwart  unterbrochen  war.  Der 
Kapitalismus  feierte  in  Oesterreich  seine  Orgien,  an 
welchen  sich  auch  die  Minister  wie  Giskra,  Banhans, 
Finanzminister  Brück  in  hervorragender  Weise  be- 
theiligten. Für  die  Geschäfte,  welche  zum  Beispiel 
Finanzminister  Brück  besorgte,  wäre  die  richtige  Di- 
vidende der  Galgen  oder  mehrjähriger  Aufenthalt  im 
Zuchthaus. 

Die  Zeiten  sind  nun  vorüber,  das  Gründerthum 
ist  im  Misskredit,  das  Publikum  ist  arm  geworden 
und  lässt  sich  jemand  fangen,  so  geschieht  es  nur 
durch  einen  Betrug  beim  Advokaten  oder  Wechsel- 
stubeninhaber, die  dann  im  gegebenen  Momente 
entweder  Cyankali  oder  Revolver  nehmen  oder  rasch 
über  das  grosse  Wasser  nach  New-York  zu  kommen 
trachten.  Nichtsdestoweniger  ist  das  mobile  Kapital  in 


458 


Österreich  zu  einer  ansehnlichen  Höhe  herange- 
wachsen. Der  Hauptgrund  der  Entwicklung  des  Ka- 
pitalismus ist  das  Schuldenmachen  im  populären 
Sinne.  Heute  ist  Jedermann  voll  von  Schulden,  vom 
Staate  angefangen  bis  zum  letzten  Häusler;  die  In- 
haber der  Schuldscheine  sind  die  glücklichen  Kapi- 
talisten. 

Ende  des  Jahres  1902  hatten  an  der  Börse  in 
Wien  die  Staatsschuldscheine  folgenden  Eurswerth  : 
Allgemeine  Staatsschuld  5437-6  Mill.  K;  die  Staats- 
schuld österreichischer  Länder  2065*7,  der  ungarischen 
Länder  4436*5  Mill.  K.  Zusammen  machte  Ende  190? 
die  Staatsschuld  eine  Netto-Summe  von  11.939-8  Mill.  K. 
Die  Steuerzahler  müssen  für  die  jährlichen  Zinsen 
aufkommen,  die  jetzt  die  Summe  von  700  Mill.  K 
überschreiten.  Ein  guter  Theil  davon  fällt  ja  auf  die 
landwirtschaftliche  Bevölkerung.  Wie  sich  doch  die 
Zeiten  ändern.  Im  Jahre  1850  haben  die  Steuerzahler 
in  der  ganzen  Monarchie«  Oesterreich  und  Ungarn 
zusammen,  53,718.361  tl.  Zinsen  für  die  Staatsschuld 
gezahlt,  im  Jahre  1900  haben  die  Steuerzahler  in 
Oesterreich  172,015.002  und  in  Ungarn  174,226.866  fl. 
Zinsen  für  die  Staatsschuld  gezahlt  Gehen  wir 
weiter. 

Die  vom  österreichischen  Staate  übernommenen 
Eisenbahnschuldverschreibungen  hatten  Ende  1902 
einen  Kurswerth  von  1425*1  Mill.  K.  Weiter  kursierten 
an  der  Börse  in  Wien  öffentliche  Anleihen  der  Länder, 
Städte  etc.  für  1262.7  Mill.  K.  Pfandbriefe  und  Obli- 
gationen für  3750  Mill.  K,  Eisenbahnprioritäten  für 
36£V7  Mill.  K,  Eisenbahnaktien  für  1682-3  MilL  K, 
Bankaktien  für  1474*6  M:il.  K,  Industrieaktien  für 
U01%7  MiiL  K,  Der  gesammte  Kapitalsbesitz,  welcher 
Ende  l*H>2  an  der  Börse  in  Wien  kursierte,  hatte 
einen  BArsenwerth  von  27.CKM-7  MiK.  IL  Während 
des  Jahn*s  UH>2  ist  das  Kapitalvermögen  des  an  der 
IVcse  in  Wien  notierten  inoK>:i  Besities  um  1375 
Mi?..  K  gewachsen,  bei  etuer  Versuehmng  dieses  Ver- 
nu^ens  von  *^  ^-«-  K  durch  Zulassung  neuer 
Wer5hpapion\  lY.de  des  Jahtvs  IÄM  betrug  der  Kurs- 
werth    sAmir.«l;ofc*r    T;;:vs    an    der    B?rse    in  Wien 


45» 


Das  mobile  Kapitalsvermögen  in  Oesterreich  ist 
in  9  Jahren  um  2740  Millionen  Kronen  angewachsen* 
Das  Jahr  1901  war  für  die  Börse  in  Wien  ein  Hexen- 
jahr, ungefähr  wie  im  Jahre  1873.  Zahlreiche  Schauern 
wurden  von  der  Börse  rasiert  ohne  Blut,  ohne  Messer. 
Das  dumme  Publikum  in  Oesterreich  wurde  im  Jahre» 
1901  von  der  Börse  um  eiiie  Kleinigkeit  von  483  Mil- 
lionen Kronen  geprellt.  So  viel  betrug  der  Kurs- 
verlust von  Industrie-  und  Bankaktien  während  dieses 
Jahres.  Der  Geschäftsumfang  der  Börse  in  Wien  ist 
nicht  immer  gleich.  Es  wurden  Effekten  verkauft  und 
gekauft : 

Millionen  Kronen 

im  Jahre  1874  1286 

„       „      1881  9252 

„       „      1895  10328 

„       „      1898  4504 

„        „      1899  5889 

„       „      1900  3685 

Man   sieht   an    diesen   Zahlen,    dass   die  Glanz- 

periode   der  Börsengeschäfte  in  Oesterreich  vorüber 

ist.    Die  dummen   christlichen   Gojims   haben  nichts 

mehr.     Im  Jahre  1901  waren   an  der  Börse  in  Wien 

folgende   Schrankenfirmen    aufgestellt :    Moritz  Alter, 

Angloösterr.  Bank,  Samuel  Auspitz,   Sigmund  Bauer, 

Simon  u.  Bauer,  Moses  Biedermann,  Breisach  u.  Comp., 

Brühl  u.  Kallmus,   Jak.  Bunzel,   Jaques  Ehrenzweig, 

Elissen  u.  Schloss,  Ephrussi  u.  Comp.,  Felix  Epstein, 

Brüder  Feldmann,  Ferd.  Figdor,  Jos.  Figdor  u.  Söhne, 

Moritz  Frankl,  Friedenstein  u.  Comp.,  Garai  u.  Kohn, 

Siegmund  Geiringer,  Moritz  Gerstbauer,  Goldberger  u. 

Pollak,  Philipp  Gomperz,    Gebrüder  Gutmann,    Moser 

Hassberg,  Herz  und  Strauss,  Theod.  Kantor,  Gebrüder 

Kohn,  Joseph  Kohnet  u.  Comp.,   Kolisch,  Stiassny  u. 

Comp.,   Landesberger  u.  Schmeichler,    Leep.  Langer, 

Lieben  u.  Comp.,  Louis  Lob,  Nagel,  Stern  u.  Comp.» 

Nagel   u.  Wortmann,    Nathanson    u.   Kallier,    Alfred 

Neu  u.  Comp.,   Oplatek  u.  Hock,   Pichler   u.  Schick, 

Julius  Pollak,  Samuel  Reitzes  u.  Gebrüder,  Rosenberg 

u.  Rosin,  Rosenfeld  u.  Comp.,   S.  Moses  Rothschild, 

Mathias  Rusov,    Schlesinger  u.  Reihmann,   J.  Singer, 

Singer,    Walter  und  Comp.,    J.  Stametz,    Nachfolger, 


460 


J.  Stern,  Leopold  Stern,  Strisomer  u.  Schwarz,  Urbach 
u.  Comp.,    J.  Weinsberger   u.   Comp.,    Adolf    Weiss, 
Jaques  Weiss,  Moses  Weiss,   Weissenberger,  Frid   u. 
Comp.,   David  Weiswetter,   J.  Zett,   Bab   und  Comp. 
Sollte   sich   in  dieses  Verzeichniss   ein  Christ  verirrt 
haben,  können  wir  natürlich  nicht  wissen.  Wir  haben 
vor    uns    also    die   Creme    der  privilegierten  Staats- 
bürger Oesterreichs,  die  in  Wirklichkeit  seine  Regie- 
rung bilden.    Sollte   mal   Schönerer   oder   Funke  es 
wagen  diese  Finanzgrössen  anzugreifen,    dann  würde 
ein  Tanz  losgehn,  wie  ihn  die  Welt  noch  nicht  erlebt 
hat.  Die  „dummen"  Christen  werden  gegen  einander 
gehetzt,    armen    Arbeitern    werden    Wohnungen    ge- 
kündigt, die  Gelegenheit  zum  Brodverdienst  verweigert, 
weil   sie  zur   deutschen  Nation  nicht  gehören,    aber 
den  Volksausbeutern,  die  keine  Nationalität  überhaupt 
kennen,  an  diese  Finanzgrössen   hat   sich  noph   kein 
Deutschnationaler  herangewagt. 

Die  Judenzeitungen    sind   natürlich   nicht  wenig 
stolz   darauf,    dass    in  Oesterreich   die  Finanzbarone 
diejenigen  sind,  um  die  sich  der  ganze  Staat  drehen 
muss.  So  schreibt  das  „Berliner  Tageblatt"  Ende  April 
1903  folgendes :    „Zwei  Wiener   Financiers.    Fast  in 
keinem  Staate  ist  der  persönliche   Einfluss  einzelner 
Financiers    ein   so   weitgehender   wie  in  Oesterreich. 
Zum  Theile  ist  dies  wohl  dem  Umstände  zuzuschreiben, 
dass    es  in  Oesterreich   überhaupt  weniger  hervorra- 
gende Persönlichkeiten  auf  finanziellem  Gebiete  giebt 
als  in  anderen    Ländern.     Von  den  Persönlichkeiten, 
die  zur  Zeit  die  hervorragendste  Rolle  spielen,  steht 
jede  einzelne   an  der  Spitze    einer  ganzen  Reihe  von 
Aktiengesellschaften    und  in  einer  dominirenden  Po- 
sition in  einer  der  Wiener  Banken.    Das  Princip  der 
Solidität  wird  in  erster  Reihe  von  dem  Direktor  der 
Oesterreichischen    Kreditanstalt    Gustav    Ritter  von 
Mauthner  reprftsentirt.    Ritter  von  Mauthner  hat  alle 
Stadien  eines  geschulten  und  geübten  Finanzmannes 
durchgemacht.  Er  kam  in  ganz  bescheidener  Stellung 
zu  dem  Institute,   in  dem  jetzt  sein  Wille  ausschlag- 
gebend ist    Nur   für   §anz   kurze   Zeit   hatte  er  den 
Dienst   der  Oesterreichischen   Kreditanstalt  verlassen 
und  zwar  im  Jahre  1872,    wo    er   als    Disponent  der 


461 


damaligen  Allgemeinen  Oesterreichischen  Bank  thätig 
war.  Durch  seine  Verheirathung  mit  der  Tochter  des 
Präsidenten  der  Oesterreichischen  Kreditanstalt,  Ritter 
v.  Weiss,  trat  er  schon  in  verhältnissmäßsig  jungen 
Jahren  in  intime  Beziehungen  zu  den  Leitern  des 
Instituts.  Bei  allen  umfangreichen  Finanzoperationen, 
welche  die  Oesterreichische  Kreditanstalt  in  den 
letzten  zwei  Decennien  durchführte,  war  Ritter  von 
Mauthner  hervorragend  thätig.  Seine  Domäne  bilden 
die  staatsfinanziellen  Geschäfte,  die  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  auch  das  Privilegium  der  Öester- 
Teichischen  Kreditanstalt  geworden  sind.  Ungeachtet 
der  grossen  Erfolge  ist  Ritter  v.  Mauthner  stets  eine 
bescheidene  Natur  geblieben.  Grossen  Aufwand  zu 
treiben,  verschmäht  er.  Seine  Zerstreuung  bildet  die 
Jagd,  die  ihn  auch  häufig  mit  dem  Chef  des  hiesigen 
Welthauses  Baron  Albert  v.  Rothschild  zusammen- 
führt. Mauthner  gehört  dem  Herrenhause  an  und  ist 
damit  der  höchsten  Auszeichnung  theilhaftig  ge- 
worden, die  für  einen  jüdischen  Staatsbürger  in  Oester- 
reich  erreichbar  ist.  Die  Nobilitirung  Mauthners  datirt 
noch  von  der  Zeit,  wo  die  eiserne  Krone  dritter  Klasse 
die  Erhebung  in  der  Adelstand  mit  sich  brachte.  Ob- 
gleich noch  in  voller  Schaffenskraft  stehend,  beschäftigt 
sich  Mauthner  ernstlich  mit  dem  Gedanken,  seine 
Direktorstelle  aufzugeben,  um  sich  mehr  seiner  Fa- 
milie widmen  zu  können.  Wahrscheinlich  wird  er 
alsdann  Präsident  des  Verwaltungsrathes  werden.  Der 
Augenblick  hiefür  wird  wohl  dann  gekommen  sein, 
wenn  der  gegenwärtige  Präsident  der  Oesterreichischen 
Kreditanstalt,  Ritter  v.  Gomperz,  der  in  diesem  Jahre 
seinen  fünfundsiebzigsten  Geburtstag  gefeiert  hat,  zu- 
rücktritt. Wahrscheinlich  wird  das  schon  im  nächsten 
Jahre  geschehen,  da  Ritter  von  Gomperz  nur  dem 
Drängen  der  Verwaltung  nachgebend  in  diesem  Jahre 
noch  seine  Stelle  als  Präsident  behalten  hat.  Eine  so 
hervorragende  Rolle  auch  Ritter  v.  Mauthner  im  ge- 
sellschaftlichen Leben  spielt,  ist  er  vor  Allem  doch 
Geschäftsmann  geblieben,  und  wer  immer  in  Ange- 
legenheiten der  Oesterreichischen  Kreditanstalt  ge- 
schäftlich bei  ihm  vorsprechen  will,  findet  Gelegen- 
heit,   sein    Anliegen  vorzubringen.    Einen  Ersatz    für 


462 


diesen  fleissigen  und  umsichtigen  Direktionsleiter 
wird  die  Oesterreichische  Kreditanstalt  nicht  leicht 
finden.  Ungleich  impulsiver  und  energischer  als  der 
leitende  Direktor  der  Oesterreichischen  Kreditanstalt 
ist  der  Generaldirektor  der  Oesterreichischen  Boden- 
kreditanstalt Ritter  von  Taussig.  Er  ist  in  einem 
Augenblicke  in  dte  Leitung  der  Oesterreichischen 
Bodenkreditanstalt  berufen  worden,  in  dem  dieses 
Institut  am  Ratide  des  Konkurses  stand.  Nur  der 
Intervention  der  österreichischen  Regierung  war  es 
damals  zu  danken,  dass  die  grosse  Hypothekenbank 
ihren  Verpflichtungen  nachkommen  konnte.  Die  ge- 
rammte Kundschaft  des  Instituts  musste  gesichtet 
werden.  Es  galt,  die  unsoliden  Elemente,  welche  auf 
Kosten  der  Bank  waghalsige  Spekulationen  einge- 
gangen waren,  zu  beseitigen.  Leicht  war  diese  Auf- 
gabe nicht,  weil  sich  unter  diesen  Kunden  auch 
Persönlichkeiten  befanden,  die  den  vornehmsten  Krei- 
sen Oesterreichs  nahestanden.  Entschlossen  und  ziel- 
bewusst  hat  Ritter  von  Taussig  Ordnung  geschaffen. 
Auch  die  Verwaltung  der  Bank  musste  davon  über- 
zeugt werden,  dass  nur  solides  und  ehrliches  Ge- 
schäftsgebaren auf  finanziellem  Gebiete  zu  Erfolgen 
führe.  Mit  einer  bewunderungswürdigen  Klugheit  hat 
Ritter  von  Taussig  später  die  Persönlichkeiten  aus- 
findig gemacht,  weiche  berufen  waren,  der  Verwaltung 
seines  Instituts  grosse  Dienste  zu  leisten.  Die  ersten 
Sektionschefs  aus  den  Ministerien,  die  Berather  des 
Hofes  wurden  in  die  Verwaltung  der  Oesterreichischen 
Bodenkreditanstalt  berufen.  Trotz  eines  verhältniss- 
mässig  bescheidenen  Kapitals  hat  die  Bodenkredit- 
anstalt ihre  Einflussphäre  zusehends  erweitert.  Die 
grössten  Erfolge  hat  Ritter  von  Taussig  dadurch  er- 
zielt, dass  er  stets  einen  grossen  Theil  des  Rein- 
gewinns für  spätere  Zeiten  reservirte,  um  auf  diesem 
Wege  die  Leistungsfähigkeit  und  Sicherheit  des  Insti- 
tuts, dem  er  angehört,  zu  erhöhen.  Heute  sind  die  Re- 
serven der  Bodenkreditanstalt  bis  zu  einem  Betrage 
angewachsen,  mittels  dessen  die  Vollzahlung  der  nur  mit 
100  fl.  eingezahlten  Aktien  bewerkstelligt  werden  könnte. 
Die  eigentliche  Domäne  Taussig's  bildet  das 
Eisenbahnwesen.    Hier  hat  er  seine  grössten  Erfolge 


463 


«erzielt.  Seiner  Initiative  war  es  hauptsächlich  zu 
danken,  dass  die  Oesterreichisch-ungarische  Staats- 
«eisenbahngesellschaft  immer  mehr  dem  französischen 
Einflüsse  entrückt  worden  ist;  er  hat  den  Verkauf 
•des  ungarischen  Netzes  der  Staatseisenbahngesellschaft 
durchgeführt  und  die  Industrieunternehmen  der  Staats- 
-eisenbahnges ellschaft  zu  einer  befriedigenden  Ent- 
Avickelung  gebracht.  Seit  Jahren  steht  er  an  der 
Spitze  des  Verwaltungsrathes  der  Staatseisenbahn- 
gesellschaft. 

Sein  Votum  ist  zugleich  entscheidend  für  die  Er- 
schliessungen der  Verwaltungen  der  Oesterreichischen 
Nordwestbahn,  der  Elbethalbahn  und  der  Pafdubitzer 
Bahn,  dem  Verwaltungsrathe  der  Nordwestbahn  ge- 
hört er  als  Vicepräsident  an.  Gestahlt  und  gekräftigt 
durch  den  fortwährenden  Kampf  mit  den  Regierungen, 
fühlt  sich  Ritter  v.  Taussig  förmlich  wohl,  so  oft  es 
neue  Differenzpunkte  zwischen  dem  Eisenbahnminister 
und  den  Transportunternehmungen  auszutragen  gilt. 
Trotz  der  fortgesetzten  Kämpfe  besteht  jedoch  keine 
Animosität  zwischen  ihm  und  dem  Eisenbahnminister, 
und  dieser  ist  von  Taussig's  Tüchtigkeit  derart  über- 
zeugt, dass  er  in  allen  wichtigen  Eisenbahn-  und  Ver- 
kehrsfragen Ritter  v.  Taussig  gern  als  Ratgeber  hört. 
Mit  der  Nordwestbahn  und  der  Staatseisenbahn- 
gesellschaft ist  das  Herrschergebiet  Taussig's  noch 
keineswegs  erschöpft.  Ritter  v.  Taussig  verfügt  auch 
über  die  Majorität  der  Aktien  der  Donau-Dampf- 
schiffahrt, und  zum  Theil  werden  wichtige  Fragen 
in  Südbahnangelegenheiten  gleichfalls  im  Bureau  der 
Oesterreichischen  Bodenkreditanstalt  gelöst,  weil  der 
Chef  der  Firma  Rothschild,  Baron  Albert  v.  Rothschild, 
auf  das  Urtheil  des  Direktors  der  Oesterreichi- 
schen Bodenkreditanstalt  grosses  Gewicht  legt. 
Ritter  v.  Taussig  steht  in  den  besten  Jahren  und 
zeigt  zur  Stunde  noch  nicht  die  geringste  Spur  von 
Ermüdung.  Vom  frühen  Morgen  bis  in  den  späten 
Abend  ist  er  mit  Konferenzen  vollauf  beschäftigt. 
Seine  Persönlichkeit  gilt  als  ausnehmend  liebens- 
würdig, und  diesem  seinem  Wesen  dankt  er  es  auch, 
dass  seine  Häuslichkeit  zum  Mittelpunkte  des  gesell- 
schaftlichen Verkehrs  in  Wien  geworden  ist." 


464 


Die  gute  Hälfte  von  dem  mobilen  Kapital  Oester- 
reichs  dürfte  wohl  Albert  Nathaniel  Rothschild  haben. 
Mitte  Dezember  1901  schrieb  das  in  Wien  erschei- 
nende „Deutsche  Voiksblatt"  folgendes:  „Die  diesjähr. 
Juni-Bilanz  des  Wiener  Hauses  schloss  mit  einem 
Aktiv-Saldo  von  11.116,594.672  K  12  h  ab!  Also 
mehr  als  11  Milliarden  Kronen  besitzt  das  Wiener 
Haus  allein ! !  Nimmt  man  nur  einen  4procentigen 
Zinsfuss  an  —  obwohl  Rothschild,  Dank  seinör  Be- 
theiligung an  allerlei  industriellen  Unternehmungen 
und  seiner  im  grössten  Stile  betriebenen  Börsen- 
operationen mehr  als  10  Procent  erzielt  —  so  hat 
der  Chef  des  Wiener  Hauses  über  ein  Jahreseinkom- 
men'von  rund  440  Mill.  Kronen  zu  verfügen.  Repar- 
tirt  gibt  dies  einen  Tagesrevenu  von  mehr  als 
1,200.000  K.  Auf  die  Stunde  entfallen  noch  immer 
50.000  K,  auf  die  Minute  833  K  und  in  der  Sekunde 
kann  sich  der  arme  Albert  auch  noch  13  K  leisten." 
Zur  näheren  Illustrirung  der  kolossalen  Summen, 
die  in  der  Rothschild' sehen  Bilanz  figuriren,  bringt 
das  Blatt  dann  noch  folgende  interessante  Proben 
bei:  „In  Mairente  besitzt  der  Wiener  Chef  nur 
63,400.000  fl.,  die  mit  124,264.000  K  eingestellt  sind, 
dafür  verfügt  er  über  mehr  als  132  Mill.  Krönen  in 
4procentiger  österreichischer  Goldrente,  ferner  über 
128  Mill.  in  österreichischer  Kronenrente,  122  Mill. 
in  4procentiger  ungarischer  Goldrente,  22  Millionen 
in  Schuldverschreibungen  der  Elisabethbahn,  über 
121  Mill.  in  4procentiger  ungarischer  Kronenrente, 
70  Mill.  in  Februarrente,  in  Silberrente  die  riesige 
Summe  von  mehr  als  290  Mill.  Kronen.  Im  Albert 
Rothschild' sehen  Besitze  befinden  sich  ferner  28.500 
Stück  Nordbahnaktien,  welche  mit  179,550.000  K 
Werth  eingestellt  sind!  120.000  Stück  Kreditaktien 
repräsentiren  einen  Werth  von  ca.  80  Mill.!  Franzö- 
sische Wertheffekten  besitzt  Rothschild  für  1231  Mill., 
englische  gar  für  2374  Mill. !  Realitäten  und  Güter 
sind  mit  165  Mill.  eingestellt,  während  der  Rest  von 
Rothschilds  Vermögen  in  Industriewerthen  inrestirt 
ist:  Petroleumquellen,  Edelsteingruben,  Bergwerken 
etc.  .  .  .  Der  Antheil  des  Barons  Albert  Rothschild 
an    den  Petroleumquellen    zu  Baku    warf   allein    pro 


465 


1899  einen  Ertrag  von  98,208.865  K  ab!  Diese  Anga- 
ben sind  so  detaillirt,  dass  der  Aufsehen  erregende 
Artikel  mit  dem  „besten  Willen"  nicht  ignorirt  wer- 
den konnte.  Finanzminister  v.  Böhm  warf  sich  denn 
auch  alsbald  für  den  armen  Albert  Rothschild  ins 
Geschirr  und  „stellte  fest",  dass  die  Behauptungen 
des  „D.  V."  haltlos  seien.  Räthselhaft  bleibt  es  in- 
dess,  woher  Herr  v.  Böhm  diese  Kenntniss  hat,  da 
gleichzeitig  der  Vorstand  der  Steueradministration  I. 
für  Wien,  Hofrath  v.  Lesigang,  der  doch  genau  wissen 
muss,  wie  viel  Rothschild  versteuert,  behufs  näherer 
Information  den  Herausgebe*  des  „D.  Volksbl.",  Hrn. 
Vergani,  zu  sich  bat.  Dieser  hat  nun  mit  massgeben- 
den Persönlichkeiten  der  christlich-socialen  Partei 
Fühlung  genommen,  um  es  dem  Gewährsmann  des 
Blattes  zu  ermöglichen,  ohne  Nachtheile  für  seine 
Existenz,  sich  der  Behörde  zur  Verfügung  zu  stellen 
und  ihr  genauere  Informationen  nebst  Belegen  zu 
geben  Hat  ja  doch  schon  der  Goi,  der  nur  einen 
galizischen  Pinkeljuden  „beleidigte",  seiner  Lebtage 
vor  der  internationalen  Mischpoche  keine  Ruhe,  wie 
viel  weniger  der,  der  einem  Rothschild  etwas  zu  nahe 
tritt?!" 

Nach  den  Schätzungen  der  Steuerbehörden  be- 
trug im  Jahre  1900  der  Reinertrag  des  ganzen  be- 
steuerten Grund  und  Bodens  Oesterreichs  die  Summe 
von  306,429.178  Kronen.  Multiplicirt  man  diese  Zahl 
mit  25,  so  bekommt  man  den  Eapitalswerth  der  be- 
steuern Bodenfläche,  das  wäre  76507  Mill.  Kronen. 
Der  ganze  Grund  und  Boden  Oesterreichs  gehörte 
Ende  1900  4,932.651  Menschen,  welche  Grundsteuer 
zahlten.  Nehmen  wir  noch  die  Angehörigen  dazu, 
ernährt  die  Land-  und  Forstwirtschaft  in  Oester- 
reich  über  13  Millionen  Menschen.  Nun  könnte  Roth- 
schild allein  mit  seinem  Kapital  zweimal  den  ganzen 
Bodenbesitz  Oesterreichs  käuflich  erwerben.  Der  ganze 
fruchtbare  Boden  des  Königreiches  Böhmen  beträgt 
5,027.306  Hektar,  davon  gehören  1,699.241  Hektar 
dem  Grossgrundbesitz,  d.  i.  34  Procent,  der  andere 
Theil  3,228.065  Hektar  sind  bäuerlicher  Besitz,  d.  i. 
66  Procent.  Vom  Grossgrundbesitze  gehören  55.136 
Hektar   dem  kaiserlichen  Hause,    634.735  Hektar  39 

30 


466 


Eigentümern    fürstlichen    Ranges,    532.787  Hektar 
107  Eigentümern  gräflichen  Ranges,  100.143  Hektar 
66  Freiherren,   56.268  Hektar   79  Eigenthümern   von 
einfachem  adeligen  Stande.  Der  geistliche  Besitz  be- 
trägt 99.082  Hektar.    Nebstdem   hat    das  Aerar,   der 
Landesausschuss,    dann    einige    Städte  Bodenbesitz. 
Der  bäuerliche  Grund  ist  vertheilt  an  816.979  Eigen - 
thümer  mit  9,262.754  Parcellen.  Pächter  gab  es  nach 
der  Zählung  vom  Jahre  1890  in  Böhmes  15.773.  Der 
Werth  des  Bodens  des  Grossgrundbesitzes  im  König- 
reich Böhmen  wird  geschätzt  auf  1.968,334.000  Kronen, 
der  Bodenwerth  des  Bauernlandes   auf  2.384,698.400 
Kronen.    Albert  Nathaniel  Rothschild  kann  also  den 
Grund  und  Boden  des  ganzen  Adels  in  Böhmen  6mal 
käuflich  erwerben.  Ein  einziger  Jude  wiegt  also  6mal 
mehr  als    der   ganze  Adel    eines    alten    glorreichen 
Königreichs.  Zu  den  Finanziers,  die  in  Wien  eine  her- 
vorragende   und   entscheidende   Rolle    spielen,    zählt 
auch  der  Generaldirektor  des  Wiener  Bankvereins,  Herr 
Moric  Bauer.  Reichsdeutscher  Abstammung,  ist  Bauer 
auch  jederzeit  Deutscher  geblieben,  obgleich  er  bereits 
vor   längerer   Zeit   die   österreichische    Staatsbürger- 
schaft erworben  hat  und  in  Oesterreich  zu  einer  sehr 
einflussreichen    Stellung    gelangt    ist.    In    innigster 
Fühlung  mit  den  hervorragendsten    deutschen   Insti- 
tuten hat  er  es  als  seine  hauptsächliche  Aufgabe  be- 
trachtet, dem  deutschen  Kapital   in   Oesterreich    die 
Wege  zu    ebnen.    Es    gibt   wenige   Persönlichkeiten, 
welche  in  verhältnissmässig  so  kurzer   Zeit   sich   zu 
solcher  Geltung  gebracht  haben  wie  Bauer.  Zu  einem 
nicht  geringen  Theile  verdankt  er  diese  Erfolge  seinem 
verbindlichen  Wesen    und   seinem    oratorischen    Ta- 
lente. In  welcher  Versammlung  oder  Körperschaft  er 
immer  sich  zum  Wort  meldet,   reisst  er  die   Anwe- 
senden förmlich  mit  sich   fort.    Er   versteht  es   wie 
selten  Einer,  seine  Zuhörerschaft  zu  überzeugen. 

Oesterreich-Ungarn  dankt  ihm  eine  grosse  Zahl 
von  hervorragenden  und  leistungsfähigen  Aktienunter- 
nehmen. Der  Wiener  Bankverein,  Bauer's  eigentliche 
Domäne,  war  zu  der  Zeit,  wo  er  in  die  Direktion  be- 
rufen wurde,  ein  kleines  Institut,  und  waren  ihm  nur 
zwei  oder  drei  Industriegesellschaften  attachirt.  Heute 


467 


verfügt  die  Bank  über  ein  Aktienkapital  von.  80  Milli- 
onen.Kronen  und  über  bedeutende  Reserven.  Ein 
starker  Rückhalt  des  Instituts  liegt  in  dem  engen 
Anschlüsse  an  die  Deutsche  Bank.  Auch  die  Dresdner 
Bank;,  die  Würtembergische  Vereinsbank  und  andere 
grössere  deutsche  Banken  pflegen  sich  an  den  Syn- 
dikatsgeschäften des  Wiener  Bankvereins  mit  ansehnr 
liehen  Quoten  zu  betheiligen.  Wo  immer  in  Oester- 
reich  sich  die  Gelegenheit  bietet,,  gewinnbringende 
Operationen  durchzuführen,  ist  der  Wiener  Bankverein 
an  hervorragender  Stelle  zu.  finden.  Er  hat  sich  zu- 
letzt bei  der  Eisenbahnverstaatlichung  in  Oesterreich 
wirksam  bethätigt  und  nimmt  auch!  eine  führende 
Stellung  bei  den  Eisenkartellverhandlungen  ein.  Mit 
geschickter  Hand  wusste  Herr  Bauer  der  Rima- 
Muranyer  Gesellschaft  eine  Position  zu  verschaffen, 
die  ihm  die  Gelegenheit  bietet,  ein  Machtwort  hin- 
sichtlich des  Eisenkartells  zu  sprechen.  Auch  in  Un- 
garn ist  der  Bankverein  zu  grosser  Beliebtheit  ge- 
langt, wenngleich  dort  einzelne  seiner  Gesellschaften 
vom  Schicksale  wenig  begünstigt  waren,  wie  die  Un- 
garische Industriebank,  die  innerhalb  einer  verhält- 
nissmässig  kurzen  Zeit  einen  grossen  Theil  ihres 
Aktienkapitals  verloren  hat. 

Erleichtert  wurde  Herrn  Bauer  der  Verkehr  mit 
den  österreichischen  und  ungarischen  Finanzkreisen 
durch  den  Umstand,  dass  sich  sein  Bruder  an  der 
Spitze  eines  der  hervorragendsten  französischen  Bank- 
institute befindet  und  in  verwandtschaftlichen  Bezie- 
hungen zu  den  Häusern  Rothschild  steht.  Bauer's 
Votum  ist  nicht  blos  bei  zahlreichen  Aktiengesell- 
schaften, sondern  auch  oft  in  der  Wiener  Börsen- 
kammer entscheidend,  an  deren  Berathungen  er  den 
lebhaftesten  Antheil  nimmt.  Eauer  schreckt  auch  nicht 
vor  grossen  Schwierigkeiten,  wenn,  sie  sich  seinen 
Geschäften  entgegenstellen,  zurück.  Mit  den  starken 
Ressourcen  rechnend,  die  seinem  Institute  zur  Ver- 
fügung stehen,  nimmt  er  jederzeit,,  wenn  es  not- 
wendig ist,  den  Kampf  mit  anderen  Banken  auf.  Für 
seine  Verdienste  um  den  Österreichischen  und  unga- 
rischen Finanzverkehr  wurde  Direktor  Bauer  durch 
Verleihung  der  Eisernen  Krone  ausgezeichnet.    Auch 

30* 


468 


im  gesellschaftlichen  Leben  nimmt  Bauer  eine    aus- 
gezeichnete Stellung  ein. 

Unter  den  österreichischen   Finanzmännern,    die 
in  erster  Reihe  das  industrielle  Gebiet  kultiviren,  steht 
obenan  Karl  Wittgenstein.  Als  geborener  Oesterreicher 
hat  er  sich  amerikanisches  Temperament  und  ameri- 
kanische  Unternehmungslust   angeeignet.    Schon    in 
jungen  Jahren  fand  er  nämlich  Gelegenheit,  die  Ver- 
hältnisse jenseits  des  Oceans  an  Ort  und  Stelle  kennen 
zu  lernen.    Vor  etwa   drei   Decennien   kehrte    er    in 
seine  Heimath   zurück  und   wendete   sich  hier    der 
Eisenindustrie  zu,  die  damals  eben  in  der  ersten  Ent- 
wickelung  begriffen  war.  Ein  ganz  kleines  Werk,   das 
Walzwerk  in  Teplitz,   das  sich  im  Besitze  von  Ange- 
hörigen seiner  Familie  befand,  bot  ihm  Beschäftigung; 
Nachdem  er  sich  in  diesem  Werke  bis  zum  Geschäfts- 
leiter emporgearbeitet,   erwarb  er  es  schliesslich   ge- 
meinsam mit  einigen  Freunden.    Aus   den  Teplitzer 
Walzwerken  ist  im  Laufe  weniger  Jahre   die   Prager 
Eisenindustriegesellschaft  geworden.    Von   Erfolg   zu 
Erfolg  schreitend,  gelangte  er  zu  einer  dominirenden 
Rolle  in  der  Eisenbranche.    Seinem  Urtheile  ordnete 
sich  alles  unter.  Der  ursprünglich  gänzlich  mittellose 
Mann  hatte  in  etwa   zwanzig  Jahren   ein   Vermögen 
von  10  Millionen  Gulden  erworben,  das  seither  noch 
eine  wesentliche  Erhöhung   erfahren   hat.     So   reich 
aber  auch  Wittgenstein  geworden  ist,    er   ist    immer 
ein  Arbeiter  geblieben.  Sein  Bureau  bildete  den  Cen- 
tralpunkt  aller  Eisenindustriellen.  Vor  etwa  drei  Jahren 
fasste  er  den  Entschluss,    sich   ein   wenig  Ruhe   zu 
gönnen.  Obgleich  immer  wieder  versichert  wird,  dass 
der   Wille   Wittgenstein^   allein   im  österreichischen 
Eisenkartell  ausschlaggebend  ist,   darf  es  als  festste- 
hend gelten,    dass  er  selbst  sich  von  dem   geschäft- 
lichen Treiben  fernhält.  Er  hat  vielmehr  einige  seiner 
Angestellten  mit  wichtigen  Stellen  und  Missionen  be- 
traut, und  er  will  sehen,  ob  es  ihnen  gelingen  wird, 
die  Gesellschaften,  die  ihm  nahestehen,  auf  der  Höhe 
zu  erhalten,  auf  die  er  sie  gebracht  hat.  Freilich  kann 
eine  Persönlichkeit,   die  eine  so   hervorragende   und 
ausschlaggebende  Rolle  gespielt  hat,  sich  nicht  gleich- 
sam über  Nacht  von  den  Geschäften  vollständig   zu- 


469 


rückziehen.  So  oft  irgend  eine  wichtige  Frage  zu  ent- 
scheiden ist,  holen  seine  Vertrauensmänner  immer 
wieder  bei  ihm  Rath  ein,  und  er  kann  sich  diesen 
Wünschen  schon  deshalb  nicht  entziehen,  weil  er 
noch  mit  ansehnlichen  Kapitalien  an  den  verschie- 
denen Unternehmungen  betheiligt  ist.  Seitdem  er  in 
Deutschland  an  grossen  Spekulationen  in  Kohlen- 
werthen  empfindliche  Verluste  erlitten  hat,  ist  er 
übrigens  in  den  Operationen  an  der  Börse  ein  wenig 
vorsichtiger  und  zurückhaltender  geworden. 

Eine^  impulsive  Natur  wie  Wittgenstein  muss  für 
die  Thätigkeit,  die  er  bisher  auf  geschäftlichem  Ge- 
biete entwickelt  hatte,  einen  Ersatz  finden.  Er  sucht 
ihn  vor  allem  in  der  Bethäfigung  auf  landwirtschaft- 
lichem und  künstlerischem  Gebiete.  Charakteristisch 
ist,  dass  ihm  neuestens  die  Absicht  zugeschrieben 
wurde,  das  Beethoven-Monument  von  Klinger  zu  er- 
werben, um  es  der  Stadt  Wien  zu  schenken.  Die  Ge- 
rüchte sind  offenbar  dadurch  entstanden,  dass  Klinger 
und  Wittgenstein  in  freundschaftlichen  Beziehungen 
stehen  und  Klinger  bei  seiner  Anwesenheit  in  Wien 
Gast  des  Herrn  Wittgenstein  war  Wittgenstein  hatte 
übrigens  jederzeit  eine  offene  Hand.  Wo  immer  wohl- 
thätige  Institutionen  gefördert  werden  sollten,  stand 
er  mit  nahmhaften  Beträgen  zur  Verfügung.  Die  erb- 
eingesessenen Millionäre  wollen  indess  Wittgenstein 
nicht  als  ebenbürtig  ansehen.  Für  sie  bleibt  er  ein 
Parvenü,  und  manche  Anfeindungen,  denen  er  aus- 
gesetzt ist,  sind  aus  diesem  Gesichtspunkte  zu  er- 
klären. 

Anfangs  November  1901  beförderte  sich  selbst 
in  den  Schoss  Abrahams  der  Börsenspekulant  Heller. 
Die  Börsenblätter  schrieben  folgendes: 

Das  Ende  eines  Grosspekulanten.  Unser  Wiener 
Korrespondent  schreibt  uns:  Wien  ist  seit  zwei  Wo- 
chen um  einen  Grosspekulanten  ärmer.  Zwar  hat 
Herr  Heller,  dessen  Schicksal  den  allgemeinen  Ge- 
sprächsstoff bildet,  den  Schauplatz  seiner  Thätigkeit 
nicht  verlassen,  doch  ist  es  ein  öffentliches  Geheimniss, 
dass  er  sein  Vermögen  verloren  hat.  Er,  der  noch 
im  vorigen  Jahre  Tausende  von  Effekten  gekauft  hat, 
ohne  auch  nur  die  geringste  Aufregung  zu  verrathen, 


470 


muss  jetzt   mit   den    kleinsten   Ziffern   rechnen,    um 
nicht  in  Gefahr  zu  gerathen.  Die  Transaktion  Hellers 
machten  wiederholt,   und  zwar  nicht   mir   in   Wien, 
sondern  auch  in  Berlin,  Paris  und  London  von  sich 
reden.  Seines  ehrlichen,  aufrichtigen  Charakters  wegen 
genoss  Heller  volles  Vertrauen.  Mit  einer  seltenen  Kalt- 
blütigkeit hat  er  wiederholt  Riesenengagements    ge- 
löst, wenn  er  zu  der  Erkenntniss  kam,   dass  er  sich 
nicht  auf  der  richtigen  Fährte  befinde.    Seine   kost- 
spielige Einrichtung,  seine  Wagenparks,  alles,  was  er 
zu  Geld  mächen  konnte,  hat  Heller  jetzt  verkauft,  um 
seinen  Verpflichtungen  nachkommen  zu  können.  Erst 
als  diese  Thatsache  bekannt  geworden  ist,  haben  sich 
gute  Freunde  entschlossen,   ihm  unter  die  Arme    zu 
greifen.  Es  gab  Perioden,  in  denen  Heller  mit  100.000 
oder  150.000  Stück  Effekten    engagirt   war.    In   den 
meisten  Fällen   operirte   er   in   Kreditaktien,   Staats- 
bahnaktien und  Lombarden.  Die  tristen  Wiener  Ver- 
hältnisse erkennend,  ist  er  vor  zwei  Jahren  nach  Paris 
übersiedelt,    doch  ist  er  von  dort  bald  wieder   nach 
Wien  zurückgekehrt,  angeblich  weil  er  in  der  franzö- 
sischen Hauptstadt  nicht  das  erforderliche  Entgegen- 
kommen gefunden  hat.  Mit  Heller  stirbt  das  Wiener 
Grosspekulantenthum  aus,    denn  die  übrigen  Speku- 
lanten, die  zeitweilig  hier  umfangreiche  Geschäfte  ab- 
geschlossen haben,  haben  sich  bereits  in  das  Privat- 
leben zurückgezogen.  Heller  hatte  vor  seinen  Kollegen 
noch  eine  ausserordentliche  Temperamentfülle  voraus, 
die  ihre  Wirkung  auf  die   Massen   nie   verfehlt   hat. 
War  er  im  Treffen  und  hatte  er  den  Erfolg  für  sich, 
so  gab  es  für  ihn  kein  Nachlassen.  In  seiner  Glanzzeit 
besass  er  ein  Vermögen  von  5  bis  6  Millionen  Gulden. 
Bevor  er  sich  der  Börse  gewidmet  hatte,  war  er  Bank- 
beamter^ 

Hier  haben  wir  einige  Beispiele  gegeben,  wer 
eigentlich  in  Oesterreich  regiert. 

Der  Kapitalismus  in  Oesterreich  ist  natürlich 
in  erster  Reihe  gebunden  an  die  Staatsgeschäfte, 
sie  geben  ihm  die  Unterlage.  Wenn  die  künftigen 
Geschichtsschreiber  über  die  habsburgische  Mon- 
archie ein  richtiges  Bild  werden  entwerfen  wollen, 
werden  sie  sicher  eines  der  traurigsten  Kapitel  nicht 


471 


unerwähnt  lassen  das  furchtbare  Anwachsen  der 
Geldbedürfnisse  des  modfernen  Staates.  Als  Lavoisier 
Ludwig  dem  XVI.  berichtete,  dass  das  Volk  im  Lande 
Gras  und  Rinde  vor  Hunger  verzehre,  rief  Ludwig 
aus :  „Wahrhaft,  das  Volk  ist  zu  gut,  wenn  ich  Unter- 
thän  wäre,  ich  würde  revolutioniren!u  Nun  zur  Sache. 
Die  Staatsausgäben  Oesterreichs  innerhalb  50  Jahren 
haben  sich  folgenderraassen  gestaltet : 

Ausgaben  für  das  Jahr  1850: 
Der  Allerhöchste  Hof     ......    .      5,875,032  fl. 

Kabinetskanzlei     .    .    .    .••..;. 44.910  „ 

Reichsrath 27.361  „ 

Ministerrath      •..  .    .  \    : 136.900  „ 

Das  Ministerium   für.  Auswärtige  An- 
gelegenheiten       1,690.164  „ 

Das  Ministerium  des  Innern 13,609.055  „ 

Das  Finanzministerium 24,727.086  „ 

Das  Justizministerium  , .   ■ 11,180.632  „ 

Das  Ministerium  für  Kultus  und  Unter- 
richt       9,216.610  „ 

Das.  Handelsministerium 2^,382.159  „ 

Das  Heer .  125,085.731  „ 

Die  Oberste  Polizei  ..........      4,663.141  „ 

Kontrolämter ..:.•:,..      2,375.601  „ 

Staatsschuld f . •  ;   y  :   .    .    .    53,718.361  „ 

Summe  der  Staatsausgaben  .    .  269,033.653  fl. 

Wie  bekannt,  war  im  Jahre  1850  die  österrei- 
chische Monarchie  noch  ungetheilt.  In  diesem  Jahre 
ruhte  auf  ungefähr  35  Millionen  Einwohner  der  Ge- 
sammtmonarchie  eine  Steuerlast  von  269  Mill.  Gulden 
Conventionsmünze.  (1  fl.  ö.  W.  =  1  fl.  ö  kr.  Gonvm.) 
Seit  dem  Jahre  1867  haben  wir  in  beiden  Reichs- 
hälften eine  selbstständige  Staatswirthschaft.  (Die 
Details  der  beiden  Staatsvoranschläge  von  1867  sind 
in  meiner  Schrift:  Der  Nationalitäten-  und  Verfas- 
sungskonflikt in  Oesterreich.  Prag,  Cyrillo-Method'- 
sche  Buchhandlung.) 

Gehen  wir  nun  zum  Voranschlage  beider  Reichs- 
hälften für  das  Jahr  1903. 

Ausgaben : 

Oesterreich:  Kronen 

I.  Allerhöchster  Hofstaat 11,300.000 


472 


Kronen 

IL  Kabinetskanzlei  Sr.  Majestät    .   .  18U.835 

III.  Reichsrath 2,802.800 

IV.  Reichsgericht 50.724 

V.  Ministerialrath  und  Verwaltungs- 
gerichtshof    3,214.368 

VI.  Beitragsleistung  zum  Aufwände 

für  die  gemeinsamen  Ange- 
legenheiten    270,758.600 

VII.  Ministerium  des  Innern    ....  70,309.061 

VIII.  Ministerium  für  Landesverteidi- 
gung    62,165.906 

IX.  Ministerium  für  Kultus  und  Unter- 
richt   81,326.562 

X.  Ministerium  der  Finanzen   .   .    .  280,777.759 
XL  Handelsministerium      134,310.860 

XII.  Eisenbahnministerium 243,388.810 

XIII.  Ackerbauministerium 46,362.547 

XIV.  Ministerium  der  Justiz 72,326.691 

XV.  Oberster  Rechnungshof    ....  474.760 

XVI.  Pensions-Etat      66,538.403 

XVII.  Subventionen  und  Dotationen     .  19,052.110 
XVIII.  Staatsschuld 359,207.624 

XIX.  Verwaltung  der  Staatsschuld  .    .  1,677.026 

Gesammtsumme  des  Erfordernisses   .   .  1.726,225.364 
A)  Ordentliche  Ausgaben: 

Ungarn:  Kronen 

I.  Königlicher  Hofhalt 11,300.000 

II.  Kabinetskanzlei 180.835 

III.  Reichstag 3,572.658 

IV.  Gemeinsame  Auslagen 75,360.115 

V.  Gentral-Pensionen 40.044 

VI.  Pensionen 21,047.462 

VII.  Staatsschulden 254,381.402 

VIII.  In  Folge  der  Uebernahme  garan- 

tirter  Eisenbahnen  übernom- 
mene Schulden 24,815.924 

IX.  Einzelne  Portefeuille   belastende 

Anlehen 8,738.412 

X.  Eisenbahn-Garantie-Vorschüsse   .  170.024 

XI.  Innere  Verwaltung  Kroatien-Sla- 

voniens                     16,138.941 


473 


Kronen 
XII.  Staatsrechmmgshof 335.640 

XIII.  Verwaltungs-Gerichtshof   ....  562.064 

XIV.  Minister-Präsidium 1,073.498 

XV.  Ministerium     am    allerhöchsten 

Hoflager 139.452 

XVI.  Ministerium  für  Kroatinen-Slavo- 

nien 94.660 

XVII.  Ministerium  des  Innern    ....       41,992.262 
XVIII.  Finanzministerium 179,041.043 

XIX.  Handelsministerium 202,392.772 

XX.  Ackerbauministerium 46,969.634 

XXI.  Kultus- U.Unterrichtsministerium       37,342.802 

XXII.  Justizministerium 36,295.417 

XXIII.  Honv6dministerium   .    .    .    .    .   .       38,679.437 

Zusammen  .    .  1.000,664.498 
Dazu  kommen  nach  ausserordentliche  Ausgaben 
und   Investitionen   im   Betrage   von   109-7  Millionen 
Kronen. 

Staatsausgaben  für  1903: 

Oesterreich  Ungarn 

1.726,225.436  1.090,462.670 

Summa:  2.816,688.106  Kronen 
im  J.  1850 :     538,067.286        „ 
Einnahmen  für  das  Jahr  1903 : 

Oesterreich:  Kronen 

I.  Allerhöchster  Hofstaat — 

II.  Kabinentskanzlei  Sr.  Majestät .    .  — 

III.  Reichsrath — 

IV.  Reichsgericht      — 

V.  Ministerialrath  und  Verwaltungs- 
gerichtshof           1,826.470 

VI.  Gemeinsame  Angelegenheiten      .  — 

VII.  Ministerium  des  Innern    ....        2,955.175 
VIII.  Ministerium  für  Landesvertheidi- 

gung 947.646 

IX.  Ministerium  für  Kultus  und  Unter- 
richt   •    ....       14,527.665 

X.  Ministerium  der  Finanzen    .    .    .  1.227,735.248 

XI.  Handelsministerium 133,868.640 

XII.  Eisenbahnministerium 283,740.380 


474 


Kronen 

XIII.  Ackerbauministerium    .....  35,084.930 

XIV.  Ministerium  der  Justiz  .....  2,624.288 

XV.  Oberster  Rechnungshof     ....  — 

XVI.  Pensions-Etat      3,274.746 

XVII.  Subventionen  und  Dotationen     .  1,179?300 

XVIII.  Staatsschuld    .........  27,966.975 

XIX.  Verwaltung  der  Staatsschuld  .    .  21.500 
XX.  Einnahmen  aus  der  Veräusserung 
von     unbeweglichem     Staats- 
eigentum   ......    .    .    .    .  880.000 

Gesammtsumme  der  Bedeckung  .    .  1,726,643.263 
A)  Ordentliche  Einnahmen : 

Ungarn:  Kronen 

I.  Pensionen    .    .    . 248.000 

II.  Staatsschulden  . .   .   ' 2,498.663 

III.  Beiträge    zur   Tilgung    der    die 

einzelnen    Portefeuilles    bela- 
stenden Anlehen    ......  201.466 

IV.  Rückerstattung  der  Zinsengaran- 

tie-Vorschüsse der  Eisenbahnen  — 

V.  Ministerium     am     allerhöchsten 

Hoflager 2.000 

VI.  Ministerium  des  Innern    ...  7,996.607 
VII.  Finanzministerium         .       ...  703,721.321 

VIII.  Handelsministerium 290,105.762 

IX.  Ackerbauministerium 38,793.072 

X.  Kultus-  und  Unterrichts-Ministe- 
rium     ...       .......  5,521.137 

XI.  Justizministerium 1^833.922 

XII.  Honv6dministerium    .   .    .    .       .  633.254 

Zusammen  .   .  1.051,555.204 
Machen  wir  eine  kleine  Reminiscenz. 

-    Aasgaben  für  das  Jahr  1850  * 1900 

Das  Heer 125,085.731  fl.  153,734.062  fl. 

Landwehr  44,347.062  „ 

Die  Staatsschuld  .       53,718.361  fl.  347,021.388  „ 

Kultusministerium    .      2,616.610  „  52,342.617  „ 

Finanzministerium    .    24,727.986  „  220,726.593  n 

Handelsministerium     23,382.159  ^  260,400.523  „ 

Justizministerium      .    11,180.632  „  51,003.809  „ 


475 


Kommentare  zu  diesen  Ziffern  sind  überflüssig. 
Im  Ausgabeposten  des  Handelsministeriums  ist  zu- 
sammengezogen auch  der  Ausgabeposten  des  öster- 
reichischen Eisenbahnministeriums.    Gehen  wir  nun 

zu  einem  noch  interessanteren  Theil,  zu  den  Staats- 
einnahmen oder  den  Steuern  über. 

Die  direkten  Steuern : 

Jahr  1850  1900  nur 

tür  ganz  für  die  österr. 

Oesterreich  Reichshälfte 

Bodensteuer     ....    .48,072.31411.  28,400.000  fl. 

Haussteuer 6,478.525  „  33,065.000,, 

Zinssteuer 2,828>000  „ 

Gewerbesteuer     ....    3,117.813  „  18,100.000  „ 

Einkommensteuer.    .  -      1,337.960  „  23,100.000,, 
Steuer    der   Geld-    und 

Aktiengesellschaften   .  22,660.000  „ 

Rentensteuer    ......  3,455.000  „ 

Besoldungssteuer    ...  820.000  „ 

Exekutionssteuer     ...  906.000  „ 

Verzugszinsen  .....  380.600  „ 

Verschiedene  direkte 

Steuern  .   .    .    :    .    .    .    3,572.569  „ 

Summe      der     direkten 

Steuern.    ....    .    .62,579.2080.  133,714.600  ft 

Dazu  direkte  Steuern  Un- 

.  garns  rund    .....  110,000.000  „ ; 

Indirekte  Steuern: 

1860  1900 

Ranz  Oesterreich  österr.  Beichshälfte 

Verzehrungssteuer  .    .    .  22,554.942  fl.    149,433.000  fl. 

Zoll 20,639.888  „  57,321.500  „ 

Salzverkauf 22,252.711  „  27,564.000  „ 

Tabak 15,275.129  „  104,913.100  „ 

Stempel 5,922.028  „  25,000.000,, 

Gebühren 47,215.000  „ 

Taxen 2,340.354  „  3,000.000 » 

Lotterie 2,713.199  „  15,769.000  „ 

Mauth 2,556.711  „  •     1,063.000  „ 

Sämmtl.    indir.  Steuern  94,543.607  „  370,465.600  „ 
Dazu   indirekte   Steuern 

Ungarns 128,277.023  „ 

Innerhalb  der  50  Jahre  stellt  sich  die  Steuerlast 
folgendermassen  dar: 


476 


reich 


Sämmtliche   Steuereinnahmen    in    ganz   Oester- 


1860 

157,122.906  0, 


1900 


Oesterreich  670,390.469  fl. 

Ungarn        338,277,023  fl. 

908f667.492  fl. 


Ertraf  der  direkten  and  indirekten  Bteuern  in 

Oesterreich  Ungarn 

im  Jahre  1903.    .   .   .  1.217,736.248  K    703,721.321  K 

Summe 1.921,456.569  K 

im  Jahre  1850 314,245.810  K. 

Im  Laufe  von  50  Jahren  hat  sich  also  die  Steuer- 
schraube fasst  veraiebenfacht  Sehn  wir  uns  nun  die 
Steuerleistung  der  einzelnen  Kronländer  näher  an. 

Es  entrichtetrn  an  direkten  Steuern  Veraehrungsteuer 

im  Jahre  1900 

Nieder-Oesterreich    .   .    98,589.686  K  44,441.988  K 

Ober-Oesterreich   .   .    .      9,721.698  .  5,694.962  _ 

Salzburg 2,244.428  „  2,067.680  „ 

Steiermark 14,712.255  „  7,564.444  _ 

Kärnten 3,485.344  „  1,674.097  , 

Krain 3,418.162  „  1,216.384  „ 

Küstenland 8,325.343  „  6,497.883  _ 

Tirol  und  Vorarlberg  .      7,292.701  „  3,239.720  _ 

Böhmen 67,982.432  „  118,256.368  _ 

Mähren 24,671.121  „  61,597.784  , 

Schlesien 6,191.687  „  20,211.679  , 

Galizien 26,095.411  ,  40,647.507  „ 

Bukovina 2,945.161  „  3,505.674  „ 

Dalmatien  .    .    .    .    .    .      1,622.311  „  543.143  „ 

Summe 278,189.989  K  317,421.526  K 

Zu  den  direkten  und  den  Verzehrungssteuern 
kommen  noch  folgende  indirekte  Steuern  in  Betracht : 


Nieder-Oesterreich 

Ober-Oesterreich 

Salzburg  .    . 

Steiermark 

Kärnten  .   . 

Krain   .    .    . 

Küstenland 

Tirol  und  Vorarlberg 

Böhmen      


Tabakmonopol 

56,959.374  K 
7,222.431  „ 
2,070.813  _ 

11,234.312  _ 
2,846.610  „ 
2,925.083  _ 
7,435.314  - 
7,552.403  _ 

68,717.906  „ 


Zolleinnahmen 

28,859.029  K 

3,350.243  _ 

1,646.235  „ 

970.590  „ 

467.315  _ 

150.003  „ 

39,389.208  „ 

5,482.194  „ 

27,832.164  _ 


477 


Mähren 17,252.661  K         2,118.075  K 

Schlesien 7,591.145  ,         3,461.870  „ 

Galizien 28,386.661  „         4.281.695  „ 

Bukovina 3,039.713  „         1,015.917  „ 

Dalmatien  .    .    .   .    .    .      1,550.044  „  646.094  „ 

Summe 216,865.389  K    119,070.632  K 

Zuletzt  kommen  in  Betracht  die  Staats-  Einnahmen 
aus  Stempel,  Militärtaxe,  Gebühren  für  Rechtsgeschäfte, 
Urkunden  und  Amtshandlungen,  Mauthgebühren  und 
das  Lotto.  Alle  diese  hier  6  genannten  indirekten 
Abgaben  ergaben  dem  Staate  folgende  Einnahmen  im 
Jahre  1900  in  Kronenwährung. 

Staatseinnahmen  ans  Staatseinnahmen 

Stempel,  Militärtaxe,  ans  Post  und 

Gebühren  für  Hechts-  Telegraph 

geschälte,  Mauth  und 
Lotto 

für  das  Jahr  1900 

Nieder-Oesterreich    .    .  83,196.812  K  34,145.664  K 

Ober-Oesterreich   .    .    .  5,484.027  „  2,920.324  „ 

Salzburg 1,646.383  B  1,159.999  „ 

Steiermark 8,558.342  „  4,977.098  „ 

Kärnten 2,245.000  „  1,286.830  „ 

Krain 2,062.066  „  1,117.925  n 

Küstenland     .       ...  6,101.130  „  4,068.088  „ 

Tirol  und  Vorarlberg  .  5,736.620  „  4,773.669  „ 

Böhmen      40,136.366  „  25,958.990  „ 

Mähren 13,075.901  „  7,839.235  „ 

Schlesien 3,027.614  „  2,360.292  „ 

Galizien 22,225.608  „  9,756.045  n 

Bukovina 2,704.832  „  1,129.479  „ 

Dalmatien  .    .    .    .    .    .  1,301-644  „  1,076.796  ., 

Gesammteinnahmen     .  209,312.295  K  107,718.310  K 

Hiemit  haben  wir  die  sämmtlichen  Staatsein- 
nahmen hier  angeführt.  Man  mag  welche  Gruppe 
auch  immer  in  Augenschein  nehmen,  immer  ist  es 
das  Königreich  Böhmen  und  die  2  böhmischen  Krön« 
länder  Mähren  und  Schlesien,  denen  der  Löwenan- 
theil  bei  allen  Staatseinnahmen  zufällt  Diese  Zahlen 
führen  den  mathematischen  Beweis,  dass  das  König- 
reich Böhmen  und  seine  2  Nebenkronländer  die  wahren 
Perlen  des  habsburgi sehen  Reiches  sind  und  dass 
ohne   diese   böhmischen   Kronländer  Oesterreich  auf 


47* 


ein  Niveau  herabsinken  würde,  auf  welchem  dieses 
Reich  überhaupt  keine  absonderliche  Rücksicht  und 
Beachtung  unter  den  europäischen  Staaten  geniessen 
würde.  Oesterreich  ohne  die  böhmischen  Kronländer 
würde  zu  einem  Staate  von  geringer  Bedeutung  herab- 
sinken. Wir  begreifen  darum  den  preussischen 
Hunger  nach  diesen  Perlen  und  begreifen  aber  nicht 
die  Art  und  Weise,  wie  man  von  Wien  aus  das 
böhmische  Volk  für  seine  riesigen  Staatsabgaben  be- 
handelt 

Es  ist  genau  so,  wenn  ein  Grossgrundbesitzer 
niemals  auf  seinem  ergiebigsten  Gut  Nachschau  hält 
und  dann  in  Folge  dessen  wirtschaftlich  zu  Grunde 
geht.  Die  Wahrheit  dieser  Worte  wird  noch  mehr 
in  die  Augen  schlagen,  wenn  wir  die  Staatseinnahmen 
nach  den  Gruppen  zusammenfassen. 

Es  entrichteten  an  direkten  und  undirekten  Steu- 
ern unter  den  vorher  angeführten  Gruppen  im  Jahre 
1900:  a)  Alpenländer,  Nieder-Oesterreich,  Ober-Oester- 
reich,  Salzburg,  Steiermark,  Kärnten,  Tirol  u.  Vorarl- 
berg 476,399.264  Kronen;  b)  Südslavische  Kronländer: 
Krain,  Küstenland  und  Dalmatien  91,456.521  K;  c)  Ga- 
lizien  und  Bukovina  162,529.893  K;  d)  die  böhmischen 
Kronländer  Böhmen*  Mähren  u.  Schlesien  508,183.290  K. 
Dabei  muss  noch  eine  Korrektur  vorgenommen  werden. 
Von  den  Alpenländern  hat  natürlich  Nieder-Oester- 
reich mit  der  Reichshauptstadt  Wien  die  stärksten 
Einnahmeposten  für  den  Staatssäckel. 

So  figurieren  die  direkten  Steuern  mit  98 '/a  Mil- 
lionen Kronen,  davon  sind  zu  fixieren  die  Hauszins- 
steuer 28'7,  Erwerbsteuer  11,  Steuer  der  Geldinsti- 
tute 226,  Personaleinkommensteuer  20  Millionen 
Kronen.  Diese  Einnahmen  fallen  wohl  auf  das  Weich- 
bild von  Wien,  wo  alles  centralisiert  ist,  so  die  Banken 
und  die  staatlichen  Gentralämter. 

Dann  figuriert  für  Wien  50 1/2  Millionen  Kronen 
Einnahmen  für  Rechtsgebühren,  welche  doch  aus 
allen  Kronländern  zusammenfliessen  und  hier  als 
Staatseinnahme  für  Nieder-Oesterreich  eingereiht  sind. 
Noch  mehr  erkennen  wir  die  Steuerkraft  der  einzelnen 
Kronländern  aus  folgenden  Zahlen.  Es  entfielen  von 
den  Steuern  auf  einen  Einwohner  im  Jahre  1900 : 


479 


Direkte      Verzehrungs- 
Stenern  Steuer 

Kronen 

Nieder- Oesterreich .  31-94  14*40 

Ober-Osterreich 12  7-03 

Salzburg 11-61  1070 

Steiermark 10-85  5'58 

Kärnten 9-49  4-56 

Krain 6-72  2-39 

Küstenland 11-02  8;60 

Tirol  u.  Vorarlberg 7-44  3*31 

Böhmen 1076  1872 

Mähren 1013  2530 

Schlesien 910  2970 

Galizien 3-58  5-57 

Bukovina 4-03  480 

Dalmatien 2-74  0-92 

Wahrlich  diese  Zahlen  bedürfen  keines  Kommen- 
tars. Ohne  die  böhmischen  Kronländer  müsste  der 
österreichische  Finanzminister  sein  Amt  auf  ein  sehr 
geringes  Maass  reduciren.  Es  wird  an  dieser  Stelle 
nicht  schaden,  wenn  wir  einige  Belege  aus  der  Steuer- 
leistung der  Kronländer  in  früheren  Jahren  anbringen. 

Moderne  Juristen  haben  die  Allmacht  des  Staates 
als  die  oberste  Staatsweisheit  proklamirt.  Die  Macht- 
haber Europas  haben  sich  nach  Vernichtung  Napo- 
leons diese  Lehre  zu  Herzen  genommen. 

Friedrich  Wilhelm  III.  von  Preussen  besuchte 
einige  Jahre  nach  den  Befreiungskriegen  Moskau.  Als 
er  von  den  Sperlingsbergen  vor  der  alten  Garenstadt 
stand,  sank  er  mit  seinen  Söhnen  auf  die  Knie  und 
rief  aus :  „Danken  wir  Gott,  dieser  Stadt,  die  ist  es, 
die  meinen  Staat  vor  dem  Untergange  gerettet  hat." 
Seitdem  Russland  seine  Politik  nach  dem  Krim- 
Kriege  endgiltig  nach  Asien  gerichtet  hatte,  waren 
die  westlichen  Staaten  Europas  vom  russischen  Drucke 
frei.  Preussen  arbeitete  mit  Dampf  an  dem  Aufbau 
des  grossen  Deutschland  und  nachdem  die  Hofräthe 
in  Wien  durchaus  nicht  begreifen  wollten,  dass  sie 
in  Frankfurt  nichts  zu  suchen  haben,  hatte  Preussen 
den  begriffstützigen  Herren  Diplomaten  in  Wien  eine 
blutige  Lehre  gegeben.  Freilich  sind  die  grossen  Herren 
weder  bei  Nächod  noch  bei  Königgrätz  gefallen,  son- 


480 


dem  es  wurden  dort  vom  preussischen  Zündnadel- 
gewehr Tausende  Söhne  österreichischer  Völker  nieder- 
geschossen. Zum  Danke  dafür  ist  nun  aus  Oesterreich 
eine  Grossmacht  geworden,  welcher  die  Aufgabe  zu- 
gewiesen ist  die  preussische  Kriegsbeute  vom  J.  1 870 
zu  hüten.  Als  das  allein  staatserhaltende  Element  des 
österreichischen  Staates  ist  nun  Dank  dem  unge- 
störten Treiben  der  preussischen  Agenten  Wolf  und 
Schönerer  die  deutsche  Staatssprache  und  der  poli- 
tische Centralismus  proklamirt.  Durch  die  Schaffung 
grosser  politischen  und  administrativen  Gentren  wer- 
den grosse  byrokratische  Apparate  nothwendig.  Alles 
Blut  vom  Lande  strömt  zum  Mittelpunkt.  Das  alte 
Rom  ist  an  dem  politischen  Centralismus,  dem  noth- 
wendig der  wirtschaftliche  folgt,  zu  Grunde  gegangen. 
Sehen  wir  nun  die  Wirkungen  des  Centralismus  in 
Oesterreich.  Welche  Steuern  haben  die  Völker  Qester- 
reichs  entrichtet  im  Jahre  1862  und  welche  müssen 
jetzt  abgeführt  werden. 

Es  entrichteten  an  direkten  Steuern  die  Länder 
des  böhmischen  Krone : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Böhmen 17,551.560  0.  29,185.225  fl. 

Mähren 6,832.556  „  11,715.602  n 

Schlesien 1,287.474  „  2,416.903  „ 

Zu  den  direkten  Steuern  im  Jahre  1862  wurde 
gezählt :  Grundsteuer,  Hauszinssteuer,  Hausklassen* 
Steuer,  Erwerbsteuer  und  Einkommensteuer.  Zu  diesen 
direkten  Steuern  ist  seit  1898  noch  die  Personal- 
einkommensteuer hinzugetreten.  Vor  40  Jahren  haben 
demnach  die  Länder  der  böhmischen  Krone  an  di- 
rekten Steuern  rund  25 1/2  Millionen  fl.  gezahlt,  jetzt 
müssen  sammt  der  Personal-Einkommensteuer  rund 
49  V2  Millionen  fl.  aufgebracht  werden.  Die  Alpen- 
länder haben  an  direkten  Steuern  gezahlt: 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Nieder-Oesterreich  .   .  14,851.111  fl.  40,625.856  fl. 

Ober-Oesterreich  .    .    .    2,900.088  „  4,823.509  „ 

Salzburg •  515.018  „  1,066.040  „ 

Tirol  u.  Voralberg  .   .    1,224.540  ,  3,450.252  „ 

Steiermark 2,996.678  „  6,600.930  „ 


481 


Kärnten 932.043  fl.  1,556.770  fl. 

Krain .    1,217.027  „  3,677  295  „ 

Im  Jahre  1862  hat  die  Gruppe  der  Alpenländer 
an  direkten  Steuern  rund  24  Millionen  fl.  abgeführt, 
heute  nach  40  Jahren  müssen  diese  Länder  sammt 
der  Personaleinkommensteuer  rund  74  V2  Millionen 
bezahlen.  Die  übrigen  Länder  haben  folgende  Sum- 
men an  direkten  Steuern  aufgebracht : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Küstenland 1,811.457  fl.  3,677.295  fl. 

Dalmatien 541.800  „  744.888  n 

Galizien 6,838.694  „  13,362.625  n 

Bukovina 593.147  „  3,357.230  „ 

Die  direkten  Steuern  der  jetzigen  österreichischen 
Länder,  die  im  Wiener  Reichstage  vertreten  sind, 
haben  eingetragen  eine  Summe  von  rund  59  Millionen 
Gulden  Conventionsmünze,  im  J.  1897  mussten  die- 
selben Länder  die  Summe  von  122,259.372  fl.  auf- 
bringen. Gehen  wir  nun  zu  den  indirekten  Abgaben 
über.  Hier  gibt  es  mehrere  Gruppen. 

Die  erste  Gruppe  sind  die  Verzehrungsteuern, 
die  Branntwein-,  Wein-,  Most-,  Bier-,  Fleisch-  und 
Schlachtvieh-,  Zucker-  und  sonstige  Verzehrungsteuern. 
Diese  Verzehrungsteuern  haben  den  Staatskassen  fol- 
gende Beträge  eingebracht  und  zwar  in  den  Ländern 
der  böhmischen  Krone : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Böhmen 10,453.000  fl.  49,470.012  fl. 

Mähren 4,130.000  „  23,532.013  „ 

Schlesien 1,267.300  „  7,775.276  „ 

Im  Jahre  1862  haben  die  böhmischen  Kron- 
länder an  Verzehrungsteuern  15*8  Millionen  fl.,  im 
Jahre  1897  aber  80-7  Millionen  fl.  entrichtet. 

Die  Alpenländer: 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Nieder-Oesterreich  .    .  10,904.400  fl.  25,499.746  fl. 


Ober-Oest  erreich  . 
Salzburg    ... 
Tirol  u.  Vorarlberg 
Steiermark    .   .    . 
Kärnten 


1,690.680  „  3,009.602 

387.190  „  888.892 

751.700  „  1,395.357 

1,937.850  „  3,525.648 

436.200  „  872.779 

Krain 605.170  „  649.406 

31 


482 


Die  übrigen  Länder: 

im  Jahre  1802  im  Jahre  1897 

Küstenland 925.710  fl.  2,580.396  flL 

Dalmatien —      ,  200.433  „ 

Galizien 5,284.100  „  18,861.052  „ 

Bukovina 586.300  „  1,553.279  r 

Man,  sieht  dass  der  österreichische  Staat  die 
grössten  Summen  der  Verzehrungssteuer  gerade  aus 
den  Ländern  der  Böhmischen  Krone  bezieht,  zum 
Danke  dafür  wird  das  arme  czechoslavische  Volk 
mit  Mannlichergewehr  und  Festungsstrafen  belohnt 
und  mit  Ausnahmszustand  bedroht.  Binnen  40  Jahren 
sind  die  Verzehrungsteuern  im  Königreich  Böhmen 
verfünffacht  worden!  Die  Verzehrungsteuern  haben 
in  den  sämmtlichen  im  Reichrathe  vertretenen  König- 
reichen und  Ländern  folgende  Summen  eingebracht : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

39,356.800  fl.  139,922.240  fl. 

Gehen  wir  nun  zu  den  weiteren  Gruppen.  Mit  dem 
Salzmonopol  brauchen  wir  uns  nicht  zu  befassen. 
Hier  kommen  drei  Länder  in  Betracht:  Galizien, 
Ober-Oesterreich  und  das  Küstenland.  Das  Salzmonopol 
hat  eingetragen : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

22,821.024  fl.  22,545.596  fl. 

Eines  der  interessantesten  Kapiteln  ist  das  Tabak- 
monopol. Dasselbe  trug  ein : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

Böhmen 8,850.100  fl.  26,311.233  fl. 

Mähren 3,551.500  „  7,932.918  „ 

Schlesien 567.500  „  3,242.255  „ 

Nieder-Oesterreich   .    .  8,841.950  „  26,293.084  „ 

Ober-Oesterreich  .    .    .  1,768.400  „  3,438.879  „ 

Salzburg 466.703  „  1,003.389  „ 

Tirol  u.  Vorarlberg     .  1,596  500  „  3,368.500  „ 

Steiermark 2,180.600  „  5,139.931  „ 

Kärnten      689.840  „  1,327.736  „ 

Krain 758.750  „  1,369.538  n 

Küstenland 1,780.400  „  3,378.807  „ 

Dalmatien 451.500  r  640.400  „ 

Galizien 4,663.820  r  12,652.661  „ 

Bukovina 264,100 .  1,356.358  „ 

insgesammt  ....  ~  fl,  98,170.634  fl. 


483 


Der  Tabakkonsum  in  Böhmen  hat  sich  im  Zeit- 
räume von  1862—1897  mehr  als  verdreifacht,  im 
armen  Schlesien  versechsfacht!  Der  „arme"  Staat 
bereichert  sich  aus  den  Taschen  der  Schusterjungen 
und  Piccolos,  er  verschmäht  nichts,  er  ist  ja  ein 
„wahrer  Kulturstaat".  Die  Zolleinnahmen  haben  in 
der  österreichischen  Reichshälfte  eingetragen  : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

11,991.530  fl.  61,077.899  fL 

An  Stempeln  wurden  abgeführt: 

im  Jahre  1892  im  Jahre  1897 

8,562.000  fl.  22,412,457  fl. 

Dazu  kommt  noch  der  Betrag  aus  der  Militärtaxe, 
welcher  im  Jahre  1897  ergab  927.472  fl.  Taxen  für 
Gnaden-Verleihungen  und  ähnl.  2,065.875  fl. 

Taxen  für  Rechtsgebühren  haben  geliefert: 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

14,208.300  fl.  45,355.413  fl. 

Ertrag  sämmtlicher  indirekten  Abgaben : 

im  Jahre  1862  im  Jahre  1897 

156,546.120  fl.  282,548.000  fl. 

Wie  die  Steuerschraube  arbeitet,  ersehen  wir  aus 
folgendem  Vergleich.  Auf  einen  Einwohner  in  Oester- 
reich  kam  eine  Steuerleistung  von: 

im  Jabre  direkter  Abgaben  indirekter  Abgaben 

1888 4  fl.  45  kr.  7  fl.  69  kr. 

1898 4  „    84  „  11  „    19  „ 

Der  politische  Gentralismus,  der  grosse  Verwal- 
tungscentren schafft,  hat  nothwendig  zur  Folge  die 
Schaffung  grosser  bürokratischer  Apparate,  welche 
immer  grösseren  Aufwand  jährlich  verschlingen.  Nicht 
allein  das.  In  den  grossen  Gentralämtern  in  Wien 
sitzen  Hunderte  Grohmanns,  welche  mit  einem  ge- 
radezu infernalen  Hass  alle  auch  noch  so  gerechten 
Kultur-  und  wirthschaftlichen  Ansprüche  des  böh- 
mischen Volkes  niederhalten  und  bekämpfen,  damit 
ja  dieses  arme  Volk  nicht  emporkommen  könne.  In 
diesem  Hasse  wetteifern  förmlich  gewisse  Minister 
wie  Eisenbahnminister  Wittek,  Justizminister  Spens- 
Booden,  Unterrichtsminister  Hartel  mit  dem  ganzen 
mächtigen  Centralapparate.  Ein  verbissener  Gegner 
böhmischer  Priester,  falls  sich  einer  von  ihnen  zu 
einer  Prälatur   meldet,   ist  Minister  Hartel,    der   für 

31* 


484 


seine  „wissenschaftliche"   Leistung   in  Karlsbad  den 
preussischen  Adlerorden  erhielt. 

In  diesen  mächtigen  Centralämtern  in  Wien  wird 
über  das  Geld  verfügt,  welches  von  allen  Kronländero 
nach  Wien  zusammenströmt.  Da  wird  Licht  und 
Schatten  nicht  nach  gleichem  und  gerechtem  Maasse 
vertheilt.  Man  sehe  die  prächtigen  Paläste  der  Schu- 
len, welche  in  deutschen  Städten  sind,  und  die 
ärmlichen  Schulbauten,  die  in  böhmischen  Gemeinden 
sind.  Handelt  es  sich  um  eine  deutsche  Anstalt,  flugs 
ist  ein  Prachtbau  fertig,  handelt  es  sich  um  eine 
böhmische  Anstalt,  muss  in  Wien  jahrelang  gebettelt 
werden,  bis  man  endlich  gnädig  einwilligt  und  den 
Bau  finanziert.  Doch  genug  an  dem.  Man  behauptet 
in  Wien,  dass  die  Selbständigmachung  der  Kronländer 
noch  mehr  Kosten  verursachen  würde  oder  gar  die 
Einführung  der  nationalen  Autonomie.  Als  im  Jahre 
1902  die  Frage  der  Autonomie  von  Wälschtirol  ent- 
brannt war,  schrieb  Ende  Juli  1902  ein  reichsdeutsches 
Blatt  in  einer  Korrespondenz  aus  Wien  folgendes : 
„Es  wäre  ein  Irrthum,  wollte  man  annehmen,  der 
nicht  perfekt  gewordene  Tiroler  Ausgleich  sei  aus- 
schliesslich an  der  nationalen  Frage  gescheitert.  In 
Bezug  darauf,  also  insbesondere  in  Sachen  der  Aus- 
scheidung des  deutsche  Sprachinseln  in  sich  schlies- 
senden  Fassathales  aus  Wälschtirol  hätte  sich  wohl 
noch  irgend  ein  Ausweg  finden  lassen.  Die  eigentliche 
Schwierigkeit  zeigte  sich  bei  der  Lösung  der  finan- 
ziellen Frage.  Verwickelt  wurde  sie  dadurch,  dass 
das  wohlhabendere,  von  einer  tüchtigen  Bauernschaft 
bewohnte  Deutschtirol  zum  Theil  die  Kosten  für  die 
Verwaltung  Wälschtirols  aufbringt,  die  bisher  von 
Innsbruck  aus  besorgt  werden.  Solange  ein  Land  ein- 
heitlich verwaltet  wird,  bezahlt  naturgemäss  der 
wirtschaftlich  Stärkere  einen  Theil  der  für  den 
wirthschaftlich  Schwächeren  nothwendigen  Auslagen 
Wenn  nun  dieser  letztere  Selbstverwaltung  anstrebt* 
so  muss  er  es  sich  gefallen  lassen,  auf  bisherige 
Zuschüsse  zu  verzichten.  Darüber  mussten  sich  die 
Wälschtiroler  von  vornherein  klar  sein.  Da  sie  aber 
bei  der  Gewinnung  der  Selbstverwaltung  noch  ein 
gutes  Geschäft  machen  wollten,    so  führten   sie  eine 


485 


nicht  zu  lösende  Verwicklung  herbei.  Sie  verlangten 
nicht  bloss,  dass  der  bisher  für  Wälschtirol  ver^ 
wendete  Theil  aus  den  Einnahmen  des  Kronlandes 
dem  künftigen  italienischen  Landesausschuss  in 
Trient  zugewiesen  werde;  sie  erwarteten  auch,  dass 
künftige  Ausgaben,  so  die  Erhöhung  der  Lehrer- 
gehalte, ihnen  aus  den  Mitteln  der  Allgemeinheit, 
des  Staates  oder  des  Landes  ersetzt  würden.  Es 
scheint,  dass  der  Statthalter  von  Tirol,  Freih.  v. 
Schwarzenau,  auch  hierin  Zugeständnisse  machen 
und  den  Staatsschatz  zur  Bedeckung  auch  dieser 
Lasten  heranziehen  wollte.  Der  Finanzminister  Böhm- 
Bawerk  erklärte  es  aber  für  unmöglich,  dass  der 
Staat  die  Kosten  des  nationalen  Ausgleichs  tragen 
solle.  Und  daran  scheiterte  die  Sache. 

Ganz  dieselbe  Frage  war  bei  jedem  der  vielen 
nationalen  Friedensschlüsse  in  Oesterreich  zu  lösen. 
Auch  als  die  Polen  1872  eine  grössere  Autonomie 
anstrebten,  wünschten  sie,  dass  ihnen  die  bisherigen 
Zuschüsse  des  Staates  ausbezahlt  würden.  Damit 
aber  war  die  damalige  deutsche  Verfassungspartei  in 
Oesterreich  unter  Führung  Eduard  Herbst's,  welche 
die  Mehrheit  im  Reichsrathe  besass,  nicht  einver- 
standen. Man  weiss  ferner,  dass  das  Wesen  des  un- 
garischen Ausgleichs  von  1867  darin  besteht,  dass 
die  Magyaren  eine  ihnen  höchst  günstige,  den  deutsch- 
slavischen  Erblanden  aber  sehr  ungünstige  Lösung 
ertrotzten.  Ungarn  stellt  zur  gemeinsamen  Armee 
seiner  Bevölkerungsziffer  nach  44  Procent  der  Soldaten, 
Oesterreich  56  Procent.  Der  selbständige  ungarische 
Staat,  der  nichts  von  seinem  Rechtstitel  hergeben 
will,  hätte  die  natürliche  Pflicht,  die  Kosten  für  diese 
44  Proc.  aufzubringen.  Das  aber  geschieht  bekanntlich 
nicht,  sondern  Ungarn  zahlt  nicht  ganz  34  Proc.  zu 
den  gemeinsamen  Ausgaben,  mit  der  Begründung, 
dass  sein  Wohlstand  gegenüber  dem  der  anderen 
Reichshälfte  eine  grössere  Belastung  nicht  vertrage. 
Die  Folge  davon  ist,  dass  Oesterreich  dem  unga- 
rischen Staate  mehr  als  den  vierten  Theil  seiner 
Militärlasten  abnimmt.  Allerdings  werden  die  Leistun- 
gen Ungarns  dadurch  etwas  erhöht,  dass  es  zur 
Givilliste  des  Monarchen  50  Procent  beiträgt.    Wenn 


486 


aber  alle  nationalen  Friedenschlüsse  in  Oesterreich 
zur  Folge  haben  sollten,  dass  die  Deutschen  als  der 
wohlhabendste  Theil  den  übrigen  Völkern  ihre  Auto- 
nomie zum  Theil  zu  bezahlen  hätten,  so  würde  ihr 
Abschluss  immer  schwieriger  werden." 

Den  grössten  Theil  der  Staatseinnahmen  ver- 
schlingen die  Zinsen  für  die  Staatssehuld  und  die 
Ausgaben  für  das  Heer  und  die  Flotte.  Nach  den 
Ausgaben  des  kaiserl.  staust  Amtes  des  deutschen 
Reiches  betrugen  die  Kosten  für: 

Heer  Heer,  Flotte,  Zinsen 

und  Flotte  und  Pensionen 

für  das  Jahr  1908 
Millionen  Reichsmark: 

England      2124*7  2671-7 

Nordamerika     ....  1482-6  1596-0 

Russland 10802  1546-2 

Deutschland 985-1  1068-4 

Frankreich 927-2  1667-3 

Oesterreich-Ungarn  .'  .    408*2  837*9 

Italien 2528  865-4 

Japan      218*5  299*1 

Die  Staatsschuld  Oesterreichs  nimmt  ihren  haupt- 
sächlichsten Anfang  in  den  Napoleonischen  Kriegen. 
Wir  geben  hier  die  Zahlenreihe  an,  in  der  Währung 
wie  sie  in  österreichischen  Gulden  notirt  ist. 

Hanptsomnie  Der  im  betreffenden  Jahre 

_  der  Staatsschuld  gezahlte  Zins 

1781  .    .    .     283,300.000   ta  ™den 
1821  .       .  1.010,517.860  24,079.627 

1848  .    .    .  1.238,062.395  38,966.845 

1858  .    .    .  2.439,616.605  100,715.689 

Im  Jahre  1867  wurde  Oesterreich  in  zwei 
Hälften  zertheilt  und  die  Staatsschuld  blieb  beiden 
gemeinsam.  Sie  betrug  Ende  1868  2.676,940.599  fl. 
Im  ersten  Jahre  der  Herrlichkeit  des  Dualismus 
machte  Oesterreich  schon  eine  nette  Schuld  von 
307,924.761  Gulden  für  eigene  Rechnung.  Seit  dem 
sind  wir  gewaltig  fortgeschritten.  Wie  schon  an- 
geführt, hatten  Wir  Ende   1902  :  Millionen  Kronen 

allgemeine  Staatsschuld 5*437*6 

österreichische  Schuld  ...       ...  2.065*7 

ungarische  Schuld .  4.436-5 

Summe  .    .    .  11.939*8 


487 


Zinserforderniss  rund  700  Mill.  K.  Neben  den 
riesigen  Lasten  des  Staates  müssen  die  Steuerzahler 
Oesterreichs  noch  für  die  Bedürfnisse  der  Kronländer, 
Bezirke  und  Gemeinden  aufkommen.  Es  betrugen 
im  J.  1900  die  Zuschläge  zu  den  direkten  Steuern 
für  die  Rechnung  der  Landes-,  Bezirks-,  Schul-  und 
Gemeindebedürfnisse 


Betrag  der 
Umlagen 


Prozentverhältniss 
zu  den  vorgeschrie- 
benen direkten 
Staatssteuern 

58-2 

88-4 
136-7 
1101 
111-7 

81-6 


Niederösterreich  .    .    .    .'49,229.879 
Oberösterreich     ....    7,935.507 

Salzburg 2,528.874 

Steiermark    .    t    .   .    .    .  13,455.667 

Kärnten 3,000.845 

Krain 2,225.785 

Küstenland 4,788.738 

Tirol  und  Vorarlberg     .    7,829.757 

Böhmen 76,068.713  1172 

Mähren 27,602.668  121-1 

Schlesien 6,630.396  144-1 

Galizien 28,987.501  125*8 

Bukovina 2,944.354  113-4 

Dalmatien        .   .    .    .    .    2,518.597  1671 

Summe  .  .  .  235,747.278  Kronen. 
Also  neben  den  Staatssteuern  müssen  die  Kron- 
länder zur  Bestreitung  der  Schulausgaben  und  anderer 
Landesbedürfnisse  jährlich  rund  250  Mill.  Kronen  auf- 
bringen. Dazu  kommen  noch  die  50  autonomen  Städte- 
verwaltungen mit  Wien  an  der  Spitze,  welche  in 
dieser  Ziffer  nicht  inbegriffen  sind.  Im  Jahre  1899 
hatten  autonome  Städte  folgende  Ausgaben: 


Wien  .  . 
Linz  .  .  . 
Salzburg  . 
Graz  .  .  . 
Klagenfurt 
Laibach  . 
Triest  .  . 
Innsbruck 
Prag,  Jahr  1898 
Reichenberg    . 


139,578.842  K, 

3,490.630  „ 

2,610.408  „ 

7,991.582  „ 

1,096.661  „ 

3,080.321  „ 

24,371.568  „ 

3,934.838  „ 

5,316.704  „ 

1,655.171  „ 


488 


Brunn 14,941.450  K 

Kremsier      .  .    .      1,738.942   „ 

Olmütz     ....      3,356.204  , 

Troppau  ....      2,219.874  „ 

Lemberg.    .    .    .      3,132.147   „ 

Kolomea  ....      1,616.652  „ 

Czernowitz  ...      1,210.222  „ 

Damit  hätten  wir  ein  Bild  der  öffentlichen  Lasten 

in    Oesterreich    entworfen.    Wie    lange    sich    dieses 

System  erhalten  wird,  kann-  wohl  Niemand  bestimmen, 

dass  es  aber  keine  weiteren  100  Jahre  bestehen  kann, 

wird  wohl  jedermann  zugeben  müssen.  Die  Schulden- 

wirthschaft,  die  Grundlage  des  Kapitalismus  ist  weiter 

ersichtlich  in  der  Verschuldung  des   unbeweglichen 

Besitzes  in  Oesterreich. 

Stand    der   Hypothekarschulden    in   Oesterreich 
war  folgender: 

Jahr  1868  Jahr  1898 

Kronen  Kronen 

Niederösterreich     .  462,911.172    Wien  .  1.348,414.480 

Land  .     636,215.820 
Oberösterreich    .    .  387,846.628  379,146.478 

Salzburg 40,946.180  104,721.160 

Steiermark.    .    .    .226,009.550  393,380.720 

Kärnten    ...        .    69,245.000  161,455.024 

Krain 62,815.054  154,869.836 

Küstenland  .       .    .    54,264.916  194,568.960 

Tirol  u.  Vorarlberg    37,698.334  696,450.296 

Böhmen 588,382.726     Prag  .     419,439.384 

Land  .  2.640,166.350 

Mähren 228,274.812  863,096.260 

Schlesien     ....    47,731.452  266,306.380 

Galizien   \  <iAAAaa<\K*  1.013,353.254 

Bukovina)    •  '    ■    •  14M38.058  83;972.176 

Die    Hypothekarschulden    des    heutigen   Oester- 
reich betrugen: 

Ende  1858  1898 

2.287,738.828  K,       9.543,575.434  K. 
Kommentare  zu   diesen  Ziffern   sind  überflüssig. 

Neue   Belastung   in    den  Grundbüchern  Oesterreichs 

betrug: 

im  Jahre  1899  .  .  .  388,491.585  K, 
„    „   1900  ...  328,255.762  „ 


489 


Die  Hypothekarschulden  Oesterreichs  betrugen  also 

im  Jahre  1858 2.287,738.828  K 

„       „      1900 10.260,322.781  K 

Im  Verlauf  von  42  Jahren  ist  der  unbewegliche 
Besitz  in  Oesterreich  mit  einer  fünffachen  Schulden- 
last beladen  worden.  Die  Hypothekarschuldner  müssen 
den  Gläubigern  mindestens  470  Millionen  Kronen 
jährlich  Schuldzinsen  zahlen,  wobei  wir  sicherlich 
nicht  zu  hoch  greifen.  Dass  es  mit  dem  Wohlstand 
in  Oesterreich  nicht  absonderlich  aussieht,  ersehen  wir 
aus  folgenden  Zahlen.  Das  ganze  Volksvermögen  in 
Oesterreich  dürfte  60.000  Millionen  Kronen  betragen, 
das  von  Ungarn  31.100  Millionen  Kronen.  Das  Brutto- 
einkommen der  Bevölkerung  Oesterreichs  dürfte  jährlich 
6000  Millionen  Kronen  nicht  übersteigen.  Von  der 
Bevölkerung  Oesterreichs,  die  im  J.  1901  auf  26,150.708 
Menschen  angewachsen  war,  entrichteten  nur  837.414 
Personen  die  Personaleinkommensteuer.  Zu  diesen 
waren  noch  weitere  1,633.725  Personen  zugehörig. 
Unter  das  Bereich  der  Personaleinkommensteuer 
gehörten  in  Oesterreich  im  J.  1901  nur  2,471.139 
Personen. 

Nur  der  zehnte  Theil  der  Bevölkerung  in  Oester- 
reich verfügt  über  ein  Existenzminimum  von  1200 
Kronen  jährlich  aufwärts,  die  anderen  neun  Zehntel  der 
Bevölkerung  gehören  zur  Klasse  des  Proletariats.  Das 
Bruttoeinkommen  der  Personalsteuercensiten  wurde 
abgeschätzt  für  das  Jahr  1901: 

Grundbesitz      253,003.638  K 

Gebäude 320,794.556   „ 

Selbständige  Unternehmungen     .    .    .     877,676.979   „ 

Dienstbezüge 1.128,248.132   „ 

Kapitalsvermögen 482,624.389   „ 

Sonstiges  Einkommen 40,642.188   „ 

Es  ist  auffallend,  dass  die  einbekannten  Dienst- 
bezüge grösser  sind,  als  die  einbekannten  Einnahmen 
aus  den  selbständigen  Unternehmungen.  Dürften  doch 
die  Fabrikanten  ihre  jährlichen  600  bis  800  Millionen 
Kronen  Einkommen  haben,  manche  Aktiengesellschaften 
ersticken  ja  im  Geld,  während  der  kleine  Mann  zu 
Grunde  geht,  da  ihm  der  billige  Kredit  unzugänglich 
ist.     Hat    doch    die    österreichisch-ungarische    Bank 


490 


vom  Jahre  1888  bis  1899  Wechsel  escomptiert  im  Be- 
trage von 

in  Wien 11.148*5  Millionen  Kronen 

in  Budapest 6.3296  „  „ 

in  Prag 2.495*5  ,  „ 

in  Brunn 997  „  „ 

in  Lemberg 809  „  „ 

in  Graz 625  „  „ 

Dieser  billige  Kredit  ist  nur  den  Grossbetrieben 
verfügbar.  Dass  die  Lasten  des  Kapitalismus  auf  die 
Dauer  vom  Volk  nicht  ertragen  werden  können,  ist 
doch  ausser  allem  Zweifel.  Das  ganze  Gebäude  wird 
einmal  einstürzen.  Dann  wird  der  Nationalitätenkampf 
verstummen.  Während  Schönerer,  Wolf  und  Gonsortes 
ein  indianisches  Wuthgeheul  erheben,  wenn  im  soge- 
nannten deutschen  Sprachgebiet  ein  Hungerposten 
einem  Sohne  der  böhmischen  Nation  zugewiesen  wird, 
schweigen  diese  alldeutschen  Wütheriche  ganz  gründ- 
lich, wenn  aus  Oesterreich  jährlich  400  Millionen 
Kronen  Zinsen  ins  Ausland  gezahlt  werden  den  Kapi- 
talisten, die  österreichische  Wertpapiere  besitzen,  ob 
es  nun  Kaiman  Lewy  in  Paris  oder  Salamon  Lipp- 
mann in  Amsterdam  sind,  das  weiss  eben  das  Pu- 
blikum nicht.  Das  Kapital  ist  international  und  die 
Christen  würgen  sich,  um  einige  magere  Abfallsbrocken 
gegenseitig  vom  Munde  sich  abzujagen. 

Die  Finanzjuden  geniessen  in  Ruhe  unnahbar  ihre 
Millionen.  Ja  sie  haben  ihre  Vertheidiger  gefunden, 
die  allmächtige  Judenpresse,  welche  sie  bezahlen  und 
unter  ihren  Fittigen  mögen  die  Finanzbarone  ruhiger 
schlafen  als  die  Erben  hundertjähriger  Throne. 

b)  Deutschslands  Finanzkräfte. 

Das  geeinte  neue  Deutsche  Reich  hat  sich  rasch 
zu  einem  Industriestaate  ersten  Ranges  entwickelt. 
Die  6000  Millionen  Francs  Kriegsbeute  sind  zwar 
nicht  Volkseigenthum  geworden,  aber  immerhin  fielen 
einige  gute  Brocken  ab  für  einzelne  Glückliche.  Die 
Grundlage  zur  Spekulation  und  zum  Industrialismus 
war  damit  geschaffen. 

Deutschland  muss  für  die  Ernährung  seiner  Be- 
völkerung jährlich    um  700  Millionen    Mark    fremdes 


491 


Getreide  kaufen.  Die  veröffentlichten  Ziffern  des  stati- 
stischen Amtes  über  den  Getreideverkehr  Deutsch- 
lands mit  dem  Auslande  im  Jahre  1901  liefern  einen 
Beweis  dafür,  wie  sehr  -  Deutschlands .  Getreide- 
versorgung, namentlich  in  Zeiten  nicht  befriedigender 
Einten,  auf  das  Ausland  angewiesen  ist.  Im  Jahre  1901 
wurden  nämlich  eingeführt:  23,063.861  D.-Gtr.  Weizen 
(gegen  12,995.343  in  1900),  8,871.903  D.-Ctr.  Roggen 
(9,678.390),  4,760.121  D.-Ctr.  Hafer  (5,595.433),  9,176.417 
D.-Ctr.  Gerste  (7,725.109),  12,106.839  D.-Ctr.  Mais 
(13,936.601),  408.845  D.-Ctr.  Weizenmehl  (370.360) 
und  26.426  D.-Ctr.  Roggenmehl  (18.386).  Ausgeführt 
wurden  dagegen:  238.664  D.-Ctr.  Weizen  (3,920.105 
in  1900),  1,051.476  D.-Ctr.  Roggen  (1,198.973),  2,236.262 
D.-Ctr.Hafer(2.011.978),442.956D.-Ctr.Gerste(407.194), 
131.279  D.-Ctr.  Mais  (107.517),  306.621  D.-Ctr.  Weizen- 
mehl (347.530)  und  564.607  D-Ctr.  Roggenmehl 
(937.379).  Danach  überstieg  also  die  Einfuhr  von 
Weizen  die  Ausfuhr  um  weit  über  das  Doppelte  des 
Bedarfs  des  Jahres  1900. 

Es  ergibt  sich  für  die  einzelnen  Getreidesorten 
folgender  Einfuhrüberschuss  (in  D.-Ctr.): 

1901  1900  1899 

Weizen  ....  20,682.197  9,075.238  12,660,757 
Roggen     ....    7,820.427       8,484.417        4,378.699 

Hafer 2,523.859      3,583.465        2,024.311 

Gerste 8,733.461       7,317.915      10.823.833 

Weizenmehl     .    .       102.224      2,222.830  92,179 

Mais 11,975.560     13,829.084        1,626.595 

Des  Ausfuhrüberschuss  betrug  im  Jahre  1901  in 
D.-Ctr.  543.749  Roggenmehl  gegen  918.998  in  1900 
und  1,233.451  in  1899.  Der  Rückgang,  den  das  Export- 
geschäft in  Roggenmehl  unter  der  Herrschaft  des 
neuen  Mühlenregulativs  genommen  hat,  ist  besonders 
bemerkenswerth.  Während  im  Jahre  1898  1,122.119 
D.-Ctr.  Roggenmehl  mehr  zur  Ausfuhr  als  zur  Ein- 
fuhr gelangten  und  im  Jahre  1899,  wie  oben  ange- 
geben, 1,233.451  D.-Ctr.  mehr  exportirt  wurden,  be- 
trug der  letztjährige  Ueberschuss  des  Exports  nur 
noch  543.749  D.-Ctr. 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  Thätigkeit  der  jüdi- 
schen Finanzmächte  hier  vornehmlich  im  Bankwesen 


492 


und  im  Handel  auftritt.  Nach  Schmoller  zählt  Deutsch- 
land 12  Millionen  Familien,  davon  sind  250.000  Fa- 
milien, deren  Vermögen  über  eine  Million  beträgt, 
2,750.000  Familien  haben  ein  Vermögen,  das  wir  zum 
Mittelstande  rechnen,  3,750.000  Familien,  deren  Ver- 
mögen zur  Zwerg wirthschaft  angerechnet  wird,  der 
Rest  5,250.000  Familien  bilden  das  städtische  und 
ländliche  Proletariat  Dass  die  Juden  in  Deutschland, 
gerade  so  wie  bei  uns,  das  grösste  Kontingent  zu 
den  Millionären  stellen,  ist  leicht  zu  beweisen.  Im 
Mai  1897  veröffentlichte  die  badische  Landeszeitung 
die  Censiten  der  Haupstadt  Karlsruhe.  Darnach  zahlten 
632  jüdische  Steuerträger  Steuern  von  einem  Ver- 
mögen von  36  Millionen  Mark,  währed  die  übrigen 
protestantischen  und  katholischen  Censiten,  16.330  an 
der  Zahl,  eine  Steuer  zahlen  von  213  Millionen  Mark 
Vermögen.  In  Karlsruhe  hat  demnach  jeder  jüdische 
Steuerträger  ein  Vermögen  von  56.900  Mark,  jeder 
christliche  Steuerträger  nur  18.000  Mark.  Also  sind 
die  Juden  in  Badens  Hauptstadt  dreimal  so  reich  als 
die  Christen.  Es  ist  bekannt,  dass  gerade  in  Baden 
und  Elsass  der  jüdische  Wucher  am  meisten  ver- 
breitet ist.  Es  ist  begreiflich,  dass  in  einem  Staate, 
wie  Deutschland,  wo  die  Industrie  und  der  Handel 
jährlich  eine  riesige  Summe  von  200  Milliarden  Mark 
Geldumsatz  vonnöthen  haben,  dass  da  der  Einfluss 
der  jüdischen  goldenen  Internationale  ein  ungeheurer 
ist.  Sehen  wir  uns  nun  die  Berliner  Börse  an,  von 
welcher  behauptet  wird,  dass  sie  jetzt  nach  der  Lon- 
doner die  erste  Rolle  spielt.  Die  70  Tausend  Juden 
Berlins  haben  folgende  jüdische  Inhaber  von  Bank- 
und  Wechselhäusern,  welche  den  Stock  der  Berliner 
Effektenbörse  bilden,  aufzuweisen:  Max  Abel,  Brüder 
Abrahamsohn,  Abramczyk,  Anger  u.  Friedländer,  Hell- 
muth Arnheim,  Max  Aron,  Aron  und  Haberstolz,  Ge- 
brüder Arons,  Arons  u.  Walter,  Aron  Ascher,  Sigmund 
Achrott,  Moritz  Bob,  SaloBaginski,  Brüder  Bamberger, 
Hermann  Baschwitz,  Isidor  Berliner,  Josef  Gold- 
schmidt, Bernstein,  Julius  Bleichröder,  Hossias  Bloch, 
Otto  Blumberg,  Jak.  Blumenthal,  Blumenthal  u.  Brandes, 
Bruno  Boer,  Gustav  Boer,  Boerstein  u.  Berwald,  Moritz 
Bonte,  Robert  Barchard,    Barn    und  Busse,    Siegfried 


493 


Braun,  Konrad  Braun,  Bankhaus  Gelpke,  Eigenthümer 
sind  Juden  Goldberger,  Rosenberg  und  Winterfeld, 
Isidor  Brzoza,  Abraham  Busse,  Gähn,  Hellmann  und 
Comp.,  Gallam  und  Voss,  Ernst  Karo,  Richard  Gerf, 
Benno  Cohn,  Brunno  Gohn,  Georg  Gohn,  Ludwig 
Gohn,  Meyer  Gohn,  Sali  Gohn,  Gohn-Löwy,  Alex. 
Daniel,  Martin  Daniel,  Leo-Delbrück,  Dienstbach  und 
Moebius,  Dresl  und  Friedländer,  Dreyfuss-Isidels, 
Ehrenberger  und  Comp.,  Hermann  Eizenberg,  Julius 
Eisenhardt,  Salo  Elias,  Eugen  Ellon,  Siegfried  Ellon, 
Herrman  Ellwanger,  Max  Engel,  Ludwig  Engelmann, 
Abr.  Ephraim,  Max  Epstein,  Falkenburger,  Feigelsohn, 
L.  Feig,  Filip  Feig,  Feig  u.  Pinkus,  Siegfried  Fischer, 
Fischer  u.  Jakobsohn.  Em.  Fraenkl,  Heinrich  Fränkl, 
Jean  Fränkl,  Samuel  Fränkel,  Friedmann,  Albert  Fried- 
länder, Ed.  Friedländer,  Arnold  Friedländer  u.  Jakob- 
sohn, Friedländer  und  Freimark,  Friedländer  und 
Pollak,  Bernhard  Friedmann,  Herrmann  Friedmann, 
Leopold  Friedmann,  Fromberg,  Glasserfeld  u.  Wolf- 
sohn, Fr.  Goldschmidt,  Moritz  Gotstelf,  Jul.  Magnus, 
Em.  Gütermann,  Gumpert  und  Filip,  Louis  Gumpert, 
Gumperz  und  Samuel,  Brüder  Guttenberg  u.  Gold- 
schmidt, Max  Gutmann,  Siegfrid  Hahlo,  Brüder  Hei- 
mann, Helfift,  Natan  Helfift,  Helfft  und  Friedländer, 
Samuel  Herz,  Herz  u.  Loewenberg,  Herfeld  und  Sohn, 
Gebrüder  Heymann,  Heymann  u.  Loewy,  Louis  Hirsch, 
Nathaniel  Hirsch,  Jul.  Hirschberg,  Gebrüder  Hirschler, 
Louis  Hoflfstädt,  Hugo  Harwitz,  Herrmann  Jacoby, 
Jacquier  und  Securius,  Jaffa  und  Levin,  Siegfrid  Jafife, 
Jarizlovsky  u.  Hamburger,  Julis  Kaimus,  David  Kapel, 
Katz  und  Wohlauer,  Max  Katzellenbogen,  Eugen  Blu- 
menfeld, Samuel  Kaufmann,  Emil  Klein,  Paul  Kno- 
blauch, Samuel  Köhler,  Köhler  und  Rosental,  Koppel 
und  Braun,  Krakauer  und  Manasse,  Kroner,  Louis 
Kuczynski,  Jacob  Kussel,  Jacob  Landau,  Wilhelm  Lan- 
dau, Karl  Landsberg,  Siegfrid  Landsberg,  Richard 
Landsberger,  Siegfrid  Landsberger,  Samuel  Lands- 
berger, Langer  und  Loewy,  Lewin  und  Sohn,  Moritz 
Loewy,  Lemenz  und  Landauer,  Lewin,  Georg  Loewy, 
Lilienthal,  Hugo  Lion,  Moritz  Loewe,  Peter  Loewe, 
Gustav  Loewenberg,  Theodor  Loewenberg,  Löwenstein 
und  Bauer,  Alex.  Loewenherz,  Hermann  Loewenherz, 


494 


Selma  Loewenstein,  Leopold  Loewy,  Em.  Lensfein, 
Jakob  Magnus,  Mahler  und  Pietsch,  Eduard  Mamroth, 
Mamroth  und  Sohn,  Manasse  und  Comp.,  Hugo  Man- 
kiewicz,  Bruno  Mark,  Felix  Mark,  Markus  u.  Voekmer, 
Markuseund  Fraenkel,  Karl  Markuson,  Emil  Mendels- 
sohn, Ernst  Mendelssohn,  Brüder  Merzbach,  August 
Meyer,  Meyer  und  Rosenthal,  Meyer  und  Sachs,  Aron 
Meyer,  Nathan  Meyersohn,  Moebius  und  Abraham, 
Mailing  und  Aschenheim,  Müller  u.  Heilmann,  Adolf 
Munk,  Victor  Muschak  Markus  Nelken,  Karl  Neuburger, 
Dawid  Neufeld,  Josef  Naymann,  Alfred  Neumann, 
Otto  Neumann,  Wilhelm  Neumann,  Markus  Oberländer, 
Oehlschläger,  Georg  Oppenheim,  Heinr.  Oppenheim, 
Oppenheimer  und  Mamroth,  Oppenheimer  und  Rosen- 
baum, Herrn.  Parsch,  Louis  Paderstein,  Georg  Pader- 
stein,  Philipsborn,  Max  Pick,  Pinkas,  Abraham  und 
Pinner,  Plaut,  Prerauer,  Rathenau,  Reinwald  und 
Hirsch,  Louis  Riess,  Ritter  und  Braun,  Roessler  und 
Lunk,  Filip  Rosenbaum,  Julius  Rosenberg,  Resendorf 
und  Wechselmann,  Rosenfeld  u.  Goldschmidt,  Wilhelm 
Rosenheim,  Rosenstein,  Rosen  stock,  Paul  und  Arthur 
Rothschild,  Louis  Rothschild,  Rothstein  und  Pasch, 
Russ,  Saalfeld,  Isidor  Sachs,  Siegfried  Sachs,  Sachs 
und  Pinkus,  Samelsohn,  Samson,  Samuel,  Sass  und 
Martini,  Saulmann,  Bernhard  Schiff,  Julius  Schiff, 
Siegfrid  Schiff,  Isidor  Schindler,  Abraham  Schlesinger, 
Schlesinger  u.  Trier,  Max  Schlesinger,  Schwen,  Schuck, 
Schwass  und  Lewin,  Seemann  und  Rothschild,  Max 
Sello,  Simonsohn  u.  Goldschmidt,  Sonntag  u.  Martini, 
Steinfeld,  Bruno  Steinitz,  Max  Steinitz,  Louis  Stein- 
thal, Steinthal  u.  Blumenthal,  Sternberg,  Sternheim, 
Veit,  Robert  Warschauer,  Wassermann,  Cohn  u.  Keil, 
Weisbach,  Berlin  u.  Müller,  Max  Wiener,  Mich.  Wiener, 
Wiener  Lewy,  Wohlstein,  Zilenziger,  Aschenheim, 
Conov  u.  Grünwald,  Gans  u.  Mamroth,  Hirschfeld  u. 
Goldschmidt.  Darnach  sind  in  Berlin  rund  280  jüdische 
Bankhäuser,  aus  denen  die  bekannten  vielfachen  Mil- 
lionäre sind  die  Rothschild,  Warschauer,  Oppenheim, 
Mendelssohn,  Bleichröder,  Goldschmidt,  Heinemann. 
Da  Berlin  rund  an  80  Tausend  Juden  zählt,  sind  unter 
diesen  Bankfirmen  selbstverständlich  nicht  die  jüdischen 
Börsenmakler  gezählt,  deren  es  Hunderte  pibt. 


495 


Gehen  wir  noch  einige  Schritte  weiter  und  zwar 
an  die  zweite  Börse  Deutschlands,  nach  Frankfurt  a.  M., 
der  Wiege  der  Rothschilde.  Der  Stock  der  Frankfurter 
Börse  ist  von  folgenden  Bankhäusern  gebildet:  Ju- 
lius Boer,  Max  Grünwald,  Bass  und  Herz,  Abraham 
Bauer,  Brüder  Bauer,  Markus  Bender,  Berle,  A.  Bonn, 
Baruch  Bonn,  Bottenwieser,  Heinr.  Cohn,  Jonas  Gohn, 
Coppel,  Dreyfuss,  Ederheiraer,  Elissen,  Emanuel,  H. 
Emden,  Emden  u.  Lehrmann,  Erlanger,  A.  Fürth, 
Gans,  E.  Goldschmidt,  Goldschmidt  und  Rissdorf, 
Manfred  Goldschmidt,  Markus  Goldschmidt,  Simon 
Goldschmidt,  Goldschmidt  und  Schlesinger,  Gold- 
stein, Gross,  Gomperz,  Hass  u.  Weiss,  Abr.  Halle,  J. 
Heimann,  Julius  Heymann  Ipersheimer,  Isaac  u. 
Fromberg,  Jaffe  u.  Prier,  Abr.  Josef,  Jakob  Kohn, 
Kohn  u.  Comp ,  Katzenstein  u.  Benjamin,  Nathan 
Katzenstein,  Brüder  Klan,  Koch,  Marx,  Ladenburg, 
Lewy,  Lichtenberg,  Lichtenstein  und  Vöhl,  Heinr. 
Lust,  Lust  u.  Kohn,  Leop.  Mainz,  Mainz  u.  Seelig- 
mann, Mandelbaum,  Jakob  Meyer,  Louis  Meyer,  Meyer- 
feld und  Comp ,  Merzbach,  Aron  Meyer,  Meyer  u. 
Comp..  Mosbacher,  Müller-Stern,  Neumann-Munz,  Neu- 
stadt!, Nordschild,  Linaven,  Oppenheimer,  Mich. 
Oppenheimer,  Rosenstein,  Rosenthal,  Moses  Roth- 
schild und  Söhne,  Sachs,  Salmony,  Salamon-Levins, 
Samuel,  Schild,  Schloss,  E.  Schwarzschild,  Schwarz- 
schild u.  Söhne,  Meier  Schwarzschild,  Saligmann, 
Seemann,  Seligmann  u.  Stetheimer,  Sichel,  Simon, 
Sonnenberg,  Leyer-Elisser,  Stern,  Straus  u.  Mandel- 
baum, Caesar  Straus,  Sulzbach,  Tehlee,  Weiller, 
Weiss  u.  Boer,  Louis  Wertheimer,  Zöb  Herz,  Zunz, 
David  Zunz,  Saimi  Saphet.  Die  Börse  in  Frankfurt 
ist  also  gebildet  von  rund  100  Bankhäusern.  Ob 
darunter  Christen  sind,  können  wir  nicht  angeben. 
Die  schwerwiegendsten  Millionäre  sind  hier  Dreyfuss, 
Erlanger,  Oppenheimer  und  Wertheimer.  Wir  könnten 
noch  sämmtliche  jüdische  Bankhäuser  in  anderen 
Handelscentren  aufzählen,  wie  die  von  Hamburg, 
Breslau,  Hannover,  München,  doch  glauben  wir  den 
Lesern  den  Beweis  sattsam  erbracht  zu  haben  durch 
die  Bankhäuser  von  Berlin  und  Frankfurt.  Nun  sehen 
wir  uns  noch  die  grossen  Reservoirs  von  fliessendem 


49f> 


Kapital,  nähmlich  die  Banken.  Abgesehen  von  der 
Reichsbank,  sind  in  Gewalt  jüdischer  Finanziers  in 
Deutschland  folgende  Kreditbanken :  Barmener  Bank- 
verein, Caminsche  Wechselbank.  In  Berlin:  Allge- 
meine Handels-  und  Gewerbebank,  Komanditbankhaus 
von  Simon  Katz  und  Comp.,  Handelsbank,  deren 
Eigenthümer  sind  Hirsch,  Magdeburg,  Riesser,  Marx, 
Spiritus-  und  Getreidehaudelsbank ;  Berliner  Bank. 
Direktor  Godschmidt.  Berliner  Gommerzielle  Bank, 
Direktor  Maerker,  Berliner  Handelsgesellschaft,  Ber- 
liner Maklergesellschaft,  die  Börsenhandelsgesellschaft; 
Berliner  Bank  Nord,  Deutsche  Vereinsbank,  Deutsche 
Hypothekenbank,  Meiniger  Hypothekenbank,  Deutsch- 
russische Handelsgesellschaft,  Handels-  und  Gewerbe- 
bank Alt-Berlin,  Maklerbank  mit  dem  Direktor  Peiser 
u.  Ring,  Mitteldeutsche  Creditbank,  Norddeutsche 
Bodencreditbank,  Rheinisch-Westphälische  Bank,  Di- 
rektoren :  Friedmann,  Pilartz  u.  Bauer,  Schaffhausener 
Bankverein.  Also  über  20  Bankgesellschaften  in 
Berlin  befinden  sich  in  der  Gewalt  Judas.  Weitere 
Greditbanken  in  jüdischer  Gewalt  sind  die  Bremer- 
bank in  Bremen,  Breslauer  Wechselbank  in  Breslau, 
Breslau  er  Diskontogesellschaft,  der  schlesische  Bank- 
verein; Dresdener  Bank  in  Dresden  ist  voll  von 
Juden,  Sächsische  Bankgesellschaft  in  Dresden.  In 
Frankfurt  a.  M.:  Die  deutsche  Effektenwechselbank, 
Deutsche  Unionbank,  Deutsche  Vereinsbank,  Frank- 
furter Bank.  In  Hamburg:  Hamburger  Maklerbank, 
Hamburger  Wechslerbank.  In  diesen  Banken  sind  die 
Direktoren,  Prokuristen,  Hauptkassierer  meistens  Juden. 
Hamburg  hat  rund  40  jüdische  Bankhäuser,  Hannover 
30,  Leipzig  12,  München  20,  Nürnberg  25.  Ausserdem 
gibt  es  in  kleineren  Handels-  und  Industriestädten 
Deutschlands  noch  über  400  Bank-  und  Wechselhäuser 
in  Händen  von  Juden.  Damit  ist  zur  Genüge  bewiesen, 
dass  die  goldene  jüdische  Internationale  den  sämmt- 
lichen  Credit  in  allen  Haupt-,  Industrie-  und  Handels- 
stätten in  Deutschland  in  ihrer  Macht  hat.  Selbst 
das  erste  Reichsinstitut  ist  nicht  frei  vom  jüdischen 
Einfluss.  Der  Verwaltungsrath  der  Deutschen  Reichs- 
bank hat  jüdische  Mitglieder  den  Warschauer,  Zwicker, 
Plaut,    Bleichröder,    Hansemann,    Rothschild,    Meier, 


497 


Behrend,  Mendelssohn,  Oppenheim,  Stern,  Also  die 
grössten  jüdischen  Finanzbarone  Deutschlands  sitzen 
in  der  Reichsbank.  Der  sämmtliche  besteuerte  Besitz 
Deutschlands  ist  abgeschätzt  auf  64.024  Millionen 
Mark.  Der  besteuerte  Bodenbesitz  Preussens  ist  abr 
geschätzt  auf  22.376  Millionen  Mark.  Dagegen  habeij 
die  Kapitalisten  Preussens  ein  bewegliches  Vermögen 
von  31.000  Mill.  Mark  aufzuweisen.  Na,ch  Schmoller 
beträgt  das  bewegliche  Vermögen  in  Deutschland  die 
Summe  von  52.000  Millionen  Mark.  An  der  Berliner 
Börse  sind  folgende  Werthe  in  Cirkulation: 

Nominalwerth : 

Staatsschulden 11.798  Mill.  Mark, 

Landesschulden      260     „        „   : 

Städtische  Schulden 963     „        „ 

Pfandbriefe  des  Grossgrundbesitzes     1.906     „        „ 

Hypotheksschulden 4.921      „        „ 

Eisenbahnobligationen 374     „         „ 

Industriepapiere     ......    .    .       329     „         „ 

Summe  .    .    .  20.892  Mill.  Mark. 

Lose      189  Mill.  Mark, 

Bahnaktien 427      „        „ 

Aktien  von  Versicherungsbanken   .       258     „        „ 

Bankaktien 2.650     „        „ 

Bergwerksaktien 1.017     „        „ 

Aktien  von  Maschinenfabriken    .    .       220     „        „ 

Baugesellschaften 66     „        „ 

Aktien  anderer  Industrieunterneh- 
mungen     .    1.472     „        „ 

Summe  .  .  .  6.112  Mill.  Mark. 
Es  kursieren  an  der  Berliner  Börse  655  Werth- 
papiere,  die  ein  bewegliches  Vermögen  von  27.203 
Kurswerth  darstellen.  Die  Thätigkeit  der  Berliner 
Börsenjuden  ist  genau  dieselbe  wie  die  an  der  Börse 
in  Wien.  Die  wohlthätige  Thätigkeit  der  Berliner 
Börse  ist  am  besten  zu  erkennen  an  der  Kursr 
treiberei  der  Aktien.  Es  beträgt  der  Nominalwerth  der 
Aktieneffekten  folgende  Summen: 

«r      •    i     _i.i_  Böraenwerth 

Nominalwerth  ßnde  1896 

Eisenbahnaktien  .    .   .  327  Mill.  M.       427  Mill.  M., 
Versicherungsbanken     57      „      „        427      „      „ 
Bankaktien.    ,   ...    1723      „      „      2650      „      „ 

32 


498 


Der  Nominalwerth  sämmtlicher  Aktien  deutscher 
Provenienz,    die    an    der    Berliner   Börse    kursieren, 
beträgt  die  Summe    von    3.854  Mill.  Mark,   welchen 
Betrag  die  Börse  Ende   1896  auf  6.112  Millionen   in 
die  Höhe  getrieben  hat.  Am  Tage,  wo  diese  Effekten 
emissioniert  wurden,   sagen  wir  die  Aktien   der  Ver- 
sicherungsbanken,  hatten   diese  Effekten   den  Werth 
zusammen   von   57  Millionen   Mark-    Im    Laufe    der 
Jahre    ist    aber    der    Werth    derselben    Aktien    auf 
427  Millionen  gestiegen.  Mann  sieht,  dass  der  Zauber- 
stab der  alten  Hexenmeister   ein  reines  Kinderspiel 
ist   gegenüber   der   Kunst   der   Börsenjuden,    welche 
ernten,  wo   sie  nicht  säen.    Aus   diesen  angeführten 
Zahlen  ersehen  wir,    dass  der  Bodenbesitz   Deutsch- 
lands  mit  einer  Schuldenlast  von  17.200  Mill.  Mark 
beschwert   ist.     Es  müssen   die  Landwirthe  Deutsch- 
lands den  Kapitalisten  mindestens  jährlich  600  Mill. 
Mark   an  Zinsen   entrichten.    Nebst   dem  Besitz    der 
Wertpapiere    deutscher  Provenienz   haben    die  Ber- 
liner   Börsenjuden    eine    Unmasse    österreichischer 
Werthe  in  ihren  Kassen.     Im  Jahre  1893  hatten  die 
Berliner    Börsenjuden    509   Mill.    fL    österreichischer 
und   ungarischer   Staatschuld    in   ihrer   Hand.    Das 
ganze  bewegliche  Vermögen  Deutschlands  beträgt  die 
Summe  von  73.640  Millionen  Mark,  wovon  sicherlich 
wenigstens   60%   in  Händen    der  Juden    sein   wird. 
Darnach  würde   auf  einen  jeden  Juden   in  Deutsch- 
Deutschland  ein  Papierbesitz   von  73.000  Mark  ent- 
fallen.   Berlin  zählt  über  68.000  Juden,    denen    mehr 
als    die   Hälfte   aller   Berliner   Häuser  gehören,    die 
einen  Werth  von  1.830  Millionen  Mark  repräsentieren. 
Es  gibt   hier  2.092  Millionäre,   deren  geringstes  Ein- 
kommen 36.000  Mark  jährlich  beträgt,  von  denen  die 
reichsten  8  Millionäre  3  bis  über  eine  Million  Mark 
jährlich  Einkommen  haben,   das    kann  Niemand  an- 
derer  sein  als  Rothschild,  Bleichröder  und  Mendels- 
sohn. Die  Steuerträger  Deutschlands  müssen  jährlich 
für  die  Zinsen  der  Staatsschuld  mindestens  730  Mill. 
Mark  aufbringen. 

Der  grösste  Theil  dieser  Zinsen  verschwindet  In 
den  festen  Geldschranken  der  jüdischen  Börsenbarone. 
Die  jährlichen   E^1""    ""    * k*  goldenen  Internationale 


499 


aus  den  Aktien  betragen  mindenstens  400  Millionen 
Mark.  Der  gesatnmte  bewegliche  Besitz  Deutschlands 
bringt  den  Kapitalisten  ein  jährliches  Einkommen, 
wenn  wir  nur  eine  dreipercentige  Verzinsung  annehmen, 
von  rund  2500  Millionen  Mark  ein.  Davon  werden 
sicherlich  mindestens  70  Percent  die  Juden  vertragen. 
Obzwar  also  Deutschland  nur  halb  so  viel  Juden 
besitzt  als  wir  in  Oesterreich,  ist  doch  auch  hier  das 
Kapital  in  den  Händen  der  jüdischen  Finanziers.  Um 
diese  Milliarden  des  erschwindelten  Vermögens  sicher- 
zustellen für  die  Zukunft,  damit  es  nicht  die  Beute 
verarmter  und  zur  Verzweiflung  gebrachter  Massen 
werde,  dafür  hat  der  Jude  weislich  vorgesorgt  nach  den 
Worten  der  hl.  Schrift,  machet  euch  Freunde  von 
dem  ungerechten  Mammon.  Die  rothe  Internationale 
in  Deutschland,  deren  Hauptführer  Singer  und  Arons 
jüdische  Millionäre  sind,  ist  zu  einer  mächtigen 
Vertheidigungsarmee  der  goldenen  jüdischen  Inter- 
nationale geworden.  Die  Rothen,  welche  fort  und 
fort  den  Pfaffen  die  Verdummung  des  Volkes  vor- 
halten, greifen  die  jüdischen  Millionen  weder  in 
ihren  Zeitungen,  noch  in  ihren  Versammlungen  nie- 
mals an,  weil  sie  ihren  Mund  selbst  von  jüdischen 
Schweiggeldern  verschlossen  haben.  Die  Börse  in 
Berlin  hatte  folgende  Umsätze:  Es  wurden  an  der- 
selben Wertpapiere  verkauft  im  Betrage  von 
im  Jahre  1899  .    .    .  10.392  Millionen  Mark 

„       „       1900.    .    .    8.994         „ 

„       „       1901.    .    .    5.797 

„  „  1902.  .  .  6.102 
Demnach  scheinen  auch  für  die  Börse  in  Berlin 
einige  magere  Jahre  angebrochen  zu  sein.  Den  Stock 
der  Berliner  Börse  geben  die  von  uns  citierten 
jüdischen  Bankfirmen  ab.  Es  sind  dies  die  Millionäre 
Berlins.  Die  Zahl  der  Millionäre  in  Berlin  berechnet 
das  „Statistische  Jahrbuch  der  Stadt  Berlin"  vom 
Jahre  1898  auf  2092.  Als  Millionär  wird  hiebei  ge- 
zählt, wer  über  ein  jährliches  Einkommen  von  mehr 
als  36.000  Mark  verfügt.  Der  reichste  Berliner  hatte 
ein  Einkommen  von  beinahe  3  Millionen  Mark,  was 
etwa  einem  Vermögen  von  75  Millionen  entsprechen 
würde.    Der  zweitreichste  Berliner  war  auf  ein  Ein- 

32* 


500 

kommen  von  etwa  1,720.000  Mark  eingeschätzt.  Ueber 
eine  Million  Mark  Einkommen  haben  sieben  Berliner» 
Ein  Einkommen  von  mehr  als  40.000  Mark  haben 
1852  Berliner,  von  20.500  bis  40.000  Mark  2623,  über 
9000  Mark  8035,  das  heisst  ohne  die  höheren  Stufen. 
Die  oberen  Zehntausend  beginnen  also  für  Berlin 
etwa  mit  einem  Einkommen  von  9000  Mark.  Ueber 
5200  Mark  Einkommen  verfügen  12.559,  über  3000 
Mark  17.680.  Im  Ganzen  haben  also  mehr  als  42.000 
Berliner  ein  Einkommen  von  über  3000  Mark.  Die 
Zahl  ist  seit  den  letzten  drei  Jahren  stetig  zurückge- 
gangen; sie  betrug  1894  noch  43.819.  Die  Zahl  der 
ein  Einkommen  von  900  bis  1800  Mark  geniessenden 
Berliner  ist  dagegen  um  21.107  gestiegen,  offenbar 
auf  Kosten  der  früher  steuerfreien,  unter  900  Mark 
Eingeschätzten.  Das  jährliche  Gesammteinkommen  der 
Berliner  Bevölkerung  berechnet  das  Jahrbuch  auf  1 
Milliarde  206 Va  Millionen  bei  den  physischen  und 
öl1/*  Millionen  bei  den  nichtphysischen  Personen.  Das 
Durchschnittseinkommen  beträgt  731  Mark  64  Pfen- 
nige. Im  Ganzen  betrug  das  Veranlagungs-Soll  der 
Einkommensteuer  über  20  Millionen  Mark,  in  der 
ganzen  Monarchie  123 1/2  Millionen. 

Das  grösste  Bankhaus  im  Deutschen  Reiche,  das 
Rothschildsche  in  Frankfurt  an  Main,  ist  durch  den 
Tod  Wilhelm  Rothschilds  aufgelöst  worden.  Im  August 
1901  berichteten  die  Börsenblätter  folgendes:  Die 
Liquidation  schreitet  so  rüstig  verwärts,  dass  sie 
bereits  innerhalb  weniger  Wochen  durchgeführt  sein 
dürfte.  Der  ausserordentliche  bedeutende  Effekten- 
besitz der  liquidirenden  Firma  ist  schon  zum  grossen 
Theil  realisirt  und  der  Erlös  für  Rechnung  der  Be- 
theiligten an  das  Bankhaus  Rothschild  nach  London 
gesandt  worden,  durch  welches  die  Abwickelung  und 
Abrechnung  erfolgen  wird.  Diejenigen  Effekten,  zu 
deren  Realisation  noch  nicht  geschritten  worden  ist, 
weil  ihre  jetzigen  Kurse  dafür  nicht  als  ausreichend 
erachtet  werden,  sollen  ebenfalls  nach  London  gesandt 
werden,  wo  sie  in  Verwahrung  bleiben,  bis  die  Kurse 
erreicht  sein  werden,  die  man  für  eine  Verwahrung 
ins  Auge  gefasst  hat.  Die  Erben  des  Privatvermögens 
des    verstorbenen    Freiherrn   Wilhelm    v.   Rothschild 


501 


sind  die  beiden  Töchter,  von  denen  die  eine  an  den 
Baron  Edmond  v.  Rothschild  in  Paris,  die  andere 
an  Herrn  Max  B.  H.  Goldschmidt  in. Frankfurt  a.  M. 
verheiratet  ist.  Auch  der  Gründbesitz,  soweit  er  dem 
verstorbenen  Freiherrn  gehörte,  fällt  diesen  Erben  zu; 
Der  grösste  Theil  des  riesigen  Rothschildschen  Grund- 
besitzes in  Frankfurt  gehört  übrigens  der  Freifrau  v; 
Rothschild,  die  ihr  eigenes  Vermögen  hat.  Ueber  die 
Ziffer  der  Hinterlassenschaft  gehen  die  Angaben  aus- 
einander, man  bezeichnet  den  Betrag,  der  in  mobilen 
Werthen  hinterlassen  ist,  auf  etwa  300  Millionen  M., 
während  über  die  Höhe  des  Geschäftskapitals,  mit 
dem  die  Firma  arbeitete,  keine  näheren  Angaben  im 
Umlauf  sind.  Aus  dem  Umstände,  dass  die  aus  der 
Liquidation  verfügbar  werdenden  Gelder  zum  grössten 
Theile  nach  London  überwiesen  werden,  erklärt  es  sich 
auch,  dass  in  der  letzten  Zeit  sehr  häufig  starke  Nach- 
frage für  Wechsel  auf  London  hervortrat.  Man  wird  sich 
nach  alledem  wohl  mit  der  bedauerlichen  Thatsache 
abfinden  müssen,  dass  das  grosse  Vermögen  des 
letzten  der  Frankfurter  Rothschilds  Deutschland  ent- 
zogen wird  und  weder  werbend  noch  an  den  Steuer- 
lasten theilnehmend  mehr  bei  uns  mitwirkt. 

Ueber  die  jüdische  Bankfirma  Robert  Warschauer 
berichteten  die  Börsenblätter  im  September  1901  fol* 
gendes:  Robert  Warschauer  u.  Co.  Die  Firma  begeht 
jetzt  ihr  öOjähriges  Jubiläum  und  da  sie  eine  der 
feinsten  und  reichsten  in  der  Reichshauptstadt  ist, 
so  verlohnt  es  sich  wohl,  kurz  die  Geschichte  des 
Hauses  zu  rekapitulieren.  Aus  Königsberg  kommend 
und  von  vorneherein  das  grosse  russiche  Kontokorrent- 
Geschäft  festhaltend,  hat  es  sehr  lange  gedauert,  bis 
sich  Robert  Warschauer  von  diesen  reinen  Kommis- 
sions-Geschäften zu  Gunsten  von  Finanzierungen  trennen 
mochte.  Wenig  grosse  Häuser  hatten  in  der  That  so 
lange  den  jetzt  angeblich  veralteten  Grundsatz  fest- 
gehalten, dass  die  Jahresgewinne  eines  Bankiers  sich 
aus  den  Provisionen  (V8  oder  V4%)  zusammenzusetzen 
hätten,  nicht  aber  aus  glänzenden  Konsortial-  oder 
Anleihen-Gewinnen,  die  bei  ihrem  unsicheren  Charak- 
ter auch  einmal  in  Verluste  umschlagen  könnten.  In 
diesem   Sinne   hat   sich   die  Firma  Warschauer  erst 


502 


von  ihr  befreundeten  Frankfurter  Häusern  bei  den 
italienischen  Tabakgeschäften  „mitnehmen"  lassen. 
Dennoch  ist  das  Haus  reich  genung  gewesen,  um  in 
den  Jahren  des  siebziger  Krachs  eine  mit  verwandte, 
allererste  Berliner  Firma,  die  heute  noch  weit  reicher 
ist,  nachdrücklich  und  in  aller  Stille  sanieren  zu 
helfen.  Die  Kommanditierung  vor  2  Jahren  dann  durch 
die  Darmstädter  Bank  hatte  insofern  einige  Verwun- 
derung erregt,  als  man  bei  einem  solchen  festbegrün- 
deten Renommee  höchstens  an  Umwandlung  in  eine 
selbständige  Bank  denken  konnte.  Indessen  ist  damals 
Bleichröder  trotz  allen  Erwartens  nach  dem  Tode 
des  alten  Chefs  nicht  „gegründet"  worden,  während 
bei  Warschauer  das  Unerwartete  gerade  eintraf.  Es 
wäre  übrigens  ein  Irrthum,  anzunehmen,  als  ob  die 
Därmstädter  Bank  sich  über  die  Geschäfte  des  War- 
schauer'schen  Hauses  nunmehr  irgendwelche  Disposi- 
tion aneignen  würde.  Das  Gegentheil  ist  vielmehr  der 
Fall.  Die  Warschauers  leiten  ihr  Geschäft  auch  noch 
heute  nach  eigenem  Ermessen,  was  bei  ihren  russi- 
schen und  seit  einigen  Jahren  sehr  grossen  italieni- 
schen Interessen  von  Wichtigkeit  ist." 

Am  27.  Januar  1903  brachten  Berliner  Börsen- 
blätter folgende  Nachricht:  „Das  Bankhaus  S.  Bleich- 
röder begeht  eben  sein  hundertjähriges  Jubiläum.  An 
welchem  Tage  das  Geschäft  gegründet  worden  ist, 
darüber  bestehen  in  der  Firma  selbst  Zweifel.  Solche 
Gründungsakte  vollzogen  sich  ja  früher  nicht  in  der 
formellen,  durch  Urkunden  gestützten  Weise,  wie  es 
heute  der  Fall  ist;  gab  es  doch  damals  noch  kein 
Handels-  und  Firmenregister.  Es  wird  vielmehr  ange- 
nommen, dass  der  Grundstein  zu  dem  Hause  Bleich- 
röder in  ganz  formloser  Weise  gelegt  wurde.  Der 
Grossvater  der  Herren  Hans  und  James  v.  Bleich- 
röder, die  neben  Herrn  Dr.  Schwabach  Inhaber  der 
Firma  sind,  miethete  sich  ein  paar  Stuben  im  Centrum 
des  damals  noch  recht  kleinstädtischen  Berlin  und 
eröffnete  darin  ein  kleines  Lotterie-  und  Wechsel- 
geschäft, wie  eine  ganze  Anzahl  unserer  ersten  Bank- 
firmen,  besonders  in  Süddeutschland,  aus  kleinen 
Los- und  Wechselgeschäften  hervorgegangen  ist.  Länger 
als  ein  Menschenalter  hatte  das  Geschäft  Bleichröders 


503 


einen  bescheidenen  Umfang.  Im  Jahre  1838  trat  der 
damals  sechzehnjährige  Gerson  Bleichröder  in  das 
Geschäft  ein;  Altersgenossen  von  ihm  erzählen  dass 
den  angehenden  Finanzfürsten  die  Zukunft  des  Eisen- 
bahnwesens mehr  interessierte,  als  die  griechische 
Syntax.  Es  beweist  dies,  dass  der  junge  Bleichröder 
den  wirtschaftlich-finanziellen  Zug  seiner  Zeit  richtig 
erfasst  hatte.  Denn  damals  war  die  Sturm-  und  Drang- 
periode unseres  Eisenbahnwesens.  Der  Raum  für 
Finanzkapicitäten  war  gegeben ;  sie  brauchten  sich  ihr 
Ziel  nur  selber  zu  setzen.  Und  so  sehen  wir  um  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  Männer  wie  Hansemann, 
Oppenheim,  Bleichröder  in  den  Vordergrund  rücken; 
1855  wurde  Gerson  Bleichröder  alleiniger  Inhaber 
des  Geschäftes.  Denselben  Scharfblick  und  dieselbe 
Gewandtheit  wie  in  der  Erfassung  wirthschaftlicher 
Situationen  bewährte  Bleichröder  auch  den  Menschen 
gegenüber.  So  erkannte  er  früh  die  Bedeutung  Bis- 
marcks.  Ferner  verstand  er  es,  enge  Beziehungen  zu 
dem  Hause  Rothschild  anzubahnen  und  zu  erhalten. 
Bleichröder  wie  Erlanger  sind  sozusagen  aus  den 
Hüften  Rothschilds  entsprungen.  Als  Beweis  der 
Menschenkenntnis  Bleichröders  ist  ferner  die  Thatsache 
anzuführen,  dass  er  sich  seinen  Vetter,  den  inzwischen 
ebenfalls  verstorbenen  Julius  Schwabach,  zum  Socius 
nahm,  der  ihn  sehr  glücklich  ergänzte.  Der  Bismarcki- 
schen  Politik  leistete  Bleichröder  grössere  Dienste 
in  dem  schweren  Augenblicke  des  Kriegsausbruches 
1866.  Er  war  ferner  der  Berather  bei  der  Ueberführung 
der  fünf  Milliarden  nach  Deutschland.  Mit  Preussen- 
Deutschland  stieg  somit  auch  der  Stern  Bleichröders. 
Das  Vertrauen,  das  er  in  unseren  massgebenden  Kreisen 
genoss,  führte  ihn  auch  auswärts  ein,  so  dass  das 
Haus  Bleichröder  bei  grossen  internationalen  Finanz- 
geschäften an  erster  Stelle  mitwirkte.  Gerson  v.  Bleich- 
röder starb  im  Jahre  1893.  Auch  nach  dessen  Tode 
hat  das  Haus  Bleichröder  eine  rege  Thätigkeit  entfaltet. 
An  der  Börse  zählt  es  zu  den  potentesten  Geldgebern. 
Auf  dem  Gebiete  des  Emissionswesens  spielt  es  für 
den  Staatskredit  Terschiedener  grosser  auswärtiger 
Staaten  eine  bedeutende  Rolle,  theils  an  führender 
Stelle,  theils  innerhalb  des  Rothsildkonsortiums.    Auf 


504 


dem.  Gebiete  der  industriellen  Emissionen  ist  sein 
Antheil  verhältnismässig  nicht  so  gross  wie  die  der 
jüngeren  Eonkarrenten.  Das  Haus  Bleichröder  hat 
in  der  Gegenwart  dadurch  eine  besondere  Bedentang, 
dass  es  einer  der  letzten  grossen  Repräsentanten  der 
Privatbankfirmen  ist,  die  sonst  von  den  wachsenden 
Aktienbanken  theils  aufgesogen,  theils  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  werden.4* 

Die  Verherrlicher  des  neuen  Deutschen  Reiches 
wie  Treitschke  und  andere  werden  sicherlich  dieses 
schmutzige  Blatt  aus  der  Reichsgeschichte  hinweg 
gelassen  haben.  Also  Moltke  und  Bismarck  wären 
ohne  Bleichröder  wie  Fische  ohne  Wasser  gewesen, 
und  dann  sollen  die  Juden  nicht  stolz  sein. 

Dass  auch  Baron  Eohn  von  Dessau,  der  persön- 
liche Banquier  Bismarcks,  und  Wilhelm  I.  nicht  arm 
gestorben  ist,  davon  lesen  wir  am  6.  Februar  1902 
in  Berliner  Judenzeitungen  folgende  Nachricht:  Der 
Vergleich  mit  den  Erben  des  Baron  Kohn.  Aus  Berlin 
wird  uns  geschrieben:  7y2  Millionen  M.  zahlt  die 
Tochter  des  Baron  Kohn-Dessau  an  die  Neue  Boden- 
gesellschaft und  die  Preussische  Hypothekenbank  zum 
Ausgleich  der  Regressansprüche,  die  diese  Institute 
an  die  Erben  des  früheren  Aufsichtsrathsmitgliedes 
der  Spielhagenbanken  gestellt  hatten.  Der  Betrag,  den 
die  Banken  eingeklagt  hatten,  belief  sich  auf  30  Mil- 
lionen Mark.  Indess  wurde  er  auf  diese  Höhe  wohl 
nur  normirt,  damit  bei  dem  Vergleich,  mit  dem  die 
Kläger  von  vornherein  gerechnet  hatten,  eine  möglichst 
hohe  Summe  erzielt  würde.  In  der  That  steht  der 
Fall  wohl  einzig  da,  dass  Regressansprüche  an  einen 
Aufsichtsrath  und  zumal  ein  einziges  Aufsichtsraths- 
mitglied  in  dieser  Höhe  erhoben  und  befriedigt  wor- 
den sind.  In  der  Regel  ist  selbst  in  Fällen,  in  denen 
der  Aufsichtsrath  seine  Pflichten  verletzt  hatte,  von 
der  Erhebung  von  Regressansprüchen  überhaupt  ab- 
gesehen worden,  theils  aus  unberechtigter  Schonung, 
theils  weil  für  die  civilrechtliche  Haltbarmachung 
nicht  genügende  Anhaltspunkte  gegeben  waren.  In 
anderen  Fällen  haben  sich  die  Geschädigten  mit  un- 
bedeutenden Beträgen  zufrieden  geben  müssen.  Unter 
diesen  Umständen  kann  es  als  eine   nicht   bloss    für 


505 


die  Aktionäre  der  Spielhagen-Gesellschaften,  sondern 
für  das  Aktienwesen  übeihaupt  befriedigende  That- 
sache  angesehen  werden,  dass  in  diesem  Falle  eine 
Haftbarmachung  in  solchem  Masstabe  durchgesetzt 
wurde,  die  denn  doch  zeigt,  dass  mit  der  Stellung 
der  Aufsichtsräthe  nicht  bloss  Rechte,  sondern  auch 
Pflichten  verbunden  sind,  deren  Verletzung  unter  Um- 
ständen schwer  gebüsst  wird." 

Die  Reichsherrlichkeit  des  geeinten  deutschen 
Reiches  kommt  den  Untexthanen  nicht  sehr  billig. 
Der  Staatsvoranschlag  des  Deutschen  Reiches  für  das 
Jahr  1902  war  folgender: 

Von  den  Ausgaben  sind 

fortdauernde 1.960,455.968  M. 

einmalige  im  ordentlichen  Etat    .    .     191,073.113    „ 
einmalige  im  ausserordentlichen  Etat     198,213.375    „ 

So  die  Ziffern  des  Bruttoetats;  führt  man  die 
Einnahmen  und  Ausgaben  auf  die  Nettoergebnisse 
zurück,  dann  ergeben  sich  für  die  Hauptausgabeposten 
des  Etats  folgende  Ziffern: 

Mffl.  M. 

Reichsheer 619-2 

Verwaltung  der  kaiserlichen  Marine 168*9 

Reichsschuld 93-9 

Allgemeiner  Pensionsfonds .74*5 

Zur  Verminderung  der  Reichsschuld — 

Die  Haupteinnahmeposten  sind,  auf  Zehntel  Mil- 
lionen abgerundet,  in  ihren  Netto-Erträgen  wie  folgt 
beziffert : 

Etat  für  1902 
HilL  M. 

Zölle 471-6 

Tabaksteuer ,   .    121 

Branntwein-Verbrauchsabgabe 110*5 

Reichsstempelabgaben . 79*8 

Summa  .    .    .  674'2 
Ueberweisungen 544*2 

Bleiben  .    .   .  1300 

Zuckersteuer 114*9 

Salzsteuer 49*3 

Maischbottichsteuer 16*9 

Brausteuer 31-7 


506 


Etat  für  1902 
MiU.  M. 

Spielkartenstempel 15 

Wechsel9tempel     . 12*2 

Statistische  Gebühr .      1*0 

Postüberschuss 40*3 

Reichsdruckerei 16 

Eisenbahnüberschuss 20*2 

Bankwesen 18*4 

Zuschuss  des  ausserordentlichen  Etats   .    .    .    35*0 

Ausgleichungsbeträge 16'8 

Matrikularbeiträge 568-1 

Die  Ausgaben  des  Deutschen  Reiches  waren  fol- 
gende : 

Jahr  Mill.  M.  Jahr  Mill.  M. 

1874  672-8  1893  *  1223-7 

1881  550  1894  1259-1 

1885  614-5  1895  13369 

1886  637-6  1896  1307-1 

1887  693-5  1897  1365-7 

1888  876-9  1898  1855-7 

1889  1020-2  1899  1960-5 

1890  1110-6  1900         2197-3 

1891  1353-6  1901  2344-9 

1892  1245                      1902  2302-6 
Wir  sehen,    die   Reichsherrlichkeit  wird   immer 

kostspieliger.  In  30  Jahren  sind  die  Reichsausgaben 
ins  4fache  gestiegen.  Da  muss  natürlich  der  Borg- 
apparat in  Bewegung  gesetzt  werden.  Die  Finanz- 
juden zittern  ja  darauf  vor  Begierde. 

Am  8.  April  1903  schrieben  Berliner  Börsen- 
blätter folgendes:  „Die  Einladung  zur  Zeichnung  auf 
290  Mill.  M.  dreiproc.  Reichsanleihe  wird  morgen  pu- 
bliziert werden.  Die  Subskription  findet,  wie  bereits 
mitgetheilt,  am  17.  d.  M.  zum  Kurse  von  92  pCt. 
statt.  Die  Schuldverschreibungen  sind  eingetheilt  in 
Stücke  zu  200  M.,  500  M.,  1000  M.,  5000  und  10.000  M. 
mit  Zinsscheinen  über  vom  1.  Januar  oder  1.  April 
d.  J.  laufende  Zinsen.  Bei  der  Zeichnung  ist  eine 
Kaution  von  5  pCt.  in  bar  oder  in  Effekten  zu  hinter- 
legen. Die  zugetheilten  Beträge  können  vom  27.  April 
ab  voll  abgenommen  werden,  spätestens  muss  aber 
die  Hälfte  des    zugetheilten    Betrages    am    27.    April 


507 


und  je  ein  weiteres  Viertel  am  11.  und  25.  Mai  ab- 
genommen werden.  Zugetheilte  Beträge  bis  incl.  5000  M. 
sind  am  27.  April  ungetheilt  zu  ordnen.  Als  Zeich- 
nungsstellen fungieren  in  Berlin  die  Reichsbank,  See- 
handlung, Preussische  Centralgenossenschaftskasse, 
Bank  für  Handel  und  Industrie,  Berliner  Bank,  Ber- 
liner Handelsgesellschaft,  S.  Bleichröder,  Born  und 
Busse,  A.  Busse  und  Comp.,  A.^G.,  Kommerz-  und 
Diskontobank,  Delbrück  Leo  u.  Co.,  Deutsche  Bank, 
Deutsche  Genossenschaftsbank,  Diskontogesellschaft, 
Dresdner  Bank,  Hardy  u.  Co.,  G.  m.  b.  H.,  F.  W. 
Krause  u.  Co.,  Kur-  und  Neumärkische  RitterschaftL 
Darlehnskasse,  Mendelssohn  u.  Co.,  Mitteldeutsche 
Kreditbank,  Nationalbank  für  Deutschland,  A.  Schaaff- 
hausenscher  Bankverein,  Gebr.  Schickler,  Robert  War- 
schauer u.  Co." 

Hier  sind  die  Finanziers  des  Deutschen  Reiches. 
In  Deutschland  lacht  die  deutsch-nationale  Presse 
darüber,  dass  Oesterreich-Ungarn  und  andere  Staaten 
von  Finanz-Juden  abhängig  sind  —  und  das  Deutsche 
Reich  ist  es  genau  so.  Alles  Kreditwesen  im  Deutschen 
Reiche  ^hat  die  Reichsbank  an  sich  gerissen  und  da- 
mit der  wirthschaftlichen  und  auch  politischen  Selbst- 
ständigkeit der  Bundesstaaten  auf  ein  Mindestmass 
herabgedrückt.  Der  Jahresbericht  der  Reichsbank  vom 
1901  sagt:  Die  Gesammtumsätze  haben  bei  der  Reichs- 
hauptbank 63.781,489.400  M.,  bei  den  Reichsbankan- 
stalten 129.366, 129.900  M.,  zusammen  193. 147,619.300  M. 
oder  4.056,120.300  M.  mehr  als  im  Jahre  vorher.  Der 
Bankzinsfuss  war  im  Durchschnitt  des  ganzen  Jahres 
4-099  pCt.  für  Wechsel  und  50'99  pCt.  für  Lombard- 
darlehen gegen  5-333  bezw.  6-333  pCt.  i.  V.  Der 
höchste  Bestand  der  Giroguthaben  mit  Ausschluss  derje- 
nigen der  Reichs-  u.  Staatskassen  war  348,062.000  M. 
am  23.  Juli,  der  niedrigste  196,999.000  M.  am  15.  April. 
Der  höchste  Bestand  der  Giroübertragungen  betrug 
154,612  000  M.  am  15.  April,  der  niedrigste  65,098.000  M. 
am  7.  Dezember.  Die  Zahl  der  Kontoinhaber  betrug 
am  Jähresschluss  bei  der  Reichshauptbank  1512 
(1900 :  1494),  bei  den  Reichsbankanstalten  15.622 
(1900:14.353),  zusammen  17.134  (1900:15.847).  Der 
höchste  Bestand  der  Guthaben  der  Reichs-  und    der 


•508 


Staatskassen  war  354,774.000  M.  am  23.  Juni,  der 
niedrigste  107,591.000  M.  am  7.  Januar,  durchschnitt- 
lich 236,138.000  M.  gegen  178,533.000  M.  im  Vor- 
jahre. Der  Metallbestand  an  kursfähigem  deutschen 
Gelde  und  an  Gold  in  Barren  oder  ausländischen 
Münzen  betrug:  als  höchste  Summe  am  23.  Juni 
1.004,277.000  M.f  als  niedrigste  Summe  am  7.  Januar 
761,002.000  M.,  durchschnittlich  911,411.000  M.,  gegen 
das  Vorjahr  (817,137.000  M.)f  also  94,274.000  M  mehr. 
Am  31.  Dezember  setzte  sich  der  Metallbestand  zu- 
sammen aus:  Gold  in  Barren  und  fremden  Münzen 
195,534.000  M.,  Gold  in  deutschen  Münzen  436,651.000  M. 
zusam.  632,185.000  M.,  dazu  an  Thalern  138,232.000  M., 
Scheidemünzen  98,116.000  M.,  insges.  868,533.000  M. 
Im  Durchschnitt  des  ganzen  Jahres  waren  von  den 
umlaufenden  Noten  76'57  (1900:71*77)  pCt.  durch 
Metall  gedeckt.  Die  Metalldeckung  der  umlaufenden 
Banknoten  und  der  sonstigen  täglich  fälligen  Verbind- 
lichkeiten betrug  im  Jahresdurchschnitt  51*01  (1900 
4948)  pCt.  In  Goldbarren  und  ausländischen  Goldmün- 
zen waren  am  1.  Januar  1901  vorhanden  171,615.642  M., 
angekauft  wurden  für  139,028.552  M.,  zusammen 
310,644.194  M.  (i.  V.  124,505.098  M.).  Davon  sind 
ausgeprägt  oder  verkauft  115,120.742  M.u.  195,523.452  M. 
im  Bestände  verblieben.  Das  Gold  hatte  einen  Werth 
von  195,533.964  M.,  und  es  hat  sich  also  ein  Gewinn 
ergeben  von  10.511  M.  An  Platzwechseln  waren  am 
1.  Januar  1901  im  Bestände:  187.561  Stück  im  Be- 
trage von  538,319.010  M.  Diskontirt  wurden  1,320.550 
Stück  im  Betrage  von  3.276,642.982  M.  (3.220,920.144). 
Der  Gesammtbetrag  beläuft  sich  also  auf  1,508.111 
Stück  mit  3.814,961.993  M.  Davon  wurden  wieder  ein- 
gezogen 1,307.787  Stück  mit  3.260,455.321  Mark 
(3.248,529.589).  Es  blieben  also  200.324  Stück  mit 
554,506.671  M.  Bestand  Ende  1901,  u.  zwar  30,946; 740  M. 
bei  der  Reichshauptbank,  52  ,559.931  M.  bei  den 
Reichsbankanstalten.  Der  Gewinn  aus  diesen  Wech- 
seln beträgt  bei  der  Reichshauptbank  720.952  M, 
(795.382),  bei  den  Reichsbankanstalten  18,773.230  M. 
(22,729,838),  zusammen  19,494.183  M.  (i.  V.  23,525.220), 
im  Ganzen  also  4.031.037  M.  weniger  als  im  Vor- 
jahre.   Die    '  -»ge    in    Platzwechseln     hat 


509 

602,792.000  M.  am  30.  September,  die  niedrigste  An- 
läge  381,647.000  M.  am  23.  Februar,  die  durchschritt- 
liehe  Anlage  476,162.000  M.  (435,035.000)  betragen. 
Die  durchschnittliche  Grösse  aller  Platzwechsel  ist 
2481  M.  gewesen.  Die  durchschnittliche  Verfallzeit  hat 
52  (1900  49)  Tage  betragen.  Unter  den  angekauften 
Platzwechseln  befanden  sich  63.373  Stück  im  Betrage 
von  100  M.  und  weniger  (1900  58.260  Stück).  Ver- 
sandt- bezw.  Einzugswechsel  auf  das  Inland  waren 
am  1.  Januar  1901  im  Bestände:  361.337  Stück  im 
Betrage  von  475,406.271  Mark.  Angekauft  wurden 
3,194.790  Stück  im  Betrage  von  5.303,411.620  M. 
(5.330,904.047),  zusammen  3,556.127  Stück  über 
5.778,817.891  M.  Eingezogen  wurden  3,250.836  Stück 
mit  5.378,009.072  M.  (5.341,127.999),  es  blieben  also 
305.291  Stück  mit  400,808.818  M.  als  Bestand  Ende 
1901.  Der  Gewinn  an  diesen  Wechseln  hat  betragen : 
bei  der  Reichshauptbank  1,658.038  M.  (2,004.181),  bei 
den  Reichsbankanstalten  12,331.536  M.  (15,935.021), 
zusam.  13,989.575  M.  (17,939.202),  mithin  3,949.627  M. 
weniger  als  im  Voqahre.  Die  höchste  Anlage  in 
diesen  Wechseln  betrug  490,205.000  M.  am  30.  Juni, 
die  niedrigste  Anlage  265,489.000  M.  am  15.  Februar, 
die  durchschnittl.  Anlage  342,242.000  M.  (338,392.000). 
Die  durschnittliche  Grösse  dieser  Wechsel  ist  1.659  M. 
gewesen.  Die  durchschnittliche  Verfallszeit  hat  23 
(1900  :  23)  Tage  betragen.  Unter  den  angekauften  Ver- 
sandtwechseln befanden  sich  423.235  Stück  im  Be- 
trage von  100  M.  und  weniger  (1900 :  394.331  Stück). 
An  Wechseln  auf  das  Ausland  waren  am  1.  Januar 
1901  3511  Stück  im  Kurswerthe  von  75,465.573  M., 
Ende  1901  sind  2905  Stück  mit  42,438.607  M.  im 
Bestände  geblieben.  Dieselben  hatten  am  31.  De- 
zember 1901  einen  Kurswerth  von  43,961.510  M.,  es 
sind  also  1,522.902  M.  (1,133.244)  als  Gewinn  zu  ver- 
rechnen, mithin  gegen  das  Vorjahr  389.658  Mark 
mehr. 

Der  Reservefonds  belief  sich  am  1.  Januar  1901 
auf  30,000.000  M.  Hierzu  treten  das  Aufgeld  auf  die 
neu  begebenen  30.000  Stück  Reichsbankantheile  mit 
10,500.000  M.,  20  Proc.  des  Reingewinnes  für  das 
Jahr  1901  mit  4,139.256  M.,  so  dass  der  Reservefonds 


610 


nunmehr  beträgt  44,639.256  M.  Das  Grundeigenthums- 
konto  der  Reichsbank  war  am  1.  Januar  1901  belastet 
mit  36,026.000  M.  Im  Laufe  des  Jahres  sind  für  Neu- 
und  Umbauten  bezw.  gekaufte  Grundstücke  hinzu- 
getreten 1,376.500  M.  An  offenen  Depots  im  Nenn- 
werte von  2,888,780.101  M.,  Ende  1901  288.481  De- 
pots über  2,975,918.356  M.  An  Gebühren  für  die  De- 
pots und  für  die  An-  und  Verkäufe  von  Werthpapieren 
sind  für  das  Jahr  1901  2,215.957  M.  (im  Jahre  1900 
2,062.287  M.)  eigegangen.  Die  Verwaltungkosten  ha- 
ben betragen:  bei  der  Reichshauptbank  4,523.070 
Mark,  bei  den  Reichsbankanstalten  9,224.962  Mark, 
zusammen  13,748.033  M.  (1900:  12,768.162  M.).  Die 
Eigenthümer  der  Reichsbankantheile  waren  Ende  1900: 
6214  Inländer  mit  29.804  Antheilen,  1857  Ausländer 
mit  10.100  Antheilen,  Ende  1901 :  10.363  Inländer 
mit  29.517  Antheilen  zu  3000  und  28.901  Antheilen 
zu  1000  M.,  1961  Ausländer  mit  10.483  Antheilen  zu 
3000  und  1099  Antheilen  zu  1000  M.  An  Zweigan- 
stalten waren  Ende  1901  insgesammt  358  vorhanden 
(1^00 :  330).  Der  Gesammtgewinn  der  Bank  betrug  in 
1901  44,752.345  M.  In  Abzug  komttfen  davon:  die 
Verwaltungskosten  13,748.033  M.,  die  Banknotenan- 
fertigung 471.761  M.,  Antheil  des  preussischen  Staates 
1,865.730  M.,  Notensteuer  352,684  M.,  für  zweifelhafte 
Forderungen  2,363.897  M.,  Verlust  beim  Verkauf  des 
früheren  Bankgrundstückes  in  Hildesheim  4000  M.  Das 
Reich  erhält  ausser  der  Notensteuer  von  352.684  M. 
12,417.770  M.,  zusammen  12,770.455  M.  Die  Aktionäre 
erhalten  im  Ganzen  6*25  proc.  oder  9,375.000  M. 

Also  Ende  1901  waren  1961  Ausländer  Eigen- 
thümer 

von  10483  Antheilen  zu 3000  M 

und    1099        „  „ 1000   „ 

Das  macht  32,548.000  Mark  Nominale.  Wer  sind 
denn  diese  Ausländer?  Wiederum  ein  Beleg,  dass 
das  Kapital  international  ist.  Der  Bericht  der  Reichs- 
bank pro  1902  besagt  folgendes:  Die  Gesammtsätze 
betrugen  bei  der  Reichshauptbank  67.087,563.200  M., 
bei  den  Reichsbankanstalten  124.838,678.800  M.,  zu- 
sammen 191.926,215.000  M.  oder  1.221,404.300  M. 
weniger   als    i*-    T~u—  i(>01.    Der    Bankzinsfuss    be- 


511 


trug  im  Durchschnitt  des  Jahre  3321  Proc.  für  Wechsel 
und  4*321  Proc.  für  Lombarddarlehen  gegen  4-099  be- 
ziehungsweise 5-099  Proc.  i.  V.  Der  höchste  Bestand 
der  Giroguthaben-  mit  Ausschluss  derjenigen  der 
Reichs-  und  Staatskassen  war  374,837.000  M.  am  23. 
Januar,  der  niedrigste  231,489.000  M.  am  15.  November, 
durchschnittlich  284,131.000  M.  (1901:272,464.000). 
Der  Gesammtumsatz  im  Giroverkehr  einschliesslich  der 
Ein-  und  Auszahlungen  für  Rechnung  des  Reiches  und 
von  Bundesstaaten  hat  im  Jahre  1902  169.227,395.537 
Mark  betragen  gegen  167.727,164.694  M.  im  Vorjahre. 
Der  Metallbestand  an  kursfähigem  deutschen  Gelde 
und  an  Gold  in  Barren  oder  ausländischen  Münzen 
betrug  als  höchste  Summe  am  23.  Juni  1.107,338.000 
Mark,  als  niedrigste  Summe  am  31.  Dezember 
786,123.000  M.,  durchschnittlich  982,202.000  M.,  gegen 
das  Vorjahr  70,791,000  M.  mehr.  Am  31.  Dezember 
setzte  sich  der  Metallbestand  zusammen  aus  Gold  in 
Barren  und  fremden  Münzen  143,057.000  M.,  Gold  in 
deutschen  Münzen  403,623.000  M.,  Thalern  112,027.000 
Mark,  Scheidemünzen  127,416.000  M.  An  Platzwechseln 
waren  nach  Ultimo  1902  im  BeStande  218.647  Stück 
mit  574,141.624  M.  Der  Gewinn  aus  diesen  Wechseln 
beträgt  15,304.798  M.,  also  4,159,394  M.,  weniger  als 
im  Vorjahre.  Die  durchschnittliche  Grösse  aller  Platz- 
wechsel ist  2361  M.  gewesen.  Unter  den  angekauften 
Platzwechseln  befanden  sich  72.348  Stück  im  Betrage 
von  100  M.  und  weniger  (1901 :  63.373  Stück).  Es  be- 
dürfen demnach  die  Industrie,  der  Handel  etc.  im 
Deutschen  Reich  an  Geldbedarf  von  der  Reichsbahk 
in  einem  einzigen  Jahre  die  Riesensumme  von  169.227 
Millionen  Mark.  Die  Reichsbank  will  nun  das  Kredit- 
geschäft vollständig  monopolisieren,  um  die  Südstaaten 
vollends  von  Preussen  wirthschafllich  abhängig  zu 
machen. 

Am  26.  Januar  1903  schrieben  Berliner  Börsen- 
blätter folgendes:  Es  wurden  öfters  Klagen  erwähnt, 
die  die  Reichsbank  über  die  Konkurrenz  der  Privat- 
banken zu  führen  hat.  Diese  Konkurrenz  hat  die 
Reichsbank  von  jeher  als  einen  Uebelstand  empfunden. 
Insbesondere  war  es  die  Diskontpolitik  der  Privat- 
notenbanken, die  dem  Central noteninstitut  seine  wirth- 


512 

schaftlichen  Aufgaben  wiederholt  erschwert  hat.    Die 
Reichsbank  wie   die  Privatnotenbanken  können  nach 
dem  Bankgesetz   Wechsel,   die   sie  angekauft  haben, 
weiterdiskontieren.  Von  dieser  Erlaubnis  machte  die 
Reichsbank  niemals  Gebrauch,  wohl  aber  die  Privat* 
notenbanken,   die  in  Zeiten  schwieriger  Geldverhält- 
nisse einen  Rückhalt  an  der  Reichsbank  suchten  und 
fanden*  In  Zeiten  niedrigen  Geldstandes  war  das  Neben- 
herbestehen der  Privatnotenbanken  für  die  Reichsbank 
womöglich   noch  störender,  indem  erstere  unter  den 
Sätzen   der  Reichsbank  diskontierten  und  auf  diese 
Weise  sowohl  das  beste  Wechselmaterial  an  sich  zo- 
gen, als  auch  dem  Gentralinstitut  die  Eontrole    über 
den  Geldmarkt  erschwerten.  Allen  diesen  Uebelstanden 
sollte  die  Bankgesetznovelle   vom   7.  Juni  1899,    die 
am  1.  Januar  1901  in  Kraft  trat,  abhelfen.  Nach  §  7. 
der  Bankgesetzenovelle  dürfen  die  Privatnotenbanken 
nicht  unter   dem  öffentlich  bekannt   gemachten  Pro- 
centsatze der  Reichsbank  diskontieren,  sobald  dieser 
Satz  4  Proc.  erreicht  oder  überschreitet.  Ist  der  Reichs- 
bankdiskont  unter  4  Proc.  festgesetzt,  so  dürfen  die 
Privatnotenbanken  um  nicht  mehr  als  y4  Proc.  bil- 
liger diskontieren  als  die  Reichsbank.  Sollte  dis  Reichs- 
bank  selbst  unter  ihrem  offiziellen  Satze,  das  heisst 
am  offenen  Markte,  Wechsel  ankaufem,  so  dürfen  die 
Privatnotenbanken   den   Ankaufssatz   der  Reichsbank 
nur  um  Vs  Proc.  unterbieten.  Durch  dieselbe  Gesetz- 
novelle wurde  bekanntlich  der  der  Reichsbank  zuste- 
hende Antheil  an  dem  Gesammtbetrage  des  der  Steuer 
nicht  unterliegenden   ungedeckten  Notenumlaufs   von 
293-4  Mill.  Mark   auf  460   Mill.  M.  erhöht.  Mit  dem 
Inkrafttreten    der  Banknovelle  sahen  sich  die  Privat- 
notenbanken  vor   eine   neue  Situation  gestellt    Das 
einzige  bis  dahin  in  Preussen  neben  der  Reichsbank 
bestehende  Notentinstitut,  die  Frankfurter  Bank,  strich 
sofort  die  Segel,  indem  es  auf  das  Notenprivileg  ver- 
zichtete. Auch  die  Badische  Bank  zog  sofort  die  Auf- 
gabe des  Notenprivilegs  in  Erwägung;  indess  wurde 
schliesslich  diese  Absicht  fallen  gelassen.  Im  übrigen 
kamen  die  Wirkungen  der  Bankgesetznovelle  bei  den 
Privatnotenbanken  im  Jahre  1901,  dem  ersten  Jahre, 
in  dem  das  Geset^  '     ~~  *  getreten  war,  darin  zum 


513 


Ausdruck,  dass  die  Wechselbestände  der  Institute 
ganz  wesentlich  zurückgingen.  Besonders  im  ersten 
Theile  des  Jahres  1901  liess  sich  bei  den  Privatnoten- 
banken eine  erhebliche  Geschäftsverringerung  bemer- 
ken. Im  zweiten  Halbjahr  wai1  dagegen  bereits  wieder 
eine  vermehrte  Thätigkeit  zu  konstatieren,  und,  soweit 
bis  jetzt  bekannt  geworden  ist,  haben  die  Umsätze 
des  Jahres  1902  die  des  Jahres  1901  bei  den  Privat- 
notenbanken nennenswerth  überstiegen.  Der  Grund 
dafür,  dass  die  Bestimmungen  der  Banknovelle  sich 
nur  verhältnismässig  kurze  Zeit  bei  den  Privatnoten- 
banken in  starkem  Masstabe  fühlbar  machten,  ist 
zum  Theil  darin  zu  suchen,  dass  die  Notenbanken 
inzwischen  es  sich  angelegen  sein  Hessen,  den  Aus- 
fall im  Diskontgeschäft  zu  verringern.  Die  Privat- 
notenbanken sind  nämlich  nach  dem  Gesetz  nur  in 
Bezug  auf  das  Diskontieren  von  Wechseln  an  den 
Satz  der  Reichsbank  gebunden,  während  ihnen  hin- 
sichtlich des  Lombardgeschäftes  freie  Hand  gelassen 
worden  ist.  Sie  legten  nun  bald  nach  Inkrafttreten 
der  Novelle  den  Schwerpunkt  ihrer  Thätigkeit  auf  das 
Lombardgeschäft.  Hierbei  wurden  nicht  nur  wie 
früher  Wertpapiere  und  event.  Waren  lombardiert, 
sondern  die  Privatnotenbanken  gingen  zum  Theil  auch 
dazu  über,  Wechsel  zu  beleihen  und  zwar  zu  einem 
Satze,  der  sich  nennenswerth  unter  dem  des  Reichs- 
bankdiskonts hielt. 

Dem  Lombardgeschäft  der  Notenbanken  ist  frei- 
lich insofern  eine  Grenze  gesteckt,  als  sie  nach  dem 
Gesetz  zur  Deckung  für  die  im  Umlauf  befindlichen 
Noten  nur  Wechsel,  nicht  aber  auch  lombardierte 
Unterpfänder  verwenden  dürfen.  Ferner  ist  in  Be- 
tracht zu  ziehen,  dass  das  Lombardgeschäft,  zumal 
bei  niedrigem  Reichsbankdiskont,  kein  sehr  lukratives 
ist.  Wenn  also  auch  die  Umsätzte  der  Privatnoten- 
banken im  Jahre  1902  die  des  Jahres  1901  über- 
stiegen haben,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  dass  die 
Erträgnisse  der  Privatnotenbanken  im  Jahre  1902  son- 
derlich günstig  waren.  Im  vorigen  Jahre  hat  denn  auch 
noch  ein  weiteres  Noteninstitut,  die  Bank  für  Süd- 
deutschland, auf  ihr  Notenprivilegium  verzichtet  und 
durch  die  Vereinigung  mit  der  Darmstädter  Bank  ihre 

88 


514 


Selbständigkeit  aufgegeben.   Gegenwärtig  bestehen  in 
Deutschland  folgende  Noteninstitute: 

Steuerfreier  Notenumlauf 

Reichsbank 470,000.000  M. 

Bayerische  Notenbank    .   .    .    32,000.000   „ 

Sächsische  Bank 16,771.000   „ 

Württembergische  Notenbank    10,000.000   „ 

Badische  Bank 10,000.000    „ 

Braunschweigische  Bank  .  .  2,829.000  , 
Aus  dieser  Zusammenstellung  ist  ersichtlich,  dass 
die  Bedeutung  der  Privatnotenbanken  im  Vergleich 
mit  der  Reichsbank  verhältnismässig  gering  ist.  Immer- 
hin ist  sie  nach  der  Auffassung  der  Reichsbank  gross 
genug,  um  unter  Umständen  Störungen  der  volks- 
wirtschaftlichen Funktionen  der  Reichsbank  herbei- 
zuführen. Die  öffentliche  Feststellung  dieser  Wirkung 
wird  indess  gewiss  genügen,  um  die  Privatnotenbanken 
von  einer  weiteren  Gefährdung  der  von  der  Reichs- 
bank im  öffentlichen  Interesse  beobachteten  Diskont- 
politik abzuhalten.  Ja  nun,  der  preussische  Magen  ist 
nun  einmal  sehr  gesund  und  verträgt  viel  Speise. 
Gehen  wir  nun  zu  den  Staatsausgaben  der  deutschen 
Bundesstaaten  über.  Im  preussischen  Etat  für  1903 
sind  die  ordentlichen  Einnahmem  auf  2.602,205.930 
Mark,  die  Ausgaben  im  Ordioarium  auf  2.516,369.633  M, 
im  Extraordinarium  auf  158,536.297  Mark,  zusammen 
2.674,905.930  M.  veranschlagt,  mithin  die  Ausgaben 
um  72,700.000  M.  höher  als  die  Einnahmen.  Der  Fehl- 
betrag wird  durch  Aufnahme  einer  Anleihe  zu  decken 
sein.  Ende  1902  betrug  die  Staatsschuld  Preussens 
6.720,791.445  M.  Die  Zahl  der  eingetragenen  Konten 
betrug  Ende  März  1900 :  26,102  über  1.385,316.900 
Mark  Kapital,  1901:  28.909  über  1.466,168.250  M. 
Kapital,  sie  ist  bis  Ende  März  1902  auf  30.337  über 
1,577.323.650  M.  gestiegen.  Von  diesen  Konten  ent- 
fallen 86-2  Proc.  auf  Kapitalien  bis  zu  50.000  M%  und 
13*8  Proc.  auf  grössere  Kapitalsanlagen.  Für  physische 
Personen  waren  Ende  März  1902  18,372  Konten  über 
717,527.000  M.,  für  juristische  Personen  5615  Konten 
über  584,669.850  M.  eingetragen.  Die  Zahl  der  Konten 
für  Bevormundete  oder  in  Pflegschaft  Stehende  be- 
trägt 1901.  Von  den  Konteninhabern  wohnen  26.175 


515 


in  Preussen,  3838  in  anderen  Staaten  Deutschlands, 
251  in  den  übrigen  Staaten  Europas,  14  in  Asien,  16 
in  Afrika  und  43  in  Amerika.  Also  wieder,  ein  Beleg, 
wie  das  Kapital  international  ist. 

Im  Jahre  1862  hatte  Preussen  139,9.66.258  Thaler 
Staatsausgaben,  Das  Heer  beanspruchte  41,188.961 
Thaler.  Die  direkten  und  indirekten  Steuern  trugen 
ein  87,749.892;  sämmtUche  Einnahmen  des  preussi- 
schen  Staates  waren  im  Jahre  1862  134,783.544  Thaler. 
Die  preussische  Staatsschuld  betrug  im  Jahre  1862 
288,709.874  Thaler,  die  Zinsen  dafür  15,547.700  Tha- 
ler. Die  Staatsvoranschläge  Preussens  älteren  Datums 
waren : 

Einnahmen  Aasgaben 

Thaler 

Jahr  1850    .   .    .    91,338.448  95,997.606 

„     1860        .    .  132,948.354        132,948.354 

Königreich  Bayern : 

Staatsausgabe  1902:.    .       444,904.691  Mark 

Staatsschuld:  .    .    1.600,237.525     „ 
Im  Jahre  1862: 

Staatsausgaben 55,734.212  Thaler 

davon  Schuldzinsen  .    .    .  10,931.870      „ 

Heerausgabe 8,963.092      „ 

Die  übrigen  Bundesstaaten  im  Jahre  1902 : 

Staatsaasgabe  Staatsschuld 

Mark 

Anhalt 28,022.500 

Baden 93,173.277        .    357,700.000 

Braunschweig     ....    16,629.625  57,537.011 

Bremen    ....       .    .    37,110.646  180,474.467 

Elsass-Lothringen  .       .    60,657.192 

Hamburg 131,051.995  435,101.110 

Hessen 89,088.798  305,156.647 

Lübeck 6,884.510  31,696.021 

Mecklenburg-Schwerin  .      4,153.800  116,853.350 

Oldenburg 9,413.515  57,201.805 

Sachsen 324,922.859     .       980,136.200 

Württemberg 92,197.254  523,116.900 

Das  geeinte  Deutsche  Reich  nahm  einen  Riesen- 
anlauf in  seiner  Entwicklung  als  Industrie-  und  Ka- 
pitalismusstaat. Es  wurden  im  Deutschen  Reiche  ge- 
gründet : 

33* 


616 


Aktienkapital 

Jahr                            Aktiengesellschaften  in  Millionen 

Mark 

1871 207  75876 

1872 479  1477-73 

1878 242  544-18 

1874 90  105-92 

1876 55  45-56 

1876 42  18-18 

1877 44  4342 

1878 42  13-25 

1879 45  57-14 

1880 97  91-59 

1881 111  199-24 

1882 94  5610 

1883 192  176-03 

1884 153  111-24 

1885 70  53-47 

1886 113  103-94 

1887 168  128-41 

1888 184  19368 

1889 360  40254 

1890 236  270-99 

1891 160  90-24 

1892 127  79-82 

1893 95  77-26 

1894 92  88-26 

1895 161  25068 

1896 182  268-88 

1897 254  38047 

1898 329  563-62 

1899 364  544-39 

1900 261  34046 

1901 158  158-26 

Die  Emissionen  an  der  Börse  in  Berlin  betrugen : 

Inländische  Ausländische 

Jahr                                    Effecten  Effecten 

in  Millionen  Mark 

1888 1985  590 

1889 1745  525 

1890 1520  359 

1891 1217  230 

1892 1016  169 

1893 1266  342 


SIT 


Inländische  Aasländische 

Jahr  Effecten  Effecten 

in  Millionen  Mark 

1894 1420  338 

1895 1375  300 

1896 1896  489 

1897 1944  608 

1898 2407  691 

1899  ........    2414  263 

1900 2297 

Das  Jahr  1901  wird  in  der  Wirtschaftsgeschichte 
Deutschlands  mit  schwarzen  Lettern  eingeschrieben 
bleiben.  So  viel  Zusammenbrüche  von  stolzen  Bank-» 
und  Industrieunternehmungen,  wie  sie  im  Laufe  des 
Jahres  1901  Deutschland  erlebt  hat,  hat  die  Geschichte 
seit  dem  Börsenkrach  in  Wien  im  Jahre  1873  und 
dem  Panamaschwindel  im  Jahre  1890  in  Frankreich 
nicht  erlebt.  Man  konnte  während  des  ganzen  Jahres 
in  der  Rubrik  „Telegramme"  in  den  grossen  Juden* 
Zeitungen  alle  die  Phasen  studieren,  welche  der  Ka- 
pitalschwindel in  Deutschlad  durchgemacht  hat.  Von 
dem  Kapitalismus  und  seinen  Gründungen  gilt  da 
recht  das  Wort  der  heil.  Schrift:  „An  ihren  Früchten 
werdet  ihr  sie  erkennen."  Nun  zur  Sache.  Deutschland 
ist  im  Verlaufe  der  letzten  20  Jahre  zu  einem  gewal- 
tigen Industriestaate  herangewachsen.  Während 
Deutschland  im  Jahre  1882  im  Ganzen  9974  Gross- 
betriebe hatte,  wuchs  ihre  Zahl  im  Jahre  1895  auf 
18.953.  Wir  könnten  an  der  Hand  der  Statistik  diesen 
Entwickelungsgang  genau  darstellen.  Doch  müssen 
wir  uns  kurz  fassen.  Die  fetten  Jahre  der  Industrie, 
der  Gründer,  der  Verwaltungsräthe  und  aller  kapi- 
talistischen Barone  schienen  kein  Ende  nehmen  zu 
wollen,  es  waren  ihrer  mehr  denn  sieben.  Geben 
wir  nur  einige  Beispiele.  Die  chemische  Fabrik  vor* 
mals  Milep  &  Co.,  Aktiengesellschaft  in  Posen  mit 
einem  Aktienkapital  von  nur  2*85  Millionen  Mark 
zahlte  im  Jahre  1899  nebst  14  Procent  Dividende  den 
Aktionären,  den  Direktoren  24.141  Mark  Tantieme, 
dem  Aufsichtsrath  37.821  Mark,  den  Beamten  20.000 
Mark  Neujahrstantiöme.  Den  wildesten  Hexentanz 
veranstalteten  wohl  die  Kohlenbarone.  Sie  haben  fast 
die  Besinnung  verloren  und  wussten  nicht,  auf  welche 


518 


Weise   das  Publikum  am  schnellsten   und  ausgiebig- 
sten ausgeraubt  werden  solle.  So  vertheilte  die  Gelsen- 
kirchener  Bergwerksgesellschaft  eine  Dividende  von 
9  Procent  im  Jahre  1897,   dann  eine  zehnprocentige 
in  den   folgenden   zwei   Jahren   und   im   Jahre  1900 
sogar  eine  vierzehnprocentige.   Dazu  bekam  der  Ver- 
waltungsrath    Tantiemen    von   73.469   Mark,    89.795 
Mark,  175.894  Mark  und  im  Jahre  1900  sogar  255.739 
Mark.  Geradezu  fabelhaft  klingt  es,  da  wir  lesen,  dass 
die  Ärenberg'sche  Aktiengesellschaft  für  Bergbau  und 
Hüttenbetrieb   im  Jahre  1899  eine  Dividende  von  75 
Procent  und  im  Jahre  1900  eine  solche  von  50  Pro- 
cent pro  Hundert  des  Aktienkapitales  vertheilte.  Vor- 
sitzender des  Verwaltungsrathes  der  Gelsenkirchener 
Bergwerksgesellschaft   ist  der   reiche,    gewaltige   jü- 
dische  Finanzbaron   A.   von   Hanseman.   Die   Schu- 
ckert-Affaire    liefert    einen   Beweis    dafür,    dass    die 
Tantteme-Wirthschaft,   wie  sie   sich    in  Deutschland 
ausgebildet  hat,  förmlich  am  Marke  der  Aktiengesell- 
schaften zehrt.  Figurirten  doch  in  dem  Abschluss  der 
Schuckertschen  Gesellschaft  in  Nürnberg  für  das  Ge- 
schäftsjahr 1899—1900,    für  das  15  Proc.  Dividende 
vertheilt  wurden,   nicht  weniger  als  1,207.452  M.  an 
Tanttemen   und   360.000  M.   an  Gratifikationen,  und 
für  ihre   Thätigkeit   in  dem  so  unglücklich  abgelau- 
fenen  Geschäftsjahre    1900—1901  hält  sich  die  Ver- 
waltung  für  berechtigt,   an   Tantiemen   die   enorme 
Summe  von  749.000  M.  —  ursprünglich  beanspruchte 
sie  sogar  906.432  M.  —  und  an  Gratifikationen  300.000 
Mark  auszuweisen.  Wohlweislich  specialisirt  sie  nicht, 
in  welchem  Verhältniss  die  Tantiemen  des  Aufsichts- 
rathes  und  der  Direktion  zu  denjenigen  der  übrigen 
Beamten  stehen;    denn   zweifellos   würde  sich  dabei, 
wie   das    „Berl.   Tagebl."   bemerkt,   das  schreiendste 
Missverhältniss  zu  Ungunsten  der  Letzteren  ergeben. 
Noch   schöner   sind   die  Ergebnisse   der   Grund- 
und  Bodenspekulanten.  Die  Berliner  Bodehgesellschaft 
hat  im  Jahre  1900  ein  gutes  Geschäft  gemacht     Es 
wurden   bei  einem   Aktienkapital   von  einer  Million 
Mark  aus  Terrainverkäufen  527.950  Mark  Gewinn  er- 
zielt und   davon  57.550  Mark  Tantieme  und  30  von 
Hundert   Dividende   gezahlt.  Die   Leipziger   Terrain- 


519 


gesellschaft  vertheilte  für  das  Jahr  1900  eine  zwölf- 
procentige  Dividende.  Nun  aber  kamen  die  mageren 
Zeiten.  Den  Anfang  machten  die  Spielhagenbanken, 
dann  die  preussische  Hypothehenbank,  die  pomme- 
rische  und  die  Mecklenburg-Sttelitzsche  Bank.  Die 
Hypothekenbank  voh  Mecklenburg-Strelitz  ist  einseht 
junges  Kind  und  war  ihm  ein  kurzes  Leben  beschieden. 
Die  Koncession  datiert  erst  vom  Jahre  1896.  Im  Auf- 
sichtsrath  dieser  Bank  wafen  die  Herren  Hofräth 
Linde,  Banquier  Schappach,  Kammerherr  Dechess, 
Hofrath  Meyer,  Bankdfrektor  Schmidt.  Gleich  Ende 
des  Jahres  1896  verwaltete  diese  Bank  14,i86.395  M. 
fremdes  Vermögen.  Die  preussische  Hypotheken  - 
Aktienbank,  koncessioniert  im  Jahre  1864,  hatte  ab 
Direktoren  Eduard  Sander,  Heinrich  Schmidt,  Püch* 
müller  und  Buchholz.  Vorsitzender:  Kömmerzienrath 
Eduard  Schmidt.  Diese  Bank  verwaltete  Ende  1896 
fremdes  Vermögen  von  309,169.892  Mark.  Pomme- 
rische  Hypotheken-Aktienbank,  gegründet  im  Jahre 
1866,  in  jüngster  Zeit  zur  Hofbank  der  deutschen 
Kaiserin  erhoben,  hatte  zu  Direktoren  die  Herren 
Schulz,  Romeich,  Kellner  und  Alb.  Schappach.  Zum 
neuen  Direktor  derselben  wurde  Banquier  Salatrion 
ernannt.  Der  Kammerherr  der  Kaiserin  Baron  Mar* 
bach  ist  diesem  Institut  nicht  fremd  gewesen.  Ende 
1896  verwaltete  diese  Bank  an  fremdem  Vermögen 
159,978.704  Mark.  Diese  Banken  haben  den  wüstesten 
Spekulationsschwindel  mit  Bauparzellen  in  Berlin 
betrieben,  belehnten  auch  mit  ihrem  Kredite  den 
Bau  jüdischer  Bazare,  so  das  Waarenhaus  Tietz  und 
nebstdem  führten  die  Direktoren  ein  derartig  fürst- 
liches Leben,  dass  nun  die  Katastrophe  eintrat.  Im 
Monat  Juni  kam  ein  arger  Stoss  von  Dresden  aus. 
Die  „Dresdener  Kreditanstalt"  und  die  Elektricitäts- 
werke  Kummer  geriethen  in  Schwierigkeiten.  Die 
Kreditanstalt  für  Industrie  und  Handel  in  Dresden 
ist  koncediert  im  Jahre  1856.  Die  Direktion  bestand 
aus  Konsul  Hörn,  gewesenem  Bürgermeister  Klötzer, 
Kammerherrn  Stieglitz.  Die  Bank  verwaltete  Ende  1896 
an  fremdem  Vermögen  20,596.704  Mark.  Aktiengesell* 
schaft  der  Elektricitätswerke  in  Dresden  hatte  in  der 
Direktion  den  Konsul  Deuso,  Generaldirektor  Kummer, 


520 


Kammerherrn  Stieglitz.  Die  Passiva,  also  von  Fremden 
aufgenommenes  Geld»  betrugen  Ende  1896  im  Ganzen 
6,024.732  Mark.  Der  grösste  Schlag  aber  kam  am 
25.  Juni  1901.  An  diesem  Tage  verkündete  ihre  In- 
solvenz die  Leipziger  Bank,  deren  Koncession  vom 
Jahre  1836  stammt.  Die  Direktion  bestand  aus  A. 
Exner,  Advokat  Gentzsch,  Eugen  Sachsenröder,  Max 
Scholinus,  Oskar  Hubert,  Julius  Schuhmacher,  Ed. 
Ramoth  und  Karl  Behrens.  Die  Bank  verwaltete  Ende 
1896  an  Passiven  81,547.399  M.  Mit  dem  Zusammen- 
bruch der  Leipziger  Bank  war  auch  der  Sturz  der 
Kasseler  Trebertrocknungs-Aktiengesellschaft  eng  ver- 
bunden. Richtig  gesagt  ist  die  Leipziger  Bank  durch 
die  Kasseler  Gesellschaft  um  80  Millionen  Mark 
geprellt  worden  und  damit  war  ihr  Schicksal  besiegelt 
worden.  Diese  saubere  Gesellschaft  ist  im  J.  1889 
gegründet  worden.  Verwaltungsrath :  Adolf  Schmidt 
in  Kassel,  Herrmann  Sumpf,  R.  Schlegel,  Fabrikant 
in  Kuxhag,  Theodor  Schulze,  Rittergutsbesitzer,  Ar- 
nold Sumpf,  Brauer  in  Greifswald,  Ernst  Otto,  Kauf- 
mann in  Dortmund.  Die  Kasseler  Gesellschaft  ver- 
theilte  in  den  Jahren  1890  bis  1899  folgende  Divi- 
denden: 7,  10,  12,  10,  10,  10,  38,  50,  40  Procent! 
Ende  1898  verwaltete  sie  an  Passiven  33,039.303  M. 
Diese  saubere  Gesellschaft  trocknete  Treber  sogar 
bis  in  Bosnien,  allerdings  in  Form  von  Ausbeutung 
der  Staats wälder,  welche  ihr  von  dem  vortrefflichen 
Reichsfinanzminister  von  Kallay  bereitwillig  zur  Ver- 
fügung gestellt  worden  sind.  Natürlich,  man  muss 
doch  das  Bündniss  mit  Deutschland  auch  praktisch 
bethätigen,  denkt  sich  Herr  von  Kallay.  In  der  Kas- 
seler .  Trebertrocknungsgesellschaft  spielte  auch  eine 
grosse  Rolle  der  Getreidejude  Sandel  Katz,  der  die 
hessischen  Bauern  sehr  gut  zu  behandeln  weiss. 
Sandel  Katz  roch  bei  Zeiten  den  Braten  und  sanierte 
sich  durch  rechtzeitige  Flucht,  damit  er  nicht  in  faulen 
Trebern  ersticke.  Darin  besteht  die  Schlauheit  der 
Hebräer,  während  die  dummen  christlichen  Direktoren 
hinter  Schi oss  und  Riegel  in  unfreillige  Pension  ver- 
setzt worden  sind.  Nach  dem  Falle  dieser  zwei  grossen 
Firmen  kam  so  der  Stein  ins  Rollen.  Es  meldete 
nach   dem  Yr**h   in  Leipzig  und  Kassel   eine   ganze 


521- 


Menge  von  Firmen  und  Indus trieunternehmüngen 
ihren  Konkurs  an  und  stellten  die  Produktion  ein. 
Mit  dem  Falle  von  Leipzig  und  Kassel  kam  auch 
die  Rheinische  Bank  an  den  Rand  des  Abgrundes. 
Diese  Bank  ist  eine  Gründung  des  Juden  Gustav 
Hanau.  Sie  ist  ein  ganz  junges  Kind,  Geburtsjahr 
erst  1897.  Vorstand:  Rudolf  Trostqrff,  zu  Mühlheim 
a.  d.  Ruhr,  Advokat  Mannheimer.  Vorsitzender:  Leo 
Hanau,  August  Thyssen,  Paul  Barnewitz,  Karl  Kahn 
in  Bonn,  Ernst  Friedländer,  Konsul  Eugen  Landau, 
Dr.  Michels,  Oskar  Rothschild,  Dr.  Weihtmann.  Die 
Bank  verwaltete  Ende  1898  Passiven  im  Betrage  von 
25,570.801  Mark.  Wie  man  sieht,  ist  die  rheinische 
Bank  eine  durchaus  koschere  Gesellschaft.  Gleich 
darauf  krachte  es  weiter  in  den  Fugen  des  wirtschaft- 
lichen Fahrzeuges.  Ende  Juli  verschwand  spurlos  der 
Spekulant  Terlinden.  Dieser  Fabrikant  hat  seine 
Unternehmungen  in  Oberhausen  in  eine  Aktiengesell- 
schaft umgewandelt  und  dabei  dieselben  in  die  Bi- 
lanz zu  einem  überschwenglichen  Preis  schlau  ein- 
gestellt. Durch  diesen  Schwindel  wurden  hart  ge- 
troffen das  Bankhaus  Beekerath  und  Heilsmann  in 
Krefeld,  die  Hannoversche  Bank,  Robert  Warschauer 
und  seine  Diskontogesellschaft,  die  Darmstädter 
Bank  und  viele  andere.  Von  den  grossen  Industrie- 
unternehmungen, welche  durch  die  Leipziger  und 
Kasseler  Katastrophe  in  arge  Mitleidenschaft  gezogen 
worden,  sind  zu  erwähnen  die  Schuckertwerke  in 
Nürnberg  und  die  „Elektra"  in  Dresden.  Anfangs 
September  1901  kam  aus  Breslau  die  Nachricht,  dass 
der  Direktor  Schostag  von  der  Rhederei  vereinigter 
Schiffer  in  Breslau  sich  vergiftet  habe  und  der  zweite 
Direktor  Breslauer  verhaftet  worden  sei.  Beide  Juden 
haben  der  genannten  Gesellschaft  einen  Schaden  von 
5  Millionen  Mark  verursacht.  Sie  hatten  einen  fixen 
Gehalt  von  jährlich  7.500  Mark.  Der  Jude  Schostag 
war  ein  leidenschaftlicher  Börsianer.  Nebstdem  betrieb 
er  auch  Maitressenwirthschaft. 

Das  Organ  des  Juden  Mosse,  das  „Berliner  Tagebl." 
schrieb  am  9.  Oktober  1901 :  Was  für  ein  Patron 
Herr  Schostag  von  der  Rhederei  vereinigter  Schiffer 
in  Breslau  war,    hat  die  gestrige  Gläubigerversamm- 


522 


lung  in  dem  Konkurs  Schostag  gezeigt,  über  die  gestern 
ein  Breslauer  Privat-Telegramm  bereits  in  Kürze 
berichtet  hat.  Es  waren  in  der  Versammlung  12  Gläu- 
biger vertreten.  Zu  den  Gläubigern  gehört  die  ^Rhe- 
derei  Vereinigter  Schiffer",  deren  Forderungen  mit 
fünf  Millionen  Mark  angegeben  wurden,  ferner  die 
Kommanditgesellschaft  Hamburger  u.  Co.  in  Kattowit* 
mit  1,831.000  M.,  die  Filiale  der  Dresdener  Bank  in 
Hamburg  mit  885.000  M.,  die  Norddeutsche  Bank  in 
Hamburg  mit  105.000  M.>  der  Hallesche  Bankverein 
Kulisch,  Kämpf  u.  Co.  mit  301.000  M.,  F.  A.  Neubauer 
in  Hamburg  mit  256.000  M.  und  Ernst  Kuznitzky  mit 
2,365.000  M.  Eine  Summirang  der  einzelnen  Posten 
würde  ein  falsches  Bild  von  der  Schuldenlast  geben, 
da  in  der  Forderung  der  Rhederei  die  Forderungen 
der  Banken  deshalb  mitangegeben  sind,  weil  gegen 
die  Rhederei  Regress  erhoben  wird.  Der  Konkurs- 
verwalter machte  weiter  folgende  Mitteilungen  Bevor 
Schostag  im  Jahre  1888  den  Direktorposten  bei  der 
Rhederei  Vereinigter  Schiffer  übernahm,  war  er  Leiter 
der  Oderdampfschiffahrtsaktiengesellschaft,  die  1888 
in  Konkurs  gerieth.  Dieser  Konkurs  führte  auch  zu 
einer  Strafverfolgung  gegen  ihn,  und  nach  einer  Unter- 
suchung von  fünfjähriger  Dauer  wurde  er  1893  wegen 
Konkürsvergehens  zu  drei  Monaten  Gefängniss  ver- 
urtheilt,  welche  Strafe  dann  im  Gnadenwege  in  eine 
Geldstrafe  von  1000  M.  umgewandelt  wurde.  Im  Jahre 
1896  verheiratete  er  sich,  und  seine  Frau  brachte 
ihm  ein  Vermögen  von  etwa  75.000  M.  in  die  Ehe. 
Schostag  bezog  in  seiner  Direktorstelle  ein  Jahres- 
gehalt von  7500  M.  und  sehr  reichliche  Tantiemen. 
Trotz  seines  arbeitsreichen  und  verantwortungsvollen 
Amtes  wusste  er  aber  noch  Zeit  für  Nebenbeschäfti- 
gungen auf  zahlreichen  anderen  Erwerbsgebieten  zu 
finden,  besonders  für  Spekulationsgeschäfte.  Er  spe- 
kulirte  in  höchst  waghalsiger  Weise  nicht  blos  in 
Wertpapieren  aller  Art,  besonders  bei  einem  aus- 
wärtigen Bankhause,  sondern  auch  in  überseeischen 
Produkten,  und  auf  die  Misserfolge  dieser  Spekula- 
tionen ist  der  Verlust  der  Millionen  zurückzuführen, 
welche  er  der  Aktiengesellschaft  Rhederei  Vereinigter 
Schiffer  veruntreut  hat.    Nähere    Auskunft   über  den 


523 

Verbleib  des  unterschlagenen  Geldes  kann  zur  Zeit 
nicht  gegeben  werden,  da  ordnungsgemäss  geführte 
Privatbücher  nicht  vorhanden  und  alle  Aufzeichnun- 
gen und  Briefschaften  des  Verstorbenen  von  der  Staats- 
anwaltschaft mit  Beschlag  belegt  und  noch  nicht  frei- 
gegeben sind.  Die  Konkurs  Verwaltung  wird  ihre  Ermit- 
telungen nach  dieser  Richtung  energisch  fortsetzen 
und  prüfen,  ob  gegen  diejenigen  Personen,  mit  denen 
Schostag  Spekutionsgeschäfte  gemacht  hat,  Ansprüche 
zu  verfolgen  sind.  Der  Differenzeinwand  soll  in  dem 
nach  dem  Börsengesetz  und  der  Judikatur  des  Reichs- 
gerichts zulässigen  Umfange  und  ferner  sollen  Rück- 
forderungen erhoben  werden,  soweit  das  Börsengesetz 
Grundlagen  hiefür  bietet.  Die  sonstigen  Spekulationen 
bewegen  sich  auf  dem  Gebiete  der  Grundstückskäufe. 
In  Krietern  erwarb  Schostag  Anfang  1897  ein  Terrain 
mit  einer  Grundfläche  von  117.237  Quadratmeter, 
welches  mit  Hypotheken  in  Höhe  von  123.000  M* 
belastet  ist;  eine  auf  den  Namen  seiner  Frau  lau- 
tende Hypothek  von  20.000  M.  wird  mit  Aussicht  auf 
Erfolg  angefochten  werden.  Diesem  Grundstück  wird 
ein  sehr  erheblicher  Werth  beigemessen,  so  dass  ein 
beträchtlicher  Ueberschuss  zu  erwarten  ist.  -—  Im 
Weiteren  handelt  es  sich  um  eine  Gruppe  von  Spe- 
kulationen, die  mit  der  Vertrauensstellung  Schostags 
als  Direktor  der  Rhederei  nicht  vereinbar  waren,  da 
sie  von  ihm  nur  zu  dem  Zwecke  entrirt  wurden,  um 
sich  auf  Kosten  und  zum  Nachtheil  der  Aktionäre  zu 
bereichern.  Er  brachte  nämlich  Terrains  an  sich,  von 
denen  er  wusste,  dass  sie  von  der  Rhederei  gebraucht 
werden  würden,  um  sie  mit  reichem  Gewinn  an  diese 
wieder  loszuschlagen,  so  in  Kosel-Oderhafen  ein  Grund- 
stück von  97.951  Quadratmeter,  welches  mit  87.000  M. 
belastet  ist.  Ferner  gehört  hierher  eine  Spekulation 
mit  zwei  Grundstücken  von  38.837  Quadratmeter 
Grösse.  Dieselben  gehörten  früher  dem  Ritterguts- 
besitzer Drabizius  und  wurden  von  dem  Spediteur 
Giesel  aus  dessen  Konkursmasse  erworben ;  schon 
damals  waren  dieselben  mit  410.000  M.  Hypotheken 
belastet.  Mit  Giesel  trat  Schostag  in  Verbindung  und 
veranlasste  ihn,  die  behördliche  Genehmigung  zur 
Anlage  einer  Schiffswerft  auf  den  beiden  Grundstücken 


524 


nachzusuchen.  Nach  Erlangung  derselben  sollte  die 
rohe  Anlage  auf  Kosten  Beider  für  30.000  M.  fertig- 
gestellt werden,  und  wenn  dies  geschehen  sei,  sollten 
die  übrigen  Anlagen,  Schuppen  etc.  von  Schostag 
bestellt  und  von  der  Rhederei  vereinigter  Schiffer 
gebaut  werden.  Nach  Fertigstellung  der  Anlagen  sollte 
die  Rhederei  ein  Pachtverhältniss  eingehen,  dessen  Be- 
dingungen durch  Schostag  als  den  Direktor  der  Gesell- 
schaft festgesetzt  wurden.  Die  Werft  ist  seit  dem  Früh- 
jahre d.  J.  fertig  und  seit  dem  1.  Juli  dieses  Jahres 
von  der  Rhederei  in  Betrieb  genommen.  Bei  den 
sonstigen  Organen  der  Rhederei  ist  bis  zum  Tode 
Schostag's  über  die  eigenartigen  Rechtsverhältnisse 
dieser  Werft  nichts  bekannt  gewesen,  und  es  stehen 
deshalb  noch  schwierige  Auseinandersetzungen  zwi- 
schen Giesel  und  der  Schostagschen  Eonkursmasse 
einerseits  sowie  zwischen  den  beiden  Miteigenthümern 
und  der  Rhederei  andererseits  bevor.  Die  hypother 
karische  Belastung  dieser  Terrains  beträgt  410.000  M. 
Schostag  war  bei  mehreren  Gesellschaften  auf  den 
Todesfall  versichert ;  doch  sind  die  meisten  Versiche- 
rungen wegen  Nichtzahlung  von  Prämien  oder  wegen 
des  Selbtsmordes  verfallen.  Einen  Ueberblick  über  die 
Aktivmasse  zu  geben,  ist  vorläufig  noch  nicht  möglich, 
da  erst  eine  sachgemässe  Schätzung  der  Grundstücke 
erfolgen  muss.  Der  Bericht  des  Konkursverwalters 
bestätigt,  dass  Schostag  die  veruntreuten  Summen 
in  der  Hauptsache  durch  Börsenspekulationen  ver- 
loren hat.  Ist  es  schon  erstaunlich,  dass  dem  Auf- 
sichtsrath  von  den  riesigen  Spekulationen  nichts  zu 
Ohren  gekommen  ist,  so  muss  man  sich  noch  mehr 
darüber  wundern,  dass  die  Gesellschaft  Terrains  etc. 
erwarb,  ohne  dass  der  Aufsichtsrath  sich  dafür  inter- 
essirte,  dass  Schostag  als  Zwischenkäufer  zum  Nach- 
theile des  von  ihm  geleiteten  Unternehmens  auftrat. 
Auch  dass  der  Aufsichtsrath  an  dem  Vorleben  Schos- 
tags  keinen  Anstoss  nahm,  muss  nach  dem  Bericht  des 
Konkursverwalters  von  Neuem  auffallen.  Dass  aus  dem 
Nachlass  Schostag's  für  die  Gläubiger  ein  nennens- 
werther  Betrag  entfallen  sollte,  erscheint  ausgeschlossen. 
Gleichzeitig  meldete  man  den  Zusammenbruch 
der  Gewerbebank  in  Heilbronn.  Ende  September  gerieth 


525 


in  Konkurs  die  Grunderwerbsbank  für  Berlin  und 
Vororte.  Diese  war  ein  Unternehmen  des  Direktor 
Sanden.  Nebst  diesen  Aktienunternehmungen  sind 
zahlreiche  private  Bankhäuser  entweder  ganz  ver- 
schwunden oder  in  finanzielle  Schwierigkeiten  gera- 
then.  Das  grösste  Aufsehen  machte  die  finanzielle 
Klemme  der  Firma  Hugo  Landau  in  Breslau.  Doch 
sind  dem  Juden  Landau  seine  intimsten  Freunde, 
wie  Cäsar  Wollheim,  Rosenfeld  und  Goldschmidt, 
Schottländer,  Behrens  in  Hamburg,  Mendelssohn  in 
Berlin  zu  Hilfe  geeilt.  Landau  war  ein  kühner  Speku- 
lant und  sass  in  nicht  weniger  als  in  26  Aktien* 
gesellschaften  entweder  als  Direktor  oder  als  Mitglied 
des  Verwaltungsrathes.  Selbstverständlich  können  wir 
nicht  alle  Namen  der  Industrieaktienunternehmungen 
anführen,  die  in  Deutschland  während  des  Jahres  1901 
entweder  ganz  eingingen  oder  ihre  Produktion  zeit- 
weilig einstellen  oder  reduciren  mussten.  Wie  viel  durch 
den  Zusammenbruch  der  verschiedenen  Geld-  und  Kre- 
ditinstitute das  Publikum  an  Baargeld  verloren,  wie  viel 
tausende  Familien  zugrunde  gerichtet,  wie  viel  Selbst- 
morde verübt  wurden,  das  weiss  Gott  allein.  Die 
direkten  Verluste  an  Geld,  welche  durch  den  Zusam- 
menbruch der  genannten  Unternehmungen  dem  Publi- 
kum zugefügt  worden,  sind  aber  nur  ein  Theil  des 
Unglückes.  Den  grösseren  Theil  des  wirthschaftlichen 
Unglückes  vollendete  die  Börse.  Denn  nach  jeder 
Nachricht  von  einem  Krach  folgte  in  Berlin  auf  der 
Börse  der  entsprechende  Preisdruck  der  Wertpapiere. 
So  verloren  nach  dem  Cours  vom  7.  Juli  1901  die 
Aktien  der  Harpener  Eisenindustrie-Aktiengesellschaft 
an  einem  Stück  3510  Mark,  Kölnischer  Bergwerks- 
verein 2057  Mark  u.  s.  f.  Ende  September  1901  hielt 
die  „Nationalzeitung"  eine  Schau  auf  dem  Schlacht- 
felde und  konstatirte,  dass  die  Industriepapiere  Ende 
September  einen  Verlust  von  mindestens  1500  Milli- 
onen Mark  erlitten  haben.  Die  deutschen  Bankaktien 
erlitten  einen  Vertust  von  mindestens  700  Millionen 
Mark,  die  Kredit-  und  Hypothekenbanken  haben  einen 
Verlust  von  über  200  Millionen  Mark  zu  verzeichnen. 
Das  ist  nur  eine  oberflächliche  Schätzung.  Wie  gross 
die  Verluste  an  Bahnaktien  und  Staatspapieren  sein 


Ö26 


werden,  das  wird  die  Schlussrechnung  an  der  Berliner 
Börse  pro  1901  ergeben.  Diese  verheerenden  Wirkun- 
gen des  Kapitalismus  werden  auf  lange  Jahre  zu 
spüren  sein.  Der. Augenblick,  wo  die  Industrie-  und 
anderen  Wertpapiere  ihren  Gours  verlieren-  und  dem 
Druck  der  Börse  nachgeben,  das  ist  der  Augenblick, 
wo  die  grossen  Börsenhyänen  ihre  reiche  Ernte  halten, 
sie  kaufen  mit  vergnügtem  Gesicht  die  niedergedrückten 
Papiere,  die  sie  vorher  durch  eine  gaunerhafte  Preis- 
treiberei dem  Publikum  theuer  aufgepelzt  haben.  Nun 
strömen  die  Milliarden  wieder  zurück,  die  Papiere 
fluthen  an  die  Börse  wieder  und  es  kann  in  einiger 
absehbarer  Zeit  der  Raub  von  neuem  vollzogen  werden. 
Machen  wir  eine  kleine  Berechnung.  Die  Aktien  des 
Kölner  Bergwerksvereines  haben  einen  Nominalpreis 
pro  Stück  600  Mark,  es  sind  ihrer  9000  Stück  in 
Umlauf.  Im  Jahre  1900  war  der  höchste  Gours  dieser 
Aktie  an  der  Börse  in  Berlin  499,  d.  h.  100  Mark 
Nominale,  499  Mark  Gourswerth,  das  macht  den  Werth 
eines  Stückes  der  Aktie  eine  Summe  von  2895  Mark. 
Gesetzt  den  Fall,  dass  ein  Privatier  30  Stück  dieser 
Aktien  zum  Gourse  499  angekauft  habe,  so  hat  er 
müssen  dafür  86.859  Mark  erlegen.  Nun  sind  diese 
Aktien  am  7.  Juli  1901  auf  den  Gours  von  293  gefallen, 
d.  i.  ein  Verlust  von  1137  Mark  an  einer  jeden  Aktie, 
macht  also  bei  30  Stück  eine  Summe  von  34.110  Mark 
aus,  beim  ganzen  Aktienbesitz  von  9000  Stück  macht 
dies  einen  Verlust  von  10,233.000  M.  aus.  Und  so  könnte 
man  diese  Berechnung  mit  allen  Wertpapieren  an- 
stellen. Wir  müssen  konstatiren,  dass  diese  grossen 
Raubzüge  der  Börse  in  Berlin  ihren  Wiederhall  auch 
in  Wien  gefunden  haben,  doch  müssten  wir  den 
Raubzug  der  Börse  in  Wien  einer  eigenen  Betrach- 
tung unterziehen.  Diesen  grossartig  angelegten  Dieb* 
stählen  am  Vermögen  des  Volkes  gegenüber  wird  in 
den  Parlamenten  von  Seite  der  Liberalen  und  Juden 
ein  tiefes  beharrliches  Schweigen  beobachtet,  dafür 
bringen  die  Juden  Breiter,  Malik  und  Genossen,  die 
Socialdemokraten  und  die  ganze  Judenschutztruppe  die 
Kirche,  die  Orden  und  die  Priester  ins  Treffen,  Die 
Kirche  muss  herhalten,  um  die  grossen  Raubzüge  der 
Börse  zu  verdecken  —  und  es  gelingt  Von  der  Christ- 


527 


liehen  Seite  wird  viel  zu  wenig  gethan,  um  das  Volk 
aufzuklären  und  von  der  Wahrheit  zu  überzeugen. 
Da  zeigt  sich  eben  die  furchtbare  Macht  der  Juden - 
presse,  welche  von  der  Börse  und  den  Kapitalisten 
seit  Jahren  in  Dienst  genommen  wird.  Nur  mit  ihrer 
Hilfe  können  diese  Raubzüge  veranstaltet  werden. 
Wann  das  christliche  Volk  zur  Erkenntniss  dieser 
Dinge  kommen  wird,  kann  man  nicht  voraussehen. 
Die  Reaktion  wird  nur  dann  kommen,  wenn  das 
christliche  Volk  gänzlich  verarmt  sein  wird  und  die 
jüdischen  Finanzbarone  in  ihren  aufgehäuften  Milli- 
onen selbst-  ersticken  werdeij.  Dann  werden  vielleicht 
die  Regierungen  einsehen,  dass  man  die  Börsen  nach 
einer  anderen  Manier  als  bisher  wird  behandeln 
müssen. 

In. Breslau  fallierte  der  Jude  Landau.  Die  Juden- 
blätter schrieben  Folgendes :  „Jakob  Landau  Nachfol- 
ger. Die  Angelegenheit  der  Breslauer  Firma  Jakob 
Landau  Nachfolger  kann  als  erledigt  bezeichnet  wer- 
den. Nicht  richtig  dürfte  die  Höhe  der  gestern  ange- 
gebenen Sanirungssumme  mit  iy4  Mill.  M.  sein,  da 
es  sich  jedenfalls  um  einen  weit  höheren  Betrag 
handelte.  Generalkonsul  Eugen  Landau,  der  eine 
Inhaber  der  Firma,  hat  eine  sehr  umfangreiche  Emis- 
sionsthätigkeit  mit  Hülfe  der  ihm  nahestehenden 
Bankgruppe  entfaltet,  wofür  die  Häufung  von  Auf- 
sichtsrathstellen,  welche  er  in  seiner  Person  vereinigt, 
einen  für  sich  selbst  sprechenden  Beweis  gibt.  Ausser 
in  der  Nationalbank,  aus  deren  Aufsichtsrath  er  jetzt 
ausgetreten  ist,  bekleidet  er  noch  den  Posten  eines 
Vorsitzenden  des  Aufsichtsraths  bei  der  Aktien brauer ei 
Friedrichshöhe  vorm.  Patzenhofer,  der  Akt.-Ges,  für 
Montanindustrie,  der  Allgemeinen  Deutschen  Klein- 
bahngesellschaft, der  Berlin-Lichtenberger  Terrain- 
aktiengesellschaft, der  Metallwaarenfabrik  Akt.-Ges, 
Baer  u.  Stein,  sämmtlich  in  Berlin,  der  Bayerischen 
Bank  in  München,  der  Breslau-Kleinburger  Terrain- 
gesellschaft, der  Chemischen  Fabrik  Hönningen,  den 
Milowicer  Eisenwerken,  der  Oberschlesischen  Eisen- 
bahn-Bedarfs-A.-G  ,  der  Rositzer  Zuckerraffinerie,  der 
Spinnerei  A.-G.  vorm.  Klauser,  München-Gladbach, 
lind  den  Kohlenwerken  Glückauf  in  Zechau    Weiter 


528 


war  er  Mitglied  des  Aufsichtsraths  der  Aluminium- 
industrie-A.-G.  in  Neuhausen,  der  Bielsfelder  Näh- 
maschinen- und  Fahrradfabrik  vorm.  Hengstenberg 
u.  Co.,  der  Bierbrauerei- A .-6.  vorm.  Gebr.  Hugger  in 
Posen,  der  Brauerei  W.  Isenbeck  u.  Co,  A.-G.  in 
Hamm,  der  Kommerz-  und  Discontobank  in  Ham- 
burg, der  Leipziger  Bierbrauerei  Riebeck  u.  Co.,  der 
Mannheimer  Versicherungsgesellschaft,  der  Oberschle- 
sischen  Bierbrauerei  A.-G.  vorm.  L.  Haendler  in  Zabrze, 
der  Oberschlesischen  Portland-Cementfabrik  in  Oppeln, 
der  Rheinisch-Westfälischen  Metall  werke  in  Dornap, 
der  Waggonfabrik  A.-G.  vorm.  P.  Herbrandt  u.  Co. 
in  Köln  und  der  Schlesischen  Kleinbahn-A.-G.  in 
Berlin  —  das  sind  also  26  Aktiengesellschaften,  unter 
denen  sich  3  Banken,  1  Versicherungsgesellschaft, 
2  Trustgesellschaften,  2  Terraingesellschaften,  1  Bahn- 
unternehmen, 3  montanistische  Unternehmungen,  5 
Betriebe  der  Metallwaaren-,  Maschinen-  und  Waggon- 
industrie, 5  Brauereien,  je  1  chemische,  1  Cement-, 
1  Zucker-  und  1  Textilfabrik  befinden.  Ausserdem  ist 
Herr  Kommerzienrath  Hugo  Landau  in  12  Aktien- 
gesellschaften theils  als  Vorsitzender,  theils  als  Mit- 
glied des  Aufsichtsraths  thätig." 

Die  Hilfsaktion  für  das  Bankhaus  Adolf  Landau 
Nachfolger,  für  welche  sich  die  hiesigen  Häuser  Max 
Cäsar  Wollheim  und  Rosenfeld  und  Goldschmied, 
sowie  Kommerzienrath  Wilhelm  Lehrmann  und  Ritter- 
gutsbesitzer Schottländer  aus  Breslau  und  schliesslich 
das  Bankhaus  L.  Behrens  und  Sohn  in  Hamburg 
bereit  erklärt  haben,  hat  die  Forderungen  der  klei- 
neren Gläubiger  gesichert.  Mit  den  Hauptgläubigern 
wurde  ein  Arrangement  dahin  getroffen,  dass  diese 
einstweilen  mit  50  Procent  befriedigt  werden,  die 
restlichen  50  Procent  werden  ihnen  nach  Ablauf  eines 
Jahres,  binnen  welcher  Zeit  die  Liquidation  des  Hau- 
ses Landau  durchgeführt  werden  soll,  zugesichert. 
Das  Hilfskonsortium  soll  der  Angabe  eines  Breslauer 
Blattes  zufolge  iy4  Millionen  Mark  für  die  Hilfsaktion 
aufgewendet  haben.  Diese  Summe  wurde  an  der  Börse 
für  zu  niedrig  gehalten.  Eine  endgiltige  Feststellung 
der  Modalitäten  wird  in  der  morgen  stattfindenden 
Gläubigerversammlung  vor  sich  gehen.  Wie  verlautet, 


529 


will  das  Konsortium  auch  den  Generalkonsul  Eugen 
Landau  in  Berlin  bei  Ordnung  seiner  Angelegenheiten 
unterstützten.  Im  Juni  1901  schrieb  das  „Berliner 
Tageblatt"  folgendes :  Der  Bankier  Th.  Löwenberg* 
dessen  Bank-  und  Wechselgeschäft  in  der  Leipziger- 
Strasse  113  zusammengebrochen  ist,  hat  seine  Flucht 
in  raffinirtester  Weise  vorbereitet.  Ende  vorigen  Mo- 
nats kündigte  er  seinen  Angestellten  an,  dass  er  eine 
Erholungsreise  machen  werde.  Löwenberg  lag  vor 
allem  daran,  einen  Vorsprung  zu  erreichen,  ehe  die 
Katastrophe  im  Geschäft  eintrat.  Dies  ist  ihm  in  der 
That  gelungen.  Am  Sonntag,  den  30.  Juni,  begab  er 
sich  Abends  „auf  Reisen",  nachdem  er  vorher  alle 
Dokumente,  in  erster  Linie  seine  Photographien  ver- 
nichtet hatte,  die  der  Polizei  hätten  eine  Handgabe 
zur  Ermittelung  seines  Aufenthaltes  bieten  können. 
Erst  am  Montag  Nachmittag  wurde  das  Geschäft  durch 
die  Kriminalpolizei  geschlossen  und  die  Geschäfts- 
bücher beschlagnahmt.  Diese  befinden  sich  in  voller 
Unordnung.  Die  Bücher  sind  offenbar  absichtlich 
regellos  geführt  worden.  Die  Passiva  des  verhältniss- 
mässig  kleinen  Geschäfts  betragen  300.000  Mark ;  die 
Aktiven  sind  kaum  nennenswerth.  Es  steht  bereits 
fest*  dass  L  ihm  anvertraute  Depots  in  beträchtlicher 
Höhe  unterschlagen  hat.  Die  Ursachen  für  den  Zusam- 
menbruch sind,  wie  so  oft,  in  dem  „cherchez  la 
femme"  —  der  44  Jahre  alte  L,  selbst  war  unverhei- 
ratet —  zu  suchen.  Ein  Steckbrief  ist  erlassen  wor- 
den L.  ist  1*80  Meter  gross,  schlank,  geht  vorn  über- 
gebeugt, hat  geröthete  gebogene  Nase,  dunkelröthli- 
chen  Schnurbart  mit  schwachem  Ansatz  von  Kotelett- 
Bart,  röthliches  Haar.  Er  ist  in  Tilsit  geboren."  Aus 
Stargard  meldete  die  „Germania"  Anfangs  März  1901 
folgendes  :  »Der  Inhaber  eines  hiesigen  grossen  Tuch- 
geschäfts, Wolffheim,  hatte  ausser  seinem  kaufmän- 
nischen Geschäfte  noch  eine  Sparkasse  errichtet. 
Wolffheim  besass  unbedingtes  Vertrauen  bei  allen 
Konfessionen  und  Nationalitäten,  die  ihre  Ersparnisse, 
in  Einzelfällen  bis  20.000  Mark,  bei  ihm  hinterlegten 
gegen  sechs  Procent  Zinsen.  Vor  Kurzem  ist  Wolff- 
heim bankerott  geworden.  Deutsche  Bürger  hatten 
etwa  400.000  M.,   polnische    etwa   120.000  Mark  bei 

34 


680 


Wolffheim  deponirt.  Alle  Einlagen  sind  nach  polni- 
schen Blättern  bis  auf  den  letzten  Pfennig  verloren. 
Verschiedene  Familien  haben  ihr  ganzes  Vermögen 
eingebüsst."  Solcher  ausgezeichneter  Juden-Bürger  hat 
das  neue  deutsche  Reich  in  Fülle,  sie  arbeiten  wie 
die  Miniermäuse  und  unterwühlen  so  den  stolzen  Bau. 
Wenn  das  so  fortgeht,  dürfte  die  Expansions- 
politik der  Alldeutschen  in  Sand  verlaufen.  Das 
deutsche  Reich  wird  zu  Hause  genug  zu  thun  haben. 
So  schreibt  das  Münchener  Deutsches  Volksblatt  am 
81.  Mai  1908.  Es  ist  rührend,  mit  welcher  Einmüthig- 
keit  die  liberale  Presse  die  tiefgehenden  Verstim- 
mungen wegzuleugnen  sucht,  die  mit  Recht  am  baye- 
rischen Hofe  und  in  noch  viel  höherem  und  bedeu- 
tungsvollerem Grade  in  der  bayerischen  Bevölkerung 
gegen  die  fortgesetzten  preussischen  Angriffe  auf 
bayerische  Reservatrechte  und  die  hochmütige  Behand- 
lung deutscher  Bundesfürsten  und  deutscher  Regie- 
rungen längst  bestehen.  Man  weiss  eben,  was  man 
weiss ;  und  weiss,  dass  man  in  der  Residenz  von 
München  ebenso  wie  in  jenen  von  Dresden,  Stuttgart, 
Karlsruhe,  Darmstadt,  Meiningen,  Dessau,  Schwerin 
und  Detmold,  ebenso  wie  die  Volksseele  „kocht", 
man  weiss  aber  leider  auch,  dass  die  hohen  Herren, 
die  die  Sache  ja  schliesslich  doch  in  erster  Linie 
angeht,  nicht  die  Energie  besitzen,  offen  ihre  Rechte 
zu  wahren  und  an  das  Volk  zu  appellieren,  und 
nimmt  darum  das  unabänderlich  Scheinende  mit 
einem  gewissen  Gleichmuth  auf.  Die  auf  das  Offizio- 
senthum  Anspruch  machenden  Blätter  sollten  aber 
in  diesen  Dingen  das  Volk  doch  nicht  gar  so  dumm 
anlügen,  wie  es  die  Berliner  „Nationalzeitung*  thut, 
deren  Quark  natürlich  die  „Münchner  Neuesten"  wie 
jede  Dummheit  sofort  mit  Wonnegefühl  an  der  Spitze 
ihrer  Kuhhaut  abdrucken.  Dort  heisst  es:  „Der baye- 
rische Ministerpräsident  Freiherr  v.  Podewils  nahm 
in  der  längeren  Unterredung,  die  er  gestern  mit  dem 
Reichskanzler  hatte,  wie  wir  erfahren,  Veranlassung, 
mit  aller  Entschiedenheit  die  Ausstreuungen  bayeri- 
scher und  anderer  Blätter  zurückzuweisen,  wonach 
zwischen  der  beyerischen  Regierung  und  der  Reichs- 
regierung eine  Spannuncr  bestehen  soll.  Der  Eindruck 


531 


war  auf  beiden  Seiten  ein  überaus  sympathischer. 
Auch  im  Verkehr  mit  anderen  hohen  Reichs-  und 
preussischen  Staatsbeamten  äusserte  sich  in  frei- 
müthiger  Weise  der  bayerische  Ministerpräsident 
in  überaus  gewinnender  Form.  Die  Anwesenheit 
der  sämmtlichen  Minister  bei  dem  Diner  zu  Ehren 
des  Staatsministers  Freiherrn  v.  Podewils  bei  Bülow 
und  überhaupt  die  überaus  ehrenvolle  Aufnahme 
des  bayerischen  Ministerpräsidenten  gelten  als  Zeichen 
dafür,  wie  unendlich  grossen  Werth  man  auf  die 
innigsten  Beziehungen  zwischen  Preussen  und  Bayern 
legt"  Man  sieht,  wie  gedankenlos  in  gewissen  Redakti- 
onen gearbeitet  wird,  beziehungsweise  für  wie  gedan- 
kenlos diese  die  Leser  ihres  Blattes  halten  müssen. 
Als  ob,  wenn  zwischen  den  beiderseitigen  Regierun- 
gen Spannungen  bestanden  oder  auch  keine  bestanden 
hätten,  deren  Vertreter  unter  vier  Augen  „mit  aller 
Entschiedenheil  die  Ausstreuungen  anderer  zurück- 
weisen" würden.  0,  sancta  simplicitas  !  Die  ganze 
lächerche  Art  und  Weise,  mit  der  der  Besuch  des 
bayerischen  Ministers  des  Aeussern  am  Berliner  Hofe 
von  der  grossen  Tagespresse  glossiert  wird,  wird  in 
der  „Münchener  Post"  in  folgender  geistreich-bos- 
haften, aber  nicht  unzutreffenden  Weise  bespöttelt: 
Berlin,  28.  Mai,  9  Uhr  2  Minuten  Vormittags :  Die 
ersten  Worte,  die  Herr  v.  Bülow  an  den  bayerischen 
Ministerpräsidenten  richtete,  waren :  „Herzlich  will- 
kommen, lieber  Baron  !"  Herr  v.  Podewils  war  von 
diesem  unerwartet  liebenswürdigen  Empfang  so  über- 
rascht, dass  er  nur  sagen  konnte :  „Vielen  Dank, 
Excellenz,  nicht  war,  Sie  tragen  uns  wegen  Swine- 
münde  nichts  nach?"  Diese  bescheidene  aber  doch 
feste  Betonung  der  bayerischen  Interessen  machte 
einen  ungemein  günstigen  Eindruck. 

Berlin,  28.  Mai,  9  Uhr  3  Minuten.  Beim  Diner 
wurde  mit  allgemeiner  Befriedigung  konstatiert,  dass 
Herr  v.  Podewils  den  Fisch  ohne  Benützung  des 
Messers  zu  essen  verstand  und  die  Gabel  kein  ein- 
ziges Mal  als  Zahnstocher  verwendete.  Auch  im  Ge- 
brauch des  Spülglases  zeigte  der  erfahrene  Diplomat 
sich  völlig  bewandert.  Der  Gesandte  eines  anderen 
grösseren  Bundesstaates   drückte   sich   hierüber  sehr 

84* 


/>32 


anerkennend  aus  und  sagte  zu  seinem  Nachbar  gewandt : 
„Friedrich  der  Grosse  hatte  doch  unrecht"  Wir  ver^ 
muten,  dass  der  Herr  Gesandte  hierbei  an  das  harte 
Wort  des  grossen  Preussenkönigs  Friedrichs  des  Ein- 
zigen dachte :  „Bayern  ist  ein  Paradies,  bewohnt  von 
Tieren."  Berlin,  28.  Mai,  9  Uhr  4  Minuten.  Der  Kaiser 
halte,  um  seinen  hohen  Gast  zu  ehren,  Gebirgswichs 
mit  dem  breiten  Band  des  Hubertusordens  angelegt 
und  redete  Herrn  v.  Podewils  zweimal  direkt  an.  Die 
Antworten  des  Ministerpräsidenten  fielen  den  Um- 
ständen entsprechend  befriedigend  aus.  Nach  Auf- 
hebung der  Tafel  wurde  bayerisches  Bier  serviert 
In  zwangloser  Unterhaltung  kam  das  Gespräch  auch 
auf  die  Musik.  „Sie  singen  ja  auch,  Podewils,"  ermun- 
terte Herr  v.  Bülow  den  bayerischen  Kollegen,  worauf 
dieser  bereitwillig  einige  seiner  pikantesten  Schnader- 
hüpfel  zum  besten  gab.  Eine  hochstehende  Persönlich- 
keit äusserte  dann  :  „Das  ist  wahre  Kunst,  er  ist  noch 
besser  wie  Dreher."  Als  Dank  für  dies  hohe  Wohl- 
wollen gab  Herr  v.  Podewils  noch  die  bayerische 
Bauernbundshymne  zum  besten  und  erregte  damit 
stürmischen,  nachhaltigen  Jubel."  —  Berlin,  28.  Mai, 
9  Uhr  5  Minuten.  Der  Erfolg  der  Reise  des  Herrn 
v.  Podewils  steht  nunmehr  fest.  Ein  hervorragender 
Staatsmann  versicherte  mir:  „Er  ist  charmant;  Crails- 
heim ist  Mode  vom  vorigen  Jahr !" 

Dass  die  socialen  Zustände  im  deutschen  Reiche 
nicht  die  beslen  sind,  davon  gibt  einen  Beleg  die 
Verschuldung  des  unbeweglichen  Besitzes.  Seit  dem 
Jahre  1886  ist  die  buchmässige  Bewegung  der  Real- 
schulden in  Preussen  Gegenstand  alljährlicher  Ermit- 
tlung. Vom  1.  April  1886  bis  zum  31.  März  1900  sind  in 
den  Städten,  sowie  in  den  Landgemeinden  und  Guts- 
bezirken mit  städtischem  Wesen,  insbesondere  Fabrik- 
orten und  Vorortsgemeinden  der  Grosstädte  insge- 
sammt  23.286*49  Millionen  Mark  an  Hypotheken  und 
Grundschulden  eingetragen,  dagegen  11.422*37  Mil- 
lionen Mark  oder  49*1  v.  H.  der  Eintragungen  ge- 
löscht worden,  so  dass  sich  eine  Zunahme  der  Buch- 
verschuldung um  11.844'12  Millionen  Mark  ergibt. 
In  den  Gemeinden  mit  ländischem  Charakter  beliefen 
sich  die  Eintragungen    auf  zusammen  10.652*73  Mil- 


533 


lionenMark  und  die  Löschungen  auf  7 122*82  Millionen 
Mark,  d.  i.  667  v.  H.  der  Eintragungen,  mithin  die 
Mehrverschuldung  auf  3549*71  Millionen  Mark. 


Im  Einzelnen  betragen 

die  Bin-            die  Löschungen 

der  Ueber- 

im 

tragungen        Oberhaupt 

v.  H.  der 

schuss  der 

Jahre 

Mill.  M.            Mill.  M. 

Ein- 

Eintragungen 

tragungen 

Mill.  M. 

a)  in  den  städtischen  Bezirken 

1895 

1676-64         991-32 

95-1 

68532 

1896 

1643-53         89226 

54-3 

75127 

1897 

1799-17         877-93 

48-8 

921-24 

1898 

1869-28         835  30 

44-7 

1033-98 

1899 

2039-11         877-25 

43-0 

1161-86 

1900 

1914-12         80977 

42-3 

1104-35 

b)  in  den  ländischen  Bezirken : 

1895 

752-02         496-41 

660 

255-61 

1896 

783-31         505-81 

64-6 

277-50 

1897 

812-72         49166 

60-5 

321-06 

1898 

847-93         490-38 

57-8 

357-55 

1899 

859-85         471 96 

54-9 

387-89 

1900 

877-32         48162 

54-9 

39570 

Beta  taxiert  die  Verschuldung  des  unbeweglichen 
Besitzes  im  deutschen  Reiche  auf  42.000  Millionen 
Mark.  Das  Vermögen  der  physischen  Personen  in 
Preussen  wird  auf  147.500  Millionen  Kronen  geschätzt, 
das  von  Würtemberg  auf  10.600  Millionen  Kronen  öst. 
Währung. 

c)  Frankreichs  Finanzkräfte. 

Frankreich  ist  das  Land  der  öffentlichen  Kor- 
ruption. Die  französische  Republik,  wie  sie  heute 
ist,  könnte  man  mit  Fug  und  Recht  eine  privi- 
legierte Gesellschaft  auf  Ausbeutung  des  Volkes 
nennen.  Die  Volksmassen  ehrlicher  Bevölkerung 
sind  eine  Beute  durchtriebener  meist  jüdischer 
Gauner  geworden.  Der  Reichthum  Frankreichs  stammt 
von  der  emsigen  Arbeit  und  Sparsamkeit  des  fran- 
zösischen Bauers  und  Handwerkers.  Das  Land  ist 
fruchtbar,  das  Volk  rührig  und  genügsam  und  darum 
ist  das  Kapital  Frankreichs  das  mächtigste  nach  dem 


634 


englischen.  Das  bewegliche  Vermögen  Frankreichs 
ist  abgeschätzt  auf  80.000  Millionen  Francs.  Die  Staat- 
schuld Frankreichs  betrag  Ende  1896  die  Summe  von 
14.378  Millionen  fl.  Die  französischen  Steuerzahler 
müssen  alle  Jahre  wenigstens  430  Millionen  Gulden 
für  die  Zinsen  der  Staatsschuld  aufbringen,  zahlen 
also  bedeutend  mehr  als  unsere  Steuerträger.  Das  alles 
verschlingen  die  Inhaber  französischer  Staatsschuld- 
scheine. Weiter  sind  hier  für  19.000  Millionen  Francs 
Eisenbahnobligationen  und  Prioritäten,  2500  Mill. 
städtische  Anlehen,  10.000  Mill.  Industriepapiere. 
Daneben  besitzen  die  Franzosen  an  20.000  Millionen 
Francs  fremde  Papiere.  Nehmen  wir  nur  eine  3y2 
percentige  Verzinsung  dieses  beweglichen  Vermögens 
an,  so  beziehen  die  französischen  Kapitalisten  ein 
jährliches  Einkommen  von  2800  Millionen  Francs. 
Frankreich  hat  nach  einigen  Angaben  nur  72.000 
Juden,  davon  42.000  in  Paris,  3000  in  Bordeaux, 
19.000  an  der  Ostgrenze,  8000  im  übrigen  Lande. 
Andere  behaupten,  Frankreich  zähle  mindestens  200.000 
Juden.  Drumond  will  wissen,  dass  diesen  wenigen 
Juden  60%  aller  französischen  Wertpapiere  gehört. 
Sicher  ist  es,  dass  die  französichen  Juden  mindestens 
über  20.000  Millionen  Francs  an  beweglichem  Kapital 
besitzen,  wovon  die  Hälfte  nur  dem  Pariser  Roth- 
schild allein  gehört.  Der  Chef  des  Pariser  Hauses 
James  Rothschild  ist  im  Besitze  von  2300  Aktien  der 
Bank  von  Frankreich,  über  welche  er  als  oberster  Herr 
förmlich  gebietet.  In  dem  Schreckensjahre  der  Kommune 
1871  brachten  ihm  diese  Aktien  300  Francs  Dividende. 
Während  in  den  Gassen  Paris  über  30.000  Men- 
schen niedergemetzelt  und  über  700  Häuser  einge- 
äschert wurden,  war  die  Ernte  des  Juden  Rothschild 
in  diesen  Schreckenstagen  eine  überaus  reiche.  Während 
der  Kommune  wurden  öffentliche  Häuser,  Kirchen, 
Paläste,  private  Häuser  geplündert,  eingeäschert,  aus- 
geraubt, den  jüdischen  Häusern  wurde  nicht  ein 
Fenster  eingeschlagen. 

Die  Pariser  Börse  ist  beherrscht  von  jüdischen 
Milliardären,  Rothschild  an  der  Spitze,  Ehprussi,  Drey- 
fus,  Negropon*^  *  "  Walter,  Brüder  Bamberger, 
Herkembaut,  mlins  de  Corbeil,  Erlanger. 


535 


Das  gesammte  Nationalvermögen  Frankreichs  ist  ab- 
geschätzt auf  160.000  Millionen  Francs,  wovon  80.000 
den  Juden  gehören.  Der  pariser  Rothschild  allein  hat 
mehr  Vermögen  als  sämmtliche  Gemeinden  Frank- 
reichs. Und  doch  ist  noch  kein  Jahrhundert  dahin, 
als  der  Urgrossvater  Anselm  Meyer  Rothschild  mit 
dem  blossen  Ranzen  am  Rücken  in  Paris  ankam.  Der 
französische  Staat  hat  das  Kirchenvermögen  konfis- 
ciert,  welches  nur  400  Millionen  Francs  beträgt,  wo- 
von 40.000  Priester  ernährt  werden,  so  dass  auf 
einen  ein  jährliches  Einkommen  von  nur  500  Francs 
entfällt.  James  Rothschild  hinterliess  im  J.  1868  seinen 
5  Söhnen  Alfons,  Nataniel,  Salamon,  Gustav  und 
Edmond  über  drei  Milliarden,  so  dass  ein  jeder  über 
500  Millionen  Francs  erbte,  von  welchem  Gelde  sich 
ein  jeder  500  Schlösser  mit  entsprechendem  Gross- 
grundbesitz erwerben  könnte.  Anfangs  Juni  1897  starb 
der  Panamist  Dreyfus,  ein  geborener  Jude  aus  Mühl- 
hausen. Er  kam  nach  Paris,  spekulierte  an  der  Börse, 
kaufte  in  Peru  Salpeter  und  Guanolager  an,  besorgte 
die  peruanischen  Staatsfinanzen,  sowie  die  Finanzen 
von  Argentinien  und  Brasilien.  Zu  diesem  Zwecke 
gründete  er  in  Paris  ein  eigenes  Bankhaus.  Der  Advokat 
Präsident  Gr6vy  war  sein  Rechtsfreund.  Gr6vy  als  Präsi- 
dent mit  seinem  Schwiegersohn,  dem  Finanzminister 
Wilson,  Hessen  diesem  Juden  78.000  Frcs.  Stempeltaxen 
nach,  die  er  an  die  Staatskasse  zahlen  sollte.  Dreyfus 
heiratete  die  Tochter  des  germanischen  Generals  Pinil- 
loso,  mit  welcher  er  viele  Millionen  profitierte.  Die  Pana- 
misten  waren  hauptsächlich  Juden  und  zwar  Herz,  Rei- 
nach, Oberndorffer,  Hell  mann,  Seligmann,  Arton.  Die  Pa- 
namisten  beraubten  das  französische  Volk  um  weit  über 
1000  Mill.  Francs.  Die  Eisenbahnkonyentionen  der 
französischen  Bahnen  sind  abgeschlossen  durch  den 
Juden  Raynart,  sie  beschädigen  den  Staatssäckel  uro 
1000  Mill.  Francs.  Seit  der  Herrschaft  der  Republik 
ist  das  französische  Volk  durch  die  Panamisten,  Juden 
und  durch  die  öffentliche  staatliche  Korruption  um 
10.000  Millionen  Francs  beraubt  worden.  Diesen  Finanz- 
juden dient  die  jüdische  Presse  Gaulois,  Echo  de 
Paris,  Petit  Journal,  Temps,  La  Republique  frangaise. 
La  Nation,  La  Lanterne. 


536 


Das  Gold  der  Juden  erkauft  alles,  Staatsanwälte, 
Abgeordnete,  kurz  alles  ist  verkäuflich.  Die  sämmt- 
lichen  Anklageakte  gegen  die  Panamisten  wurden 
unterschlagen  und  niemand  bestraft.  Wie  weit  die 
öffentliche  Korruption  in  Frankreich  schon  gekommen 
und  die  Macht  der  Juden  gewachsen,  davon  ist  der 
deutlichste  Beweis  die  Affaire  Dreyfus.  Weil  dieser  Jud 
wegen  Verrath  militärischer  Geheimnisse  an  Deutsch- 
land verurtheilt,  rührt  sich  die  Allianz  Israelit  mit 
dem  Grossrabbiner  von  Paris  Zadoc-Kahn,  damit  um 
jeden  Preis  Dreyfus  befreit  werde  Um  jüdisches  Geld 
Hess  sich  auch  Zola  ankaufen,  um  für  Dreyfus  zu 
schreiben.  Im  Parlamente  schlagen  sich  Abgeordnete 
ins  Gesicht  wegen  dieses  einzigen  Juden.  So  weit  ist 
das  französische  Volk  herabgesunken.  Ein  30  Millio- 
nen starkes  Volk  ist  zum  Sklaven  weniger  Finanz- 
juden geworden.  Wie  ist  das  möglich?  Das  ist  sehr 
einfach.  Sobald  ein  Volk  demoralisiert  ist,  so  wird 
alles  für  Geld  wohlfeil.  Da  nun  die  wenigen  Juden 
Frankreichs  kollossale  Reichthümer  besitzen,  so  finden 
sie  ums  Geld  soviel  Judase,  dass  ihnen  das  ganze 
Volk  ausgeliefert  ist.  Geradeso  wie  in  Deutschland 
dje  socialdemokratische  Partei  das  Söldnerheer  der 
jüdischen  Kapitalisten  bildet,  ebenso  ist  es  in  Frank- 
reich der  Fall.  Die  französischen  Juden  haben  eine 
grosse  und  kräftige  Vertheidigungsarmee  an  den 
Socialisten  und  Anarchisten  mit  dem  General  Jaures 
an  der  Spitze  und  den  anderen  rothen  Befehlshabern 
der  rothen  Internationale,  es  sind  die  Juden  Lafargue, 
Quesde,  Vaillant.  Die  rothe  Internationale  glaubt  nun, 
dass  der  Sturz  der  Republik  nahe  sei  und  dass  das 
Erbe  der  Republikaner  nun  die  Rothen  und  Kommu- 
nisten antreten  werden.  Natürlich  werden  sämmtliche 
Juden  Frankreichs  als  geborene  Finanzgenies  die  öffent- 
lichen Finanzen  des  jetzt  kommenden  socialistischen 
Frankreichs  erhalten.  Es  schrieb  das  Judenblatt  „Au- 
rore"  anlässlich  der  Dreyfusaffaire :  „Die  dritte  Republik 
bricht  mit  überraschender  Schnelligkeit  zusammen. 
Ihre  Grundlagen  gelten  nur  noch  dem  Namen  nach, 
ihre  Männer  haben  abgehaust.  Der  grosse  Riss,  von 
oben  bis  unten,  enthüllt  die  schlimmste  Unordnung, 
die    Zersetzung   aller  Sittlichkeit.    Das  Parlament  ist 


537 


ein  verfehmter  Ort  gewordeu,  welchen  wirklich  fähige 
Männer  nicht  mehr  betreten  können."  Die  „Petite 
Republique*  sagt:  „Bei  im  Todeskampfe  liegenden 
Regierungen  entsteht  irgend  ein  jener  grossen  Rechts- 
h&ndel,  welche  nicht  enden  wollen,  aber  das  ganze 
Räderwerk  einer  zerrütteten  Maschine  biossiegen.  Im 
vorigen  Jahrhundert  warenes  der  Process  Beaumarchais 
und  die  Halsbandgeschichte,  welche  das  Vorspiel  der 
Revolution  bildeten.  Werden  Panama,  die  Dreyfus- 
Sache  die  Todtenglocke  der  Bourgeoisieherrschaft 
unserer  falschen,  opportunistischen  und  klerikalen 
Republik  sein?44 

Trotz  der  alles  zersetzenden  Korruption  ist  doch 
noch  ein  Zug  nach  Gerechtigkeit  im  Volke  unverkenn- 
bar. Der  Hass  gegen  die  Juden  und  Panamisten  glim- 
mert wie  unter  einer  Decke  und  bricht  zuweilen  her- 
vor. Darob  ein  grosser  Jammer  in  den  sämmtlichen 
Judenzeitungen.  Weil  einige  Studentenversammlungen 
in  Paris  und  auf  dem  Lande  gegen  die  Juden  sich 
richteten,  schreibt  die  schmutzige  prager  Judenzeitung 
j,Prager  Tagblatt"  am  19.  Januar  1898  folgendes: 
„Es  ist,  als  ob  das  Jahrhundert  nicht  zu  Ende  gehen 
wollte,  ohne  nicht  noch  zum  Abschiede  eine  besonders 
hässliche  Grimasse  zu  schneiden.  In  dem  Geburts- 
lande der  Menschenrechte,  wo  unter  37  Millionen 
christlichen  Einwohnern  nur  50.000  Juden  leben  — 
Antisemitismus !  Frankreichs  hervorragendster  Schrift- 
steller spricht  Feuerworte  zu  seiner  Natioij,  er  appel- 
lirt  an  ihr  Gewissen,  an  ihr  Rechtsgefühi  —  vergebens ! 
Die  Jugend,  an  die  er  sich  als  den  berufenen  Träger 
der  Ideale  gewandt,  kehrt  ihm  den  Rücken,  ihre 
Vaterlandsliebe  verwildert  zu  einem  gefährlichen 
Chauvinismus,  der  Arm  in  Arm  mit  der  Leidenschaft 
des  Racenhasses,  einer  Nachgeburt  des  Mittelalters, 
durch  die  Strassen  zieht.  „Es  lebe  die  Armee!  Nieder 
mit  den  Juden  !u  ist  die  Parole,  mit  der  das  Volk  in 
seine  Sprache  übersetzt,  was  in  Parlaments-  und  Ge- 
richtssälen in  parlamentarischer  Form  verhandelt 
worden;  die  Strasse  steht  auf  als  Verfechter  einer 
Welt-  und  Staatsanschauung,  welche  die  Revolution 
vor  einem  Jahrhundert  überwunden,  und  schneidet 
den  Vorkämpfern  der  Menschenrechte  und  der  indivi- 


duellen  Freiheit  das  Wort  ab.  Und  die  Regierung? 
Sie  macht  sich  aus  den  entgegengesetzten  Gesichts- 
punkten zum  Genossen  des  Aufruhrs ;  um  die  Staats* 
autorität  zu  wahren,  erstickt  sie  die  Wahrheit." 
Wir  geben  diese  Worte  des  Judenblattes  unver- 
ändert den  Lesern  zum  Nachdenken.  Wenn  aber  die 
Studierenden  etwa  gegen  Ordensleute  und  Priester 
demonstriert  und  auch  welche  todtgeschlagen  hätteü, 
dann  hätte  das  Judenblatt  nicht  ein  Wort  ge- 
schrieben. 

Das  „Deutsche  Volksblatt"  schrieb  am  29.  Juli 
1901  Folgendes :  Es  ist  eine  bekannte  Thatsache,  dass 
im  Panamaprocesse  die  Hauptmacher,  Bauunter- 
nehmer, die  bestochenen  Abgeordneten  und  Journa- 
listen unbestraft  geblieben  sind.  Der  Jude  Josef 
Reinach  konnte  die  Millionenerbschaft  seines  Onkels 
und  Schwiegervaters  ruhig  antreten.  Eiffel  gab  keinen 
Heller  von  den  drei  in  Panama  erbeuteten  Millionen 
zurück,  auch  der  Direktor  des  „Temps*  behielt 
seine  1,300.000  Francs.  Den  grossen  Fressern  des 
Parlaments,  zum  Beispiel  dem  Juden  Naquet,  der 
über  200.000  Francs  bekam,  wie  den  jüngeren  und 
bescheideneren  Panamisten  wurde  der  ungestörte  Be- 
sitz der  Trinkgelder  gesichert.  Mit  einem  Worte,  das 
Unmöglichste  und  Undenkbarste,  was  es  geben  kann, 
wurde  zur  Thatsache,  nämlich  die  Justiz  Hess  nicht 
nur  die  grossen  Diebe  laufen,  sondern  auch  die 
kleinen ....  Eine  anonyme,  verborgene  Vorsehung 
sorgte  dafür,  dass  Keinem  etwas  zu  Leide  geschah. 
Es  ist  aber  möglich,  den  Vorhang,  hinter  dem  diese 
Vorsehung  versteckt  war,  beiseite  zu  schieben  und 
dieselbe  beim  rechten  Namen  zu  nennen.  Man  braucht 
nur  in  die  vorliegenden  Akten  Einsicht  zu  nehmen. 
Im  Juli  1879  hielt  die  Freimaurerloge  „Elemente 
Amitie"  zu  Paris  eine  Festsitzung  zu  Ehren  des 
vierten  Jahrestages  der  Aufnahme  des  seither  ver- 
storbenen Mitgliedes  der  Akademie,  Littr6,  in  die 
genannte  Loge.  Hier  der  ofßcielle  Bericht  über  die 
Sitzung.  Neben  dem  „Ven6rableu  (Meister  vom  Stuhl) 
der  Loge  „Br.a  Cousin,  sassen  die  Herren  Ferdinand 
de  Lesseps,  General  Türr  und  zahlreiche  freimaure- 
rische Notabilitäten.  Der  zu  feiernde  Akademiker  Br. 


539 


LittrS,  durch  Erkrankung  verhindert,  hatte  sein  Fern- 
bleiben mit  folgendem  Schreiben  entschuldigt:  „Sie 
wissen,  liebe  Brüder,  wie  im  Jahre  1876,  bei  der 
Feier  meines  ersten  Jahrestages,  der  „Etemente  Anritte" 
ein  auf  die  Schaffung  eines  Kanals  durch  den  Pa- 
nama-Isthmus bezüglicher  Plan  unterbreitet  wurde. 
„Was  damals  erst  nur  ein  kühner  Gedanke  mit  einer 
rein  provisorischen  Skizzirung  des  Unternehmens  war ; 
was  später  zum  Gegenstande  positiver  Hoffnungen 
wurde,  als  .tüchtige  Forscher  mit  dem  Auftrage  hin- 
geschickt wurden,  die  Bedingungen  und  Verhältnisse 
des  denkwürdigen  projektirten  Werkes  zu  studieren, 
das  erscheint  nun  als  greifbare  Wirklichkeit.  Die 
Pläne  sind  gebilligt.  Die  finanziellen  Kombinationen 
sollen  demnächst  in  Angriff  genommen  werden.  Bald 
wird  der  erste  Spatenstich  des  Werkes,  welches  beide 
Okeane  vereinigen  soll,  geschehen.  Die  „Elemente 
Anritte",  liebe  Brüder,  darf  und  soll  die  Ehre  be- 
anspruchen, dass  sie  diesem  Unternehmen,  welches 
eines  der  ruhmvollsten  des  ausgehenden  Jahrhunderts 
bleiben  wird,  vom  Anfange  an  weder  fremd,  noch 
gleichgiltig  gegenübergestanden  ist,  und  es  gereicht 
mir  zur  besonderen  Freude,  dass  der  heutige  mir  ge- 
widmete Tag  im  Zeichen  eines  ideell  so  einfachen, 
in  seinen  Wirkungen  aber  so  segensreichen  Werkes 
gefeiert  wird." 

Nachdem  die  Versammlung  dieses  Schreiben 
Littr6's  zur  Kenntnis  genommen  hatte,  las  Br.  Cousin 
ein  im  Namen  der  „Elemente  Anritte"  an  alle  Logen 
Frankreichs  und  des  Auslandes  adressirtes  Girkular 
vor,  dessen  Wortlaut  folgender  war:  „Allen  Frei- 
maurern der  drei  Riten  dreimal  Heil ! ! !  Liebe  Brüder ! 
Zur  Durchbrechung  des  amerikanischen  Isthmus  hat 
unsere  Familie  nicht  nur  dadurch  beigetragen,  dass 
sie  einen  beträchtlichen  Theil  der  für  die  Studien- 
und  Forschungsreise  erforderlichen  Summe  vorge- 
schossen hat,  sondern  auch  dadurch,  dass  die  Brüder 
Wyse  und  Reclus  jene  Forscher  sind,  die  die  Trace 
vorgezeichnet  haben,  welche  von  dem  internationalen 
Kanalkongresse  gebilligt  wurde.  Sie  wurden  nun  auch 
mit  der  Leitung  der  Arbeiten  beauftragt,  sowie  mit 
der  Oberaufsicht  und  der  Anwerbung  des  Personales, 


540 


und  überdies  stehen  ihnen  die  Brüder  Verbrugghe 
and  Wiener  zur  Seite,  die  ebenfalls  Mitglieder  der 
Elemente  Amitte  sind.  Ihre  Brüder  Türr  und  Cousin, 
welche  der  „Grosse  Franzose",  der  Schöpfer  des 
Suezkanals,  als  Mitarbeiter  bei  der  Anlage  des  Suez- 
kanals erwählt  hat,  bleiben,  und  zwar  Letzterer  als 
Vicepräsident  der  Betriebsabtheilung,  bei  dem  Unter- 
nehmen thätig,  welches  sie  vorbereitet  hatten,  und 
welches  nun  Ferdinand  de  Lesseps  zu  einem  glück- 
lichen Ende  führen  wird.  Vorwärts  Brüder,  vorwärts! 
Im  Auftrage  der  Loge:  der  „V6n6rable",  erster  Vice- 
präsident des  Rathes  des  Ordens  des  Grand-Orient 
Frankreichs:  gez.  Cousin.  Darauf  ergriff  Bruder  de 
Saint-Jean,  Präsident  des  Rathes  des  Ordens,  das 
Wort.  Er  feierte  das  grosse  Werk  mit  Worten  der 
tiefen  Ueberzeugung  und  ertheilte  dem  Herrn  von 
Lesseps  die  brüderliche  Umarmung.  „Recht  habt  Ihr, 
Freimaurer",  erwiderte  Herr  von  Lesseps,  „indem 
Ihr  für  dieses  Werk  auftretet,  denn  dasselbe  ist  im 
höchsten  Grade  freimaurerisch."  Soweit  der  Bericht, 
dessen  französischer  Text  im  „XIX.  Sifecle"  des 
10.  Juli  1879  zu  lesen  war.  Gleich  darauf  begann  die 
riesige  Reklame.  Das  „ideell  einfache,  aber  in  seinen 
Wirkungen  segensreiche  Werk"  kostete  den  „Pro- 
fanen" vierzehnhundert  Millionen,  welche  unter  den 
Eingeweihten  „brüderlich"  getheilt  wurden.  Diese 
Sitzung  fällt  in  die  Vorbereitungsperiode,  die  ge- 
wissermassen  der  erste  Akt  der  grossartigen  Tra- 
gödie war  und  mehr  als  drei  Jahre  (1876  bis  1879) 
dauerte.  Der  zweite  Akt  „Schwindel  und  Plünderung" 
dauerte  beinahe  zehn  Jahre.  Das  Treiben  der  Loge, 
welches  während  der  zwei  ersten  Akte  vollständig 
unbemerkt  geblieben  war,  offenbarte  sich  wieder  im 
dritten  („Rettungsaktion"),  als  der  Präsident  der 
parlam  en  tarischen  Untersuchungskomm  ission  die 
Thätigkeit  derselben  plötzlich  und  mit  den  Worten 
unterbrach :  „Alles  in  Ordnung,  Schiuss !" 

Was  Lesseps  betrifft,  wird  es  bei  Manchen  Be- 
fremden erwecken,  dass  der  alte  Herr  mit  den  Brü- 
dern so  intim  befreundet  war.  Lesseps  war  nämlich 
so  alt,  dass  mir  die  wenigsten  sich  an  sein  Vor- 
leben erirr  ^it  der  römischen  Revolution 


541 


wurde  er  von  der  französischen  Regierung  nach  Rom 
geschickt,  wo  er  direkt  gegen  seine  Instruktionen 
und  im  Einverständnisse  mit  Mazzini  handelte,  ein 
Beweis,  dass  seine  Beziehungen  zu  der  internationalen 
Freimaurerei  schon  im  Jahre  1848  die  intimsten 
waren.  Sein  unkorrektes  und  vom  staatsrechtlichen 
Standpunkte  verbrecherisches  Benehmen  in  Rom 
hatte  zur  Folge,  dass  er  vor  dem  Staatsrathe  als  An- 
geklagter erscheinen  musste.  Geheime  Interventionen 
retteten  ihn  vor  der  Hochverrathsanklage.  Er  kam 
mit  einem  scharfen  Tadel  davon,  der  seiner  diplo- 
matischen Carriere  ein  rasches  und  ruhmloses  Ende 
machte.  Dass  seine  Beziehungen  zu  den  Logen  nicht 
aufhörten,  dass  er  auf  anderen  Gebieten  mit  den 
Brüdern  gemeinsam  fortarbeitete,  ist  nun  unwider- 
leglich nachgewiesen.  Er  selbst  hat  diesem  schreck- 
lichen Schwindel,  durch  den  dem  Volke  1400  Mill. 
entwendet  wurden,  die  Benennung  beigelegt:  „Une 
entreprise  6minemment  maQonniqueu,  das  heisst: 
„Ein  im  höchsten  Grade  freimaurerisches  Unter- 
nehmen": Laut  Bericht  der  Liquidatoren  vom  15, 
Jäner  1903  hat  die  Panamagesellschaft  174,600.000  Fr. 
Aktiva  und  1,077.847.000  Fr.  Passiva.  Also  wurde 
das  französische   Volk  um  903,247.000  Fr.  betrogen. 

Nach  Salefranque  beträgt  das  Vermögen  Frank- 
reichs 107.147  Millionen  Francs  unbewegliche  und 
127.606  Millionen  Francs  bewegliche  Werthe.  Ende 
1899  waren  an  der  Börse  in  Paris  1100  Arten  Werth- 
effekten  notirt,  die  einen  Kurs  wer  th  von  125.000  Mil- 
lionen Francs  hatten,  davon  waren  602/3  Milliards 
fremde  Werthe!  Wieder  ein  glänzender  Beleg  zur 
Internationalst  des  Kapitals.  Im  Jahre  1901  waren 
an  der  Börse  in  Paris  für  2692,  im  Jahre  1902  für 
1717  Millionen  Francs  neue  Effekten  emitirt.  Die 
jährlichen  Umsätze  der  Pariser  Börse  sind  uns  leider 
nicht  bekannt. 

Die  Börse  von  Paris  ist  wohl  die  älteste  der 
Welt. 

Die  Institution  der  Pariser  Agents  de  Ghange 
besteht  seit  über  600  Jahren.  Das  älteste  Dekret 
dieser  Korporation  zeigt  das  Datum  des  Februar  1304. 
Es  ist  vom  Könige  Philipp  dem  Schönen  unterzeichnet 


542 


und  besagt,  dass  die  Pariser  Wechselmakler  ihren 
Markt  ausschliesslich  auf  der  „Grossen  Brücke",  heute 
Pont  au  Change  genannt,  abzuhalten  haben.  Jeder 
anderweitige  Verkehr  ist  unter  Androhung  der  Kon- 
fiskation der  umgesetzten  Effekten  untersagt.  Eine 
Belohnung  in  der  Höhe  des  fünften  Theiles  der  kon- 
fiscirten  Beträge  ist  denjenigen  » Mitgliedern  der  Kor- 
poration" zugesagt,  die  durch  Anzeige  an  die  Behörde 
zur  Konfiscirung  beitrugen.  Aus  dem  letzten  Passus 
geht  hervor,  dass  eine  Maklerkorporation  zu  dieser 
Zeit  schon  bestand,  und  es  werden  in  späteren  Dek- 
reten deren  Mitglieder  mit  dem  Worte  „Courratiers" 
oder  „Courretiers"  (wohl  von  Courir)  bezeichnet.  Die 
Entlohnung  für  die  mit  dem  Geschäfte  verbundenen 
„Laufereien"  erhielt  die  Bezeichnung  „Courretage". 
Ein  anderes  Dekret  vom  Januar  1312  verbietet 
den  Maklern  alle  Geschäfte  für  eigene  Rechnung 
und  legt  ihnen  Eidespflicht  auf.  Später,  das  ist  auf 
Beschluss  vom  Dezember  1628  unter  Ludwig  XIII. 
wurden  zehn  neue  erbliche  Changen  gegründet,  wo- 
durch die  damals  bestehenden  zwanzig  auf  dreissig 
Changen  erhöht  wurden.  Gleichzig  wurden  ein  Syn- 
dikat und  eine  Börse  geschaffen.  Aber  schon  einige 
Monate  später,  das  ist  am  2.  April  1629,  wurde  diese 
Börse  auf  Verlangen  der  Makler  selbst  wieder  aufge- 
hoben. Dagegen  erhielten  Letztere  den  Titel  „Agents 
de  Banque  et  de  Change  *  und  es  wurden  Strafen 
für  diejenigen  Personen  festgesetzt,  welche*  die  Funk- 
tionen der  dreissig  autorisirten  Agenten  unbefugt 
auszuüben  sich  erlaubten.  Das  Monopol  war  somit 
begründet  Im  Februar  1645  wurden  neuerdings 
sechs  Agenten  ernannt,  womit  ihre  Anzahl  auf  36 
erhöht  wurde.  Von  da  ab  finden  wir  unaufhörliche 
Abänderungen  in  der  Organisation  dieser  Korpora- 
tion, So  oft  der  Staat  Geld  brauchte,  gründete  man 
neue  Changen  und  liess  sich  von  deren  Inhabern 
mehr  oder  minder  bedeutende  Summen  auszahlen, 
indem  ihnen  die  Zinsen  als  eine  angebliche  fixe 
Besoldung  vergütet  wurden. 

Mittels  Dekrets  vom  Dezember  1705,  welches  die 
Unterschrift  d*«  tttnigs  Ludwigs  des  XIV.  trägt, 
wurden    s*  ^    Changen    aufgehoben    und 


543 


durch  116  neue  ersetzt,  von  denen  20  in  Paris,  20 
in  Lyon  und  der  Rest  in  La  Rochette,  Montpellier, 
Aix,  Strassburg,  Metz,  Rouen,  Nantes,  Tours,  Saint- 
Malo,  Dijon,  Bayonne,  Toulouse,  Dieppe,  Havre, 
Calais,  Dünkirchen,  Rochefort,  Rennes,  Brest  und 
Port  Louis.  Die  Agenten  erhielten  den  Titel  könig- 
liche Räthe  und  eine  thatsächliche  fixe  Besoldung. 
Aber  unter  dem  Vorwande,  dass  es  in  der  Provinz 
nur  wenig  Elemente  für  den  Effekten-  und  Wechsel- 
verkehr gäbe,  wurden  bereits  V/2  Jahre  später,  das 
ist  im  Mai  1707,  alle  Changen  mit  Ausnahme  der 
20  Pariser  aufgehoben. 

Auch  diese  Letzteren  wurden  im  August  1708 
aufgelöst  und  durch  vierzig  neue  ersetzt,  welche  erb- 
lich wurden  und  zusammen  eine  jährliche  Besoldung 
von  40.000  Livres,  das  ist  1000  Pfund  pro  Change, 
erhielten.  Die  ersten  Statuten  der  Korporationen 
datiren  vom  Juli  1684.  Es  heisst  im  Artikel  1  der- 
selben, dass  alle  Mitglieder  bei  einer  Geldstrafe  von 
3  Pfund  verpflichtet  sind,  alljährlich  bei  Jahresbeginn 
der  Messe  des  heiligen  Geistes  beizuwohnen.  Der 
Art.  2  enthält  dieselbe  Bestimmung  für  die  Messen, 
welche  gelegentlich  des  Ablebens  der  Mitglieder  ab- 
gehalten wurden.  Dann  folgen  Bestimmungen  über 
die  Wahl  des  Obmannes  (Syndic),  der  Adjunkten  und 
über  die  regelmässigen  Sitzungen  des  Syndikates.  Im 
Art.  7  heisst  es,  dass  nur  Anhänger  der  katholisch- 
apostolisch-römischen Kirche  befugt  sind,  in  die  Ge- 
sellschaft Zutritt  zu  erlangen.  Die  Maklergebühren 
werden  auf  ein  Maximum  von  Vs  pCt.,  welche  von 
beiden  Kontrahenten  zu  begeben  sind,  festgesetzt. 
Für  Darlehen  hatten  der  Nehmer  sowohl  als  auch 
der  Verleiher  25  Sols  für  je  1000  Pfund  und  bei 
Waarenverkehr  l/2  pCt.  Käufer  sowie  Verkäufer  an 
den  Makler  zu  vergüten.  Mittels  Dekrets  vom  No- 
vember 1714  wurden  abermals  zwanzig  neue  Changen 
kreirt,  womit  deren  Zahl  auf  sechzig  stieg. 

Die  ersten  Aktien  datiren  vom  Jahre  1720,  welche 
von  der  berüchtigsten  Bank  Law  für  die  Compagnie 
des  Indes  herausgegeben  wurden.  Damals  wurde 
die  Börse  in  dem  Parterre  des  Hotels  Soisson  errichtet, 
nachdem    dieselbe   vorerst   auf   der  Grossen   Brücke 


544 


(Pont  au  Change),  nachher  im  Hofe  des  Justiz- 
palastes in  der  Rue  Quincampois  und  endlich  auf 
dem  Platz  Ludwig  des  Grossen,  heute  Place  Ven- 
dorne,  abgehalten  worden  war. 

Infolge  des  Unfugs,  der  unter  dem  Handel  in 
den  Aktien  der  Gompagnie  des  Indes  betrieben 
worden  war,  wurde  auch  diese  Börse  am  25.  Oktober 
1720  in  der  Rue  Vivienne  auf  dem  heute  von  der 
Nationalbibliothek  eingenommenen  Platze  eröffnet.  Am 
17.  Juni  1793  wurde  auch  diese  Börse  geschlossen, 
vom  20.  Mai  bis  14.  Dez.  1794  wurde  sie  im  Erdgeschoss 
des  Louvre  in  den  ehemaligen  Gemächern  Annas  von 
Oesterreich  abgehalten.  Nach  vielen  neuerlichen  Wande- 
rungen wurde  endlich  das  gegenwärtige  Börsengebäude 
mittels  Polizeibeschlusses  vom  2.  November  1826 
eröffnet.  Unter  Ludwig  dem  XVI.  wurde  am  17.  März 
1791  ein  Gesetz  veröffentlicht,  durch  das  alle  Ghangen 
vom  1.  April  ab  abgeschafft  wurden.  Die  Agenten 
vereinigten  sich  dann  in  einer  freien  Gesellschaft 
von  80  Mitgliedern.  Erst  mit  dem  Finanzgesetz  vom 
28.  April  1816  wurde  das  Monopol  der  Agents  de 
change  wieder  eingeführt,  die  zu  stellende  Kaution 
wurde  auf  125.000  Frcs.  kreirt,  mittels  Dekrets  vom 
9.  Oktober  1862  auf  250.000  Frcs.  erhöht  Noch 
heute  besteht  die  Vereinigung  unter  den  allgemeinen 
Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  Jahre  1816;  die 
Zahl  der  befugten  Agenten  ist  im  Jahre  1898  um  10 
Mitglieder,  das  ist  auf  70  erhöht  worden.  Ihr  Mo- 
nopol ist  durch  verschärfte  Bestimmungen  des  Ge- 
setzes noch  mächtiger  geworden. 

Dem  Beispiele  Deutschlands  folgend  hat  der 
französische  Minister  des  Aeusseren  von  seinen  kon- 
sularischen und  diplomatischen  Vertretern  Ermitte- 
lungen über  die  in  den  einzelnen  Ländern  angelegten 
französischen  Kapitalien  anstellen  lassen.  Es  wurde 
hierbei  festgestellt,  wie  viele  französische  Händels- 
häuser und  industrielle  Betriebe  in  den  verschiedenen 
Ländern  bestehen,  wie  viel  Grundbesitz  die  Fran- 
zosen in  ihnen  aufzuweisen  und  welchen  Antheil  sie 
an  den  finanziellen  Unternehmungen,  den  Bergwerken, 
Hafenanlagen,  Eisenbahnen  u.  s.  w.  haben,  und  —  last 
not  least  —  wie  viele  französische  Kapitalien  in  Staats-, 


1 


545 


Provinz-  und  Gemeindeanleihen  angelegt  sind.  Die 
betreffenden  Ziffern  sind  im  „Journal  officiel"  ver- 
öffentlicht worden  und  bieten,  obgleich  sie  auf  abso- 
lute Genauigkeit  keinen  Anspruch  erheben  können, 
ein  grosses  Interesse  dar.  Nachstehend  die  Tabelle 
des  gesammten  im  Auslande  festgestellten  franzö- 
sischen Vermögens: 

I.    E  U  r  O  p  a.  (in  Millionen  Frca.) 

Spanien     2.974 

Portugal 900 

England 1.000 

Belgien      600 

Luxemburg 62 

Holland .    .    . 200 

Dänemark 131 

Norwegen      290 

Schweden 123 

Deutschland 85 

Russland 6.966 

Schweiz 455 

Monaco      158 

Italien 1.430 

Oesterreich-Ungarn 2.850 

Rumänien 438 

Bulgarien 48 

Serbien 201 

Griechenland 283 

Europäische  Türkei 1.818 

Zusammen  für  Europa  21.012 
II.  Asien. 

Asiatische  Türkei        354 

Asiatisches  Russland      60 

Persien  . 2 

Englische  Besitzungen  in  Asien      .    .  22 

Siam 10 

China 651 

Japan     .    .  ' . 22 

Zusammen  für  Asien  1.121 
III.  Afrika. 

Abessinien ....  32 

Egypten 1.436 

35 


646 

(In  Millionen  Frc9.) 

Tripolis 1 

Tunesien 512 

Marokko 6 

Kanarische  Inseln 2 

Kongostaat 72 

Englisch-Afrika 1.592 

Portugiesisch-Afrika 40 

Zusammen  für  Afrika  3.693 
IV.  Amerika. 

Vereinigte  Staaten 600 

Kanada 138 

New-Fundland 20 

Mexiko 300 

Centralamerika 42 

Kuba      126 

Haiti 78 

Puerto  Rico      34 

Antillen 10 

Englisch-Guyana      1 

Venezuela 130 

Kolumbia 246 

Ecuador    5 

Peru 107 

Bolivia 70 

Chile 226 

Argentinien 923 

Uruguay 219 

Paraguay 1 

Brasilien 696 

Zusammen  für  Amerika  3.972 

In  Polynesien,  Philippinen  u.  s.  w.  51 

Insgesammt  •  .    .  29.855 

Nahezu  also  30  Milliarden !  Das  macht  auf  den 
Kopf  der  französischen  Bevölkerung  beinahe  800  Francs. 
Wie  sich  aus  der  Tabelle  ergibt,  ist  Deutschland  das 
relativ  am  allerwenigsten  mit  französischen  Kapitalien 
bedachte  Land  der  ganzen  Welt!  Nur  85  Millionen 
gegen  6966  für  Russland,  das  allerdings  in  dieser 
Hinsicht  die  erste  Stelle  einnimmt.  Und  dabei  sind 
in  die  85  Millionen  für  Deutschland  die  französischen 


547 


Kapitalanlagen  in  Elsass-Lothringen  nicht  einbegriffen . 
Deutschlands  Kapitalien  sind  folgendermassen  ver- 
theilt.  Der  französische  Konsul  in  Stuttgart,  Herr 
Jules  Lefaivre,  veröffentlicht  eine  interessante  Studie 
über  das  in  verschiedenen  überseeischen  Ländern  in 
Handel  und  Industrie  verwendete  deutsche  Kapital. 
Er  schätzt  dasselbe  auf  insgesammt  7 — 7'/2  Milliarden 
Mark,  also  ca.  5000  Millionen  Gulden,  von  denen 
etwa  400  Millionen  in  der  Türkei,  10  bis  12  Mill.  in 
Tunis  und  Marokko,  5  Mill.  in  Westafrika,  30  bis 
40  Mill.  im  Kapland,  900  Mill.  in  Transvaal,  20  Mill. 
in  Portug.-Afrika,  5  Mill.  in  Zanzibar,  1000  Mill.  in 
Deutsch-Ostafrika,  1  bis  2  Mill.  in  Vorder-Indien, 
250  Mill  in  Indo-China,  in  Niederländisch -Indien  und 
auf  den  Philippinen,  300  Mill.  in  China,  70  Mill.  in 
Japan,  550  bis  600  Mill.  in  Australien,  60  bis  70  Mill. 
auf  den  Inseln  im  Gross.  Ocean,  200  Mill.  in  Mexiko, 
240  Mill.  in  Central-Amerika,  300  Mill.  in  Kolumbien 
und  Venezuela,  100  bis  120  Mill.  in  Peru  und  der 
Aequatorialprovinz,  270  bis  300  Mill.  in  Chili,  600 
Millionen  in  Argentinien,  10  Mill.  in  Paraquay  und 
Uruguay,  330  Mill.  in  Brasilien,  25  Mill.  in  Kanada 
und  über  2000  Mill.  in  den  Vereinigten  Staaten  in- 
vestirt  sind.  Herr  Lefaivre  bewerthet  den  Ertrag  mit 
6  bis  10  Percent,  wovon  allerdings  nur  ein  Theil 
nach  Deutschland  gelangt. 

Bei  dieser  Gelegenheit  können  wir  die  Thätig- 
keit  der  Börsen  überhaupt  in  Augenschein  nehmen. 
Der  bekannte  belgische  Volkswirth  De  Laveley  ver- 
öffentlicht soeben,  wie  schon  seit  einer  Reihe  von 
Jahren,  eine  Uebersicht  der  im  Jahre  1901  in  den 
wichtigsten  Ländern  erfolgten  Emissionen  von 
Staatswerthen,  Actien  und  Obligationen.  Diese  all- 
jährlichen Aufstellungen  geben  nicht  das  Land,  wo 
die  betreffenden  Beträge  aufgelegt  worden  waren, 
sondern  den  emittirenden  Staat  als  Ursprungsland 
an.  In  dieser  Fassung  gestalteten  sich  im  Berichts- 
jahre die  Emissionen  der  Hauptländer  in  Franks 
wie  folgt  rund  in  Millionen: 

1901      1900 

Belgien 650  303 

Kongo 53  2 

35* 


548 


19dl       1900 

Dänemark 55  707 

Deutschland 2278         1980 

Frankreich 1800         1521 

Grossbriiannieu 3732         3934 

Italien 64  84 

Oesterreich-Ungarn 251  305 

Schweiz 46  138 

Spanien 53         1041 

Transvaal 24  11 

Türkei 31  47 

Vereinigte  Staaten  von  Amerika    .    .    .    148  44 

Südamerika 70  344 

Das  Jahr  1901  zeichnete  sich  besonders  durch 
die  Höhe  der  von  Staaten,  Provinzen  und  Städten 
vorgenommenenen  Emissionen  aus.  Diese  Anleihen 
erreichten  über  5  Milliarden  oder  50  Percent  der 
Gesammtemissionen.  Wir  verzeichnen  da  zunächst 
England  mit  2*5  Milliarden,  Deutschland  mit  1  Mil- 
liarde, Belgien  mit  einer  halben  Milliarde,  Russland 
mit  seiner  Anleihe  von  425  Millionen,  Frank- 
reich mit  seiner  Chinesen-Anleihe  von  265  Millionen. 
Seit  zehn  Jahren  erreichten  die  Staatsanleihen  nicht 
mehr  so  bedeutende  Summen.  Konversionen  ver- 
zeichnen wir  zwar  noch  keine,  sie  sind  eben  das 
Monopol  der  Perioden  wirklichen  Geldüberflusses, 
aber  trotzdem  gewahren  wir,  dass  die  Industrie  nur 
sehr  wenig  Anforderungen  an  das  Kapital  stellt,  was 
als  Rückschlag  der  Sturmperiode  1897  •  bis  1900 
übrigens  auch  nicht  zu  verwundern  ist. 

Der  Jahresbericht  der  „Banque  de  France"  für 
1900  sagt:  Die  gesammten  produktiven  Operationen 
der  Bank  beliefen  sich  im  Jahre  1900  auf  18.663,048.500 
Franks  und  haben  gegen  das  Vorjahr  um  830,017.100 
Franks  zugenommen.  Aus  dem  Nachweis  über  die 
Zusammensetzung  des  Metallschatzes  heben  wir  her- 
vor, dass  derselbe  mit  Jahresschluss  3.433,800.000 
Franks  betragen  hat,  wovon  2.334,300.000  Franks  auf 
das  Gold  und  1.099,500,000  Franks  auf  das  Silber 
entfielen.  An  Handelseffekten  (inklusive  Warrants) 
wurden  in  Paris  und  in  den  Filialen  zusammen 
16,784.993   Stück  per  12.247,555.500  Franks,   das  ist 


549 


um  501,671.400  Franks  mehr  diskontirt,  als  im  Jahre 
1899.  Der  Durchschnittsbetrag  der  eskomptirten  Pa- 
piere ist  mit  729  Franks  (gegen  726  im  Vorjahre) 
und  ihre  durchschnittliche  Laufzeit  mit  26  Tagen  aus- 
gewiesen. Von  den  zum  Eskompte  angebotenen  Pa- 
pieren wurden  62.432  Stück  im  Betrage  von  47,180.900 
Franks  zurückgewiesen,  zum  grössten  Theile  wegen 
Formfehler,  da,  wie  der  Bericht  ausdrücklich  hervor- 
hebt, die  französische  Kaufmannschaft  es  für  eine 
Ehrensache  hält,  an  den  Schaltern  der  Bank  nur  solche 
Papiere  einzureichen,  die  volle  statutenmässige  Sicher- 
heit bieten.  —  Unter  den  in  Paris  eskomptirten  Handels- 
effekten befanden  sich  69.400  Stück  von  5  bis  10  Franks, 
1,153.500  Stück  von  11  bis  50  Franks,  1,105.400  Stück 
von  51  bis  100  Franks  und  3,701.200  Stück  über  100 
Franks.  Auf  diesen  angeblich  coulanteren  Vorgang 
bei  der  Eskomptirung  kleinerer  Appoints  durch  die 
Banque  de  France  wird  oft  genug  auch  bei  uns  hin- 
gewiesen, dabei  aber  vergessen,  dass  sie  Eskompte- 
öinreichungen  ausschliesslich  nur  von  jenen  Personen 
und  Firmen  annimmt,  denen  ein  besonderes  „compte 
courant  avec  faculte  d'escompte"  eröffnet  wurde.  Um 
aber  in  die  Liste  dieser  Kontoinhaber  eingereiht  zu 
werden,  ist  ein  an  den  Gouverneur  zu  richtendes 
schriftliches  Ansuchen  erforderlich,  das  zwei  der  Bank 
bekannte  Persönlichkeiten  empfehlen.  Ueber  alle  der- 
artigen Ansuchen  entscheidet  das  betreffende  „Comite 
desescomptes"  vorbehaltlich  der  vom  „Conseil  ^Admi- 
nistration" in  seiner  nächsten  Sitzung  zu  ertheilenden 
Genehmigung.  Da  es  solche  Bankkontoinhaber  mit 
Eskomptbefugniss  in  ganz  Frankreich  nur  7746  gab,  ist 
es  klar,  dass  diese  oberwähnten  „kleinen  Wechsel"  nur 
diese  beati  possidentes  (in  Paris  waren  es  etwa  800)  in 
das  Bankportefeuille  bringen  konnten.  Ausserdem  müs- 
sen die  bei  der  Banque  de  France  eingereichten  Wechsel 
in  der  Regel  die  Unterschrift  von  drei  als  zahlungsfähig 
bekannten  Verpflichteten  tragen,  und  zweifirmige  Pa- 
piere können  nur  dann  genommen  werden,  wenn  die 
dritte  Unterschrift  durch  eine  Effektenkaution  ersetzt 
wird.  Die  Umsätze  im  Giroverkerhr  bezifferten  sich 
auf  149.247,102.800  Franks  und  sind  um  2.316,365.400 
gestiegen.     Für  Rechnung  des  Staatsschatzes  hat  die 


550 


Bank  im  vergangenen  Jahre  insgesammt  3.300,181.700 
Franks  vereinnahmt  und  3.390,205.900  Franks  veraus- 
gabt und  überdies  Effekten  für  22,672.800  Franks 
unentgeltlich  einkassiert.  Die  aus  den  produktiven 
Geschäften  der  Bank  dem  Staatsärar  zu  entrichtende 
Quote  hat  im  Vorjahre  5,655.334  Franks,  mehr  als 
das  Doppelte  der  Leistung  vom  Jahre  1897,  betragen. 
An  Wertpapieren  verwahrte  die  Bank  548.551  De- 
pots (gegen  510.608  im  Jahre  1899)  im  Kurswerthe 
von  6.566,570.000  Frks.  Der  Banknotenumlauf,  der  am 
2.  Jänner  1900  sein  Jahresmaximum  mit  4.210,102.600 
Fr.  erreichte,  umfasste  durchschnittlich  4.034,145.100 
Franks,  wovon  3.237,300.000  Franks,  also  mehr  als 
Vsi  durch  den  Metallschatz  bedeckt  waren.  Von  den 
Filialen  der  Bank  nehmen  Lyon,  Marseille,  Bordeaux, 
Lille,  Le  Havre  und  Roubaix  die  obersten  Plätze  ein. 
Die  ansehnliche  Geschäftssteigerung  auf  dem  letztge- 
nannten Orte  (um  25,554.420  Franks)  ist  zumeist  der 
ausgiebigen  Hilfeleistung  der  Bank  anlässlich  der  dor- 
tigen Wollkrise  zuzuschreiben.  Zwölf  Filialen,  die,  eine 
einzige  ausgenommen,  durchwegs  neue  Bankanstalten 
sind,  weisen  einen  Verlust  von  zusammen  156.638 
Franks  aus.  Ende  1900  erstreckte  sich  die  Geschäfts- 
thätigkeit  der  Bank  auf  392  Plätze.  Auf  170  derselben 
sind  von  Bankbeamten  verwaltete  Anstalten  e+ablirt, 
während  217  Plätze  als  sogenannte  „Villes  rattachees", 
wo  sich  kein  eigenes  Bankbureau  befindet,  von  den 
Bezirks-Bankanstalten  ressortiren,  deren  Delegirte  täg- 
lich in  diesen  „angeschlossenen  Städten"  den  Inkasso- 
und Zahlungsdienst  besorgen..Der  Reinertrag  bezifferte 
sich  auf  37,433.058  Franks,  woraus  als  Jahresdividende 
145  Franks  per  Aktie  =  14y2  Percent  des  Aktien- 
kapitals, gegen  130  Franks  pro  1899  bezahlt  wurden." 
Die  Metallvorräthe  der  Banque  de  France  waren 
folgende : 

Goldbestand  ^Überbestand 


Jahr 

Maximum 

Minimum 

in  Millionen 

Maximum 
Franks 

Minimum 

1811 

21-, 

18.3 

105.2 

91., 

1815 

5.4 

o., 

87.9 

i9.; 

1820 

Ö1.8 

22.5 

167.4 

136.0 

1830 

1-, 



171.8 

102.8 

1840 

267.0 

10.0 

235.0 

185., 

1848 

9., 

1852 

86.8 

1857 

95.9 

1864 

273.3 

1869 

780.r 

1872 

657.9 

1879 

1087.8 

1885 

1175.8 

1890 

1320.B 

1895 

2152., 

1896 

2072.e 

1897 

2037., 

1898 

1959.8 

1899 

1931.6 

551 


0.4      140.2      46.9 

63.9      447.0     349.  f 

36.8       35-4      25.3 

89.6       94.2      60.2 

588M      593.3      473.0 

551.6      145.4      78.8 

752.2  1224.6  1055.9 

995.3  H06.,  1024., 
1114.2  1276.9  1239., 
1946.2  1262.0  1230.0 
1926.8  1259.8  1228.2 
1905.0            1232.9           1205.a 

1819.5  1247.0  1205.4 

1809.6  1222.3  1157.0 
Das   Geldbedürfniss   des   französischen   Handels 

und  der  Industrie  war  im  Jahre  1900  bei  der  ßanque 
de  France  1,119.247  Millionen  Franks,  eine  bedeutend 
geringere  Summe,  als  das  Geldbedürfniss  der  Industrie 
und  des  Handels  Deutschlands  bei  der  Reichsbank. 
Der  Gewinnantheil  Rothschilds  bei  der  Banque  de 
France  betrug  2,990.000  Franks. 

Von  den  französischen  Bahnen  gehört  die  Nord- 
bahn dem  Pariser  Rothschild.  SFe  trug  ihm  einen  Rein- 
gewinn für  das  Jahr  1900  im  Ganzen  100,400.000 
Franks.  Ueber  die  Staatsfinanzen  Frankreichs  schrie- 
ben Pariser  Blätter  Ende  1901  folgendes.  Der  Staats- 
haushalt beziffert  sich  auf  mehr  als  drei  Milliarden 
für  die  Einnahmen  und  für  die  Ausgaben.  Gegen- 
wärtig sind  die  Einnahmen  in  grösserer  Abnahme. 
Letztere  dürfte  mit  Ende  des  Jahres  leicht  200  Mil- 
lionen Franks  erreichen.  Besonders  bedauerlich  ist  es 
aber,  dass  in  einem  Augenblicke,  wo  eine  Handels-, 
Industrie-  und  landwirtschaftliche  Krise  den  Welt- 
markt ungünstig  beeinflusst,  die  Regierung  die  Idee 
hatte,  fiskalische  Neuerungen  vorzunehmen,  die  mit 
einem  Verluste  mit  100  Millionen  Fr.  abschliessen. 
Es  ist  noch  mehr  zu  beklagen,  dass  die  socialistische 
Partei  die  Regierung  in  eine  Politik  stürzt,  welche 
das  Kapital  und  die  grosse  Industrien  beunruhigt 
und  so  die  Entwicklung  unserer  Produktion  hemmt. 
Solche  Fehler  berühren  zwar  die  Grundlagen  der 
financiellen  Prosperität  Frankreichs  nicht,  der  Kredit 


552 


des  Landes  und  seine  Staatswerthe  bleiben  intakt. 
Gleichwohl  muss  man  eingestehen,  dass  die  gegen- 
wärtige Situation  ungunstig  ist  und  sich  voraussichtlich 
bis  zu  Schluss  des  Jahres  noch  ungünstiger  gestalten 
dürfte.  Die  seitens  der  Kammer  bewilligten  Kredite 
für  das  Jahr  1901  betrugen  3.554,354.212  Fr.  Dieser 
Voranschlag  war  in  vielen  Punkten  niedriger  als  die 
wirklichen  Ausgaben.  Man  war  daher  gezwungen,  die- 
selben auf  Grund  von  Zusatzkrediten  zu  decken,  welche 
115,394.914  Fr.  ausmachten  und  aus  der  schwebenden 
Schuld  bezahlt  wurden.  Diese  Summe  bildet  den  ersten 
Theil  des  Fehlbetrags.  Der  zweite  Theil  des  Fehl- 
betrags ist  auf  die  Mindererträgnisse  der  Abgaben 
zurückzuführen;  sie  wurden  in  den  Staatshaushalt 
mit  einem  Gesammtbetrag  von  3.554,002.862  Fr.  ein- 
gestellt, also  einige  hunderttausend  Franks  mehr  als 
die  vorgesehenen  Ausgaben.  Aber  dieses  fiktive  Gleich- 
gewicht war  nur  von  kurzer  Dauer.  Aus  verschie- 
denen Gründen  und  infolge  der  ungünstigen  Resul- 
tate der  fiskalischen  Neuerungen  waren  die  Steuer- 
ergebnisse in  fortgesetzer.  Abnahme  Für  die  neun 
ersten  Monate  des  Haij*hkltjahres  betrugen  die  Ver- 
luste 91,344.000  JPrancs.  Dies  ist  die  zweite  Ursache 
des  Deficits.  Wenn  man  die  115  Millionen  Fr.  Zusatz- 
kredite, welche  ohne  einekorrespondirende  Einnahme 
genehmigt  wurden,  hinzufügt,  so  ergibt  sich  ein  Fehl- 
betrag von  206  Millionen  Fr.  Diese  206  Millionen  Fr. 
repräsentiren  indess  nur  einen  Theil  des  Deficits. 
Zwei  weitere  Momente  kommen  noch  in  Betracht. 
Das  erste  besteht  in  einer  Reihe  von  Ausgaben, 
welche  nicht  in  das  gewöhnliche  Budget  eingestellt 
sind,  nämlich  der  Saldo  der  früheren  ausserorden- 
tlichen Budgets.  Diese  Ausgaben  erreichen  für  das 
Jahr  1901  90  Millionen  Fr.  Sie  setzen  sich  haupt- 
sächlich aus  69  Millionen  Fr.  Vorschüssen  an  die 
Eisenbahn-Gessellschaften  für  Neuanlagen  zu  Lasten 
des  Staates  und  14  Millionen  Fr.  für  Armeezwecke 
zusammen.  Das  zweite  Moment  betrifft  die  Zinsen- 
garantie der  Eisenbahn-Gesellschaften.  Wenn  man 
alle  diese  Ausgaben   zusammen  addirt,   so  berechnet 

sich    das    n Meficit   für    1901   auf  die  Summe 

von  run  n  Fr.  Zu  berücksichtigen  bleibt, 


553 


dass  für  das  letzte  Vierteljahr  weitere  Mindererträgnisse 
wahrscheinlich  sind.  Man  darf  daher  das  Deficit  für 
da!s  Haushaltjahr  1901  sicher  mit  369  Millionen  an- 
geben. 

Bei  der  Berathung  des  Staatsvoranschlages  für 
das  Jahr  1902  in  der  Sitzung  vom  2.  Dezember  1901 
ging  der  konservative  Abgeordnete  Legrand  mit  der 
Regierung,  die  keine  Sparsamkeit  zu  üben  verstehe, 
und  dem  Budgetausschuss,  der  zur  Besserung  der 
unguten  Finanzlage  nur  einen  Gewaltstreich,  die  Ab- 
schaffung des  Kultusbudgets,  in  Vorschlag  zu  bringen 
wisse,  scharf  ins  Gericht.  Legrand  musste  allerdings 
auch'  seinerseits  keine  positiven  Vorschläge  zu  mächen* 
die  auf  allgemeine  Zustimmung  rechnen  können.  Er 
tadelte  mit  Recht  das  kolossale  Anwachsen  des  kost- 
spieligen Beamtenapparats,  aber  in  dieser  Hinsicht 
würde  sich  doch  nur  allgemach  durch  eine  funda- 
mentale Umgestaltung  des  Verwaltungssystems  Abhilfe 
schaffen  lassen.  Der  Redner  führte  aus,  dass  vor  50 
Jahren  die  Zahl  der  Staatsbeamten  rund  188.000 
betrug  und  seitdem  auf  416.000  angewachsen  ist. 
Rechne  man  noch  die  Beamten  der  Departements 
und  Gemeinden  hinzu,  so  habe  man  einen  Beamten 
auf  20  Wähler.  Vor  50  Jahren  kosteten  die  Beamten 
255  Millionen  jährlich,  jetzt  kosten  sie  620  Millionen. 
Da  wundere  man  sich  noch,  wenn  der  französische 
Steuerpflichtige  95*95  Fr.  per  Kopf  bezahlt,  der  Eng- 
länder 88#75  Fr.  und  der  Deutsche  gar  nur  5982 Fr. 
Mit  den  Ausgaben  des  Staates  halten  die  der  Depar- 
tements und  der  Gemeinden  leider  Schritt.  Die  Ge- 
meindeschuld hat  schon  vier  Milliarden  erreicht,  die 
des  Staates  33  Milliarden,  woraus  sich  ergibt,  dass 
auf  jeden  Franzosen  seit  seiner  Geburt  eine  Schuld 
von  etwa  tausend  Francs  lastet. 

Im  Jahre  1862  hatte  Frankreich  1.723,247.336 
Francs  Einnahmen.  Ausgegeben  wurde:  578,865.462 
Francs.  Zinsen  für  die  Staatsschuld,  372,972.421  für 
das  Heer,  gesammte  Ausgaben  waren  1.929,579.324 
Francs. 

Für  das  Jahr  1902  war  für  die 
gesammten  Staatsausgaben  be- 
willigt       3.602,333.244  Francs 


554 


davon  das  Heer 705,492.368  Francs 

Marine 306,788.738        „ 

Zinsen  der  Staatsschuld  ....  1.245,251.202        „ 
Ende   1902   hatte  Frankreich   eine   Staatsschuld   von 
30.096,632.622  Francs. 

Die  dritte  Republik  ist,  seitdem  ein  abgefallener 
Priester  Combes  an  der  Spitze  der  Regierung  steht, 
vollends  Beute  der  Börsenjuden  geworden.  Von  den 
Macht  habern  der  Republik  wird  die  schamloseste 
Corruption  ausgeübt,  welcher  vor  allem  die  katho- 
lische Kirche  zum  Opfer  gefallen  ist  Während  die 
öffentlichen  Staatsdiebe  ihre  Gehälter  beziehen  und 
die  Börsenjuden  ihre  Milliarden  nicht  anzutasten 
wagen,  greifen  sie  frech  die  Güter  der  Kirche  an.  Die 
grosse  Revolution  vor  100  Jahren  wird  fortgesetzt. 
Beim  Tode  des  Pariser  Rothschild  brachten  Pariser 
Blätter  Ende  August  1901  folgende  Notiz.  Adolph 
Frh.  V.Rothschild  hat  seine  über  2000  Nummern  um- 
fassende Sammlung  meist  kirchlicher  Kunstwerke  und 
Edelschmiede- Arbeiten  dem  Louvre  überwiesen,  nebst 
250.000  Francs,  um  den  Saal  zu  derer  Aufstellung 
herzurichten.  Die  Kunstwerke  stammen  aus  d.  zwölften 
bis  sechzehnten  Jahrhundert  und  wurden  meistens  von 
dem  in  Frankreich  verstorbenen  William  Freiherrn  von 
Rothschild  gesammelt  Deutschland  ist  durch  mehrere 
gute  Stücke  vertreten.  Reliquienscheine,  Kelche  und 
andere  kirchliche  Gefässe  sind  besonders  zahlreich. 
Das  Musee  Cluny  erhält  14  Stücke,  meist  aus  Elfen- 
bein. Wie  der  Adel  Frankreichs  aussieht  davon 
brachten  deutsche  Blätter  Ende  August  1901  folgende 
bissige  Bemerkungen:  Anlässlich  der  Heirath  des 
Grafen  Stanislav  de  Gastellane  mit  Miss  Ferry  gibt 
der  „Gaulois"  eine  vorläufige  Liste  der  durch  Heirath 
naturalisirten  „Französinen".  Wir  finden  da  8  Eng- 
länderinnen, Wikorntesse  Aguado  geb.  Mac  Donel), 
Gräfin  d'Aramon  geb.  Fischer,  Marquise  d'Aulan  geb. 
Christmas,  Baronin  Bastard  geb.  Greenough,  Baronin 
de  Baye  geb.  Wilkinson  etc.  Sämmtliche  sind  bürger- 
lichen Ursprungs  und  dürften  ihre  Standeserhöhung 
ihrem  Gnl<*~  -—' '«nken.  Die  Amerikanerinnen  treten 
in  der  Tahl    von  20  auf  und  haben    sich 

die  all  beutet :  Herzogin  von  La-Roche- 


555 


faucauld,  Herzogin  von  Choiseul-Praslin,  Princessin 
von  Polignac,  Marquise  de  Breteuil,  Gräfin  Galiffet 
etc.  Die  neu  Geadelten  sind  sämmtlich  geborene 
Singer,  Forbes,  Mitchell,  Gould,  Stevens,  Ritter,  etc. 
Die  Deutschen  sind  weniger  zahlreich  vertreten,  von 
den  4  im  „Gaulois"  erwähnten  sind  3  mit  Sicherheit 
israelitischer  Abkunft.  Baronin  Plancy  geb.  Oppen- 
heim, Gräfin  Gramont,  Princessin  Wagram  geb.  Roth- 
schild. Unter  den  6  Italienerinnen  finden  sich  drei 
von  hohem  Adel,  eine  geb.  Princessin  Bonaparte,  eine 
geb.  Princessin  Ruspoli,  eine  geb.  Princessin  Manga- 
nelli.  Die  Oesterreicherinnen  sind  wiederum  vor- 
wiegend israelitischer  Abkunft  (geb.  Guttmann,  Lö- 
wenthal, Heine).  Doch  findet  sich  auch  eine  geb. 
Esterhazy,  Kalnoky  und  Kinsky.  Die  Russinen  und 
Belgierinnen  sind  fast  durchweg  adeligen  Ursprungs 
und  verdanken  Frankreich  keine  Standeserhöhung. 
Der  „Gaulois"  stellt  den  Damen  zuletzt  das  Zeugniss 
aus,  dass  sie  sich  während  der  Affaire  meist  als 
„gute  Französinnen",  d.  h.  Nationalistinnen  und  Anti- 
semitinnen benommen.  Daran  war  wohl  kaum  zu 
zweifeln.  Eine  geb.  Singer,  Fischer  oder  Stevens  kann 
sich  nicht  genug  ä  la  Rochefoucauld  oder  Gramont 
geben. 

Zu  Ende  der  Dreyfus-Kampagne  schilderte  Ende 
April  1901  die  „Schlesische  Zeitung"  Frankreichs 
Zustände  folgendermassen :  Im  Spiegel  der  Dreyfus- 
Affaire  kann  jede  Nation  erkennen,  wie  sie  sich  zu 
halten  hat,  um  Herrin  im  eigenen  Hause  zu  bleiben 
und  nicht  den  internationalen  Börsenmächten  zum 
Raube  zu  fallen.  Lehrreich  sind  in  dieser  Hinsicht 
sowohl  die  verhängnisvollen  Schwächen,  mit  denen 
Frankreich  den  Ausbruch  der  Dreyfus-Wirren  erst 
möglich  gemacht  hat,  als  auch  der  zähe  Nationalsinn, 
mit  dem  die  Franzosen  schliesslich  das  Uebel  über- 
wanden. Als  allgemeine  Lektion  mag  vollends  die 
Beschämung  dienen,  welche  sich  ein  grosser  Theil  der 
Presse  und  des  Publikums  aller  Länder  zugezogen 
hat,  indem  er  sich  von  einer  internationalen  Unter- 
nehmerschaft zu  blindem  Eifer  hinreissen  liess.  Wir 
wissen  wohl,  dass  dies  unter  Anrufung  der  „Huma- 
nität" geschah.     Das    gute    Herz   aber  ist  im  Staats- 


556 


wie  im  Privatleben  keinen  Schuss  Pulver  werth, 
wenn  es  sich  nicht  mit  Verstand  und  Charakter 
paart.  Die  Geschichte  der  letztverflossenen  Jahre  lehrt, 
wie  viel  Eigennutz  gerade  hinter  den  zudringlichsten 
Menschlichkeitspredigten  zu  stecken  pflegt,  wie  das 
schöne  Wort  „Humanität"  leider  zu  eine?  Vokabel 
des  internationalen  Rothwälsch  geworden  ist,  und 
welche  Verantwortung  jeder  Staatsbürger  übernimmt, 
wenn  er  gutmüthig  diesen  Ausdruck  im  ursprünglichen 
Sinne  auffasst,  ohne  zu  prüfen,  was  damit  bezweckt 
wird.  Wie  die  Franzosen  zur  Dreyfus-Affaire  reif 
wurden,  ist  der  erste  Theil  der  Lektion,  die  uns  hier 
entgegentritt.  Den  Israeliten  war  Frankreich  zum 
Schlaraffenland  geworden,  seitdem  der  grosse  Um- 
sturz von  1789  es  ihnen  geöffnet  hatte.  Sie  fanden  da 
Alles,  was  ihnen  behagt:  flüssiges  Geld,  das  vom 
sparsamen  Volke  unermüdlich  zur  Börse  getragen 
wurde,  ein  unbeschränktes  Gleichheitsprincip,  das 
ihnen  alle  Laufbahnen,  selbst  die  militärische,  öffnete, 
und  ein  in  Auflösung  begriffenes  sociales  Zellgetvebe, 
das  sich  leicht  durchbissen  Hess.  Die  Republik  von 
1870  beseitigte  vollends  "die  Hindernisse,  die  der 
Herrschaft  jener  noch  entgegenstanden:  den  Thron 
und  zum  Theile  selbst  den  Altar.  So  wurde  Rothschild 
Fürst  der  Republik  und  seine  Stammesgenossen  ein 
Feudaladel,  der  das  Land  mit  Monopolen  und  Staats- 
lieferungen zu  Lehen  erhielt  —  der  „älteste  Adel  der 
Welt",  wie  der  zum  Direktor  der  Landespolizei'  avan- 
cirte  Jesaias  Levaillant  erklärte.  Den  Franzosen  fiel 
das  nicht  auf  Trotz  ihrer  Freiheitslosung  sind  ihnen 
ja  die  wirklich  freiheitlichen  Triebe,  die  sie  im  Mittel- 
alter noch  bethätigten,  abhanden  gekommen.  Ihre 
Umstürze  seit  1789  haben  der  Freiheit  im  Grunde 
nicht  gedient,  sondern  nur  die  angestammte  Herrschaft 
durch  die  Geldherrschaft  ersetzt.  Unter  der  dritten 
Republik  kam  das  vollends  zum  Ausdrucke.  Die 
Börsenfeudalen  bemächtigten  sich  des  nationalen  Ver- 
kehrsnetzes durch  die  Eisenbahnkonventionen  von 
1883;  sie  beherrschten  mit  der  Bank  von  Frankreich 
die  Finanzen,  sie  besetzten  die  Hälfte  der  Präfekturen 
mit  Stammesgenossen,  nahmen  fast  die  ganze  Presse 
in  Beschlag   und   erwarben   auf  bekannte  Weise  die 


557 


Dienste  des  Parlaments.  Jüdische  Officiere  über- 
sprangen ihre  christlichen  Kameraden  im  Avance- 
ment und  nisteten  sich  namentlich  in  der  Verwaltung, 
im  Generalstabe,  überall  da  ein,  wo  nicht  mit  der 
Waffe  gedient  wird.  Minister  und  Staatsoberhäupter 
mussten  sich  den  Börsenbaronen  beugen.  Die  Buch- 
staben R  F,  die  an  öffentlichen  Gebäuden  prangen, 
Hessen  sich  nach  Belieben  R6publique  Frangaise  oder 
auch  Rothschild  Freres  lesen.  Israel  wollte  nicht  nur 
im  Stillen  herrschen,  sondern  die  Ehre  der  Macht 
gemessen,  sein  Zion  in  Paris  aufrichten.  Bis  1892 
war  der  Vorstoss  gelungen.  Da  erfolgte  ein  Rück- 
schlag in  Form  der  sogenannten  Panama- Affaire.  Der 
zersetzende  Einfluss  der  Börsenherrschaft,  der  zuvor 
nur  in  engeren,  zumeist  finanziell  interessirten  Kreisen 
bekannt  war,  kam  an  die  Oeffentlichkeit.  Die  Opfer 
eines  Milliarden-Raubzuges  verlangten  Licht;  man 
erfuhr,  dass  der  Baron  Jakob  v,  Reinach  die  Beste- 
chung des  Parlamentes  in  Generalentreprise  genommen 
und  dass  ein  Aaron,  wie  weiland  am  Fusse  des 
Sinai,  den  Tanz  um's  goldene  Kalb  angeführt  hatte. 
Die  Volksvertretung  wurde  der  Bestechlichkeit  über- 
wiesen und  hatte  nicht  einmal  die  sittliche  Kraft,  die 
Bestochenen  auszustossen.  Die  Gerichtsbarkeit  hielt 
es  mit  den  Dieben,  Betrügern  und  Bestochenen.  Kein 
Ministerium,  kein  Staatschef,  keine  bürgerliche  Be- 
hörde erwies  sich  intakt.  „Panama*  war  der  Bankerott 
der  Civilgewalten  in  Frankreich,  und  dieser  Bankerott 
war  die  Folge  der  vom  Börsenadel  ausgegangenen 
Korruption.  Der  Rückschlag  gegen  die  Feudalherren 
der  Finanz  erfolgte  jedoch  nicht  unmittelbar  mit 
voller  Wucht.  Er  kam  erst  nach  dem  Dreyfus-Pro- 
cesse  1894 .... 

Die  „Affaire"  lehrt,  dass  eine  Nation  sich  an  sich 
selbst  versündigt,  wenn  sie  sich  die  Börsenmächte 
über  den  Kopf  wachsen  lässt,  wenn  sie  sich  gegen 
Thron  und  Altar,  gegen  die  Hüter  der  öffentlichen 
Sitte  vergeht,  und  somit  die  Bahn  für  die  Mammons- 
herrschaft freimacht;  wenn  sie  Zwischenhändler  zu 
Monopolherren  auswachsen  lässt  und  durch  das 
Uebergewicht  des  Geldsacks  die  Korruption  in  ihren 
mannigfaltigen,    strafrechtlich    oft  nicht   einmal  fass- 


558 


baren  Formen  ermöglicht.  Frankreich  hat  diese  Ver- 
sündigung schwer  gebüsst  und  wird  an  ihr  noch 
ferner  schwer  zu  leiden  haben.  Denn  selbst  eine  zeit- 
weilige Zurückdrängung  der  finanzfeudalen  Macht 
bringt  ihm  keinen  Ersatz  für  den  Schaden,  den  die 
Zersetzung  der  Staatsordnung  und  der  politischen 
Sittlichkeit  angerichtet  hat  Die  Demokraten  mögen 
sich  freilich  die  Hände  reiben  und  mit  den  bekannten 
Worten  eines  Ausverkaufsmachers  Sprechern:  „Enfin 
nous  avons  fait  faillite."  Alle  Autoritäten,  bürgerliche 
wie  militärische,  liegen  am  Boden;  das  Volk  braucht 
nichts  mehr  zu  achten,  keine  Ueberlegenheit  mehr 
anzuerkennen."  Französische  Blätter  gestehen  zu,  dass 
Frankreich  seit  der  Herrschaft  Combes'  sich  im 
Bürgerkriege  befinde.  „Die  Moralität  der  Minister  ist 
uns  sehr  gleichgültig",  schreiben  übereinstimmend 
die  Organe  der  extremen  Linken,  die  Lanterne,  Ra- 
dikal, Petite  Röpublique  u.  a.  m.  Was  wir  wollen, 
ist  den  Klerikalismus  jetzt,  wo  wir  die  Macht  dazu 
haben  und  einmal  im  Zuge  sind,  gründlich  zu  ver- 
nichten. Dazu  hat  sich  das  jetzige  Kabinet  von 
neuem  bereit  erklärt  und  deshalb  werden  wir  es 
weiter  wie  bisher  unterstützen,  envers  et  contre  tous. 
So  schrieben  genannte  Blätter  anfangs  Juni  1903. 
Das  Ende  Frankreichs  kann  nicht  lange  auf  sich 
warten  lassen,  wenn  nicht  der  christliche  Sinn  im 
Volke  Sieger  wird.  Wer  in  Frankreich  die  Macht  in 
den  Händen  hält,  hat  ja  Drumont  in  seinem  Werke 
„Das  verjudete  Frankreich*  klar  bewiesen,  in  welchem 
Werke  er  besonders  dem  Juden  Gambetta  die  Hülle 
schonungslos  heruntergerissen  hat.  Die  Judenblätter 
geben  ja  fast  alle  Tage  Belege  dazu,  dass  Frankreich 
in  Händen  von  etwa  25  bis  30  Tausend  Jakobiner 
sich  befinde,  die  in  der  Synagoge  beschnitten  worden 
oder  Freimaurer  sind.  Das  in  Wien  erscheinende 
„Jüdische  Volksblatt-  hatte  am  1.  Mai  1903  folgende 
Nachricht:  „Paris.  (Senator  Raynal.)  Der  Senator  und 
ehemalige  Minister  Raynal  ist  hier  gestorben.  David 
Raynal  wurde  63  Jahre  alt.  In  Paris  geboren,  ent- 
stammte er  einer  jüdischen,  in  Bordeaux  ansässigen 
Weinhändlerfamilie  und  auch  er  ergriff  den  Beruf 
seines   Vaters    und    etablierte    sich  in   Bordeaux   als 


559 


Weinhändler.  Im  Jahre  1877  entsagle  er  dem  kauf- 
männischen Berufe  und  wandte  sich  der  Politik  zu. 
Er  wurde  in  die  Kammer  gewählt,  wo  er  seinen  Sitz 
auf  der  republikanischen  Linken  einnahm  und  sich 
eng  an  Gambetta  anschloss.  1880  wurde  er  als  Unter- 
staatssekretär in  das  Ministerium  der  öffentlichen 
Arbeiten  im  Kabinet  Freycinet  berufen.  Im  folgenden 
Jahre  übertrug  ihm  Gambetta  das  Portefeuille  der 
öffentlichen  Arbeiten,  das  er  bis  gegen  Ende  des 
Jahres  1882  verwaltete.  Ferry  berief  ihn  1885  in  gleicher 
Eigenschaft  in  sein  Kabinet,  dem  er  bis  1885  ange- 
hörte. Zu  wiederholtenmalen  war  Raynal  dann  Mit- 
glied der  Budgetkommission.  In  der  Kammer  wurde 
er  Führer  der  gemässigten  Linken  und  als  solcher 
1893  unter  Kasimir  Perier  Minister  des  Innern.  Im 
Jänner  1897  wurde  Raynal  zum  erstenmale  von  der 
Gironde  in  den  Senat  gewählt."  Der  Berichterstatter 
der  liberalen  „Münchener  Allgemeinen"  schildert  den 
Kampf  dieser  Jakobiner  und  Socialisten  gegen  die 
katholische  Kirche  in  Frankreich  in  einigen  Berichten. 
Er  sagt. 

Die  Durchführung  des  Kongregationsgesetzes  er- 
regt und  verbittert  in  Frankreich  die  Gemüther  offen- 
bar weit  mehr  als  es  seinerzeit  die  Beschlussfassung 
über  die  Neuordnung  der  Verhältnisse  der  geistlichen 
Genossenschaften  gethan  hatte.  Die  ausgesprochenen 
Kirchenfeinde  waren  damals  allerdings  schon  der  An- 
sicht, dass  die  Regierung  von  der  ihr  gewährten  Be- 
fugnis, den  durch  das  Konkordat  nicht  ausdrücklich 
geschützten  Kongregationen  das  Lebenslicht  auszu- 
blasen, sofort  in  umfassendster  und  rücksichtslosester 
Weise  Gebrauch  machen  werde  und  Gebrauch  machen 
müsse;  die  Klerikalen  —  und  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  auch  die  Anhänger  der  gemässigteren  Linken 
—  setzten  dagegen  voraus,  dass  das  Gesetz  mehr  als 
Damoklesschwert  denn  als  ein  Richtbeil  dienen  sollte, 
dass  man  es  eigentlich  nur  gefordert  habe,  um  den 
Uebermuth  und  die  antirepublikanischen  Tendenzen 
gewisser  Kongregationen  durch  die  Androhung  eines 
scharfen  Vorgehens  im  Zaume  halten  und  hie  und 
da  auch  ein  warnendes  Exempel  statuieren  zu  können, 
nicht   aber   in   der  Absicht,    den  Orden  ohne  Unter- 


560 


schied  ihrer  Tendenz  und  ihres  bisherigen  Verhaltens, 
den  kämpfenden  wie  den  beschaulichen,  den  predi- 
genden wie  den  pflegenden,  einfach  den  Garaus  zu 
machen.  Herr  Waldeck-Rousseau,  der  Vater  des 
Kongregationsgesetzes,  war  offenbar  der  milderen 
Praxis  geneigt,  und  auch  Herr  Loubet,  der  soeben 
in  Algerien  so  eindringlich  gemahnt  hat :  Ne  pro- 
scrivons  jamais !  Ne  proscrivons  peräonne !  würde  ihr 
sicherlich  den  Vorzug  geben,  allein  der  jetzige  Konseil- 
präsident, der  bekanntlich  ein  defroqufe  und  daher, 
wie  alle  Konvertiten  oder  Renegaten,  doppelt  und 
dreifach  streng  ist,  will  teils  als  prinzipienfester  Anti- 
klerikaler, teils  als  kluger  Politiker  von  einem  Transi- 
gieren  mit  der  Kirche  und  ihren  Autoritäten  nichts 
wissen.  Der  radikal-socialistische  Block,  auf  den  er 
in  der  Kammer  sich  stützt,  wird  sich  nämlich  als 
unzerbrechlich  so  lange  nur  erweisen,  als  der  Kitt 
der  allen  Parteien  der  entschiedenen  Linken  gemein- 
samen Feindschaft  gegen  den  Klerikalismus  ihn  zu- 
sammenhält; sobald  dieses  Bindemittel  nicht  mehr 
vorhanden  wäre,  würde  er  sehr  bald  bedenkliche 
Risse,  ja  vielleicht  klaffende  Sprünge  aufweisen.  Das 
Bestreben  des  Ministeriums  geht  somit  dahin,  sich 
als  Sturmbock  gegen  den  Klerikalismus,  als  Vorkämpfer 
für  die  Laicisirung  des  gesammten  öffentlichen  Lebens 
ganz  in  den  Dienst  der  parlamentarischen  Mehrheit 
zu  stellen,  sie  zusammen  zu  halten  und  in  geschlos- 
sener Phalanx  um  sich  zu  scharen  und  sich  durch 
seinen  Eifer  auf  kirchenpolitischem  Gebiet  für  manche 
Vergehungs-  und  Unterlassungssünden  auf  anderen 
Gebieten  volle  Absolution  zu  sichern.  Die  social  isti- 
schen, bezw.  socialistisch-radikalen  Blätter  verstehen 
es  übrigens  trefflich,  Herrn  Gombes  und  seine-  Kol- 
legen durch  halb  lobende,  halb  drohende  Auslassun- 
gen zu  immer  erneuter  Bethätigung  der  antiklerikalen 
Tendenzen  anzuspornen.  So  schreibt  z.  B.  die  Pariser 
„Lanterne":  „Wie  man  versichert,  hat  der  Minister- 
präsident den  Präfekten  gemessene  Befehle  ertheilt, 
damit  die  Auflösungsdekrete  binnen  kürzester  Frist 
ausgeführt  werden.  Andrerseits  soll  der  Justizminister 
die  Staatsanwälte  aufgefordert  haben,  alle  Ruhe- 
störungen auf  öffentlicher  Strasse  und  alle  Rebellion 


561 


gerichtlich  zu  verfolgen.  Wir  hoffen,  die  Ereignisse 
werden  diese  Nachricht  nicht  Lügen  strafen.  Die 
Sakristeipresse  ist  so  frech,  zu  verstehen  zu  geben, 
die  Drohungen  der  Klerikalen  haben  die  Regierung 
eingeschüchtert  und  sie  zum  Rückzug  bewogen.  Sie 
versichern,  um  das  Gesetz  zur  Ohnmacht  zu  verdam- 
men, genüge  es,  recht  frech  zu  sein.  Die  Pfaffenfreunde 
werden  aber  zu  ihrem  Schaden  erfahren,  dass  sie  in 
einer  Täuschung  befangen  sind.  Die  Regierung  muss 
die  im  Solde  der  Kongregationen  stehenden  Aufrührer 
schonungslos  verfolgen.  Sobald  diese  fühlen,  dass  das 
Ministerium  zum  Handeln  enschlossen  ist,  werden 
sie  sich  schon  zurückziehen." 

Ob  dieser,  der  derzeitigen  KammermehrheU  so 
genehme,  gar  leicht  das  Kind  mit  dem  Bade  aus- 
schüttende Uebereifer,  durch  den  die  vom  Ministerium 
Waldeck  eingeleitete  antiklerikale  Aktion  den  Charak- 
ter eines  lediglich  gegen  den  politischen  Katholicis- 
mus,  gegen  unzulässige  hierarchische  Machtgelüste 
und  gegen  Eingriffe  in  die  staatliche  Aktionssphäre 
gerichteten  Kampfes  mehr  und  mehr  verliert  und  zu 
einem  Kampfe  gegen  die  Kirche  im  allgemeinen  und 
alles  was  kirchlich  gesinnt  ist,  sich  gestaltet,  den 
Wünschen  und  Anschauungen  der  Mehrheit  des  fran- 
zösischen Volkes  entspricht,  muss  zum  mindesten  als 
zweifelhaft  gelten.  Blätter,  wie  der  Temps,  die  Repu- 
blique  Frangaise,  die  DSbats,  die  zwar  nicht  radikal 
und  ministeriell,  aber  ohne  Zweifel  gut  republikanisch 
sind,  üben  an  dem  Terrorismus  der  Mehrheitsparteien, 
die  am  Konvent-Spielen  Geschmack  gefunden  zu  haben 
scheinen,  eine  immer  schärfer  werdende  Kritik;  in 
den  Kreisen  der  Armee  und  der  Magistratur  ist  das 
Missvergnügen  über  die  sichtliche  Beeinflussung  der 
Beschlüsse  und  Massnahmen  der  Regierung  durch 
die  Wortführer  der  extremsten  Demokratie  unver- 
kennbar im  Wachsen  und  aus  allen  Teilen  Frank- 
reichs trifft  die  Meldung  ein,  dass  die  Bevölkerung 
des  flachen  Landes  und  der  kleinen  Städte  nur  durch 
die  bewaffnete  Macht  an  Gewaltakten  gegenüber  den 
Vollstreckern  des  Kongregationsgesetzes  verhindert 
werden  kann.  Jedenfalls  stehen  sich  die  Parteien,  in 
zwei  grosse  Lager  gespalten,  zur  Zeit  feindseliger  ge- 

36 


562 


genüber  als  seit  langen  Jahren,  und  wenn  das  Volk 
heute  wieder  zur  Wahlurne  zu  schreiten  hätte,  dürfte 
es  den  Mitgliedern  des  radikalen  und  socialistischen 
Blocks  kaum  vergönnt  sein,  in  unverminderter  Zahl 
in  das  Palais  Bourbon  zurückzukehren.  Der  unbe- 
theiligte,  objektiv  urtheilende  Beobachter  der  franzö- 
sischen Vorgänge  wird  sich  des  Eindrucks  kaum  er- 
wehren können,  als  lasse  das  Ministerium  Gombes 
bei  seinem  Anti-Kongregationsfeldzuge  das  alte  Wort 
ausseracht,  dass  allzu  scharf  schartig  macht.  Es  geht 
über  das  religiöse  Gefühl  der  Landbevölkerung,  die 
namentlich  im  Nordwesten  und  Süden  des  Landes 
in  ihrer  weit  überwiegenden  Mehrheit  streng  kirchlich 
gesinnt  ist,  mit  einer  Rücksichtslosigkeit  hinweg,  die 
weder  von  wahrhaft  freiheitlicher  Gesinnung  noch  von 
wahrer  politischer  Klugheit  zeugt.  Unlängst  hatte 
allerdings  Herr  Gombes  selbst  einmal  das  Empfinden, 
dass  der  Staat,  so  energisch  er  sich  auch  gegen  un- 
berechtigte Machtansprüche  der  Kirche  und  des  Klerus 
zur  Wehre  setzen  solle  und  müsse,  doch  allen  Grund 
habe,  den  kirchlichen,  religiösen  Sinn  der  breiten 
Massen,  denen  mit  philosophischen  Systemen  nicht 
geholfen  ist,  zu  schonen,  ja  zu  pflegen.  Das  laute, 
drohende  Murren,  welches  diese  „spiritualis  tische 
Ketzerei"  in  den  Reihen  der  extremen  Linken  hervor- 
rief, bestimmte  ihn  freilich  zu  schnellem  Widerruf 
und  zu  umso  schärferem  Handeln.  Er  dürfte  aber 
mit  dieser  Unterordnung  unter  die  Anforderungen 
einseitigster  Parteipolitik  dem  Frieden  im  Lande  kaum 
gedient  haben,  denn  an  Unduldsamkeit  ^wetteifern  die 
„mangeurs  de  prfetres"  mit  den  schwärzesten  unter 
ihren  schwarzen  Widersachern.  Die  einen  wie  die 
anderen  verstehen  unter  Freiheit  immer  nur  die  Frei- 
heit, die  sie  meinen,  das  Recht,  alle  zu  vergewaltigen, 
die  ihrer  Fahne  nicht  folgen  mögen." 

Die  Phrase,  als  ob  die  Republik  um  ihre  Existenz 
gegenüber  den  Ultramontanen  kämpfe,  ist  eben  eine 
freche  Lüge,  um  das  Verbrechen  der  oficiellen  Schurken 
zu  decken.  Abb6  Geyrand  sagte  in  der  Kammer,  dass 
sich  die  Mitglieder  der  französichen  Kongregationen, 
über  38,000  Männer  und  123.000  Frauen  der  Armen- 
und  Krankenpflege  widmen,  die  83.000  Kinder,  17.000 


563 


Greise  und  Unheilbare  und  7000  Irrsinnige,  also 
107.000  Unglückliche  pflegen.  Als  Missionäre  wirken 
8500  Mönche  und  die  Kongregationen  unterhalten 
4758  Schulen  mit  112.000  Schülern  und  103  Hospi- 
tälern oder  Kliniken,  Die  Unterdrückung  der  Kongre- 
gationen würde  das  Konkordat  und  das  Grundprincip 
des  öffentlichen  Rechtes  verletzen.  Alle  Angriffe,  die 
in  Wirklichkeit  gegen  die  katholische  Kirche  gerichtet 
sind,  werden  sich  als  nutzlos  erweisen,  wie  man 
dies  bereits  während  der  grossen  Revolution  gesehen 
habe.  Statt  sie  zu  verfolgen,  sollte  die  Republik  mit 
den  Kongregationen  im  Wohlthun  wetteifern.  Während 
die  Milliarden  der  Juden  und  die  Millionen  der  So- 
cialistenführer  Jaures  und  Millerand  unverletzlich 
sind,  wird  die  Kirche  schonungslos  vor  aller  Welt 
ausgeraubt.  Wären  alle  Priester  und  Bischöfe  Frank- 
reichs treu  der  kathol.  Kirche  ergeben,  wären  sie 
untereinander  einig,  übten  sie  die  wahre  Liebe  gegen 
sich,  die  Dinge  hätten  unmöglich  so  weit  reifen 
können. 

Was  unter  der  Judenherrschaft  in  Frankreich 
vorgeht,  das  schilderte  das  Luzerner  Volksblatt  An- 
fangs Mai  1903,  Die  Beraubung  der  französischen 
Karthäuser  hat  sich  im  Morgengrauen  des  29.  April 
vollzogen.  Seit  Mittwoch  Früh  7  Uhr  ist  das  grosse, 
altehrwürdige  Kloster  der  „Grossen  Karthauseu  leer, 
ohne  alle  Bewohner.  Ein  Bataillon  des  140.  Linien- 
regiments und  6  Sappeurs  waren  Dienstag  gegen 
Abend  von  Grenoble  zu  einem  „Uebungsmarsch"  be- 
ordert worden.  Von  Dhamb6ry  war  eine  Eskadron 
der  vierten  Dragoner,  mit  einem  ähnlichen  Befehle, 
ebenfalls  gegen  Abend  abmarschirt.  Dem  Oberst  der 
vierten  Dragoner,  Herrn  Oberst  Fredy  de  Goubertin, 
wurde  die  Ordre  mitgetheüt,  dass  es  gelte,  gegen  die 
Chartreusemönche  auszuziehen.  Aber  Oberst  de  Gou- 
bertin, dessen  Dragoner  einst  unter  den  Mauern  von 
Metz  gekämpft,  schämte  sich  gegen  wehrlose  Mönche 
seine  Truppen  anzuführen ;  er  ertheilte  einem  Haupt- 
mann den  Befehl,  mit  der  Eskadron  wegzureiten, 
schickte  aber  gleichzeitig  dem  Kriegsminister  seine 
Entlassung  und  zerbrach  seinen  Degen!  So  geheim 
die  militärischen  Befehle  ertheilt  worden  waren  und 

36* 


564 


so    still   die  Truppen  im  Dunkel  der  Nacht  über  St. 
Laurent  du  Pont  hinaus  vorrückten,  so   blieb   doch 
dieses  Manöver  nicht  unbeachtet.  Eine  einzige  Land- 
strasse steigt  längs  dem  wild  hinabstürzenden  Guiecs- 
Mort  zwischen  dräuenden  Felsen   empor.   Die  Berg- 
bewohner waren  in  Felsenlöcher  versteckt   oder  in 
den  hohen  Tannenbäumen,  die  an  den  Felsen  kleben. 
Rasch  wurde  von  einer  Wache  der  anderen  das  An- 
rücken der  Truppen  signalisirt,  und  so  kam  es,  dass 
auf  das  Läuten  der  Klosterglocke  bald  eine   enorme 
Menschenmasse  vor  dem  Kloster   sich   ansammelte. 
Um    elf  Uhr  Nachts    marschirte   das   Bataillon    von 
Saint-Laurent   ab,   um    12   Uhr   die   Kavallerie.    Die 
Schergen   der  öffentlichen  Gewalt,    der  Staatsanwalt 
und  Konsorten,  fuhren  hinter  dem  Bataillon  in  einem 
Landauer.    Sie   wurden    in    den   Strassen   der   Stadt 
ausgepfiffen   und   mit   Schmährufen   überhäuft.    Von 
Saint-Laurent  bis  zum  Kloster  beträgt  die  Entfernung 
neun  Kilometer.  Nach  Ueberwindung  mehrerer  Hinder- 
nisse, bestehend  in  Barrikaden,  langten  die  Truppen 
3  Uhr  Morgens  vor  dem  Kloster  an.  Dieses  war  von 
einer  Unmasse  von  Menschen  umgeben,  von  Männern 
und  Frauen,  Bauern  und  Bewohnern  der  Stadt  Saint- 
Laurent.  Man  schickte  zuerst  die  berittenen  Gendarmen 
gegen  das  Volk  aus,  mit  der  Aufforderung,  den  Platz 
zu  räumen.   Darauf  antwortete  die  Menge  mit  lauten 
Protesten.  Jetzt  drängten   die  Gendarmen  gegen   das 
Volk.  Plötzlich  erhoben  sich  zahlreiche  Stöcke,  meistens 
Alpenstöcke,   und  sausten  auf  die  Köpfe  der  Pferde 
nieder,  welche  sich  erschreckt  umwandten  gegen  das 
hinten  aufgestellte  Militär.  Dieses  suchte  zu  Hilfe  zu 
kommen.    Dabei    wurde    ein    Hauptmann    am    Kopfe 
verletzt,    ein   Soldat   erhielt   mit  einem  Todtschläger 
eine  Wunde;    die  Frauen   munterten    durch   Zurufe 
die  Männer  auf,  und  es  mussten  die  Landjäger   sich 
schliesslich  ganz  zurückziehen. 

Man  muss  dem  Militär  zugestehen,  dass  es  sehr 
taktvoll  vorging.  Die  Offiziere  bemühten  sich,  jede 
Ausschreitung  hinzuhalten.  Es  rückten  die  Truppen 
langsam  Schritt  für  Schritt  vor.  Sie  drängten  so  die 
Manifestanten  für  und  für  vom  Eingange  weg.  Lang- 
sam säumt  das  Tageslicht  an  den  hohen  Bergen  und 


565 


wir  sehen  endlich  in  voller  Klarheit  die  ehrwürdige 
Karthause,  sonst  ein  Bild  tiefsten  Friedens,  heute  um- 
wogt von  Tausenden,  vor  uns  aufsteigen  mit  ihren 
vielen  Giebeln  und  Thürmen.  Es  ist  5  Uhr  Morgens. 
Aus  ihrem  Verstecke,  wo  sie  sich  nun  sicher  fühlen, 
treten  der  Staatsanwalt,  der  Vicestaatsanwalt  und  der 
Untersuchungsrichter  vor  und  nähern  sich  dem  Portale. 
Wie  ein  Ruf  erschallt  der  Schrei :  „Nieder  mit  Gombes ! 
es  lebe  die  Freiheit!  hoch  die  Chartreuse!"  Der  Staats- 
anwalt läutet,  das  Guckloch  öffnet  sich  und  P.  Clovis 
fragt:.  „Wer  ist  da?"  Der  Staatsanwalt:  „Oeffnet  im 
Namen  des  Gesetzes!"  P.  Clovis  erwidert:  „Es  gibt 
hier  keine  Gesetze  mehr",  und  die  Oeffnung  wird 
wieder  geschlossen.  Nun  werden  die  Sappeure  herbei- 
gerufen, damit  sie  eine  Holzthür  neben  dem  Haupt- 
portal einschlagen.  Sie  machen  sich  mit  dem  Beil  in 
der  Hand  an  die  wenig  noble  Arbeit  und  zerschlagen 
wirklich  nach  etwa  zehn  Minuten  die  Thür.  Die  obrig- 
keitlichen Schergen  dringen  ein,  gefolgt  von  sämmt- 
lichen  Gendarmen.  Alles  ist  still  in  den  weiten  Räumen, 
alle  Thüren  sind  geschlossen.  Nicht  weniger  denn 
sechs  Thüren  müssen  eingeschlagen  werden,  bis  die 
Vertreter  der  glorreichen  „Republik"  vor  der  innern 
Kapelle  anlangen,  in  welcher  sämmtliche  Mönche, 
jeder  in  seinem  Betstuhle,  versammelt  sind.  Zuvor 
muss  noch  ein  Korporal  das  Gitter  überklettern  und 
von  innen  die  Thür  öffnen,  die  das  Schiff  der  Kirche 
vom  Hochaltar  abschliesst.  Er  wird  dafür  wohl  den 
Orden  der  „Ehrenlegion"  erhalten ....  Welch'  ein 
Anblick  in  dem  mystischen  Halbdunkel  der  Kapelle! 
Das  ewige  Licht  flackert  heute  wohl  zum  letztenmal 
für  vielleicht  lange  Zeit  in  geheimnisvollem  Leuchten 
über  das  mächtige  Altarbild,  das  die  Muttergottes 
darstellt,  auf  Wolken  thronend.  Vor  dem  Altare  knien 

unbeweglich  die  weissen  Gestalten  und  beten 

beten,  wie  sie  es  seit  Jahrhunderten  an  dieser  heiligen 
Stätte  gethan,  indem  sie  daneben  durch  Wohlthuen 
ihre  Menschenliebe  bekundeten  und  niemanden  etwas 
zuleide  thaten  im  ganzen  Lande  .  .  .  Und  doch  tritt 
jetzt  der  Vertreter  der  schamlosen  Judenbande,  die 
Frankreich  regiert,  an  diese  friedlichen,  Gott  sich 
weihenden   Männer   heran,  und  fordert  sie  auf,    das 


566 


Kloster  zu  verlassen!   Und   da   sie   unbeweglich   an 
ihrer  Stelle  verharren,  treten  zwei  Polizisten  an  jeden 
Mönch  heran  und  führen  ihn  weg  aus   der  Kirche, 
hinaus  aus  dem  Hause,  hinaus  aus  dem  Vaterland  .  . . 
Während  die  Schergen  in  das  Kloster  eindrangen, 
hat  das  vergewaltigte  Volk  in  ängstlicher  Ruhe    und 
Stille  verharrt.  Als  die  erste  weisse  Kleidung  zwischen 
zwei  Polizisten   unter   dem   Portale   sichtbar    wurde, 
enlblösste    die  Menge  das  Haupt.   Ein   andächtiges, 
schmerzliches  Schweigen  lastete  auf  der  Masse,   als 
die    19   Patres    in   weisser   Kleidung    und    die    vier 
Brüder  in  schwarzer,  begleitet  von  je  zwei  Polizisten 
aus  ihrer  stillen  Klause  hinausgeführt  wurden  in  das 
sogenannte  Frauenhaus  zum  Verhör.  In  zwei  Reihen 
stand  das  Militär,   um  das  Volk  vor  Thätlichkeit  ab- 
zuhalten.   Man    sah   Soldaten,    die  weinten;    andere, 
welche  die  Köpfe  umwendeten,  um  das  schmähliche 
Schauspiel    nicht    ansehen    zu    müssen.    Die    Patres 
wurden   dann   sofort   aus  der  Haft  entlassen,    gegen 
das  Versprechen    mit  Umgehung  von  Grenoble    über 
Chambery  nach  Italien  reisen  zu  wollen.    Sie  gingen 
zu  Fuss  bis  nach  Saint- Laurent;  nur  der  Prior  Dom 
Michel   fuhr  mit  dem   Advokaten   des  Klosters    und 
dem    Deputirten   von  Grenoble,    der   aber  in  Saint- 
Laurent  wohnt,  in  einer  Chaise.  So  endete  die  Aus- 
raubung des  alten  Klosters  und  die  Vertreibung  seiner 
letzten  Bewohner  auf  der  Höhe  der  Grand  Ghartreuse. 
Aber   die  Manifestation    setzte   sich   noch   im  Thale 
fort.  Ueber  2000  Bergbewohner  begleiteten   die  Ver- 
bannten bis  Saint-Laurent.    Als   sie  um  11  Uhr  die 
Stadt  erreicht  hatten,  stürzte  sich  die  Menge  auf  die 
Chaise   des  Priors,   spannte  die  Pferde  aus  und  zog 
ihn    bis   vor    das    Haus    des   Deputirten   Pichal,    wo 
sämmtliche  Patres  ein  kleines  Frühstück  einnahmen. 
Der  Bischof  von  Grenoble  war  ihnen  entgegengegangen 
und  hatte  jeden  auf  der  Strasse  umarmt.  Beim  Gang 
auf  den  Bahnhof  umwogte  sie  das  Volk  wieder    zu 
Tausenden.   Unterdessen  hatte  der  Staatsanwalt  und 
sein  Begleiter  sich  auf  Umwegen  nach  Grenoble    be- 
geben, wo  sie  sich  versteckten,  einer  aber  wurde  er- 
wischt und  v~-1,*~u  durchgeprügelt:  Herr  Mouthon, 
der  Korr'  „Matin".  Er  war  in  Begleitung 


567 


der  Herren  der  Magistratur  und  wurde,  da  er  schon 
zweimal  in  der  Gegend  weilte,  sofort  erkannt.  Früher 
war  er  katholischer  Publicist,  jetzt  besorgt  er  für  den 
„Matin"  die  kirchlichen  Artikel  und  hat  in  einem 
derselben  ganz  genieinen  Spott  an  den  Mönchen  ver- 
übt, nachdem  er  dort  —  Gastfreundschaft  genossen! 
Als  ihn  nun  das  Volk  erblickte,  ergoss  sich  eine 
Unmasse  von  Schmährufen  über  ihn.  Nur  der  Schutz, 
den  ihm  die  Mameluken  des  Gombes  gewährten, 
rettete  ihn  vor  Misshandlungen.  Als  der  Raubakt 
vollzogen  war,  sprang  Mouthon  in  sein  Gefährte,  um 
rasch  zu  entwischen  und  nach  Paris  zu  telegraphie- 
ren. Aber  eine  Anzahl  Bauern  setzten  ihm  nach,  er- 
reichten seinen  Wagen,  rissen  ihn  heraus  und  prü- 
gelten ihn  derart  durch,  dass  —  der  „Matin"  heute 
ohne  eigenen  Bericht  über  die  Schliessung  der  Kart- 
hause ist  und  einen  solchen  einem  anderen  Blatte 
entlehnen  musste  ....  Auf  der  Weiterreise  wurden 
die  Verbannten  überall  mit  Ehrfurcht  und  Begeiste- 
rung begrüsst,  besonders  in  Chambery,  wo  Tausende 
den  Bahnhof  umlagerten  und  kniend  den  Segen  des 
Priors  empfingen.  Ueberall  ertönte  der  Ruf:  „Auf 
baldiges  Wiedersehen!"  —  So  schildert  die  Vertrei- 
bung der  Karthäuser  aus  Frankreich  J.  Steiner-Buloz 
im  „Luz.  Volksblatt. u 

d)  Jtaliens  Finanzlage. 
Italien  hatte  im  Finanzjahre  1897 

Einnahmen  Ausgaben 

1.696,791.355  Lire  1.686,793.409  Lire 

Der  Schuldendienst  erforderte  einen  Aufwand 
von  589,519.958  Lire.  Das  Hauptbuch  der  italieni- 
schen Staatsschuld  wurde  im  Jahre  1862  mit  einem 
Betrage  von  3084 y2  Millionen  Lire,  die  ihren  Ursprung 
in  den  von  den  früheren  Kleinstaaten  übernommenen 
Verpflichtungen  hatte,  eröffnet.  Diese  Schuld  war  zu 
Ende  1876  auf  11.289 V2  und  am  30.  Juni  1897  auf 
14.865  Millionen  Lire  angewachsen.  Italien  ist  eine 
Beute  von  privilegirten  Gaunern  geworden,  wie  die 
Maffiaprocesse  bewiesen  haben.  Für  Italien  gut  der 
Grundsatz  —  je  mehr  Gold  an  der  Uniform,  desto 
grösserer  Gauner  steckt  darin.    Man  sieht,  dass  Man- 


568 


darinen  nicht  allein  in  China,  sondern  auch  in  Europa 
zu  Hause  sind.  Den  Hauptstock  italienischer  Staats- 
schulden vom  J.  1862  bildeten  die  Schulden  beider 
Sicilien.  Hier  hatte  „segensreich"  gewirkt  der  Anfangs 
Februar  1900  verstorbene  Pariser  Adolphe  de  Roth- 
schild, dessen  Familie  auch  ein  Kondolenztelegramm 
aus  der  Wiener  Hofburg  zugegangen  ist  Es  ist  inter- 
essant die  aufgeblasenen  Berichte  jüdischer  Zeitungen 
über  den  verstorbenen  Pariser  Rothschild  zu  lesen. 
So  schrieb  „Hamburger  Gorresp."  über  den  ver- 
storbenen Adolphe  de  Rothschild  wie  folgt:  Der  Ver 
storbene  war  der  Chef  des  Neapeler  Hauses  Roth- 
schild und  der  intime  Freund  und  Diener  der  Könige 
Ferdinand  IL  und  Franz  II.  von  Bourbon  und  Anjou. 
Als  die  beiden  Sicilien  vom  Königreich  Italien  an- 
nektirt  wurden,  liess  er  sich  in  Paris  nieder.  In  der 
Rue  Monceau  liess  er  im  Jahre  1868  ein  pracht- 
volles Hotel  erbauen,  dessen  grossartige  Salons  mit 
den  aufgestapelten  Kunstsammlungen  der  Rendezvous- 
platz der  grossen  Pariser  und  auswärtigen  Welt 
waren.  Hier  traf  man  die  Prinzen  des  königlichen 
Hauses  Frankreichs,  ebenso  wie  die  der  regierenden 
Fürstenhäuser  Europas,  oft  auch  den  König  und  die 
Königin  von  Neapel.  Dabei  machte  er  keinen  Unter- 
schied zwischen  den  Religionen.  Eine  grosse  Anzahl 
von  kleinen  Gemeinden  Frankreichs  verdankt  ihm 
den  Ausbau  oder  die  Restaurinmg  ihrer  Kirchen, 
die  Erbauung  ihrer  Schulen,  Asyle  und  Spitäler.  Die 
Pariser  Armen  werden  den  Baron  Adolphe  nicht 
minder  vermissen.  In  seinem  Hause  in  der  Rue 
Monceau  wurden  täglich  über  1500  Francs  kleiner 
Almosen  vertheilt,  und  im  Bois  de  Boulogne  musste 
noch  in  letzter  Zeit  ein  besonderer  Ordnungsdienst 
von  der  Polizei  eingerichtet  werden,  um  den  Baron 
bei  seinen  Spazierfahrten  vor  der  allzu  grossen  Zu- 
dringlichkeit der  Bettler  zu  schützen,  die  in  Haufen 
herbeiströmten,  sobald  sie  durch  ihre  „Eclaireure" 
in  Erfahrung  gebracht  hatten,  dass  der  Baron  aus- 
gefahren war.  Rothschilds  Wohlthätigkeit  beschränkt 
sich  übrigens  nicht  auf  Paris  und  Frankreich.  Sie 
wirkte  überall,  besonders  auch  im  alten  Königreich 
Neapel  unr»  in  d*r  Schweiz,  wo  der  Verstorbene  das 


5G9 


grossartige  Anwesen  von  Pregny  bei  Genf  besass.  In 
Genf  gründete  und  subventionirte  Baron  Rothschild 
das  ophthalmologische  Institut  der  Universität.  Das 
Vermögen  des  Verstorbenen  wird  auf  200  Millionen 
Francs  gechätzt. 

Die  Ausgaben  Italiens  für  das  Jahr  1902  waren 
1.812,363.541  Lire,  davon  587,501.284  Lire  Zinsen 
für  die  Staatsschuld.  Italien,  dieser  wirthschaftlich 
vollständig  zerrüttete  Staat  wühlt  mit  seiner  Irredenta 
systematisch  von  Süden  her  gegen  Oesterreich.  Das 
Organ  des  Juden  Mosse,  das  „Berliner  Tagebl."  schreibt 
anlässlich  des  Besuches  Wilhelms  IL  in  Rom  in  der 
Nr.  vom  15.  Mai  1903  von  Wien  aus  folgendes :  „Die 
römischen  Toaste  des  Königs  Viktor  Emanuel  und 
des  Kaisers  Wilhelm  werden  nicht  bloss  von  der 
italienischen,  sondern  auch  von  der  österreichisch- 
ungarischen  Presse  und  natürlich  auch  in  unseren 
politischen  Kreisen  im  Hinblick  darauf,  dass  in  den 
Trinksprüchen  jedes  Gedenken  des  dritten  Verbün- 
deten sorgsam  vermieden  wurde,  lebhaft  diskutirt. 
In  der  Presse  zeigt  sich  einiges  Unbehagen  darüber, 
von  manchen  Leuten  wird  der  Dreibund  wieder  ein- 
mal todtgesagt,  in  der  Bevölkerung  herrscht  die  Em- 
pfindung vor,  dass  in  unserem  Verhältnisse  zu  Ita- 
lien etwas  nicht  ganz  richtig  sei.  In  den  Regierungs- 
kreisen bezeugt  man  allerdings  eine  sehr  nüchterne 
Auffassung  der  Dinge. 

Vor  allem,  meint  man  in  diesen  Kreisen,  sei  es 
ganz  ausgeschlossen,  für  das  Unterbleiben  jeder  An- 
spielung darauf,  dass  zum  deutsch-italienischen  Bünd- 
nis noch  ein  Dritter  gehöre,  den  Kaiser  Wilhelm 
verantwortlich  zu  machen.  Man  hebt  ganz  im  Gegen- 
theil  anerkennend  hervor,  dass  Kaiser  Wilhelm  ge- 
legentlich der  Anwesenheit  des  Königs  von  Italien 
in  Berlin  förmlich  ein  Präcedenz  geschaffen  habe, 
indem  er  in  seinem  Trinkspruche  auch  des  dritten 
Verbündeten,  des  Kaisers  und  Königs  Franz  Joseph 
gedacht.  In  Italien  sei  er  nur  Gast  gewesen,  da  habe 
der  König  von  Italien  den  ersten  Trinkspruch  aus- 
gebracht, und  da  in  diesem  Oesterreich  -  Ungarns 
nicht  gedacht  wurde,  habe  auch  der  Kaiser  in  seiner 
Erwiderung    den    dritten    Alliierten    nicht    erwähnt. 


570 


Was  nun  Italien  anbelangt,  so  könne  man  bei  der 
unterlassenen  Anspielung  höchstens  von  einer  Ver- 
letzung der  Courtoisie  sprechen.  Man  glaube  hier 
nicht,  dass  am  italienischen  Hofe  irgend  eine  Rankün 
gegen  unsere  Monarchie  wegen  des  unterlassenen 
Kaiserbesuches  in  Rom  herrsche,  da  man  sehr  wohl 
wisse,  dass  die  eigenthümlichen  Verhältnisse,  die  den 
Kaiser  Franz  Joseph  seinerzeit  abgehalten  haben,  den 
Wiener  Besuch  des  Königs  Humbert  in  Rom  zu  er- 
erwiedern,  sehr  wohl  gewürdigt  werden.  Freilich 
werde  die  Sache  unserem  Monarchen  im  italienischen 
Volke  verübelt.  Oesterreich-Ungarn  sei  in  Italien 
nicht  populär,  und  man  nehme  in  Rom  sehr  Rück- 
sicht auf  populäre  Strömungen.  Das  Bündnis  unserer 
Monarchie  mit  Italien  werde  durch  diese  Angelegen- 
heit natürlich  in  keiner  Weise  berührt.  Die  poli- 
tischen Beziehungen  zwischen  den  beiden  Staaten 
seien  die  freundschaftlichsten  und  herzlichsten. 
Auch  Italien  lege  gerade  jetzt  sehr  grossen  Werth 
darauf,  ihnen  diesen  Charakter  zu  erhalten,  da  Ita- 
lien unserer  Monarchie  in  zwei  wichtigen  politischen 
Angelegenheiten,  in  der  Frage  des  Handelsvertrages 
und  bei  der  Lösung  der  albanesischen  Verwicke- 
lungen, sicher  geneigt  gestimmt  erhalten  möchte. 

Zur  Verbesserung  unseres  Verhältnisses  zu  Ita- 
lien kann  es  allerdings  nicht  beitragen,  dass  unsere 
Katholikentage  —  wie  neuestens  auch  wieder  der 
niederösterreichische  Katholikentag  —  regelmässig 
ihren  „Protest"  gegen  die  „fortdauernde  Beschrän- 
kung der  Freiheit  des  Heiligen  Vaters"  und  gegen 
die  „Entziehung  der  dem  Papste  zur  Ausübung  seines 
Amtes  notwendigen  territorialen  Souveränität"  er- 
neuern. Es  ist  begreiflich,  dass  immer  sich  wieder- 
holende Resolutionen  dieser  Art  in  Italien  böses 
Blut  machen.  Es  muss  indessen  hervorgehoben 
werden,  dass  unsere  politischen  Kreise  Kundgebungen 
dieser  Art  durchaus  nicht  billigen,  ja  höchst  unpas- 
send finden.  Es  hat  auch  den  Versammlungen  des 
Katholikentages  kein  Minister,  kein  Vertreter  einer 
Behörde,  überhaupt  keine  officielle  Persönlichkeit  bei- 
gewohnt. Herr  Dr.  Lueger  mag  über  deren  Abwesen- 
heit so  viele  ironische  Glossen  machen,    wie  er  will, 


571 


so  lange  sich  die  Katholikentage  unziemlicher  Kund- 
gebungen politischen  Charakters  nicht  enthalten,  wird 
auch  fernerhin  keine  officielle  Persönlichkeit  ihren 
Verhandlungen  beiwohnen." 

Aus  diesem  Berichte  können  doch  die  Regie- 
rungsmänner in  Wien  erkennen,  dass  Oesterreich  von 
seinen  2  Bundesgenossen  buchstäblich  verkauft  und 
verrathen  ist.  Wann  wird  in  Wien  die  Erkenntniss 
kommen,  dass  Oesterreich  nur  an  Russland  eine  feste 
Stütze  finden  kann?  Möge  man  in  Wien  mit  Russ- 
land definitiv  die  Balkanfrage  ordnen  und  dfe  Inter- 
essensphäre abgrenzen,  dann  wurde  für  Oesterreich 
eine  glänzende  Zeit  anbrechen.  Das  „Berl.  Tageblatt" 
bringt  noch  folgende  Berichte  aus  Rom  am  4.  und 
5.  Juni  1903.  Wir  reproducieren  dieselben  ohne 
Kommentar.  Es  fanden  bekanntlich  in  ganz  Italien 
Demonstrationen  statt  wegen  der  italienischen  Uni- 
versität in  Innsbruck,  in  welchen  Demonstrationen 
öffentlich  auf  den  Strassen  überall  „Abasso  Austria" 
gerufen  wurde.  Die  Berichte  sagen  Folgendes:  Die 
fortgesetzten  Demonstrationen  in  Italien  haben  hier, 
wie  ich  Ihnen  bereits  telegraphisch  berichtete,  eine 
tiefgehende  Verstimmung  hervorgerufen.  Man  scheint 
hier  geneigt,  diese  Demonstrationen  mit  dem  Wieder- 
aufleben des  italienischen  Irredentismus  in  Verbin- 
dung zu  bringen.  Dies  beweist  auch  der  gestrige 
Artikel  des  officiösen  „Fremdenblattes",  der  darauf 
hinweist,  dass  die  fortgesetzten  italienischen  Demon- 
strationen und  irredentistischen  Kundgebungen  bei 
der  Gegenströmung,  die  sie  in  Oesterreich  schlechter- 
dings hervorrufen  müssen,  zu  einer  Erschütterung 
unseres  Bündnisses  mit  dem  Königreich  führen  könnten. 

Was  den  Anlass  dieseri  talienischen  Kundgebungen 
anbelangt,  die  Vorgänge  in  Innsbruck,  so  habe  ich 
bereits  darauf  hingewiesen,  dass  die  bedauerlichen 
Begebenheiten  von  alldeutscher  Seite  ausgingen,  also 
sicherlich  nicht  in  das  Schuldbuch  der  Regierung 
gehören.  Eine  Wiederholung  der  Vorgänge  wird 
energisch  verhindert  werden.  Ebenso  habe  ich  Ihnen 
mitgetheilt,  dass  sich  die  massgebenden  Kreise  um 
die  Errichtung  einer  italienischen  Universität  in 
Triest  bemühen,  und  dort  werden,  wie  neuere  Erklä- 


572 

rungen  darthun,  jedenfalls  Anstalten  gegründet  werden, 
die  Hochschalcharakter  besitzen.  Es  ist  also  eigent- 
lich kein  Grund  vorhanden  zu  so  weitgehenden  De- 
monstrationen, wie  sie  in  Italien  stattfinden.  Man 
muss  dort  auch  mit  der  Eigentümlichkeit  unseres 
Staates  rechnen,  dass  in  Oesterreich  alles  langsam 
geht  Was  zur  Herbeiführung  so  heftiger  Demonstra- 
tionen in  Italien,  zu  einer  so  ausgesprochen  feind- 
seligen Bewegung  gegen  unsere  Monarchie  in  dem 
ganzen  Königreich  geführt  hat,  ist,  dass  sich  auch 
sonst  in  einer  ganzen  Reihe  wichtiger  politischer 
und  wirtschaftlicher  Fragen  tiefgehende  Differenzen 
zwischen  Oesterreich -Ungarn  und  Italien  zeigen.  In 
manchen  dieser  Fragen  erscheint  auch  die  italienische 
Empfindlichkeit  ernstlich  verletzt 

Die  aktuellste  Frage,  die  in  Italien  ernstliche 
Verstimmungen  hervorgerufen  hat,  ist  die  albanesische. 
Unsere  Monarchie  möchte  Albanien  der  Türkei  er- 
halten und  wird,  wenn  sich  dies  als  unmöglich  er- 
weisen sollte,  eine  albanesische  Autonomie  in  allem 
Ernste  unterstützen,  nur  bestrebt,  ihre  kommerziellen 
Interessen  in  diesem  Ländergebiete  zu  schützen.  Ir- 
gend eine  Okkupation  ist  nicht  geplant,  abgesehen 
von  dem  Landstreifen  über  Mitrowitza  hinaus,  der 
den  Schlüssel  zur  strategischen  Position  gegen  die 
unruhigen  Balkanvölker  bildet  Diese  Okkupation,  die 
uns  Kraft  des  Berliner  Vertrages  und  unserer  Separat- 
abmachung mit  der  Pforte  zusteht,  wird  aber  nur 
bei  anhaltenden  Wirren  in*  der  europäischen  Türkei 
und  in  dem  Falle  eintreten,  dass  von  Seiten  eines 
der  kleinen  Balkanstaaten  oder  von  anderer  Seite 
eine  Aktion  gegen  die  Pforte  unternommen  würde. 
Diese  strategische  Position  im  Falle  ernster  Ver- 
wickelungen einzunehmen,  zwingt  uns  unsere  Stel- 
lung in  Bosnien  und  der  Herzegowina.  In  Italien 
wäre  man  indessen  mit  dieser  Entwickelung  der 
Dinge  nicht  einverstanden.  Man  möchte  dort  gern 
eine  aktive  Politik  befolgen,  eventuell  eine  Aufthei- 
lung  Albaniens  vornehmen,  und  die  konservative  Po- 
litik unserer  Monarchie,  die  von  der  Festsetzung 
einer  Grossmacht  auf  der  Balkanhalbinsel  nichts 
wissen  will,  steht  diesen  Tendenzen  sehr  im  Wege. 


573 


Die  albanesische  Frage  könnte  noch  zu  ernsten  Miss- 
helligkeiten zwischen  Oesterreich-Ungarn  und  Italien 
Anlass  geben.  Unser  Abkommen  mit  Italien,  das 
auf  die  Erhaltung  des  Status  quo  in  dieser  Provinz 
abzielt,  scheint  da  nicht  mehr  ganz  auszureichen.  Es 
wird  durch  ein  anderes  Abkommen  ergänzt  werden 
müssen,  sobald  die  Entwickelung  der  Dinge  seine 
Unzulänglichkeit  erweist.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass 
man  sich  für  alle  Eventualitäten  einigte,  um  kein 
ernstes  Zerwürfnis  aufkommen  zu  lassen.  Durch  die 
Kündigung  des  italienischen  Handelsvertrags  und  die 
Gewissheit,  dass  die  Weinzollklausel  nicht  mehr  er- 
neuert werden  wird,  erscheinen  die  wirtschaftlichen 
Interessen  Italiens  ernstlich  angegriffen.  Wir  hätten 
uns  die  Kündigung  des  Vertrages  ersparen  könjien, 
denn  wie  die  Dinge  stehen,  werden  wir  mit  der  Ord- 
nung unserer  wirtschaftlichen  Fragen  bis  Ende 
des  Jahres  nicht  fertig  werden  können  und  werden  froh 
sein  müssen,  wenn  der  Vertrag,  wie  er  ist,  um  ein 
Jahr  verlängert  wird.  Es  ist  hier  überdies  be- 
kannt geworden,  dass  der  neue  italienische  Zolltarif, 
der  der  Vollendung  entgegengeht,  von  einer  weit- 
gehenden Revanchepolitik  gegen  Oesterreich-Ungarn 
für  den  Wegfall  der  Weinzollklausel  Zeugnis  ablegen 
wird.  Man  wird  es  wohl  auf  beiden  Seiten  an  Be- 
mühungen nicht  fehlen  lassen,  den  Frieden  und  das 
Einvernehmen  wiederherzustellen.  Aber  die  Vorberei- 
tungen dazu  sind  sehr  krieghafter  Art  und  das  Zu- 
standekommen des  neuen  Vertrages  wird  eine  sehr 
schwierige  Sache  bilden.  Eine  andere  Frage,  durch 
die  namentlich  die  nationale  Empfindlichkeit  in  Ita- 
lien gereizt  wurde,  ist  die  eines  Besuches  unseres 
Kaisers  in  Rom.  Der  Gegenbesuch  unseres  Monarchen 
nach  dem  seinerzeitigen  Besuche  des  Königs  Hum- 
bert in  Wien  ist  bekanntlich  unterblieben.  Wohl  war 
der  Kaiser  seither  in  Venedig,  doch  wurde  dies  nicht 
als  Erwiederung  des  italienischen  Höflichkeit  ange- 
sehen. Dem  Kaiser  Franz  Joseph  wäre  es  äusserst 
peinlich,  durch  einen  Besuch  des  italienischen  Königs- 
hauses in  Rom  den  Papst  irgendwie  verletzen  zu 
können.  Bisher  hat  sich  Leo  XIII.  auch  entschieden 
geweigert,  irgend  ein  katholisches  Staatsoberhaupt  zu 


574 


empfangen,  das  vorher  im  Quirinal  vorgesprochen. 
In  Italien  sieht  man  diese  römischen  Besuche  als 
eine  solenne  Anerkennung  der  Neuordnung  der  Dinge 
und  Roms  als  Hauptstadt  des  italienischen  König- 
reichs an,  und  man  wünscht  namentlich  Besuche  der 
katholischen  Staatsoberhäupter,  die  naturgemäss  in 
innigeren-  Beziehungen  zum  Papste  stehen.  Sicher 
ist,  dass  König  Viktor  Emanuel  III.  seinen  Antritts- 
besuch in  Wien  nicht  machen  wird,  bevor  er  sich 
nicht  vergewissert  hat,  dass  der  Besuch  in  Rom  er- 
wiedert  wird. 

In  Italien  schreibt  man  es  ferner  auch  in  das 
politische  Schuldbuch  Oesterreichs,  wenn  hier  katho- 
lische Vereinigungen  und  Versammlungen  für  die 
Wiederherstellung  der  weltpolitischen  Macht  des 
Papstes  Resolutionen  fassen,  obgleich  solches  auch 
in  allen  anderen  Staaten  geschieht.  Freilich  wendet 
man  ein,  der  Thronfolger  Franz  Ferdinand,  der  bei 
seinen  italienischen  Reisen  Rom  stets  aus  dem  Wege 
gehe,  sei  Protektor  mancher  katholischen  Vereini- 
gungen dieser  Art,  und  seine  Gemahlin,  Fürstin 
Hohenberg,  beehre  die  Versammlungen,  die  die  be- 
wussten  Resolutionen  fassen,  mit  ihrer  Gegenwart. 
Diese  Dinge  finden  auch  in  den  politischen  Kreisen 
unserer  Monarchie  nicht  durchaus  Billigung  und  man 
bedauert  jedenfalls,  dass  ihnen  in  Italien  eine  über- 
mässige Wichtigkeit  beigemessen  werde.  Die  Dy- 
nastie in  Oesterreich  ist  eben  streng  katholisch,  sie 
macht  aus  ihren  Gesinnungen  kein  Hehl  und  ist  auch 
bemüht,  ihrer  Verehrung  des  Papstes  durch  eine  leb- 
hafte Kundgebung  ihrer  Sympathien  Ausdruck  zu 
geben.  Aber  diese  Freundlichkeiten  für  den  Papst 
habe  unsere  Monarchie  nicht  gehindert,  eine  Allianz 
mit  Italien  abzuschliessen,  den  Italienern  ein  treuer 
Bundesgenosse  zu  sein  und  die  Allianz  zu  erneuern. 
Daran  könnten  die  Italiener  sich  genügen  lassen. 
Das  Entscheidende  sind  doch  nur  die  politischen  Akte. 
Und  die  Forderung  nach  Bezwingung  von  Gefühlen,  die 
mit  der  Politik  nichts  gemein  haben,  wird  hier  als 
unangebracht  empfunden.  Die  Resolutionen  der  Ka- 
tholikentage haben  übrigens  dem  Königreich.  Italien 
bisher  nicht  geschadet  und  dem  Papste  nicht  genützt. 


575 


Wie  sich  aus  alledem  ergibt,  herrschen  zwischen 
Oesterreich-Ungarn  und  Italien  viele  wichtige  und 
verstimmende  Differenzen.  Und  man  wird  sich  ernstlich 
mit  der  Frage  befassen  müssen,  ob  bei  solchen  Diffe- 
renzen die  Erhaltung  eines  politischen  Bündnisses 
noch  möglich  ist.  Diese  Frage  wird  ja  sogar  durch 
den  hochofficiösen  Arlikel  des  Wiener  „Fremden- 
blattes" auf  die  Tagesordnung  der  politischen  Diskus- 
sion gestellt.  Der  italienische  Botschafter  Graf  Nigra 
hat  angesichts  der  Unmöglichkeit,  die  zahlreichen 
Misshelligkeiten  zu  meistern,  seine  Demission  gegeben. 
Einige  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten 
sollten  sich  ein  bisschen  die  Köpfe  zerbrechen,  wie 
der  Stand  der  Dinge  zu  bessern  wäre." 

e)  Englands  Finanzmächt6. 

England  ist  die  Heimat  des  Kapitalismus.  Wäh- 
rend er  in  Europa  erst  im  Kindesalter  lebte,  hatte 
er  in  England  schon  das  Mannesalter  erreicht. 
Englands  Nationalvermögen  wird  nach  Giffen  auf 
250.000  Millionen  Mark  geschätzt.  Nach  Direktor 
Cooks  über  die  Statistik  der  Stock-Exchange  betrug 
das  eingezahlte  Kapital  der  kotierten  Werthe  an  der 
Börse  in  London  Ende  des  Jahres  1897  die  Summe 
von  7998-6  Millionen  Pfund  Sterling  (ungefähr  201.966 
Millionen  Kronen  öst.  Kronenwährung).  An  der  Börse 
in  London  sind  fremde  Werthe  Staatspapiere  3123-2 
Millionen  Lst.,  amerikanische  Eisenbahnen  972*2  Mil- 
lionen Lst.  und  andere  621*7  Millionen  Lst,  Hier 
haben  wir  wiederum  die  Internationalst  des  Ka- 
pitals illustriert.  Der  Geldbedarf  des  englischen 
Handels  und  der  Industrie  im  Jahre  1901  war 
9.561,169.000  Pfund  Sterling  (ungefähr  230.009  Mil- 
lionen Kronen).  England  hatte  im  Jahre  1902 : 

Staatsausgaben 251,980.546  Lst. 

Zinsen  für  die  Staatsschuld   .       .    .    21,685.532    „ 
Ausgabe  für  Heer  und  Flotte     .   .   .  123,572.000    „ 

Ende  März  1861  hatte  England  eine  Staatsschuld 
von  809,430.003  Lst.,  welche  eine  Verzinsung  von 
26,015.894  Lst.  erforderte.  Die  Staatsausgaben  Eng- 
lands im  Jahre  1862  waren  69,186.603  Lst.  Am 
24.  April   1903   theilte   Finanzminister   Ritchie    mit, 


576 


dass  die  Staatsschuld  Englands  770,778.000  Pfund 
Sterling  betrage.  Der  Krieg  in  Südafrika  und  China 
erforderte  217,000.000  Lst.  Die  englischen  Kolonien 
haben  folgende  Ausgaben: 

Indien  Civilverwaltung 233,870.000  Rup. 

Zinsen  der  Staatsschuld 31,940.500      „ 

Man  sieht,  wie  England  dieses  Land  ausraubt. 
Die  Kosten  der  Givilverwaltung  gehen  in  englische 
Taschen.  Nur  an  Grundsteuer  entrichten  die  armen 
Hindus  272,559.000  Rupien.  Die  Gesammteinnahmen 
Indiens  pro  1902  waren  1082,878.000  Rupien.  Die 
Staatsschuld  Indiens  war  223,843.244  Rupien.  Die 
Kapkolonie  hatte  im  Jahre  1902  eine  Ausgabe  von 
10,161.043  Lst  Die  öffentliche  Schuld  betrug 
1,429.231  Lst.  Kanada  hatte  eine  Ausgabe  von 
53,361.639  Doli.  Die  Staatsschuld  betrug  268,480.004 
Dollars,  der  Zins  14,149.056  Dollars.  Australien  hatte 
im  Jahre  1902  eine  Ausgabe  von  28,595.573  Lst.  Die 
Staatsschuld  beträgt  194,378.427  Lst. 

Da    die   Londoner  Börse   den   Mittelpunkt    aller 
Geldgeschäfte  in  der  ganzen   Welt  bildet,    kann  man 
sich  über  den  Umfang  der  Börsengeschäfte  in  London 
eine   ungefähre   Vorstellung  machen.    Von   hier    aus 
regiert     geheiranissvoll     die    Dynastie     Rothschilds 
die  Finanzoperationen    der  ganzen  Welt.    Hier  sind 
alle  Gelder   der  Finanzjuden  und  der  von  ihnen  ab- 
hängigen reicheren  Christen  deponiert.  Lord  Rothschild 
ist  mit  seinen  Trabanten  Erlanger,  Bernher,  Veit  und 
anderen   Finanzjuden    der  thatsächliche  Beherrscher 
der  Welt  Von  London  aus  werden  die  Finanzen  der 
Türkei,  Aegypten,  Südamerikas  und  anderer  Staaten 
geregelt   und  beherrscht    Der  Jude  Hirsch,  der  hier 
an    der  Börse  etabliert  war,   starb  hier.    Sein  Testa- 
mentsvollstreker  zahlte  1,200.000  Pfund  Sterling  Erb- 
lassteuer,   davon    kamen    700.000   Lst    auf    Grund- 
stücke und  500.000  Lst  auf  Legate.    Das   Vermögen 
des  Lord  Rothschild  ist  unkontrolirbar.  Bekannt  ist  es 
ja,  dass  König  Eduard  v.  England  an  ihn  verschuldet  ist. 

An  der  Börse  Londons  wurden  emittiert: 


Jahr 

Millionen  Lst 

1894 

91,835.000 

1895 

104,690.000 

577 


Jahr  Millionen  Lst.  ^ 

1896  152,807.000 

1897  157,289.000 

1898  149,228.000 
Vielleicht  an  keiner  Börse  der  Welt  werden  so 

viel  Schwindelpapiere  in  Umlauf  gesetzt  als  es  in 
London  geschieht.  Den  grössten  Record  in  dieser 
Art  Geldprellen  erreichte  der  Börsenspekulant  Whi- 
taker  Wrigh  (ein  polnischer  Jude)  mit  der  Gründung 
der  Gesellschaft  „London  arid  Globe  Corporation", 
worin  an  1000  Personen  um  rund  500  Millionen 
Kronen  öst.  Währung  betrogen  wurden. 

London  mit  seinem  Lombard  Street  ist  der 
Mittelpunkt  des  Kapitalismus,  hier  laufen  alle  seine 
Fäden  aus  der  ganzen  Welt  zusammen,  hier  depo- 
nieren ängstliche  Kapitalisten  ihr  Vermögen  in  die 
Kellereien  englischer  Bankinstitute.  England  ist  die 
grösste  Handelsmaotit.  Der  Gesammthandel  Gross- 
britanniens betrug  im  Jahre  1902:  16.247  Millionen 
Mark,  Deutschlands  10.247  Millionen-  Mark,  Nord- 
amerikas 9326  Millionen  Mark.  Die  Depositen  der 
englischen  Banken  Ende  1902  betrugen  823  Mi  11.  Lst., 
also  19.752  Millionen  Kronen  öst.  Währung.  London 
ist  der  wichtigste  Sitz  der  Dynastie  Rothschilds. 
Ehrenberg  jammert  über  die  Zukunft  der  Dynastie 
Rothschilds  folgendermassen : 

Das  Frankfurter  Stammhaus,  welches  schon  seit 
dem  Tode  des  Barons  Maier  Karl  (1887)  jede  Be- 
deutung verloren  hatte,  wurde  seitdem  von  dessen 
Bruder,  Baron  Willy,  geleitet.  Da  dieser  in  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  nicht  mehr  mit  den  Unter- 
schriften fertig  werden  konnte,  bestellte  er  Kollektiv- 
Prokuristen.  Das  war  aber  den  andern  Häusern  ein 
Dorn  im  Auge.  Als  Baron  Willy  starb,  trat  die 
Witwe,  wie  glaubwürdig  berichtet  wird,  für  Erhaltung 
des  Stammhauses  ein  und  machte  dafür  auch  den 
Einfluss  ihres  Bruders,  des  Barons  Albert,  Chef  des 
Wiener  Hauses,  mobil.  Doch  es  fand  sich  unter  den 
jüngeren  Rothschilds  niemand,  der  bereit  wäre,  in 
das  veraltete  Frankfurter  Haus  überzusiedeln,  und 
da  man  Fremde  dort  nicht  schalten  und  walten 
lassen  wollte,  beschloss  der  Familienrath,  das  altehr- 

87 


578 


würdige  Haus  zu  schliessen.  Aehnliches  mag  in  Wien 
bevorstehen,  wo  ebenfalls  mit  dem  Vater  des  jetzigen 
Inhabers  die  geschäftliche  Initiative  des  Rothschild- 
hauses und  damit  auch  dessen  Bedeutung  für  die 
Bankwelt  aufgehört  hat,  so  dass  es  jetzt  nur  noch 
mit  seinem  Namen  im  Gefolge  der  Oesterreichischen 
Kreditanstalt  glänzt.  Anders  steht  es  in  London  und 
Paris.  An  diesen  Plätzen  stehen  noch  starke  Persön- 
lichkeiten an  der  Spitze  der  Rothschild-Häuser.  In 
Paris  hat  zwar  ihr  Einfluss  durch  die  Konkurrenz 
des  mächtigen  „Cr6dit  Lyonnais"  abgenommen;  aber 
trotz  des  Verdrusses  über  den  französischen  Anti- 
semitismus denken  sie  offenbar  nicht  daran,  ihr 
Geschäft  aufzugeben.  In  London  vollends  ist  die 
Stellung  des  Lord  Nathanael  Rothschild  noch  immer 
eine  ausserordentlich  starke.  Aussereuropäische 
Staaten,  wie  Brasilien  und  Chile,  hängen  finanziell 
von  ihm  ab,  und  ihre  Regierungen  hören  auf  ihn 
auch  in  anderen  Fragen.  Im  Londoner  Kapitalmarkt 
spielt  „Swithins  Lane"  (wo  die  Geschäftsräumlich- 
keiten der  Firma  sich  befinden)  noch  eine  grosse 
RolJe,  und  die  City  beachtet  jeden  der  Winke,  welche 
der  Lord  den  vielen  Besuchern,  Maklern,  Agenten 
u.  s.  w.  ertheilt,  wenn  sie  alle  Morgen  in  unaufhör- 
lichem Zuge  an  seinem  Schreibtische  vorbeidefiiiren, 
nur  stehenbleibend,  falls  er  eine  Frage  oder  einen 
kurz  bemessenen  Auftrag  für  sie  hat.  Niemandem 
pflegt  er  sich  länger  als  zwei  Minuten  hintereinander 
zu  widmen.  Aber  auch  in  London  und  Paris  fehlt  es, 
soweit  man  hört,  an  einem  Nachwüchse,  der  im 
Stande  wäre,  die  Geschäfte  im  grossen  Stile  der 
Väter  fortzusetzen,  und  da  Fremde  grundsätzlich 
nicht  zugelassen  werden,  müsse  das  konsequent  fest- 
gehaltene Familienprincip  über  kurz  oder  lang  zum 
Aufhören  der  Rothschild-Häuser  führen.  Die  Londoner 
Börse  war  es,  welche  den  bestialischen  Ausrottungs- 
Krieg  gegen  die  Boeren  in  die  Scene  setzte.  Die 
Minenbesitzer  haben  nun  ihren  Raub  im  Sicheren. 
Die  Minenmagnaten  in  Transvaal  haben  Herrn 
Chamberlain  bei  seiner  Ankunft  in  Johannesburg 
einen  Bericht  überreicht,  der  sich  mit  10  Minen- 
gruppen   und    120   Minengesellschaften    beschäftigt. 


579 


Das  Nominalkapital  beträgt  57,363.442  Lst,  davon 
sind  53,750.230  Lst.  ausgegeben;  der  Marktwert  stellte 
sich  am  31.  Dezember  1902  auf  174,326.342  Lst. 
80%  des  Kapitals  ist  von  England  investiert,  die 
restlichen  20%  vertheilen  sich  auf  Deutschland  und 
Frankreich.  Bezüglich  der  Witwatersrand-Goldfelder 
bemerkt  der  Bericht,  dass  die  Gentralsektion  des 
^Randes"  in  einer  Länge  von  12!/4  Meilen  76%  der 
gesammten  Goldproduktion  liefert,  goldhaltige  For- 
mationen aber  auf  308  Meilen  nachgewiesen«  sind. 
Das  Reef  sei  an  einzelnen  Stellen  nur  wenige  Zoll 
breit  und  an  anderen  bis  zu  15  und  20  Fuss,  die 
Tiefe  desselben  variire  zwischen  100  und  2500  Fuss, 
In  den  Anfängen  der  Minenindustrie  geschah  die 
Extraktion  mittels  Amalgamationsprocesses ;  dadurch 
wurden  aber  nur  50—60%  gewonnen,  während  heute 
eine  gut  eingerichtete  Mine  85 — 90%  des  Goldes  aus 
den  Erzen  extrahiert.  Jede  aufgestellte  Stampe  ver- 
ursacht durchschnittlich  5000  Lst.  Unkosten,  theils 
für  Entwickelung  der  Mine,  theils  für  Aufstellung 
der  nöthigen  Maschinen;  da  die  den  Minengruppen 
angehörenden  Gesellschaften  etwa  6000  Pochstampfen 
errichtet  haben,  so  hatten  diese  bereits  30,000.000  Lst. 
Auslagen,  darin  ist  die  grosse  Zahl  der  nicht  produ- 
cierenden  Minen  nicht  berücksichtigt  worden.  Die 
Totalgoldausbeute  von  1884  bis  Ende  1889  hatte 
einen  Werth  von  94,855.086  Lst.,  hiervon  entfallen 
83,185.894  Lst.  oder  87»/*%  auf  die  Main  Reef  Minen. 
Bezüglich  der  Arbeiterfrage  bemerkt  der  Bericht*  dass 
das  Zusammenarbeiten  von  weissen  und  schwarzen 
Arbeitern  bisher  ein  unbefriedigendes  Resultat  ge- 
zeitigt hat.  Was  mechanische  Kraftleistungen  anbe- 
lange, so  sei  der  Schwarze  dem  Europäer  gleich- 
werthig;  wo  besonderes  Geschick  in  Frage  komme, 
der  Europäer  überlegen.  Vom  ökonomischen  Stand- 
punkt sei  es  aber  ausgeschlossen,  für  ganz  mecha- 
nische Arbeiten  die  Heranziehung  eines  Europäers 
in  Erwägung  zu  ziehen,  der  10  bis  20  sh.  pro  Tag 
koste  gegen  2—3  sh.,  die  der  Eingeborene  erhalte. 
Angenommen,  weisse  Arbeiter  erhielten  nur  12  sh. 
pro  Tag  (dagegen  die  Eingeborenen  21/*  sh.  und  Be- 
köstigung)  und   leisteten    das   Doppelte   der  Einge- 

87* 


580 


borenen  (was  aber,  wie  erwähnt,  nicht  der  Fall  ist), 
so  würde  das  die  Kosten  pro  verpochte  Tonne  Erz 
um  ca.  10  sh.  1  d.  erhöhen;  das  hätte  zur  Folge, 
dass  50%  der  Minen  nichts  verdienen  würden,  und 
der  Rest  die  Dividenden  um  44%  einschränken 
müsste.  Im  Jahre  1899  waren  auf  den  Transvaaler 
Gold-  und  Kohlenminen  etwa  100.000  Eingeborene 
beschäftigt,  Ende  November  letzten  Jahres  aber  nur 
48.000,  so  dass,  um  dieselben  Verhältnisse  wie  vor 
dem  Kriege  herbeizuführen,  weitere  52.000  Einge- 
borene eingestellt  werben  müssten. 

Das  Haupt  dieser  Minenraubritter  ist   der  Jude 
Beit  Am  10.  Januar  1903  brachte  die  „N.  Fr.  Presse" 
diese   Notiz:    (Ein   bewegter   Tag   in   London.)    Der 
Londoner  Minenmarkt  war  heute  heftig  bewegt  und 
wurde   durch  starke  Verkäufe  gedrückt,   welche   aus 
Johannesburg  ihren   Ursprung   nahmen.   Als    Grund 
der  Verkäufe  wurden  Gerüchte  über  die  Ermordung 
Chamberlain's    angeführt,   welche  jedoch    sofort   als 
vollständig    unbegründet    erklärt    wurden.     Dagegen 
haben  sich  die  Meldungen   über   eine   schwere   Er- 
krankung Alfred  Beit's  als  richtig  erwiesen.  Es  wurde 
anfangs   gemeldet,    dass   Alfred   Beit   in   Süd-Afrika 
einen  Schlaganfall  erlitten  habe  und  im  Sterben  liege. 
In  einer  Erklärung  der  Firma  Wernher  Beit  &  Comp., 
deren  Chef  Alfred  Beit  ist,  wurde  zwar  diese  Meldung 
nicht  bestätigt,  jedoch  zugegeben,  dass  Beit  in  Afrika 
schwerkrank  daniederliege.  Diese  Erkrankung  hat  den 
Ausgangspunkt  für  die  grossen  Verkäufe  aus  Johannes- 
burg gebildet.  Alfred  Beit,  der  aus  Hamburg  stammt, 
ist  im  Vereine   mit   dem  verstorbenen  Gecil  Rhodes 
einer  der  Begründer  der  grossen  Diamanten-Industrie 
in  Kimberley.  Er  war  auch  einer  der  Ersten,   welche 
den    grossen  Goldreich thum   des  Rand   erkannt    und 
zur    Gründung    von     Minengesellschaften    exploitirt 
haben.  Sein  Haus  ist  die  erste  Minenfirma  in  Johannes- 
burg und  London.    Er  gehört  auch  zu  den  Gründern 
der   grosseh  Randmines-Gruppe.  Eine   wichtige    und 
nicht   einwandfreie  Rolle   hat  Alfred  Beit   bei    dem 
Einfalle    Jamenson's    ins   Transvaal    im   Jahre    1895 
gespielt.   HiAÄAr   Einfall   hat   den   ersten  Anstoss    zu 
dem  w  folgten   grossen  Kriege  zwischen 


581 


England  und  der  Transvaal-Republik  gegeben,  und 
der  Einfluss  Beit's  war  damals  sehr  mächtig.  Alfred 
Beit  wurde  auch  in  der  Kommission,  welche  vorn 
englischen  Parlament  zur  Untersuchung  dieses  Ein- 
falles eingesetzt  worden  war,  einvernommen.  In  der 
jüngsten  Zeit  hatte  Beit  einen  sensationellen  Ehren- 
beleidigungs-Process  mit  einem  Mitgliede  des  engli- 
schen Parlaments.  Der  Process  wurde  aber  durch 
eine-  Ehrenerklärung  -des-  erwähnten  Abgeordneten 
gütlich  beigelegt.  Alfred  Beit  ist  auch  einer  der  reich- 
sten Menschen  Englands,  und  sein  Vermögen  wird 
nach  vielen  Millionen  Pfund  geschätzt.  Seine  Er- 
krankung ist  jedenfalls  ein  wichtiges  Ereigniss  für 
den  Londoner  Markt  und  hat  auch  heute  den  Aus- 
gangspunkt einer  grösseren  Bewegung  gebildet.  — 
Aus  London  wird  uns  telegraphirt ;  Dies  war  ein 
Tag  sensationeller  Börsengerüchte,  die  sich  nach 
fester  Eröffnung  an  die  umfangreichen  Verkaufsördreä 
aus  Johannesburg  knüpften.  Es  hiess  eine  Zeitlang, 
Chamberlain  sei  ermordet,  und  Zeitungsplakate  ver- 
breiteten das  Gerücht  als  solches  in  der  Stadt,  bevor 
es  dementirt  werden  konnte.  Ganz  .ernst  genommein 
wurde  es  nicht,  aber  es  verfehlte  nicht,  im  Minen- 
markte besonders  zu  deprimiren.  Dann  hiess  .es, 
Alfred  Beit  habe  in  Süd-Afrika  einen  Schlaganfal! 
erlitten  und  liege  im  Sterben.  Spätere  authentische 
Erklärungen  seiner  Firma  brachten  einige  Beruhigung, 
aber  es  wurde  bestätigt,  dass  er  schwerkrank  danieder: 
liege,  und  auf  seine  Erkrankung  erfolgten  jene 
Johannesburger  Verkäufe.  Sein  Tod  oder  selbst  seine 
Arbeitsunfähigkeit  wäre  ein  wuchtiger  Schlag  für  die 
Minen-Industrie,  wenn  auch  wie  im  Falle  von  Rhodes 
solche  Eventualitäten  vorgesehen  sind. 

f)  Busslands  Finanzlage. 

Ende  September  brachten  Börsenblätter  folgende 
Darstellung  der  Finanzlage  Russlands.  Am  1.  Januar 
1887  übernahm  die  Staatsfinanzen  Minister  Wischne- 
gradsky,  ihm  folgte  Witte.  Mit  den  Ministern  ander-: 
ten  sich  auch  die  Verhältnisse.  Die  Pariser  Börse 
öffnete  sich  dem  Garen,  in  dem  die  Franzosen  den 
Besieger  der  Türkei  und  den  Beherrscher  des  Balkans, 


682 


vor  allem  aber  wohl  den  Förderer  ihrer  Revanche- 
gedanken sahen,  und  1888  wurde  in  Frankreich  die 
erste  grosse  russische  Konversionsanleihe  im  Betrage 
von  500  Millionen  Francs  aufgenommen.  Seitdem 
entwickelte  sich  die  russische  Anleihewirthschaft  fol- 
gendermassen : 

Neu  aufgelegt  wurden  rassische 
Staatsanleihen  im  ganzen 

im  Jahre  1888 5457  Mill.  Fr. 

»        .      1889 2.159-3     „       „ 

9       i»      !890 947-9     „       „ 

1       n      1891 871-2     „       „ 

»       „      1892 202-8     „       „ 

n       »      1893 508-2     „       „ 

„  „  1894  bis  Ende  1898  7.528-2  „  „ 
d.  h.  in  10  Jahren  12.763-4  Mill.  Fr. 
während  1899  die  gesammte  russische  Staatsschuld 
16.494-3  Millionen  Francs  betrug.  Durchschnittlich 
wurden  jedes  Jahr  1*27  Milliarden  Francs  neue  Schul- 
den aufgenommen.  Gegenwärtig  zahlt  die  russische 
Regierung  an  Zinsen  für  all  ihre  Anleihen  742  ya 
Mill.  Francs  jährlich,  d.  b.  fast  ein  Drittel  des  ge- 
sammten  Staatsbudgets.  Die  immensen  Anleihen  hatten 
zuerst  die  Wirkung,  dass  der  russische  Rubel  im 
Kurse  zu  steigen  begann  und  seit  1896  sich  auf  dem 
Niveau  von  2-16  Mark  hielt.  Das  wirkte  wiederum 
günstig  auf  die  Hebung  des  Kredits  der  Regierung 
in  Russland  selbst,  derart,  dass  sie  1894  zur  Kon- 
version ihrer  inneren  Anleihen  schreiten  konnte.  Bis 
dahin  cirkulirten  ausschliesslich  Schuldscheine  und 
nur  wenig  Silber,  jetzt  wurde  die  sogenannte  Gold- 
währung eingeführt  und  trotz  aller  Skepsis  eine 
völlige  Golddeckung  erreicht.  Wie  war  dies  möglich? 
Vor  allem  dadurch,  dass  das  angekaufte  und  geliehene 
ausländische  Gold  in  die  landläufige  Münze  umgeprägt, 
der  gesammte  Vorrath  im  nominellen  Werthe  erhöht 
wurde,  und  zwar  so,  dass  man  zwei  Halbimperiale 
als  drei,  d.  h.  66V3  Kopeken  als  einen  Rubel  cirku- 
liren  Hess.  Die  Erhöhung  des  nominellen  Werthes 
der  Goldmünze  ermöglichte,  die  Kreditbillete,  die 
auch  ohnedem  im  Ueberfluss  vorhanden  waren,  aus- 
zutilgen. Gegen  Ende  1897  waren  im  Schatzamte  und 


583 


in  der  Reichsbank  3550  >/a  Millionen  in  Gold  vor- 
handen, während  Kreditbillete  nur  im  Betrage  von 
5211  Millionen  Francs  cirkulirten.  Die  Lage  schien 
äusserst  solid  zu  sein.  In  Deutschland,  Frankreich, 
sogar  in  England,  ist  das  Verhältniss  zwischen  dem 
Goldvorrath  und  den  cirkulirenden  Kreditbilleten 
weniger  günstig.  Allein  mit  der  Einführung  der  Gold- 
valuta begann  sofort  das  Gold  aus  der  Reichsbank 
zu  verschwinden.  Seit  1897  wurden  für  906-3  Mill. 
Francs  Kreditbillete  vernichtet,  während  das  Gold 
im  Betrage  von  1620  Millionen  aus  der  Reichsbank 
abfloss.  Der  Goldvorrath  betrug  insgesammt  gegen 
den  16.  Januar  1901  um  459  Millionen  Francs  we- 
niger als  im  Herbst  1892,  während  der  fürchterlich- 
sten Hungersnoth.  Inzwischen  fliesst  das  Gold  in 
Massen  nach  dem  Auslande,  so  dass  sogar  Finanz- 
minister Witte  in  seinem  letzten  Immediatberichte, 
in  dem  für  1901,  es  „als  eine  ungünstige  Thatsache 
erklärt,  die  die  ernsteste  Aufmerksamkeit  verdient". 
Zwar  erklärt  der  Finanzminister  diese  unliebsame 
Erscheinung  durch  die  allgemeinen  Bedingungen  des 
gegenwärtigen  Goldmarktes,  allein  er  übersieht  ge- 
flissentlich und  verschweigt  dabei  eine  für  die  Finanz- 
lage Russlands  äusserst  charakteristische  Thatsache. 
Während  nämlich  in  anderen  Staaten  der  Zunahme 
des  cirkulirenden  Goldes  eine  verhältnissmässige  Zu- 
nahme der  cirkulirenden  Banknoten  entspricht,  was 
selbstverständlich  sein  sollte,  wenn  der  allgemeine 
Geldbedarf  zunimmt,  findet  in  Russland  das  Gegen- 
theil  statt  —  das  Gold  verschwindet,  während  die 
Kreditpapiere  in  die  Reichsbank  zurückkehren.  Ob- 
wohl  die  Zahl  der  Kreditpapiere  gegen  früher  ver- 
mindert wurde,  häufen  sie  sich  in  der  Reichsbank 
mehr  als  je  an. 

Das  Ziel  der  Geldreform  war  —  die  Girkulation 
der  Kreditbillete  nach  dem  festgestellten  Kurse  zu 
sichern;  es  ergibt  sich  indess,  dass  die  Auswechs- 
lung in  Gold  überhaupt  die  Kreditpapiere  aus  der 
Girkulation  verdrängt.  Die  Bank  freilich  sucht  äie 
Papiere  wieder  in  Umlauf  zu  bringen,  sie  kehfen 
aber  in  Gold  ausgewechselt  zurück  —  im  Verkehr 
nimmt  die  Quantität  des  Goldes  zu,  in  der  Bank  aber 


584 


ab.  Die  Regierung  rechnete  darauf,  dass  in  Russland 
wie  auch  in  anderen  Ländern  ein  bestimmtes  Ver- 
hältniss  zwischen  der  Goldquantität  und  der  der 
Kreditpapiere  in  der  Girkulation  sich  einstellen  würde 
und  dass  ein  Goldvorrath  nur  dazu  dienen  würde, 
um  die  zeitweisen  Abweichungen  von  der  Norm  zu 
begleichen.  In  Russland  aber  findet  thaisächlich  der 
entgegengesetzte  Effekt  statt  Wird  dieser  Process 
nicht  aufgehalten,  muss  das  Gold  aus  der  Bank  voll- 
ständig verschwinden.  Die  Aufnahme  von  neuen 
Schulden,  die  Russland  in  ungeheure  Verpflichtungen 
stürzte,  wurde  vorläufig  in  keiner  Weise  durch  die 
Erzeugung  oder  Entdeckung  neuer  Einnahmequellen 
kompensirt.  Die  russische  Industrie  kann  nur  durch 
Staatsunterstützung  über  Wasser  gehalten  werden. 
Der  unübertreffliche  Spürsinn  des  russischen  Fiskus, 
der  jede  Produktivthätigkeit,  die  sich  im  Lande  kaum 
regt,  auszunutzen  sucht  und  so  die  Tabak-,  Zucker- 
und Petroleumindustrie  in  steigendem  Tempo  mit 
Steuern  belegt,  ist  bei  weitem  nicht  imstande,  die 
versiegenden  Steuerquellen  durch  andere  zu  ersetzen, 
ganz  abgesehen  davon,  dass  mit  der  fortschreitenden 
Verelendung  des  Bauernthums  gerade  die  am  meisten 
ausgenutzten  Einnahmequellen  versagen,  wie  das 
Branntweinmonopol  u.  s.  w.  Obwohl  z.  B.  die  Produk- 
tion an  Branntwein  gegen  den  1.  Dezember  1900 
nur  um  1  Million  Eimer  höher  war  als  im  voran- 
gehenden Jahre,  betrugen  die  Spiritusvorräthe  doch 
um  7  Millionen  Eimer  mehr,  da  der  Branntwein- 
verkauf wegen  der  chronischen  Hungersnöthe  immer 
mehr  in  Stockung  geräth.  Dabei  ist  aber  das  Brannt- 
weinmonopol auch  jetzt  noch  die  wichtigste  Ein- 
nahmequelle des  Staates.  Die  Eisenbahnwirthschaft, 
auf  die  man  in  Russland  so  viel  Hoffnungen,  setzte, 
bildet  vorläufig  nicht  nur  keinen  Ersatz,  benöthigt 
vielmehr  selbst  noch  bedeutende  Zuschüsse.  Dem- 
gemäss  erscheint  die  Frage  nach  neuen  Anleihen 
immer  brennender  und  brennender.  Ohne  solche  ist 
das  Schatzamt  gezwungen,  das  wenig  vorräthige  Gold 
aus  der  Hand  zu  geben,  statt  immer  mehr  auf  die 
Füllung  der  Reichskassen  bedacht  sein  zu  können. 
Ferner  erher  '        ""      ^nehmenden  Verpflichtungen 


585 


den  anderen  Staaten  gegenüber  neue  Aufnahmen. 
Jahrein,  jahraus  bleiben  ferner  die  aufgestellten  Be- 
stimmungen des  regelmässigen  Budgets  unerfüllt,  die 
umsomehr  gedeckt  werden  müssen,  da  sie  sich  von 
vornherein  auf  die  primitivsten  Bedürfnisse  des 
Staates  beschränken. 

Von  dem  Erfolge  der  Anleiheversuche  hängt  auch 
die  Zukunft  des  sibirischen  Eisenbahnbaues  ab.  Zur 
Zeit  gibt  es  für  die  Weiterführung  dieser  Bahn  über-? 
haupt  kein  Geld  mehr.  Statt  der  189  Millionen,  die 
zu  diesem  Zwecke  im  vorigen  Jahre  bestimmt  waren, 
konnten  trotz  der  steigenden  Anforderungen  nur  27 
Millionen  ausgeworfen  werden.  Im  letzten  Immediat- 
berichte  berechnete  ferner  Finanzminister  Witte  die 
Kriegskosten,  die  durch  die  Ereignisse  in  China  bereits 
hervorgerufen  waren,  mit  167*4  Millionen,  für  die 
sonst  auch  keine  Deckung  absehbar  ist.  Endlich  for- 
dern ausserordentliche,  mit  den  vorhandenen  Staats- 
mitteln nicht  zu  bestreitende  Ausgaben  die  schreck- 
lichen Hungersnöthe,  die  in  17  Gouvernements  aus- 
gebrochen sind  und  die  nach  der  officiellen  Erklärung 
der  Regierung  das  schreckliche  Jahr  1891—92  noch 
zu  übertreffen  drohen.  Diese  officiellen  Erklärungen 
fallen  zusammen  mit  dem  Garenbesuche  in  Frank- 
reich! Das  Reichsbudget  für  1902  weist  folgende 
Zahlen  auf:  An  Einnahmen  sind  bei  den  ordentlichen 
1.800,784.482  Rbl  ,bei  den  ausserordentlichen  1,800.000 
Rbl.  angesetzt.  Aus  den  freien  Baarmitteln.  der  Reichs- 
rente betragen  die  Einnahmen  143,587.494  Rbl.  Die 
Gesammtsumme  der  Einnahmen  ist  auf  1.946,571.976 
Rbl.  veranschlagt.  Bei  den  Staatsausgaben  betragen 
die  ordentlichen  1.775,913.481  Rbl.  und  die  ausser- 
ordentlichen 170,658.495  Rbl.,  zusammen  1.946,571.976 
Rbl.  Bei  den  ordentlichen  Ausgaben  entfallen  auf 
Zahlung  für  Anleihen  286,459.713  Rbl.,  auf  den  Etat 
der  obersten  Reichsbehörden  3,080.667  Rbl.,  den  hei- 
ligen Synod  27,954.151  Rubel,  das  Hofministerium 
16,715.243  Rbl.,  das  Auswärtige  Amt  5,867  350  Rbl., 
das  Kriegsministerium  322,638.537  Rbl.,  das  Marine- 
ministerium 98,318.984  Rbl.,  das  Finanzministerium 
335,198.430  Rbl.,  auf  Landwirtschaft  und  Domänen 
43,242.831  Rbl.,    Inneres  93,387.205  Rbl.,  Unterricht 


586 


36,624.312  Rbl.,  Verkehr  435,547.758  Rbl.,  Justiz 
47,392.498  Rbl.,  Reichskontrole  7,638.860  Rbl.  An  Ein- 
nahmen erwartet  man:  Direkte  Steuern  130,493.826 
Rbl.,  indirekte  Steuern  387,127.600  Rbl.,  Gebühren 
91,999.061  Rbl.,  Staatsregalien  521,724.000  Rbl.,  Staats- 
besitzthum  an  Kapitalien  508,414.998  Rbl.,  Ablösungs- 
zahlungen 86,431.000  Rbl.,  Ersatz  von  Ausgaben  der 
Reichsrentei  67,529.847  Rbl.  und  Diverses  6,296.158 
Rbl.  Der  Ueberschuss  der  ordentlichen  Einnahmen 
über  die  ordentlichen  Ausgaben  beträgt  24,871.001  Rbl. 
Der  russische  Staatshaushalt  für  1903  lautet: 
Staatseinnahmen : 

ordentliche 1.897,032.678  Rbl. 

ausserordentliche .         2,500.000     „ 

1.899,532.678  Rbl. 
Aus  dem  Barbestande  der  Reichs- 
rentei  . .     172,134.794     „ 

2.071,667.472  Rbl. 
Staatsausgaben : 

ordentliche 1.880,405.229  Rbl. 

ausserordentliche .     191,262.243     „ 

2.071,667.472  Rbl. 
Die  Einnahmen  werden  in  folgender  Weise  ver- 
anschlagt :  Direkte  Steuern  132,051.949,  indirekte 
Steuern  405,994.300,  Gebühren  98,169.223,  Staatsrega- 
lien 562,284.800,  Staatsbesitzthum  und  Kapitalien 
523,406.347,  Veräusserung  von  Staatsbesitzthum 
531.953,  Ablösungszahlungen  89,162.600,  Ersatz  von 
Ausgaben  der  Reichsrentei  79,085.049,  Diverse  6,346.457 
Rubel.  Von  den  ordentlichen  Ausgaben  entfallen  auf 
Zahlungen  für  die  Staatsschuld  290,966.336,  auf  die 
obersten  Behörden  3,210.449,  auf  das  Budget  des 
heiligen  Synods  28,388.049,  des  Hofministeriums 
15,808.652,  des  Ministeriums  des  Auswärtigen  5,742.048, 
des  Krieges  329,923.806,  der  Marine  115,631.241,  der 
Finanzen  369,410  068,  der  Landwirtschaft  und  Do- 
mänen 49,085.335,  des  Innern  99,717.098,  des  Unter- 
richts 39,214.985,  des  Verkehrs  458,469.935,  der  Justiz 
49,384  341,  auf  die  Reichskontrole  8,382.592,  das  Ge- 
stütwesen 2,070.294  und  im  Falle  von  Preissteige- 
rungen r~  " — -nt   und  Fourage   3,000.000  Rubel. 


587 


Die  in  den  Voranschlägen  nicht  vorhergesehenen  Aus- 
gaben für  besondere,  im  Laufe  des  Jahres  auftretende 
Bedürfnisse  belaufen  sich  auf  12,000.000  Rubel.  Die 
ausserordentlichen  Einnahmen  weisen  folgende  Ziffern 
auf :  Ewige  Einlage  bei  der  Reichsbank  2,500.000,  aus 
freiem  Barbestande  der  Reichsrentei  172,134.794, 
ausserordentliche  Ausgaben  zur  Einlösung  der  472% 
Obligationen  der  Moskau-Jaroslawbahn  2,458.300,  Bau 
der  Sibirischen  Bahn  20,921.023,  für  Hilfsunterneh- 
mungen der  Sibirischen  Bahn  3,418.340,  für  den  Bau 
anderer  Bahnen  145,194.580,  für  Darlehen  an  Privat- 
gesellschaften zum  Eisenbahnbau  9,270.000,  zur  Ent- 
schädigung von  Privatpersonen  und  Institutionen  für 
die  Aufhebung  der  Branntweinbrenh-Gerechtigkeit 
10,000.000  Rubel.  Die  Totalsummen  der  Einnahmen 
und  der  Ausgaben  balanciren  mit  2.071,667.472  Rubeln. 

Nach  Raffallowich  beträgt  das  Nominalkapital  der 
russischen  Werthpapiere  32.046  Millionen  Francs. 
Fremdes  Kapital  ist  ohne  die  Bahnen  zu  rechnen  in 
Russland  für  2075  Millionen  Rubel  investirt,  davon 
sind  834  Millionen  Rubel  aus  Belgien,  692  Frank- 
reich, 261  England,  235  Deutschland,  18  Holland  und 
je  11  Millionen  Rubel  aus  Oest erreich  und  Nord- 
amerika. 

Alfred  Neymarck  konstatirt,  dass  die  blos  in  Paris 
von  1884—1898  zur  Abstempelung  gebrachten  russi- 
schen Papiere  einen  Kapitalswerth  von  Nominale  Frcs. 
5.821,981.009  ergaben  und  berechnet  weiters,  dass 
von  jenen  20  bis  25  Milliarden  Francs  ausländischer 
Effekten,  welche  in  Frankreich  sichere  Unterkunft 
gefunden  haben,  mindestens  30%  russische  Titrcs 
sind,  der  Antheil  derselben  an  dem  Gesammtbestand 
des  Effektenbesitzes  Frankreichs  per  80  bis  85  Milli- 
arden Franks  aber  10%  ausmacht. 

Die  Staatsschuld  Russlands  bezifferte  sich  Ende 
1902  auf  6.473,754.151  Rubel.  Die  Zinsen  pro  1902 
betrugen  258,816.418  Rubel.  Finanz  minister  Witte 
besorgt  die  russischen  Staatsanleihen  ausschliesslich 
bei  Finanzjuden.  „Berliner  Tageblatt"  brachte  Ende 
November  1901  folgende  Notiz:  (Ein  Geschenk  des 
Garen  für  Herrn  Arthur  Fischöl),  den  in  Finanzkrei- 
sen bekannten  Prokuristen  des  Bankhauses  Mendels- 


588 


söhn  u.  Co.  in  Berlin,  wird,  wie  man  dem  „Berl. 
Loc.-Anz.u  aus  Petersburg  telegraphirt,  abgesandt. 
Dasselbe  besteht  aus  einem  Kunstwerke  aus  Edelge- 
stein  vom  Ural,  welches  als  Zeichen  kaiserlichen 
Wohlwollens  für  Herrn  Fischel  auf  einen  Bericht  des 
Finanzministers  v.  Witte  überreicht  werden  wird. 
Bekanntlich  ist  das  Bankhaus  Mendelssohn  u.  Co. 
der  Berliner  Banquier  der  russischen.Regierung«  Herr 
Fischel  war,  bevor  er  nach  Berlin  übersiedelte,  Direk- 
torstellvertreter der  Oesterreichischen  Kreditanstalt. 
Im  Jahrgang  1902  der  Preussischen  Jahrbücher 
wird  das  „Finanzsystem  Witte"  in  einem  Artikel  von 
Paul  Rohrbach  einer  sehr  scharfen  Kritik  unterzogen, 
die  sich  zum  Theil  auf  Arbeiten  des  erst  jüngst  wieder 
von  uns  genannten  russischen  Nationalökonomen  Scha- 
rapar  und  auf  solche  des  ebenfalls  in  der  russischen 
Nationalökonomie  bekannten  Butau  stützt.  Die  Aus- 
führungen in  den  Preussischen  Jahrbüchern  gipfeln 
in  dem  Satze,  dass  es  „diesem  Finanzminister  gegen- 
über unter  dem  Gesichtspunkte  der.  deutschen  Inter- 
essen keine  andere  Parole  mehr  geben  darf  als  keinen 
Pfennig  weiter".  Zur  Begründung  dieses  Standpunktes 
wird  unter  anderem  Folgendes  ausgeführt :  Wenn 
Herr  Witte  in  seinen  Berichten  an  den  Garen  das 
Gedeihen  des  Landes  aus  dem  grossen  Anwachsen 
der  Staatseinkünfte  beweisen  will,  so  sei  darauf  zu 
erwidern,  dass  sich  ein  wesentlich  anderes  Bild 
ergiebt,  wenn  der  Ertrag  des  immer  weiter  ausge- 
dehnten Staatsbahnnetzes,  die  Einnahmen  aus  dem 
Alkohol  und  die  Forst-,  Zoll-  und  Münzeinkünfte,  die 
für  die  Leistungsfähigkeit  des  Landes  keinen  Maßstab 
bilden,  in  die  Staatseinnahmen  nicht  mit  eingerechnet 
werden.  Schaltet  man  diese  Summen  aus  dem  Betrage 
der  Staatseinnahmen  aus,  so  ergeben  sich  die  Ziffern, 
auf  Grund  deren  man  in  der  Lage  ist,  annähernd 
über  Zu-  und  Abnahme  der  wirtschaftlichen  Kräfte 
des  Volkes  zu  urtheilen :  4161/,  Millionen  Rubel  für 
1899  und  635 ■/,  Millionen  Rubel  für  1902.  Bringt 
man  hierzu  die  Vermehrung  der  Bevölkerung  von 
1889 — 1902  in  Anschlag  (in  Russland  erfahrungsge- 
mäss  1 V*  pGL  jährlich),  so  ergibt  sich,  dass  auf  den 
Kopf  der  n-    ""       ~*%  Gesammtrusslands  an  Leistung 


589 


entfielen  im  Jahre  1889  3  Rubel  61  Kop.,  1902  :  4  Ru- 
bel 60  Kop.,  was  einen  Unterschied  von  99  Kopj 
oder  22*8  pCt.  zu  Gunsten  des  Jahres  1902  mächt 
Wollte  man  aber  aus  diesem  Mehr  auf  ein  Wachsthum 
des  Volkswohlstandes  um  22*8  pCt.  schliessen,  so 
würde  sich  dieser  Schluss  als  fehlerhaft  erweisen, 
sobald  wir  berücksichtigen,  dass  es  nicht  durch  eine 
entsprechende  Vermehrung  des  Konsums  der  besteuer- 
ten Gegenstände  entstanden  ist,  wie  der  Bericht  des 
Finanzministers  behauptet,  sondern  dass  eine  Erhö- 
hung der  Besteuerung  in  sehr  viel  höherem  Masse  als 
um  jene  22*8  pCt.  stattgefunden  hat.  Die  Akcise  auf 
Zucker  ist  um  106  pCt.,  die  auf  Streichhölzchen 
um  100  pCt.,  die  auf  Erzeugnisse  der  Naphtha- 
produktion  um  50  pCt.  gestiegen;  ebenso  sind  auch 
die  Tabaksteuer,  die  Stempelsteuer,  die  Gewerbesteuer, 
die  Steuer  auf  Handelspatente  gestiegen.  Herr  Witte 
habe  als  Beweis  für  die  Hebung  des  Konsums  unter 
anderem  den  Verbrauch  an  Baumwolle  angeführt.  In 
den  von  Herrn  Witte  angegebenen  Ziffern  sei  der 
Fehler  begangen,  dass  erstens  der  Werth  der  Roh- 
baumwolle, zweitens  der  der  daraus  hergestellten 
Gespinnste  und  drittens  der  der  fertigen  Stoffe  — 
anstatt  zu  berücksichtigen,  dass  jede  vorhergehende 
Ziffer  ihrem  vollen  Betrage  nach  in  der  nächstfolgen- 
den steckt  —  einfach  addirt  und  das  Resultat  dann 
als  den  Gesammtwerth  der  rassischen  Baumwoll- 
textilindustrie dargestellt  worden  ist. 

Am  dunkelsten  werde  die  Sache  vollends  da,  wo 
im  Vorwort  zu  einer  späteren  Publikation  des  Finanz- 
ministers: „Zusammenstellung  von  Daten  über  die 
russische  Fabrikindustrie  für  das  Jahr  1897 a  der  im 
Jahr  vorher  gemachte  Fehler  zwar  eingestanden, 
darauf  aber  »das  Streben  der  Fabrikanten,  den  wah- 
ren Umfang  ihrer  Produkte  zu  verheimlichen",  als 
ausreichende  Kompensation  des  untergelaufenen  Ver- 
sehens in  der  Berechnung  hingestellt  wird.  In  der  an 
den  Kaiser  adressirten  Denkschrift  zum  Budget  für 
1900  erscheint  denn  auch  wieder  die  auf  Grund  jener 
originellen  Berechnungsmethode  gefundene  kolossale 
Summe  für  den  Werth  aller  Produkte  der  russischen 
Textilindustrie.  Auch  die  von  Herrn  Witte  gemachten 


690 


Angaben  über  die  Staatsbahnen  werden  bemängelt. 
Während  Herr  Witte  in  dem  Bericht  über  1900  einen 
„geringen  Reingewinn*  herausrechne,  ergebe  sich  ein 
Deficit  ron  31-6  Millionen  Rubel.  Ferner  wird  darauf 
hingewiesen,  dass  die  „Reichskontrole"  die  Aasgaben 
für  „Verbesserung  und  Verstärkung"  der  Eisenbahnen 
zu  den  Betriebsausgaben  rechnet,  während  der  Finanz- 
minister sie  als  Kapitalsanlage  aufführt  Die  Verzin- 
sung des  in  den  Eisenbahnen  angelegten  Kapitals 
betrage  2*4  pCt. ;  obgleich  es  Russland  bekanntlich 
noch  nicht  gelungen  ist,  zu  einem  solchen  Zinsfuss 
Eisenbahnanleihen  abzuschliessen,  behaupte  der  Mini- 
ster, dass  sich  die  Zinszahlung  und  Kapitalstilgung 
der  Eisenbahnschuld  aus  den  Betriebsüberschüssen 
bezahlt  machen.  Unzutreffend  seien  auch  die  Angaben 
Witte'süber  die  Verschuldung  Russlands.  Der  Bericht 
des  Finanzministers  für  1902  beziffere  den  Zuwachs 
der  Verschuldung  Russlands  während  des  letzten 
Jahrzehnts  auf  rund  1750  Millionen  Rubel  und  stelle 
ihr  den  Zuwachs  des  Werthes  der  Staatsbahnen  mit 
2600  Millionen  gegenüber.  Um  „die  reine  Verschul- 
dung" am  Anfang  und  am  Ende  des  abgelaufenen 
Jahrzehnts  vergleichsweise  zu  bestimmen,  summirt 
der  Finanzminister  den  Betrag  der  Staatsanleihen 
und  der  übrigen  Verpflichtungen  der  Staatskasse ;  auf 
der  anderen  Seite  fügt  er  dem  angenommenen  Werthe 
der  Staatsbahnen  als  Aktiva  die  sicheren  Schulden 
der  Eisenbahngesellschaften  an  den  Staat  und  andere 
Forderungen  der  Staatskasse  hinzu;  die  Subtraktion 
der  letzteren  Summe  von  der  ersteren  ergiebt  dann 
die  „reine  Verschuldung".  Auf  diese  Weise  rechriet 
Herr  Witte  am  letzten  Ende  eine  sehr  erhebliche 
Verringerung  dieser  „reinen  Verschuldung"  Russlands 
vom  1.  Januar  1892  bis  dahin  1902  heraus,  unter 
ganz  besonderer  Betonung  der  angeblichen  Thatsache, 
dass  der  Haupteffekt  dieser  „reinen"  Verschuldungs- 
abnahme die  Verringerung  der  von  der  Bevölkerung 
aufzubringenden  Zinsenlast  sei.  Die  Hauptgrundlage 
für  diesen  ganzen  Berechnungsmodus,  nämlich  die 
angebliche  Deckung  der  von  der  Eisenbahnschuld 
herrührenden  Zinsenlast  durch  sich  selbst,  existirt  aber 
in  Wirklichke'*  ~~~  ~5^htf  vielmehr  werden  durch  den 


591 


faktischen  Reinüberschuss  des  Staatsbahnbetriebes 
von  der  Last  der  Eisenbahnanleihen  höchstens  60  pCt. 
verzinst  und  amortisirt.  Der  Minister  habe  in  seiner 
Aufstellung  auch  übersehen,  dass  zu  den  Schulden 
des  Staates  die  circa  700  Millionen  Rubel  betragenden 
Einlagen  Privater  in  die  vom  Staate  eingerichteten 
Sparkassen  gehören.  Faktisch  aber  seien  diese  Spar- 
kasseneinlagen nichts  anderes  als  eine  von  derRegie^ 
rung  kontrahirte  und  regelrecht  zu  verzinsende  innere 
Anleihe.  Ebenso  versäume  es  Herr  Witte,  ausser  den 
formellen  Staatsanleihen  auch  die  Summe  derjenigen 
Schulden,  die  der  Staat  garantirt,  oder  für  die  er 
sonst  die  Verantwortung  übernommen  hat,  aufzufüh- 
ren. Die  Arbeit  in  den  Preussischen  Jahrbüchern  tfasst 
ihr  Urtheil  dahin  zusammen,  dass  steigende  Zinsen- 
last, steigender  Steuerdruck  und  sinkende  Tragkraft 
der  Schultern  des  Volkes  nach  seiner  grossen  Masse 
das  Resultat  des  Systems  Witte  für  Russland  bilden. 
Auf  der  anderen  Seite  stehen  die  Vergrösserung  des 
Eisenbahnnetzes,  namentlich  die  Erbauung  der  asia- 
tischen grossen  Schienenwege,  die  Vergrösserung  der 
Seemacht  und  noch  anderes  dieser  Art  Es  frage  sich 
aber,  ob  der  unter  der  Herrschaft  des  gegenwärtigen 
Systems  reissend  fortschreitende  ökonomische  Verfall 
es  dazu  kommen  lassen  wird,  dass  Russland  die 
Früchte  dieser  Leistungen  des  Witte'schen  Regimes 
je  erntet.  In  einem  Schlussartikel  will  der  Verfasser 
in  den  Preussischen  Jahrbüchern  versuchen,  den  Ur- 
sachen der  Misserfolge  des  Systems  Witte  in  Russ- 
land auf  den  Grund  zu  gehen  und  zu  zeigen,  dass 
es  sich  dabei  nicht  um  irgend  welche  Zufälligkeiten, 
sondern  um  ganz  principielle  und  fundamentale 
Fragen  sowohl  volkswirtschaftlicher  als  auch  na- 
mentlich moralischer  Natur  handelt.  Diese  weiteren 
Ausführungen  werden  abzuwarten  sein,  ehe  sich  ein 
abschliessendes  Urtheil  über  Berechtigung  der  Ver- 
urteilung des  Witte'sehen  Systems  abgeben  lassen 
wird.  So  viel  lässt  sich  aber  schon  heute  sagen,  dass 
Herr  Witte  diese  Ausführungen  kaum  wird  ignoriren 
dürfen. 

Rohrbach,    der   sich   vielfach  auf  das  Werk  von 
Lochtin  über  den  Zustand  der  russischen  Landwirte 


592 


schaft  im  Vergleich  mit  anderen  Ländern  beruft,  will 
nachweisen,  dass  in  den  äussern  Existenzbedingungen 
für  die  Landwirtschaft  merkliche  Unterschiede  zu 
Ungunsten  Russlands  gegenüber  anderen  Ländern 
nicht  existiren.  Trotzdem  macht  der  Ertrag  der  Ernte 
im  europäischen  Russland  pro  Desjatine  im  Mittel 
38*8  Pud  aus,  während  das  Mittel  der  übrigen  Länder 
83*7  Pud  beträgt.  Hierzu  bemerkt  Lochtin:  „Es  gibt 
also  kein  Land  auf  der  Welt,  in  welchem  der  Ernte- 
ertrag von  der  Flächeneinheit  geringer  wäre  als  in 
Russland,  oder  mit  anderen  Worten,  in  dem  der 
Ackerbau  schlechter  betrieben  würde  als  in  Russland. tt 
In  Russland  macht  ferner  bei  dem  dort  herrschenden 
Wirthschaftssystem  die  jeweilige  Brache  30%  des 
Ackerlandes  aus,  während  in  der  grossen  Mehrzahl 
der  anderen  Länder  das  primitive  Landwirthschafts- 
system  mit  Brache,-  zumal  einer  so  umfangreichen 
Brache,  längst  verlassen  ist  und  einer  rationellen» 
möglichst  weitgehenden  gleichzeitigen  Ausnutzung  der 
gesammten  anbaufähigen  Bodenfläche  Platz  gemacht 
hat.  Dadurch  sinkt  der  faktische  Mittelertrag  von  der 
Desjatine  in  Russland  sogar  auf  nur  29'8  Pud.  Welches 
sind  nun  im  Einzelnen  die  Faktoren  der  Minder- 
werthigkeit  russischer  landwirtschaftlicher  Kultur? 
Darauf  wird  im  Wesentlichen  die  folgende  Antwort 
ertheilt :  Zunächst  die  Erschöpfung  des  Bodens  durch 
den  fortgesetzten  Getreidebau  bei  mangelhafter  oder 
überhaupt  nicht  geübter  Dingung.  Dieser  Mangel  hängt 
seinerseits  wiederum  zusammen  mit  dem  minimalen 
Viehbestände  Russlands.  Der  zweite  und  in  Verbindung 
mit  der  Erschöpfung  des  Bodens  doppelt  vernichtend 
wirkende  Faktor  ist  die  Minderwertigkeit  aller  tech- 
nischen Hilfsmittel  des  russischen  Bauers,  namentlich 
der  Mangel  an  Eisen.  Bei  dieser  schlechthin  trost- 
losen Lage  der  russischen  Landwirtschaft  beruhe  nun 
das  ganze  gegenwärtige  russische  Finanz-  und  Wirth- 
schaftssystem auf  der  Aufrechterhaltung  der  Zahlungs- 
bilanz vermittelst  der  Getreideausfuhr.  Russland  pro- 
ducirt  auf  den  Kopf  weniger  Getreide  als  beispielsweise 
Deutschland;  Deutschland  aber  bedarf  bei  seinem 
Ertrag  von  24*2  Pud  auf  den  Kopf  noch  einer  erheb- 
lichen Einfuhr   (unsere  Getreideernte  repräsentirt  im 


593 


Durchschnitt  nicht  mehr  als  fünf  Sechstel  des  KonT 
sums),  während  Russland  von  seinen  22-4  Pud  noch 
eine  sehr  grosse  Ausfuhr  bestreitet.  Wollte  also  der 
Russe  ebenso  viel  Brod  essen  wie  der  Deutsche,  so 
dürfte  aus  Russland  nicht  nur  kein  Korn  Getreide 
ausgeführt  werden,  sondern  man  müsste  im  Durch- 
schnitt noch  ein  Quantum,  das  etwa  einem  Zehntel 
der  russischen  Ernte  gleich  käme,  jährlich  dorthin 
importiren.  Man  kann  also  die  Thatsa<5he  als  fest- 
stehend betrachten,  dass  Russland  von  Rechts  wegen 
zum  mindesten  keinen  Getreideexport  haben  dürfte, 
selbst  wenn  es  mit  der  Ernährung  seiner  Bevölkerung 
noch  unterhalb  der  Norm  der  mindest  konsumirenden 
Länder  Europas  bleiben  wollte.  Soll  diese  Norm  er- 
reicht werden,  so  bedürfte  es  von  Rechts  wegen  des 
Getreideimports.  Dem  gegenüber  wurden  thatsächlioh 
aus  Russland  von  1885—1900  rund  7  Milliarden  Pud 
im  Werthe  von  6  Milliarden  Rubel  exportirt.  Diese 
ungeheuere  Getreidemenge  hat  ein  Volk  hergeben 
müssen,  das,  wenn  es  sie  selber  zu  seiner  Nahrung 
behalten  hätte,  damit  noch  nicht  einmal  so  viel  Brod, 
hätte  essen  dürfen  wie  der  Deutsche  oder  Franzose- 
Ein  Blick  auf  die  Sterblichkeitsziffern  Russlands  zeigt 
denn  auch  unwiderleglich  die  Folgen  der  bestehenden 
Zustände.  Die  Sterblichkeit  Russlands  wird  unter  allen 
Ländern,  über  die  eine  Statistik  existirt*  nur  von  der 
centralamerikanischen  Republik  Honduras,  von  den 
Fidschi-Inseln  und  von  der  weissen  Bevölkerung  im. 
niederländischen  Indien  übertroffen.  Die  jährliche 
Sterblichkeitsziffer  auf  das  Tausend  der  Bevölkerung 
ist  z.  B.  in  Preussen  (1873—1886)  25-7,  in  Holland 
22*6,  in  Frankreich  22*4,  in  Oesterreich  30'9,  während 
sie  im  europäischen  Russland  beträgt:  in  7  Gouver- 
nements unter  25,  in  10  25—30,  in  12  30—35,  in  11 
30—40,  in  10  40—47.  Die  mittlere  russische  Sterbe- 
ziffer ist  34*8.  Angesichts  des  ganzen  bisher  beige- 
brachten Ziffernmaterials  könnte  es  nur  noch  die 
absichtliche  Verblendung  wahr  haben  wollen,  dass 
der  russische  Getreideexport  sich  noch  längere  Zeit 
auf  ähnlicher  Höhe  wird  halten  können  wie  heute. 
Mit  seinem  Sturz  werde  aber  auch  die  russische 
Zahlungsbilanz,   die   schon  jetzt  erschüttert  ist,   un- 

88 


594 

rettbar  vernichtet.  Damit  wäre  das  von  Herrn  r.  Witte 
aufgebaute  Währungssystem  zerstört.  Demi  wenn  Russ- 
land kein  Getreide  mehr  exportirt,  so  hat  es  nichts 
weiter,  um  seinen  Verpflichtungen  gegenüber  dem 
Auslande  gerecht  zu  werden,  und  muss  sein  Gold 
in  Zahlung  geben.  Damit  aber  werde  aus  der  Wirth- 
schaftskrisis  die  wirthschafÜiche  Katastrophe. 

Von  einem  Export  an  Industrieprodukten  kann  — 
nach  der  Darlegung  in  den  Pr.  Jahrb.  —  auf  abseh- 
bare Zukunft  hinaus  in  gar  keiner  Weise  die  Rede 
sein.  Die  russische  Industrie  ist  also,  um  zur  Blüthe 
zu  gelangen,  so  gut  wie  ausschliesslich  auf  den 
inneren  Markt  angewiesen.  Dieser  innere  Markt 
wird  im  Wesentlichen  durch  die  breite  Masse  der 
bäuerlichen  Bevölkerung  gebildet.  Es  gibt  zwar  ge- 
wisse Absatzmärkte  in  Russisch-Turkestan  und  im 
Kaukasus,  wo  ganz  oder  theilweise  bessere  (wenn 
auch  gleichfalls  noch  sehr  unetwickelte)  Zustände 
herrschen  als  im  eigentlichen  russischen  Gentrum, 
aber  von  dem  Zuschuss,  den  jene  Grenzgebiete  leisten, 
kann  die  russische  Industrie  nicht  leben.  Auf  die 
Desjatine  resp.  den  annähernd  gleich  grossen  Hektar 
berechnet,  betragen  die  Staatssteuern  in  Russland  237. 
in  Bayern  282  Pf.  In  Bayern  werden  aber  pro  Hektar 
im  Durchschnitt  1290  Kg.  Roggen  geerntet,  in  Russ- 
land höchstens  500,  Von  100  kg  Ernteertrag  hat  also 
der  bayerische  Bauer  22  Pf.  Steuern  zu  bezahlen,  der 
russische  aber  47,  also  mehr  als  das  Doppelte,  wobei 
man  noch  berücksichtigen  muss,  dass  der  Russe  für 
sein  Getreide  einen  sehr  viel  geringeren  Preis  be- 
kommt als  der  Bayer.  Es  liegt  also  in  dem  faktischen 
Druck  der  Steuern  ein  Unterschied  vor,  der  gut  auf 
das  Dreifache  zu  Ungunsten  des  russischen  Bauers 
mit  seinen  ohnehin  fast  bis  zur  Tragunfähigkeit  be- 
lasteten Schultern  zu  veranschlagen  ist.  Von  der 
ganzen  Bauernbesteuerung  im  Betrage  von  125  bis 
130  Millionen  Rubel  jährlich  hat  die  russische  In- 
dustrie wenigstens  direkt  gar  nichts;  dieses  Geld  muss 
der  Bauer  vorweg  aufbringen  und  der  Staatskasse 
überliefern,  bevor  er  daran  denken  kann,  irgend 
welche  industriellen  Erzeugnisse  für  sich  selbst  zu 
kaufen.  ^  "  "rtie  Konsument  hat  für  Baumwoll- 


595 


waaren  und  Zucker  das  Zweieinhalbfache,  für  Eisen 
das  Viereinhalbfache,  für  Steinkohle  das  Sechsfache 
zu  zahlen  wie  der  deutsche.  Die  Gesammtsumme  der 
bäuerlichen  Steuerrückstände  hat  sich  unter  diesen 
Umständen  von  1892  bis  1901  um  78'5%  vergrössert. 
Ebenso  ist  die  Summe  der  ländlichen  Verschuldung 
von  1892  bis  1901  um  66*1%  gestiegen.  Die  wirt- 
schaftliche Gesammtlage  Russlands  stellte  sich  also 
folgendermaassen  dar:  1.  Die  Zahlungsbilanz  des 
Landes  befindet  sich  in  absoluter  Abhängigkeit  von 
der  Getreideausfuhr.  Eine  solche  Ausfuhr  dürfte  aber 
in  Russland  von  Rechts  wegen  überhaupt  nicht  exi- 
stiren,  weil  der  Gesammtertrag  der  Ernte  kaum  zur 
Deckung  des  normalerweise  zu  veranschlagenden  in- 
neren Bedarfes  hinreicht.  Trotzdem  werden  Jahr  für 
Jahr,  wenn  auch  unter  steigenden  Schwierigkeiten 
und  unter  Anwendung  der  äussersten  Mittel,  grosse 
Getreidemassen  exportirt.  Auf  die  Dauer  dieses  System, 
das  einen  sehr  grossen  Theil  der  Bevölkerung  zu  fort- 
gesetzter Unterernährung,  ja  zum  Hunger  zwingt,  auf- 
recht zu  erhalten,  ist  unmöglich.  Die  Anzeichen,  dass 
die  Grenze  des  Erträglichen  bereits  überschritten  wird, 
beginnen  sich  zu  häufen :  verwüstende  Krankheiten, 
abnorme  Sterblichkeit,  Bauernrevolten.  2.  Der  Ge- 
danke, eine  russische  Industrie  zur  Blüthe  zu  ent- 
wickeln, ist  in  dem  Umfange,  wie  das  vom  System 
Witte  angestrebt  worden  ist,  verfehlt.  Die  Produktions- 
bedingungen sind  wesentlich  wegen  der  minderen 
Qualität  des  Menschenmaterials,  zum  geringeren  Theil 
auch  aus  äusseren  Gründen,  in  Russland  derart  un- 
günstige, dass  nur  durch  einen  sehr  hohen  und 
dauernd  aufrecht  zu  erhaltenden  Schutzzoll  die  Kon- 
kurrenz der  ausländischen  Industrie  von  dem  inner- 
russischen Markte  ferngehalten  werden  kann.  Dieser 
innerrussische  Markt  repräsentirt  bereits  an  sich  durch 
den  chronischen  Nothstand  bei  dem  grossen  und 
wichtigsten  Theil  der  konsumirenden  Bevölkerung, 
einen  Nothstand,  der  aus  dem  ungenügenden  Quantum 
geernteten  Getreides,  aus  dem  Ausfuhrzwang  und  dem 
Steuerdruck  hervorgeht,  eine  sehr  wenig  aufnahme- 
fähige Grösse.  Im  Verein  mit  der  unverhältnissmäs- 
sigen,    durch  die  schlechten  Produktionsbedingungen 

38* 


596 


und  den  abnormen  Zollschutz  hervorgerufenen  Theue- 
rung  der  Industrieprodukte,  ferner  auch  mit  der 
ausserordentlich  schwachen,  absoluten  Kaufkraft  des 
russischen  Getreides  steigert  sich  diese  Ungunst  für 
die  Entwickelungsbedingungen  der  russischen  Industrie 
noch  um  ein  Bedeutendes.  Die  Erisis,  die  über  das 
russische  Wirtschaftsleben  hereingebrochen  ist  und 
nun  schon  seit  mehreren  Jahren  auf  ihm  lastet,  ist 
der  thatsächliche  Ausdruck  dieser  Verhältnisse.  3.  Die 
Einführung  der  Goldwährung  war  unter  diesen  Um- 
ständen von  vornherein  ein  im  höchsten  Grade  ge- 
wagtes Experiment,  und  es  scheint,  dass  sie  sich  be- 
reits jetzt  als  für  Russland  verhängnissvoll  erweist 
Soll  die  Goldwährung  aufrecht  erhalten  bleiben,  so 
darf  unter  keinen  Umständen  die  russische  Zahlungs- 
bilanz sich  dauernd  zu  einer  passiven  gestalten,  weil 
sonst  die  Notwendigkeit  eintritt,  den  Metallvorrath 
zur  Deckung  der  Verpflichtungen  an  das  Ausland 
heranzuziehen.  Die  ganze  russische  Anleihewirth- 
schaft,  inclusive  der  immensen  Eisenbahnanleihen, 
hätte  nichts  Bedenkliches,  wenn  eine  sichere  Aus- 
sicht auf  Hebung  des  russischen  Experts  im  grossen 
Masstabe  bestände.  Wenn  Russland  darauf  rechnen 
dürfte,  im  Laufe  absehbarer  Zeit  seinen  Export  so 
weit  zu  entwickeln,  dass  es  durch  seinen  Werth  die 
jährlichen  laufenden  Verbindlichkeiten  dem  Auslande 
gegenüber  zu  decken  in  der  Lage  ist,  dann  hätte  die 
russische  Regierung  ohne  Zweifel  das  Recht,  für  die 
Gegenwart  Verpflichtungen  zu  häufen  und  von  der 
Bevölkerung,  wenn  es  nicht  anders  geht,  eine  ausser- 
ordentliche, ja  rücksichtslose  Anspannung  der  Kräfte 
zu  verlangen.  Diese  Aussicht  auf  Steigerung  des  Ex- 
ports besteht  aber  nicht,  Russland  kann  nach  Lage 
der  Dinge  in  nennenswerthem  Maasse  nichts  anderes 
exportiren  als  in  erster  Linie  Getreide  und  andere 
Produkte  der  Landwirthschaft.  Für  seinen  Getreide- 
export ist  es  auf  ein  im  Verhältniss  zu  der  Grösse 
des  gesammten  Reiches  nicht  sehr  grosses  Gebiet, 
den  sogenannten  Schwarzerderayon  oder  das  gross- 
russische Centrum,  beschränkt,  da  die  übrigen  Theile 
des  Reiches,  der  Norden,  Westen  und  Nordwesten, 
dazu  demnächst  auch  noch  Tiirkestan,    ein  Getreide- 


o97 


defizit  haben  und  der  Einfuhr  bedürfen  resp.  noch 
weniger  als  das  Centrum  fähig  sind,  zur  Ausfuhr 
etwas  herzugeben.  Die  russische  Getreideproduktion 
zeigt  aber  im  Verhältniss  zu  der  der  Volksvermehrung 
während  des  letzten  Menschenalters  einen  merklichen 
Rückgang.  Dieser  Rückgang  ist  verschuldet  durch  die 
Ausraubung  des  Bodens  infolge  irrationeller  Wirth* 
Schaftsführung ;  er  ist  bisher  in  seiner  Erscheinung 
grossentheils  dadurch  kompensirt  worden,  dass  in- 
folge der  Ausdehnung  des  Eisenbahnnetzes  immer 
neue  Gebiete  des  Ostens  und  Südostens  sich  dem 
Körnerbau  und  dem  Getreideverkauf  erschlossen.  Da- 
mit ist  es  jetzt  aber  auch  so  ziemlich  am  Ende. 
Freies  Land  existirt  im  europäischen  Russland  theils 
gar  nicht  mehr,  theils  nur  in  Gegenden,  die  aus  kli- 
matischen und  anderen  Gründen  gar  nicht  oder  doch 
nur  sehr  wenig  in  Betracht  kommen.  Möglicherweise 
wird  die  fortschreitende  Erschliessung  Sibiriens  noch 
einen  geringen  hemmenden  Einfluss  auf  die  weitere 
Entwickelung  zum  Schlimmen  resp.  auf  die  Be- 
schleunigung derselben  in  hemmendem  Sinne  aus- 
üben, aber  darüber,  dass  dieser  Einfluss  kein  erheb- 
licher sein  wird,  gibt  sich  schon  jetzt  in  unter* 
richteten  Kreisen  Niemand  einem  Zweifel  hin.  Die 
Menge  des  kulturfähigen  Landes  in  Sibirien  ist  relativ 
gering  und '  gleichfalls  zum  grössten  Theil  schon  ver- 
geben ;  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens  steht  selbst  In 
unerschöpftem  Zustande  derjenigen,  die  ursprünglich 
in  den  Korngebieten  des  europäischen  Russland  vor* 
banden  war,  erheblich  nach.  Dazu  kommt  die  grosse 
Entfernung  Sibiriens  von  den  Absatzmärkten  des 
Welthandels.  Das  einzige,  was  mit  Fug  und  Recht 
von  dem  sibirischen  Getreide  erwartet  werden  kann, 
ist  etwa  die  Deckung  des  Kornbedarfes,  der  im  rus- 
sischen Turkestan  bei  der  fortschreitenden  Verwan- 
delung  des  Getreideackers  in  Baumwollenland  ent- 
stehen wird.  Vergrösserung  der  russischen  Getreide- 
produktion ist  also  in  keiner  Weise  für  die  Zukunft 
anzunehmen,  falls  nicht,  wie  schon  öfters  gesagt*  ein 
radikaler  Umschwung  des  Wirthschaftssystems  eintritt. 
Fällt  nun  auf  diese  Weise  die  Möglichkeit  fort,  die 
jetzt  gemachten   Schulden    in  Zukunft   durch  gestei- 


598 

gerte  Ausfuhr  zu  verzinsen  und  zu  amortisiren,  so 
bildet  die  fortgesetzte  Kapitaleinfuhr  aus  dem  Aus- 
lande in  Gestalt  von  Anleihen  ein  höchst  bedenkliches 
Moment  in  der  ökonomischen  Gesammtgebarung  Russ- 
lands. Wenn  die  Waarenausfuhr,  die  zur  Verzinsung 
der  auswärtigen  Schuld  und  zur  Deckung  der  übrigen 
laufenden  Verpflichtungen  nicht  ausreicht,  innerhalb 
der  Grenzen  bleiben  soll,  so  bleibt,  um  das  zur  Durch- 
führung der  Goldwährung  ins  Land  gezogene  Edel- 
metall zu  halten,  gar  nichts  anderes  übrig,  als  fort- 
gesetzt neue  Anleihen  zu  machen  und  damit  die 
Zinsen  der  alten  Schuld  und  das  Defizit  der  Zahlungs- 
bilanz zu  begleichen.  Es  wird  klar  sein,  dass  man 
ein  solches  Wirtschaftssystem  auf  die  Dauer  nicht 
durchführen  kann. 

Das  „Berliner  Tageblatt*  brachte  Ende  November 
1902  folgende  Betrachtung  über   die  Finanzen  Russ- 
lands.   In  diesen  Tagen  enthielten  die  Zeitungen  die 
Mittheilung,    dass    die   Deutsche   Reichsbank   die  in 
diesem  Jahre  aufgelegte  russische  Anleihe  für  lombard- 
fähig  erklärt  hat.   Herrn  Witte,  der  eben  von  seiner 
asiatischen   Reise  nach  Petersburg  zurückgekehrt  ist, 
wird  diese  Nachricht  eigenthümlich  angemuthet  haben. 
Denn   diese   Anleihe   bedeutet    den   Höhepunkt    der 
Witte'schen  Erfolge;    von    ihr   wird   aber   auch    das 
Ende  der  Witte'schen  Aera,  das  nunmehr  gekommen 
zu   sein  scheint,   zu   datiren  sein.    Die  300  Millionen 
Mark  4%  Anleihe,   die  Herr  Witte  am  3.  April  d.  J. 
auflegen  Hess,   wurde   nicht  weniger  als  lOOmal  ge- 
zeichnet. Die  Officiösen  des  russischen  Finanzministers 
wussten  damals  diesen  Erfolg  nicht  genug  zu  rühmen, 
und  wiesen   mit  Ueberhebung   darauf  hin,    dass    die 
kurz  vorher   an  den  Markt  gebrachten  Anleihen  des 
Deutschen    Reichs    und    Preussens   nur   öOmal     ge- 
zeichnet   worden    waren.    Dass   die   soviel   stärkere 
Ueberzeichnung  der  russischen  Anleihe  aus  dem  hö- 
heren Kursgewinn  herrührte,    der  den  Subskribenten 
gewährt  wurde,   wollten  die  Freunde  des  russischen 
Finanzministers  nicht  wahr  wissen.  Kaum  hatte  Herr 
Witte   indess    diesen    Erfolg   erzielt,   als    ein    grelles 
Schlaglicht  auf  die  Verhältnisse  in  Russland  fiel.   Der 
Minister  des    Innern  wurde    ermordet.  Das  Ereignis? 


599 


rief  eine  um  so  grössere  Bestürzung  hervor,  als  ihm 
eine  Reihe  anderer  beängstigender  Thatsachen  vor- 
angegangen war,  Unruhen  unter  der  studirenden 
Jugend  und  Revolten  unter  den  Bauern.  Für  Herrn 
v.  Witte  aber  nahmen  die  Dinge  dadurch  eine  kri- 
tische Wendung,  dass  an  Stelle  des  ermordeten 
Ssipjagin  Herr  v.  Plehwe  Minister  des  Innern  wurde. 
Zu  Herrn  Ssipjagin  hatte  Witte  in  persönlichen  Be- 
ziehungen gestanden,  die  es  möglich  machten,  dass, 
als  der  Gar  eine  Kommission  zur.  Prüfung  der  land- 
wirtschaftlichen Verhältnisse  zusammenberief,  Herr 
Witte  die  Leitung  dieser  Untersuchung  übernahm. 
Herrn  Plehwes  Verhältniss  zu  Witte  war  ein  wesent- 
lich anderes.  Bestimmt  wurde  es  durch  die  neueste 
Wendung,  die  sich  in  der  politischen  Haltung  des 
Finanzministers  vollzogen  hatte.  Herr  Witte  rühmt 
sich,  keine  politischen  Grundsätze  zu  haben.  Das  mag 
Manchem  sehr  klug  erscheinen.  Aber  Herr  Witte 
wäre  nicht  der  Erste,  der  gerade  über  dem  Mangel 
an  Grundsätzen  strauchelt.  Und  wie  seine  Klugheit 
nicht  ausreichte,  ihn  zu  einer  Beschränkung  in  seinen 
Aufgaben  und  vor  allem  zur  Selbstbeschränkung  an- 
zuhalten, so  half  sie  ihm  auch  nicht  die  Gefahren 
überwinden,  die  dem  politischen  Chamäleon  drohen. 
Von  Grund  aus  ein  Mann  mit  modernen  Anschau- 
ungen, hatte  Witte  in  einer  Zeit,  in  der  er  unter  den 
entscheidenden  Persönlichkeiten  in  der  russischen 
Politik  in  allererster  Reihe  stand,  in  seinem  Lande 
gegen  einen  Theil  der  Bevölkerung  die  grausamsten 
Verfolgungen  verüben,  Hunderttausende  zur  Aus- 
wanderung aus  Russland  zwingen  lassen.  Im  Jahre 
1899  erklärte  er  sich  in  einer  geheimen  Denkschrift 
über  „Absolutismus  und  Selbstverwaltung"  für  den 
Absolutismus.  In  neuester  Zeit  aber  neigte  er  wieder 
dazu  hin,  politische  Reformen  für  wünschenswerth 
anzusehen.  Das  war  der  Grund,  der  das  Misstrauen 
des  reaktionären  Plehwe  gegen  Witte  erweckte. 

Der  neue  Minister  des  Inneren  machte  auch 
seinerseits  die  erschreckenden  Ereignisse  der  letzten 
Monate  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung,  und  die 
von  ihm  an  den  Caren  gerichtete  Denkschrift  darüber 
gelangt   zu   einem  so  vernichtenden  Urtheil  über  die 


600 


Wirkungeil   der  Witte'schen  Finanzpolitik,    dass   da- 
nach  mit   dem  Rücktritt  des  Fiftanzmin isters  in  ab- 
sehbarer Zeit  gerechnet  werden  muös.     Es    ist  aller- 
dings nicht  das  erstemal,  dass  Herrn  Witte's  Stellung 
bedroht  erscheint.    Vielmehr  hatte   er  vom    Beginn 
Seiner  nunmehr  zehnjährigen  Thätigkeit  mit  allerhand 
Gegnern  zu  thun,   Manche  bekämpften  ihn  als  einen 
Emporkömmling.  Auch  die  Frau  des  Finanzministers 
bot  mancherlei   Angriffspunkte  dar.    Eine    Zeit   lang 
wimmelte  es  nur  so  an  Pamphleten  gegen  ihn.  Neben 
unberechtigten  Anfeindungen  waren  es  indess  auch  ge- 
rechtfertigte Vorwürfe,  die  gegen  ihn  erhoben  wurden. 
Die  ernstesten  Gegner,  die  ihm  erstanden,  waren  der 
Geheime   Rath   Schwanenbach,  früher  im  russischen 
Finanzministerium   unter  Herrn  Witte  selber  thätig, 
jetzt  Mitglied  des  Kuratoriums  der  Russischen  Reichs- 
bank, ferner  der  Nationalökonom  Scharapow,  Butmi, 
und  in  der  Behandlung  der  nachtheiligen  Bedeutung 
Witte's  für  die  russische  Landwirtschaft  Pet  Lochtin. 
Ziemlich  alles,   was  Witte  für  sich  als  Verdienst  in 
Anspruch  nimmt,  stellten  diese  Männer  vielmehr  als 
verdebliche  Wirkungen  dar.    Die  Ziffern,    mit   denen 
Herr  Witte  seine  Leistungen  zu  illustriren  sucht,  be- 
zeichnen  sie  vielfach  als  fingirt.    Witte   rühmt    sich 
dessen,    dass   bei   seinem  Amtsantritt  im  Jahre  1892 
die  allgemeine  Staatsschuld  5389  Millionen  Rubel,  der 
ihr  gegenüberstehende   Staatsbesitz    an  Bahnen  2361 
Millionen,  die  reine  Staatsschuld  also  3027  Millionen 
betrug,    im   Jahre    1902   aber  von    den    insgesammt 
6457  Millionen  Staatsschulden  4614  Millionen  auf  die 
Bahnen  entfielen,  die  reine  Staatsschuld  sich  hiernach 
nur   auf   1883  Millionen  stellte.    Die   Gegner   Witte's 
aber  fechten  einerseits  diese  Ziffern  selber  an,  ande- 
rerseits erklären  sie,  dass  die  Rente,  die  Herr  Witte 
für   die    den   Bahnen    angelegten   Kapitalien  heraus- 
rechnet, unzutreffend  sind  und  nicht  einmal  mit   den 
von    anderen    Begierungsstellen    dafür   angegebenen 
Ziffern  übereinstimme.   Damit  erscheine  zugleich  die, 
allein  seit  1896  von  30.377    auf  60.000  Werst  gestie- 
gene Ausdehnung  der  Bahnen  als  eine  Leistung  von 
problematischem  Werth.     Aber    auch   die  von  Herrn 
Witte  angeführten    Ziffern    der  Staatsschulden  selbst 


601 


und  die  dafür  im  Budget  aufzubringende  Summe 
nehmen  bei  den  Kritiken  des  Finanzministers  ein  an- 
deres Ansehen  an.  Sie  legen  Gewicht  darauf,  dass 
sich  unter  den  Schulden  2  bis  3  Milliarden  inamor- 
tisabler  4%  Rente  befinde,  von  der  Herr  Witte  in 
Russland  selber  1  bis  2  Milliarden  nur  dadurch 
untergebracht  hat,  dass  er  allerhand  öffentliche  Insti- 
tutionen, unter  anderem  Sparkassen,  zu  Anlagen  in 
diesem  Papiere  zwang,  dessen  Zinsfuss  hinter  dem 
landesüblichen  Niveau  so  -sehr  zurückbleibt.  Und 
wenn  Herr  Witte  die  Herstellung  der  Goldwährung, 
die  Ansammlung  grosser  Goldbestände,  der  Steigerung 
der  Steuern  anführt,  wird  dem  gegenüber  auf  die 
grossen  Steuerrückstände  verwiesen,  auf  die  For- 
cirung  des  Getreideexportes  zum  Nachtheil  der  Er- 
nährung der  russischen  Bevölkerung,  auf  die  Opfer, 
die  die  von  Herrn  Witte  eingeführte  Gründungsära 
das  Land  gekostet  hat.  Der  heftige  Unwille,  bis  zu 
dem  sich  die  Opposition  gegen  Herrn  Witte  gesteigert 
hat,  wird  aber  erst  verständlich  aus  den  Mitteln,  die 
er  bei  der  Erreichung  seiner  Ziele  anwendet.- Das  hat 
Deutschland  auch  aus  nächster  Nähe  beobachten 
können.  Mit  welcher  Rücksichtslosigkeit  veranstaltete 
er  eine  „Einschwänzung"  der  Rubelspekulation  an  der 
Berliner  Börse,  als  er  darin  eine  Vorbereitung  zur 
Stabilisirung  der  russischen  Valuta  erblickte!  Nicht 
anders  verfuhr  er  auch,  als  er  den  Rubel  auf  zwei 
Drittel  seines  nominalen  Werthes  „devalvirte".  Und 
während  bei  der  Verstaatlichung  der  Russischen 
Südwestbahn  den  Aktionären  ein  Antheil  an  dem 
Liquidationsüberschuss  zugesichert  worden  war,  wurde 
er  von  Herrn  Witte  den  Certifikatbesitzern  jahrelang 
vorenthalten,  das  hiergegen  eingeleitete  Gerichtsver- 
fahren verschleppt,  und  bequemte  sich  der  Finanz- 
minister erst,  als  daraufhin  die  Einführung  weiterer 
russischer  Anleihen  in  Deutschland. auf  Widerspruch 
stiess,  dazu,  den  Aktionären  das  Almosen,  weniger 
Rubel  hinzuwerfen.  Auch  der  Intriguen  gegen  die 
deutsche  Bagdadbahn  ist  in  diesem  Zusammenhang 
zu  gedenken,  wenn  ein  Bild  von  Herrn  Witte  ent- 
worfen wird.  Verfuhr  er  derartig  gegen  das  Ausland, 
so  gestattet  das  einen  Schluss,   wie   rücksichtslos .  er 


602 


im  eigenen  Lande  vorgegangen  ist  Allerdings  für 
das  russische  Zuckersyndikat  legte  er  sich  neuerdings 
dermassen  ins  Zeug,  dass  er  darüber  in  einen  ge- 
wissen Gegensatz  zu  allen  Ländern  gerathen  ist,  die 
durch  die  Annahme  der  Brüsseler  Konvention  mit 
der  Prämienwirthschaft  der  Zuckersyndikate  aufräumen 
wollen.  Oder  er  gibt  sich  auch  wieder  den  Anschein, 
als  ob  er,  der  mit  zu  dem  Schutzzollsystem  Russlands 
und  den  darauf  basirenden  Kartellbildungen  beige- 
tragen hat,  berufen  wäre,  eine  internationale  Reform 
des  gesammten  Kartellwesens  anzubahnen. 

In  Deutschland  wird  Herrn  Witte  immerhin  Eines 
als  Verdienst  angerechnet  werden.  Wenngleich  erst 
über  den  Weg  eines  Zollkrieges,  hat  er  den  deutsch- 
russischen Handelsvertrag  zu  Stande  bringen  helfen* 
Auch  das  hat  er  zwar  nicht  aus  Liebe  zu  Deutsch- 
land gethan.  Ist  doch  unter  Witte  Russland  in  die 
Entente  mit  Frankreich  eingetreten,  die  sich  eine 
Zeit  lang  bis  zu  einer  bedrohlichen  Intensität  zu 
steigern  schien.  Freilich  hatte  gerade  Herr  Witte 
guten  Grund,  die  Freundschaft  mit  Frankreich  nicht 
zu  überschätzen.  Denn  als  Russland  die  Quittung  in 
der  Unterbringung  von  Anleihen  auf  dem  franzö- 
sischen Geldmarkte  präsentirte,  erwies  sich  dieser 
durchhaus  nicht  zuverlässig.  Herr  Witte  sah  sich 
vielmehr  wieder  auf  Deutschland  angewiesen.  Auch 
in  England  hatte  er  nur  wenige  Millionen  unter- 
bringen können,  und  ebenso  ist  er  in  Amerika  nicht 
über  einen  winzigen  Versuch  hinausgelängt.  Mit  dem 
deutschen  Geldmarkt,  der  bisher  nur  in  den  Tagen 
der  antirussischen  Campagne  des  Fürsten  Bismarck 
versagte,  rechnet  Herr  Witte,  rechnet  Russland  auch 
für  die  Zukunft.  Im  Zusammenhang  damit  steht  die 
vielfach  verbreitete  Annahme,  dass,  Wenn  Russland 
sich  auf  der  Basis  des  neuen  deutschen  Zolltarifs 
zum  Abschluss  eines  Handelsvertrages  mit  Deutschland 
bereit  finden  sollte,  dies  nur  unter  der  Voraussetzung 
geschähe,  dass  Deutschland  in  die  Uebernahme  weiterer 
russischer  Anleihen  willigte.  Im  Hinblick  darauf  ist 
die  Kritik,  der  Herr  Witte  und  sein  System  begegnen, 
für  Deutschland  von  sehr  ernster  Bedeutung;  Die  Ge- 
fahren,   die    Herr  Plehwe,    der  Minister  des  Inneren, 


603 


der  Witte*  sehen  Finanzpolitik  zuschreibt,  bestehen  na- 
mentlich darin,  dass  Russland  sein  Hauptaugenmerk 
auf  weitausschauende  Pläne  von  vorwiegend  poli- 
tischer. Bedeutung  konzentrirt  habe,  während  die  zu 
bewältigenden  wirthschaftlichen  Aufgaben  vernach- 
lässigt werden.  Mit  enormen  Kosten  und  unter  erheb- 
licher Steigerung  der  Staatsschuld  würden  grosse 
Bahnbauten  in  den  fernsten  Gegenden  ausgeführt, 
wie  in  der  Mandschurei,  oder  geplant  wie  in  Persien, 
Bahnen,  deren  wirtschaftliche  Bedeutung  zunächst 
problematisch  erscheine,  ja  die,  wie  das  für  die 
Bauten  in  Ostasien  zutrifft,  die  eigentlichen  russischen 
Gebiete  schädigen.  In  Russland  selber  nehme  der 
Volkswohlstand  ab  und  gehen  die  Ernten  zurück. 
Trotz  der  günstigen  Darstellungen  Herrn  Witte's  über 
die  Finanzlage  sei  für  die  Hebung  der  Landwirt- 
schaft kein  Geld  zu  haben,  und  sei  jahrelang  für 
diesen  Zweck  beinahe  nichts  geschehen.  Allerdings, 
fügt  Herr  Plehwe  hinzu,  ist  gerade  auch  ein  Wechsel 
im  Finanzministerium  geeignet,  empfindliche  Erschüt- 
terungen und  insbesondere  in  der  Industrie  und  an 
der  Börse  einen  schweren  Rückschlag  zu  verursachen. 
Danach  haben  sich  die  Verhältnisse  in  Russland  der- 
artig gestaltet,  dass  sie  der  russische  Minister  des 
Inneren  selber  mit  und  ohne  Herrn  Witte  für  kritisch 
ansieht.  Das  wird  Deutschland  nicht  aus  den  Augen 
lassen  dürfen.  Deutschlands  Besitz  an  russischen 
Werthen  beläuft  sich  auf  Milliarden.  Dies  ist  ein  aus- 
reichender Grund,  in  der  Darstellung  der  russischen 
Verhältnisse  nicht  Schreckbilder  vorzuführen,  die  den 
deutschen  Kapitalisten  ohne  Noth  Verluste  ver- 
ursachen. Eine  Vertrauensseligkeit  gegenüber  Russ- 
land, die  Deutschlands  Besitz  an  russischen  Papieren 
noch  ins  Grenzenlose  vergrösserte,  wäre  aber  nicht 
weniger  bedenklich.  Auch  an  dieser  Sachlage  ändert 
sich  nichts,  ob  Herr  Witte  einstweilen  noch  in  seinem 
Amte  bleibt  oder  der  Rücktritt  schon  in  nächster  Zeit 
erfolgen  wird. 

Da  Russland  so  bedeutende  Verbindlichkeiten 
gegenüber  dem  Auslande  hat,  und  keine  Industrie 
besitzt,  muss  es  Getreide  ins  Ausland  liefern,  das  hat 
nun  zur  Folge,  dass  die  heimische  Bevölkerung  hun- 


604 

gern  muss.  Hier  geben  wir  die  Belege  dazu.  Der  Ge- 
sammtumsatz  des  russischen  Aussenhandels  ist  in 
1901  im  Vergleich  zu  1900  um  8  Mill.  Rubel  zurück- 
gegangen und  hat  einen  Werth  von  1252  Mill.  Rubel 
erreicht.  Hiervon  entfielen  729  Mill.  Rubel  an  die 
Ausfuhr  und  523  Mill.  auf  die  Einfuhr,  so  dass  die 
Bilanz  des  russischen  Aussenhandels  mit  206  Mill. 
Rubel  aktiv  erscheint,  während  in  1900  die  Ausfuhr 
die  Einfuhr  nur  um  116  Mill.  und  in  1899  sogar  nur 
um  7  Mill.  Rubel  überstieg,  üebrigens  ist  das  be- 
deutende Ansteigen  der  Werthziffer  des  Exports  we- 
niger auf  eine  quantitative  Steigerung  der  Ausfuhr 
als  auf  eine  bedeutende  Preissteigerung  der  aus- 
geführten Lebensmittel  zurückzuführen.  Besonders 
hervorzuheben  wäre  der  Umstand,  dass  der  Werth 
der  ausländischen  Einfuhr  nach  Russland,  infolge 
des  der  chinesischen  Unruhen  wegen  erhöhten  Zoll- 
tarifs im  Vergleich  zum  Vorjahr  um  50  Mill.  Rubel 
abgenommen  hat.  Von  der  russischen  Ausfuhr  ent- 
fallen 59%  auf  Lebensmittel,  35%  auf  Rohmaterialien 
und  Halbfabrikate,  gegen  3%  auf  animalische  Pro- 
dukte und  3%  auf  Fabrikate.  Von  der  Waarenausfuhr 
Russlands  geht  der  Haupttheil  mit  179  Millionen 
Ruböl  gegen  187  Millionen  Rubel  im  Vorjahr  nach 
Deutschland,  welches  seinerseits  im  Berichtsjahre  für 
200  Millionen  Rubel  Waaren  nach  Russland  aus- 
führte. Nach  England  führte  Russland  für  156  Mil- 
lionen Rubel  Waaren  aus  und  bezog  für  103  Mil- 
lionen Rubel  Waaren  von  dort.  Der  Getreideexport 
Russlands  betrug  47%  der  Gesammtausfuhr  und  ver- 
theilte  sich  fast  gleichmässig  auf  Deutschland,  England 
und  Holland;  namentlich  letzteres,  sodann  aber  auch 
Frankreich  zeigten  eine  verstärkte  Aufnahmefähigkeit 
für  russisches  Getreide.  Von  anderen  Waarengruppen 
verdient  der  russische  Butterexport  eine  besondere 
Beachtung,  da  er  sich  im  Vergleich  zum  Vorjahr  ver- 
dreifacht hat  und  einen  Werth  von  13ya  Mill.  Rubel 
erreichte.  Die  Gesammtlänge  der  russischen  Eisen- 
bahnen (ohne  Finnland)  ist  im  Laufe  der  letzten 
20  Jahre  um  20.204«  Werst  (1  Werst  =  1067  km) 
oder  um  95%  gewachsen;  sie  betrug  1881  nur  21.262 
Werst  und  im  Jahre  190Ö  bereits  volle  41.466  Werst. 


605 


Eine  noch  viel  stärkere  Steigerung  zeigt  der  Verkehr. 
So  stieg  der  Personenverkehr  von  2*9  Milliarde^ 
Personenwerst  auf  8*8  Milliarden  im  Jahre  1900,  er 
hat  sich  also  verdreifacht;  der  Güterverkehr  vervier- 
fachte sich  dagegen  in  dem  bezeichneten  Zeitabschnitt. 
Die  Gesammteinnahmen  wuchsen  von  200,000.000 
Rubel  im  Jahre  1881  auf  537,600.000  Rubel  im  Jahre 
1900,  also  um  168%;  dagegen  betrugen  die  Ausgaben 
145,100.000  Rubel  im  Jahre  1881  und  319,800.000 
Rubel  im  Jahre  1900.  Die  Reineinnahme  stieg  somit 
von  51,700.000  Rubel  im  Jahre  1881  aitf  217,800.000 
Rubel  im  Jahre  1900.  Von  dieser  Reineinnahme  sind 
noch  die  für  die  Tilgung  und  Verzinsung  der  Obli- 
gationsanleihen erforderlichen  Beträge  abzuziehen,  so 
dass  ein  thatsächlicher  Gewinn  erst  seit  dem  Jahre 
1894  zutage  tritt,  der  im.  Jahre  1898  30  Mill.  Rubel 
betrug  Das  ist  allerdings  blutwenig,  Russlands 
Daeinon  ist  der  Finanzminister  Witte,  der  das  Garen- 
reich systematisch  in  die  Hände  der  Börsenjuden 
ausliefert.  Dann  wird  die  Gleichberechtigung  der  Juden 
proklamirt  und  dann  ist  Russland  verloren. 

Was  die  Juden  in  Russland  leisten,  davon  nur 
ein  kleines  Beispiel.  Am  19.  Mai  1903  brachten 
Tagesblätter  folgende  Notitz.  Neuntausend  Fragen  an 
die  Geschworenen  werden  vom  Moskauer  Bezirkß- 
gericht  gelegentlich  eines  Monstreprocesses  zu  richten 
sein.  Ein  grosser  Fälschungsprocess  nimmt  morgen 
vor  den  Schranken  des  Moskauschen  Bezirksgerichts 
seinen  Anfang.  Es  handelt  sich  um  eine  Klage  gegen 
die  Kaufleute  Bromberg,  Gurewitsch  und  Aronowitsch, 
die  2177  Wechsel  im  Betrage  von  2,500.000  Rubel 
gefälscht  haben.  Bis  jetzt  wehrt  sich  das  russische 
Volk  gegen  den  Judenwucher  durch  Volksaufstände, 
wie  in  KiSinev,  wenn  aber  Russland  unter  der  Wucht 
der  Staatsschulden  wird  zusammenbrechen,  dann 
wehe  dem  Garenreiche  und  seinem  armen  Volke. 

g)  Finanzen  Nordamerikas. 

Die  neue  Welt  wird  die  alte  wirtschaftlich  er- 
drücken. Nach  dem  Jahresbericht  des  amerikanischen 
Schatzamtssekretärs  für  das  am  30.  Juni  v.  J.  zu 
Ende    gegangene   Rechnungsjahr    1900   stellten   sich 


606 


die  Einnahmen  der  Bundesregierung  für  das  letzte 
Rechnungsjahr  insgesammt  auf  699,316.530  Doli., 
die  Ausgaben  auf  621,508.546  Dollars,  so  dass  sich  ein 
Ueberschuss  von  77,717.984  Doli,  ergibt.  Gegenüber 
dem  vorgehenden  Rechnungsjahre  (1899/1900)  haben 
sich  die  Einnahmen  um  29,721.099  Dollars  erhöht; 
dessgleichen  hat  eine  Zunahme  der  Ausgaben  um 
22,253.561  Doli,  stattgefunden.  Für  das  laufende 
Rechnungsjahr  werden  die  Einnahmen  auf  688,633.042 
Doli,  und  die  Ausgaben  auf  588,633.042  Dollars  ver- 
anschlagt, was  einen  Ueberschuss  von  100  MilJ.  Doli, 
ergeben  würde.  Für  das  Rechnungsjahr  1902/1903 
werden  die  Einnahmen  auf  712,020.630  Doli,  und  die 
Ausgaben  mit  Ausnahme  der  Tilgungsfonde  auf 
688,848.318  Doli,  veranschlagt,  was  einen  Ueberschuss 
von  23,172.311  Doli,  ergeben  würde.  Die  Goldreserve 
von  150  Mill.  Doli,  ist  unverändert  in  gemünztem 
Golde  und  in  Goldbarren  aufrecht  erhalten  worden. 
Unter  dem  Gesetz  vom  14.  März  1900  wurden  bis 
zum  1.  November  vorigen  Jahres  Silbercertifikate  im 
Betrage  von  insgesammt  45,336.000  Doli,  ausgegeben. 
Die  Goldcertifikate  wurden  während  des  abgelaufenen 
Rechnungsjahres  um  weitere  45,160.270  Doli,  und  im 
ersten  Quartal  des  laufenden  Rechnungsjahres  um 
weitere  31,801,430  Doli,  vermehrt.  Der  Gesammtvor- 
rath  an  Gold  im  Schatzamte  betrug  am  1.  November 
v.  J.,  einschliesslich  der  Goldreserve,  543,831.849  Doli, 
eine  Summe  in  Gold,  wie  sie  in  der  Geschichte  der 
Vereinigten  Staaten  noch  nie  zu  verzeichnen  war  und 
vor  einigen  Jahren  von  einer  anderen  Regierung  nur 
auf  wenige  Monate  besessen  wurde.  Die  Goldcirkula- 
tion  pro  Kopf  der  Bevölkerung  stellte  sich  am  1.  Oktober 
v.  J.  auf  28-52  Doli,  gegenüber  26  50  Doli,  am  1.  Juli 
1900;  Goldcertifikate  sind  mehr  und  mehr  in  das 
Gebiet  der  grösseren  Nennwerthe  getreten  und  fast 
ausschliesslich  zur  Zahlung  von  Zöllen  und  zur  Ab- 
rechnung im  New-Yorker  Glearing-House  verwendet 
worden.  Zwei  Punkte  sind  im  Gebrauch  der  Zahlungs- 
mittel besonders  hervorgetreten,  nämlich  die  zu- 
nehmende Verwendung  von  Gold  und  die  fortwährende 
Zunahme  von  Papiergeld  in  kleinen  Beträgen.  Die 
Goldproduktion  der  Vereinigten  Staaten  im  Kalender- 


607 


jähr  1900  stellt  sich  schätzungsweise  auf  3,829.897 
Unzen  im  Werthe  von  70,171.000  Doli.,  die  Silber- 
produktion auf  57,647.000  Unzen  im  Werthe  von 
ungefähr  35,741.140  Dollars.  Für  die  gesammte  Welt 
wird  die  Goldproduktion  im  Kalenderjahr  1900  auf 
12,457.287  Unzen  im  Werthe  von  257,514.700  Doli, 
geschätzt,  die  Silberproduktion  wird  auf  178,796.796 
Unzen  im  Werthe  von  110,845.000  Doli,  veranschlagt. 
Obwohl  die  Vereinigten  Staaten  die  grösste  Gold- 
produktion aller  Länder  hatten,  übertraf  die  Gold- 
einfuhr dennoch  die  Goldausfuhr  um  12,866.010  Doli. 
Am  Schluss  des  Rechnungsjahres  (30.  Juni  1901) 
wurde  der  Gesammtvorrath  an  gemünztem  Golde 
in  den  Vereinigten  Staaten  auf  1.124,652.818  Doli, 
geschätzt,  der  an  Silber  auf  610,447.025  Doli.  Am 
1.  Juli  vorigen  Jahres  waren  4178  Nationalbanken  in 
Thätigkeit;  411  neue  Banken  wurden  während  des 
letzten  Rechnungsjahres  organisirt.  Die  Einnahmen 
aus  den  Inlandsteuern  (internal  revenue)  betrugen  im 
letzten  Rechnungsjahre  306,871.669  Doli,  gegenüber 
295,316.107  Dollars  im  Vorjahre,  was  einen  Zuwachs 
von  11,555.562  Dollars  bedeutet. 

Consularberichte  meldeten  Anfangs  1901  aus 
Amerika  folgendes :  Heute,  wo  das  öffentliche  Interesse 
aus  besonderem  Grunde  in  verstärktem  Maasse  auf 
die  Vereinigten  Staaten  hingelenkt  wird,  ist  es  von 
Interesse,  nach  der  eben  unter  dem  Titel  „Der  Fort- 
schritt der  Vereinigten  Staaten  in  deren  hauptsäch- 
lichsten Industriezweigen"  vom  Bundesschatzamt  in 
Washington  herausgegebenen  Schrift  zu  zeigen,  in 
welcher  rapiden  Weise  sich  das  Land  entwickelt  hat. 
Bezüglich  der  Produktion  von  Stapelnartikeln  ergibt 
sich,  dass  die  Erzeugung  von  Baumwolle  per  Jahr 
von  155.556  Ballen  in  1800  auf  9,436.416  Ballen  in 
1900  gestiegen  ist,  die  Produktion  von  Wolle  von 
35,802.114  Pfd.  in  1840  auf  302,502.328  Pfd.  in  1901, 
die  von  Weizen  von  151,999.906  Busheis  in  1866 
auf  522,229.505  Busheis  in  1900,  Mais  von  867,946.295 
Busheis  in  1866  auf  2.105,102.516  Bushels^'m  1900, 
Kupfer  von  650  To.  in  1850  auf  270.588  To.  in  1900, 
Roheisen  von  165.000  To.  in  1830  auf  15,800.000  To. 
in  1901,  Petroleum  von  21,000.000  Gallonen  in  1860 


608 


auf   2.661,233.568    Gallonen    in    1901,     Kohle     von 
3,358.899  To.   in  1850   auf  267,850.000  To.  in  1901. 
Während   die  Vereinigten  Staaten  im  Jahre  1850  für 
50,000.000  Dol.  Gold  producirten,  waren  es  im  J.  1900 
79,171.000  Doli.  Was  die  Entwickelung  des  Handels- 
verkehrs des  Landes  anlangt,   so  hat  sich  der  Werth 
der  Waarenausfuhr  von  70,971.790  Doli,  im  Jahre  1800 
auf  1.487,764.991  Doli,  im  Jahre  1901  gesteigert,   was 
einer  Zunahme  per  Kopf  der  Bevölkerung  von  13*37 
Dollars  auf  18*81  Doli,  entspricht.  Demgegenüber  hat 
die  Absatzgelegenheit    für  ausländische  Produkte   in 
den  Vereinigten   Staaten  sich  ansehnlich  vermindert 
Denn  wenn  auch  im  Jahre  1901  ausländische  Waare 
im  Werthe  von  823,172.165  Doli,  zur  Einfuhr  gelangt 
ist,  während   die  geringe  im  Jahre  1880  vorhandene 
Bevölkerung    für    ausländische    Waaren    nur    einen 
Bedarf   im    Werthe   von   91,252.668  Doli,    hatte,    so 
entsprach  diese  Ziffer  doch  per  Kopf  der  Bevölkerung 
einer   Waareneinfuhr   im  Werthe  von  17  19  Dollars, 
während   die   Ziffer  per  Kopf  für  das  Jahr  1901  nur 
10*58  Doli,  beträgt.    Der  Nationalreichthum    ist   von 
7.135,780.000  Doli,  im  Jahre  1850  auf  94.300,000.000 
Dollars  in  1900  gestiegen,  per  Kopf  der  Bevölkerung 
von  307  Doli,  auf  1.235  Dollars.    Die  Nationalschuld 
belief  sich,  abzüglich  der  im  Bundestresor  vorhandenen 
Baargelder,  per  Kopf  der  Bevölkerung  im  Jahre  1865 
auf  76*98  Dollars,   wogegen    sie   in    1901    nur  noch 
13*44  Doli,  betrug.     Dem    entsprechend  hat  sich  der 
für  die  Nationalschuld    zu   erlegende  Jahreszins  von 
143,781.592  Doli,  im  Jahre  1867  auf  32,342.797  Doli. 
vermindert.    Während  das  in  Cirkulation  befindliche 
Geld  im  Jahre  1860  ein  Total   von  435,407.252  Doli, 
repräsentirte,    waren    es  in  1901  2.175,387.277  Doli., 
entsprechend  eine  Zunahme  per  Kopf  von  13*85  Doli, 
auf  28*02  Doli.    Die   Sparbankdepositen   sind  in  fol- 
gender Weise  gestiegen :  in  1830  betrugen  sie  6,973.304 
Dollars,   im   Jahre  1883,    53  Jahre  später,   waren  es 
1.024,856.787  Doli,  und  im  Jahre  1901,  nach  Verlauf 
einer  weiteren   Periode   von.  nur  18  Jahren,    hatten 
die  Depositen   eine   Höhe   von  2.597,094.580  Dollars 
erreicht    Inzwischen  war  das  Nationalbanksystem  in 
Kraft  getreten,    und  auch  die  in  den  Nationalbanken 


609 


hinterlegten  Depositen  weisen  die  rapide  Steigerung 
von  500,910.873  Doli,  in  1865  auf  1.006,452.583  Doli, 
in  1880  und  3.044,600.000  Doli,  in  1901  auf.  Die 
Anzahl  der  Sparbankdepositoren  stieg  von  38.085  in 
1830  auf  1,067.661  in  1866  und  6,358.723  in  1901. 
Das  Eisenbahnnetz  in  den  Vereinigten  Staaten  hat 
von  9021  Meilen  im  Jahre  1850  eine  Ausdehnung 
auf  190.378  Meilen  in  1901  gewonnen. 

Die  New-Yorker  Börse  hatte  im  Jahre  1902  einen 
Umsatz  von  1081  Millionen  Dollars,  gegen  1236  Mil- 
lionen Dollars  im  Jahre  1901,  Der  Giroverkehr  der 
Nordamerikanischen  Banken  betrug: 

im  Jahre  1901 118.533,294.485  Dollars. 

„       „      1902 118.107,300.861        „ 

Das  kostbare  Material  der  Menschen-Einwande- 
rung von  Europa  nach  Amerika  weist  folgende 
Zahlen  auf. 

Es  betrug  die  Einwanderung  nach  den  Vereinigten 
Staaten  aus 


Deutschland 

Oesterr.-Ungarn 

Bassland 

Italien 

1887  .  . 

.  106.865 

40.265 

30.766 

47.622 

1888.  . 

.  109.717 

45.811 

38.487 

51.558 

1889.  . 

.  99.538 

34.174 

33.916 

25.307 

1890 .  . 

.  92.427 

56.199 

35.598 

52.003 

1891.  . 

.  113.554 

71.042 

47.426 

76.655 

1892.  . 

.  130.758 

80.136 

84.393 

62.127 

1893.  . 

.  96.361 

59.633 

43.828 

72.916 

1894.  . 

.  59.386 

37.505 

38.094 

43.967 

1895.  . 

.  36.351 

33.462 

34.490 

36.961 

1896.  . 

.  31.885 

65.103 

51.445 

68.060 

1897.  . 

.  22  533 

33.031 

25.836 

59.431 

1898.  . 

.  17.111 

39.797 

29.828 

58.613 

1899.  . 

.  17.476 

62.491 

60.982 

77.419 

1900.  . 

.  18.507 

114.847 

90.787 

100.185 

1901.  . 

.  21.651 

113.390 

85.257 

135.998 

1902.  . 

.  28.304 

171.989 

107.347 

178.375 

Oesterreich-Ungarn  und  Italien  wetteifern  an- 
scheinend in  dem  Bestreben,  die  grösste  Auswanderer- 
masse hieher  zu  senden.  Russland  sieht  hinter  den 
beiden  etwas  zurück,  ist  aber  allen  übrigen  Ländern 
weit  voraus.     Zusammen   geben   diese   drei  Länder 

89 


610 


volle  70%  der  letztjährigen  Einwanderung.  Noch  vor 
15  Jahren  stellten  sie  bloss  24%. 

Die  wirtschaftliche   Kraft  Nordamerikas  äussert 
sich  in  folgenden  Zahlen  des  Aussenhandels. 

Ausfuhr  Einfuhr         TJeberschnsa  der  Ausfuhr 

Dollars 

1895  •     807,538.165  731,969.965  75,568.200 

1896  .     882,606.938  779,724.674  102,882.264 

1897  .  1.050,993.556  764,730.412  286,263.144 

1898  .  1.231,482.330  616,049.654  615,432.676 

1899  .  1.227,023.302  697,148.489  529,874.813 

1900  .  1.394,483.082  849,941.184  544,541.898 

1901  .  1.487,764.991  823,172.165  664,592.826 

1902  .  1.382,033.407  902,911.308  479,122.099 
Der  Bericht  des  Schatzsekretärs  für  1900  lautet: 

Die  gesammten  Staatseinnahmen  sind  in  dem  mit 
dem  30.  Juni  zu  Ende  gegangenen  Rechnungsjahre 
im  Vergleich  zum  Vorjahre  um  29,721.099,  die  Aus- 
gaben um  22,253.561  Doli,  gestiegen.  Die  gegen  Metall- 
depositen ausgegebenen  Goldcertifikate  haben  sich  im 
Rechnungsjahre  um  45,160.270  und  im  ersten  Viertel 
des  neuen  Jahres  um  weitere  31,801.430  Doli,  ver- 
mehrt. Der  Goldbestand  im  Staatsschatze,  einschliess- 
lich des  Reserve-  und  des  Sicherheitsfonds  für  Gerti- 
fikate,  belief  sich  am  1.  November  auf  542,831.849 
Dollars.  Diese  Summe  an  Gold  hätte,  so  hebt  der 
Schatzsekretär  hervor,  niemals  zuvor  der  Staatsschatz 
der  Vereinigten  Staaten  aufzuweisen  gehabt.  Dör  Be- 
stand an  ungemünztem  Silber  betrug  bei  Beginn  des 
Jahres  85,268.054,  bei  Schluss  des  Jahres  52,562.922 
Standard-Unzen.  Man  berechnete  den  Gesamintbestand 
des  Landes  an  Goldmünzen,  einschliesslich  des  in 
den  Münzen  befindlichen  Rohgoldes,  bei  Söhluös  des 
Finanzjahres  auf  1.124,652.818  und  den  Bestand  an 
Silbermünze  auf  610,447.025  Doli.  Die  Gesammtaus- 
fuhr  von  Waaren,  Gold  und  Silber  in  den  letzten 
vier  Jahren  überstieg  die  Einfuhr  um  2.288,028.067 
Dollars.  Die  Handelsmarine  zählte  am  30.  Juni  24.037 
Schiffe  mit  einem  Bruttogehalt  von  5,524.218  Tonnen* 
Sie  wird  nur  noch  von  der  britischen  Handelsmarine 
übertroffen,  welche  über  14,064.152  Tonnen  verfugt, 
während   die   ^*«*— »k«  Marine  mit  3,244.208  Tonnen 


611 


am  nächsten  kommt.  Der  Bericht  regt  im  Hinblick 
auf  die  grossen  Postdampferlinien  des  Auslandes 
aufs  neue  an,  amerikanische  Dampferlinien  zum 
Transport  der  amerikanischen  Post  zu  errichten. 
Auch  könnten  Amerikas  riesige  Eisenbahnlinien  nicht 
länger  an  den  Ozeanen  Halt  machen,  sie  müssten 
ihre  Fortsetzung  über  das  Wasser  hinweg  finden. 
Zunächst  könne  ja  Amerika  den  Schiffsbau  durch. 
Schiffsprämien  heben.  Bezüglich  des  Bankwesens  in 
den  Vereinigten  Staaten  weist  der  Bericht  des  Schatz- 
sekretärs darauf  hin,  dass  es  angebracht  wäre,  eine 
Aenderung  des  gegenwärtigen  Systems,  unter  welchem 
keinerlei  Zusammenschluss  der  Banken  zum  gemein- 
samen Schutz  in  schlechten  Zeiten  vorgesehen  sei,  zu 
schaffen.  Man  könnte  nach  Muster  des  in  der  Union 
bestehenden  politischen  Systems  auch  bei  den  Banken 
das  Princip  der  Föderation  zur  Anwendung  bringen. 
Eine  grosse  Gentralbank,  zu  der  alle  Banken  gewisse 
Procentsätze  des  Kapitals  beizusteuern  hätten,  und 
die  unter  einer  Leitung  stände,  die  im  Wege  der 
Wahl  von  allen  Banken  geschaffen  wird,  würde  die 
Interessen  des  ganzen  Landes  verkörpern.  Schliesslich 
führt  der  Bericht  des  Schatzsekretärs  bezüglich  der 
Staatsschuld  Folgendes  aus:  Die  zu  verzinsende 
Staatsschuld,  welche  am  1.  April  1898  847,366.680 
Dollars  betrug  und  durch  den  Krieg,  auf  1.046,049.020 
Dollars  gesteigert  wurde,  ist  nunmehr  (am  15.  No- 
vember 1901)  auf  954,027.150  Dollars  gesunken.  Der 
Baarbestand  des  Schatzamtes  ist  von  226,166.944 
Dollars  am  1.  April  1898  auf  322,524.732  Dollars  am 
15.  November  d.  J.  gestiegen.  Diese  Zahlen  sprächen 
für  eine  so  feste  Position  des  Schatzes,  wie  sie  nie 
zuvor  bestanden  habe.  Der  gegenwärtige  Zeitpunkt 
sei  danach  am  besten  geeignet,  das  jetzt  noch  un- 
vollkommene Währungssystem  des  Landes  zu  ver- 
vollkommnen. Nordamerikas  wirthschaftliche  Kräfte 
haben  ihre  erste  Unterlage  im  Landbau.  Der  Konsu- 
larbericht  vom  August  1902  sagt  Folgendes: 

Angesichts  der  ausserordentlichen  industriellen 
Fortschritte  in  den  Vereinigten  Staaten  verdient  die 
Thatsache  hervorgehoben  zu  werden,  dass  dort  von 
einem   relativen   Rückgang   des  Landbaues  im  Ver* 

39* 


612 


gleich  zur  Industrie  der  Städte  keine  Rede  sein  kann. 
Vielmehr  ist   die  Zahl   der  Farmen  in  der  Zeit  von 
1890  bis  1900  wieder  um  ein  volles  Viertel  gestiegen, 
während  zu  gleich  ihr  Werth  um  284  Procent  und 
auch  ihr  Durchschnittsareal   nicht  unbeträchtlich  in 
die  Höhe  gingen.  Gegenwärtig  bestehen  gegen  6  Mil- 
lionen in  Betrieb  befindliche  Farmen  (bei  der  Volks- 
zählung von    1900  wurden   5,739.657    ermittelt),   die 
gegen  900,000.000  Acker  einnehmen  (1900  841,201.546 
Acker).  Der  Werth  der  Farmprodukte  hat  sich  in  der 
Zeit  von  1890  bis  1900  fast  um  die  Hälfte  gesteigert 
und  ist  inzwischen  weiter  in  die  Höhe  gegangen.  Der 
Werth   des  Reinertrages   einer  Farm,   der  1900  nur 
655  Dollars  betrug,  mag  inzwischen  auf  750  Dollars 
und  mehr  gekommen  sein,  so  dass  man  sagen  kann, 
die  sechs  Millionen  Farmer,  die  den  Kern  der  ameri- 
kanischen Nation  bilden,  befinden  sich  in  blühendem 
Wohlstande   und   geben   den   Landesindustrien   eine 
stets  wachsende  Zahl  kaufkräftiger  Konsumenten.  Da 
jetzt  noch  nicht   mehr  als  etwa  die  Hälfte    des  ge- 
sammten  Areals  sich  unter  Kultur  befindet,  die  Mehr- 
zahl aller  Staaten  aber  noch  eine  Masse  fruchtbaren 
Landes  aufweist,  so  vermag  die  Union  mit  Leichtig- 
keit noch  Millionen  von  Landbebauern  aufzunehmen 
und  glänzend  zu  ernähren,  die  aus  Europa  noch  hin- 
zuströmen mögen.    Nur  drei  Staaten  haben  mehr  als 
drei  Viertel  ihres  Areals  unter  Kultur,  nämlich  Iowa 
(86  Procent),   Illinois   und   Indiana   (je  77   Procent), 
bei   den   meisten   Staaten   ist  noch   lange   nicht   die 
Hälfte  des  anbaufähigen  Bodens  in  Betrieb  genommen. 
Der  Ertrag  aller  Farmen  wurde  1900  auf  33/4  Milliarden 
Dollars  =  16.000,000.000  Mark  geschätzt.    Es  ist  inte- 
ressant, bei  einigen  Hauptprodukten  der  Landwirth- 
schaft  die  Ernteerträge  von  den  Jahren  1850  und  1900 
gegenüberzustellen.  Es  stiegen: 

Welschkorn  von  592  Mill.   Bushel   auf  2105  Müh     Bnshel 

Weizen  „     100     „  „  622    w 

Hafer  146     n  „         „  809    „ 

Baumwolle  „  2  „  Ballen  „  rund  10  „  Ballen. 
Rohrzuker  „  l!/9  „  Tonnen  „  „  24/»  „  Tonneu. 
Aehnlich  war  die  Zunahme  des  Viehslandes,  des 
Werthes  der  Milchprodukte,  der  Tabak-  und  Reis- 
ernten und  anderer  minder  bedeutenden  landwirth- 


613 


schaftlichen  Erzeugnisse.  Dabei  war  das  Vergleichsjahr 
1900  keineswegs  durch  eine  besonders  günstige  Ernte 
ausgezeichnet,  aber  sie  war  gross  genug,  um  den 
Wohlstand  der  Farmer  in  aufsteigender  Linie  zu  er- 
halten. 

Die  Industrie  Nordamerikas  bietet  folgendes  Bild. 
Die  zehn  Hauptindustriestaaten  der  Union  waren 
nach  dem  Gensus  vom  Jahre  1900,  was  Anzahl  der 
Betriebe,  Höhe  des  angelegten  Kapitals,  Gesammt- 
zahl  der  beschäftigten  Personen  und  Produktions- 
werthe  anbetrifft,  nachstehende: 

Darin  angelegtes         Zahl  Produktions- 

Kapital  der  werth 

Doli.  Beschäftigten  Doli. 

1.651,210.220  849.056  2.175,726.900 

1.651,548.712  733.831  1.834,790.860 

776,829.598  396.110  1.259.730.168 

823,264  287  497.448  1.035,198.989 

605,792.266  345.869  832,438.113 

502,824.082  241.582  611,748933 

249,888.581  134.975  385,492.784 

234,481.528  155.956  378,120.140 

284,097.133  162.355  356,944.082 

330,568.779  142.076  360,878,942 

Jede  der  folgenden  zwölf  Städte  weist  Gewerbe- 
betriebe mit  einem  Anlagekapital  von  über  100,000.000 
Dollars  auf.  Alt-New-York  (einschliesslich  der  Stadt- 
teile Manhattan  und  Bronx)  und  Brooklyn  sind  hierbei 
als  besondere  Städte  behandelt.  Die  Reihenfolge  ist 
nach  dem  Werthe  der  hergestellten  Waaren  gewählt]: 


Anzahl 

Staat 

der 

Betriebe 

New- York .   . 

.  78.658 

Pennsylvanien 

.  52.185 

Illinois  .   .   . 

.  38.360 

Massachusetts 

.  29.180 

Ohio   .... 

.  32.398 

New  Jersey  . 

.  15.481 

Missouri     .  . 

.  18.754 

Indiaua      .    . 

.  18.015 

Michigan    .  . 

.  16.807 

Wisconsin     . 

.  16,187 

Anzahl 

Anlage- 

JGesammtzahl 

Werth 

Stadt 

der 

Kapital 

der 

der  Produkte 

'  Betriebe 

Doli. 

Beschäftigten 

Doll.J 

New- York  (alt)  27.168 

608,661.810 

344.054 

975,168.202 

Chicago     .   . 
Philadelphia 

.  19.203 

634,0^)0.689 

262.621 

888,945.311 

.  15.887 

476,629.407 

246.455 

603,466.526 

Brooklyn  . 

.  10.713 

271,875.301 

100.881 

342,127.124 

St.  Louis  .   . 

.    6.732 

162.179.331 

82.672 

233,629.733 

Boston  .  .   , 

.    7.247 

143,311.576 

72.142 

206,081,767 

Pittsburg  . 

.    1.938 

193,162.900 

69.977 

203,261.251 

Baltimore  .  . 

.    6.359 

117,062.459 

78  738 

161,249.240 

Cincionati 

.   .    6.127 

109,532.142 

63.240 

167,806.834 

Newark      .  . 

.    3.339 

103,191.403 

49.550 

126,954.04» 

Milwaukee 

.   .    3.342 

110,363.854 

48.328 

123,786.449 

Buffalo  .   . 

.    3.902 

103,939.655 

43,422 

122,230.061 

Das    Anlagekapital    der   amerikanischen    Eisen- 
bahnen  betrug  Ende  1900  rund  11.491  Mill.  Dollars. 


614 


Die  absoluten  Bilanzfaktoren  der  beiden  verglichenen 
Geschäftsjahre  sind  die  folgenden: 

1899/1900  1898/1899 

Doli.  Doli. 

Brutto-Einnahme  .  .  .  1.487,044.814  1.313,610.118 
Betriebskosten  .  .  .  .  961,428.511  856,968.999 
Reinertrag 525,616.303         456,641.119 

Der  durchschnittliche  Brutto-Ertrag  pro  Strecken- 
meile  belief  sich  auf  7723  Doli,  oder  717  Doli,  mehr 
als  im  Vorjahre.  An  Steuern  hatten  die  Eisenbahnen 
im  Jahre  1899  bis  1900  einen  Gesammtbetrag  von 
47,415.433  Doli,  zu  entrichten,  was  im  Durchschnitt 
für  die  Streckenmeile  eine  Besteuerung  von  246*24  Doli, 
ausmacht.  Diese  Summen  begreifen  indess  weder  die 
Abgaben  in  sich,  welche  nach  dem  neuen  Einkommen- 
steuergesetz der  Bundeskasse  zufliessen,  noch  die  ver- 
hältnissmässig  geringen  Sondergebühren,  welche  ein- 
zelne Staaten  von  den  Eisenbahnen  neben  der  Haupt- 
besteuerung noch  erheben.  Die  Gesammtzahl  der  bei 
den  Eisenbahnunfallen  zu  Schaden  gekommenen 
Personen  belief  sich  im  Rechnungsjahre  1899/1900 
auf  58.185;  von  diesen  kamen  ums  Leben  7865,  ver- 
letzt wurden  50.320.  Unter  den  Getödteten  waren 
2550,  unter  den  Verletzten  39.643  Angestellte  der 
Eisenbahnen. 

Die  Herrschaft  des  Kapitalismus  in  Nordamerika 
ist  eine  unumschränkte.  Der  Präsident  und  die  gesetz- 
gebenden Körperschaften  müssen  ihr  unbedingt  dienen, 
dafür  sorgt  schon  der  Staatssekretär  Jude  Hay.  Thal- 
sächlicher  Herr  Nordamerikas  ist  Jude  Morgan,  der 
nur  aus  dem  Petroleummonopol  jährlich  25  Millionen 
Dollars  reines  Einkommen  hat.  Nordamerika  ist  das 
Land,  wo  der  Dollar  alles  regiert  und  beherrscht, 
die  Freiheit  ist  nur  ein  Schwindel. 

h)  Staats  vor  anschlage  der  übrigen  civilisirten  Staaten. 

Argentina.  Ausgaben  für  das  J.  1902 :  102,943.693 
Pesos  in  Papier,  und  33,072.223  Pesos  in  Gold. 
Staatsschuld  betrug  86,984.202  Lib.  sterl.  18  Millionen 
Pesos  Gold,  95  MilL  Pesos  in  Papier.  Ende  Mai  1903 
eröffnete  dor  President  den  Kongress  mit  folgender 
Botschaft,     Ulo  Kriogsbefürchtungen  und  der  Verlust 


615 


der  Ernten  in  einigen  Provinzen  legten  in  dem 
Jahre  1901/2  die  Geschäfte  in  sehr  empfindlichem 
Masse  lahm  und  brachten  eine  beträchtliche  Ver- 
minderung der  Staatseinnahmen  mit  sich.  Der  Ein- 
nahmevoranschlag belief  sich  auf  47,413.347  Pesos 
Gold  und  72,890.000  Doli.  Papier.  Die  wirklichen  or- 
dentlichen und  ausserordentlichen  Einkünfte  brachten 
jedoch  nur  40,240.264  Doli  Gold  und  69,129.483  Doli. 
Papier,  so  dass  sich  also  gegenüber  dem  Voranschlage 
«in  Ausfall  von  7,173.082  Doli.  Gold  und  3,760.516 
Doli.  Papier  ergab.  Dank  möglichster  Sparsamkeit 
und  dem  in  Budget  vorgesehenen  Zuschuss  der 
Banco  Nacional  war  das  Deficit  das  geringstmögliche, 
und  ich  kann  (sagt  der  Präsident)  hinzufügen,  dass 
dasselbe  bereits  durch  die  Verwendung  des  aus  den 
ersten  Monaten  des  laufenden  Jahres  sich  ergebenden 
Einnahmeüberschusses  gedeckt  ist.  Der  erhebliche 
Rückgang  der  Einfuhr  und  der  Staatseinnahmen  fand 
«inen  Ausgleich  in  der  Zunahme  der  Ausfuhr,  die 
sich  auf  179,486.727  Doli.  Gold  belief,  womit  das 
Ergebnis  des  Jahres  1901  um  11,760.625  Doli.  Gold 
übertroflfen  und  ein  Ueberschuss  des  Exports  über 
den  Import  von  76,447.471  Doli,  erzielt  wurde,  der 
auf  den  Stand  der  internationalen  Wechselkurse  ein- 
wirkte, die  Zahlungen  des  Importhandels  erleichterte 
und  es  der  Verwaltung  gestattete,  ihren  Auslands- 
verpflichtungen zu  vortheilhaften  Bedingungen  nach- 
zukommen. Die  am  1.  Juli  1901  nach  einer  seit  1893 
dauernden  Unterbrechung  wieder  aufgenommene 
Amortisirung  der  konsolidirten  auswärtigen  Schuld 
ist  mit  aller  Pünktlichkeit  geleistet  worden.  Diese 
Pünktlichkeit  unseres  Verfahrens  hat  zweifellos  zu 
der  Hebung  unseres  Kredites  und  zu  der  grösseren 
Leichtigkeit  beigetragen,  womit  die  Regierung  ihre 
Finanzoperationen  auszuführen  schon  in  der  Lage 
ist.  Davon  zeugt  auch  die  schon  erwähnte  Kurs- 
besserung unserer  Schuldtitel,  von  denen  einige, 
nämlich  diejenigen  von  6  und  5%,  über  Pari  no- 
tiren,  was  die  Möglichkeit  einer  Zinsenreduktion  auf 
Grund  der  in  diesen  Fällen  bei  den  Nationen  üblichen 
Mittel  in  nahe  Aussicht  stellt.  Die  gleiche  Hebung 
unseres  Kredites  hat  es  der  Regierung  auch  ermöglicht, 


616 


zu  günstigeren  Bedingungen  die  Titel  des  1891er  An- 
lehens  und  der  Banco  Nacional  in  Liq.  unterzubringen. 

Die  Botschaft  weist  ferner  auf  die  Anhäufung  von 
Bargold  in  dem  Lande  hin  und  fährt  fort:  Allein  in 
der  Konversionskasse  befinden  sich  in  diesem  Augen- 
blicke mehr  als  25  Millionen  Dollar  Gold,  welche 
gegen  das  unter  Garantie  der  Nation  zu  dem  ge- 
setzlich festgesetzten  Kurse  cirkulirende  Papiergeld 
umgetauscht  wurden.  „Ich  bintf  —  so  äussert  sich 
der  Präsident  weiter  —  „der  Ansicht,  dass  dieses 
Gesetz  auf  das  entschiedenste  aufrecht  erhalten  werden 
muss,  und  dass,  sobald  der  Stand  der  Staatskasse 
dies  erlaubt,  dem  Konversionsfonds  die  Summen 
wieder  erstattet  werden  müssen,  die  ihrer  Verwendung 
aus  bekannten  Ursachen  (Kriegsrüstungen  gegen  Chile) 
entfremdet  worden  sind.  Auf  diese  Weise  möchte  dann 
auch  in  nicht  zu  ferner  Zeit  das  Versprechen  einer 
Barkonversion  zu  dem  festgesetzten  Kurse  zur  Er- 
füllung kommen.  Wenn  Argentinien  gute  Ernten  be- 
schieden sind  und  das  Land  sich  nicht  zu  neuen 
Ausschreitungen  verleiten  lässt,  darf  mit  einer  Konso- 
lidation der  Verhältnisse  des  Landes  gerechnet  werden. 
Der  Ausbeuter  der  argentinischen  Republik  ist  Lord 
Rothschild  in  London,  er  nimmt  die  Zinsen  für  die 
Staatsschuld  in  Empfang. 

Belgien.  Ausgaben  pro  1902  waren:  491,368.524 
Francs.  Die  Staatsschuld  betrug  2778,051.350  Francs. 
Erforderte  eine  Verzinsung  von  133,976.480  Francs. 
Ende  1899  betrug  das  mobile  Kapital  der  Brüsseler 
Börse  7718  Millionen  Francs.  Die  Internationalität  des 
Unternehmerkapitals  wird  trefflich  durch  einen  bel- 
gischen Bericht  über  den  auswärtigen  Handel  illustrirt. 
Danach  arbeiten  in  Spanien  7  belgische  Gesellschaften 
mit  23  Millionen  Franken  Kapital;  in  Portugal  eine 
Gesellschaft  mit  700.000  Franken;  in  Serbien  eine 
Gesellschaft  mit  einer  Million.  In  Italien  haben  drei 
Gesellschaften  belgischer  Kapitalisten  je  eine  Million, 
in  Griechenland  eine  die  Summe  von  2,200.000  Frcs. 
investirt.  Zwei  Gesellschaften  sind  in  Egypten  eta-  , 
blirt,  wovon  eine  mit  vier  Millionen;  vier  in  Persien, 
wovon  zwei  mit  370.000  Franken;  eine  Gesellschaft  i 
in  Bra**  ^  Millionen.    In   Mexiko   ist    eine 


617 

belgische  Gesellschaft  mit  ungenanntem  Kapital 
thätig;  am  Kongo  14  Gesellschaften  mit  45,950.000 
Franken  und  in  Russland  55  Gesellschaften  mit  über 
178  Millionen  Kapital.  Diese  Zusammenstellung  ist 
aber  noch  nicht  vollständig,  indem  sich  noch  grosse 
Kapitalsummen,  welche  ausser  Landes  arbeiten,  jeder 
Kenntnis  entziehen.  Angesichts  solcher,  übrigens  hin- 
länglich bekannten  Thatsachen  ist  gewiss  auch  die 
internationale  Solidarität  der  Arbeiterinteressen  be- 
rechtigt. 

Brasilien.  Ausgaben  für  das  Jahr  1902  waren: 
237,921.289  Milreis  in  Papier,  33,592.179  Milreis  in 
Gold.  Aeussere  Schuld  Brasiliens  44,396.976  Liber  St 
in  Gold.  Innere  Schuld  1425,500.000  Milreis  in  Papier. 
Schulden  der  Einzelstaaten  10,135.729  Milreis.  Staats- 
financier  Brasiliens   ist  Lord   Rothschild   in  London» 

Rumänien.  Staatsausgaben  für  das  Jahr  1902 
waren  218,500.000  Lei.  (1  Lei  =  0-80  M.)  Staatschuid 
betrug  1.413,339.384  Lei.  Zinsen  dafür  pro  1902  be- 
trugen 86,441.092  Lei.  Financiers  des  rumänischen 
Staates  ist  vornehmlich  der  Pariser  Rothschild.  Das 
internationale  Finanzjudenthum  will  mit  aller  Gewalt 
dieses  Land  den  Juden  erobern  und  das  rumänische 
Volk  vernichten.  Rumäniens  Bevölkerung  treibt  vor- 
nehmlich Landwirtschaft.  Die  Gesammtoberfläche  Ru- 
mäniens beträgt  13*1  Millionen  Hektar.  Hievon  ent- 
fallen 3*1  Millionen  Hektar  auf  unkultivirtes  und  un- 
kultivirbares  Land,  2*7  Millionen  Hektar  auf  Wälder, 
0-2  Millionen  Hektar  auf  Wein-  und  Obstkulturen 
und  6*9  Millionen  Hektar  auf  Acker- und  Wiesenland, 
welches  sich  auf  919.082  Eigenthümer  vertheilt.  Von 
diesem  Kulturboden  kommen:  a)  auf  die  Erbbauern 
als  unveräusserlicher  Besitz  4*4  Millionen  Hektar, 
b)  auf  den  Grossgrundbesitz  1'7  Mill.  Hektar,  c)  auf 
in  Loose  vertheilte  und  zum  Verkauf  gestellte  Par- 
zellen 0*003  Mill.  Hektar,  d)  auf  unverkäufliche  Staats- 
güter 0*2  Mill.  Hektar,  e)  auf  vom  Domänenministe- 
rium an  andere  Behörden  abgetretenen  Grundbesitz 
0003  Mill.  Hektar,  f)  auf  Kirchen,  Spitäler,  Wohl- 
thätigkeitsanstalten  0*6  Millionen  Hektar.  Hierin  sind 
Wälder  nicht  mit  inbegriffen;  dieselben  werden  erst 
im  Augenblick  ihrer  Ausbeutung  steuerpflichtig.  Von 


618 


den  Wäldern  entfallen:  a)  auf  die  Güter  der  todten 
Hand  und  der  Domänen  166.720  Hektar,  b)  auf  den 
Staat  1,085.033  Hektar,  c)  auf  den  Grossgrundbesitz 
1,200.736  Hektar,  d)  auf  die  Bauern  321.560  Hektar. 
Von  den  6*9  Mill.  Hektar  Ackerland  befinden  sich  ca. 
4*40  Mill.  Hektar  in  Händen  der  Bauern;  1*7  Mill 
Hektar  gehören  dem  Grossgrundbesitz.  Der  bäuer- 
liche Besitz  ist  also  um  2y2mal  grösser  als  derjenige 
der  Latifundien.  Der  Werth  dieser  6*9  Mill.  Hektar 
Grundbesitz  betrug  im  Jahre  1900  ca.  4560  Mill.  Lei 
und  einschliesslich  desWerthes  der  Staatswal  düngen, 
der  Privatwaldungen,  der  Wein-  und  Obstkulturen 
im  Ganzen  ca.  4970  Mill.  Lei.  Hievon  kamen  etwa 
1115  Mill.  Lei  auf  den  Grossgrundbesitz.  Das  Netto- 
einkommen aus  diesem  Gesammtgrund besitz  —  aus- 
schliesslich der  steuerfreien  Waldungen  und  der 
Staatsdomänen  —  belief  sich  auf  etwa  212  Mill.  Lei. 
Dieser  Nettoertrag  ist  mit  etwa  11*5  Mill.  Lei  Grund- 
steuer, und  zwar  so  belastet,  dass  auf  die  4*4  Mill. 
Hektar  der  Bauern  ca.  7*7  Mill.  Lei,  auf  die  1*7  Mill. 
Hektar  des  Grossgrundbesitzes  ca.  3*6  Mill.  Lei  ent- 
fallen.  Letzterer  bezahlt  erheblich  mehr  Grundsteuer 
als  der  Kleinbesitz.  Zu  den  erwähnten  11*5  Mill.  Lei  ' 
kommen  aber  noch  ca.  10  Mill.  Lei  Zuschlagsteuern 
und  etwa  1  Mill.  Lei  Hektarsteuer  für  Wein-  und 
Pflaumenkulturen.  Die  Gesammteinnahmen  des  Finanz-  i 
ministeriums  aus  dem  Landgrundbesitz  belaufen  sich  i 
also  auf  ca.  22  Mill.  Lei  jährlich.  Dieser  Gesammt- 
grundbesitz  ist  mit  ca.  432  Mill.  Lei  hypothekarisch 
belastet,  und  zwar  in  erster  Linie  wieder  der  Gross- 
grundbesitz mit  fast  420  Mill.  Lei;  der  unveräusser- 
liche Besitz  der  Bauern  ist  daran  mit  kaum  12  Mil!. 
betheiligt.  •  Beim  „Credit  funciar  rural"  sind  etwa 
225  Mill.  Lei,  bei  Privaten  ca.  177  Mill.  Lei  hypotheka- 
risch aufgenommen.  Von  letzteren  177  Mill.  Lei  tragen 
jedoch  nur  etwa  134  Mill.  Zinsen;  der  Rest  von  ca. 
43  Mill.  Lei  besteht  aus  unverzinsten  Garantien. 

Für   diese   Gesammthypothekenschuld   zahlt    der 
ländliche  Grundbesitz  jährlich  an  Zinsen: 

1.  an  den  Credit  Agricol  ca.    .   .    .    .    2-3    Mill.  Lei 

2.  an  den  Credit  Funciar      .....  26*1 


619 


3.  an  die  Agricolbank    ........    1*3    MilL  Lei 

4.  an  Privatgeldgeber  .    . lO'OO     „       » 

zusammen  .      39:6    MilL  Lei 
zu  denen  noch  an  Gerichtskosten  etc.     3*00     „       „ 
und  an  vorerwähnten  Grundsteuern  .  22-00     „       „ 

kommen,  so  dass  ca 64*60  Hill.  Lei 

oder  ca.  30  Proc.  des  Nettoeinkommens  zur  Bezahlung 
von  Steuern,  Zinsen  u.  s.  w.  abgehen.  Die  seit  1873 
gegründete  „Societate  Greditul  funciar  rural"  gab 
zuerst  7procent.  Grundbriefe  im  Nominalwerthe  von 
17  Hill.  Lei  zum  Kurse  von  80*9  Proc.  aus,  1881 
emittirte  sie  öproc,  vom  1.  Juli  1898  an  aber  4proc. 
In  Girkulation  befinden  sich  zur  Zeit  ca.  230  Hill.  Lei 
(Nominalwerth)  zu  4  Proz.  Die  Verwaltungskosten 
belaufen  sich  auf  0*25  bani  pro  100  Lei  nominal  pro 
Jahr.  Bis  zum  31.  Dezember  1900  wurden  bei  der 
Gesellschaft  im  Ganzen  1817  Grundstücke  mit  Hypo- 
theken belastet  gegen  1756  bis  zum  Jahre  1897.  Von 
1873  bis  zum  1.  Januar  1900  hat  die  Gesellschaft 
ausgegeben:  64  Hill.  Lei  in  7proc.  Titres,  272  Hill. 
Lei  in  öproc.  Titres,  24  Hill.  Lei  in  4proc.  Titres, 
im  Ganzen  also  360  Hill.  Lei.  Hievon  wurden  im 
Ganzen  durch  Vorausbezahlung  und  Auslosung  ca. 
107  Hill,  amortisirt.  Der  Zinsfuss  für  Privathypotheken 
ist  ein  ungleich  höherer  und  schwankt  zwischen  8 
bis  18  Proc.  pro  Jahr,  erreicht  aber  nicht  selten  auch 
36  Proc.  Die  vorerwähnten  134  Hill,  verzinsbarer 
Privathypotheken  tragen  13  Hill.  Lei  Zinsen  pro  Jahr. 
Für  den  ihnen  bei  Bankiers  und  sonstigen  Geldgebern 
eingeräumten  Kredit  zahlen  die  Grossgrundbesitzer  in 
der  Regel  24  Proc,  zu  denen  noch  050  Proc.  Kom- 
mission und  andere  Auslagen  kommen. 

Ueber  den  Wucher  berichtete  1901  der  Gonsul 
Hurter  in  Bukarest  folgendes:  Nach  einer  Broschür, 
die  die  vor  2  Jahren  beim  rumänischen  Domänen- 
ministerium errichtete  wirthschaftliche  Enquetekom- 
mission über  den  Ruralbesitz  in  Rumänien  veröffent- 
licht hat,  entfallen  von  der  Gesammtoberfläche  Ru- 
mäniens, welche  13,135.744  ha  beträgt,  3,166.444  ha 
auf  unkultivirtes  Land  wie  Wege,  verbaute  Grund- 
flächen, Flüsse,  Sümpfe,  Seen,  felsiges  Terrain,  Stein- 


620 


brüche  etc.,  2,774.048  ha  auf  Wälder,  216.656  ha  auf 
Wein-  und  Obstgärten  und  6,978.596  ha  auf  Ackerland 
und  Wiesen.  Der  effektive  Werth  des  Agrarbesitzes 
bei  seiner  oben  angeführten  Ausdehnung  von  6,978.596 
ha  wird  auf  4.558,971.760  Lei,  der  Werth  der  Staats- 
waldungen auf  48,911.518  und  der  Werth  der  Privat- 
wälder, der  Wein-  und  Pflaumengärten  auf  135,120.200 
Lei  geschätzt.  Danach  würde  der  effektive  Werth  des 
gesammten  Kulturlandes  in  Rumänien  die  Höhe  von 
4.962,993.678  Lei  erreichen,  wovon  1.114,940.339  Lei 
auf  den  ländlichen  Grundbesitz  entfallen.  Das  jährliche 
Nettoeinkommen  aus  dem  gesammten  Agrarbesitz  des 
Landes  mit  Ausschluss  der  Wälder,  die  erst  beim 
Abhieb  des  Holzes  einer  Steuer  unterworfen  werden, 
und  mit  Ausschluss  der  Staatsgüter  beziffert  sich 
nach  den  Konstatirungen  des  Finanzministeriums  auf 
211.930,346  Lei.  Von  diesem  jährlichen  Nettoeinkommen 
ist  eine  jährliche  Grundsteuer  von  11,424.356  Lei  zu 
zahlen,  welche  Summe  jedoch  durch  die  Zuschläge 
auf  21,195.633  Lei  oder  9-44  pCt.  sich  erhöht,  die  für 
Wein-  und  Pflaumengärten  bestehende  Hektarsteuer 
im  Jahresbetrage  von  1,059.000  Lei  gar  nicht  einge- 
rechnet. Ausser  diesen  Abgaben  zahlt  das  Einkommen 
aus  dem  ländlichen  Grundbesitz  jährlich  26,174.321 
Lei  Zinsen  für  die  beim  Credit  funciar  und  den  Pri- 
vaten aufgenommenen  Hypothekaranleihen,  an  welchen 
der  Grossgrundbesitz  mit  34*02  pCt.  seines  oben  mit 
1.114,940.329  Lei  angegebenen  Besitzwertes  betheiligt 
ist.  Die  Hypothekenzinsen  der  Privatanleihen  sind 
hoch  und  steigen  bei  einem  Durchschnitt  von  9*92  pCt. 
in  einzelnen  Fällen  bis  zu  36  pCt.  per  Jahr.  Noch 
weit  grösser  sind  die  Zinsen,  welche  die  Landwirthe 
für  den  ihnen  eingeräumten  Personalkredit  bezahlen. 
So  bezahlen  die  grossen  Grundbesitzer  bei  den  Ban- 
kiers 24  pCt.  Jahreszinsen  und  ausserdem  noch  0*50 
pCt  Kommission.  Erschreckend  ist  aber  die  Höhe  der 
Zinsen,  zu  welchen  sich  der  Bauernstand  herbeilassen 
muss.  Ein  Zins  von  1  Lei  für  20  Lei  per  Monat  oder 
von  60  pCt.  per  Jahr  gilt  noch  als  ein  Freundschafts- 
dienst. Ein  doppelter  Zinsfuss  von  120  pCt.  ist  längs 
der  ganzen  Donau  von  Turn-Severin  bis  Galatz  ge- 
bräuchlich. In  einer  Gemeinde  des  Distriktes  Mehedint 


621 


zahlen  die  Bauern  für  ein  Darlehen  von  20  Lei  für 
-den  Tag  20  Bani  oder  73  Lei  per  Jahr,  was  einer 
Verzinsung  von  365  pCt.  per  Jahr  entspricht.  An 
anderen  Orten  wird  der  Bauer  unter  dem  Vorwande 
des  Getreideverkaufes  bewuchert,  indem  man  ihn  zum 
Beispiel  erklären  last,  dass  er  den  Preis  von  2  bis 
3  Chila  Mais  empfangen  habe,  während  er  blos  den 
Preis  für  ein  Chila  erhalten  hat  Bis  zum  1.  Januar 
1900  hatte  die  Hypothekarschuld  des  Grundbesitzes 
431,921.778  Lei  betragen,  von  welcher  Summe 
254,227.136  Lei  vom  Credit  funciar  rural,  der  Rest 
auf  dem  Privat  wege  aufgenommen  worden  war. 

Die  Wuchergeschäfte  besorgen  ausschlieslich  die 
Juden. 

Schweden  und  Norwegen.  Ausgaben  pro  1902 : 
172,468.200  Kronen.  Staatsschuld:  349,182.333  Krön. 
Zins  pro  1902 :  12,974.100  Kronen. 

Schweiz.  Ausgabe  pro  1902:  108,120.000  Francs. 
Zins  für  die  Staatsschuld :  4,514.277  Francs. 

Serbien,  Ausgabe  pro  1902 :  72,983.135  Dinars. 
(Dinar  =  0-80  M.).  Staatsschuld  418,685.093  Dinars. 
Zins  dafür  19,422.000  Dinars. 

Spanien.  Die  Staatsausgaben  pro  1902  waren : 
971,176.259  Pesetas;  Staatsschuld  Spaniens  betrug 
9.651,503.304  Pesetas.  Zins  dafür  399,905.177  Pesetas. 
Staatsfinancier  Spaniens  ist  der  Pariser  Rothschild 
und  sein  Bevollmächtiger  in  Spanien  Banquier 
Moritz  Bauer  in  Madrid.  Staatseinnahmen  waren: 
Immobilien-  und  Viehsteuer  1902/3  Millionen  Pesetas 
(166  y4  Millionen);  Industrie-  und  Handelssteuer 
43Va  Millionen  (42!2);  Einkommensteuer  1221/, 
Mill.  (166);  Erbschaftssteuer  51 '/2  Mill.  (49»/*),  Berg- 
werkssteuer ll/2  Mill.  (7);  Personalsteuer  9'/4  Mill. 
<9'/0;  Munizipalabgaben  31/,  Mill.  (3 V2);  Luxuswagen- 
steuer 919.215  Pes.  (859.252);  Abgaben  der  baskischen 
Provinzen  und  Navarras  62/3  Mill.  (670?  Zölle  1423/3 
Mill.  (169)  —  eine  Folge  der  guten  Getreideernte  — ; 
Zuckersleuer  2173  Mill.  (19y3);  Spritsteuer  4  Mill. 
<2»/3);  Konsulatsabgaben  IV*  Mill.  (P/0?  Konsum- 
und  Salzsteuer  83«/a  Mill.  (91  y3);  Transportsteuer 
237*  Mill.  (23);  Stempelabgaben  66 1/2  Mill.  (65);  Gas- 
und   Elektricitätssteuer   4y3   Mill.   (4) ;    Tabaksteuer 


622 

133V*  Mill.  (126 1/0;  Streichholzsteuer  5  Mill.  (5); 
Lotterie  34>/4  Mill.  (29);  Sprengstoflfsteuer  3»/3  MUL 
(8y4);  Almaden  6V«  Mill.  (6*/,);  Linares  Vi  Mill.  (1); 
Kanalabgaben  l1/,  Mill.  (l1/*);  Cruzada-Rente  2*/3  Mill. 
(2V3);  Befreiung  vom  Militärdienst  13  V*  Mill.  (8  Vi); 
sonstige  Einnahmen  29Va  Mill.  (33V3),  zusammen 
1014  Mill.  (994Va)-  Diese  Ziffern  verdienen  gegen- 
wärtig insofern  besondere  Beachtung,  als  nach  der 
Frankf.  Z.  der  spanische  Finanzminister  ein  Reorga- 
nisationsprogramm ausgearbeitet  haben  soll,  in  dem 
infolge  besserer  Steuereinhebung  und  Schaffung  neuer 
Steuern,  darunter  einer  Alkoholsteuer,  ein  Ueberschuss 
von  100  Mil.  Pesetas  in  Aussicht  gestellt  wird.  Dieser 
Ueberschuss  soll  theils  zu  Rückzahlungen  an  die  Bank 
von  Spanien,  theils  zu  Rückkäufen  von  Extörieurs 
sowie  zu  Massregeln  für  Verbesserung  des  Wechsel- 
kurses dienen.  Der  spanische  Aussenhandel  zeigt  pro 
1902  folgende  Hauptziffern:  Einfuhr  811  Mill.  Pesetas 
(1901  837V4,  1900  875  Mill.  Pes.),  Ausfuhr  752 ■/< 
(resp.  706  und  753V2  Mill.  Pes.). 

Das  internationale  Finanzjudenthum  arbeitet  mit 
aller  Kraft  dieses  Land  zur  Republik  zu  machen, 
um  es  auf  ähnliche  Weise  auszubeuten  wie  Frankreich. 
So  schreibt  der  Jude  Mosse  in  seinem  Organ  Berliner 
Tageblatt  vom  19.  Mai  1903  Folgendes: 

Republikaner  und  Königsthum  in  Spanien.  Der 
junge  König  Alfons  hat  es,  dem  den  spanischen  Hof 
beherrschenden  klerikalen  Einflüsse  widerstandslos 
ausgeliefert,  nicht  fertig  bringen  können,  sich  diejenige 
Popularität  zu  sichern,  die  der  Inhaber  eines  so 
schwankenden  Thrones  wie  des  spanischen  unbedingt 
haben  muss.  Die  Gefahren  dieses  Zustandes  für  die 
Dynastie  beleuchtet  eine  Unterredung,  die  unser 
Londoner  ß-Korrespondent  mit  einem  loyalen  An- 
hänger der  Dynastie  hatte.  Er  berichtet  uns  darüber 
in  folgendem  Privat-Telegramm :  Ein  dem  spanischen 
Hofe  sehr  nahe  stehender,  eben  aus  Madrid  zurück- 
gekehrter Herr,  dessen  besondere  Anhänglichkeit  an 
die  königliche  Familie  mir  bekannt  ist,  theilte  mir 
sorgenvoll  mit,  dass  die  republikanische  Bewegung 
in  Spanien  immer  aussichtsvoller  auftritt.  Er  mass 
diesen  Umstarid  vornehmlich  der  Thatsache  bei,  dass, 


62S 


während  die  Republikaner  sich  eifrigst  rühren,  der 
junge  König  seit  seiner  letzten  Reise  im  vorigen 
Jahre,  wo  er  von  der  Bevölkerung  enthusiastisch 
aufgenommen  wurde,  sich  durchhaus  passiv  verhalte» 
und  dadurch  die  Fühlung  mit  dem  Volke  verloren 
hat.  Wenn  er  reise,  so  geschehe  dies  möglichst  un- 
auffällig, fast  geheim.  Die  Schuld  hierfür  wird  der 
ängstlich  um  ihren  Sohn  besorgten  Königin  bei- 
gemessen. Wie  gross  die  Verehrung  für  die  Königin 
als  Regentin  war,  so  sehr  wünscht  man  heute  ihre 
Entfernung  von  der  Seite  des  jungen  Königs  und 
würde  am  liebsten  ihre  Rückkehr  in  ihre  öster- 
reichische Heimat  sehen.  Es  scheint  aber,  dass 
niemand  in  ihrer  Umgebung  es  wagt,  ihr  über  die 
Situation  Aufklärung  zu  geben  und  ihr  diesen  Schritt 
nahe  zu  legen.  Mein  Gewährsmann  wies  darauf  hin* 
wie  es  der  Infantin  Isabella  gelungen  ist,  im  Volke, 
in  dessen  Mitte  sie  lebe,  grosse  Popularität  zu  er- 
langen, und  meinte,  dass  dieses  Beispiel  genügen 
sollte,  den  jungen  König  dem  Volke  mehr  zuzuführen, 
um  eine  allen  treuen  Royalisten  und  Freunden  der 
königlichen  Familie  überaus  schmerzliche  Katastrophe 
zu  verhindern.  Das  klingt  nicht  gerade  tröstlich  für 
die  Zukunft  der  Dynastie  Bourbon-Anjou.  Und  es 
ist  nicht  abzusehen,  das  irgendeine  Aenderung  ein- 
treten sollte. 

Die  spanischen  Cortes  sind  gestern  in  der  üblichen 
Weise  mit  einer  ziemlich  gleichgiltig  lassenden  Thron- 
rede eröffnet  worden.  Unser  Madrider  Korrespon- 
dent sendet  uns  folgendes  Privat-Telegramm :  Unter 
Kanonendonner,  Vivas  und  grossem  Aufwand  an 
königlicher  Pracht  wurden  Montag  Nachmittags  die 
Cortes  eröffnet.  Nur  vereinzelte  Vivas  ertönten  auch 
auf  der  Strasse  bei  der  Durchfahrt  -des  Königs.  Im 
Senat  war  die  Begrüssung  lebhafter.  Die  Thronrede 
bietet  nichts  neues ;  die  verspricht  Reformen  auf  den 
verschiedensten  Gebieten,  gedenkt  der  Einigkeit  der 
Mächte  bezüglich  der  Integrität  Marokkos  und  kündigt 
ein  organisches  Grundgesetz  für  die  Verwaltung  Fer- 
nando Pos  und  Unterrichtsgesetze  auf  der  Basis  völ- 
liger Freiheit  an,  womit  die  Ultramontanen  sehr  zu- 
frieden sein  dürften,  da  die  Schulen  dadurch  den  Kon- 


624 

gregationen  ausgeliefert  werden.  Bezüglich  der  Fi- 
nanzen stellt  die  Thronrede  einen  ausgeglichenen  Etat 
beziehungsweise  einen  Ueberschuss  in  Aussicht,  um 
die  Währungsfrage  zu  lösen,  ferner  ein  Spritgesetz 
und  die  definitive  Regelung  der  Erbschaftssteuer. 
Schliesslich  verspricht  sie  sociale  Reformen.  Die 
Republikaner  blieben  zum  Zeichen  des  Protestes 
gegen  die  Monarchie  der  Eröffnung  fern. 

Türkei.  Staatsausgabe  pro  1898:  18,429.411  türk. 
Pfund.  (1  t.  Pf.  =  18'/*  M.)  Staatsschuld  133,939  003 
türk.  Pf.  Zins  6,459.306  türk.  Pf.  Financiers  der  Türkei 
Pariser  und  Londoner  Rothschild,  Erlanger  in  London 
und  andere  Börsengrössen.  Pariser  Rothschild  allein 
besitzt  rund  für  2000  Millionen  Francs  türkische  Titres. 
Deswegen  muss  auch  die  Türkei  unangetastet  bleiben, 
und  wenn  Abdul  Hamid  sämmtliche  Christen  ermorden 
liesse,  keine  Macht  darf  eingreifen,  Rothschild  käme 
um  seine  Zinsen. 

Bulgarien.  Ausgabe  pro  1902:  98,898.337  Lei. 
Staatsschuld  290  Millionen  Lei,  verzinst  zu  5%.  i 

Aegypten.  Staatsausgabe  pro  1902  war  11,060.000  ' 
aegypt.  Pfund.  (1  aegypt.  Pf.  =  20  M.)  Staatsschuld  ' 
103,022.000  Pfund  Sterling  Gold.  Zins  dafür  4,399.876  | 
aegypt.  Pfund.  Wird  verwaltet  vornehmlich  für  den  , 
Londoner  Lord  Rothschild.  I 

Chile.  Diese  Republik  ist  ein  besonders  dankbares 
Operationsobjekt  des  Londoner  Bankhauses  Lord  Roth- 
schild. Finanzbericht  des  Sonar  Gruzat  lautet  sehr 
anmutend.  Noch  vor  wenigen  Jahren  vermochte  Chile 
im  internationalen  Geldmarkt  AnleihTO  zu  4y2  Proc. 
aufzunehmen,  und  seine  Bonds  behaupteten  sich  da- 
mals in  unmittelbarer  Nähe  des  Pari-Standpunktes. 
Heutzutage  notieren  seine  4l/2proc.  Schuldverschrei- 
bungen etwa  85,  und  als  es  vor  einigen  Monaten  die 
verhältnismässig  geringe  Summe  von  500.000  Pfd.  St. 
benötigte,  sah  es  sich  gezwungen,  7  Proc.  Zinsen  zu 
offerieren.  Wie  der  chilenische  Finanzminister  gele- 
gentlich seines  Budgetentwurfes  für  1903  berechnete, 
dürften  die  gewöhnlichen  Staatseinkünfte  in  1900 
100,330.000  Doli,  und  die  gewöhnlichen  und  ausser- 
gewöhnlichen  zusammen  143,104.967  Doli,  ergeben 
haben.  Der  Aufwand  in  dem  ein  Deficit  von  2,777.663, 


I 


625 

Doli,  aus  dem  Jahre  1901  mit  inbegriffen  ist,  belief 
sich  auf  101,604.967  Doli.,  so  dass  1902  wiederum 
mit  einem  Fehlbetrage  von  8,500.000  Doli,  abgeschlossen 
habere  jnüsste.  Hätte  der  Finanzminister  im  letzten 
Jahre  nicht  20  Mill.  Doli,  dem  Währungs-Konyersions- 
fonds  entnommen  und  bei  der  Bank  von  Tarapaca 
6,666.667  Doli,  geborgt,  so  würde  das  Deficit  mehr 
als  30  Mill.  Doli,  betragen  haben.  Was  das  Jahr  1903 
anbetrifft,  so  werden  die  Staatseinkünfte  in  demselben 
auf  1 1 5,000.000  Doli,  und  die  Ausgaben  auf  126,240.224 
Doli,  geschätzt,  so  dass  also  ein  weiterer  Fehlbetrag 
von  11,190.224  Doli,  bevorsteht  Die  Staatsschuld  Chiles 
betrug  Ende  1902:  305,568.888  Pesos. 

Dänemark.  Ausgabe  pro  1902:  74,911.809  Kronen. 
Staatsschuld  246,394.958  E,  Zins  dafür  8,126.509  K. 

Griechenland.  Ausgaben  pro  1902:  121,885.707 
Drachmen.  (1  D.  =  080  M.)  Staatsschuld  864,398.073 
Drachmen. 

Japan.  Aufgaben  pro  1902:  275,887.424  Jen. 
Staatsschuld  510,189.078  Jen,  Zins  dafür  37,851.919 
Jen.  (1  Jen  =  2-09  M.) 

Mexiko.  Ausgaben  pro  1902:  64,738.816  Pesos. 
Staatsschuld  250,7X6.856  Pesos.  (1  mexik.  Pesos  = 
2*13  Mark.) 

Niederlande.  Ausgaben  pro  1902:  167,333.723 
holländ.  Gulden.  Staatsschuld  1.132,258.750  holländ. 
Gulden,  Zins  dafür  34,129.370  holländ.  Gulden.  (1  hol. 
Gulden  =  1  68  M.) 

Portugal.  Ausgaben  pro  1902  -  55,690.114  Milreis. 
Äussere  Staatsschuld  171,723.502  Pfund  Sterling  innere 
Staatsschuld  51,537.484  Milreis.  Zinsen  20,739.310 
Milreis.  (1  Milreis  rr  3-60  M.) 

China.  Ueber  die  Staatseioahmen  Chinas  berichten 
die  Pekinger  gesammelten  Nachrichten  auf  Grund 
amtlicher  chinesischen  Berichte  sehr  ausführlich.  Die 
Einnahmen  des  25  Jahres  Kwanghsüs  (Februar  1899 
bis  1900)  erscheinen  dort  unter  fünf  grossen  Kapiteln 
aufgeführt:  .Grundsfeuer,  Zölle  (Seezölle  u.  Dschunken- 
zölle), Likin,  Salzsteuer  und  verschiedene  Abgaben 
(Opium,  Thee,  Holz,  Gewerbesteuern  und  Pfandhaus- 
gebühren). Den  grössten  Ertrag  liefern  danach  die 
letzteren  gemischten  Abgaben  und  die  Grundsteuer;. 

40 


626 

der  Gesaram tertrag  aller  Einnahmen  islwaf  83,253.800 
Taels  angegeben,  also  etwa  270  Millionen  Mark,  wobei 
aber  bemerkt  werden  muss,  dass  alle  Ziffern  nach 
unten  auf  je  hundert  Taels  abgerundet  angeführt  und 
in  dieser  Verminderung  zusammengezählt  sind.  An 
unmittelbarer  Grundsteuer  und  an  Naturalabgaben 
kommen  23,797.500  Taels  ein,  an  Geldzahlungen  an 
Stelle  ursprünglicher  Naturallieferungen  4,447.600 
Taels  und  rückständige  Summen  aus  dem  Vorjahre 
2,094.000  Taels;  zusammen  30,339.100  Taels  oder 
rund  90  Millionen  Mark  an  Grundsteuer.  Die  Seezölle 
ergeben  22,035.400  Taels  oder  rund  66  Millionen 
Mark.  Die  Dschunkenzölle  für  den  inländischen  Fluss- 
und  Hafenverkehr  einheimischer  Fahrzeuge,  die  von 
den  Likinabgaben  getrennt  erhoben  werden,  bringen 
2,906.400  Taels  oder  rund  8  Millionen  Mark  ein.  Ein- 
geschlossen sind  dabei  für  die  Provinz  Kiangsi  die 
Seidenzölle  des  Zollamtes  von  Eantschoufu  (im  Süden 
der  Provinz  am  Kanfluss).  Mit  zu  den  bedeutendsten 
Einnahmequellen  gehören  die  unter  dem  Namen  Likin 
bekannt  gewordenen  Inlandzölle.  Likin  (nach  Pekinger 
Mandarinenaussprache  Litschin)  bedeutet  eigentlich 
„ein  Käsch  vom  Werth",  also  ein  Tausendstel,  und 
ist  seit  dem  grossen  Taipingaufstand  der  Name  für 
einen  von  allen  Waren  erhobenen  Durchgangszoll,  der 
in  allen  grösseren  Orten  und  ausserdem  an  den 
Flüssen  und  auf  den  bedeutenderen  Verkehrswegen 
an  eigenen  Sperren  (Tschia)  an  den  Flüssen,  Kanälen 
und  Gebirgspässen  eingetrieben  wird.  Nach  dem  vor- 
liegenden Bericht  hat  das  Likin  im  Rechnungsjahre 
14,678.300  Taels  oder  rund  45  Millionen  Mark  einge- 
bracht. Fast  genau  dieselbe  Summe  liefert  Steuer  und 
Likin  auf  Salz,  nämlich  14,537.400  Taels.  Unter  den 
im  fünften  Kapitel  aufgeführten  verschiedenen  Steuern 
nimmt  die  Abgabe  auf  einheimisches  Opium  die  her- 
vorragendste Stelle  ein,  fast  die  Hälfte  aller  anderen 
zusammengenommen.  Insgesammt  weist  dieser  Ab- 
schnitt 4,776.400  Taels  oder  rund  15  Mill.  Mark  auf. 
Anfangs  des  19.  Jahrhundertes  waren  sämmtliche 
Staaten  Europas  ungefähr  20.000—25.000  Millionen 
Francs  schuldig,  heute  dürften  die  Staatsschulden 
Europas    die   Summe   von  130.000  Millionen    Francs 


627 

i       übersehritten  haben.  Die  Börsenzeitungen  bringen  bei,' 
Gelegenheit    einer  Ausschreibung   einer  Staatsanleihe1 
Nachrichten,  dass  die  Subscription  der  Staatsanleihe.1 
so  und  sovielmal  überzeichnet  sei,  damit  die  Finanz- 
minister  den  Eindruck  gewinnen,  als  ob  so  viel  Geld 
da  sei,  dass  die  Staaten  in  infinitum  Schulden  häufen 
können.  Alles  das  ist  aber  eitler  Trug  der  Pressjuden. 
In  einem  unbewachten  Augenblicke  verrathen  sie  doch 
ihre  schöne  Seele.  ! 

Es  wird  und  muss  auch  der  Augenblick  kommen, 
wo  die  Völker  dieses   furchtbare  Judenjoch  von  sich  • 
abzuwerfen  werden  genöthigt  sein,  falls  sie  ihre  eigene 
Rettung  vollbringen  wollen. 


Schlussbefrachfung, 

Das  „Bayerische  Vaterland  *  hat  in  den  Nummern 
vom  18.  und  19.  Juli  1901  zwei  Leitartikel  gebracht 
mit  der  Aufschrift  „Diebösen  Czechen".  Es  heisstdä: 

Es   gibt  wohl   keine  Nation   auf  Erden,   auf  die 
gegenwärtig   so   viel   hinaufgelogen  wird   und  gegeh 
die  eine  intensivere  Hetze  veranstaltet  wird,  als  gegen 
jene,    welche   in    den    österreichischen    Kronländern 
Böhmen,  Mähren  und  Schlesien  die  Mehrheit  bildet, 
das  Volk  der  Czechen.    Kein  Volk,  die  Iren  u.  Polen 
vielleicht  ausgenommen,  wurde  in  dieser  Weise  seit 
Jahrhunderten   unterdrückt   und  über   keines    ist.  ge- 
rade das  deutsche  Publikum,  das  sich  auf  seine  um- 
fassende    Schuldbildung    so    viel    zugute    thut,    so 
mangelhaft  unterrichtet.  Und  wenn  die  Czechen,  seit ! 
ihnen   ein  Franz  PalackJ   erstanden    ist,    ein   ebenso ' 
uneigennütziger   und   ehrlicher    Patriot,    als    grosser 
Gelehrter  und  ein  Mann,  auf  den  nicht  nur  Böhmen^ 
sondern  die  gesammte  Menschheit  mit  Stolz  blicken 
darf,  sich  aus  dem  tiefsten  Elend  des  17.  und  18.  Jahr* 
hunderts  zu  ihrer  heutigen  Blüthe  und  Entwickelung . 
emporgerungen   haben,   sc   ist  dies   nur   ein  Bewöis, 
welche  Fülle   von  Kraft   und  guten   Eigenschaften  in 
diesem  intelligenten  Volksstamme  der  Slaven  wohnt. 

Fast  die  gesammte  deutsche  Presse  nährt  einen 
an  Fanatismus  grenzenden  Hass   gegen  dieses  Volk; 

40» 


628 


es  ist  so  weit  gekommen,  dass  ir.  manchen  Gegenden 
Oesterreichs  man  einen  Gzechen  für  seinen  persön- 
lichen Feind  ansieht,  und  Mancher,  der  in  früheren 
Jahren  dem  goldenen  hundert thürm  igen  Prag,  das 
man  getrost  zu  den  schönsten  Städten  der  Welt 
zählen  kann,  einen  Besuch  abgestattet  hätte,  unter- 
lägst dies  in  der  albernen  Meinung,  er  werde  dort 
von  den  „halbwilden"  Gzechen  auf  dem  Kraut  ver- 
speist werden.  Während  man  über  die  thatsachlich 
bestehende  Deutschfeindlichkeit  der  Magyaren  (d.  h. 
auch  nur  der  herrschenden  Klasse,  nicht  des  Volkes) 
nur  selten  etwas  liest,  sind  alle  Blätter  mit  Alarm- 
nachrichten über  den  „Deutschenhass"  der  Gzechen 
angefüllt.  Wie  dies  kommt,  erzählt  uns  in  einem  sehr 
interessanten  und  zur  Aufklärung  empfehlenswerthen 
Werke  „Der  Nationalitäten-  und  Verfassungskonflikt 
in  Oesterreich-  (Prag  1900,  in  der  Cyrillo-Method'- 
schen  Buchhandlung)  der  czechische  katholische 
Priester  Rudolph  Vrba.  Gleich  am  Eingange  weist  er 
an  Beispielen  darauf  hin,  wie  die  Reden  czechischer 
Parteiführer  bei  bestimmten  Gelegenheiten  von  der 
Judenpresse,  allen  voran  die  Wiener  „N.  Fr,  Pr.u, 
systematisch  entstellt  und  gefälscht  werden,  wie  man 
sich  nicht  scheut,  in  dieselben  Aeusserungen  hinein- 
zulegen, die  gegen  das  grosse  Vaterland  Oesterreich 
und  die  allgemein  verehrte  Dynastie  gerichtet  sind, 
ein  Beweis,  wie  es  die  Juden  verstehen,  die  Völker 
unter  einander  zu  verhetzen  nach  dem  Grundsatze; 
„Divide  et  iuipera  !a  Vrba  sagt  zum  Schlüsse  seines 
Vorwortes:  „Der  Nationalitätenhader  würde  unmög- 
lich solche  Ausdehnung  angenommen  haben,  wäre 
Oesterreich  nicht  so  reich  gesegnet  mit  der  Juden- 
presse, dem  Fluche  Oesterreichs.  Diese  elende  Presse 
ist  des  Landes  grösstes  Unglück." 

Woher  kommt  es  nun,  dass  gerade  die  Juden- 
presse, die  doch  in  Deutschland  unter  Umständen, 
wie  z.  B.  die  Kuhhaut,  „deutsch-national"  sein  kann, 
in  Frankreich  und  Italien  hyperpatriotisch  ist  und  in 
England  und  Ungarn  den  verrücktesten  Chauvinismus 
an  den  Tag  legt,  in  Böhmen  Alles  daran  setzt,  dem 
Volke  Feinde  ir    ~  zu  hetzen? 

Was  soll  Hensch  sagen,   wenn  all- 


629 

deutsche  Trottel  in  der  Welt  herumziehen  und  den 
Leuten  erzählen,  die  Czechen  stünden  an  Kultur  den 
Hottentotten  gleich,  ein  Volk,  das  zu  Karls  IV.  Zeiten 
-die  erste  Stelle  in  Europa  eingenommen  und  das 
xiber  eine  Literatur  verfügt,  die,  obwohl  später  in  der 
rohesten  Weise  unterdrückt,  bewunderungswürdig 
genannt  werden  muss.  Als  ein  „Volk  von  Rastel- 
bindern und  Mausfallen-Händlern"  bezeichnen  all- 
deutsche vacirende  Eisendreher-  und  Bäckergesellen 
die  Czechen,  von  denen  Meyers  Konversationslexikon 
sagt:  „Die  tausendjährige  Anstrengung,  das  eigene 
Wesen  vor  dem  mächtigeren  Deutschthum  zu  retten, 
hat  den  Czechen  manchen  Charakterzug  aufgedrückt, 
der  sonst  den  Slaven  fremd  ist.  Misstrauen,  Ver- 
schlossenheit und  eine  gewisse  verbitterte,  nationale 
Erregtheit.  Seine  Natur  zeigt  aber  viele  schöne  Eigen- 
schaften; er  ist  arbeitsam,  tüchtig  als  Soldat  und 
Beamter,  hat  natürlichen  Verstand  und  rege  Phantasie, 
fasst  schnell,  eignet  sich  leicht  fremde  Sprachen  an 
und  treibt  gern  Poesie  und  Musik."  Die  Entwickelung 
des  Landes,  in  dem  Landwirtschaft  und  Industrie 
in  richtigem  gesunden  Masstabe  vertheilt  sind  und 
das  die  Schatzkammer  Oesterreichs  genannt  wird, 
beweist  die  Richtigkeit  obiger  Charakteristik. 

Den  Czechen  ist  aber  auch  nicht  gestattet  und 
wird  höchst  missfällig  bemerkt,  was  anderen  Nationen 
ohne  weiteres  als  ihr  gutes  Recht  zugestanden  wird. 
Wenn  deutsche  Turnvereine  in  Oesterreich  die  Preussen 
willkommen  heissen,  so  wird  man  darin  nichts  Auf- 
fälliges finden.  Wenn  aber  czechische  Turnvereine 
die  stammverwandten  Russen,  Polen,  Serben  u.  s.  w. 
begrüssen,  so  ist  dies  ein  grosses  Verbrechen.  Wird 
dabei  noch  die  Freundscheft  mit  Russland  erwähnt, 
•ein  Staat,  dem  Oesterreich  im  Gegensatze  zu  Preussen 
Tieles  zu  verdanken  hat  und  der  sich  stets  als  treuer 
und  verlässiger  Freund  erwiesen  hat,  so  ist  dies  auch 
schon  ,  Landes verrath*.  ,  Wenn  dagegen  die  Alldeut- 
schen unter  dem  Schutze  der  Immunität  im  Parla- 
mente die  Feinde  des  Vaterlandes  anrufen  und  dieses, 
wie  die  Religion  und  das  Kaiserhaus  mit  Koth  be- 
werfen, entrüstet  sich  die  jüdisch-deutschnationale 
Presse   niemals.    Nie  wird   man  ähnliches   von    den 


.630 

.Czechen  gehört  haben,  sondern,  von  der  Verirrung 
.beim  Beginn  des  30jährigen  Krieges  abgesehen,  haben 
sie  stets  ihre  Loyalität  in  hervorragender  Weise 
bewiesen.  Wer  die  glorreiche  Geschichte  der  österreichi- 
schen Regimenter  durchblättert,  der  wird  finden,  dass 
die  Czechen  stets  zu  den  Elitetruppen  der  herrlichen 
österreichischen  Armee  gezählt,  dass  sie  Wunder  der 
Tapferkeit  und  Hingebung  an  das  Vaterland  voll- 
bracht und  eine  Reihe  der  unsterblichsten  Heerführer 
gestellt  haben,  —  war  doch  die  Heldengestalt  des  Vaters 
.Radetzky  aus  ihrem  Volke. 

Und   wenn   die  Czechen   in  ihrem    Patriotismus 
keine  Freunde  des  Bismarck' sehen  Dreibundes  sind, 
sondern    mit   den   Franzosen    sympathiesiren,    wohl- 
verstanden mit    den  ehrlichen  ritterlichen  Franzosen, 
nicht  mit   den   dreyfusistischen   Judenknechten,    wer 
kann  ihnen  hiezu  das  Recht  absprechen  ?  Oder  bedingt 
die  Gegnerschaft  gegen  den  Dreibund   in  Oesterreich    ' 
einsn   Mangel   an  Patriotismus?    In  den  Augen  der    ' 
verschiedenen  Judenpapiere,   die  heute  die  Politik  in    ' 
Oesterreich  machen,  vielleicht  ja !    Und  wäre  es  un-    ' 
begreiflich,   wenn  angesichts    der  Haltung    der  deut-    ' 
sehen  Presse    den  österreichischen   inneren  Kämpfen    I 
gegenüber,  in  den  Czechen  das  Gefühl  des  Misstrauens    I 
erwachen  würde? 

Wer  die  Ereignisse  der  letzten  5  Jahre  in  Oester- 
reich klar  beobachtet  hat,  der  kann  die  Bemerkung 
nicht  unterdrücken,  dass  die  Hand  Judas  den  Streit 
hervorgerufen  hat  und  unablässig  schürt.  Als  Bürger- 
meister Dr.  Lueger  in  Wien  die  Seinen  von  Sieg  zu 
Sieg  führte  und  wie  die  Hauptstadt,  so  auch  das 
flache  Land  zu  nehmen  drohte,  als  die  Wahrschein- 
lichkeit eines  Zusammenschlusses  aller  ehrlichen 
Parteien  mit  den  Jungezechen  zu  einer  grossen  Arbeits  - 
partei  im  Parlamente,  die  auch  dem  Judenthume 
tüchtig  an  den  Kragen  gegangen  wäre,  bestand,  da 
wurde  der  bekannte  Zankapfel  wieder  unter  die  Völker 
geworfen,  in  den  sich  nicht  zuletzt  die  Deutschen 
krampfhaft  hinein  verbissen  haben.  Wann  werden 
dieselben  endlich  einsehen,  dass  alle  christlichen 
Völkerschaften  ihre  Freunde  im  Kampfe  gegen  den 
wuchernden-  ausbeutenden  und  korrumpirenden  Geist 


631 


des  jüdischen'  Semitismus  sein  müssen,  wann  werden 
alle  österreichischen  Patrioten  einsehen,  dass  nicht 
eine  deutsche  Hegemonie,  sondern  nur  ein  gerechter 
Ausgleich  auf  Grund  der  Gleichberechtigung  aller 
Nationen,  wie  er  in  der  Verfassung  garantirt  und 
durch  die  Humanität  und  die  Vernunft  bedingt  ist, 
den  ersehnten  Frieden  bringen  und  Oesterreich  den 
ihm  gebührenden  ersten  RangimRathe  der  Nationen 
sichern  kann?"  *  •-  *~^r 

Merkwürdig  ist  es,  dass  böhmische  Blätter  diese 
Stimme  des  nB.V.u  reproducirten,  aber  nur  den  Ein- 
gang, sobald  sie  an  die  Stelle  über  die  Judenpresse 
kamen,  brachen  sie  plötzlich  ab.  Ja  wir  wollen  darüber 
den  Schwamm  wischen,  sonst  würden  wir  ein  eigenes 
Kapitel  schreiben  und  die  Sache  hätte  kein  Ende. 

Das  böhmische  Volk  hat  seine  guten  Eigenschaften, 
es  ist  geistig  begabt,  arbeitsam  und  auch  sparsam. 
Böhmische  Theologen  in  Rom  bekommen  bei  den 
internationalen  Wettbewerben  alle  Jahre  ihre  Preise, 
was  selbst  dem  Papst  Leo  XIII.  aufgefallen  ist.  Das 
böhmische  Volk  hat  seine  geistige  Potenz  besonders 
auf  dem  Gebiete  der  Kunst  bewiesen,  reproducirende 
Künstler  wie  Jan  Kubelik,  der  böhmischer  Abstammung 
ist,  wurde  selbst  von  der  deutschen  Presse  zu  einem 
überirdischen  Wesen  gestempelt,  die  Brüder  Ondrifcek, 
Kocian  und  andere  Künstler  vom  Weltruf  sind  böhmi- 
scher Nationalität  Mit  der  Lyrik  der  Kompositionen 
des  Smetana  kann  sich  kein  Komponist  auf  der  ganzen 
Welt  messen*  So  könnten  wir  auf  allen  Gebieten  der 
Kunst  und  Wissenschaft  hervorragende  Arbeiternennen, 
welche  der  böhmischen  Nation  entstammen  und  so  von 
ihr  das  Zeugniss  geben,  dass  das  böhmische  Volk  auf 
dem  Gebiete  der  geistigen  Arbeit  sich  mit  jeder 
anderen  Kulturnation  wohl  messen  kann  trotz  altem 
Spott  und  Verleumdung  seitens  der  Judenpresse  und 
der  deutschnationalen  und  alldeutschen  Pressorgane. 

Warum  wird  von  dieser  Presse  das  böhmische 
Volk  systematisch  in  den  Koth  gezerrt  und  anderwärts 
in  Wien  in  verrufenen  Lokalitäten  von  „Sängern"  in 
Spottliedern  öffentlich  beschimpft  (Spottliedör  „Servus 
Bfezina"  und  andere,  die  sogar  in  der  Hofoper  An- 
spielungen  finden)  und  dem  Hohn  preisgegeben? 


682 

Das  hat  alles  seinen  Zweck.  Die  Söhne  des 
böhmischen  Volkes  sollen  von  allen  Stellangen  im 
Staate  und  in  der  Kirche  verdrängt,  beziehungsweise 
diese  Stellen  ihnen  unzugänglich  gemacht  werden,  es 
wird  ihnen  so  das  Kainszeichen  der  böhmischen  Ab- 
kunft auf  die  Stirn  künstlich  aufgedrückt,  so  ein 
„Sauböhme"  darf  sich  um  nichts  bewerben  trotz 
Staatsgrundgesetze.  Preussische  Staatsangehörige  fin- 
den in  den  vorwiegend  deutschen  Landestheilen  in 
Böhmen,  Mähren,  Schlesien,  dann  in  Wien  massen- 
hafte Anstellungen,  in  den  Fabriken,  Berk werken,  bei 
den  Eisenbahnen  ist  alles  von  Preussen  voll. 

Es  werden  ihnen  gerade  die  besten  Beamten- 
stellungen zugewiessen.  Jährlich  werden  in  Oesterreich 
auf  diese  Art  1000  Reichsdeutsche  naturalisiert.  Reichs- 
deutsche Pastoren  laufen  unkontrolliert  über  die 
Grenzen  nach  Oesterreich,  Predigtstationen  wachsen 
wie  die  Pilze  und  politische  Behörden  Oesterreichs 
beeilen  sich  durch  ihre  Gegenwart  bei  den  Grundstein- 
legungen den  Glanz  zu  erhöhen.  Eine  solche  selbst- 
mörderische Politik  wird  in  keinem  Staate  auf  der 
ganzen  Welt  betrieben,  selbst  Mandarine  in  China 
würden  sich  dafür  schämen.  Die  Söhne  der  heimischen 
böhmischen  Nation  müssen  in  der  Fremde  ihr  Brod 
suchen.  Hier  zu  Hause  ist  alles  durch  Protektion  ver- 
geben und  besetzt.  Der  Beruf  der  Rechtsanwälte,  die 
Medizin,  öffentliche  Staatsstellen  werden  von  den 
Söhnen  Judas  in  erster  Reihe  occupiert 

Es  studierten  im  Wintersemester  des  Jahres  1899 
his  1900  in  Wien  1570,  Graz  35,  Insbruck  2,  Prag 
deutsche  Univ.  413,  böhmische  74,  Lemberg  398, 
Krakau  24,  Czernowitz  169,  zusammen  2872  Juden, 
18*7%  aller  Studierenden,  obzwar  die  Juden  Oester- 
reichs nur  4-69  Procent  der  Gesammtbevölkerung 
ausmachen. 

An  den  technischen  Hochschulen  waren  im  Jahre 
1900  insgesammt  949  Juden,  das  ist  17-8%  aller  Stu- 
dierenden. Katholiken  waren  3996  eingeschrieben. 
Die  Juden  stellen  demnach  4mal  so  viel  Studierende 
auf.  als  die  Christen.  Davon  wissen  die  Deutschnatio- 
nalen und  Schoenerianer  nichts,  da  müssen  sie 
schweigen,  n»*  K*Kmische  Volk  hat  auch  seine  Fehler, 


633 

diö  ihifc  schon  vor  mehr  denn  1000  Jahren  Gosmas 
und  andere  Geschichteschreiber  vorwarfen,  Leichtsinn, 
Vergnügungssucht,  Sorglosigkeit  für  die  Zukunft,  Zer- 
fahrenheit unter  sich,  Undankbarkeit  gegen  die  besten 
SOhne  und  Arbeiter  des  Volkes.  Ein  Volk,  welches  der 
Sittenlosigkeit  in  die  Arme  fällt,  ein  Volk,  das  sich 
der  Genussueht  hihgibt,  braucht  erst  nicht  auf  einen 
fremden  Bedrücker  zu  Warten,  es  geht  von  selbst  zu 
Grunde. 

Wer  demnach  das  Volk  zur  christlichen  Lebens- 
weise, zur  Sparsamkeit,  keuschem  enthaltsamen  Leben, 
welches  die  Grundlage  der  Familie  bildet,  zur  Arbeit- 
samkeit, zur  christlichen  Tugend  in  jeder  Art  erzieht, 
wie  es  katholische  Priester  kraft  ihres  Berufes  thün, 
der  ist  der  wahre  Wohlthäter  und  Führer  de*  Volkes. 

Ein  tugendhaftes,  gläubiges,  enthaltsames,  spar- 
sames und  sittenreines  Volk  kann  von  einem  äusseren 
Feind  nicht  ausgerottet  werden,  denn  es  hat  eine 
innere  Kraft  in  sich,  die  ihm  Niemand  rauben  kann. 

Dagegen  ein  demoralisiertes,  ungläubiges,  arbeits- 
scheues und  niederen  Genüssen  ergebenes  Volk  geht 
von  selbst  zu  Grunde,  es  braucht  nicht  erst  vom 
äusseren  Feind  angegriffen  und  ausgerottet  zu  werden. 

Wer  demnach  sein  Volk  von  diesen  Fehlern  frei- 
machest will,  wer  es  zur  Religion  und  Sittsatnkeit 
führt,  der  ist  der  grösste  Wohlthäter  des  Volkes.  Das 
böhmische  Volk  ist  nun  ein  Gegenstand  des  Hasses. 
Deutschnationale  Fanatiker  predigen  überall  seine 
Ausrottung  ohne  auch  im  geringsten  von  den  Be- 
hörden daran  gehindert  zu  werden.  Arbeitet  doch 
der  Staat  selbst  an  der  Verdeutschung  der  böhmischen 
Länder,  das  Eisenbahnministerium  in  Wien  übersetzt 
ins  Deutsche  alle  auch  die  entlegensten  böhmischen 
Dörfer,  ob  es  nun .  eine  Kosteini  Lhota  oder  Dolni 
Lhota  ist,  so  wird  für  die  Zukunft  von  Wien  aus 
füfr  den  preussischen  König  gearbeitet.  Ein  starkes 
böhmisches  Volk  ist  der  beste  Schutzwall  für  ganz 
Oesterreich  vor  dem  Eindringen  der  preussischen  Macht 
und  nur  die  Verblendung  der  massgebenden  Faktoren 
in  Wien  will  diese  Wahrheit  nicht  erkennen.  Oder 
ist  der  Hass  gegen  das  böhmische  Volk  in  Wien 
grösser  als  dar  Trieb  nach  der  Selbsterhaltung,  nach 


•684 

dqr  Unabhängigkeit,  nach'  Freiheit,  die  doch  durch 
jedes  Anwachsen  der  preussischen  Macht  in  Wien 
selbst  bedroht  sind?  Österreich  wird  und  kann  für  die 
Zukunft  und  auf  die  Dauer  nur  dann  bestehen,  wenn 
seine  Regierungsmächte  die  Liebe  der  Völker  er- 
werben, und  das  kann  nur  geschehen,  wenn  einem 
jeden  Volke  in  Oesterreich  nach  gleichem  Masse  ge- 
messen wird,  einem  jeden  das  Seine,  es  darf  keine 
bevorzugten  und  privilegierten  und  keine  unterjochten 
Bürger  geben. 

In  Cäslav  ereignete  sich  folgendes  Ende  Juni  1903. 
Es  wurden  36  Mann  der  dortigen  Landwehrbesatzung 
in  den  Tabakverlag  des  Juden  Weiner  geschickt,  um 
den  Kommisstabak  abzuholen.    Ein  Soldat  ahmte  die 
jüdische    Mundart    nach    in    Gegenwart    des    Juden 
Weiner.    Dieser  Jude   beschwerte    sich  beim  Führer 
und  da  derselbe  darauf  nicht  reagirte,   lief  er  gleich 
zun)  Obersten  Müller  von  Eck.  Dieser  Herr  gab  gleich 
einen  Regimentsbefehl  heraus,  dass  es  eines  Soldaten 
unziemlich   sei  die  Juden    zu  verlachen.    Der  Soldat 
bekam  10,  der  Führer  20  Tage, Kasernenarrest     Uns 
ist  dieser  Eifer    des   Obersten  Müller  Von   Eck   für 
den   Judenschutz   sehr  verdächtig.     Aber    abgesehen 
davon,  wir  sehen,   dass  ein  Jud  nicht  einmal  scherz- 
weise  beleidigt   werden   darf,    das   trägt  gleich    den 
Christen   Kerkerstrafen   zu.    Was   müsste   denn    erst 
geschehen,  wenn  die  ungezählten  Verbrechen,  welche 
Tag  um  Tag  an  böhmischen  armen  Arbeitern,  Kindern, 
Mädchen  und  Frauen  verübt  werden,  weil  sie  nicht  zur 
deutschen    Nationalität    zugehören,    gestraft    werden 
sollten?  Wo  ist  hier  eine  Sühne?  Der  fanatische  Hass 
der  Deutschnationalen  zur  Ausrottung  des  böhmischen 
Volkes  findet  seine  Stütze  an  der  Hinterwand,  welche 
eben  das  deutsche  Reich  bildet.  Wer  bürgt  nun  dafür. 
dass  das  heutige  Deutschland  geeint  bleibt,  wie  es  Bis- 
marck  geschaffen  hat?  So  sprach  Bebel  am  22.  Janaar 
1903  im  deutschen  Reichstag  unter  anderem  Folgendes : 

„Der  vorliegende  Etat  bedeutet  ein  vollständiges 
Däbacle.  Aehnliches  ist  wohl  noch  bei  keinem  Staate 
vorgekommen,  dass  die  laufenden  Ausgaben  von  den 
Einnahmen  nicht  gedeckt  werden.  Selbst  wenn  die 
Budgetkommission  alle  Künste  spielen  lässt,  wird  sich 


635 


,die  Zuschussanleihe  höchstens  um  zwei  Drittel  er- 
niedrigen lassen.  Diese  Anleihe  steht  in  striktem 
/Widerspruch  zur  Verfassung,  Ich  sehe  es  schon 
kommen,  dass  noch  vieles  mit  der  Verfassung  in 
Widerspruch  stehen  wird.  Dann  wird  es  ebenso  gehen 
wie  mit  der  Geschäftsordnung  im  Reichstage.  Selbst 
Freiherr  v.  Rheinbaben  hat  im  preussischen  Landtag 
erklärt,  so  könne  es  im  Reich  nicht  weitergehen.  Die 
Regierung,  das  ist  klar,  hoffte  nur  auf  die  Einnahmen 
aus  dem  Wuchertarif.  Sie  werden  aber  nicht  aus- 
reichen. Die  Erhöhung  der  Zölle  wird  etwa  240  bis 
250  Millionen  Mark  mehr  einbringen.  Aber  auch  diese 
Summen  werden  nichts  verschlagen.  Es  ist  unmöglich, 
dass  wir  in  Deutschland,  selbst  wenn  der  Wohlstand 
noch  bedeutend  anwächst,  die  Lasten  für  ein  Heer 
und  eine  Marine  ersten  Ranges  tragen.  Früher  hat 
das  selbst  das  Gentrum  anerkannt.  Der  Abg.  Schädler 
meinte:  der  deutsche  Adler  müsse  über  alle  Meere 
seine  schützenden  Schwingen  breiten.  Einer  solchen 
Aufforderung  nach  oben  bedurfte  es  gerade  noch! 
(Heiterkeit.)  Das  Wort  von  Wettkriechen  vor  Russ- 
land gilt  noch  immer.  Wie  steht  es  mit  dem  Flaggen- 
telegramm, das  auf  der  Revalreise  abgesandt  .ist? 
Es  soll  gelautet  haben :  „Der  Admiral  des  Atlantischen 
Oceans  sendet  seinen  Gruss  dem  Admiral  des  Stillen 
Oceans"  oder  nach  anderer  Lesart:  „Der Beherrscher 
der  westlichen  Meere  sendet  seinen  Gruss  dem  Be- 
herrscher des  Stillen  Oceans."  Die  Antwort  soll  sehr 
kühl  gelautet  haben:  „Glückliche  Reise!"  (Lachen 
links.)  Soll  über  solche  Telegramme  die  öffentliche 
Meinung  in  England  nicht  empört  sein?  Was  haben 
wir  denn  für  einen  Grund,  gegen  die  Stellung  eines 
Monarchen  anzukämpfen?  Wir  sind  Gegner  der  Mon- 
archie, aber  damit  noch  lange  nicht  Gegner  seiner 
Person.  Der  Fürst  repräsentirt  eine  sociale  Position, 
in  die  er  durch  glückliche  Umstände,  meinetwegen 
auch  durch  sein  eigenes  Verdienst  gekommen  ist. 
Wenn  er  an  etwas  unschuldig  ist,  so  ist  er  es  an 
seiner  Geburt;  er  ist  in  seine  Stellung  hineinge- 
kommen durch  den  Zufall  der  Geburt,  weil  er  der 
Erstgeborene  war.  Wenn  der  Fürst  als  Mensch 
menschlich  ist,    persönlich  seinen  Gegnern   nicht  ge- 


636 


hässig  entgegentritt,  so  werden  wir  ihm  persönlich 
nicht  entgegentreten.  Die  Monarchie  ist  eine  Institution 
und  keine  Person.  So  wenig  wir  den  Einzelnen  für 
die  bürgerliche  Gesellschaft  verantwortlich  machen, 
«o  wenig  machen  wir  den,  der  zufällig  auf  dem  Throne 
sitzt,  für  die  Monarchie  verantwortlich.  Ich  bestreite 
auf  das  allerentschiedenste,  dass  das  Gentrum  jemals 
die  jetzige  Bedeutung  im  deutschen  Reich  erlangt 
haben  würde  ohne  den  Kulturkampf.  (Sehr  wahr!) 
Ebenso  mit  dem  Socialistengesetz !  Herr  v.  Kardorff, 
der  ja  die  Eigenschaft  hat,  dass  er  sich  auf  beson- 
dere Ideen  grimmig  verbeisst,  wie  auf  die  Idee  der 
Silberwährung  (Heiterkeit),  hat  sich  für  ein  Ausnahme- 
gesetz gegen  die  Socialdemokratie  ausgesprochen.  Er 
hält  es  vielleicht  für  einen  Akt  der  Pietät,  als  einzige 
schon  geborstene  Sause  (Heiterkeit)  in  diesem  Reichs- 
tag das  Programm  zu  vertreten,  dass  sein  verstor- 
bener Freund  Stumm  sa  hartnäckig  vertreten  hat. 
Aber  genützt  hat  das  Socialistengesetz  nicht  Ihnen, 
sondern  uns!  Redner  führt  dies  an  der  Hand  der 
Wahlstatistik  näher  aus  und  bemerkt  weiter:  Ich 
schätze  jede  Kaiserrede  auf  100.000  Stimmen  Gewinn 
für  uns.  (Grosse  Heiterkeit.)  Wenn  diese  Reden  im 
Inlande  nichts  nützen,  sondern  sogar  noch  schaden 
—  glauben  Sie  vielleicht,  dass  sie  im  Auslande  Nutzen 
stiften?  Glauben  Sie,  es  macht  im  Auslande  einen 
Eindruck,  wenn  alle  Augenblicke  der  deutsche  Kaiser 
die  stärkste  Partei  Deutschlands  heftig  bekämpft  und 
sie  als  den  inneren  Feind  bezeichnet,  der  auf  den 
Umsturz  der  bestehenden  Staats-  und  Gesellschafts- 
ordnung und  seines  Thrones  hinarbeitet  ?  (Sehr  wahr !) 
Nun  kommt  auch  der  Kronprinz  des  deutschen 
Reiches !  (Heiterkeit  bei  den  Socialdemokraten.)  Dieser 
junge  zwanzigjährige  Herr  redet  auch  von  der  Partei 
der  Elenden !  Was  hat  denn  der  für  Verdienste,  dass 
er  überhaupt  sich  herausnehmen  kann,  in  diesem  Tone 
über  die  Socialdemokratie  zu  sprechen?  (Lebhafte 
Zustimmung  bei  den  Socialdemokraten.  Präsident  Graf 
Ballestrem  hat  sich  erhoben.)  Wir  ärgern  uns  nicht 
darüber,  schliesslich  wird  der  Name  ein  Ehrenname 
werden  (Sehr  richtig!^  bei  den  Socialdemokraten), 
genau   so  wr  '^m  Namen  „Hausen",   gleich 


63T 


Bettler,  wurde!  Vielleicht;  beschliesst  nächstens  die 
socialdemokratische  Partei,  wir  nennen  uns  künftig 
Partei  der  Elenden." 

Der  Abgeordnete  Vollmar  sagte  in  seiner  Rede 
am  20.  Januar  1903  im  deutschen  Reichstag  folgendes  : 

„Obwohl  ich  Social-Demokrat  bin,  bin  ich  weit 
entfernt,  unsere  auswärtigen  Beziehungen  lediglich 
aus  dem  kleinlichen  Gesichtspunkte  anzusehen,  dass 
ich  darüber  Freude  empfinde,  wenn  eine  uns  entgegen- 
stehende Reichsregierung  möglichst  ungeschickt  ist 
und  Missgriffe  begeht  und  dadurch  nichts  weniger 
als  Lorbeeren  in  der  äusseren  Politik  einheimst  Ganz 
im  Gegentheile!  Ich  meinerseits  würde  es  sehr  be- 
grüssen,  wenn  ich  einmal  in  die  Möglichkeit  versetzt 
würde,  in  der  äusseren  Politik  des  Reiches  etwas 
Gutes  und  für  das  deutsche  Volk  Erspriessliches  und 
Erfreuliches  finden  zu  können.  Aber  wie  die  Dinge 
gegenwärtig  liegen,  ist  leider  von  einer  guten,  aner- 
kennenswerthen  Politik  sehr  wenig  oder  vielmehr  gar 
nichts  zu  bemerken.  Man  sieht  in  der  äusseren  Po- 
litik durchaus  einen  Mangel  an  festen  Zielen,  ein 
fahriges  Wesen,  das  alle  Augenblicke  wetterwendisch 
den  Cours  zu  wechseln  bereit  ist,  das  jeden  Augen- 
blick neue  Improvisationen  in  Aussicht  stellt  und  in 
beinahe  aufdringlicher  Weise  sich  an  fremde  Regie- 
rungen heranwirft.  Wir  Social-Demokraten  sehen  die 
Lage  für  gesicherter  an,  als  sie  seit  Langem  war,  und 
wir  werden  die  Gonsequenzen  daraus  ziehen,  indem 
wir  noch  mehr  als  bisher  wirken  für  eine  Einstellung* 
der  ins  Wahnwitzige  gehenden  Rüstungen  von  heute 
und  für  eine  fortschreitende  Umwandlung  des  aggres- 
siven stehenden  Heeres  in  das  defensive  Volksheer.a 
Das  Wachsthum  der  Socialdemokraten  in  Deutsch* 
land  ist  an  folgenden  Zahlen  ersichtlich. 

Jahr  der  Wahl 

in  d«»n  deutschen 

Reichs  tag 

1871 
1874 
1877 
1878 
1881 


Zahl  den  gültig 

abgegebenen 

Stimmen  der 

Socialisten 

Zahl  der 
sooialistisohen 
Abgeordneten 

117.893 

2 

349.078 

9 

481.008 

12 

420  662 

9 

335.300 

12 

638 


1884 

507.800 

24 

1887 

637.300 

35 

1890 

1,323.200 

36 

1893 

1,782.700 

44 

1898 

2,107.100 

57 

1903 

3,078.000 

82 

Werden  die  Socialdemokraten  nun  das  Deutsche 
Reich  sprengen  ?  Der  erste  Satz  des  Programmes  der 
Socialisten,  welche  zu  Eisenach  in  den  Tagen  vom 
7.,  8.  und  9.  August  1869  tagte,  lautet: 

„Die  socialdemokratische  Arbeiterpartei  erstrebt  die 
Errichtung  eines  freien  Volksstaates/  Man  vergleiche 
doch  damit  Bebeis  Rede.  Derselbe  Bebel  ist  auch  an 
den  Verhandlungen  von  Eisenach  unterschrieben. 

Man  kann  also  nicht  wissen,  welchen  inneren 
Währungen  Deutschland  entgegengeht.  Damit  wären 
aber  die  Pläne  der  Alldeutschen  in  Frage  gestellt 

Wie  dem  auch  sein  wolle,  Oesterreich  braucht 
für  seinen  weiteren  Bestand  den  inneren  Frieden  und 
dieser  ist  nur  dann  möglich,  wenn  alle  Nationen 
gleiches  Recht  geniessen  werden.  Dem  Rechte  voran 
aber  geht  die  Nächstenliebe.  Diese  aber  gedeiht  nur 
dort,  wo  Christi  Religion  in  den  Herzen  der  Men- 
schen lebendig  ist. 

Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst.  Wer  ist 
mein  Nächster?  Es  gieng  ein  Mann  nach  Jericho  und 
wurde  auf  dem  Wege  von  Räubern  überfallen,  ver- 
wundet und  auf  den  Weg  geworfen.  Da  gieng  ein 
Levit,  ein  Priester  vorüber,  sie  achteten  seiner  nicht, 
da  kam  ein  Samaritaner,  dieser  nahm  sich  seiner 
liebevoll  an.  Wer  ist  mein  Nächster?  Auch  ein  jeder 
Gauner,  Schurke,  Mörder,  Frauenschänder,  Betrüger, 
wenn  er  nur  deutscher  Abstammung  ist,  soll  ich  ihn 
lieben  und  bevorzugen? 

Wer  ist  mein  Nächster? 

Soll  ich  einen  braven,  fleissigen  redliehen 
Arbeiter  auf  die  Strasse  werfen,  weil  er  nicht  deut- 
scher Abstammung  ist,  und  weil  es  Deutschnationale 
so  verlangen? 

Soll  ich  mir  eine  diebische  Magd  im  Hause  lassen, 
weil  sie  deutsch  i«f  und  die  fleissige,  ehrliche,  weil 
sie  böhmisr'  vn? 


639 

Wenn  die  Menschen  wahrhafte  Christen  wären, 
wenn  sie  überall  die  Gebote  der  Religion  erfüllen 
möchten,  dann  gebe  es  überhaupt  keine  sociale  Noth 
und  auch  keinen  nationalen  Hass,  alle  hätten  das 
Nothwendige  zum  Lebensunterhalt. 

Staaten  und  Völker  kommen  und  vergehen  und 
nur  Gottes  Gerechtigkeit  hält  ewig  Stand. 


/Td'SN 


INHALT: 

I.  Die  Nationalitätenpolitik   bei  den  alten  klassischen 

Völkern,  vornehmlich  bei  den  Römern  ....  5 

II.  Römer  und  Juden 7 

III.  Bildung  von  grossen  Nationalstaaten  in  neuester  Zeit  8 

IV.  Bestrebungen  der  Alldeutschen  nach  einer  Weltherr- 

schaft       22 

V.  Bismarck  und  Oesterreich 48 

VI.  Wie  die  grossdeutsch   arbeitende  Presse  im  deut- 
schen Reiche  Oesterreich  sanieren  will  ....  64 

VII.  Die  Alldeutschen  in  Oesterreich 77 

VIII.  Oesterreichs  Nationalitäten        109 

IX.  Der    Sprachenstreit.    Die   Schwäche    der   Staats- 

maschine Oesterreichs 126 

X.  Die   Sprachenfrage  und  die  Anträge  Dr.  Koerbers 

im  Abgeordnetenhause 202 

XI.  Der    Antrag    der   Deutschen    zur    Regelung   der 

Sprachenfrage  im  Königreich  Böhmen    ....  210 

XII.  Die  Fundamentalartikel 217 

XIII.  Der   Sturm   gegen   Oesterreich   in  der   Form   der 

„Los  von  Rom"  Agitation 225 

XIV.  Die  rollende  Reichsmark 248 

i    XV.  Oesterreichs  Regierungsmänner  und  die  „Los  von 

»                     Rom«  Agitation 271 

XVI.  Die   „Los   von  Rom"  Agitation   und   der   konfes- 
sionelle Standpunkt 282 

XVII.  Das  Anwachsen  des  Protestantismus  in  Preussen- 

Deutschland 308 

XVIII.  Der  Hauskrieg  im  Lager  der  Alldeutschen  ....  314 

XIX.  Der  Kampf  um  die  Nationalität  dringt  in  die  katho- 

lische Kirche  ein 336 

XX.  Irrige  Ansichten  zweier  katholischen  Priester  über 

die  Nationalitätenfrage 345 

XXI.  Streiflichter  über  kirchliche  Verhältnisse  in  Böhmen  353 
XXII.  Oesterreichs  konfessionelle  Statistik 367 

XXIII.  Die  Sprachenfrage  innerhalb  der  kathol.  Kirche    .  378 

XXIV.  Zukunftspläne  des  Protestantismus.  Die  Weltpolitik 

Preussen-Deutschlands     396 

XXV.  Die  Früchte  des   Nationalitätenhaders.    Vorgänge 

bei  der  Volkszählung 430 

XXVI.  Die  Ausbeutung  der  Völker  durch  dasinternat.  Kapital  454 

a)  Der  Kapitalismus  in  Oesterreich    ....  457 

b)  Deutschlands  Finanzkräfte 490 

c)  Frankreichs  Finanzkräfte 533 

ä)  Italiens  Finanzlage     ...       567 

e)  Englands  Finanzmächte 575 

/)  Russlands  Finanzlage 581 

a)  Finanzen  Nordamerikas 605 

h)  Staatsvoranschläge   der     übrigen    civili- 

sierten  Staaten 614 

Schlussbetrachtung        627 


Druckfehler. 


Im  Text  haben  sich  einige  Druckfehler  eingeschlichen, 
die  aber  von  solcher  Beschaffenheit  sind,  dass  sie  jeder  Leser 
ohne  Mühe  selbst  wird  corrigieren  können. 


4-